Francis Durbridge
Die Schuhe
Die Schuhe
Inhaltsangabe
Weil er seine Verlobte, das Mannequin Lucy Staines, ermordet haben soll, ist der
begabte junge Architekt Harold Weldon zum Tode verurteilt worden. Seine Schuld
scheint erwiesen, zumal sich kurz vor dem Verbrechen ein heftiger Streit zwischen
den Verlobten unter Zeugen abgespielt hat. Aber liegt der Fall wirklich so einfach?
Mike Baxter, Kriminalschriftsteller und rühmlich bekannter ehemaliger Kriminal-
reporter, hegt sehr starke Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Kronzeugin. Zwei
weitere Frauenmorde ereignen sich unter ähnlichen Umständen wie der erste – ein
Beweis dafür, daß der wirkliche Täter noch frei herumläuft.
Printed in Western-Germany
Einmalige Sonderausgabe mit
Genehmigung des Gebrüder Weiß Verlages München/Berlin
Gesamtherstellung: Lingen Verlag, Köln • fgb
Schutzumschlag: Roberto Patelli
Dieses eBook ist umwelt- und leserfreundlich, da es weder
chlorhaltiges Papier noch einen Abgabepreis beinhaltet!
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as die Presse und Öffentlichkeit betraf, war der Fall Weldon
abgeschlossen.
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Harold Weldon, ein vielversprechender Architekt von knapp drei-
ßig Jahren, war angeklagt und für schuldig befunden worden, seine
Braut, ein Mannequin namens Lucy Staines, erwürgt zu haben. Ein
Gnadengesuch an den Innenminister war eingereicht, geprüft und
verworfen worden.
Da Mordprozesse nie langweilig sind, hatte auch der gewaltsame
Tod eines so schönen und jungen Mädchens wie Lucy Staines ei-
nige Aufmerksamkeit hervorgerufen. Wenn der Fall dennoch zu kei-
nen Schlagzeilen in den Massenblättern geführt hatte, so deswegen,
weil gerade eine besonders beunruhigende internationale Krise und
wichtige Tagesereignisse Vorrang hatten.
Vielleicht hätte der Fall Weldon etwas mehr Platz auf den Titelsei-
ten der Zeitungen erhalten, wenn gewisse mysteriöse Elemente da-
bei zutage getreten wären – etwa eine fehlende Leiche, eine aufre-
gende Menschenjagd durch Stadt und Land oder andere geheimnis-
volle Rätsel und Spuren, die den Appetit von Amateurdetektiven
wecken konnten. Im Falle Weldon aber gab es nichts von alledem.
Es war einer der typischen Kriminalfälle, die im Augenblick der Ent-
deckung auch schon gelöst sind.
An einem Sommerabend hatten Zeugen Weldon und seine Braut
vor dem Besuch des Theaters bei einem lautstarken Streit beobach-
tet. Wenige Stunden später fand man die Leiche des Mädchens auf
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einem Ruinengrundstück in Soho; eine Zeugin hatte Weldon kurz
nach der ärztlich festgestellten Todeszeit in wilder Flucht vom Tat-
ort weglaufen sehen. Harold Weldon wurde sofort verhaftet; die
Zeugin erkannte ihn bei der Gegenüberstellung ohne jeden Zweifel
auf Anhieb wieder. In einem Taschentuch, das er leichtsinnigerwei-
se in der Tasche eines Anzugs hatte stecken lassen, den er auffal-
lend eilig zur Reinigung gebracht hatte, fand die Polizei Blutflecke.
Auch das Alibi des Angeklagten hielt der polizeilichen Überprü-
fung nicht stand.
Vielleicht wäre die Gerichtsverhandlung für den jungen Architek-
ten günstiger verlaufen, hätte er vor Gericht eine etwas bessere Fi-
gur abgegeben. Weldon hatte sich indessen nahezu Mühe gegeben,
sich mit jedem anzulegen. Die aggressive und sarkastische Art, mit
der er vor Gericht auftrat, hatte ihm nicht nur die Sympathien des
Richters, der Geschworenen und der Öffentlichkeit total verscherzt,
sondern auch die Arbeit seines Verteidigers empfindlich gestört.
Häufige Zornesausbrüche während der Verhandlungen halfen ihm
natürlich nicht, seine Unschuld zu beweisen; sie gossen nur noch
Öl auf das Feuer des Staatsanwalts. Hier steht vor Ihnen – so konn-
te der Staatsanwalt mit Nachdruck feststellen – der Prototyp eines
nur von sich selbst überzeugten jungen Mannes, der unfähig ist,
seine gewalttätigen Emotionen zu zügeln. Das Urteil stand eigent-
lich von vornherein fest, und für das von Verteidiger Jaime Mainardi
eingereichte Gnadengesuch fand sich nicht die geringste Unterstüt-
zung in der Öffentlichkeit. So war dann schließlich das Hinrich-
tungsdatum festgesetzt worden, und man schickte sich an, die Akte,
die Harold Weldons kurze und stürmische Lebensgeschichte ent-
hielt, für immer zu schließen.
Das war genau die Situation, als Mike Baxter, Kriminologe und
einst gerühmter Kriminalreporter des Londoner Zeitungsviertels
Fleet Street, an diesen Fall herankam. Obwohl im Prinzip an allen
Aspekten der Verbrechen interessiert – bildeten sie doch die Sub-
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stanz seiner Zeitungsartikel und Bücher, die ihm ein ansehnliches
Einkommen verschafften –, hatte Baxter diesen Fall nur oberfläch-
lich verfolgt. Sein Verleger und sein literarischer Agent drängten ihn,
endlich das Buch zu beenden, das schon längst hätte erscheinen
sollen, und seine Frau Linda bedrängte ihn, einen schon überfälli-
gen Urlaub anzutreten. Als eines Morgens das Telefon läutete, wäh-
rend er gerade dabei war, das Schlußkapitel auf der Schreibmaschi-
ne zu tippen, überhäufte er in Gedanken seine Frau mit milden Vor-
würfen wegen ihrer Abwesenheit, die ihn zwang, selbst zum Tele-
fonhörer zu greifen.
»Hier Conway und Racy«, flötete eine gezierte weibliche Stimme.
»Wer?« murmelte er. Der Name klang nach einem Büro für Wett-
annahmen. Mike machte sich nichts aus Wetten, es sei denn, er
hatte einen todsicheren Tip.
»Ist dort die Wohnung von Mrs. Baxter?« fragte die Stimme wei-
ter.
»Meine Frau ist im Augenblick nicht zu Hause«, antwortete Mike
höflich.
»Oh, wie schade… Würden Sie dann vielleicht so liebenswürdig
sein und der gnädigen Frau etwas ausrichten?«
»Ich bin sehr beschäftigt. Können Sie nicht später noch einmal
anrufen?« Mike war inzwischen klargeworden, daß die Schneiderin
seiner Frau aus der Bond Street am Telefon war.
Die überschwenglich liebenswürdige Stimme in der Leitung nahm
einen leicht pikierten Ton an. »Ich … mir scheint, Sie haben mich
nicht richtig verstanden, Mr. Baxter… Hier ist die Firma Conway
und Racy in der Bond Street…«
»Also gut, wenn es dringend ist«, seufzte er. »Aber machen Sie es
bitte kurz.«
In diesem Augenblick hörte er, wie die Tür seines Arbeitszimmers
geöffnet wurde. Ein Blick über die Schulter zeigte ihm, daß Linda
nach Hause gekommen war.
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»Könnte die gnädige Frau morgen nachmittag zur letzten Anpro-
be kommen?« erklang es am anderen Ende der Leitung. »Vielleicht
würde es der gnädigen Frau um drei Uhr passen?«
»Ganz bestimmt«, antwortete Mike hastig. »Ich werde es ihr aus-
richten.«
Als er auflegte, setzte Linda sich in den Ledersessel gegenüber sei-
nem Schreibtisch und sah ihn forschend an.
»Was ist los, Mike? Du siehst aus, als wäre dir eine Laus über die
Leber gelaufen.«
»Ach, nichts Besonderes, Liebling. Ich versuche nur gerade, mir
auf ehrliche Art und Weise mein Brot an der Schreibmaschine zu
verdienen, und muß dabei laufend Telefonanrufe deiner Friseuse,
Schneiderin und sonstiger Geschäftsleute entgegennehmen. Conway
und Racy erwarten dich morgen nachmittag um drei Uhr zur letz-
ten Anprobe.«
»Aber Darling! Das ist mein neues Kleid, das ich mir extra für –
du erinnerst dich doch hoffentlich? – für den Urlaub habe machen
lassen. Ich hoffe, du denkst an unsere Abmachung, übermorgen zu
fahren.«
»Jawohl, meine Liebe. Ich denke daran!«
Irgend etwas an seiner Tonart ließ sie aufhorchen. »Darling – es
bleibt doch bei unserer geplanten Reise nach Südfrankreich?«
»Aber ja doch, Liebling.«
»Das klingt nicht gerade begeistert. Jetzt sieh mich mal bitte ganz
fest an und gib mir dein feierliches Versprechen –«
»Wenn du mir nur ein paar Stunden ungestörter Konzentration
auf dieses längst fällige Opus meiner Feder lassen würdest, dann
könnten wir es gerade noch schaffen«, fiel er ihr ins Wort.
Linda stand auf, beugte sich vor und gab ihm einen flüchtigen
Kuß auf die Stirn. »Entschuldige, Darling; ich werde dich nicht län-
ger stören. Ich habe noch tausend Dinge zu erledigen, wenn wir
rechtzeitig reisefertig sein wollen.«
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Als sie sich zum Gehen wandte, klopfte es an die Tür, und Mrs.
Potter, die Haushälterin, kam herein.
»Entschuldigen Sie, Mr. Baxter. Draußen ist ein Herr, der Sie
sprechen möchte.«
Mike seufzte vernehmlich. »Jetzt weiß ich auch, warum Charles
Dickens niemals seinen Edwin Drood beendet hat. Wer ist es, Mrs.
Potter?«
Anstelle einer Antwort reichte ihm die Haushälterin eine Visiten-
karte.
»Hector Staines, stellv. Verkaufsdirektor Kean Brothers«, las Mike
laut. »Bauen die nicht Kühlschränke? Sagen Sie ihm: wir hätten
schon zwei, Mrs. Potter.«
»Wenn Sie mich fragen, Sir, so glaube ich nicht, daß der Herr Ih-
nen etwas verkaufen will. Er spricht gar nicht wie ein Vertreter. Der
Herr scheint furchtbar durcheinander zu sein und sagt, er müsse Sie
unbedingt sprechen. Es gehe um Leben und Tod, sagt er.«
Mike hob verwundert die Augenbrauen. »Das hat er gesagt? Wie
sieht er denn aus?«
»Es ist wirklich ein feiner Herr. Groß und schlank, graues Haar,
mit etwas starrem Gesicht. Er geht an einem Stock – sieht so aus,
als ob er ein steifes Bein hätte.«
Mike wechselte einen Blick mit seiner Frau, seufzte tief und schob
dann die Schreibmaschine zur Seite. »Heute ist mir offensichtlich
keine ruhige Arbeit vergönnt. Also, dann lassen Sie ihn in Gottes
Namen herein, Mrs. Potter.«
»Was meinst du – soll ich bleiben?« fragte Linda.
»Es wäre vielleicht besser – nur für den Fall, daß er seinen Stock
gebrauchen sollte, wenn ich mich weigere, noch einen Kühlschrank
zu kaufen.«
Die Beschreibung, die Mrs. Potter von dem Besucher gegeben hat-
te, war zwar wie immer respektlos, aber zutreffend.
Ein kultivierter Mann, Exschüler einer der bekannten Privatschu-
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len, schoß es Mike durch den Kopf, als er seinem Besucher die
Hand schüttelte – so gar nicht der Typ eines Vertreters. Und an-
scheinend war er, wie Mrs. Potter richtig bemerkt hatte, ›furchtbar
durcheinander‹.
»Verzeihen Sie bitte, wenn ich so formlos hier hereinplatze«, be-
gann Staines mit einer steifen Verbeugung gegenüber Linda, »aber
es handelt sich wirklich um eine Angelegenheit von größter Dring-
lichkeit.«
»Was kann ich für Sie tun?« fragte Mike mit einem Blick auf seine
Armbanduhr.
»Ich komme sofort zur Sache, da Sie offensichtlich sehr beschäf-
tigt sind.«
»Das ist er«, bestätigte Linda bedeutungsvoll.
Mike sah sie zurechtweisend an und bot seinem Besucher einen
Stuhl an. Der ältere Herr schüttelte den Kopf und begann nervös
im Zimmer auf und ab zu gehen. Das Hinken war kaum zu erken-
nen.
»Ich weiß nicht, ob Sie während der letzten Wochen die Zeitun-
gen verfolgt haben, Mr. Baxter?«
»Nicht genug, um etwa wegen der internationalen Lage kein Auge
schließen zu können. Die wird sich bald wieder beruhigen.«
»Ich meine nicht die große Politik, sondern den Fall Weldon.
Man wird einen Unschuldigen hängen.«
»Wen meinen Sie?«
»Harold Weldon.«
Mike warf einen schnellen Blick auf die Visitenkarte in seiner
Hand. »Einen Augenblick mal … stehen Sie in irgendwelchen Bezie-
hungen zu Weldon?«
»Ja, Lucy Staines war meine einzige Tochter«, antwortete der Be-
sucher ruhig.
Einen Augenblick lang herrschte Schweigen im Zimmer. Dann
sagte Mike: »Wenn ich mich recht erinnere, waren Sie doch der
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Hauptzeuge gegen Weldon. Hat nicht gerade Ihre Aussage zu seiner
Verurteilung beigetragen?«
»Ich bin mir dessen bewußt, wie paradox das heute klingen muß«,
antwortete der ältere Herr. »Aber das ist es ja gerade, was alles so
schwierig macht. Ich empfinde für den jungen Mann keine großen
Sympathien; ich glaube aber nicht, daß er meine Tochter umge-
bracht hat. Jedenfalls nicht mehr.«
»Augenblick bitte, Mr. Staines. Bevor wir mit unserem Gespräch
fortfahren, halte ich es für meine Pflicht, Ihnen zu sagen, daß ich
keinerlei offizielle Beziehungen zu Scotland Yard unterhalte. Sollten
Sie neue Beweise haben, aufgrund deren Sie Weldon jetzt für un-
schuldig halten, dann ist es Ihre Pflicht, sofort zur Polizei zu ge-
hen.«
Staines' starre Gesichtszüge nahmen plötzlich einen verzweifelten
Ausdruck an. »Gerade das geht nicht, Mr. Baxter! Ich verfüge nicht
über neue Beweise, zumindest nicht über nennenswerte.«
»Darf ich dann fragen, weshalb Sie trotzdem zu mir gekommen
sind?«
»Weil ich einfach nicht mehr glaube, daß Weldon der Mörder ist.«
»Soweit ich mich erinnere, ist in einem fairen Gerichtsverfahren
ein klares Urteil gesprochen worden.«
»Geschworene können sich irren. Das ist schon oft so gewesen.
Aber das stellt sich in den meisten Fällen erst heraus, wenn es zu
spät ist.«
Mike nickte nachdenklich. »Stimmt. Allerdings fürchte ich, der
Innenminister wird sich aufgrund einer bloßen Intuition Ihrerseits
kaum bereit finden, den Fall wieder aufrollen zu lassen. Was haben
Sie denn für Anhaltspunkte? Es muß doch irgend etwas geben, wo
man mit neuen Ermittlungen beginnen kann, sonst hätten Sie sich
wohl nicht die Mühe gemacht, mich aufzusuchen.«
»Wahrscheinlich ist es mein Gewissen, das mich antreibt, Mr.
Baxter. Wer seine einzige Tochter verliert, dem bricht die Umwelt
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wie ein Kartenhaus zusammen. Ein solcher Schock ist einfach un-
beschreiblich.«
»Das glaube ich Ihnen gern«, sagte Linda mitfühlend.
»Sobald der Schock nachläßt, kommt es zu einer furchtbaren Re-
aktion – zu einem dringenden Verlangen, um sich zu schlagen, zu
einem brennenden Rachedurst. Im Innern schreit eine Stimme: ›Je-
mand muß dafür zahlen‹.«
Wieder herrschte angespannte Stille, die Mike mit der ruhigen und
klaren Frage unterbrach: »Wollen Sie damit etwa sagen, Sie hätten
gegen Ihren damals angehenden Schwiegersohn falsches Zeugnis ab-
gelegt, Mr. Staines?«
»Großer Gott, nein! Ich habe die Wahrheit gesagt, wie ich es ge-
schworen hatte, und alle mir gestellten Fragen wahrheitsgemäß be-
antwortet.«
»Die Wahrheit – so wie Sie sie damals sahen?«
»Seit dem Urteilsspruch habe ich viele Nächte wach gelegen und
mir Sorgen un den jungen Mann gemacht, der jetzt in der Todes-
zelle sitzt und auf den Henker wartet. Und mein Gewissen quält
mich – war es meine Aussage, die ihn dorthin gebracht hat? Meine
Tochter lebt nicht mehr, niemand kann sie mir zurückbringen …
aber habe ich das Recht, das schon geschehene Unglück durch ei-
nen weiteren Todesfall noch zu verschlimmern?«
»Sicherlich«, sagte Mike, der seine Worte sorgfältig wählte, »haben
Sie sich nichts vorzuwerfen. Schließlich haben Sie nur Ihre Pflicht
getan, so unangenehm das auch gewesen sein mag.«
»Das habe ich mir auch schon einzureden versucht; es hat aber
nichts geholfen. Ich werde diese quälenden Gedanken nicht mehr
los.«
Linda und Mike sahen sich betroffen an, als Mr. Staines sein Ge-
sicht in den Händen verbarg.
Linda beendete das bedrückende Schweigen: »Mr. Staines, mein
Mann und ich sind in letzter Zeit ziemlich beschäftigt gewesen, so
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daß wir die Gerichtsverhandlung nicht im einzelnen verfolgen konn-
ten. Würden Sie uns bitte etwas genauer informieren, was in der
Mordnacht geschah?«
Staines hob den Kopf. Schmerz und Gram standen deutlich in
seinem Gesicht. »Harold und Lucy waren seit sechs Monaten ver-
lobt und wollten im Frühjahr heiraten. Sie sahen sich ziemlich oft,
soweit es ihre Berufe zuließen. Harold ist Juniorpartner in einem
Architektenbüro. Ich schätze seine Entwürfe nicht sehr, weil sie mir
zu modern sind. Lucy verdiente ihren Lebensunterhalt, wie Sie
vielleicht wissen, als Mannequin. Sie liebte ihre Arbeit und hing an
ihr, wie er an der seinen. An dem Abend, an dem sie ermordet wur-
de, hatten sich die jungen Leute zum Abendessen mit anschließen-
dem Theaterbesuch verabredet. Harold kam gegen sechs Uhr, um
Lucy abzuholen. Vielleicht sollte ich noch erwähnen, daß meine
Tochter und ich zusammenwohnten, seit meine Frau verstorben
war. Ich holte ihnen etwas zu trinken und ging dann nach oben.
Dabei hörte ich sie erregt sprechen, und bald wurde mir klar, daß
das junge Paar in einen handfesten Streit verwickelt war. Es war
nicht die erste Auseinandersetzung.«
»Konnten Sie hören, wovon gesprochen wurde?«
»Geschrien, nicht gesprochen.«
»Und worum ging es bei diesem Streit?«
»Es war eigentlich stets dasselbe; Harold wünschte, Lucy sollte so-
fort nach der Heirat ihren Beruf aufgeben. Sie weigerte sich, denn
sie liebte nicht nur ihre Arbeit, sondern auch das damit verbun-
dene Geld. Ihre Firma zahlt sehr gut. Lucy bestand immer darauf,
auch nach der Eheschließung weiterzuarbeiten. Das war ein wunder
Punkt in ihren Beziehungen, und keiner von beiden wollte nachge-
ben. Lucy war stets ein selbstbewußtes, unabhängiges Mädchen;
Harold aber ist viel zu sehr von sich überzeugt, als daß er die An-
sichten eines anderen akzeptieren könnte. Es war ein häßlicher
Streit, und ich war froh, als die beiden endlich das Haus verließen,
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um ins Theater zu gehen, das heißt zunächst zum Abendessen.«
»Um welche Zeit war das?«
»Etwa um Viertel vor sieben Uhr. Es stellte sich später heraus,
daß sie von einigen Bekannten im Restaurant und von einigen an-
deren auch im Theater gesehen wurden. Anscheinend hatten die
beiden sich noch nicht wieder vertragen. Es muß ein unangeneh-
mer Abend gewesen sein. Den Rest der Geschichte werden Sie wohl
kennen. Am frühen Morgen des folgenden Tages fand die Polizei
Lucy erwürgt auf einem Ruinengrundstück in Soho. Harold ver-
suchte, ein Alibi zu erfinden, doch konnte er die Polizei nicht irre-
führen. Er mußte seine erste Behauptung widerrufen und war völlig
außerstande, eine befriedigende Erklärung über seinen Aufenthalt
zwischen dem Verlassen des Theaters und der Mordzeit zu geben.«
»Ich glaube mich zu erinnern, wie er sich wegen seines Alibis in
ein Netz von Widersprüchen verwickelt hat«, warf Mike ein.
»Mr. Staines – darf ich Sie etwas fragen?« sagte Linda interessiert.
»Hatte Ihre Tochter andere gute Freunde?«
»Falls Sie damit fragen wollen, ob sie sich noch mit anderen jun-
gen Männern eingelassen hat, so ist die Antwort entschieden ›nein‹«,
erwiderte Staines. »Weldons Winkeladvokat hat etwas Ähnliches zu
unterstellen versucht, konnte aber keine Beweise dafür erbringen.«
»Ich dachte eigentlich mehr an Freundinnen.«
»Ach so. Doch, sie war ziemlich eng mit einem jungen Mädchen
befreundet, das ebenfalls in der Bond Street als Mannequin arbei-
tet.«
»Wissen Sie, wie das Mädchen heißt?« fragte Mike.
Staines schien einen Augenblick zu überlegen, wobei er sein Ta-
schentuch hervorholte und sich damit die Augenbrauen abtupfte.
»Ich glaube, sie heißt Peggy Bedford oder so ähnlich.«
Linda führte das Gespräch weiter. »Sie haben eben die Bond Street
erwähnt. Haben die Mädchen dort für eines der größeren Modege-
schäfte gearbeitet?«
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»Für Conway und Racy.«
»Wie seltsam«, murmelte sie. Staines jedoch, der sich erhob, an-
scheinend um zu gehen, verlor seinen Stock und überhörte diese
Bemerkung, weil Linda sich bückte, um den Stock aufzuheben.
»Sie werden bestimmt das Gefühl haben, ich vergeude Ihre Zeit,
Mr. Baxter«, sagte Staines dann. »Aber ich mußte das alles einmal
loswerden. Ich kann nachts nicht mehr schlafen!«
»Sie haben mir aber wenig mitgeteilt, woran man anknüpfen könn-
te. Selbst wenn ich Zeit hätte, was nicht der Fall ist, wüßte ich
kaum, wo ich den Hebel ansetzen sollte.«
»Sie könnten zunächst herauszufinden versuchen, wer L. Fairfax
ist«, erwiderte der alte Mann unvermittelt.
»L. Fairfax? Wer ist das?«
»Die Person, mit der Lucy am 12. Mai eine Verabredung hatte.
Man fand die Eintragung in ihrem Notizbuch.«
»Die Polizei weiß hiervon?«
»Es kam bei der Verhandlung zur Sprache. Die Bemühungen der
Polizei, ihn zu finden, waren aber recht kläglich; niemand schien
daran wirklich interessiert zu sein. Alles wäre vielleicht anders ge-
laufen, wenn der 12. Mai ihr Todestag gewesen wäre. Da es aber ei-
nige Tage danach war, fand wohl niemand die Eintragung bedeut-
sam.«
»War die Notiz von ihr geschrieben?«
»Ja. ›L. Fairfax. 8.30 Uhr‹ lautete sie.«
»Und an der Identität der Handschrift besteht kein Zweifel?«
»Nicht der geringste.«
»Also gut. Tja, wenn Sie wirklich glauben, uns alles erzählt zu ha-
ben, Mr. Staines…« Mit einem Blick auf die Uhr stand Mike auf.
Staines warf ihm einen scharfen Blick zu und schien drauf und
dran, noch etwas zu sagen. Dann besann er sich jedoch anders, ver-
neigte sich höflich vor Linda und verabschiedete sich.
»Welchen Eindruck hast du von ihm?« fragte Linda kurz danach
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beim Essen.
»Was hältst du von ihm?« konterte Mike grinsend.
»Ach, nun komm schon! Ich habe zuerst gefragt. Obwohl Staines,
wenn du mich schon fragst, mir etwas unsicher vorkam.«
»Interessant. Und was erschien dir vorhin so merkwürdig?«
»Hast du nicht gemerkt, wie er sich gewunden hat, als ich ihn
nach den Freunden seiner Tochter fragte? Es war fast so, als hätte
man ihn gefragt, wie hoch er sein Bankkonto überzogen habe.«
Mike nickte nachdenklich. »Gut beobachtet. Wenn ich an diesem
Fall interessiert wäre«, er hob wegen des alarmierten Gesichtsaus-
druckes seiner Frau abwehrend die Hand, »ich sagte nur wenn. Also,
wenn ich daran interessiert wäre und nicht so recht wüßte, wo ich
anfangen sollte, dann würde ich eine kleine Unterhaltung mit Miß
Peggy Bedford herbeiführen, der Angestellten jenes renommierten
und entsprechend sündhaft teuren Modesalons in der Bond Street.«
Linda lachte. »Du weißt ganz genau, daß ich dort für morgen
nachmittag drei Uhr verabredet bin. Nun wirst du natürlich auf
einmal den galanten Ehemann spielen und darauf bestehen wollen,
mich dorthin zu fahren und auch wieder abzuholen.«
»Darling – jetzt wirst du aber bösartig. Ich habe nur gesagt, wenn
ich an diesem Fall interessiert wäre.«
Mike tat so, als konzentrierte er sich ganz auf das Dessert, nahm
aber dann das Gespräch wieder auf: »Übrigens gibt es da noch je-
manden, dem ich einige genau gezielte Fragen stellen würde, und
das ist Mr. Staines selbst. Der Grund, den er für seinen Besuch bei
uns angab, war zu einfach und nicht stichhaltig genug. Und dann:
Entsinnst du dich noch, wie er sich ausdrückte, als wir über seine
Aussage vor Gericht sprachen?«
»Ja, ich weiß. Er sagte: ›Ich habe die Wahrheit gesagt, wie ich es
geschworen hatte.‹«
»Das war aber noch nicht alles. Staines fügte noch hinzu: ›Auf
alle mir gestellten Fragen‹, wenn ich mich recht erinnere.«
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Mike hatte den letzten Satz mit besonderem Nachdruck gespro-
chen und beobachtete seine Frau, um die Wirkung festzustellen.
»Einen Moment mal! Du meinst, er antwortete nur auf das, was
er von uns gefragt wurde?«
»Genau das ist es! Vielleicht ziehen wir voreilige Schlüsse; aber
Hector Staines erweckt bei mir den Eindruck eines Mannes, der mit
sich selbst nicht im reinen ist, nicht mit seiner inneren Stimme,
nicht mit dem, was er uns erzählt und was er nicht erzählt hat. Meiner
Ansicht nach ist es gerade das letztere, was seinen inneren Frieden
so stört. Warum sollte er sonst ausgerechnet zu mir kommen, statt
in letzter Stunde zu Weldons Anwalt oder zur Polizei zu gehen?«
»Das liegt doch auf der Hand; er hat nichts Konkretes, mit dem
man was anfangen könnte. Jedes Kind weiß, daß es Harold Weldon
nichts nützen würde, wenn man seine vermutete Unschuld in die
Welt hinausschreien würde. Man muß schon einige Tatsachen als
Ausgangsbasis haben. Staines kann keine aufbieten, deshalb ist es
für ihn auch sinnlos, zur Polizei zu gehen.«
»Zum Teil magst du recht haben. Aber nehmen wir einmal – rein
theoretisch – an, Staines habe die Polizei deshalb nicht aufgesucht,
weil er selbst Angst vor ihr hat. Ich weiß, das ist eine bloße Vermu-
tung; aber unterstellen wir dennoch, daß er sich davor fürchtet, es
könnten dabei zu viele Medaillen umgedreht und zu viel persön-
liche Geheimnisse durchgeschnüffelt werden.«
Linda brach in helles Lachen aus. »Ach Liebling, du mit deinen
voreiligen Hypothesen. Und dann – der gewisse Glanz in deinen
Augen, den mag ich jetzt durchaus nicht. Frühstücke erst und denk
dann an den Manuskript-Ablieferungstermin deines Verlegers, damit
wir in Urlaub fahren können. Der Fall Weldon ist nichts für dich.«
Mike grinste vor sich hin und wandte sich wieder seinem Teller
zu.
Beim Kaffee, den Mrs. Potter später hereinbrachte, fragte er ganz
beiläufig: »Hast du heute nachmittag etwas Besonderes vor?«
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Linda fauchte ihn ärgerlich an. »Ich weiß ganz genau, was du da-
mit einfädeln willst. Und du weißt auch, daß ich tausend Dinge zu
erledigen habe. Packen beispielsweise.«
»Wenn ich an den winzigen Bikini denke, den du in Cannes zu
tragen gedenkst, kann ich nicht verstehen, daß du so viel Zeit zum
Packen brauchst.«
Linda legte die Stirn in Falten. »Verlieren wir keine Zeit mit dieser
Plauderei, Darling. Was willst du von mir?«
»Es ist nur so ein plötzlicher Einfall. Du könntest unseren alten
Freund Sammy Spears von der Tribune anrufen und versuchen, aus
ihm etwas über den Fall Weldon herauszuholen.«
»Sammy Spears?«
»Ja, meine Liebe. Er ist immer noch der Star unter den Kriminal-
reportern, ganz bestimmt hat er auch über diesen Fall berichtet.
Und – erröte nicht gleich – schließlich war er doch früher einer dei-
ner glühendsten Verehrer, Liebling.«
»Sammy Spears war nur –«
»Prächtig! Also übernimm deinen Teil der Arbeit und sieh zu,
daß du viel aus ihm herausquetschen kannst. Dann brauche ich
nicht meine Zeit damit zu vergeuden, in den Redaktionsarchiven
der Fleet Street herumzuwühlen.«
»Was hoffst du denn von Sammy Spears zu erfahren?«
»Ich bin nicht ganz sicher. Sammy ist ein guter Journalist und ein
verdammt heller Kopf. Mich interessiert brennend, was er von der
Sache überhaupt hält. Ich möchte soviel wie möglich wissen: die
Tatsachen und Gerüchte, jede private Eingebung oder Schlußfolge-
rungen, zu denen er selbst kam, über die er aber nicht schreiben
konnte. Laß dir vor allem erzählen, was er von den Hauptfiguren
des Falles hält.«
»Und wenn Sammy sagt, Weldon hätte die verdiente Strafe be-
kommen?«
»Dann verlasse ich mich auf sein Urteil und rühre keinen Finger
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in dieser Sache.«
Der Abend war bereits hereingebrochen, als Mike sich gerade einen
Martini Dry mixte und Linda etwas atemlos in ihre Wohnung in
der Sloane Street zurückkehrte.
»Möchtest du etwas trinken, Darling?« fragte Mike.
»Nein, danke. Ich hatte bei Sammy schon mehr als meine Tages-
ration intus. Du weißt doch, wie das so mit meinen ehemaligen Kol-
legen ist. Erst nach einer halben Stunde bei El Vino lockert sich bei
denen die Zunge.«
Mike lächelte spöttisch. »Wie lange, sagtest du?«
Linda lächelte etwas schuldbewußt. »Eindreiviertel Stunden. Ich
sagte mir, das nutzt du mal richtig aus, weil du mir ja ausdrücklich
erlaubt hattest, mit einem früheren Verehrer auszugehen –«
»Da kommt bei dir eine Form weiblicher Logik zum Vorschein,
die auf mich etwas verblüffend wirkt. Hast du nun Sammy bewegen
können, über den Fall Weldon zu sprechen?«
»Ja.« Linda seufzte schwer und zündete sich eine Zigarette an.
»Was soll denn dieser dramatische Seufzer?«
»Weil ich in meinem Inneren einen Kampf mit meinem Gewissen
ausfechte. Was Sammy erzählte, war nicht gerade das, was ich hören
wollte. Für dich wird es leider ein gefundenes Fressen sein.«
»Ich bin ganz Ohr.«
»Die Informationen sind natürlich nicht für die Öffentlichkeit be-
stimmt; deswegen konnte Sammy auch kein einziges Wort darüber
schreiben. Er hätte sonst riskiert, sich diverse Verleumdungsklagen
einzuhandeln. Um es vorwegzunehmen: Seiner Ansicht nach war es
ein glattes Fehlurteil.«
Mike stieß einen Pfiff aus. »Das ist eine schwerwiegende Feststel-
lung, vor allem, wenn sie von Sammy stammt. Erzähle weiter, du
machst mich neugierig.«
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»Genau das hatte ich befürchtet; nun wirst du dich Hals über
Kopf in die Sache stürzen«, antwortete Linda und seufzte erneut.
»Und nun kann ich dir wohl nicht schnell genug alles erzählen. Ich
kenne dich doch. Also hör zu: Warum es ein Fehlurteil war? Zu-
nächst einmal wegen des Richters, der schon recht senil gewesen zu
sein scheint und längst hätte pensioniert werden müssen. Auch von
den Geschworenen hatte Sammy den Eindruck, daß sie ungewöhn-
lich primitiv gewesen seien. Den Vogel aber scheint Jaime Mainar-
di, der Verteidiger, abgeschossen zu haben. Sammy meint, der Mann
habe den Fall vollkommen verkorkst. So etwas kann er natürlich
nicht in der Zeitung schreiben, doch scheint es wirklich so, als hät-
te es während der ganzen Verhandlung latente Gegensätze zwischen
Mainardi und Weldon gegeben.«
»Zwischen Verteidiger und Angeklagtem? Das ist wirklich unge-
wöhnlich.«
»Ist es auch. Man setzt doch voraus, daß die Staatsanwaltschaft
den Degen mit dem Angeklagten und seinem Verteidiger kreuzt,
aber nicht, daß die beiden, die auf derselben Seite des Gerichtssaa-
les sitzen, sich in der Wolle haben! Allgemein scheint man zwar in
Weldon einen unangenehmen Querulanten zu sehen, was jedoch
nichts daran ändert, daß er vor Gericht außerordentlich unfair be-
handelt worden ist. Mainardi muß ein eingebildeter Fatzke sein, der
während der ganzen Verhandlungsdauer eine Schau abgezogen hat,
ohne Rücksicht darauf, daß dies seinem Klienten schadete, meint
Sammy.«
»Da muß es ja interessant sein, sich einmal kurz mit diesem Herrn
Mainardi zu unterhalten«, erwiderte Mike.
»Das hat Sammy auch gesagt. Das Büro von Mainardi befindet
sich drüben in der Chancery Lane«, fuhr Linda mit resignierter
Stimme fort, wobei sie in ihrer Handtasche nach einem Zettel such-
te. »Sammy hat die Adresse für dich aufgeschrieben.«
Mike nahm den Zettel aber nicht an sich. »Danke, die Adresse
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habe ich mir inzwischen selbst herausgesucht. Starr mich nicht so
finster an, Liebling. Ich hatte meine Schreibarbeit beendet und muß-
te doch mit etwas die Zeit ausfüllen, während ich so lange auf dich
wartete.«
»Mike Baxter! Du hast mir fest versprochen, dich nicht in diesen
Fall hineinziehen zu lassen«, erinnerte sie ihn.
»Das werde ich auch nicht, Liebling. Du kannst ruhig weiter dei-
nen Bikini für Cannes einpacken, und ich mache hier mit allem
Schluß, sobald ich noch ein paar Kleinigkeiten erledigt habe.«
Mike ging zum Telefon hinüber und wählte eine Nummer.
»Du erwartest doch nicht etwa, zu so später Stunde noch einen
Anwalt in seinem Büro zu erreichen?« fragte Linda.
»Bestimmt nicht. Den nehme ich mir morgen früh vor.«
»Wen rufst du denn an?«
»Ach, nur ein kurzes Gespräch mit Kriminaldirektor Goldway«,
antwortete Mike. Als er die vertraute Stimme im Hörer vernahm,
sagte er: »Guten Abend. Bist du es, John? Hier Mike Baxter. Ent-
schuldige, wenn ich dich zu dieser Stunde noch störe. Aber viel-
leicht kannst du mir in einer kleinen Sache helfen? Könntest du
durch eine deiner Dienststellen nachforschen lassen, wo es eine
Kneipe, ein Hotel, einen Klub oder sonstigen Treffpunkt namens
Lord Fairfax
gibt? … Sagen wir im Umkreis von etwa fünfzig Meilen
um London? … Das läßt sich jetzt schlecht erzählen, aber ich wäre
dir dankbar, wenn du mir morgen früh fünf Minuten deiner kost-
baren Zeit opfern könntest… Prächtig! … Darf ich dich vorher an-
rufen? … Herzlichen Dank. Schönen Abend noch.«
Mit leicht ironischer Stimme fragte Linda: »Du hast inzwischen
allerhand Denkarbeit geleistet, nicht wahr, Liebling? Und während
der ganzen Zeit hoffte ich, du wärst mit deiner Arbeit beschäftigt,
damit das letzte Kapitel deines Romans fertig wird.«
»Das Buch ist fast fertig. Und was diese Idee mit L. Fairfax be-
trifft, so ist das eine ziemlich weither geholte Vermutung, bei der
17
wahrscheinlich nichts herauskommen wird. Aber ich fragte mich,
ob es nicht besser wäre, statt in einem Volk von fünfzig Millionen
Seelen nach einem geheimnisvollen Herrn namens L. Fairfax zu su-
chen, lieber einen Treffpunkt dieses Namens ausfindig zu machen –
etwa eine Kneipe oder ein Hotel, wo Lucy Staines sich für den 12.
Mai um 8.30 Uhr verabredet hatte.«
»Das klingt ziemlich logisch.«
»Und wenn dabei nichts herauskommt, um so besser. Dann gibt
es in der ganzen Sache für mich nichts mehr zu tun. Habe ich
recht?«
»Diese Art zu argumentieren kommt mir irgendwie bekannt vor,
Mr. Baxter. Jedesmal, wenn du zu schnauben anfängst wie ein altes
Kavalleriepferd beim Klang der Trompeten, dann weiß ich genau,
was mir bevorsteht. Du bist bereits drauf und dran, dich in die Sa-
che hineinziehen zu lassen.«
»Aber Darling, du fährst mir zu schnell. So weit ist es noch lange
nicht. Alle sind sich doch darüber einig, daß der Fall Weldon ab-
geschlossen ist.«
Linda gab einen undefinierbaren Laut von sich, und ungläubig
sagte sie: »Ich weiß doch, wie du es genießt, den seltsamen Außen-
seiter zu spielen.«
2
ike Baxter kam von der Chancery Lane her und suchte im
Verkehrsgewühl nach einem Taxi. Es war ein wunderschöner
Sommermorgen, doch konnte er in seiner augenblicklichen Stim-
M
M
18
mung keinen Gefallen an dem herrlichen Sonnenschein finden, der
auf den roten Doppeldecker-Omnibussen glänzte und die Schau-
fenster längs der Straße in warmes und helles Licht hüllte.
Sein Gespräch mit Rechtsanwalt Jaime Mainardi war kurz und
aggressiv gewesen. Nur mit Mühe hatte Mike dabei sein Tempera-
ment zügeln können. Sammy Spears hatte schon recht – dieser
Mann war ein aufgeblasener Gernegroß, und man hätte ihm nicht
die Verteidigung eines so schwierigen Klienten wie Harold Weldon
anvertrauen dürfen. Mike hatte nicht die geringste Ahnung, ob
Weldon wirklich des Mordes schuldig war. Aber Mike war nach
diesem kurzen und unerfreulichen Gespräch mit dem Anwalt Wel-
dons geneigt, sich zumindest einem Punkt der Theorie von Sammy
Spears anzuschließen, wonach man den Angeklagten außerordent-
lich unfair behandelt hatte.
Am meisten war Mike davon überrascht, wie völlig selbstverständ-
lich der Verteidiger das Schicksal seines Klienten hinnahm. Natür-
lich mußte es für einen Anwalt bitter sein, in einem Fall nichts er-
reicht zu haben; aber hier ging es schließlich nicht um eine Ehe-
scheidung oder eine Beleidigungsklage. Die Todesstrafe war ver-
hängt worden, und das Leben eines Menschen hing an einem dün-
nen Faden. Mike hatte erwartet, zumindest Spuren von Bedrückt
sein in Mainardis Anwaltsbüro festzustellen, stieß aber nur auf be-
queme Gleichgültigkeit.
Inzwischen war es ihm gelungen, ein Taxi anzuhalten. Er gab
dem Fahrer Scotland Yard als Fahrtziel an.
In seinen Ohren klang immer noch der erstaunlich unbekümmer-
te Abschluß seines kurzen Gesprächs mit Rechtsanwalt Mainardi,
das dieser mit den Worten beendete: »Wirklich, Mr. Baxter – Sie
müssen schon entschuldigen, wenn ich Ihnen nicht viel Zeit wid-
me. Ich bin Geschäftsmann wie jeder andere auch und verdiene
mein Brot, indem ich Erläuterungen neuer Klienten zu ihren Fällen
entgegennehme, aber nicht mit Versuchen, Klienten zu trösten, de-
19
ren Fälle ich leider verloren habe.« Und dann krönte dieser Kerl
sein niederträchtiges Verhalten noch mit der unverschämten Frage,
ob er wohl bald mit der Anweisung der Anwaltsgebühren rechnen
könne.
»Zweifellos werden Sie Ihr Geld noch bekommen, bevor man
Weldon den Strick um den Hals legt«, hatte Mike ihn angefahren.
Der Advokat hatte gestenreich seine Hand an die Stirn gelegt, als
fühle er sich durch diese scharfe Reaktion Baxters beleidigt. »Ent-
schuldigen Sie die Bemerkung, Mr. Baxter, aber ich kann über-
haupt nicht verstehen, welches Interesse Sie jetzt noch an diesem
Fall haben können.«
»Was mich anbetrifft, so beginne ich jetzt überhaupt erst zu ver-
stehen«, hatte Mike erwidert. »Auf Wiedersehen!«
Während das Taxi sich seinen Weg durch das Verkehrsgewühl
nach Whitehall bahnte, zwang Mike sich zur Ruhe. Die Tatsache,
daß Weldons Verteidigung in den Händen eines so unfähigen
Rechtsanwaltes gelegen hatte, war natürlich noch längst kein Beweis
für die Unschuld des Angeklagten. Dasselbe Urteil hätte auch an-
gesichts einer glänzenden Verteidigung gefällt werden können. Nun
merkte Mike, wie er zusehends tiefer in diesen Fall hineingeriet. Er
verspürte das Bedürfnis, mit Harold Weldon persönlich zu spre-
chen. Als er das Taxi bezahlt hatte und Scotland Yard betrat, fragte
er sich, ob Kriminaldirektor Goldway wohl einen Besuch im Ge-
fängnis Pentonville arrangieren würde.
Nach den üblichen Formalitäten wurde Mike zu Goldways Zim-
mer hinaufgeführt, von dem aus man einen weiten Blick über den
Fluß ins Freie hatte.
Der schlanke, weißhaarige und distinguiert auftretende Kriminal-
direktor telefonierte gerade, als Mike eintrat; er schenkte ihm ein
freundliches Lächeln zur Begrüßung und forderte ihn mit einer
Handbewegung auf, sich zu setzen. Nach dem Telefongespräch
stand Goldway auf und schüttelte Mike die Hand. Dann bot er ihm
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eine Zigarette an und erkundigte sich, wie es Linda gehe. Da Mike
wußte, welch umfangreiches Arbeitspensum Goldway stets zu erle-
digen hatte, kam er sofort zur Sache. Er berichtete über den Besuch
von Hector Staines, der das Interesse für den Fall Weldon in ihm
geweckt hatte.
»Ich weiß selbst, John, daß damit noch nicht viel anzufangen ist.
Aber ich habe nun einmal meine Nase in den Fall gesteckt und
komme jetzt nicht mehr davon los.«
»Das ist, solange ich dich kenne, eine chronische Schwäche von
dir, Mike«, erwiderte Goldway mit wohlwollendem Lächeln. »Aller-
dings sind wir oft froh über deine wertvolle Mitarbeit gewesen; also
spricht nichts dagegen, wenn wir dir auch mal behilflich sind. Doch
muß ich aus formalen Gründen darauf hinweisen, daß der Fall für
uns abgeschlossen ist.«
»Natürlich. Aber für einen Kriminologen wie mich ist kein Fall je-
mals ganz abgeschlossen. Wir streiten uns ja noch heute über einige
Urteile aus dem 18. Jahrhundert. Im Falle Weldon hat aber der Ver-
urteilte noch ein bis zwei Wochen zu leben.«
»Stimmt. Gehen wir also davon aus, daß dein Interesse rein aka-
demischer Natur ist. Und nun zu deiner Rückfrage wegen Lord Fair-
fax: Ich habe einige Mitarbeiter darauf angesetzt, und wenn so ein
Laden existiert, werden sie ihn finden. Ich meine, bis heute abend
sollten wir eine definitive Antwort haben.«
Mike blickte sein Gegenüber bestürzt an. »Bis jetzt also noch kei-
ne Nachricht? Und ich hatte so gehofft, endlich einen Ansatzpunkt
in die Hand zu bekommen. Angenommen, meine Theorie stimmt
und Fairfax ist eine Kneipe oder eine andere Art von Treffpunkt,
also keine Person, da wäre es doch interessant, herauszufinden, wen
Lucy Staines dort treffen wollte. Meinst du nicht auch?«
»Schon möglich. Aber an deiner Stelle würde ich nicht allzuviel
darauf setzen. Einen Besuch im Gefängnis kann ich für dich arran-
gieren, wenn du unbedingt willst – obwohl du dort nicht gerade ei-
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nem Charmeur begegnen wirst. Der Mann hat geradezu ein vollen-
detes Talent, sich alle Leute zum Feind zu machen. Aber es gibt
noch jemanden, mit dem du vielleicht sprechen solltest und der dir
nützlich sein könnte.«
»Wer ist das?«
»Detektiv-Inspektor Charles Rodgers. Er hat damals den Fall bear-
beitet.« Goldway griff zum Haustelefon. Zu Mike gewandt, meinte
er dann: »Erwarte aber nicht, daß er entzückt sein wird, deine Be-
kanntschaft zu machen. Der Mann ist sehr beschäftigt und steckt
im Augenblick bis über beide Ohren in der Untersuchung einer
Messerstecherei mit tödlichem Ausgang. Vielleicht hat er ein paar
Minuten Zeit für uns.«
Rodgers erschien wenige Minuten nach Goldways Anruf. Als Mike
ihn begrüßte, hatte er sofort den Eindruck, einem zähen, hartgesot-
tenen, aber auch fähigen Mann gegenüberzustehen, der Mitte Vier-
zig war und sich wenig um seine Kleidung kümmerte.
Goldway beendete die Vorstellung mit den Worten: »Wie ich
schon sagte, hat Rodgers den Fall Weldon bearbeitet.«
»Von Anfang an, Inspektor?« fragte Mike.
»Ja.«
»Hm. Mein großes Handicap ist, daß ich die Gerichtsverhand-
lung nicht verfolgen konnte und daher die Einzelheiten nicht ken-
ne. Ich weiß von Staines, daß Weldon und seine Verlobte an dem
Abend heftig miteinander gestritten hatten und daß sie dann zum
Abendessen und anschließend ins Theater gingen. Was ist danach
nun wirklich geschehen?«
Rodgers verzog sein Gesicht zu einer Grimasse, die Verdruß und
Ärger über Zeitdiebstahl erkennen ließ; ostentativ blickte er auf sei-
ne Uhr.
Goldway schaltete sich vermittelnd ein: »Diese Unterredung wird
kaum mehr als fünf Minuten Ihrer Zeit beanspruchen, Inspektor.
Mike Baxter ist ein alter Freund von mir. Er weiß auch, wie sehr ge-
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rade Sie in Zeitdruck sind.«
Rodgers gab einen undefinierbaren Laut von sich und strich mit
der Hand über sein kurzgestutztes Haar. »Ich will mich kurz fas-
sen«, begann er. »Weldon und Lucy Staines verließen das Theater
bereits vor dem Ende der Vorstellung, etwa gegen zehn Uhr. Nach
Weldons erster Aussage erreichte der Streit dann vor der Tür des
Theaters seinen Höhepunkt. Lucy wandte sich von Weldon plötz-
lich ab und ging einfach fort. Weldon will dann in seinen Wagen
gestiegen und nach Hause gefahren sein. Er sagte – und ich weise
darauf hin, daß dies seine erste Aussage war – er sei gegen halb elf
Uhr zu Hause angekommen.«
»Weldon teilte in der New Cavendish Street eine Wohnung mit
einem Freund namens Victor Sanders«, warf Goldway ein.
»Sanders konnte aber Weldons Angaben nicht bestätigen«, fuhr
Inspektor Rodgers fort. »Er sagte uns, Weldon sei erst gegen halb
zwölf Uhr heimgekommen. Wir nagelten Weldon darauf fest, und
er änderte sofort seine Aussage, indem er nun behauptete, daß er
sich um zehn Uhr von Lucy vor dem Theater getrennt habe, ein
bißchen durch West End gefahren sei, dann seinen Wagen am St.
James Square geparkt habe und noch etwas spazierengegangen sei.
Kurz nach Mitternacht will er dann wieder zu seinem Wagen zu-
rückgekehrt sein. Das wäre ein Spaziergang von rund zwei Stunden.
Erst dann will er nach Hause gefahren sein. Niemand hat ihn oder
den Wagen gesehen.«
»Mit anderen Worten: Er konnte nicht überzeugend nachweisen,
wo er sich zwischen zehn und halb ein Uhr aufgehalten hatte«, sag-
te Mike.
»So ist es«, bestätigte Goldway. »Nach einwandfreien ärztlichen
Gutachten steht fest, daß der Mord innerhalb dieser Zeitspanne
verübt wurde. Berichten Sie weiter, Inspektor.«
»Zwei Tage nach dem Mord schickte Weldon einen Anzug zum
Reinigen und Bügeln. Ich suchte die Reinigungsanstalt auf und fand
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in einer der Taschen ein blutbeflecktes Taschentuch. Laut Analyse
unseres Labors handelt es sich um die gleiche Blutgruppe, die auch
das Mädchen hatte. Weldon gab zu, daß es sein Taschentuch sei,
konnte aber die Flecken nicht erklären.«
»Lucy Staines ist aber doch erwürgt worden, soviel ich weiß.«
»Ja, aber offenbar erst nach vorausgegangenem Kampf. Auf einer
Gesichtshälfte des Mädchens fand sich ein böser Kratzer, von dem
das Blut stammen muß.«
»Wer hat die Leiche entdeckt, Inspektor?«
»Eine Frau namens Nadia Tarrant. Sie wohnt am Soho Square.
Als sie kurz nach Mitternacht ihren Heimweg über das Ruinen-
grundstück abkürzen wollte, kam ein Mann aus dem Schatten ge-
stürzt, stieß sie zur Seite und lief dann die Greek Street entlang. Sie
konnte den Mann so gut beschreiben, daß wir daraufhin Harold
Weldon mit mehreren Männern zusammen in eine Reihe zur Iden-
tifizierung stellten. Sie hat ihn ohne jedes Zögern sofort wiederer-
kannt. Außerdem fanden wir Weldons Fingerabdrücke an der Hand-
tasche von Miß Staines, die auch noch eine Geldbörse mit fünf
Pfund und eine goldene Puderdose enthielt. Außerdem trug Lucy
Staines einen hübschen kleinen Diamantenclip.«
»Fehlte sonst etwas?« fragte Mike.
»Nichts. Daher konnten wir ja auch Raubüberfall als Tatmotiv
ausschließen.«
Goldway unterbrach Rodgers, als dieser sich eine Zigarette anzün-
dete. »Seltsamerweise fehlte aber ein Gegenstand. Der scheint je-
doch nicht von Bedeutung zu sein.«
»Was war es denn, John?«
»Ein Schuh.«
Rodgers blies eine Rauchwolke in die Luft und nickte. »Ach ja,
das hatte ich vergessen. Sie trug nur am rechten Fuß einen Schuh.
Den anderen muß sie während des Kampfes verloren haben. Seltsa-
merweise haben wir ihn nirgends gefunden.«
24
Mike schloß nachdenklich die Augen. »Höchst eigenartig, daß
ein Mörder einen solchen Gegenstand mitnimmt. Was kann er mit
einem einzelnen Schuh anfangen? Außerdem ist das doch ein ver-
dammt heißes Beweisstück gegen ihn.« Als Inspektor Rodgers wie-
der auf seine Uhr sah, fügte Mike hastig hinzu: »Sie haben mir groß-
zügig Ihre Zeit gewidmet, Inspektor. Vielen Dank, daß Sie mich so
umfassend informierten.«
Rodgers nickte nur oberflächlich und verließ mit einem kurzen
Gruß das Zimmer.
Mike verabschiedete sich von Goldway und ließ sich von einem
Taxi zur Tankstelle fahren, wo sein Jaguar abgeschmiert wurde, und
fuhr dann zurück zur Sloane Street, worauf Mrs. Potter ihm ein kal-
tes Essen servierte, das Linda vorbereitet hatte.
Am Nachmittag verbannte er alle Gedanken über den Fall Wel-
don und arbeitete zwei Stunden intensiv an seinem Buch. Die ein-
zige Unterbrechung ergab sich durch einen Telefonanruf von Lin-
da, die ihm mitteilte, daß er nicht auf sie zu warten brauche und
sie kurz nach drei Uhr im Modesalon Conway und Racy abholen
möchte.
Es war hoffnungslos, einen Parkplatz in der Bond Street zu fin-
den. Schließlich erspähte Mike eine Parklücke am Hanover Square
und schoß wie ein Rugby-Flügelstürmer darauf zu, wobei er zwei
anderen Lückensuchern nur mit Frechheit und durch die stärkere
Beschleunigung seines Wagens das Nachsehen gab.
Bis er dann zu Fuß bei Conway und Racy angelangt war, hatte
Linda die letzte Anprobe eines zweiteiligen grauen Kleides beendet,
das ihrer Ansicht nach in Cannes, besonders bei den Damen, Auf-
sehen erregen würde. Es sollte schon am nächsten Tage geliefert wer-
den, und Mike dachte daran, daß die Rechnung, weil nur er sie zu
Gesicht bekommen würde, weniger aufsehenerregend, für ihn aber
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aufregend genug sein werde.
»Hast du etwas bei Scotland Yard erreicht?« fragte Linda, als sie
aus der Umkleidekabine kam.
»Ja und nein.«
»Du siehst so niedergeschlagen aus. Hat man den ›Lord Fairfax‹
nicht ausfindig gemacht?«
Mike schüttelte den Kopf. »Es ist nicht nur das. Mein kurzes Ge-
spräch mit Mainardi hat schon gereicht, um mir den ganzen Tag
zu verderben. Ich erzähle dir das alles ausführlicher, sobald es mir
gelungen ist, dich dort an der Hutabteilung vorbei und aus diesem
sündhaft teuren Modesalon bugsiert zu haben.«
Linda kicherte wie ein junges Mädchen und griff ihn am Arm.
»Zu spät, Darling. In der Hutabteilung war ich schon.«
Mike stieß einen abgrundtiefen Seufzer aus. »Was hast du ge-
kauft? Zwei Federn und einen Hauch von Schleier direkt aus Paris,
wie?«
»So schlimm ist es wirklich nicht, ehrlich.« Linda wandte sich mit
fragenden Blicken an eine gutaussehende Direktrice Ende der Drei-
ßig, die diensteifrig in der Nähe herumstand. Offensichtlich hatte
sie Linda bei ihrer Ausstattung beraten. Sie schenkte Mike ein brei-
tes Lächeln, bei dem eine Menge schneeweißer Zähne und viel
glänzender Lippenstift zum Vorschein kamen. Linda stellte sie Mike
als Miß Long vor.
»Ich bin sicher, der Hut wird Ihnen gefallen, Mr. Baxter. Er steht
Ihrer Gattin ausgezeichnet, sehr distingué.«
»Als Expertin müssen Sie das ja wissen«, antwortete Mike. »Übri-
gens, Miß Long – ist bei Ihnen nicht eine junge Dame namens
Peggy Bedford tätig?«
Miß Long zögerte eine Sekunde und antwortete dann: »Ja. Sie ar-
beitet in der Wäscheabteilung.«
»Ließe es sich einrichten, daß ich sie mal kurz spreche?«
»Aber selbstverständlich, Mr. Baxter. Nur ist sie heute leider nicht
26
da.«
»Ist sie krank?«
»Bestimmt nicht. Mir ist nichts davon bekannt.«
»Können Sie mir vielleicht sagen, wo ich die junge Dame antref-
fen könnte?«
Schatten des Zweifels breiteten sich auf dem Gesicht der Direk-
trice aus, so daß sich Linda einschaltete: »Sie brauchen wirklich kei-
ne Bedenken zu haben, Miß Long. Sollte das Mädchen zu attraktiv
sein, werde ich meinen Mann schon kurz genug an der Leine hal-
ten.«
Miß Long gab ein nervöses Lachen von sich. »Es ist natürlich
etwas ungewöhnlich. Aber unter den gegebenen Umständen sehe
ich natürlich keinen Grund, warum ich Ihnen die Adresse nicht ge-
ben sollte. Miß Bedford bewohnt ein Appartement in den Ply-
mouth Mansions, gleich hinter der Baker Street. Wahrscheinlich
wird sie jetzt dort sein. Unsere Mannequins arbeiten oft zu unregel-
mäßigen Zeiten.«
»Sehr liebenswürdig von Ihnen, schönen Dank. Übrigens – war
Peggy Bedford nicht eine enge Freundin von Lucy Staines?«
Miß Longs Gesichtsausdruck wandelte sich. »Von … ja, das
stimmt. Das ist eine fürchterliche Geschichte! Und für unseren
Salon war es nicht gerade … oh, entschuldigen Sie mich bitte. Das
Haustelefon klingelt für mich. Auf Wiedersehen, Mrs. Baxter. Und
angenehme Ferien!«
Draußen in der Bond Street nahm Mike seine Frau am Arm und
führte sie zu dem am Hanover Square geparkten Wagen.
»Fahren wir direkt nach Hause, Liebling?« fragte Linda.
»Mehr oder weniger. Mit einem kleinen Umweg durch die Baker
Street, wenn es dir nichts ausmacht.«
»Zu Peggy Bedford also. Was hoffst du denn von ihr zu erfah-
ren?«
»Vielleicht kann sie uns etwas darüber sagen, wer oder was L. Fair-
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fax ist – vorausgesetzt, daß meine Vermutung zutrifft. Zumindest
aber sollte sie imstande sein, mir einen Einblick in die Gewohnhei-
ten und Interessen von Lucy Staines zu geben, vielleicht weiß sie
auch etwas über die Kreise, in denen Miß Staines verkehrte.«
Mike und Linda fuhren zur Baker Street, wo es ihnen erst nach
einer längeren Sucherei gelang, Plymouth Mansions zu finden. Das
Appartementhaus war ein imposantes Gebäude, in einiger Entfer-
nung vom Lärm der Hauptstraße erbaut.
Linda machte große Augen, als sie aus dem Wagen stieg und den
mit enormem Kostenaufwand errichteten eleganten Eingang bewun-
derte.
»Ein recht vornehmes Haus für ein Mannequin, meinst du nicht
auch?« fragte Mike, während er die Namensschildchen der Hausbe-
wohner in der großen Eingangshalle durchging.
»So überraschend finde ich das eigentlich nicht. Staines sagte
doch, daß die Mädchen gut verdienen.«
Schnell fand er den gesuchten Namen. »Hier steht Peggy Bedford,
sie wohnt im Appartement Nr. 37. Nehmen wir den Lift, damit du
nicht drei Treppen steigen mußt.«
Ein unwirsch dreinblickender Pförtner nahm sich ihrer an und
fuhr sie hoch. Dann deutete er mit dem Kopf in Richtung des Kor-
ridors, von dem Appartement Nr. 37 abging, und fuhr wieder nach
unten.
Mike drückte auf den Klingelknopf. Nichts rührte sich, keine
Schritte näherten sich der Tür.
Nach einer Weile klingelten sie nochmals. Dann beugte sich Lin-
da vor, um durch das Schlüsselloch zu sehen.
»Merkwürdig«, murmelte sie. »Es ist mit Papier oder Stoff ver-
stopft.« Sie ließ sich auf die Knie nieder und roch an dem Türrand.
Dann rief sie aufgeregt: »Mike, ich glaube, es riecht nach Gas.«
Mike kniete ebenfalls nieder und bestätigte ihre Vermutung. »Los,
Linda! Schnell! Hol den Pförtner. Er soll einen Hauptschlüssel mit-
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bringen.«
Während Linda davonlief, versuchte Mike mit seinem ganzen
Körpergewicht die Tür einzudrücken. Sie war jedoch solide gebaut
und widerstand seinen Bemühungen. Wenige Sekunden später hörte
er, wie die Tür des Fahrstuhls aufging und Linda den Flur entlang-
gerannt kam, den Schlüssel in der Hand.
»Der Esel weigerte sich, mir den Schlüssel zu geben. Da habe ich
ihn mir einfach geschnappt und bin losgelaufen. Ich habe ihm noch
zugerufen, er solle nach einem Krankenwagen telefonieren.«
»Gut gemacht! Hol tief Luft und halt den Atem an – es geht los.«
Ein Taschentuch vor Mund und Nase, stieß Mike die Tür weit
auf und bahnte sich dann seinen Weg zu einem verschwommen
sichtbaren Fenster. Er riß es weit auf und sah dann, daß er sich in
der Küche befand. Alle Hähne des Gasherdes standen weit offen,
und er schloß sie schnell.
Als er sich umdrehte, trat sein Absatz auf etwas Weiches. Es war
die Hand einer Frau, deren Körper halb unter einem Küchentisch
lag. Hustend stürzte er zunächst noch einmal zum Fenster, um
frische Luft einzuatmen. Dann eilte er zu der Bewußtlosen und
hievte ihren Körper hoch. Halb erstickt und hustend, zog er sie
durch den Vorraum hinaus in den Korridor, wo er mit Lindas Hilfe
Wiederbelebungsversuche begann.
»Halte ihren Kopf hoch, Darling. Hoffentlich kommt der Kran-
kenwagen bald!«
»Ob sie schon tot ist?«
»Viel wird nicht mehr fehlen.«
Aufgeregte Stimmen und Schritte näherten sich. Eine kleine
Gruppe Neugieriger, voran der Portier, kam herbeigerannt.
»Haben Sie nach dem Krankenwagen telefoniert? Ist ein Arzt in
der Nähe?« rief Mike und hielt die Leute von dem Mädchen zu-
rück.
Der Portier brummte etwas Unverständliches, was die Frage be-
29
antworten sollte.
»Kennen Sie dieses Mädchen?« fragte Linda ihn.
Der Hausmeister nickte, und sein Adamsapfel wanderte zuckend
auf und ab. »Das ist die Bedford, das Flittchen von Nr. 37. Hatte
schon lange damit gerechnet, daß sie eines Tages ein böses Ende
nehmen würde.«
»Das hat uns jetzt nicht zu kümmern!« rief Mike. »Helfen Sie mir
lieber, das Mädchen an die frische Luft zu tragen. Los! Fassen Sie
schon zu!«
Während der Portier immer noch etwas vor sich hinbrummte,
halfen andere, hilfsbereite Hände, das Mädchen in den Fahrstuhl
und unten ins Freie zu tragen.
Beim Klang der Sirene des heranbrausenden Ambulanzwagens
fragte Mike: »Was hat dieser Esel von Portier da immer vor sich hin
gebrummt? Fehlt irgend etwas?«
»Das kann man wohl sagen«, antwortete Linda und blickte bedeu-
tungsvoll auf die leblose Figur vor ihnen.
Er folgte ihrem Blick. Das Mädchen trug nur einen Schuh.
3
ief in Gedanken versunken fuhren Mike Baxter und Linda zu
ihrer Wohnung zurück und waren nicht gerade erfreut, einen
Besucher vorzufinden.
T
T
Mrs. Potter entschuldigte sich. »Hab' versucht, ihn wegzuschi-
cken, wirklich! Aber er wollte sich nicht vom Fleck rühren. Na,
dann habe ich ihn eben ins Arbeitszimmer geführt.«
30
»Schon gut, Mrs. Potter. Wie, sagten Sie gleich, heißt der Herr?«
»Mr. Victor Sanders, stellte er sich vor. Ich hab' ihn nie zuvor ge-
sehen und…«
»Kennst du ihn, Mike?« unterbrach Linda den Redeschwall der
Haushälterin.
»Den Namen habe ich heute früh zum ersten Male gehört. Das
könnte der Bursche sein, der mit Weldon zusammen eine Woh-
nung in der New Cavendish Street teilte. Also gut, Mrs. Potter.
Führen Sie ihn herein.«
Der Besucher, den die Haushälterin ins Zimmer geleitete, war
groß und drahtig, auffallend gut gekleidet und sehr selbstbewußt.
Seine Stimme klang für die Größe des Zimmers unnatürlich laut.
»Mein Name ist Victor Sanders«, begann er und fixierte Mike mit
einem durchdringenden Blick. »Ich bin überzeugt, Ihre Zeit ist
ebenso kostbar wie die meine. Deshalb will ich gleich zur Sache
kommen.«
»Einen Augenblick noch«, unterbrach Mike ihn ruhig. »Darf ich
Sie vorher meiner Frau vorstellen?«
Sanders machte eine halbe Drehung in Richtung Linda, nickte
kurz und sprach sofort weiter. Es lag auf der Hand, daß er auf die
Anwesenheit einer Frau keinen Wert legte. Sein Benehmen ent-
sprach dem eines Obersten auf dem Feldherrnhügel. Es war schwer
zu sagen, ob die Rötung seines Gesichtes eine Folge lautstarken Re-
dens oder zu vielen Trinkens war.
»Baxter – soweit ich informiert bin, haben Sie heute früh mit In-
spektor Rodgers über den Fall Weldon gesprochen.«
»Sie sind bemerkenswert gut unterrichtet, Mister Sanders«, entgeg-
nete Mike mit nachdrücklicher Betonung der Anrede.
»Ich lasse es mir angelegen sein, mich über alles zu informieren,
was möglicherweise für den Fall Weldon von Bedeutung sein könn-
te.«
»Wirklich? Das interessiert mich sehr.«
31
Sanders nickte arrogant. »Wie Sie wissen werden, teilte Weldon
die Wohnung mit mir, bis sich dieser Mordfall ereignete. Ich kenne
ihn ziemlich gut und habe eine Theorie über den Fall, die Sie zur
Aufmerksamkeit nötigen wird.«
»Da wäre doch eher Inspektor Rodgers der Mann, an den Sie sich
wenden sollten, Mr. Sanders.«
Sanders machte eine wegwerfende Handbewegung. »Mit dem
habe ich meine Theorie längst diskutiert. Der Mann ist viel zu eng-
stirnig, um über seine Nasenspitze hinaus sehen zu können.«
Mike nahm den Inspektor in Schutz. »Bei aller Fairneß muß ich
Ihnen sagen, daß Ihr Urteil nicht meinem Eindruck von dem In-
spektor entspricht. Er schien mir ein sehr pflichtbewußter und –«
Sanders schnitt ihm ungeduldig das Wort ab, »Hector Staines hat
Sie doch gestern besucht, nicht wahr, Baxter?«
»Haben Sie etwa hinter dem Vorhang gestanden?« konterte Mike
leicht gereizt, trotz seines Bemühens, sich Zurückhaltung aufzuerle-
gen.
»Staines hat Ihnen gewiß auch von der Eintragung im Notizbuch
erzählt und –«
»Was wissen Sie von dem Notizbuch?« warf Linda ein.
Sanders bedachte sie mit einem kalten Blick, der kaum zu seiner
dröhnenden Redeweise paßte. »Lucy Staines hatte eine Verabredung
mit einem Manne namens Fairfax, und zwar am 12. Mai um 8.30
Uhr.«
»Das weiß man noch nicht genau«, erwiderte Mike.
»Unsinn! Das steht doch schwarz auf weiß im Notizbuch.«
»Die Worte stehen dort, gewiß.«
»Lassen wir doch die Haarspalterei, Baxter. Ich sagte Ihnen doch
schon, meine Zeit ist kostbar.«
Linda wollte ein Wort der Verärgerung anbringen, doch Sanders
redete einfach weiter, ohne sie überhaupt zu beachten. »Meine The-
orie ist, daß Lucy Staines eine Affäre mit diesem Fairfax hatte und
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daß er ihr an jenem Abend zum Theater gefolgt ist.«
»Das ist eine bloße Vermutung. Haben Sie Beweise?«
Sanders lächelte selbstgefällig und griff nach seiner Brieftasche,
aus der er einen Brief hervorholte. »Hier, lesen Sie das!« fuhr er
Mike an. »Der kam mit der Nachmittagspost. Wie sie sehen, ist er
in Como in Italien aufgegeben, und zwar vor vier Tagen.«
Mike nahm den Brief und sah sich die Adresse an. »Er scheint
aber an Mr. Weldon adressiert zu sein und nicht an Sie, Mr. San-
ders.«
»Stimmt. Aber wir haben dieselbe Adresse, und Harold ist im Ge-
fängnis. Da habe ich ihn natürlich geöffnet.«
»Natürlich!« echote Linda.
Mike zog den Luftpostbrief aus dem Umschlag hervor und las
den mit der Maschine geschriebenen Inhalt:
Lieber Harold,
jetzt ist also alles vorbei, und man hat Dich verurteilt. Ich frage
mich, ob Du wirklich Lucy Staines ermordet hast? Wir haben
uns nur einmal gesehen – vor langer Zeit. Ich nehme an, Du
hast es vergessen. Ich hörte von dem Mord, las die Zeitungsbe-
richte und sah Lucys Foto. Da sagte ich mir: ›Sieh mal einer an –
es hat dem Herrn gefallen, diese Lucy, ein so liebenswertes Ge-
schöpf…‹ Aber so leicht war mit ihr nicht umzugehen, nicht
wahr? Ich frage mich, ob Du nur der Unglückliche bist, den sie
sich dafür ausgesucht haben. Ich frage mich! Fehlte ihr ein
Schuh, Harold? Frage mal bei der Polizei nach, es könnte die
Sache wert sein. Viel Glück, Harold … der Himmel weiß, wie
nötig Du es hast.
L. Fairfax
Mike reichte Linda den Brief und sah dann Sanders nachdenklich
an. »Warum haben Sie das mir gebracht und nicht Inspektor Rod-
33
gers?«
»Der Mann ist unfähig; das sagte ich Ihnen doch schon. Er würde
ihn entweder ignorieren oder mich fragen, ob ich ihn selbst ge-
schrieben hätte.«
»Haben Sie ihn geschrieben, Mr. Sanders?«
Sanders reagierte mit einem abgrundtiefen Seufzer der Ungeduld
und Verzweiflung. Mit einem Griff nach seinem Hut und den Gla-
céhandschuhen verabschiedete er sich. »Ich lasse den Brief bei Ih-
nen, Baxter. Ist er wichtig – und ich glaube, er ist es –, dann werden
Sie schon mit der Situation fertig werden. Von Ihnen erwarte ich
tatkräftiges Handeln, nicht diese faulen Ausreden und die Un-
tätigkeit, die man leider von der Polizei gewöhnt ist. Und jetzt
wollen Sie mich bitte entschuldigen, ich habe noch eine andere
Verabredung. Sie kennen meine Wohnadresse; meine Telefonnum-
mer steht im Fernsprechbuch, falls Sie Verbindung mit mir aufneh-
men wollen. Guten Tag!«
Als er gegangen war, grinste Mike zu Linda hinüber, die ihre Lip-
pen wütend zusammengepreßt hatte und nicht mehr an sich halten
konnte.
»Darling! Warum, um Gottes willen, hast du das mitgemacht?«
»Was mitgemacht?«
»Der behandelte uns doch wie frisch eingezogene Rekruten auf
dem Kasernenhof. Das ist der arroganteste Kerl, der mir je über den
Weg gelaufen ist. Warum, zum Teufel, hast du ihn nicht einfach
vor die Tür gesetzt?«
»Die Versuchung dazu war groß, das kann ich dir versichern. An-
dererseits war ich gespannt, zu beobachten, wie weit sein Selbstbe-
wußtsein es noch treiben würde.«
»Das dürfte kaum eine Grenze kennen. Ist dir nicht aufgefallen,
daß er dich kaum einen Satz zu Ende sprechen ließ?«
»Natürlich, und gerade das fand ich interessant. Er war offensicht-
lich nicht hierhergekommen, um von mir etwas zu hören. Das war
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nicht der Zweck seines Besuches.«
»Was war es denn?«
»Sanders erinnerte mich an einen Schauspieler, der in bestimmten
Stücken eine nette kleinere Szene zu spielen hat, die ausschließlich
dem Zweck dient, dem ganzen Handlungsablauf etwas mehr Auf-
trieb zu geben. Sanders' Rolle bestand nun darin, diesen Brief abzu-
liefern. Hast du ihn gelesen?«
»Aber ja. Ich kann aber nichts damit anfangen. Was soll der Hin-
weis auf den fehlenden Schuh?«
»Das ist eine Tatsache. Als man Lucy Staines ermordet auffand,
fehlte ihr ein Schuh. Kriminaldirektor Goldway hat mir das heute
früh bestätigt.«
»Ist das nicht ein recht seltsames Zusammentreffen, daß auch bei
Peggy Bedford ein Schuh fehlte, als wir sie vorhin aus der Woh-
nung trugen?«
Mike nickte. »Es wäre wichtig, zu wissen, was Fairfax damit meint,
wenn er schreibt: ›Ich frage mich, ob du wirklich Lucy Staines er-
mordet hast… Ich frage mich, ob du nur der Unglückliche bist, den
sie sich dafür ausgesucht haben.‹ Wen mag er wohl mit ›sie‹ mei-
nen?«
»Die Polizei, oder vielleicht die Staatsanwaltschaft.«
»Möglich. Oder einen anderen, vielleicht eine ganze Bande oder
sonstige Gruppe. Fairfax will damit wohl andeuten, daß man Wel-
don die Tat eines anderen angehängt hat.« Als er Lindas ungläubi-
gen Blick bemerkte, argumentierte Mike sofort weiter. »Ja, Linda,
da sind schon viel seltsamere Dinge passiert. Immerhin scheint die-
ser Brief meine kleine Theorie über ein Restaurant oder einen Treff-
punkt namens Lord Fairfax endgültig begraben zu haben. Mix uns
jetzt ein paar Martinis, Liebling – nicht zu stark.«
Linda nickte. »Mrs. Potter wird sicher etwas Eis im Schrank ha-
ben.« Sie wurde vom Läuten des Telefons unterbrochen, nahm den
Hörer ab und winkte ihrem Mann. »Es ist Inspektor Rodgers.«
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»Guten Abend, Inspektor«, begrüßte Mike ihn. »Ich trug mich ge-
rade mit dem Gedanken, Sie anzurufen.«
»Ich fürchte, ich kann nicht mit Neuigkeiten aufwarten«, erklang
die sachliche Stimme des Kriminalbeamten. »Das Krankenhaus ist
nicht gerade auskunftsfreudig; ich schätze aber, daß die Bedford ge-
rade noch davonkommen wird. Sobald ich etwas Definitives höre,
werde ich Sie verständigen. Deswegen rufe ich aber nicht an. Wir
haben soeben das gesuchte Lokal ausfindig gemacht, den ›Lord Fair-
fax‹.«
Mike überhörte den ironischen Klang seiner Stimme und bat um
Einzelheiten.
»Es liegt in einem kleinen Dorf sechs Meilen von Farnham ent-
fernt. Der Ort nennt sich Westerdale.«
»Westerdale. Vielen Dank, Inspektor.«
»Werden Sie hinfahren?«
»Ich glaube schon – wenn Sie nichts dagegen haben?«
»Gewiß nicht, es erspart mir eine Reise. Ich würde es selbst über-
nehmen, habe aber im Moment zuviel andere Sachen zu erledigen.
Würden Sie mich bitte informieren, sobald sich etwas Interessantes
ergeben sollte?«
»Selbstverständlich. Vielen Dank für den Hinweis. Guten Abend.«
Mike legte auf und lächelte seine Frau an. »Die ersten Fortschritte
zeichnen sich ab. Noch vor einer halben Stunde hatten wir nicht
einen einzigen Fairfax, und jetzt gleich zwei: einen Mann in Como
und ein Lokal bei Farnham.«
»Und wer steht als erster auf deiner Besucherliste? Wozu frage ich
eigentlich – als ob ich das nicht wüßte!« bemerkte Linda sarkastisch
und stellte den Gin und Wermut mit einem Stoßseufzer beiseite.
Mike hüstelte verlegen. »Ja, natürlich… Ich weiß schon, was du
meinst. Aber Westerdale liegt nun einmal näher, meinst du nicht
auch, Liebes? Bitte doch Mrs. Potter, uns schnell einen Imbiß zu
richten. Inzwischen werde ich den Wagen aus der Garage holen.«
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»Warum fahren wir nicht sofort?«
»Fährt sich besser, wenn der Spitzenverkehr nach Büroschluß ab-
geflaut ist. Unterwegs fahren wir lange Strecken geradeaus, da kann
ich feststellen, ob die Werkstatt gute Arbeit geleistet hat. Es gibt
doch nichts Schöneres, als mal so einen kleinen Ausflug aufs Land.«
Linda zog ein mürrisches Gesicht und ging Mrs. Potter suchen.
Gegen Abend fuhren sie los. Linda war erstaunt, als Mike den Weg
zur Cavendish Street einschlug, statt direkt zum südlichen Stadtaus-
gang zu fahren.
Als Mike am Bürgersteig parkte, fragte Linda: »Wollen wir etwa
diesen arroganten Knülch aufsuchen? Dann bitte ohne mich.«
»Du brauchst auch nicht mitzukommen, Liebling. Kaufe dir eine
Zeitung und achte inzwischen auf den Wagen. Wenn Sanders zu
Hause ist, dauert es nur eine Minute.«
Linda kaufte sich eine Abendzeitung und überflog sie ohne be-
sonderes Interesse, bis ihr Blick an einer groß aufgemachten Schlag-
zeile auf der Titelseite haften blieb: ›Mannequin unternimmt Selbst-
mordversuch‹.
Unter einem Foto von Peggy Bedford schilderte ein
kurzer Bericht, wie das Mädchen am Nachmittag in einem mit Gas
angefüllten Zimmer ihres Luxusappartements in der Baker Street
aufgefunden worden war. Besorgt las Linda den Text, um festzustel-
len, ob ihr und ihres Mannes Namen erwähnt wären. Erleichtert
stellte sie fest, daß Inspektor Rodgers sein Versprechen gehalten und
sie vor überflüssiger Publizität bewahrt hatte. In dem Bericht war
der griesgrämige Portier der Held des Tages. Der phantasiebegabte
Journalist hatte ihn in einen mutigen Riesen verwandelt, der mit ei-
nem Stoß seiner massigen Schultern die Wohnungstür aufgebro-
chen und sofort Erste-Hilfe-Versuche angestellt hatte.
Linda lächelte und ging gelangweilt auch die anderen Seiten
durch. Die internationale Krise schwelte noch immer, und Linda
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begann sich gerade für die letzten Neuigkeiten der Geschichte des
entführten Pudels eines Fernsehstars zu interessieren, als Mike mit
einem ziemlich großen Umschlag aus Sanders' Wohnung kam.
»Ich hab' es!« rief er und setzte sich auf den Fahrersitz.
»Was hast du?«
»Ein gutes Foto von Lucy Staines. Es war in einem Rahmen ne-
ben Weldons Bett. Sanders weigerte sich, es mir mit dem Rahmen
zu geben, und als er gerade nicht hinsah, entfernte ich es. Das Bild
könnte uns eine gute Hilfe sein, wenn wir die Beziehungen des
Mädchens zu diesem Lokal erkunden. So, und nun wollen wir mal
sehen, was der Wagen hergibt.«
Bis sie den letzten Teil der Strecke hinter sich hatten, war die
Dunkelheit bereits hereingebrochen, so daß es einige Schwierigkei-
ten bereitete, das gesuchte Dorf Westerdale in dem dünn besiedel-
ten Gebiet zu finden.
»Wo mag erst die Kneipe liegen, wenn es schon so schwer ist, das
Kaff Westerdale zu finden«, sagte Mike.
Als sie schließlich den ›Lord Fairfax‹ aufgestöbert hatten, ent-
puppte sich dieser als ein einziger Raum, der zugleich als gute Stu-
be und öffentlicher Ausschank diente. Über einem offenen Kamin
war altes Pferdegeschirr montiert. Der Wirt war ein Hüne von Ge-
stalt. Mit seinen hellen Augen, klein wie Kieselsteine, blinzelte er
sie mit unverhüllter Neugier an, als sie das Lokal betraten. Nach
freundlicher Begrüßung fragte er: »Was darf ich Ihnen bringen?«
»Gin mit Soda, bitte.«
»Mit Vergnügen, Sir. Dürfen es zwei sein?«
»Drei, wenn Ihnen das nichts ausmachen sollte.«
»Keineswegs, Sir. Wird mir eine Ehre sein.«
Mike setzte sich zu Linda an den Tisch am Fenster.
Während sich der Wirt hinter dem Schanktisch um die Getränke
bemühte, rief er zu ihnen hinüber: »Sie haben da aber einen tollen
Wagen, Sir, wenn ich mir diese Bemerkung erlauben darf. Ich habe
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immer von einem stahlblauen Jaguar geträumt, falls ich je zu Geld
kommen sollte. Sie kommen sicher von weither – vielleicht aus
London?«
»Genau erraten; direkt von London.«
»Hatte es mir gedacht. War zufällig im Hof, als Sie einbogen.«
Linda tat so, als wäre ihr Feuerzeug hinuntergefallen, und bückte
sich, um es aufzuheben. »Dem entgeht offenbar auch gar nichts«,
murmelte sie von unten herauf zu Mike.
»Mein Name ist Turner … Johnny Turner«, fuhr der Wirt fort,
während er sorgfältig drei volle Maß Gin einschenkte und eine Zi-
trone zu schälen begann. »Ich erwähne es nur, falls Sie in der Dun-
kelheit den Namen über der Tür nicht gesehen haben sollten.«
»Erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen, Mr. Turner. Ich bin
Mike Baxter, und das ist meine Frau Linda.«
Die zwei Kieselsteine glänzten vor lebhaftem Interesse. »Doch
nicht etwa der Mike Baxter, der diese aufregenden Zeitungsartikel
schreibt?«
»Doch, der bin ich. Damit verdiene ich meine Brötchen.«
»Und gar nicht so schlecht, möchte ich wetten. Ich lese Ihre Ar-
tikel immer mit Begeisterung, Sir. In einen so verlassenen Ort wie
diesen verirren sich nicht oft berühmte Leute. Ich hoffe, Sie werden
mir die Ehre eines Drinks auf Kosten des Hauses erweisen.«
Seine massige Gestalt wogte ihnen mit glattem Lächeln entgegen.
Auf dem Tablett schwankten drei Gläser und drei Flaschen Soda.
Dann prosteten sie sich gegenseitig zu.
Turner erging sich sofort in einem langatmigen Bericht darüber,
wie einst ein berühmter Schriftsteller zufällig den ›Lord Fairfax‹ be-
sucht hatte. Lächelnd beendete er dann seine Erzählung mit den
Worten: »Der Herr suchte damals nach einem passenden Milieu für
eine seiner Geschichten, nach einem Ort wie diesem hier, ruhig
und abseits der verkehrsreichen Straßen.«
»Wir suchen zwar keinen Ort der Handlung für eine Geschichte,
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Mr. Turner, aber wir würden gern für einen Augenblick Ihr Ge-
dächtnis auf die Probe stellen, wenn Sie nichts dagegen haben«, er-
widerte Mike und holte den Umschlag mit dem Foto von Lucy
Staines hervor. »Sagen Sie bitte, haben Sie dieses Mädchen jemals
hier bei Ihnen gesehen?«
Sie beobachteten den Wirt, als seine wässerigen Augen das Foto
betrachteten. Als er ihnen dann das Bild zurückreichte, klang ehr-
liches Bedauern in seiner Stimme: »Das ist doch Lucy Staines, nicht
wahr?«
»Kennen Sie sie etwa?« rief Linda erregt.
Turner schüttelte betrübt den Kopf. »Nicht persönlich. Sie ist
niemals hiergewesen, das weiß ich bestimmt.«
»Aber wie –«
»Ganz einfach. Während des Prozesses ist ihr Bild doch in den
Zeitungen veröffentlicht worden. Wäre sie jemals hiergewesen, dann
wüßte ich das so sicher, wie zwei mal zwei vier ist. Der Kerl, der sie
ermordet hat, wird ja wohl demnächst gehängt, nicht wahr?«
Mike nickte enttäuscht und leerte sein Glas. Die lange Fahrt war
also umsonst gewesen, und jetzt mußten sie aus Höflichkeit noch
eine zweite Runde trinken, die der offensichtlich gesellschaftshung-
rige Turner ihnen aufdrängte. Eines stand fest: Wäre Lucy Staines
jemals im Umkreis einer Meile von ›Lord Fairfax‹ gewesen, die
scharfen Augen dieses Mannes von so unersättlicher Neugier und
von so ausgeprägter Beobachtungsgabe hätten sie todsicher ent-
deckt.
Physische und geistige Ermattung setzte bei Mike und Linda ein,
so daß sie noch eine Weile Turner das Wort überließen, bis sie
glaubten, aufbrechen zu können, ohne die Gefühle des gastfreund-
lichen Wirts zu verletzen. Er ließ sie nur widerwillig gehen und be-
gleitete sie mit vielen guten Wünschen bis zur Tür.
Im Wagen drehte Mike gerade den Zündschlüssel um und lausch-
te auf das ruhige Summen des Motors, als Linda ihm einen schar-
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fen Rippenstoß gab und auf den Rückspiegel zeigte. Sie sahen Tur-
ner auf sich zuwatscheln; er winkte heftig mit einer Zeitung.
»Sag ihm, er kann sie behalten«, erklärte Linda schläfrig, als Mike
zum Seitenfenster hinaussah.
»Schon gut, alter Junge – schönen Dank. Wir brauchen die Zei-
tung nicht mehr!« rief Mike.
Turner schüttelte den Kopf und rang nach Atem, während sein
massiger Leib wie Gelatine wabbelte. »Das … das ist es nicht … wes-
wegen ich Ihnen nachgerannt bin. Dieses Bild hier … sehen Sie
mal!«
Er schlug die Zeitung auf und tippte mit dem Zeigefinger auf den
Bericht über Peggy Bedford. »Die Kleine hier, die ist schon im
›Fairfax‹ gewesen.«
»Sie war hier bei Ihnen? Wissen Sie das genau?« fragte Linda er-
regt.
»Da gibt es überhaupt keinen Zweifel. In diesem Sommer sogar
mindestens dreimal. Ich dachte mir, das würde Sie vielleicht interes-
sieren. Als ich dann las, daß sie im selben Geschäft gearbeitet hat
wie das ermordete Mädchen, nach dem Sie mich fragten, bin ich
Ihnen schnell nachgelaufen. Hier steht es doch … ›man nimmt an,
die beiden waren eng befreundet‹. So ein Zufall, daß Sie die Zei-
tung liegen ließen.«
»Sie haben wirklich ein phantastisches Gedächtnis«, lobte ihn
Mike. »Können Sie sich noch an Einzelheiten erinnern – wie sie an-
gezogen war, mit wem sie hier war, was sie trank?«
»Wie sie angezogen war?« wiederholte Turner, sichtlich bemüht
sich zu erinnern. »Ziemlich wenig, würde ich sagen. Was sie trank?
Reinen Gin, und so viel, als flösse er direkt aus der Wasserleitung.
Ich habe schon viele Leute erlebt, die ausgesprochene Gintrinker
waren. Die Kleine aber schlug sie alle. Und mit wem sie hier war,
fragten Sie. Immer mit demselben Kerl. Es war ein Mann mit einem
Pokergesicht, unauffällig angezogen, graues Haar – alt genug, um
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ihr Vater sein zu können. Im Falle von Peggy wird er wohl so etwas
wie ›der reiche Onkel‹ gewesen sein. Beim Gehen benutzte er einen
Stock, weil er ein wenig hinkte. Wenn ich es mir heute recht über-
lege, paßte er überhaupt nicht zu ihr.«
Mike blinzelte Linda gutgelaunt zu und rieb sich die Hände. Mr.
Turner genoß diesen Augenblick sichtlich mit großem Vergnügen.
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ls der Wagen aus dem Hof hinauskurvte und in Richtung
Guildford davonschoß, sagte Linda kopfschüttelnd: »Wie Tur-
ner richtig feststellte, paßte der alte Staines ganz und gar nicht zu
ihr. Peggy Bedford könnte ohne weiteres seine Tochter sein.«
A
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»Aber das ist doch alles überhaupt nicht möglich. Er war es doch,
der unsere Aufmerksamkeit ganz besonders auf den ›Lord Fairfax‹
lenkte. Wenn er die Bedeutung der Eintragung im Notizbuch seiner
Tochter Lucy kannte, wozu gab er mir dann den Fingerzeig auf die-
se Spur? Das reimt sich doch alles nicht zusammen. Turner muß et-
was durcheinandergebracht haben, obwohl mir seine Beobachtungs-
gabe geradezu phänomenal vorgekommen ist. Der alte Knabe wüß-
te noch genau, welche Lippenstiftfarbe du heute aufgetragen hast,
wenn wir ihn in einem Jahr besuchen und danach fragen würden.«
Linda lachte. »Das weiß er bestimmt noch. Aber laß den guten
Staines nicht so voreilig aus dem Spiel, Liebling. Ist dir nicht die
Verlegenheit aufgefallen, als er den Namen Peggy Bedford uns ge-
genüber aussprach? Es war fast so, als handelte es sich um einen
Namen, den man in guter Gesellschaft besser nicht erwähnt. Ich
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habe dich schon einmal darauf aufmerksam gemacht. Und noch
etwas: Wie war doch gleich die Anschrift der Kühlschrankfirma auf
Staines' Visitenkarte?«
Mike überlegte kurz. »Keane Brothers, Guildford. Du hast recht.
Das ist nur ein paar Meilen von hier. Es liegt auf der Hand, daß
Staines einige Abstecher nach Westerdale gemacht hat, zumal das
Dorf abseits genug liegt und als stiller Winkel für private Abenteuer
bestens geeignet ist. Und trotzdem reimt es sich noch immer nicht
zusammen. Staines hätte sich doch selbst verraten, indem er meine
Aufmerksamkeit auf die Eintragung im Notizbuch lenkte. Er hat
die Sache doch überhaupt erst in Gang gebracht.«
Linda schwieg eine Weile und fragte dann: »Mike, entsinnst du
dich noch des Hotels, in dem wir im vorigen Monat mit den Batt-
sons zu Mittag gegessen haben?«
»Ja. War es nicht der ›Weiße Bock‹?«
»Nein, es war der ›Weiße Engel‹. Und wie heißt diese uralte Knei-
pe nahe der Hammersmith-Brücke, in der wir manchmal bei un-
seren Spaziergängen am Fluß eingekehrt sind?«
»Du meine Güte, das weiß ich doch nicht. Was soll denn diese
Fragerei –«
»Du hast doch in der vorigen Woche mit John Goldway einen
Dämmerschoppen getrunken. In welchem Lokal war das?«
»Aber Linda, denkst du etwa, ich sehe mir jedesmal das Namens-
schild des Gasthauses an, wo ich etwas trinke? … Ach so, kapiere
endlich, worauf du hinaus willst. Da könntest du recht haben.«
»Das habe ich sicherlich. Wenn man nicht gerade ein notorischer
Kneipenbesucher ist, dürfte sich höchstens einer von zehn Leuten
den Namen der Lokale ansehen und merken, bevor er hineingeht.«
»Soweit ganz gut. Aber wie soll uns das weiterbringen? Es gibt
verschiedene Gründe, warum Staines die Gesellschaft eines Manne-
quins aus der Bond Street suchen könnte – der ›reiche Onkel‹ dürf-
te dabei der wahrscheinlichste sein. Aber vergiß nicht, daß Peggy
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mit seiner Tochter Lucy befreundet war. So unnatürlich wäre das
Verhältnis ja nun auch nicht.«
»Mike, manchmal bist du zu großzügig, um realistisch zu sein.
Ich bin davon überzeugt, daß ich Peggy Bedford richtig einge-
schätzt habe – nenne es meinetwegen weiblichen Instinkt. Nach-
dem wir nun immerhin die Gaststätte ›Fairfax‹ gefunden und mit
allen ihren interessanten Gegebenheiten studiert haben, könnten
doch auch hinter dem Fairfax-Brief Dinge stecken, deren Bedeu-
tung uns bisher noch unbekannt ist.«
»Gut. Aber dann verzeih mir auch den Verdacht, daß dieser Brief
eine Fälschung ist.«
Linda mußte lachen. »Du hast anscheinend heute einen deiner
besonders vorsichtigen Tage, mein Lieber. Nehmen wir einmal an,
der Brief ist eine Fälschung. Was könnte Sanders dann bewogen ha-
ben, dich aufzusuchen?«
Mike schüttelte verwirrt den Kopf. Nach einer Weile sagte er:
»Vielleicht ist Sanders aus dem gleichen Holz geschnitzt wie Staines
– sein Gewissen könnte ihn angetrieben haben, etwas für Weldon zu
tun, während andererseits sein Privatleben keine allzu tiefschürfen-
den Nachforschungen vertragen würde, vor allem nicht seitens der
Polizei. Ich weiß vorerst nichts, jedenfalls bis zu diesem Stadium
der Entwicklung. Ich werde einige Zeit darauf verwenden müssen,
um etwas über das Privatleben dieser beiden Herren zu erfahren.
Vielleicht kann mir Harold Weldon einige Aufschlüsse geben. Er
muß beide recht gut gekannt haben. Kriminaldirektor Goldway hat
es einrichten können, daß ich morgen früh ins Pentonville-Gefäng-
nis zu Weldon fahren kann.«
Linda durchzuckte es. »Das ist eine Fahrt, bei der du nicht mit
mir rechnen kannst.«
»Du bist auch nicht eingeladen«, entgegnete Mike hämisch grin-
send.
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Bevor er am nächsten Morgen zum Gefängnis fuhr, entschloß sich
Mike, Hector Staines anzurufen. Er wählte die Nummer in Guild-
ford, wurde von der Telefonzentrale jedoch an eine Londoner Num-
mer verwiesen. Es schien, daß Staines sich gerade um die in der
City befindlichen Geschäfte seiner Firma kümmerte und in Bays-
water wohnte.
Staines' Stimme klang diesmal nicht ganz so gepreßt und unper-
sönlich, wie Mike sie in Erinnerung hatte. Obgleich der Mann ver-
suchte, seine Gefühle zu verbergen, entging Mikes Ohr doch nicht
der Unterton seiner inneren Erregung. Er brauchte nicht lange, um
hinter die Ursache zu kommen.
»Ich bin heute früh im Krankenhaus gewesen, Mr. Baxter. Man
ließ mich nicht mit P… mit Miß Bedford sprechen. Es ist entsetz-
lich.«
»Ist sie immer noch bewußtlos?«
»Ja. Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, was sie zu diesem
Schritt treiben konnte. Sie war doch immer so voller Lebensfreu-
de.«
»Das glaube ich Ihnen gern, Mr. Staines. Übrigens wollte ich Sie
noch fragen: Miß Bedford war doch nicht nur mit Ihrer Tochter,
sondern auch mit Ihnen recht gut befreundet, nicht wahr?«
»Wie bitte? Was sagten Sie eben? Peggy … Miß Bedford meine
Freundin? Das ist eine grobe Übertreibung. Ich habe sie nur ein
paarmal getroffen.«
»Wann sind Sie zum letzten Male mit ihr im ›Lord Fairfax‹ gewe-
sen?« fragte Mike geradeheraus.
Eine peinlich berührende Pause trat ein. Als Staines endlich ant-
wortete, klang seine Stimme schwach und fast weinerlich. »Der
Lord … was? Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen.«
»Aber Mr. Staines. Der ›Lord Fairfax‹ ist ein kleines Lokal nicht
weit von Farnham – ein altes Pferdegeschirr hängt dort über einem
Kamin; der Wirt ist auffallend korpulent. Das Nest heißt Wester-
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dale.«
»Ach so. Das Lokal meinen Sie. Ich … ich hatte keine Ahnung,
wie die Gaststätte hieß. ›Lord Fairfax‹, sagen Sie? Wie seltsam!«
»Das ist es bestimmt. Und nun können Sie mir vielleicht sagen,
wen Ihre Tochter am 12. Mai und 8.30 Uhr dort treffen wollte.
Diese Eintragung in ihrem Notizbuch werden Sie doch wohl nicht
vergessen haben.«
»Du lieber Himmel! Das ist mir ganz neu. Ich verstehe das nicht.«
»Aber Sie geben doch zu, mit Peggy im ›Fairfax‹ gewesen zu sein?«
»Mein lieber Mann, ich gebe zu – wie Sie es grob formuliert ha-
ben – daß ich einmal in Westerdale –«
»Einmal oder mehrere Male?«
»Hören Sie bitte auf, mich auf diese Weise festnageln zu wollen;
das ist ganz unnötig. Ich habe einfach nicht bemerkt, wie das Lokal
hieß. Im übrigen habe nicht ich Peggy dorthin geführt, sondern sie
hat mich dahin gelotst. Ich traf sie eines Tages rein zufällig in Farn-
ham, wo sie einer Kundin ein Kleid ablieferte. Unser Hauptbüro
befindet sich in Guildford, und daher war ich dort in der Nähe. Ich
fahre jede Woche einmal nach Guildford.« Nach kurzer Pause fügte
Staines betont hinzu: »Es war tatsächlich ein reiner Zufall.«
Überzeugen konnte Mike das nicht, aber er wollte jetzt nicht wei-
ter darauf eingehen.
Staines sprach erregt weiter: »Ich muß schon sagen, daß ich ab-
solut nicht verstehe, wieso Peggy nicht die Bedeutung der Eintra-
gung in Lucys Notizbuch erkannt hat.«
»Haben Sie ihr diese Notiz gezeigt?«
»Natürlich, und zwar kurz vor der Gerichtsverhandlung. Sie be-
hauptete, sie sage ihr gar nichts.«
Peggy Bedford konnte sehr wohl gelogen haben, dachte Mike.
Wahrscheinlich war sie es gewesen, die das Zusammensein mit Lucy
Staines in dem Lokal in Westerdale kurz vor dem Mord arrangiert
hatte. Welchen Zweck das Treffen haben sollte und warum die Bed-
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ford gelogen hatte, das konnte Mike nur erraten. Da aus Staines
kaum weitere Informationen herauszuholen waren, verabschiedete
sich Mike und legte auf. Als er gerade das Zimmer verlassen wollte,
klingelte das Telefon.
Es war Inspektor Rodgers, der wieder ohne Umschweife zur Sache
kam. »Das Krankenhaus hat mich soeben unterrichtet, daß Peggy
Bedford gestorben ist.«
»Das arme Kind! Hatte sie das Bewußtsein wiedererlangt?«
»Leider nein. Ich wünschte, wir hätten ihr noch ein paar Fragen
stellen können.«
»Hat sich der fehlende Schuh inzwischen aufgefunden?«
»Nein, aber wir werden ihn finden, darauf können Sie sich verlas-
sen«, antwortete Rodgers kurz und legte auf.
Es gibt wenige Plätze auf dieser Erde, die noch deprimierender wir-
ken als Ihrer Majestät Gefängnis in Pentonville. Mike fröstelte, als
der Wärter ihn durch hallende Korridore aus Beton und Stahl zur
Zelle von Harold Weldon führte.
»Wie verhält er sich?« fragte Mike leise, als sie sich seiner Zelle
näherten.
»Den Umständen entsprechend ziemlich gut, Sir. Er hat sehr viel
gelesen. Die meisten Bücher, die er verlangt hat, sind für mich zu
hoch. Aber die Lektüre scheint ihm die Ruhe zu geben. Wenn ich
so nachdenke, haben wir eigentlich wenig Ärger mit Todeskandida-
ten, jedenfalls nicht in diesem Stadium.«
Der Wärter holte einen schweren Schlüssel hervor und schloß die
Zelle auf.
»Sie haben Besuch, Mr. Weldon«, sagte er.
Der erste Eindruck, den Mike von Weldon hatte, war etwas ver-
zerrt und ließ ihm den Zelleninsassen wie einen Eremiten erschei-
nen. Es war ein abgemagerter und schlaksiger Eremit mit langer,
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leicht gebogener Nase, mit ungepflegten Haarsträhnen, die ihm in
die Stirn hingen und seine feindselig dreinblickenden grauen Augen
zum Teil verdeckten.
»Wenn Sie auch ein Pfaffe sind, dann können Sie sich augenblick-
lich wieder auf Ihre Kanzel zurückziehen!« Seine Stimme war nasal
und artikuliert, aber ohne jedes Bemühen, freundlich zu wirken.
»Ich bin kein Geistlicher«, erklärte Mike mit ruhiger Stimme.
»Mein Name ist Mike Baxter, und ich bin ein persönlicher Freund
von Kriminaldirektor Goldway und Inspektor Rodgers.«
»Wie reizend für Sie. Da bewegen Sie sich ja in exquisiten Krei-
sen. Wären die Herren auch meine Freunde gewesen, würde ich jetzt
wahrscheinlich nicht hier sein. Was wollen Sie?«
»Ich möchte mit Ihnen sprechen.«
»Aus welchem Grunde?« Der Gefangene war aufgestanden und
lehnte mit gekreuzten Armen in einer Ecke seiner Zelle, wobei er
Mike mit unverhohlenem Argwohn und Mißtrauen anstarrte. Plötz-
lich fragte er: »Wie war doch Ihr Name?«
»Mike Baxter.«
»Der Journalist?«
»Ja.«
»Ah, jetzt verstehe ich!« Seine blassen Augen glitzerten bösartig,
und die beißende Tonart, in der er bisher gesprochen hatte, ver-
dichtete sich zu nicht mehr zu überbietender schneidender Ver-
achtung. »Wollen wohl herumschnüffeln, ob Sie nicht meine Me-
moiren aus erster Hand erwerben können, was? ›Die rasende Bestie
in der Abgeschlossenheit der Zelle, das Zeichen des Todes in den
Augen klar erkennbar…‹ Nun, ich kann Ihnen ja den Gefallen tun
und eine kleine Raserei veranstalten, damit Ihre Leser nicht ent-
täuscht werden. Wieviel darf es denn sein? Für zehn Cent oder
mehr?«
»Sie vergeuden meine Zeit«, herrschte Mike ihn an.
Der besondere Klang von Mikes Stimme brachte Weldon zum
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Schweigen.
Mike sprach mit kühler Stimme weiter: »Ich habe nur zwei Fra-
gen an Sie, dann können Sie wieder den wilden Mann spielen. Ha-
ben Sie Lucy Staines ermordet?«
Weldons Lippen verzogen sich zu einem sardonischen Lachen.
»Lesen Sie denn keine Zeitungen? Da stand doch alles drin. Natür-
lich habe ich Lucy umgebracht. Es war meine Freudsche Art, ihr
meine Liebe zu beweisen. Ich verlor die Beherrschung in einer öf-
fentlichen Unterhaltungsstätte, damit es auch jeder gut sehen konn-
te, überredete sie dann, mir zu einem schön abgelegenen Ruinen-
grundstück zu folgen. Dort saß ich mit ihr ein bis zwei Stunden
herum bis die Mitternacht mit dem Schrei des Käuzchens gekom-
men war, erwürgte sie dann und nahm mir noch eine Blutprobe
von ihr als schauriges Andenken mit. Es war alles so einfach und
ohne Komplikationen. Ein rothaariges Weibsbild namens Nadia
Tarrant sah mich bei der Tat oder war zumindest Zeugin, wie ich
geräuschvoll und auffällig vom Soho Square davonlief. Ich trug be-
sonders genagelte Schuhe, damit sie mich auch auf keinen Fall
übersehen oder überhören konnte.«
»Aber diese Frau hat Sie doch erkannt – am nächsten Tag bei der
Gegenüberstellung.«
Weldons Stimme wurde zu einem verächtlichen Schnarren, als er
antwortete: »Wenn Sie diesem Miststück genug Geld in die Hand
drücken, würde sie auch schwören, Brigitte Bardot sei ihre eigene
Großmutter.«
»Und weiter?« fragte Mike ungeduldig.
»Lassen Sie mich mal nachdenken. Was habe ich dann noch an-
gestellt? Ach ja, nur damit auch alles glatt und einfach wurde, hatte
ich kein Alibi. Die Blutgruppe paßte auch; und vor den Hütern des
Gesetzes machte ich zwei Aussagen, die einander in höchstem Ma-
ße widersprachen und verdammt unglaubhaft waren. Das wäre wohl
alles. Einer Ihrer Kollegen hat es ja mit geradezu erregender Origi-
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nalität formuliert – ›ein Fall, der von A bis Z völlig klar liegt‹.«
»Ich verstehe.«
»Sie haben Ihre zweite Frage noch nicht gestellt. Meine Zeit ist
nämlich auch beschränkt«, grinste Weldon höhnisch. »Neun Tage
und ein paar Stunden, um genau zu sein.«
»Entschuldigen Sie«, murmelte Mike, obwohl er sich nicht ganz
darüber klar war, wofür er sich entschuldigte. »Die andere Frage ist
einfacher: Haben Sie einen Schuh von Lucy mitgenommen?«
Weldon kehrte ihm den Rücken zu und lachte wieder. »Der feh-
lende Schuh! Welchen Spaß die Presse doch damit schon gehabt
hat!«
Er drehte sich ruckartig wieder Mike zu, die blassen Gesichtszüge
erneut von Verachtung und Trotz gezeichnet. »Natürlich habe ich
ihn gestohlen. Ich bin doch leidenschaftlicher Sammler von Frau-
enschuhen. Zu Hause habe ich ganze Regale voll davon.« Dann
setzte er eine Miene stupider Schlauheit auf und trat ganz nahe an
Mike heran. »Sind Sie zufällig auch Sammler? Ich würde Ihnen gern
ein paar meiner besten Stücke zeigen – vielleicht könnten wir einen
Tausch machen?«
»Verdammt noch mal! Hören Sie endlich auf, den Clown zu spie-
len. Haben Sie den Schuh mitgenommen?«
»Ich sage Ihnen doch schon ständig, daß ich es getan habe.«
»Warum?«
»Man begeht doch nicht jeden Tag einen Mord. Das war nun
mal eine besondere Gelegenheit, und da habe ich den Schuh als
Andenken mitgenommen.«
»Den linken oder den rechten?«
»Wie bitte?«
»Nur ein Schuh fehlte. Welchen haben Sie mitgenommen, den
linken oder den rechten?«
Einen Augenblick lang konnte Weldon seine theatralische Hal-
tung nicht aufrechterhalten. Er kniff die Lippen zusammen, zuck-
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te mit den Schultern und sagte dann: »Den linken.«
»Falsch!« konterte Mike.
»Wirklich?«
»Es war der rechte Schuh, der fehlte.«
»Sind Sie sicher?«
Mike beschäftigte sich damit, eine Zigarette anzuzünden, die er
dem Gefangenen anbot. Weldon schüttelte ablehnend den Kopf.
Der Wortwechsel über den Schuh war zwar blitzschnell verlaufen,
doch hatte Mike jede Reaktion seines Gegenübers genau beobach-
tet. Weldons vollkommene Gleichgültigkeit im Ton war etwas, was
kein wirklich Schuldiger je hätte in dieser Form hervorbringen kön-
nen. Mike spürte in sich die Überzeugung aufwallen: Das einzige,
dessen dieser Mann sich schuldig gemacht hatte, war persönliches
Pech und sein ausgesprochenes Talent, sich in aufreizender Weise
andere zum Feinde zu machen.
Deshalb sprach Mike jetzt mit fast flehendem Drängen zu ihm:
»Hören Sie mir zu, Weldon, und um Gottes willen, hören Sie mir
genau zu! Wir haben nicht mehr viel Zeit, weder Sie noch ich.
Wenn Sie nur noch neun Tage und ein paar Stunden haben, bis…«
»Ich an meinem Halse aufgehängt werde, bis ich tot bin.«
»– dann habe ich nur genau die gleiche Zeit für den Versuch, Ih-
nen zu helfen.«
»Da geben Sie mir aber Rätsel auf«, unterbrach ihn Weldon. »Wa-
rum wollen Sie mir überhaupt helfen? Dieser schleimige Mainardi
hat Sie doch ganz gewiß nicht geschickt? Ich möchte wetten, der
hat nicht einen einzigen Gedanken an mich verschwendet, ausge-
nommen vielleicht die Frage, wann er seine fetten Anwaltsgebühren
einkassieren kann.«
»Sie haben ja hellseherische Fähigkeiten.«
»Dann haben Sie ihn also wirklich gesprochen?«
»Ja.«
»Und was halten Sie von ihm?«
51
»Ich war nicht gerade beeindruckt.«
»Eins zu Null für Sie, Mr. Baxter. Vielleicht hätte ich besser Sie
zum Verteidiger bestellen sollen.«
»Ich bin kein Rechtsanwalt.«
»Das nicht, aber ein erfolgreicher Journalist.«
»Ich habe nicht die Absicht, auch nur eine einzige Zeile über Sie
zu veröffentlichen, Weldon. Der einzige Grund für meinen Besuch
ist meine ehrliche Absicht, Ihnen zu helfen. Es gibt nur einen ein-
zigen Weg, Ihren Kopf zu retten – ich muß herausfinden, wer Lucy
Staines ermordet hat. Haben Sie denn überhaupt keine Vermu-
tung?«
Weldon zuckte mit den Schultern, war jetzt jedoch ruhiger.
»Nicht die geringste. Natürlich habe auch ich darüber nachge-
dacht – was, zum Teufel, tat sie zu so später Stunde am Soho
Square und so weiter. Die einzige Antwort, die ich darauf gefunden
habe, ist die, daß es sich um eines der vielen sinnlosen Verbrechen
seitens irgendeines gesichtslosen Banditen ohne jedes Motiv han-
delt, nicht einmal Raub oder Sex.«
Mike schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht an gesichtslose Killer
oder Verbrechen ohne Motiv. Bekomme ich nur einige wenige Tat-
sachen in die Hand, werde ich den Fall lösen. Aber ohne Lehm
kann man keine Ziegel brennen, und die einzigen Lehmbrocken,
die ich bisher habe, sind Hector Staines und Victor Sanders.«
Weldon starrte ihn ungläubig an. »Sie wollen doch nicht etwa die
beiden verdächtigen? Das wäre ja verrückt!«
»Mag sein, daß die beiden nicht schuldig sind, doch bin ich ver-
dammt sicher, daß beide etwas vor mir verbergen. Und Peggy Bed-
ford tat dies auch, nur bin ich da leider nicht schnell genug gewe-
sen.«
»Was soll das heißen? Ist Peggy etwas passiert?« Weldon sah leicht
besorgt aus, doch ließen seine Augen keine Gefühlsregung erken-
nen.
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»Ja, sie hat gestern Selbstmord begangen. Sie hatte alle Fenster
und Türen ihrer Wohnung abgedichtet und dann den Gashahn auf-
gedreht.«
Weldon vergrub die Fingernägel in den Handflächen, bis die
Knöchel weiß wurden. »Das ist ja furchtbar«, murmelte er. »Sind
Sie ganz sicher, daß es so war?«
»Ja, warum?«
»Ach, es ist nur, weil … wissen Sie, von Peggy hatte ich eigentlich
nie den Eindruck, daß sie morbid oder für Depressionen anfällig
war. Eigentlich sogar ganz das Gegenteil. Was man auch immer über
sie sagen kann, fest steht, daß sie dem Leben stets die besten Seiten
abzugewinnen wußte.«
Mike hob fragend die Augenbrauen.
»In gewisser Weise bin ich gar nicht so überrascht, daß sie kein
normales Ende gefunden hat. Doch hätte ich niemals geglaubt, daß
sie selbst Schluß machen würde«, fuhr Weldon fort.
»Wollen Sie damit andeuten, daß jemand sie ermordet haben
könnte?«
Weldon runzelte die Stirn. »Über die Umstände ihres Todes weiß
ich nur das, was Sie mir eben erzählt haben. Doch würde ich die
Möglichkeit nicht ganz ausschließen.«
Mike dachte über diese Bemerkung einen Augenblick nach und
sagte dann: »Es wird Ihnen bestimmt schon zum Halse heraushän-
gen; aber könnten Sie mir nicht trotzdem einen haargenauen Be-
richt darüber geben, was in der Nacht, in der Ihre Verlobte ermor-
det wurde, wirklich geschah?«
Weldon seufzte müde und schob sich mit einer Handbewegung
die Haarsträhne aus den Augen. »Also nochmals in die Tretmühle.
Na schön … wenn es Ihrer Ansicht nach nützlich sein kann… Lucy
und ich stritten miteinander; sie ließ mich vor dem Theater stehen,
und ich ging zu meinem Wagen. Dann fuhr ich etwa eine Stunde
kreuz und quer durch die Stadt, parkte dann am St. James Square
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und ging spazieren.«
»Warum?«
»Weil ich wegen des Streites erregt war und im Zorn Dinge zu
Lucy gesagt hatte, die ich hinterher bedauerte. Ich wollte mich be-
ruhigen, aber auch über unsere geplante Heirat nachdenken. Des-
halb bin ich eine lange Strecke gelaufen, bis zum Victoria and Al-
bert Museum. Dann ging ich denselben Weg wieder zurück, stieg
in meinen Wagen und fuhr nach Hause. Dort bin ich gegen halb
ein Uhr angekommen.«
Mike sah Weldon an und zuckte mit den Schultern. »Das ist nicht
gerade ein gutes Alibi.«
»Es sollte ja auch niemals eins sein. Hätte ich es gebraucht, würde
ich mir bestimmt etwas Besseres ausgedacht haben.«
»Das haben Sie doch auch!«
»Wie meinen Sie das?«
»In ihrer ersten Aussage vor der Polizei haben Sie erklärt, Sie
wären um halb elf Uhr nach Hause gekommen.«
»Ach das. Dumm von mir, wirklich. Ich hatte wohl den Kopf ver-
loren. Die Nachricht, Lucy sei erwürgt worden, hatte mich völlig
durcheinandergebracht.«
»Das kann ich begreifen. Und was ist mit dieser Nadia Tarrant?
Als die Sie aus der Reihe der zur Identifizierung aufgestellten Män-
ner als Täter bezeichnete – hatten Sie die Frau je zuvor gesehen?«
»Nein, danke. Bin nie ein Freund des Possentheaters gewesen. So
etwas liegt mir nicht.«
»Warum Possentheater?«
»Sie haben in der Schule nicht richtig aufgepaßt, Baxter. Nadia
Tarrant spielte die Hinterbeine eines Pferdes oder so etwas Ähnli-
ches auf einer Vorstadtschmiere. Das kam bei der Gerichtsverhand-
lung zur Sprache. Sie war so sehr nach einer Rolle auf den Brettern
aus, die die Welt bedeuten, daß sie geschworen hätte –«
»Ich weiß: ›daß Brigitte Bardot ihre eigene Großmutter sei‹! Also,
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ich sehe schon – es könnte vielleicht der Mühe wert sein, sich ein-
mal kurz mit ihr zu unterhalten, sobald ich Zeit habe. Noch eine
Frage: Sind Sie jemals in einer Kneipe namens ›Lord Fairfax‹ ge-
wesen, oder hatten Sie geplant, dorthin zu gehen?«
»Mein lieber Mann, ich bin in meinem Leben in tausend Knei-
pen gewesen. Erwarten Sie von mir, daß ich mich an alle erinnere?«
»Das nicht. Aber erweckt der Name ›Lord Fairfax‹ bei Ihnen kei-
ne Assoziationen?«
Weldon schüttelte den Kopf. »Nichts, gar nichts.«
»Kennen Sie auch keine Person namens L. Fairfax?«
»Nein … warten Sie mal … stand nicht so ein Name in Lucys No-
tizbuch?«
»Ja, und haben Sie den Namen nie zuvor gehört, bevor er in der
Verhandlung erwähnt wurde?«
»Niemals.«
Mike holte seine Brieftasche hervor und entnahm ihr den Brief,
den Victor Sanders ihm gebracht hatte. »Lesen Sie das und sagen
Sie mir dann, was Sie davon halten.«
Weldon überflog den Brief und las ihn dann nochmals sorgfältig.
Dann verzog er das Gesicht und warf ihn in Mikes Schoß.
»Noch so ein komischer Vogel, der sich über einen fehlenden
Schuh Gedanken macht. Der Brief ist doch an mich gerichtet; wie
kommen Sie an ihn?«
»Ihr Freund Sanders öffnete ihn und brachte ihn mir.«
Weldon kicherte vor sich hin. »Sanders ist ein guter Kamerad;
aber er vergeudet seine Zeit. Mit dem Ding da könnte man doch
nicht einmal einen Dorftrottel an der Nase herumführen.«
»Sie meinen, er ist gefälscht?«
»Natürlich. Sie etwa nicht?«
»Möglich, dann bleibt aber immer noch die Frage offen, warum
Sanders sich die Mühe gemacht hat, das da zusammenzubrauen –
wenn er es selbst getan hat.«
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»Die Antwort liegt doch auf der Hand. Er ist ein treuer, alter
Kumpel, wenn auch ein wenig schwierig. Er hat nur versucht, mir
zu helfen.«
»Auf welche Weise denn?«
»Indem er einfach neues Interesse für mich erweckt. Schließlich
ist es doch bei Ihnen gelungen. Eins zu Null für Victor.«
»Schon richtig«, gab Mike zu. »Genauer gesagt, war es jedoch
Hector Staines, der mich in diesen Fall hineingezogen hat. Wie ste-
hen Sie zu ihm?«
»Mein Schwiegervater in spe war es? Ach, wir kamen miteinander
aus. Er ist ja etwas steif, Kavalier der alten Schule. Manchmal haben
wir hart wegen irgendwelcher Entwürfe gestritten. Bei ihm scheint
die Architektur mit dem König-Albert-Denkmal ihren künstleri-
schen Höhepunkt erreicht zu haben. Sonst ist er aber ein anstän-
diger alter Knabe.«
»Und was ist mit seinem Sexualleben?« fragte Mike geradeheraus.
»Hat er ein Faible für junge Mädchen?«
»Der alte Hector?« Weldon schien amüsiert. »Ich weiß nicht, ob
er überhaupt den Unterschied zwischen einer Frau und einem Kühl-
schrank kennt. Seit zwanzig Jahren ist er Witwer – eine Stütze der
Kirche, Stütze der lokalen Gesellschaft. Der war überhaupt für alles
eine Stütze.«
»Ist das nicht gerade der Typ, der allzuoft –«
Weldon winkte energisch ab. »Aber nein! Wirklich nicht! Da sind
Sie auf dem Holzwege, alter Junge. Hectors einziger Fehler ist, daß
er stets schwach bei Kasse war. Er besitzt überhaupt kein Talent
zum Geldmachen. Trotzdem ist er ein netter Kerl.«
Mike ging langsam zur Tür. »Sobald ich etwas Konkretes in Hän-
den habe, lasse ich mich wieder blicken«, versprach er.
»Versuchen Sie es einmal mit diesem Weibsstück Tarrant«, riet
Weldon. »Vielleicht können Sie die Frau überreden, endlich mit
dem Theaterspielen aufzuhören und die Wahrheit zu sagen.«
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»Das werde ich auch, Weldon. Und noch etwas: Sollten Krimi-
naldirektor Goldway oder Inspektor Rodgers Sie aufsuchen – oder
sonst jemand in dieser Angelegenheit – dann verlieren Sie nicht wie-
der die Beherrschung und seien Sie nicht so rüpelhaft. Verstehen
Sie? Ich kann Ihnen im Augenblick nichts Positives versprechen;
aber todsicher werden Sie nur negativen Erfolg haben, wenn Sie
fortfahren, sich Leute zu Feinden zu machen, die Ihnen helfen wol-
len.«
»Ich werde von nun an eifrig jeden Abend das Lehrbuch von
Dale Carnegie ›Wie man im Leben Erfolg hat‹ studieren, Daddy.«
»Sie könnten Schlimmeres tun.«
Die beiden Männer schüttelten sich die Hände, und Mike wandte
sich zum Gehen. An der Tür sagte er beiläufig über die Schulter:
Ȇbrigens, wenn Sie nochmals wegen Lucys Schuh befragt werden,
dann halten Sie besser den Mund und sagen gar nichts. Sie können
zu gut raten.«
»Wie meinen Sie das?«
»Es war wirklich der linke Schuh, der fehlte.«
5
ike Baxter erschien nur wenige Minuten später als Kriminaldi-
rektor Goldway zum verabredeten Mittagessen. Goldway hör-
te mit unverbindlichem Schweigen zu, als Mike ihm über sein Ge-
spräch mit Harold Weldon berichtete.
M
M
»Du mußt mich richtig verstehen, John. Weldon an sich ist mir
nicht gerade sympathisch, aber ich bin ziemlich fest davon über-
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zeugt, daß er Lucy Staines nicht ermordet hat. Er ist auch viel zu
intelligent, als daß er sich nicht ein besseres Alibi zusammengezim-
mert hätte, wenn er sie tatsächlich in einer Aufwallung von Leiden-
schaft erwürgt haben sollte.«
»Du bewegst dich da auf verdammt dünnem Eis, Mike«, unter-
brach ihn Goldway. »Vorsätzliche Verbrechen und Verbrechen, die
aus dem Affekt begangen werden, bedingen zwei verschiedene Ar-
ten von Alibis. Die Staatsanwaltschaft vertrat die Ansicht, gerade
weil er kopflos wurde und die Selbstbeherrschung verlor, was dann
zum Mord führte, habe er dieses schwache Alibi vorgebracht.«
Mike schüttelte hartnäckig den Kopf. »Mag sein, daß er ein
Mensch ist, der in einer nervlichen Aufwallung irrational handelt.
Bis zu dem Zeitpunkt aber, zu dem er am nächsten Tag von der
Polizei abgeholt wurde, hätte er sein Gemüt abkühlen und sich et-
was Glaubwürdigeres ausdenken können; dazu hatte er wirklich Zeit
genug. Nein, John, ich setze auf Weldons Unschuld, so unange-
nehm der Bursche auch sonst gewiß ist. Denk doch allein an die
Falle, die ich ihm mit dem fehlenden Schuh stellte. Er hatte nicht
die geringste Ahnung, welcher Schuh bei der Leiche fehlte. Hätte er
mir widersprochen, als ich ihm den falschen nannte, dann hätte ich
ihn ertappt. Aber er wußte von nichts; außerdem war ihm das auch
völlig gleichgültig. Und gerade damit hat mich sein Verhalten fest
überzeugt.«
»Auf dein Urteil kann man etwas geben, Mike; schließlich hast du
schon oft genug recht behalten«, erwiderte der Kriminalbeamte mit
leichtem Augenblinzeln. »Diesmal scheinst du mir aber doch auf ei-
ner falschen Fährte zu sein. Das Beweismaterial gegen Weldon ist
einfach überwältigend. Selbst wenn ich es wollte – ich bezweifle
sehr, daß es überhaupt einen Weg gibt, dir dabei behilflich zu sein.
Der Fall ist amtlich abgeschlossen.«
»Für mich ist er erst fünf Minuten vor der Hinrichtung Weldons
abgeschlossen.«
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»Da stehen dir genau neun Tage zur Verfügung; du wirst dich
mächtig beeilen müssen.«
»Ich weiß.« Mike legte die Serviette hin und stand auf. »Entschul-
dige mich bitte, wenn ich den Nachtisch auslasse. Hast du inzwi-
schen die Adresse von dieser Tarrant ausfindig machen können?«
Goldway nickte, kramte in seiner Jackentasche und brachte einen
Zettel zum Vorschein. »Falls es dir weiterhilft, könnte ich inoffiziel-
le Erkundigungen über sie einziehen lassen«, erbot er sich.
»Danke, nein. Zunächst werde ich sie mal selbst beschnuppern.
Sollte Hilfe notwendig sein, werde ich mich an dich wenden, damit
wir den Druck etwas verstärken können. Herzlichen Dank für das
ausgezeichnete Mittagessen, John. Auf Wiedersehen!«
Mike verließ den Klub und fuhr zu einem Café, in dem er sich
mit Linda verabredet hatte. Als er sie an ihrem Tisch fand, setzte er
sich erst gar nicht zu ihr.
»Für eine Tasse Kaffee wirst du wohl noch Zeit haben«, sagte sie.
»Leider nein. Ich werde dir auf dem Wege zu dieser Tarrant alles
erzählen.«
Während sie durch das dichte Verkehrsgewühl am Trafalgar Square
fuhren, gab er Linda einen kurzen Bericht über seine Eindrücke
von Weldon und sein Gespräch mit Goldway beim Essen.
»John sind natürlich die Hände gebunden; das muß ich berück-
sichtigen. Aber er hat mir doch zwischendurch angedeutet, daß er
uns in aller Stille helfen werde, wenn wir über etwas von Bedeutung
stolpern sollten.«
Linda nickte. »Er ist schon ein guter Kerl, auch wenn er zu mei-
nem Leidwesen die Verschiebung unserer Ferien fördert. Übrigens,
da wir gerade davon sprechen, daß wir über etwas Bedeutendes stol-
pern könnten – ich habe heute unseren Freund, den Oberst mit
dem roten Gesicht, beim Mittagessen gesehen.«
»Sanders? Was soll daran bedeutsam sein?«
»Die Gesellschaft, in der er sich befand.«
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»Männlich oder weiblich?«
»Weiblich.«
»Gut für den alten Victor. Für so menschlich hätte ich ihn gar
nicht gehalten. Hoffentlich hat es ihm Spaß gemacht.«
»Das ist es ja gerade – meiner Ansicht nach nicht. Eine Frau weiß
instinktiv, wer bei einem anderen Paar der aktivere Teil ist. In dieser
Gesellschaft machte Sanders eine recht schlechte Figur.«
Mike lachte. »Pech für ihn. Was für einen Geschmack hat er
denn?«
»Ich brauche sie dir nicht zu beschreiben, wenn du erfährst, wer
es war.«
»Bitte, mach es nicht so spannend. Also, wer war es?«
»Irene Long«, antwortete Linda lakonisch.
»Wer?« Mike kurvte scharf ein, um sich einen Platz in der anderen
Fahrspur zu sichern und rechtzeitig zum Soho Square abbiegen zu
können. »Wer, zum Teufel, ist Irene Long?«
»Paß auf, Liebling! Der Radfahrer dort! Ich bin überzeugt, der
hängt noch an seinem Leben… Du erinnerst dich nicht an Irene
Long? Sie arbeitet bei Conway und Racy. Das ist die Dame, die
mich bei meinem Kleid beraten und mir diesen entzückenden Hut
verkauft hat.«
»Ach, die Modepuppe meinst du! Ja, die Blondine mit dem auf-
fälligen Make-up und dem großen Mund. Wie interessant! Die bei-
den müssen doch ein seltsames Paar abgegeben haben.«
Linda lächelte. »Ist das alles, was du davon hältst? Und ich bil-
dete mir ein, du würdest froh sein, endlich über etwas nachdenken
zu können.«
Mike lächelte und antwortete trocken: »Ach, Liebes, ich habe ja
auch so wenig im Kopf…«
Er bog in die gesuchte Straße ein, hielt kurz an und studierte die
Hausnummern. »Es muß auf dieser Seite sein.«
Kurz darauf fanden sie das Haus und dicht daneben auch eine
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Parklücke.
Linda stieg aus und starrte auf das schäbige Gebäude. Naserümp-
fend fragte sie dann: »Sind wir hier auch richtig, Mike? Das sieht
doch so aus, als wären hier nur Büros. Hier wohnt doch bestimmt
niemand.«
»Das will ich nicht sagen. In Gebäuden dieser Art gibt es gewöhn-
lich im Hinterhaus ein paar Löcher, die als Wohnungen vermietet
werden. Nadia Tarrant war ja nur eine Komparsin bei einem Schmie-
rentheater; ihr Geld wird also kaum für eine bessere Wohnung rei-
chen.«
Neben einem schmutzigen und unregelmäßig beschnittenen
Stückchen Pappe, auf das fast unleserlich ein Name gekritzelt war,
entdeckte Linda einen verrosteten Klingelknopf. »Ich glaube, hier
ist es«, sagte sie.
»Drück nur drauf; das werden wir gleich wissen.«
Linda drückte auf den Knopf, doch gab die Klingel keinen Ton
von sich. Auch der zweite Versuch blieb ohne Erfolg. »Ich wäre
wirklich überrascht gewesen, wenn das Ding funktioniert hätte«,
meinte sie.
Mike gab nur einen unartikulierten Laut von sich. »Der Fahrstuhl
ist auch nicht in Ordnung. Wir werden die Treppen hochsteigen
müssen.«
Sie kletterten drei knarrende Treppen empor, bis sie an eine Tür
kamen, deren Farbe abblätterte und die nur leicht angelehnt war.
Auf einem Stückchen Papier stand: Nadia Tarrant und darunter
Varietekünstlerin.
Ein Klingelknopf war an der Tür nicht vorhanden. Mike und Lin-
da erschraken einen Moment, als drinnen plötzlich das Telefon zu
schrillen begann. Niemand schien sich zu beeilen, den Hörer abzu-
nehmen. Mike zuckte mit den Schultern und klopfte zwei- bis drei-
mal kräftig an die Tür, ohne daß jemand antwortete. Sie warteten
noch, bis das Telefon schwieg. Dann stieß Mike die Tür ganz auf.
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Ein fürchterlicher Mief kam ihnen entgegen; ein Geruch von
nicht gelüfteten Betten, gemischt mit dem Duft von vergossenem
Kakao neben einem Gaskocher und feuchter Wäsche, die quer
durch den Raum zum Trocknen aufgehängt war. Auf den ersten
Blick schien es ein typisches Wohn-Schlaf-Zimmer zu sein, in dem
eine ungewöhnlich schlampige Frau hauste.
Mike sah sich im Zimmer um, wobei sein Blick auf eine Reihe
vergilbter Fotos und Theaterzettel an den Wänden fiel – Zeugnisse
von Miß Nadia Tarrants einstiger Karriere beim Vorstadttheater.
Den Bildern nach zu urteilen, mußten es schon etliche Jahre her
sein, seit sie zum letzenmal auf der Bühne gestanden hatte. Es war
nur schwer zu sagen, welche der nur noch verschwommen erkenn-
baren Figuren Nadia Tarrant sein mochte, obwohl die große, ko-
lorierte Fotografie eines vollbusigen Mädchens mit roten Haaren
und schwarzen Netzstrümpfen Mike besonders auffiel und ihn an
die Vorkriegszeit erinnerte, in der die Farbfotografie noch in den
Kinderschuhen gesteckt hatte. Als er nähertrat, um das Foto ge-
nauer zu betrachten, fragte Linda: »Mike, können wir denn hier ein-
fach so herumschnüffeln?«
Mikes Antwort wurde durch das erneute Läuten des Telefons un-
terbrochen. Seine Körperhaltung versteifte sich; er blickte zu Linda
hinüber und sagte dann: »Nimm mal ab.«
Sie streckte die Hand aus, zögerte aber noch.
»Nun mach schon! Irgend etwas muß ich über diese Frau erfah-
ren. Das Risiko lohnt sich.«
»Aber Mike, wir können doch nicht einfach –«
»Wir können! Nimm ab und hör einfach zu. Sage nicht, wer du
bist.«
Linda seufzte und nahm mit zitternder Hand den Hörer ab.
Die Stimme, die dröhnend durch die Leitung klang, war sofort zu
erkennen. »Ist dort Gerard 73 11?«
»Ja.«
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»Ist dort Nadia Tarrant?« fragte die kräftige Stimme von Victor
Sanders.
Linda blickte fragend ihren Mann an, der ihr durch Zeichen eilig
zu verstehen gab, sie solle weitermachen.
»Warum haben Sie sich vorhin nicht gemeldet? Ich habe schon
vor fünf Minuten angerufen. Wollen Sie etwa faule Tricks bei mir
versuchen?«
»Ich war fortgegangen«, antwortete Linda mit rauher Stimme aufs
Geratewohl, wie Nadia Tarrant vielleicht sprechen mochte.
»Also, was ist mit der Sache Bannister? Bekomme ich endlich den
dritten Schuh?« bellte Sanders ins Telefon. »Hallo… Sind Sie noch
da?«
»Ja.«
»Also, dann dalli, Frau. Verstehen Sie mich? Ich brauche den drit-
ten Schuh. Und keinerlei Faxen! Das möchte ich mir ausgebeten
haben.«
»Ja, geht in Ordnung.« Am anderen Ende hörte man das Klicken
des aufgelegten Hörers.
Mike hatte sein Ohr an den Hörer gelegt und so dem seltsamen
Dialog gelauscht.
Linda zitterte leicht und hielt ihre Hand auf das Telefon, als müs-
se sie sich daran festhalten.
»Victor Sanders«, flüsterte sie. »Was, um Himmels willen, mag das
bedeuten, Mike? Was hat der mit dieser Sache zu tun?«
Sie blickte sich in dem düsteren Zimmer um.
Mike nickte. »Jetzt will er den dritten Schuh«, sinnierte er laut.
»Möchte auch wissen, was das zu bedeuten hat.«
»Und was meint er wohl mit der Sache Bannister. Bannister? Sagt
dir der Name etwas?«
»Ich habe diesen Namen noch nie gehört. Übrigens – du warst
prächtig, Linda. Ob Sanders wohl deine Stimme erkannt hat?«
Linda sagte: »Ich habe mich ja bemüht, sie zu verstellen«, brach
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dann aber mitten im Satz ab. »Mike, da kommt jemand die Treppe
herauf!«
Sie warteten außerhalb des Blickfeldes der offenen Tür, die nun
weit aufgestoßen wurde. Eine Frau mit einem riesigen Busen, Ende
der Vierzig, und mit flammend rotem Haar von fast unmöglicher
Tönung stand im Türrahmen und starrte sie wütend an.
»Wer sind Sie? Was wollen Sie?« fragte sie mit tiefer Stimme.
»Sind Sie Miß Tarrant?« fragte Mike höflich.
»Ja. Wer hat Ihnen erlaubt, hier so einfach einzudringen?«
»Die Tür war offen, wir –«
»Ich weiß, daß ich sie nur angelehnt hatte, weil ich nur mal
schnell nach unten gelaufen bin, um mir etwas von einer Nachba-
rin zu borgen. Was soll das? Antworten Sie!«
»Entschuldigen Sie, Miß Tarrant; aber wir haben unten geläutet,
und als sich niemand meldete –«
»Da sind Sie einfach hier hereinmarschiert! Nun, marschieren Sie
ja sofort wieder hinaus, Sie beide, 'raus mit Ihnen, bevor ich die Po-
lizei rufe!«
Linda machte eine Bewegung zur Tür hin, doch Mike hielt sie zu-
rück. Er lehnte sich gegen den Abwaschtisch und begegnete dem
aggressiven Blick der Frau mit einem Lächeln. »Mein Name ist Bax-
ter, Mike Baxter. Und das hier ist meine Frau. Ich bin ein Bekann-
ter von Inspektor Rodgers«, fügte er noch hinzu.
»Und wenn schon. Was soll's?«
»Wir wollten uns nur ganz kurz mit Ihnen unterhalten. Das ist
alles.«
Die Frau starrte ihn argwöhnisch an. »Das wollten Sie also. Wirk-
lich? Nun, da haben Sie Pech. Ich will nämlich gerade fortgehen.«
»Es wird nicht lange dauern, Miß Tarrant. Höchstens drei oder
vier Minuten.«
Die Frau zögerte und blickte auf ihre Armbanduhr. »Tut mir leid,
geht nicht. Ich bin in einem Café beschäftigt und schon zu spät
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dran.«
»In welchem Café? Ich denke, Sie arbeiten auf der Bühne.«
»Ich habe gerade eine Pause zwischen zwei Engagements, wenn
Sie das überhaupt etwas angeht. Ich arbeite, wo ich will, ohne Sie
um Erlaubnis zu fragen, Sie Oberschnüffler!«
Mike entschuldigte sich wieder höflich und wandte sich dann an
Linda. »Also dann komm, Darling. Wir wollen Miß Tarrant nicht
belästigen. Ich werde die Sache Inspektor Rodgers erklären. Wahr-
scheinlich war sein Vorschlag ohnehin nicht der beste.«
Er ging mit großen, energischen Schritten an der Frau vorbei zum
Flur.
»Moment mal!« rief sie. Als er eine halbe Wendung machte, sagte
sie: »Ich war vielleicht etwas grob. Aber Sie können ja auch nicht
so ohne weiteres in die Privatwohnung anderer Leute eindringen.
Und ich hatte auch noch keine Zeit zum Aufräumen. Also, was
wollen Sie?«
Mike kam ins Zimmer zurück und schloß die Tür hinter sich.
»Nur ein paar Worte über den Fall Weldon, das ist alles. Wir wol-
len natürlich nicht, daß Sie zu spät zur Arbeit kommen.«
Die Frau verzog das Gesicht zu einer häßlichen Grimasse. »Das
ist ja zum … schon wieder der Fall Weldon. Du lieber Himmel, ich
kann diesen Namen einfach nicht mehr hören. Ich habe es satt!«
»Das kann ich verstehen. Aber Sie waren eine so wichtige Zeugin,
daß es wohl leider unvermeidlich sein wird –«
Sie warf sich in Positur. »Was heißt hier wichtig! Ich war die
Hauptzeugin.«
»Richtig. Sagen Sie, Miß Tarrant – wo arbeiten Sie jetzt?«
»Bei Farnalio in der Greek Street.«
»Kamen Sie von Farnalio zurück? Ich meine in der Nacht, in der
Sie Weldon sahen?«
»Ja.«
»Es war kurz nach Mitternacht?«
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»Fragen
Sie mich, oder sagen Sie es mir?« fuhr sie ihn an.
Mike lächelte entschuldigend. »Ich frage Sie.«
»Ja. Es war kurz nach zwölf Uhr. Ich sah ihn von dem Ruinen-
grundstück weglaufen, er kam direkt auf mich zu.«
»Und Sie sind sicher, daß es Weldon war?«
»Natürlich bin ich das. Denken Sie, ich hätte sonst im Zeugen-
stand die Hand gehoben und –«
»Was hatte er an? Können Sie sich noch erinnern?«
Die Frau zögerte einen Augenblick. »Nein, ich erinnere mich
nicht. Hören Sie – ich habe diesen Quatsch schon ein dutzendmal
erzählt. Ich sah Weldon, habe das der Polente gemeldet und ihn
aus der Reihe der von ihr aufgestellten Männer sofort wiederer-
kannt. Was wollen Sie noch mehr?«
Linda unterbrach unerwartet den Dialog. »Da müssen Sie aber ein
sehr gutes Gedächtnis für Gesichter haben, es sei denn, Sie hätten
ihn vorher schon einmal gesehen gehabt.«
Die Augen der Frau verengten sich zu einem Schlitz, als wittere
sie eine Falle. »Wie meinen Sie das?« fragte sie argwöhnisch.
»Ich frage mich nur, ob Sie Weldon nicht schon einmal gesehen
hatten, bevor er in jener Nacht mit Ihnen fast zusammenstieß.«
»Nun hören Sie mal! Als ob ich mich mit dieser blasierten Bande
abgeben würde! Jetzt ist aber Schluß! Ich muß um vier Uhr meinen
Dienst antreten, also…«
Mike nickte. »Wir wollen Sie auch nicht länger aufhalten. Nur
noch eine letzte Frage: Als Weldon so plötzlich vor Ihnen auf-
tauchte, hat er da etwas gesagt?«
Wieder zögerte sie, und wieder spähten die verengten Augen nach
einer möglichen Falle. Schließlich murmelte sie eine verneinende
Antwort.
»Sind Sie sicher?« bedrängte Mike die Frau.
»Was heißt sicher? Wenn er etwas gesagt hat, so habe ich es nicht
gehört.«
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»Aber haben Sie vor Inspektor Rodgers nicht ausgesagt, er habe
etwas gesagt, nur hätten Sie es nicht verstehen können?«
»Ich … ich weiß nicht mehr genau, was ich der Polizei gesagt
habe.«
Mike lächelte ironisch. »Nein? Aber Sie haben doch sonst ein so
ausgezeichnetes Gedächtnis, Miß Tarrant.«
»Ich habe ein gutes Gedächtnis für Gesichter. Und auch Ihres
werde ich nicht so schnell vergessen, darauf können Sie Gift neh-
men«, fauchte sie ihn an.
»Verstehe. Also, soweit Sie sich erinnern können, hat Weldon
nichts gesagt. Er stieß Sie zur Seite –«
Sie nickte widerwillig.
»Aber ganz offensichtlich konnten Sie ihn dabei gut sehen?«
»Natürlich, ich habe ihn doch identifiziert, oder nicht? Wie hätte
ich das tun können, wenn ich ihn nicht gut gesehen hätte?«
»Ja, wirklich. Wie hätten Sie?« erwiderte Mike nachdenklich.
Nadia Tarrant setzte zum Sprechen an, besann sich dann aber
und trat zur Seite, damit Mike und seine Frau zur Tür gehen konn-
ten. »Nun aber 'raus hier! Ich muß mich jetzt sehr beeilen. Darf ich
Ihnen einen Schlüssel mitgeben, falls Sie wieder einmal das Bedürf-
nis haben, mir einen Besuch abzustatten?«
Als sie aus dem Hause traten und zum Wagen gingen, gab Linda ei-
nen leisen Pfiff von sich, der teils Erleichterung, teils Verlegenheit
ausdrückte. »Nun, wohin hat uns dieser Besuch gebracht?«
»Ich bin nicht ganz sicher«, erwiderte Mike. »Wahrscheinlich zwei
Schritte vor und einen zurück. Im Augenblick verwirrt mich völlig
die Geschichte mit Sanders. Was diese Xanthippe betrifft, so hat
Weldon vollkommen recht – die würde ihre eigene Mutter verkau-
fen, wenn ihr jemand fünf Shilling dafür gäbe.«
»Falls sie überhaupt ihre Mutter jemals gekannt hat«, bemerkte
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Linda trocken, als sie in den Wagen stiegen. »Und was machen wir
jetzt?«
Mike fuhr langsam an und sagte halb abwesend: »Ich muß ein
paar Telefongespräche führen. Der Kriminaldirektor hat mir ver-
sprochen, die Tarrant notfalls unter Druck zu setzen. Es ist mög-
lich, daß dieser Fall schneller zu lösen ist, als wir dachten.«
»Und wie?«
»Indem wir herausfinden, wer sie bestochen hat, Harold Weldon
bei der Gegenüberstellung zu identifizieren. Wahrscheinlich hat
man ihr vorher Fotos von Weldon gezeigt.«
Als Mike und Linda in ihrer Wohnung eintrafen, hatte sich ihr
Optimismus zusehends verringert. Inspektor Rodgers wartete in der
Halle, wo er flott mit Mrs. Potter plauderte. Als die Baxters kamen,
versteifte sich seine Haltung.
»Ich habe heute früh Weldon im Gefängnis besucht, Inspektor«,
berichtete Mike.
Rodgers nickte. »Mein Chef hat es mir erzählt. Was halten Sie
von ihm, Mr. Baxter?«
»Er ist nicht gerade ein Allerwelts-Liebling; aber ich bin jetzt da-
von überzeugt, daß er seine Verlobte nicht ermordet hat.«
Der Inspektor zwang sich offensichtlich dazu, geduldig zuzuhö-
ren. »Eine interessante Ansicht, Mr. Baxter; doch werden Sie wohl
kaum erwarten, daß ich ihr zustimme.«
Baxter berichtete, wie er Weldon die Falle mit dem fehlenden
Schuh gestellt hatte, und erläuterte dann seine Vermutung, warum
Weldon es versäumt habe, sich ein besseres Alibi zu verschaffen.
Rodgers lächelte skeptisch. »Und das ist alles, worauf Sie aufbau-
en können, Mr. Baxter?«
»Durchaus nicht; es gibt noch einen Anhaltspunkt. Wir haben so-
eben die Zeugin besucht – die einzige Zeugin – die Weldon identi-
fiziert hat. Ich würde es begrüßen, wenn Sie diese Frau mit harten
Fragen etwas in die Zange nehmen könnten.« Mike machte eine er-
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wartungsvolle Pause.
Der Inspektor hob abwehrend die Hand. »Wen wollen Sie be-
sucht haben?«
»Nadia Tarrant natürlich. In ihrer Wohnung in Soho.«
Der Inspektor schüttelte düster den Kopf. »Da muß Ihnen aber
jemand einen bösen Streich gespielt haben. Ich komme gerade aus
Surrey, wo es einen neuen Mord gegeben hat. Der Himmel mag
wissen, wer Sie in Soho zum Narren gehalten hat; aber die Frau, die
wir in einem Wäldchen wenige Meilen von Farnham tot aufgefun-
den haben, war ohne jeden Zweifel Nadia Tarrant. Ich selbst habe
sie identifiziert.«
»Aber das ist doch unmöglich!« rief Linda erregt. »Wir haben
doch eben noch mit ihr gesprochen. Ein grobes Weibsbild Ende
Vierzig, mit rotgefärbtem Haar. Nicht wahr, Mike?«
Mike zerdrückte die nicht angezündete Zigarette zwischen den
Fingern und schüttelte müde den Kopf. »Darling, der Inspektor hat
die Mordkommission geleitet, die den Fall Weldon bearbeitete.
Wenn er sagt, er hätte die Zeugin Tarrant ermordet im Walde bei
Surrey gesehen, dann hat sie auch dort gelegen, und sie hat nicht
mit uns in Soho gesprochen. Man hat uns 'reingelegt.«
»Da sind Sie aber anscheinend einer bemerkenswert geschickten
Mystifikation zum Opfer gefallen«, bemerkte Rodgers zum Trost.
Mike zuckte mit den Schultern. »Ob geschickt oder nicht – wir
beide hatten die Tarrant nie zuvor gesehen. Wir waren ja nicht bei
der Gerichtsverhandlung.«
»Das stimmt«, pflichtete der Inspektor bei. »Immerhin – nach der
Beschreibung, die Mrs. Baxter eben gegeben hat, ist es nicht weiter
überraschend, daß Sie die Person für echt gehalten haben.« Er
stand auf. »Ich sollte jetzt wohl lieber schnell nach Soho fahren,
um diese Betrügerin zu vernehmen. Kommen Sie mit, Mr. Baxter?«
»Sehr gern, wenn ich Sie dabei nicht störe.«
»Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mir bei der Identifizie-
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rung dieser Frau helfen könnten. Übrigens: Beinahe hätte ich im
Zusammenhang mit dem neuen Mord in Farnham vergessen, Ihnen
zu sagen, daß derjenige, der die echte Nadia Tarrant ermordete, ei-
nen ihrer Schuhe mitgenommen hat.«
6
nspektor Rodgers' Fahrer kannte alle Abkürzungen im Londoner
Straßennetz, und so brauchten sie nur kurze Zeit für die Fahrt
zum Soho Square. Trotzdem kamen sie zu spät. Das wurde ihnen
sofort klar, als sie die Tür zur Wohnung öffneten. Der Vogel war
ausgeflogen, hatte aber noch ausreichend Zeit gehabt, zuvor alles
gründlich zu durchsuchen. Der Raum sah aus, als wären Bulldozer
rücksichtslos kreuz und quer hindurchgefahren.
I
I
»So dürfte es wohl nicht ausgesehen haben, als Sie vorhin hier
waren?« bemerkte der Inspektor.
»Unaufgeräumt und schmutzig, ja. Aber nicht so wüst wie jetzt«,
bestätigte Mike.
»Das bedeutet, die Frau hat nicht viel Zeit gehabt, nach dem zu
suchen, was sie haben wollte, als Sie und Ihre Gattin sie hier über-
raschten.«
»Glauben Sie, die Frau ist schon vor uns hier gewesen?«
»Es scheint so, da vieles dafür spricht. Die Tür stand offen, wie
Sie mir erzählten. Sie muß Sie die Treppe heraufkommen gehört
haben. Es liegt ja kein Läufer auf den Stufen.«
»Wir müssen unsere Ankunft auch ziemlich lautstark angekündigt
haben«, stimmte Mike dieser Vermutung zu.
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»Richtig! Die Frau hörte Sie kommen, unterbrach ihre Suchak-
tion, schlich in den Flur hinaus und versteckte sich gleich um die
Ecke, aber noch in Hörweite. Aus Ihrer Unterhaltung dürfte sie so-
gar entnommen haben, daß Sie Nadia Tarrant gar nicht kannten.
Sie muß es sehr eilig gehabt haben, die Durchsuchung des Zimmers
fortsetzen zu können. Dabei entschloß sie sich, Sie abzuwimmeln,
indem sie sich selbst als Nadia Tarrant ausgab. Den gefärbten Haa-
ren und ihrer intimen Kenntnis des Falles Weldon nach zu urteilen,
muß sie Nadia Tarrant sehr genau studiert haben. Sie hätte wohl je-
den an der Nase herumgeführt, der nicht bei der Gerichtsverhand-
lung zugegen war, und wahrscheinlich auch einige, die dort waren.«
Mike nickte, war jedoch ein wenig verlegen, weil er sich hatte dü-
pieren lassen, wenn auch der Inspektor das entschuldbar fand. Wäh-
rend er sich in dem Tohuwabohu des Zimmers umsah, meinte er:
»Wir sollten wohl besser nichts anrühren?«
Der Inspektor nickte. »Richtig, vielleicht finden wir ein paar
brauchbare Fingerabdrücke. Abgesehen davon, daß die Frau sich
für eine andere Person ausgegeben hat, handelt es sich ja noch um
einen einwandfreien Fall von Einbruch.« Rodgers ging zum Telefon
hinüber und führte ein kurzes Gespräch mit seinem Büro.
Mike zündete sich eine Zigarette an und hielt auch Rodgers sein
Etui hin. Als dieser das Telefonat beendet hatte, sagte Mike: »Ich
gäbe was dafür, wenn ich erfahren könnte, was sie hier gesucht hat.«
Rodgers lächelte dünn. »Das dürfte doch kaum schwer zu erraten
sein. Vielleicht einen Damenschuh.«
Mike riß verwundert die Augen auf. »Wie kommen Sie darauf?«
»Es scheint doch in den bisherigen Rahmen zu passen, meinen
Sie nicht auch?«
Nach kurzem Zögern entschied sich Mike dafür, den Inspektor
über den Telefonanruf zu informieren, den Linda von Sanders ent-
gegengenommen hatte. »Sanders wollte wissen, wann er endlich den
dritten Schuh bekomme«, schloß er seinen Bericht.
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»Das sagte er?« murmelte Rodgers und rieb sich mit der flachen
Hand über seinen Bürstenhaarschnitt, was er stets tat, wenn er in-
tensiv nachdachte. Trotz seiner kräftigen Statur sah er müde und
abgespannt aus. Als Mike geendet hatte, sagte er: »Ich habe nun
schon zwei Mordfälle zu bearbeiten, den einen von heute früh in
Farnham, und dann die Messerstecherei, bei der es auch zu einem
Mord geführt hat. Sie werden verstehen, daß ich mich nicht gerade
nach weiterer Arbeit sehne und es auch nicht eilig habe, den Fall
Weldon wieder aufzurollen. Ich gebe aber zu, daß es jetzt einige
Dinge gibt, die mich nachdenklich machen. Die Sache mit Sanders
zum Beispiel. Während der Verhandlung erschien er mir als ein eh-
renwerter Mann. Jetzt bin ich mir dessen nicht mehr so sicher.«
»Ist er verheiratet?«
»Nein. Er scheint aber ziemlich viel für das schöne Geschlecht
übrig zu haben, und umgekehrt die Frauen auch für ihn. Sanders
ist im Krieg mehrfach ausgezeichnet worden. Von seinem Vater hat
er ein schönes Vermögen geerbt.«
»Womit verdient er denn seinen Lebensunterhalt?«
»Er hat es anscheinend nicht nötig, einer geregelten Arbeit nach-
zugehen. Soweit wir feststellen konnten, genießt er sein Leben, reist
viel und betätigt sich als Amateurfotograf. Einige seiner Aufnah-
men, die ich zu Gesicht bekommen habe, waren immerhin von be-
achtlicher Qualität.«
Mike überlegte einen Augenblick. »Was glauben Sie wohl, was er
meinte, als er den Namen Bannister erwähnte? Ist dieser Name je-
mals im Prozeß Weldon vorgekommen?«
Rodgers schüttelte den Kopf. »Meines Wissens nicht. Ich will
mich aber noch mal erkundigen.«
Beide Männer wandten den Kopf, als sie leise Schritte auf den
Treppenstufen hörten. »Vielleicht einer von Ihren Leuten?« fragte
Mike.
Der Inspektor legte hastig den Finger an die Lippen und flüster-
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te: »Kein Polizist schleicht so die Treppe 'rauf.«
Die Schritte machten an der Biegung des Treppengeländers halt
und bewegten sich dann zögernd auf die halboffene Tür zu. Mike
und Rodgers verhielten sich ruhig und blieben außer Sicht. Dann
klopfte es an die Tür. Eine junge männliche Stimme rief: »Nadia,
carissima! Ich bin es, Luigi. Kann ich hineinkommen?«
Rodgers bewegte sich blitzschnell zur Tür und riß sie ruckartig
auf. Ein magerer blasser junger Mann mit vollem und gelocktem
schwarzem Haar und südländischem Aussehen starrte sie einen Au-
genblick erschrocken an, drehte sich dann aber blitzschnell um und
wollte die Flucht ergreifen. Rodgers sauste hinterher, faßte den
Flüchtigen am Rockkragen und schob ihn vor sich her zurück in
die Wohnung.
»Warum hattest du es denn so eilig, mein Junge?«
Der Bursche stammelte etwas in italienischer Sprache.
»Du wolltest doch hier in die Wohnung. Wozu?« fragte der In-
spektor eindringlich.
»Ich wollte Nadia besuchen. Wo ist sie?« Er blickte verwirrt auf
das Chaos im Zimmer. »Was ist geschehen? Ist Nadia etwas pas-
siert?«
»Nun setz dich mal, mein Sohn. Wir werden uns kurz unterhal-
ten. Wie heißt du? Luigi ist doch sicher nur dein Vorname? Nun er-
zähl uns mal, wer du bist und was du tust.«
Der junge Mann ließ sich aufs Bett fallen und warf scheue Blicke
um sich. Nachdem er sich etwas gefangen hatte, begann er mit lei-
ser Stimme: »Ich heiße Luigi Saltoni und bin Kellner in Leonardos
Restaurant, nicht weit von dem Lokal, in dem Nadia arbeitet. Mei-
ne Arbeitserlaubnis ist in Ordnung; ich kann sie Ihnen zeigen, wenn
Sie sie sehen wollen.«
Rodgers lächelte und zeigte sich ungewöhnlich sanft. »Das freut
mich zu hören, Luigi. Und ich nehme an, Nadia Tarrant ist deine
Freundin. Stimmt's? Wir hörten vorhin, wie du draußen ›carissima‹
73
riefst. Du brauchst also keine Zeit damit zu verlieren, so zu tun, als
wärt ihr nur flüchtig bekannt. Wann hast du sie zum letztenmal ge-
sehen?«
»Gestern abend. Wir aßen zusammen in meiner Wohnung. Ich
wohne in der Meryl Street, nicht weit vom Euston-Bahnhof. Sagen
Sie bitte: Ist etwas geschehen?«
Nach und nach holte der Inspektor alle Informationen aus dem
Italiener heraus, die er brauchte, und machte sich dabei Notizen.
Als Kriminalbeamte von Scotland Yard eintrafen, um das Zimmer
zu inspizieren, blickte er kaum auf, während er ihnen ein paar An-
weisungen gab. Ohne anzudeuten, daß Nadia Tarrant ermordet
worden war, testete Rodgers das Alibi des Italieners durch ein ge-
schicktes Fragespiel und schien damit zufrieden zu sein. Dann erst
sagte der Inspektor dem jungen Mann, daß Nadia tot sei, und beo-
bachtete seine Reaktion. Luigi war wie vom Blitz getroffen und fing
in Sekundenschnelle zu weinen an. Der Inspektor zündete sich eine
Zigarette an, die Mike ihm angeboten hatte, und ließ dem Bur-
schen etwas Zeit, sich zu beruhigen.
Dann erklärte Saltoni mit leiser und brüchiger Stimme: »Ich habe
schon lange gefürchtet, daß Nadia einmal etwas zustoßen würde.
Sie war in irgendeine dunkle Sache verwickelt, über die sie mir aber
nichts erzählen wollte. Ich glaube, jemand hat sie erpreßt.«
Rodgers beugte sich vor und sah den Burschen scharf an. »Das ist
ja sehr interessant. Hast du sie etwa erpreßt? Antworte!«
Der Italiener starrte ihn entgeistert an. »Ich? Mamma mia, nein!
Mein Ehrenwort, nein!«
»Hat sie dir jemals Geld für … sagen wir für bestimmte Dienste
gegeben?«
Saltoni sah den Inspektor verwirrt und ängstlich an. »Ich weiß
nicht, was Sie meinen. Ja, neulich hat sie mir zehn Pfund geliehen,
als ich Schulden gemacht hatte. Deshalb bin ich ja heute hierher-
gekommen. Ich wollte ihr das Geld zurückgeben.«
74
Der Inspektor streckte sofort die Hand aus. »Zeig mal deine Brief-
tasche.«
Saltoni zückte sie, ohne zu überlegen. In der Brieftasche befanden
sich dreizehn Pfund, davon lagen zehn gesondert. Rodgers nickte
und gab sie ihm zurück.
An den Inspektor gewandt, fragte Mike: »Darf ich eine Frage stel-
len?« Rodgers stimmte zu. »Luigi, hast du jemals von einem Mann
namens Bannister gehört?«
Der Italiener überlegte kurz und verneinte die Frage.
Nun setzte der Inspektor das Verhör fort. »Erzähl uns jetzt, wie
du Nadia Tarrant kennengelernt hast.«
»Das war an einem freien Nachmittag. Ich erinnere mich noch ge-
nau, weil es gerade an meinem Geburtstag war. Ich war allein und
fühlte mich sehr verlassen, hatte kein Geld, keine Freunde. Als ich
so durch die Straßen schlenderte, sah ich eine Bücherei und dachte
mir, vielleicht haben die auch Bücher in italienischer Sprache.«
»Welche Bücherei war das?«
»Die in der Tottenham Court Road. Dort traf ich dann Nadia.
Sie sprach etwas Italienisch, weil sie längere Zeit mit einem Zirkus
in Italien gewesen war. Wir kamen ins Gespräch, und sie lud mich
hier in ihre Wohnung ein. Später wurden wir dann … sehr gute
Freunde.«
»Na gut.« Der Inspektor überlegte einen Augenblick und klappte
dann sein Notizbuch zu. »Für heute soll es genug sein. Gib dem
Sergeanten hier deine Adresse an und melde dich in meinem Büro.
Der Sergeant wird dir sagen, wo ich zu erreichen bin.«
Saltoni schluckte erschrocken. »Im Polizeipräsidium? Warum? Ich
habe Ihnen doch alles erzählt.«
»Mag sein. Morgen früh gehen wir alles noch einmal durch und
dann mußt du deine Aussage unterschreiben. Jetzt habe ich keine
Zeit mehr.«
Saltoni war sehr aufgeregt. Der Gedanke an die Vorladung in das
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Polizeipräsidium beunruhigte ihn sehr. »Inspektor, Sie irren sich.
Ich war … ich stand nicht in engen Beziehungen zu Nadia. Sie war
sehr nett zu mir, aber wir haben uns nicht oft gesehen. Nicht so
oft, wie ich eigentlich wollte. Ich meine, in letzter Zeit ist sie mir
immer aus dem Wege gegangen. Ich hatte Angst um Nadia, sie war
in eine böse Sache verwickelt.«
»Worin war sie verwickelt?« unterbrach ihn Mike scharf. Er sah,
daß der Inspektor wegen seiner Frage die Stirn runzelte, doch glaub-
te er die günstige Gelegenheit nutzen zu müssen, da es unwahr-
scheinlich war, daß die Polizei ihn auch während der amtlichen
Vernehmung des Burschen zugegen sein lassen würde. Nadia Tar-
rant, die vitale und zweifellos fragwürdige Zeugin, die Harold Wel-
don so sehr geschadet hatte, war tot, und so war eine aussichtsrei-
che Möglichkeit für Nachforschungen plötzlich nicht mehr gege-
ben. Saltoni stellte also das einzige Bindeglied zu ihr dar. Mike
mußte das mögliche Mißfallen des Inspektors in Kauf nehmen.
»Woher weißt du, daß sie in eine böse Sache verwickelt war?« fragte
er.
Saltoni zuckte mit den Schultern und kniff verwirrt die Augen-
brauen zusammen. »Das ist schwer zu sagen. Es gab Zeiten, da ver-
schwand sie einfach, tage- oder wochenlang. Wenn sie dann zurück-
kam, wollte sie niemals sagen, wo sie gewesen war.«
»Hast du mal etwas vom Fall Weldon gehört?«
Saltoni nickte.
»Du weißt, daß Miß Tarrant eine wichtige Zeugin in dem Prozeß
war?«
»Ja.«
»Und du weißt, daß Weldon zum Tode verurteilt wurde?«
»Das stand in den Zeitungen.«
»Nun höre mal gut zu, Luigi. Ich habe gar nichts gegen dich. Ich
versuche nur, Harold Weldon zu helfen, weil ich ihn für unschul-
dig halte und er nicht für etwas gehängt werden darf, was er nicht
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getan hat. Hat Nadia mit dir jemals über Weldon gesprochen?«
»Nein. Aber ich habe sie danach gefragt, als die Gerichtsver-
handlung zu Ende war. Ich hatte nämlich Angst.«
»Angst? Wovor?«
Saltoni blickte ausweichend zur Seite.
»Weshalb?« fragte Mike beharrlich. »Weshalb hattest du Angst?
Los, nun sag's schon.«
Saltoni zögerte noch etwas, aber dann platzte es aus ihm heraus:
»Es ist nur … weil sie in der Nacht bei mir war, als sie angeblich
Harold Weldon gesehen haben will und beinahe mit ihm zusam-
mengestoßen wäre.«
»…Nur, sagt der Bursche. Haben Sie das gehört, Inspektor!« Mike
wechselte einen bedeutungsvollen Blick mit Rodgers, der sich wie-
der gesetzt hatte. »Wo war sie denn damals?« fragte Mike.
Saltoni sprach die nächsten Worte wie ein bockiger Schuljunge,
der nach längerem Drängen endlich mit der Wahrheit herausrückt.
»Sie kam vom Café direkt zu mir… Sie ist erst nach ein Uhr nachts
gegangen.« Er machte eine Pause und fuhr auf Drängen von Mike
fort: »Als ich ihr das später vorhielt, sagte sie, ich müsse mich irren,
es sei halb zwölf Uhr gewesen… Aber ich habe mich nicht geirrt.
Ich habe nämlich auf die Uhr gesehen; es war später, viel später.«
Mike wandte sich an den Inspektor. »Hat nicht Nadia Tarrant –
ich meine jetzt die richtige, also nicht die Betrügerin – in einem
Restaurant in der Greek Street gearbeitet?«
»Das hat sie.«
»Aber entweder Sie oder Kriminaldirektor Goldway haben mir ge-
sagt, sie habe in der Mordnacht das Restaurant zehn Minuten vor
ihrer Begegnung mit Weldon verlassen; genauer gesagt, so gegen
Mitternacht.«
Rodgers nickte. »Sie hat das Restaurant etwa um diese Zeit verlas-
sen. Ich habe das während der Untersuchung selbstverständlich
nachgeprüft.«
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Saltoni unterbrach ihn und wandte sich an Mike. »Aber sie ist
nicht direkt nach Hause gegangen. Sie kam zu mir.«
»Sie kam also gleich zu dir in die Wohnung in der Nähe vom
Euston-Bahnhof? Da kann sie doch Weldon überhaupt nicht ge-
troffen haben. Und du sagst, sie hätte dich erst um ein Uhr früh
verlassen, Saltoni?«
»Ja.«
»Mit anderen Worten: Nadia Tarrant hat Weldon in der fragli-
chen Nacht überhaupt nicht gesehen, nicht wahr?«
Saltoni rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her, nickte
aber zustimmend.
Mike sagte zu Rodgers: »Ich glaube, Saltoni sollte eine schriftliche
Aussage machen, Inspektor. Je eher, desto besser. Das kann Weldon
das Leben retten.«
»Ich muß zugeben, daß dies eine ernste Angelegenheit ist«, erwi-
derte Rodgers. »Ich glaube auch nicht, daß wir warten können,
bis…«
Er wurde vom Läuten des Telefons unterbrochen. Einer der Be-
amten nahm das Gespräch entgegen, lauschte kurz und reichte dann
Rodgers den Hörer. »Es ist für Sie, Sir. Ich hatte Bescheid hinterlas-
sen, wo Sie zu erreichen sind.«
Rodgers nahm den Hörer. Es folgte eine einsilbige Unterhaltung,
der nichts zu entnehmen war. Als Mike sich abwandte, merkte er,
daß Saltoni seine Aufmerksamkeit erwecken wollte. Er bemühte
sich, ihm mit den Augen eine Botschaft zu übermitteln, ohne ein
Wort zu sagen, offensichtlich hatte er Angst vor den anwesenden
Polizeibeamten, und es war klar, daß Saltoni Mike etwas unter vier
Augen mitteilen wollte. Mike nickte leicht, und bald nachdem Rod-
gers aufgelegt hatte, verabschiedete er sich von dem Inspektor und
verließ das Haus.
Auf der Straße winkte Mike freundschaftlich dem Fahrer von
Rodgers zu und ging dann mit energischen Schritten in Richtung
78
Charing Cross Road. Als er sich einwandfrei außer Sicht glaubte,
bog er in einen Torweg ein und wartete. Ein paar Minuten später
fuhr der Polizeiwagen vorbei; der Inspektor saß allein darin.
Vorsichtig ging Mike zum Hause von Nadia Tarrant zurück. Sal-
toni lungerte an einer Straßenecke herum. Da die Möglichkeit be-
stand, daß der Italiener überwacht wurde, rief Mike ein vorbeifah-
rendes Taxi an und gab dem Fahrer Weisung, langsam an der Stelle
vorbeizufahren, an der Saltoni stand. Als das Taxi mit dem Bur-
schen auf gleicher Höhe war, rief Mike, der das Seitenfenster her-
untergelassen hatte, ihn an. Saltoni glitt schnell und geschmeidig
wie eine Katze auf den rückwärtigen Sitz.
»Du wolltest mich sprechen?« fragte Mike, während das Taxi
schneller davonfuhr.
Saltoni nickte eifrig. »Ja, ich habe vorhin gehört, daß Sie nicht
von der Polizei sind. Der Sergeant sagte mir, Sie schreiben für Zei-
tungen. Ist das wahr?«
»Ja. Aber wenn du etwas auf dem Gewissen hast, solltest du lieber
zur Polizei gehen. Oder hoffst du, mir ein paar Informationen ver-
kaufen zu können?«
»Verkaufen?« Saltoni blickte verdutzt und schüttelte den Kopf.
»Nein, das wollte ich bestimmt nicht.«
»Was willst du denn?«
»Ich möchte nur wissen … was geschieht morgen auf dem Polizei-
präsidium? Was werden sie mir tun? Ich habe Angst!«
»Du brauchst nur die Wahrheit zu sagen, Saltoni; dann hast du
nichts zu befürchten. Man wird dich nicht schlagen, um auf unge-
setzliche Weise irgendein Geständnis aus dir herauszuholen, falls du
das fürchtest.«
»Aber vergessen Sie nicht, Sir … ich bin Ausländer. Sie wissen ja
gar nicht, wie das ist, wenn man auf jeden einzelnen Schritt genau
achtgeben muß. Ich kann es mir nicht leisten, in irgend etwas ver-
wickelt zu werden.«
79
»Verwickelt? Das bist du doch schon längst«, entgegnete Mike
scharf.
»Mamma mia, si! Aber … glauben Sie, Mr. Baxter, ich habe mich
in dieser Sache richtig verhalten? Hätte ich schon damals, als ich
wußte, daß Nadia nicht die Wahrheit sagte, zur Polizei gehen sol-
len?«
»Warum hast du es nicht getan?«
»Nadia warnte mich. Sie wollte es dann dem Arbeitsministerium
melden, und ich hätte das Land verlassen müssen, sagte sie.«
»Unsinn! Hättest du bei der Polizei die Wahrheit gesagt, wäre die
auf deiner Seite gewesen, und dir hätte nichts passieren können.
Jetzt mußt du eine schriftliche Aussage machen, und es ist noch
sehr zweifelhaft, ob man dir glauben wird.«
»Das weiß ich. Deshalb habe ich ja auch Angst. Sie müssen mir
helfen.«
»Was erwartest du denn von mir?«
»Der Inspektor ist doch ein Freund von Ihnen, und Sie haben
sicher noch andere wichtige Freunde bei der Polizei. Wenn Sie de-
nen sagen, daß Sie mir glauben und daß Sie bereit sind, für mich
zu … wie sagt man … zu bürgen, daß ich die Wahrheit sage, dann
brauche ich vielleicht nicht…« Saltonis Stimme sackte plötzlich ab
und endete in konsterniertem Schweigen.
Mike sah ihn durchdringend an, um sich eine Meinung zu bil-
den. Dann sagte er: »Saltoni – ich glaube, du weißt viel mehr, als
du zugeben willst.«
»Bestimmt nicht! Das schwöre ich. Bitte, Mr. Baxter, Sie…«
»Worauf hatte Nadia Tarrant es denn abgesehen? Warum sagte sie
aus, sie hätte Weldon in der Mordnacht gesehen? Wer hat sie be-
stochen?«
»Ich weiß es nicht, ehrlich! Ich weiß es nicht!«
»Du mußt doch eine Ahnung haben, irgendeinen Verdacht. Sie
war doch schließlich deine Geliebte oder nicht? Denke doch ein-
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mal nach. Wann war es, als du dir zum ersten Male Sorgen um sie
machtest?«
Nach kurzem Überlegen antwortete Saltoni: »Ich wollte sie eines
Abends treffen. Aber sie sagte, es gehe nicht. Ihre Schwester sei
krank, sagte sie. Sie müsse nach Aldershot fahren und sie besuchen.
Vorher hatte sie noch nie von einer Schwester gesprochen, deshalb
glaubte ich ihr nicht. Ich dachte mir, sie hätte etwas mit einem an-
deren Mann angefangen, war eifersüchtig und beschloß, ihr nach-
zugehen. Zweimal war ich aber nicht schlau genug; beim drittenmal
hat es dann geklappt, und ich habe sie nicht aus den Augen gelas-
sen.«
»Und sie merkte nicht, daß du ihr nachgegangen bist?«
»Nein, ich war sehr vorsichtig. Sie nahm die U-Bahn nach Hamp-
stead. Dort ging sie in den Nachtklub La Pergola. Ich war dann
sehr beschämt, weil sie sich nicht mit einem Mann traf, sondern
mit einer Frau, mit der sie sich schon mehrmals bei Farnalio, wo
sie arbeitete, unterhalten hatte. Auch da war etwas im Gange, was
andere nicht wissen sollten. Jedesmal, wenn ich mich ihnen im Far-
nalio näherte, hörten sie mit der Unterhaltung auf. Das machte
mich mißtrauisch.«
»Und weiter?«
»Als ich Nadia danach fragte, wurde sie wütend und schrie mich
an, ich solle mich um meine eigenen Angelegenheiten kümmern.«
»Was für ein Lokal ist denn La Pergola? Vielleicht wollte deine
Freundin sich dort nur um eine Stellung bewerben?«
»Nein, nein! Dort hätte Nadia niemals arbeiten können. Das ist
ein sehr vornehmes und teures Lokal. Sie war doch nur eine unge-
lernte Caféhauskellnerin.«
»Glaubst du, sie hatte sich mit dieser anderen Frau dort verab-
redet?«
»Ganz bestimmt. Die andere hat dort auf Nadia gewartet. Ich
habe dem Portier ein Trinkgeld gegeben, und er erzählte mir, die
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beiden hätten sich dort schon einmal getroffen.«
»Schade, daß du den Namen der anderen Frau nicht weißt.«
Saltoni warf ihm einen aufgeregten Blick zu. »Aber den kenne ich
ja. Der Portier hat ihn mir genannt. Sie heißt Irene Long und ar-
beitet in einem vornehmen Geschäft in der Bond Street.«
Mike setzte sich mit einem Ruck aufrecht. »Irene Long von der
Firma Conway und Racy?«
»Ja, das stimmt.«
»Wie sieht sie aus? Beschreibe sie mir.«
»Sie ist groß und schlank, etwa vierzig Jahre alt, hat blondes Haar,
aber nicht echtes, glaube ich. Sie hat immer viel Lippenstift und
Puder aufgetragen.«
»Das ist sie, das stimmt.«
»Kennen Sie die Frau, Mr. Baxter?«
»Nicht so gut, wie ich es wünschte«, antwortete Mike. »Aber das
läßt sich ja nachholen.«
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ls Mike nach Hause kam, empfing ihn seine Frau mit schelmi-
schem Gesichtsausdruck. »Wie froh ich bin, daß du nicht ein
paar Minuten früher hereingeplatzt bist. Ich hatte ein so reizendes
Tête-à-tête mit Mr. Sanders.«
A
A
Mike goß sich einen Drink ein, nach dem es ihn schon sehr ver-
langt hatte. »Wie nett für dich. Was wollte er denn? Hat er dich
etwa als Nachfolgerin für Irene Long auserkoren?«
Linda lachte, wurde dann aber sofort wieder ernst. »Nein, das
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nicht gerade. Doch schien er herausfinden zu wollen, ob ich ihn
mit ihr im Restaurant gesehen hatte.«
»Und hast du es ihm gesagt?«
»Ja. Es hat ihn keineswegs umgeworfen. Er murmelte etwas in der
Art von ›nur gute Freunde‹ und so weiter.«
Mike schürzte die Lippen. »Ganz so harmlos dürfte es wohl nicht
sein. Ich habe heute nämlich allerlei Interessantes über Irene Long
erfahren.«
»Laß mich doch erst einmal zu Ende berichten, Liebling. Ich bin
nämlich ziemlich sicher, daß er eigentlich gekommen war, um her-
auszufinden, ob ich in der Wohnung der Tarrant seine Stimme am
Telefon erkannt hatte. Er erzählte eine phantasievolle Geschichte
von jemandem, der angeblich seine Stimme am Telefon seiner ei-
genen Wohnung nachgeahmt hätte. Bei ihm sei eingebrochen wor-
den, und der Einbrecher sei dadurch in die Wohnung gelangt, daß
er vorher die Hausverwalterin angerufen, sich mit verstellter Stimme
als Sanders ausgegeben und sie aufgefordert habe, den Wohnungs-
schlüssel unter die Fußmatte zu legen.«
»Das klingt recht dürftig«, bemerkte Mike. »Will er uns mit sol-
chen Härchen etwa glauben machen, irgendein brillanter Mime sei
unterwegs, der Gott und die Welt als Mr. Sanders anruft, und dazu
ausgerechnet auch noch die Bleibe von Nadia Tarrant? Den Bluff
könnten wir schnell platzen lassen, wenn wir nachprüfen, ob wirk-
lich bei ihm eingebrochen wurde.«
»Ich kann mir nicht denken, daß er dem freudig zustimmen wür-
de.«
»Das glaube ich auch nicht, doch ließe sich das unauffälliger ma-
chen. Mir scheint seine fade Ausrede ein ziemlich überzeugender
Beweis dafür, daß es wirklich Sanders war, der bei der Tarrant an-
rief, daß er deine Stimme erkannt hat und jetzt deswegen besorgt
ist.«
»Es tut mir leid, mein Schatz; ich tat mein Bestes, um meine
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Stimme zu verstellen, doch war ja nicht viel Zeit zum Üben.«
»Macht nichts. Laß dir lieber erzählen, was ich über die verstor-
bene Nadia Tarrant und ihr Liebesleben in Erfahrung gebracht ha-
be.«
»Und was ist mit Irene Long?«
»Nicht so hastig, Liebling. Es gibt so viel Neuigkeiten; nur scha-
de, daß Harold Weldon uns dabei nicht zuhören kann.«
Nach seinem Bericht über das Auftauchen von Saltoni und das,
was Mike und der Inspektor aus dem Burschen herausgeholt hat-
ten, funkelten Lindas Augen vor Aufregung. »Darling, das ist ja eine
Wucht! Das entzieht doch der Anklage gegen Weldon das ganze
Fundament. Die einzige Zeugin eine Betrügerin!«
Mike wehrte mit der Hand ab. »Nicht so voreilig, Linda. Selbst
wenn bewiesen werden kann, daß Saltoni die Wahrheit gesagt und
Nadia Tarrant zur fraglichen Zeit wirklich sein Bett geteilt hat –
und das wird reichlich schwierig sein, da sie tot ist –, gibt es noch
viele andere komplizierte Probleme, die gelöst werden müssen, be-
vor die Wiederaufnahme des Verfahrens beantragt werden kann. Ich
neige weiterhin zu dem, was ich heute früh zu Weldon gesagt habe:
Der beste Beweis einer Unschuld ist, den wirklichen Mörder zu fin-
den.«
Linda seufzte tief. »Mit anderen Worten – eine volle Klärung des
Falles à la Baxter, bis zum bitteren Ende.«
»Bis zum bitteren Ende, Liebling. Es tut mir leid, und was man
sonst so sagt, aber dieser Fall hat mich nun einmal gepackt. Ich
muß und werde ihn lösen.«
»Also dann – von mir aus! Wenn du so denkst und fühlst, Mike,
lohnt es sich wohl kaum, mit dir zu streiten. Was ist denn nun mit
Irene Long?«
»Saltoni war der Liebhaber der Tarrant. Er hat mir einiges über
sie erzählt. Es sieht ganz so aus, als hätten engere Beziehungen zwi-
schen der toten Nadia Tarrant, die ja alles andere als ein Unschulds-
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engel war, und unserer supereleganten Miß Long bestanden.«
»Unmöglich!«
»Das dachte ich zunächst auch. Aber hör bitte mal zu.«
Mike berichtete über seine aufschlußreiche Unterhaltung mit Sal-
toni im Taxi, die Linda in Erstaunen versetzte, und ging dann zum
Bücherregal, wo die dicken Bände des Londoner Fernsprechver-
zeichnisses standen. Schnell hatte er gefunden, was er suchte, und
schrieb sich die Adresse auf einen Zettel. Er sah auf die Uhr. »Miß
Long wohnt draußen in Chelsea. Wir wollen schnell etwas essen
und sie dann in ihrem Bau in die Enge treiben. Einer privaten Un-
terhaltung mit dieser Dame am Arbeitsplatz gebe ich nicht viel
Chancen. Da kann sie sich schnell mal in einer Umkleidekabine
verstecken, bis wir fort sind. Das beste ist, wir nehmen dein neues
Kleid zum Vorwand und besuchen sie in ihrer Privatwohnung. Be-
haupte einfach, an dem Kleid sei etwas nicht in Ordnung und du
müßtest ihren Rat haben. Du hast ja immer noch die Ausrede, du
hättest vor Ladenschluß nicht mehr ins Geschäft kommen kön-
nen.«
»Das klingt aber nicht sehr überzeugend. Meinst du, sie fällt da-
rauf herein?«
»Das braucht sie auch nicht. Die Hauptsache ist, ich kann mei-
nen Fuß zwischen die Tür stellen, sobald sie aufgemacht hat.«
Kurz vor acht Uhr abends fuhren die Baxters nach Chelsea, wo
sie an Hand eines Stadtplanes den großen Wohnblock ausmachten,
in dem Miß Long wohnte. Die Straße war schmal, und sie fanden
nur mit Mühe einen Parkplatz. Mike hatte ihn gerade etwa hundert
Meter von dem Hause, zu dem sie wollten, entdeckt, als Linda ihn
erregt in die Seite stieß.
»Mike, sieh dort! Ist das da drüben nicht Mr. Staines? Er geht
eben um die Ecke.« Sie deutete auf eine leicht hinkende Gestalt.
»Wahrhaftig, er scheint es zu sein!« sagte Mike erstaunt.
»Wohnt er denn in dieser Gegend?«
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»Nein. Wenn er in London ist, wohnt er draußen in Bayswater.
Die Firma in Guildford hat mir seine Privatanschrift und Telefon-
nummer gegeben.«
»Meinst du, er kam aus dem Haus, in dem die Long wohnt? Ob
er sie etwa besucht hat?«
Mike peilte die Lage der verschiedenen Gebäude und die Seiten-
straße, in die Staines eingebogen war. »Es sieht verdammt danach
aus. Wo soll er sonst gewesen sein? Es ist doch eine Sackgasse.«
Während beide noch Staines nachblickten, sagte Linda: »Was ich
dich schon lange fragen wollte, Mike: Glaubst du die Geschichte,
die Staines über Peggy Bedford und den Besuch im ›Lord Fairfax‹
erzählte?«
»Überzeugend war sie bestimmt nicht. Worauf willst du hinaus?«
»Es fiel mir nur ein, daß die Kneipe etwa auf halbem Wege zwi-
schen Guildford und Farnham liegt.«
»Ja, das stimmt.«
»Und die Firma, bei der Staines arbeitet, hat ihren Hauptsitz in
Guildford?«
»Auch das stimmt.«
»Und wo hat man laut Rodgers die Leiche von Nadia Tarrant ge-
funden?«
»In Farnham. Nicht schlecht, kluge Linda, gar nicht so schlecht.«
»War dir das auch schon aufgefallen?«
Mike klopfte ihr lächelnd auf die Schulter. »Der Gedanke ist mir
wirklich schon gekommen. Nun sei nicht gleich so niedergeschla-
gen. Liebes; mit deinen Theorien liegst du doch meist richtig. Ich
stimme mit dir überein, daß die Umstände nicht gerade für Herrn
Staines zu sprechen scheinen, der Miß Long offenbar Besuche ab-
stattet. Und sie selbst scheint eine Menge Leute zu kennen, die wir
im Zusammenhang mit dem Fall Weldon selbst gern besser kennen
möchten, beispielsweise Saltoni, Sanders und Nadia Tarrant.«
Er öffnete die Wagentür und stieg aus: »Nimm dein Paket und
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laß uns gehen.«
Linda griff nach dem großen, eleganten Karton, in dem Conway
und Racy das Kleid geliefert hatten, und dann überquerten sie die
Straße zu dem Haus, in dem Miß Long wohnte.
Nach dem Läuten brauchten sie nicht lange zu warten, bis Miß
Long ihnen öffnete. Für einen Augenblick machte sie ein verdutz-
tes Gesicht, fand dann aber sehr schnell wieder zu ihrer Maske be-
ruflicher Aufmerksamkeit zurück, die sie den ganzen Tag über im
Geschäft trug.
Etwas lahm betete Linda her, was sie sich während der Fahrt als
Entschuldigung ausgedacht hatte. »Verstehen Sie bitte, Miß Long –
wir fahren in aller Kürze ins Ausland und die Zeit drängt. Sonst
wäre es mir nicht im Traum eingefallen, Sie außerhalb der Geschäfts-
zeit zu belästigen.«
»Aber ich bitte Sie, Mrs. Baxter. Das macht an sich gar nichts.
Ich stehe Ihnen selbstverständlich jederzeit gern zu Diensten. Es tut
mir ja furchtbar leid, daß das Kleid nicht richtig sitzt; aber wie Sie
sehen, ziehe ich mich gerade für ein Abendessen um, zu dem ich
eingeladen bin, und ich bin schon recht spät dran. Zu jeder ande-
ren Zeit hätte ich Ihnen sofort zur Verfügung gestanden. Ich ver-
spreche Ihnen, daß ich mich morgen früh sofort nach Öffnung un-
seres Salons um diese Angelegenheit kümmern werde.«
Linda wußte nicht, wie sie reagieren sollte. »Das ist wirklich nett
von Ihnen. Ich verstehe natürlich … ich … es tut mir leid, daß…«
Sie brach mitten im Satz ab, in der Hoffnung, daß Mike ihr end-
lich zu Hilfe kommen werde.
Miß Long schenkte Mike ihr glanzvolles Lächeln. »Ich kann die
Sorge Ihrer Gattin voll und ganz verstehen, Mr. Baxter. Wir Frauen
regen uns in punkto Kleidung oft über die belanglosesten Dinge
auf. Wenn ein Rock nur um drei Millimeter falsch sitzt, fühlen wir
uns nicht mehr wohl in ihm. Entschuldigen Sie, daß ich Sie nicht
mehr hereinbitte.«
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Als sie gerade die Tür schließen wollte, sprach Mike sie mit sanf-
ter Stimme an: »Mir tut es auch leid, da ich gehofft hatte, bei dieser
Gelegenheit mit Ihnen einmal privat sprechen zu können. Über
Nadia Tarrant übrigens.«
Für einen kurzen Augenblick flackerte ein Schimmer von Furcht
in ihren Augen; dann zeigte sie wieder ihr glattes, berufsmäßiges Lä-
cheln. »Über wen bitte?«
Ȇber Nadia Tarrant. Die Frau, die Harold Weldon im Mordfall
Lucy Staines identifizierte. Sie erinnern sich an diesen Fall?«
»Aber natürlich, Mr. Baxter. Aber ich kann mir nicht vorstellen,
weshalb Sie mit mir über diese Frau sprechen wollen.«
»War sie nicht Ihre Freundin?«
»Freundin? Du lieber Himmel, nein!«
»Dann sagen wir lieber Bekannte. Vielleicht eine Geschäftsbe-
kanntschaft?«
»Ich fürchte, man hat Sie schlecht informiert, Mr. Baxter«, ant-
wortete sie kühl. »Ich habe diese Frau nie in meinem Leben gese-
hen.«
Ihre Tonart wurde zusehends zuversichtlicher, was im Gegensatz
zu ihrer ursprünglichen Reaktion stand. Mike überlegte daher
schnell, ob er noch weiter beim Thema bleiben sollte. Es schien
nicht viel dabei herauszuspringen, solange Miß Long ihn und seine
Frau zwischen Tür und Angel abfertigte. »Schade«, gestand er. »Ich
hatte gehofft, Sie würden in der Lage sein, mir bei meinen Nachfor-
schungen zu helfen.«
»Das tut mir leid«, antwortete sie steif.
Als sie sich zum Gehen wandte, drehte Linda sich noch einmal
um und sagte ganz beiläufig: »Ah, Miß Long, Sie könnten mir hel-
fen, eine Wette zu gewinnen. Mein Mann und ich haben vorhin ge-
rade eine Wette abgeschlossen. Er schwört Stein und Bein, er hätte
eben Mr. Staines aus diesem Haus kommen sehen. Ich sagte ihm,
er leide an Halluzinationen. Wer hat nun recht?«
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»Mr. Staines?« fragte sie mit einer Stimme, die zugleich scharf
und unsicher klang. »Meinen Sie Lucys Vater?«
»Ja.«
»Der war bestimmt nicht hier. Ich bin eben erst nach Haus ge-
kommen, und vor Ihnen hat niemand geschellt.«
»Siehst du, Liebling«, rief Linda triumphierend. »Wie oft habe ich
dir gesagt, du solltest endlich mal zum Optiker gehen.«
»Das werde ich wohl auch tun müssen«, erwiderte Mike, der sich
ihrem Ton anpaßte. »Komisch – ich hätte geschworen, ihn hier ge-
sehen zu haben.«
Miß Long, die inzwischen wieder zu ihrer Haltung zurückgefun-
den hatte, lächelte unbestimmt. »Allmählich fange ich auch an zu
glauben, daß Sie sich Sachen einfach einreden, Mr. Baxter. Jetzt
muß ich mich aber beeilen! Und morgen früh, Mrs. Baxter, stehe
ich Ihnen dann zur Verfügung. Guten Abend.«
Auf dem Wege zum Wagen erklärte Linda ärgerlich: »Das war
aber das letzte Mal, daß ich mich für so etwas hergebe, Mike. Ich
kam mir vor wie ein Steuereinzieher, dem man eine falsche Adresse
angegeben hat.«
»Ah, was bist du empfindlich, Liebling! Du mußt dir eine dickere
Haut zulegen. Miß Long war ja nicht gerade außer sich vor Freude,
uns zu sehen, meinst du nicht auch? Und was für eine unglaublich
schlechte Lügnerin sie ist!«
»Ich bin nicht sicher, daß sie gelogen hat.«
»Wegen ihrer Bekanntschaft mit Miß Tarrant?« fragte Mike über-
rascht.
»Da hat sie bestimmt gelogen. Wenn du ihr mit einer Hutschach-
tel auf den Kopf geschlagen hättest – erschreckter hätte sie kaum
aussehen können. Ich glaube aber, sie sagte die Wahrheit, als sie be-
hauptete, Mr. Staines nicht gesehen zu haben.«
»Da magst du recht haben. Obwohl dieser Gedanke sie ebenfalls
beunruhigt zu haben scheint. Vielleicht mag sie es nicht, wenn er
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sich aus irgendeinem Grunde in ihrer Nachbarschaft herumtreibt.«
Sie waren wieder am Wagen angelangt. »Bist du ganz sicher, daß
es Staines war?« fragte Mike nochmals.
»Ja. Du nicht?«
»Doch, ziemlich. Ein weiteres Rätsel, das zu lösen ist. Das Drei-
eck hat jetzt vier Seiten.«
»Was geometrisch unmöglich ist.«
»Der Abend begann heute mit einem einfachen Dreieck, be-
stehend aus Victor Sanders, Irene Long und Nadia Tarrant. Alle
drei sind miteinander durch eine ziemlich starke, wenn auch in ih-
rer Bedeutung noch nicht erkannte Linie verbunden. Und jetzt
bahnt sich anscheinend auch noch Hector Staines mit aller Gewalt
seinen Weg in dieses Dreieck. Das verstehe ich nicht.«
»Ich sehe überhaupt keine geometrische Figur mehr, wenn du bei-
spielsweise eine weitere Linie von Hector Staines zu seiner ehema-
ligen Freundin Peggy Bedford ziehst.«
»Darling, deine Redensarten schaffen nur Unruhe und Depressio-
nen; meine Stimmung ist ohnehin schon tief genug gesunken. Viel-
leicht gelingt Rodgers ein Durchbruch, wenn er morgen Saltoni ver-
nimmt. Ich habe so eine Ahnung, daß Saltoni noch längst nicht al-
les gebeichtet hat.«
Auch jemand anders schien diese Ahnung gehabt zu haben. Kaum
waren die Baxters zu Hause, klingelte das Telefon. Linda hob ab,
wurde leichenblaß und rief erregt nach Mike, der im Nebenzimmer
einen Drink mixte.
»Mike, schnell! Es ist eine furchtbare Stimme. ›Mr. Baxter, helfen
Sie mir…‹ und dann folgte ein entsetzliches Stöhnen.«
Mike kam gelaufen und riß ihr den Hörer aus der Hand.
»Hallo? Hier Mike Baxter… Wer ist dort … Luigi? … Was ist ge-
schehen? … Etwas lauter! Ich kann dich nicht verstehen… Was? …
Man hat dich zusammengeschlagen? … Wo steckst du? Von wo aus
telefonierst du? … Lauter, Mann! Euston sagst du? … Am Bahnhof?
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… Ja, aber von welcher Telefonzelle aus? …« Mike fluchte und legte
auf. »Ich glaube, er ist ohnmächtig geworden. Saltoni … armer Teu-
fel.«
»Du meinst, man hat ihn zusammengeschlagen?«
»Es klang ganz danach. Er befindet sich in einer Telefonzelle
nahe dem Euston-Bahnhof… Du liebe Güte, da gibt es bestimmt ein
paar Dutzend. Linda! Du bleibst am besten hier. Rufe Rodgers an
und melde, was geschehen ist. Wenn dieser Bursche jetzt Angst be-
kommt und wieder aussteigt, besteht keine Hoffnung mehr, Wel-
don zu retten.«
Er stürzte aus dem Zimmer. »Paß auf dich auf! Sei vorsichtig!«
rief Linda ihm aufgeregt nach.
Sie hörte nur noch das Zuschlagen der Tür und kurz darauf das
Aufheulen des starken Jaguarmotors.
Linda rief bei Scotland Yard an und fragte nach Rodgers. Nach
einigem Hin und Her wurde sie schließlich mit ihm verbunden
und berichtete ihm, was geschehen war.
Rodgers fluchte kurz, aber heftig. »Danke. Ich nehme mich sofort
der Sache an. Danke für den Anruf, Mrs. Baxter. Ein Krankenwagen
wird sofort abfahren.«
Linda legte auf und sah nach der Uhr. Es war beinahe zehn Uhr
abends. Sie ließ sich von Mrs. Potter ein Rührei machen und sto-
cherte nervös im Essen herum, als es ihr gebracht wurde. Voller
Ungeduld wartete sie auf ein Lebenszeichen von Mike. Endlich, ihr
schien es, als sei eine Ewigkeit vergangen, klingelte das Telefon. Die
Leitung war so gestört, daß sie Mühe hatte, ihn zu verstehen.
»Linda? Hier Mike. Es hat sich noch etwas getan. Zieh dich bitte
sofort um – das schwarze Kleid. Dann nimm dir ein Taxi. Ich er-
warte dich am Fahrkartenschalter vom Euston-Bahnhof. Beeile
dich!«
»Kannst du mich denn nicht von hier abholen, Mike?«
»Das geht leider nicht. Ich habe alle Hände voll zu tun. Nimm
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das nächste Taxi.«
»Also gut. Weshalb soll ich mich umziehen? Gehen wir aus?«
»Ja. Ich erzähle dir alles später. Und nun beeile dich!«
»Ich fliege ja schon. Wie geht es Saltoni?«
»Was sagtest du?«
»Ich fragte, wie geht es dem italienischen Kellner?«
»Ziemlich schlecht. Darüber kann ich jetzt nicht sprechen. Also,
bis bald!«
8
ike sah ihr Taxi heranfahren, öffnete die Tür und bezahlte den
Fahrer. Dann gingen sie zu seinem geparkten Jaguar.
M
M
»Erzähle mir schnell von Saltoni«, drängte Linda. »Ist er übel zu-
gerichtet?«
»Ziemlich. Und er weiß auch nicht, wer ihn niedergeschlagen hat.
Er glaubt, es seien zwei oder drei Mann gewesen, die ihn in einer
dunklen Gasse nahe seiner Behausung überfielen. Bevor ich noch
mehr aus ihm herausholen konnte, fiel er in eine neue Ohnmacht.
Er war noch bewußtlos, als die Polizei eintraf, hatte vorher aber et-
was über den Klub La Pergola gestammelt. Außerdem sagte er, und
das war klar zu verstehen: ›Bannister ist der Mann, den Sie su-
chen.‹«
»Bannister? Das ist doch der Mann, den Sanders erwähnte, als er
in der Wohnung der Tarrant anrief. Mike – das ist ja alles furchtbar
aufregend; jetzt sind wir endlich auf etwas Konkretes gestoßen.
Hast du es schon Inspektor Rodgers mitgeteilt?«
92
»Dazu war noch keine Zeit. Ich hielt es für richtiger, ihn damit
nicht auch noch zu belasten. Er war ohnehin schon über das neue
Ereignis verärgert und machte sich Vorwürfe, daß er sich Saltoni
nicht gleich am Nachmittag gründlicher vorgeknöpft hatte. Vorhin
ist er mit dem armen Kerl zum Krankenhaus gefahren. Ich wette. er
sitzt heute die ganze Nacht über am Bett des Italieners wie eine
brütende Henne und wartet auf einen lichten Moment, um Fragen
stellen zu können. Während ich auf dich wartete, hatte ich noch
Zeit, den Kriminaldirektor anzurufen. Er schien aufzuhorchen, als
ich den Klub La Pergola erwähnte, obwohl ihm der Name Bannis-
ter offensichtlich nichts sagte.«
»Hat er angedeutet, warum La Pergola ihn interessiert?«
»Die Polizei beobachtet diesen Klub schon längere Zeit. Und
John Goldway hat angeregt, daß wir uns dort mit einem Mädchen
namens Jo Peters treffen, das die Polizei als Klubmitglied einge-
schleust hat. Wir warten auf die Dame oben an der Baker Street
nahe dem Parktor und werden dann als ihre Gäste in das Etablisse-
ment La Pergola gehen.«
»Hat diese Jo Peters eine reizvolle Figur?«
»Darling – sie ist doch bei der Polizei! Ich würde mich nicht wun-
dern, wenn sie 1,80 Meter groß wäre, Plattfüße und dazu Schultern
wie ein Bügelbrett hätte.«
Mike Baxters Vermutung erwies sich jedoch als nicht zutreffend.
Das Mädchen, das am Ende des St. Regent Parks aus dem Schatten
trat und schnell zu ihnen in den Wagen stieg, ähnelte eher einem
Mannequin als einer plattfüßigen Gesetzeshüterin. Zu dritt fuhren
sie direkt nach Hampstead.
Die Kriminalbeamtin sprach mit leichtem amerikanischen Ak-
zent; ihre Stimme klang etwas heiser. »Uns bleiben gerade noch
zehn Minuten, um Sie ins Bild zu setzen«, begann sie lebhaft. »Ich
heiße Jo Peters, und es soll dort für die anderen Gäste so aussehen,
als wären wir alte Freunde. Deshalb sind Sie Mike und Linda für
93
mich, und ich bin Jo für Sie.« Sie lächelte Linda zu. »Nur so geht
es, Linda. Der Kriminaldirektor hat mir einen Einblick in den Fall
Weldon gegeben, ich weiß also, hinter was Sie her sind. Ich gelte
im Klub als ein Mädchen, das sein Leben genießt und das eine
Menge Geld hat und das von einem reichen Vater stammt, der sie
sehr verwöhnt. Der La-Pergola-Klub ist nicht billig; man mußte mir
daher einen ziemlich aufwendigen Deckmantel verschaffen. Als ich
das letzte Mal für Kriminaldirektor Goldway in London tätig war,
mußte ich in den Docks Obst von einem Händlerkarren verkaufen.
Daher ist dieser Talmiglanz für mich mal eine angenehme Abwechs-
lung.«
»Sind Sie Kanadierin, Miß … pardon … Jo?« fragte Mike.
Sie nickte. »Und nun zum Klub: Wir halten ihn schon seit Mona-
ten unter ständiger Beobachtung – nicht so sehr wegen des Lokals
selbst, sondern wegen der Typen, die dort verkehren. Der Klub als
solcher ist in Ordnung; wir sind aber nicht so sicher, daß es auch
alle seine Gäste sind.«
»Haben Sie dort jemals einen Mann namens Bannister getroffen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Den Namen habe ich heute zum ersten-
mal gehört, als Goldway mich einweihte. Ihn suchen Sie doch
wohl?«
»Ja. Wer leitet den Klub, oder wem gehört er?«
»Ein Bursche namens Corina, Charles Corina. Es lohnt sich, auf
ihn besonders zu achten. Er ist so eine Art falscher Prinz, soll an-
geblich aus irgendeiner mitteleuropäischen Adelsfamilie stammen.
Wir sind dabei, das herauszufinden. Hauptkennzeichen: träumeri-
sche Augen, schwarzhaarig, 37 Jahre alt, hervorragender Tänzer,
leichter ausländischer Akzent. Er versteht es ausgezeichnet, mit
allem und jedem fertig zu werden, ganz besonders aber mit Frau-
en – also aufgepaßt, Linda!«
Linda lachte. »Ich bin ganz froh, daß bei dieser Geschichte auch
mal für mich als weibliches Wesen etwas abfällt.«
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Jo fuhr fort: »Lassen Sie sich durch diese Kriegsbemalung nicht
täuschen.« Sie spielte verächtlich mit dem Perlenhalsband auf ihrer
weißen Haut. »Das ist alles nur Leihgabe und gehört zur Maskera-
de. Wenn Sie mich erleben wollen, wie ich wirklich bin und wobei
ich mich wohlfühle, müßten Sie einmal im Sommer zu uns nach
Saskatchewan herüberkommen und zusehen, wenn ich mit Vaters
Mähdrescher arbeite.«
»Was ist denn die Hauptattraktion im Klub?« fragte Mike.
»Die ist zweifellos der Manager Corina selbst. Das Essen ist gut,
und die Bühnenshow auch. Aber an sich gehen alle nur hin, um
Charly Corina zu sehen. Die Frauen drängeln sich regelrecht, um
möglichst vorn zu sitzen, damit sie mit ihm tanzen können. Wenn
dieser Bursche mich nicht so sehr an eine abgerichtete Schlange
erinnern würde, wäre ich vermutlich selbst schon auf ihn hereinge-
fallen. Gerechterweise muß man aber anerkennen, daß er hart arbei-
tet, um alle Gäste zufriedenzustellen. So gegen zwei Uhr morgens
verschwindet er, ohne vorher verlauten zu lassen, daß er geht. Plötz-
lich ist er dann verschwunden. Zehn Minuten danach ist meist der
ganze Laden totenstill wie eine leere Scheuer.«
»Scheint ja ein bemerkenswert cleverer Mann zu sein. Wie deich-
selt er es eigentlich, nicht ständig in Scheidungsprozesse verwickelt
zu werden? Nach Ihren Schilderungen muß er ja der perfekte Her-
zensbrecher sein«, bemerkte Linda.
Jo lachte. »Dafür ist Charles viel zu gerissen. Die Technik, die er
dabei entwickelt, ist wirklich beachtenswert. Ach, ich sehe, wir sind
gleich da. Ich werde Sie ins Gästebuch eintragen müssen. Welchen
Namen soll ich angeben?«
»Wir wollen lieber auf Nummer sicher gehen – möglicherweise
kennt uns jemand. Bleiben wir also bei Mr. und Mrs. Baxter.«
Sie bogen in eine Seitenstraße ein und hielten vor einem Lokal,
das in rosa und blauer Neonbeleuchtung den Namen La Pergola
zeigte.
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Die Innenräume wurden schwach rosafarben beleuchtet, und die
Polster der Sessel und Sitzbänke waren in zartem Pastellblau gehal-
ten. Eine gutgewachsene Blondine mit tiefem Dekolleté stand mit
einem Handmikrophon auf der Bühne und gab für die Paare, die
auf der winzigen Tanzfläche hin und her schwebten, kehlige Beteu-
erungen von Liebe und Sehnsucht von sich. Die Musik der süd-
amerikanischen Kapelle war, was ihren Schmiß anbelangte, ausge-
zeichnet; der Raum brechend voll.
Jo trug das Ehepaar als ihre Gäste ein und führte Linda dann in
das den Damen vorbehaltene Séparée zur Auffrischung ihres Make-
ups. Mike schlenderte inzwischen lässig zur Bar, setzte sich auf ei-
nen der hohen Hocker und ließ von dort aus die Atmosphäre des
von Rauchschwaden durchzogenen Lokals auf sich wirken. Er be-
stellte bei dem flachshaarigen Barmann, der dringend eines Haar-
schnitts bedurfte, Gin mit Soda und sog dann langsam an seinem
Getränk, wobei er sich bemühte, die richtige Einstellung zu dem
für ihn neuen Lokal zu finden.
Da er keine Zigaretten bei sich hatte, ließ er sich ein Päckchen
kommen und fragte dann den Barmann beiläufig: »Ist Mr. Bannis-
ter heute schon dagewesen?«
»Wen meinten Sie, Sir?« Die Stimme des Barmanns hatte einen
harten Akzent, den Mike entweder in Bayern oder in der Schweiz
beheimatet glaubte.
»Mr. Bannister.«
Der Mann schüttelte ehrlich erstaunt den Kopf. »Ich kenne nie-
mand dieses Namens, Sir.«
»Sind Sie schon lange hier tätig?«
»Ich arbeite hier, seit Mr. Corina den Klub leitet, Sir.«
Es war einen Versuch wert gewesen. Mike war ziemlich überzeugt,
daß der Barmixer die Wahrheit sprach.
Er drehte sich auf seinem Hocker, um nach Linda Ausschau zu
halten, und sah plötzlich Victor Sanders direkt ins Gesicht. Da es
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hinter der Bar keinen Spiegel gab, hatte er nicht bemerkt, daß sich
jemand unmittelbar hinter ihn gestellt hatte.
Die beiden Männer begrüßten sich und schüttelten sich ziemlich
förmlich die Hand. Sanders sah in seinem eleganten Abendanzug
eindrucksvoll aus, der gut zu seiner ladestockartigen Figur und sei-
nem militärischen Gehabe paßte.
»Ich wußte gar nicht, daß Sie hier auch Mitglied sind, Baxter«,
bellte Sanders in gewohnter Lautstärke.
»Bin ich auch nicht. Eine kanadische Bekannte hat uns hierher
geschleppt.«
»Geschleppt? Das klingt ja fast, als gefiele es Ihnen hier nicht.«
»Ich würde mich sicher wohler fühlen, wenn ich passend angezo-
gen wäre. Neben Ihnen komme ich mir recht schäbig vor.«
»Da würde ich mir an Ihrer Stelle nichts draus machen. Sehen Sie
sich doch einmal um – es sind eine Menge Leute im Straßenanzug
da. Ah, hier kommt Irene. Darf ich Sie vorstellen?«
Während Sanders sprach, hatte Mike aus dem Augenwinkel Irene
Long auf die Bar zusteuern sehen.
Mike ergriff ihre Hand und spürte, daß sie eiskalt war. »Wir ha-
ben uns heute schon einmal gesehen«, wandte Mike sich an San-
ders.
Irene war verlegen. »Ach ja, Victor. Ich vergaß dir zu erzählen,
daß Mrs. Baxter zu mir in die Wohnung kam, als ich mich gerade
zum Ausgehen fertig machte. Sie wollte mich wegen einer Ände-
rung an ihrem neuen Kleid sprechen.«
Sanders runzelte die Stirn, als sei er mit den Ausreden eines straf-
fälligen Rekruten unzufrieden. »Eine recht ausgefallene Zeit für ei-
nen Besuch. Und dann außerhalb der Geschäftsräume?«
Mike kam ihr zu Hilfe. »Meine Frau und ich fahren demnächst
nach Südfrankreich, und Linda will verständlicherweise alle Parade-
stücke mitnehmen. Ich nehme an, es sind drei Millimeter Spitze zu-
viel oder etwas ähnlich Welterschütterndes.«
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Irene Long entschuldigte sich mit nervösem Lächeln und ver-
schwand in Richtung der nur für Damen bestimmten Räumlichkei-
ten. Mike und Sanders plauderten noch eine Weile, bis sich auch
Sanders verabschiedete, um einen Bekannten zu begrüßen.
Als Mike kurz danach mit Linda und Jo an einem reservierten
Tisch saß, bemerkte er ganz beiläufig: »Während ihr Mädchen euch
die Nase gepudert habt, hat es hier eine interessante neue Entwick-
lung gegeben: Victor Sanders und seine Dame sind hier.«
»Ich weiß«, erwiderte Linda. »Ich sah dich mit ihm an der Bar
sprechen, und in der Garderobe stießen wir auf Irene Long.«
»Ist über die beiden hier etwas bekannt, Jo?« fragte Mike.
Jo schüttelte den Kopf. »Sie sind reguläre Mitglieder, und ich
habe sie schon oft hier gesehen. Die Dame sah eben allerdings et-
was mitgenommen aus.«
»Was hast du mit ihr angestellt, Mike? Etwa doch noch mit einer
Hutschachtel auf den Kopf geschlagen?«
»Gar nichts. Die Sache ist viel einfacher. Sie hatte ihrem Freund
nichts von unserem heutigen Besuch bei ihr erzählt. Es schien ihm
absolut nicht zu gefallen.«
»Interessant. Und was hatte er selbst zu sagen?«
»Praktisch dasselbe, was er dir heute nachmittag schon erzählte
von einem Einbrecher, der seine Stimme imitiert hat. Da kein Stück
seiner teuren Fotoausrüstung fehlt, nimmt er an, man habe es auf
Weldons Wohnung abgesehen gehabt. Ich bleibe bei der Ansicht
daß alles gelogen ist. Ihr hättet aber sein Gesicht sehen sollen, als
ich ihm erzählte, daß Nadia Tarrant ermordet wurde. Das hat ihm
einen richtigen Schock versetzt. Und es gefiel ihm auch gar nicht,
daß die Wohnung der Tarrant so gründlich durchsucht worden ist.
Um das Unglück voll zu machen, erzählte ich ihm noch von dem
fehlenden Schuh in Farnham. Ich möchte wetten, daß der heutige
Abend für ihn verdorben ist.«
»Kein Wort mehr«, warnte Jo. »Hier kommt der Märchenprinz
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persönlich.«
Mike hatte erwartet, Corina würde wie einer der gertenschlanken
Gigolos der zwanziger Jahre aussehen, ein Typ, wie er einst im Kiel-
wasser korpulenter und sexhungriger Witwen die Nachtlokale der
Riviera bevölkerte. Corina war jedoch ein braungebrannter, musku-
löser Typ mit unverkennbar aristokratischen Manieren. Sein aus-
ländischer Akzent nahm ihm nichts von seinem beträchtlichen
Charme.
»Jo, Liebling! Sie sehen heute wieder hinreißend aus! Würden Sie
mich bitte Ihren Freunden vorstellen?«
»Guten Abend, Charles. Das wollte ich gerade tun.«
»Guten Abend, Mrs. Baxter«, begrüßte er Linda und übernahm
damit selbst die Vorstellung. Er verbeugte sich elegant und gab Lin-
da einen formvollendeten Handkuß. »Es ist mir eine große Ehre,
Sie hier begrüßen zu dürfen. Guten Abend, Mr. Baxter, es ist uns
wirklich eine Ehre.«
Mike schüttelte ihm steif die Hand. Es war offensichtlich, daß
Charles vor der Begrüßung einige diskrete Erkundigungen einge-
zogen hatte.
Corina verbeugte sich vor Jo, reichte ihr den Arm und entführte
sie zur Tanzfläche. Die Baxters beobachteten die beiden mit nei-
discher Bewunderung.
Mike sagte leise: »Es ist zwar sehr britisch, kein anständiger Tän-
zer zu sein, aber manchmal wünschte ich, mich nicht wie ein Ele-
fant im Porzellanladen zu fühlen, wenn ich einen Burschen wie Co-
rina tanzen sehe.«
Linda tätschelte ihm tröstend die Hand. »Aber nein, Darling. Du
tanzt doch recht gut. Und viele Frauen sind allergisch gegenüber
gut abgerichteten Schlangen, um mit Jo zu reden.«
Mike winkte einem Weinkellner in rosafarbener Jacke und bestell-
te etwas zu trinken. »Dann laß dir bitte deine Allergie nicht zu sehr
anmerken, wenn er dich zum Tanz auffordert. Tu so, als mache er
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Eindruck auf dich, aber ohne zu übertreiben, denn der Bursche ist
nicht auf den Kopf gefallen. Und was Bannister betrifft, solltest du
erst im fortgeschritteneren Teil des Abends versuchen, etwas über
ihn herauszubekommen.«
Linda hielt sich an diese Weisung und wagte erst nach mehreren
Tänzen mit Corina, beiläufig den Namen Bannister fallenzulassen.
Später berichtete sie Mike und Jo darüber.
»Ich fürchte, ich habe eine Niete gezogen. Er sagte zwar, er wolle
seine Sekretärin beauftragen, die Mitgliederlisten durchzusehen,
doch schätze ich, daß er alle Namen auswendig kennt. Und ich
glaube auch nicht einmal, daß er mich nur hinhalten wollte.«
Mike nickte und schien nicht übermäßig enttäuscht. »Macht
nichts, es wird noch andere Gelegenheiten geben, nach Bannister
zu forschen. Hast du Gelegenheit gehabt, das Gespräch auch auf
den Fall Weldon zu bringen?«
»Ja, auf Umwegen. Ich sprach von dem zufälligen Zusammentref-
fen mit Irene Long hier im Klub, erwähnte dabei natürlich mein
neues Kleid und ihre Position bei Conway und Racy, und von da
aus kam ich dann auf Peggy Bedford und Lucy Staines zu spre-
chen.«
Mike schenkte neuen Wein ein. »Ergaben sich dabei Hinweise?«
»Nicht die geringsten. Ich erwähnte auch Nadia Tarrant, nur um
seine Reaktion festzustellen. Er war im höchsten Maße aufgebracht
und behauptete, eine solche Frau würde niemals in einen gutgeführ-
ten Klub eingelassen. Als ich ihm dann sagte, man habe Nadia Tar-
rant hier mit Irene Long zusammen gesehen, wurde er sofort zuge-
knöpft.«
Mike machte ein grämliches Gesicht. »Wir haben wohl zuviel er-
hofft, wenn wir erwarteten, der mysteriöse Mr. Bannister werde uns
zu Gefallen hier einfach aufkreuzen und selbst das Scheinwerfer-
licht auf sich lenken.«
Linda wandte sich fragend an Jo: »Können Sie sich noch erin-
100
nern, wer Sie hier im Klub eingeführt hat?«
Jo überlegte einen Augenblick. »Ja, aber warum?«
»Ich hoffe, sein Name war Toby Deacon«, sagte Linda.
Jo schüttelte den Kopf. »Nein, ich bin nicht mit einem einzelnen
Mann hergekommen. Wir waren eine ganze Gruppe, mit der ich
völlig unbeachtet Einlaß fand. Es war aber kein Toby Deacon da-
bei; ich kenne ihn überhaupt nicht.«
»Verdammt!« murmelte Linda und spielte bekümmert mit ihrem
Weinglas. »Ich bin darauf hereingefallen.«
»Worauf hereingefallen?« fragte Jo schnell.
»Corina versuchte, mir eine Falle zu stellen – leider mit Erfolg. Er
sprach von diesem angeblichen Toby Deacon in einer Weise, als
wäre er ein enger Freund von uns dreien, und ich Dummkopf fiel
prompt darauf herein. Ich gab vor, ihn auch zu kennen. Wie konn-
te ich nur so sorglos sein! Mike hatte mich extra gewarnt, den Bur-
schen könne man nicht an der Nase herumführen.«
Ihre Aufmerksamkeit wurde durch Vorführungen auf der Bühne
abgelenkt. Dann tanzte Mike einige Male mit Linda und Jo.
»Der Oberst und seine Freundin sind schon eine ganze Weile
nicht mehr zu sehen. Wahrscheinlich habe ich ihnen den Abend
verdorben«, sagte Mike.
Jo blickte auf die Uhr, während sie im Kreis um die Tanzfläche
schwebten. »Es ist gleich zwei Uhr. Passen Sie auf; Corina wird bald
verschwinden.«
Als sie zu ihrem Tisch zurückkehrten, machte Linda einen ver-
störten Eindruck. Sie reichte Mike eine Karte mit der Bemerkung:
»Ein Kellner brachte sie, während ihr getanzt habt. Es wird Ihnen
nicht gefallen, Jo.«
Die Mitteilung war einwandfrei in ausländischer Handschrift ge-
schrieben, der Inhalt jedoch eindeutig:
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Lieber Mr. Baxter,
ich würde mich gern mit Ihnen unterhalten. Meine Anschrift ist
South Audley Street No. 27b. Ich schlage vor, mich morgen
nachmittag zwischen 4 und 5 Uhr zu besuchen.
Ergebenst Ihr
Charles Corina
PS. Ihre charmante Freundin von Scotland Yard brauchen Sie
nicht mitzubringen.
9
s war ein recht schweigsames und deprimiertes Trio, das zurück
nach West End fuhr.
E
E
»Der Abend war ein Reinfall von A bis Z«, begann Linda das Ge-
spräch.
»Dessen bin ich nicht so sicher«, erwiderte Mike.
»Es ist natürlich schade, daß Charles meine Tarnung zerstört
hat«, unterbrach in Jo. »Kriminaldirektor Goldway wird bestimmt
wütend sein. Wo mag nur die undichte Stelle beim Yard sein? Es
gibt bestimmt nicht viele dort, die Corina den Tip gegeben haben
können. Und dann finde ich es auch merkwürdig, daß Corina seine
Karten so offen auf den Tisch legt und zugibt, von meiner Tätigkeit
für Scotland Yard zu wissen. Seltsam ist auch, daß er nicht nur be-
reit, sondern sogar darauf erpicht ist, sich mit Ihnen zu unterhal-
ten.«
»Da bin ich ganz Ihrer Ansicht, Jo«, stimmte Mike zu. »Ober-
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flächlich gesehen, scheinen wir heute abend nicht viel erreicht zu
haben. Und doch bin ich nicht ganz sicher, ob wir nicht in ein
Hornissennest gestochen und es in Aufruhr gebracht haben. Es
wird interessant sein, zu sehen, wer als erster gestochen wird. Wo
darf ich Sie absetzen, Jo?«
»Gleich an der nächsten Straßenecke. Von da aus sind es nur ein
paar Häuserblocks bis zu meiner Wohnung. Sie brauchen sich wirk-
lich nicht die Mühe zu machen, mich bis zur Haustür zu bringen.«
»Sind Sie sicher?«
»Ich möchte noch etwas Luft schnappen, ehe ich hineingehe.
Danke für die Heimfahrt – es war ein netter Abend mit Ihnen. Ich
meine es wirklich ehrlich.«
»Es war reizend mit Ihnen, Jo«, antwortete Linda warmherzig.
»Passen Sie gut auf sich auf.«
»Wenn dich die bösen Buben locken, so folge ihnen nicht«, er-
gänzte Mike die Mahnung. »Auf Wiedersehen, Jo, wir werden uns
melden.«
»Sie ist wirklich ein tapferes Mädchen; so ganz auf sich gestellt
bei dieser schwierigen Tätigkeit«, bemerkte Linda, als der Wagen
wieder anfuhr.
»Ich glaube, sie kann schon auf sich aufpassen. Draußen in der
Prärie wird man zu Härte und Zähigkeit erzogen.«
Als Mike vor den Verkehrsampeln am Marble Arch die Geschwin-
digkeit herabsetzte, überholte sie ein Taxi und blieb für einen Au-
genblick auf gleicher Höhe mit ihnen. Linda setzte sich aufrecht
hin, ging dann aber sofort hinter den breiten Schultern ihres Man-
nes in Deckung. »Kannst du mal schnell einen Blick auf die Frau
neben uns im Taxi werfen?« flüsterte sie erregt.
»Warum? Wer ist es denn?«
»Mache es nicht so auffällig, damit sie uns nicht erkennt, Mike.
Ich möchte schwören, daß sie das Double von Nadia Tarrant ist,
dieses rabiate Weibsbild vom Soho Square. Aufpassen, jetzt kommt
103
Grün! He! Wohin fahren wir?«
Statt einer Antwort bog Mike in die Bayswater Street ein, um
dem Taxi zu folgen. Es war ein ziemlich neues Wagenmodell mit
breitem Rückfenster, so daß die gut erkennbare Silhouette des ein-
zigen Fahrgastes sie in auffallender Weise an die hartgesottene Rot-
haarige erinnerte, die sie am Nachmittag an der Nase herumgeführt
und das Zimmer der Tarrant durchwühlt hatte.
»Ich habe sie nur kurz gesehen und kann mich irren«, sagte Lin-
da. »Doch könnte ich schwören, daß sie es wirklich ist.«
Sie folgten dem Taxi einige Minuten lang, bis Linda rief: »Er
biegt rechts ab.«
»Versuch doch schnell, das Straßenschild zu lesen.«
»Dafür ist es zu dunkel. Hier ist ein anderes Schild: Bolton Gar-
dens – jetzt biegt er wieder ab. Es ist die Darlington Street.«
»Seltsam, den Namen habe ich doch schon gehört«, begann Mike
zu überlegen. »Achtung, er fährt an den Bürgersteig!«
Mike trat rasch auf die Bremse und brachte seinen Wagen etwa
dreißig Meter hinter dem Taxi zum Stehen. Als die Frau ausstieg
und den Taxifahrer entlohnte, wurde im Licht der Straßenlaterne
ein großer Kopf mit flammend rotem Haar sichtbar. Das Taxi fuhr
davon.
»Sie ist es! Jetzt besteht kein Zweifel mehr«, flüsterte Linda.
»Sieh doch! Sie geht auf die andere Straßenseite.«
»Soll ich dir mal etwas Interessantes erzählen?« begann Mike mit
leiser Stimme. »In dieser Straße wohnt Hector Staines; auch seine
Telefonnummer hat eine Bayswater-Vorwahl.«
Die Frau vor ihnen holte einen Schlüssel aus der Handtasche und
schloß die Haustür auf.
»Hast du dir das Haus gemerkt?«
»Ja, das mit den hohen Giebeln.«
»Gut. Dann gehen wir jetzt wie Spaziergänger daran vorbei und
merken uns die Nummer. Dort unten ist eine Telefonzelle. In der
104
können wir dann nachprüfen, ob Staines im selben Haus wohnt.«
Sie stiegen aus und schlenderten an dem Haus vorbei, ohne ste-
henzubleiben. »2-9-2«, flüsterte Mike, als sie vorbeigingen, und Lin-
da nickte.
An der Telefonzelle angekommen, gingen sie hinein und blätter-
ten im Fernsprechverzeichnis, um die Adresse von Hector Staines
festzustellen.
»Stafford … Stagg … Stainer … Staines … da haben wir ihn. Ich
hatte recht: Hector Staines, auffällig, damit W. 2«, sagte Mike, wo-
bei Linda ihm über die Schulter blickte. »Da ist er uns aber einige
Erklärungen schuldig, wenn er wirklich mit diesem Weibsbild be-
kannt ist und…«
Der Rest des Satzes ging im Stakkato einer Maschinenpistolen-
garbe unter. Glassplitter fielen irgendwo zu Boden, und der Motor
eines Kraftwagens heulte auf. »Ducken!« rief Mike Linda zu und
zog sie nach unten, während ein Wagen an der Telefonzelle vorbei-
raste und mit quietschenden Reifen eine waghalsige Linkskurve
schnitt.
Es vergingen mehrere Sekunden, bis sie wieder aufstanden und
sich darüber klar wurden, daß man gar nicht auf sie geschossen hat-
te. Die Glasscheiben der Telefonzelle waren unbeschädigt. Abgese-
hen von einigen Püffen und Beulen, die sie mitbekommen hatten –
weil es wie Linda später lachend konstatierte, für zwei Erwachsene
physisch unmöglich ist, sich in einer Telefonzelle am Boden zu ver-
krümeln – waren beide zwar zutiefst erschrocken, aber unverletzt.
Mit ziemlich schlotternden Knien gingen sie zu ihrem Wagen
zurück und blieben plötzlich wie angewurzelt stehen. Sämtliche
Fenster ihres Autos waren von Kugeln durchsiebt. Wer im Wagen
gesessen hätte, wäre wohl kaum heil davongekommen.
»Kriminaldirektor Goldway ist am Apparat und möchte Sie spre-
105
chen, Mr. Baxter«, sagte Mrs. Potter.
»Guten Morgen, John… Danke, alles in Ordnung.«
»Warum hast du mich heute nacht nicht gleich angerufen?« fragte
Goldway.
»Es war fast drei Uhr. Zu einer so unchristlichen Stunde wollte
ich dich auf keinen Fall stören.«
»Seid ihr beide unverletzt?«
»Nicht eine Schramme. Natürlich sind wir nervlich ein bißchen
durcheinander.«
»Ein bißchen durcheinander dürfte leicht untertrieben sein. Ich
habe mir vorhin deinen Jaguar angesehen. Den hat's vielleicht er-
wischt. Ein Glück, daß ihr nicht darin gesessen habt.«
»Schönen Dank für die Blumen.«
»Wir untersuchen gerade das Kaliber der Kugeln; ich werde dich
über das Ergebnis unterrichten. Wahrscheinlich hast du keine Gele-
genheit gehabt, die Pistolenhelden zu Gesicht zu bekommen?«
»Nein, bei der Geschwindigkeit nicht. Es war alles vorbei, ehe wir
überhaupt richtig wußten, was geschehen war. Außerdem gab es ei-
nen regelrechten Wettbewerb zwischen Linda und mir, wer zuerst
am Fußboden war.«
»Das will ich gern glauben«, erwiderte der Kriminaldirektor mit
einem Anflug von jungenhaftem Kichern, fuhr aber sofort wieder in
ernstem Ton fort: »Mike, ich habe den Bericht des Diensthabenden
vor mir auf dem Tisch. Es gibt da einiges, was mir rätselhaft er-
scheint. Heute morgen habe ich leider dafür keine Zeit; ich würde
dich aber gern am Nachmittag gegen drei Uhr aufsuchen. Paßt es
dir?«
»Selbstverständlich, John; oder sollen wir zum Yard kommen?«
»Ich möchte lieber mit euch privat sprechen. Außerdem habe ich
in eurer Gegend noch etwas zu erledigen. Wie war es denn im Klub
La Pergola?«
»Da habe ich eine Niete gezogen. Wir trafen immerhin ein paar
106
interessante Leute, und ich bekam einen dünnen Faden in die
Hand, an dem man vielleicht weiterspinnen kann.«
»Und wie machte sich die Eskorte, die ich euch mitgegeben hat-
te?«
»Keine Klagen, John!«
Goldway lachte. »Übrigens – hat Jo Peters sich schon bei euch ge-
meldet?«
»Nein.«
»Nun gut. Sobald sie es tut, laßt es mich wissen. Ich bin also ge-
gen drei Uhr bei euch.«
Mike legte auf und grinste zu Linda hinüber. »Diesem alten Fuchs
entgeht aber auch nichts.«
»Ist ihm die Lücke in unserer Geschichte aufgefallen?«
»Und ob! Heute nachmittag wird das sicher seine erste Frage
sein.«
So war es auch. Kriminaldirektor Goldway trank die ihm von Linda
angebotene Tasse Tee und fragte dann ohne Umschweife: »Was
hattet ihr euch eigentlich um halb drei Uhr früh in Bayswater her-
umzutreiben? Das liegt doch nicht auf eurem Heimweg von Hamp-
stead nach der Sloane Street. Aber verschont mich bitte mit dieser
billigen Geschichte, ihr hättet gerade nach einem Abschleppwagen
telefoniert, weil ihr mit dem Jaguar eine Panne hattet. Die Ausrede
mag gerade noch für den Diensthabenden gut genug gewesen sein,
aber nicht für mich.«
»Wir waren aber in einer Telefonzelle«, betonte Mike hinhaltend.
»Genau das war unser großes Glück!«
»Ja, ich weiß. Aber ich möchte gern hören, was ihr um diese Zeit
in der Darlington Street zu suchen hattet.«
»Wir waren einer gewissen Dame mit fragwürdiger Herkunft auf
der Spur und folgten ihr bis zum Haus von Hector Staines.«
107
»Die Bedeutung der Adresse war mir nicht entgangen«, bemerkte
Goldway trocken. »Wer war die Dame?«
»Ihren Namen kenne ich nicht, sie hat auf jeden Fall ein aus-
gezeichnetes Talent, als Double aufzutreten. Es handelt sich um das
Weibsbild, das sich uns gegenüber in dieser miesen Bleibe in Soho
als Nadia Tarrant ausgegeben hatte.«
Goldway sah beide verwundert an. »Wirklich? Wo seid ihr denn
ausgerechnet über die gestolpert?«
Mike erklärte es ihm.
»Das war es also. Und du warst der Ansicht, das sollte besser nicht
in dem Protokoll stehen, das von dem Sergeanten aufgenommen
wurde?«
Mike zögerte eine Weile und wählte dann sorgfältig seine Worte,
was den Kriminalbeamten veranlaßte, ihn interessiert zu mustern.
»Ja, John. Ich bin der Ansicht, daß nicht alles im Protokoll ste-
hen sollte.«
Es entstand eine kurze, unangenehme Pause. Mike erschien die
Theorie, die sich im Hintergrund seines Bewußtseins zu formen be-
gann noch zu ungewiß. Goldway andererseits kannte Mike gut und
hatte Vertrauen zu ihm; deshalb drängte er nicht auf eine klare Ant-
wort und wechselte sofort das Thema.
»Mike, ich habe so ein ungutes Gefühl wegen Jo Peters. Sie hat
sich noch nicht wieder bei uns gemeldet, und wir haben sie den
ganzen Tag über nicht erreichen können. Ist es möglich, daß sie
während deiner Abwesenheit hier angerufen hat?«
Mike sah seine Frau fragend an und schüttelte dann den Kopf.
»Nein. Wir sind fast den ganzen Tag über zu Haus gewesen, abge-
sehen von einem nutzlosen Besuch bei Conway und Racy. Auf je-
den Fall aber würde Mrs. Potter das Gespräch angenommen und
uns darüber informiert haben.«
»Hm. Die Situation ist ziemlich beunruhigend. Jo sollte heute
früh zur Dienststelle kommen und über euer gemeinsames Unter-
108
nehmen im Klub La Pergola Bericht erstatten. Als sie nicht zum
vereinbarten Zeitpunkt erschien, beauftragte ich meine Sekretärin,
sie anzurufen. Es meldete sich aber niemand. Etwas später habe ich
einen Beamten zu ihrer Wohnung geschickt; er stellte fest, daß sie
überhaupt nicht heimgekommen ist.«
»Aber wir haben sie doch nach Hause gebracht!« protestierte Lin-
da.
»Unmittelbar bis zur Haustür?«
»Nein, das nicht. Jo sagte, es seien nur noch ein paar Meter zu
laufen.«
Der Kriminaldirektor zog eine krause Stirn. »Wahrscheinlich be-
steht kein Grund zur Sorge. Jo ist ein cleveres Mädchen. Der Nacht-
portier hat aber mit Bestimmtheit erklärt, sie sei nicht nach Haus
gekommen – er hatte bis sieben Uhr morgens Dienst. Außerdem
steht fest, daß sie nicht in ihrem Bett geschlafen hat.«
»Wie lange arbeitet Jo schon für Sie?« fragte Linda.
»Seit etwa drei Jahren, aber nicht kontinuierlich. Sie hat beim
Yard eine Sonderstellung.«
»Arbeitet sie für Inspektor Rodgers?«
»Nein, für die reguläre Kriminalpolizei überhaupt nicht«, erwider-
te Goldway. Mike fiel auf, daß der Kriminaldirektor einer klaren
Antwort ausweichen wollte, als er sagte: »Sie ist nur ihrer eigenen …
Abteilung und mir persönlich verantwortlich.«
»Was wollte sie überhaupt im Klub La Pergola?«
Wieder zögerte Goldway. »Sie sollte ganz allgemein ein wachsa-
mes Auge auf diesen Klub haben.«
Es klopfte an der Tür und Mrs. Potter kam herein.
»Entschuldigen Sie die Störung, Mrs. Baxter. Eben wurde für Sie
ein Päckchen abgegeben. Ich fand es draußen vor der Haustür. Vor
ein paar Minuten, als ich die Milchflaschen hinausstellte, war es
noch nicht da.«
Mrs. Potter übergab Linda eine sauber verpackte Schachtel. Die
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Adresse war in großen Druckbuchstaben geschrieben und ließ kei-
nen Schluß auf den Absender zu.
»Haben Sie keine Ahnung, wer es dorthin gelegt hat?«
»Nein, gnädige Frau. Der Bote hat nicht geklingelt.«
Linda machte ein verdutztes Gesicht. »Wahrscheinlich ist es et-
was, was wir bestellt haben«, meinte sie und griff nach der Schere,
um den Bindfaden aufzuschneiden. Goldway hielt sie zurück.
»Nicht so schnell, Linda«, warnte er. »Es hat schon Pakete von
unbekannten Absendern gegeben, die beim Öffnen explodiert sind.
Ich werde es lieber zum Yard mitnehmen und dort von Sprengstoff-
experten öffnen lassen.«
Linda schien nicht damit einverstanden und setzte zu einer Erwi-
derung an. In diesem Augenblick griff Mike nach dem Päckchen,
hielt es einen Augenblick in beiden Händen, als wolle er fühlen,
was darin war, und riß dann die Schnur auf.
»Sei kein Narr, Mike!« rief Goldway.
»Schon gut, John. Ich habe eine Ahnung, was da drin sein wird.«
Als das Papier entfernt war, kam ein gewöhnlicher Pappkarton
zum Vorschein. Mike hob den Deckel ab und starrte einen Augen-
blick schweigend auf den Inhalt.
»Genau, was ich mir dachte«, erklärte er schließlich. »Wieder ein
Damenschuh.«
Goldway fragte interessiert: »Einer von Ihren, Linda?«
Linda schüttelte den Kopf. »Ich wünschte, es wäre der Fall. Er-
kennst du ihn, Mike?«
»Ich fürchte, ja. Jo Peters trug gestern abend solche Schuhe.«
Langes Schweigen lastete im Raum.
Schließlich fragte Linda mit brüchiger Stimme: »Kann es das be-
deuten, was ich befürchte, John?«
»Auf jeden Fall ist es eine teuflische Botschaft. Wie schlimm die
Sache ist, läßt sich aber noch nicht sagen«, bemerkte Goldway.
Mike fiel ihm mit ungewohnter Schärfe ins Wort: »Als Lucy
110
Staines ermordet wurde, stahl man ihr einen Schuh. Als Peggy Bed-
ford Selbstmord beging, fehlte ein Schuh. Und auch Nadia Tarrant
fehlte ein Schuh, als man sie erwürgt im Walde von Farnham fand.
In allen drei Fällen gehörten Tod und fehlender Schuh zusammen.
Da sehe ich keinen großen Spielraum mehr für andere Möglichkei-
ten.«
»Und doch gibt es ihn, Mike. Es besteht doch ein Unterschied«,
ab Goldway zu bedenken. »In den von dir erwähnten drei Fällen
fehlte der Schuh, und wir konnten ihn trotz aller Bemühungen
nicht finden. Diesmal aber haben wir ihn. Der Schuh fehlt nicht; er
liegt hier vor uns. Ich bin fest davon überzeugt, daß im Falle Jo Pe-
ters kein Mord damit verbunden ist – Gott gebe es, daß ich recht
behalte! Dieser Schuh wurde zur Warnung geschickt. Und diese
Warnung gilt vor allem auch Ihnen, Linda.«
Mike gab einen undefinierbaren Laut von sich. »Jetzt bin ich aber
wirklich gespannt, wie mein Gespräch mit Charles Corina ausge-
hen wird.«
Der Kriminaldirektor warf ihm einen fragenden Blick zu, und als
Antwort reichte Mike ihm den Zettel, den Corina ihm im Nacht-
klub an den Tisch hatte bringen lassen. Beim Lesen der letzten Zei-
le lief Goldway vor Wut rot im Gesicht an. »Dann weiß dieser Co-
rina also über Jos Auftrag Bescheid. Ich würde meine Pension op-
fern, wenn ich erfahren könnte, wie das durchgesickert ist.«
»Vielleicht sagst du uns jetzt, warum Jo Peters auf den Klub an-
gesetzt war?«
Goldway warf Mike einen abschätzenden Blick zu, überlegte noch
einen Augenblick und nickte dann zustimmend. »Du weißt, daß
ich dir vertraue, Mike. Aber Vorsicht ist in unserem Beruf erste
Voraussetzung. Nachdem aber nun die Katze aus dem Sack ist, hat
es keinen Zweck mehr, die Tarnung von Jo dir gegenüber aufrecht-
zuerhalten. Sie wurde uns seinerzeit vom Zentralen Rauschgiftdezer-
nat in Washington zugeteilt. Das ist die ›Abteilung‹, von der ich
111
vorhin sprach. Man ging einer Spur von Rauschgiftschmuggel nach,
die über den Atlantik direkt zu Charles Corina zu führen schien.
Wir haben aber bisher keine konkreten Beweise in die Hand be-
kommen, und jetzt sieht es ganz danach aus, daß wir den Burschen
nicht mehr das Handwerk werden legen können.«
»Rauschgift! Daran habe ich auch schon gedacht«, warf Mike ein.
»Sage mal, John, wieviel von dem Zeug, rein wertmäßig, könnte
man beispielsweise im Absatz eines Damenschuhs unterbringen?«
»Ich sehe, worauf du hinaus willst, Mike. Ja, ich muß zugeben,
das wäre durchaus eine Möglichkeit.«
Die Baxters dachten geraume Zeit nach, um diese Wendung im
Fall Harold Weldon zu verdauen.
Linda nahm als erste das Gespräch wieder auf. »Könnte vielleicht
auch Luigi Saltoni in den Rauschgiftschmuggel verwickelt gewesen
sein?«
»Das ist schon möglich.«
»Wie geht es ihm denn jetzt?«
»Noch ziemlich schlecht.«
»Hast du etwas dagegen, wenn ich ihn besuche?« fragte Mike.
»Nein. Von mir aus, bitte.«
»Als ich heute früh mit dem Krankenhaus telefonierte, wurde mir
gesagt, er dürfe keine Mitteilungen erhalten und auch keine Besu-
cher empfangen.«
»Das ist nur eine Vorsichtsmaßnahme. Wir wollen nicht riskieren,
daß ihm erneut etwas zustößt. Diese Anordnung gilt aber nicht für
dich, Mike.«
Mrs. Potter klopfte an die Tür und meldete den Besuch von Hec-
tor Staines.
»Was mag der Kerl nur wollen?« fragte Mike verärgert. »Führen
Sie ihn ins Arbeitszimmer, Mrs. Potter.« Und zu Kriminaldirektor
Goldway gewandt, sagte er: »Ich weiß nicht, was er mit diesem Be-
such beabsichtigt; ich werde die Gelegenheit wahrnehmen und ihm
112
ein paar sehr offene Fragen stellen.«
»Und die wären?« fragte Goldway.
»Was er beispielsweise gestern abend bei Irene Long gewollt hat,
sofern er sie tatsächlich besuchte. Wir sind ziemlich sicher, daß wir
ihn in der Nähe ihrer Wohnung gesehen haben. Zweitens, warum
er Peggy Bedford in dieses abgelegene Dorfgasthaus bei Farnham
geführt hat. Und drittens interessieren mich seine Beziehungen zu
dem rothaarigen Weibsbild, das sich uns gegenüber als Nadia Tar-
rant ausgegeben hat.«
»Du wirst mich sicherlich auslachen«, schaltete sich Linda ein,
»aber mein weibliches Gefühl sagt mir, daß Staines nichts auf dem
Gewissen hat. Auf keinen Fall dürfen wir übersehen, daß er es war,
der uns auf den Fall Harold Weldon aufmerksam gemacht hat. Ich
werde jetzt mal den Versuch machen, diese drei Fragen statt seiner
zu beantworten. Das würde sich nach meinem Dafürhalten so an-
hören: ›Ich, Hector Staines, besuchte Irene Long, weil sie mit mei-
ner Tochter befreundet war und ich herausfinden will, wer Weldon
den Mord angehängt hat.‹ Frage Nummer 2: ›Nicht ich habe Peggy
Bedford in die Dorf kneipe Lord Fairfax geführt, sondern sie mich;
daher habe ich überhaupt nicht auf den Namen des Lokals geach-
tet. Ich habe sie geliebt, oder ich hatte ein Verhältnis mit ihr; oder
wie Sie wollen: sie war die Freundin meiner Tochter.‹ Dritte Frage:
›Von welchem rothaarigen Weibsbild sprechen Sie? Keine Frau, die
Ihrer Beschreibung entspricht, hat mich gestern abend in der Dar-
lington Street besucht. Sie müssen sich verdammt irren, Mr. Bax-
ter.‹ Nun, was hältst du von diesen Antworten?«
Mike war nicht gerade überzeugt von diesen Argumenten, schwieg
aber.
Kriminaldirektor Goldway erhob sich. »Ich gehe jetzt, ich habe
kein Interesse daran, Staines zu begegnen. Solltest du es aber für
notwendig erachten, werde ich Inspektor Rodgers beauftragen, Stai-
nes einem scharfen Kreuzverhör zu unterziehen.«
113
»Bevor du gehst, möchte ich dich noch um etwas bitten.« Mike
holte aus einer Schublade ein Foto und reichte es Goldway.
»Kennst du diesen Burschen hier?«
Goldway betrachtete das Bild genau. »O ja. Das ist der verstor-
bene Larry Boardman, alias Leonard Bradley, alias … mindestens
noch sechs andere Namen. Er war ein bekannter Juwelendieb, Be-
trüger und Hochstapler und starb kürzlich sonderbarerweise eines
natürlichen Todes. Wo hast du das Foto her?«
»Es war unter den persönlichen Sachen von Peggy Bedford in
ihrer Wohnung. Ich ging nach ihrem Tode dorthin, und es gelang
mir, den Portier zu überreden, mir aufzuschließen. Ich suchte nach
dem fehlenden Schuh oder sonstigen Hinweisen. Dabei kam mir
der Gedanke, dieses Bild könnte vielleicht wichtig sein.«
»Du hast richtig vermutet. Wir haben inzwischen herausklamü-
sert, daß Miß Bedford einen weitverzweigten, zwielichtigen Bekann-
tenkreis hatte. Ihr Notizbuch war für uns eine wertvolle Offenba-
rung. Nein«, fügte Goldway lächelnd hinzu, »Bannisters Name stand
nicht darin, dafür aber einige andere, die nach unserem internen
Sprachgebrauch aus der ›obersten Schublade‹ stammen. Aber das
hat mit unserem Fall hier nichts zu tun.« Goldway blickte auf seine
Uhr. »Jetzt muß ich wirklich gehen. Ruf mich bitte an, wenn du et-
was über Jo Peters erfährst. Dank für den Tee, Linda.«
Mike begleitete ihn zur Tür und wollte gerade in sein Arbeitszim-
mer gehen, wo Hector Staines auf ihn wartete, als Linda ihn zu-
rückhielt.
»Moment noch, Mike. Ich habe vorher etwas mit dir zu bespre-
chen.«
»Worum handelt es sich, Darling?«
»Spiel nur nicht den vollkommen Unschuldigen! Warum hast du
mir nicht erzählt, daß du den Portier bestochen hast, um in Peggy
Bedfords Wohnung zu kommen?«
Mike grinste vor sich hin. »Vielleicht hoffte ich, noch rechtzeitig
114
meinen Namen aus ihrem Notizbuch wegradieren zu können.«
»Dummes Zeug! Wer war Larry Boardman? Was hat er mit dieser
Sache zu tun?«
Mike wurde ungeduldig. »Wenn ich es wüßte, würde ich es dir sa-
gen; aber meine Theorie nimmt nur ganz langsam Gestalt an. So-
bald ich die Sache überblicken kann, werde ich dir schon alles er-
zählen. Bitte also etwas Geduld, meine Liebe! Ich habe so das Ge-
fühl, daß der Fall Weldon sehr bald gelöst wird, jedenfalls schneller,
als wir zu hoffen wagten. Corina ist der nächste auf der Besucher-
liste, sobald ich Staines abgewimmelt habe. Anschließend fahren wir
ins Krankenhaus, um uns mit Saltoni zu unterhalten.«
Linda räumte den Teetisch ab; fünf Minuten später hörte sie Stai-
nes gehen.
Als Mike ins Zimmer kam, fragte sie ihn: »Nun, hast du deine
drei Fragen abgeschossen?«
»Jawohl, das habe ich.«
»Und mit welchem Ergebnis?«
»Es war fast so, als hättest du ihm vorher die Antworten einge-
trichtert. Der alte Knabe verbirgt aber etwas vor mir. Er behauptet
sogar, er hätte in der vergangenen Nacht keine Schüsse gehört, weil
er gerade im Bad gewesen sei.«
»Ja, manche Leute baden eben zu den seltsamsten Tages- oder
Nachtzeiten. Was wollte er überhaupt hier bei uns?«
»Die Polizei hat heute früh alle Bewohner seines Häuserblocks
wegen der Schießerei vernommen. Offensichtlich wollte er mich da-
von überzeugen, daß er damit nichts zu tun habe.«
»Vielleicht sagt er die Wahrheit.«
»Und ich behaupte, daß er nicht einmal angefangen hat, die
Wahrheit zu sagen«, fuhr Mike sie an. »Als ich ihn auf den ominö-
sen Bannister festnageln wollte, sah er mich verständnislos an. Ges-
tern nacht will er auch keine Besucher empfangen haben. Daher
war es auch nicht notwendig, ihm zu erzählen, warum wir uns ge-
115
gen halb drei Uhr früh in seiner Nachbarschaft aufgehalten haben.«
»Was hast du nun vor?«
»Ich muß zu Corina. Und du kannst dir inzwischen noch mal
Irene Long vornehmen.«
Linda nickte. »Sie kann ja schließlich nicht den ganzen Tag Kaf-
feepause machen. Sei ja vorsichtig, wenn du mit diesem Sonnyboy
zusammentriffst.«
»Ich werde schon auf mich aufpassen. Wir treffen uns dann um
fünf Uhr vorm Krankenhaus. Sage doch bitte Mrs. Potter, sie soll
aufs Telefon achten, falls Jo Peters anruft.«
Die Ausstattung der Zimmerflucht, die Charles Corina bewohnte,
ließ jeden Besucher neidvoll erblassen. Mike hatte den Eindruck, er
hätte sich in eines der Gemächer im Schloß Ludwigs II. von Bayern
verirrt. Auf glänzend poliertem Parkettfußboden mit eingelegten
Ornamenten lagen kostbare Läufer. An den cremefarbenen Wänden
hingen alte Stiche von Marktplätzen und Rathäusern europäischer
Städte. Auf wertvollen Stilmöbeln standen wunderbare Porzellanva-
sen und Figuren aus Delft, Meißen und Sèvres. In Leder gebundene
Bände in mehreren Sprachen deuteten auf die vielseitigen geistigen
Interessen ihres Besitzers hin. Zwischen den Kunstgegenständen be-
fanden sich auch einige Silbertrophäen, die auf eine aktive Betäti-
gung im Reitsport schließen ließen, und über dem Schreibtisch hing
eine Fotografie, die Corina im Polodreß auf einem rassigen Schim-
mel zeigte. Dem aufmerksamen Beobachter enthüllten sich so die
beiden Seiten der Persönlichkeit Corinas: die intellektuelle und die
sportliche. Der Mann, mit dem er es hier zu tun hatte, war nicht
der Typ des üblichen Nachtklubbesitzers oder Salonlöwen, gestand
sich Mike.
Corina bot etwas zu trinken an, was Mike jedoch dankend ab-
lehnte.
116
»Sie wissen natürlich, warum ich Sie sprechen wollte«, begann
Corina, wobei er sein Kognakglas hob und mit einer leicht ange-
deuteten Verbeugung auf das Wohl seines Gastes trank. Sein Ak-
zent war nur schwach erkennbar und bildete einen Teil seines Char-
mes. Mike beschloß, sich unwissend zu stellen und es seinem Gast-
geber zu überlassen, auf das eigentliche Thema zu kommen.
»Nein, Corina. Ich habe nicht die leiseste Ahnung.«
»Aber, aber, mein Lieber. Ich dachte, für einen Mann mit Ihrer
Klarsicht sei das ganz offenkundig.«
»Sie schmeicheln mir.«
Corina lächelte. »Sie haben meine Nachricht erhalten?«
»Deswegen bin ich hier.«
»Sie haben mich mit Ihren Aktionen verärgert.«
»Welche Aktionen?«
»Warum haben Sie Ihre Wachhunde auf meinen Klub angesetzt?
Ich hasse es, bespitzelt zu werden.«
»Wachhunde? Meinen Sie Miß Peters?«
»Genau das.«
Mike zuckte mit den Schultern. »Das geht mich nichts an, Co-
rina. Ich habe das Mädchen gestern zum erstenmal gesehen.«
»Das habe ich schon aus Ihrer Gattin herausgeholt«, erwiderte
Corina mit selbstgefälligem Lächeln.
»Und ich kann mir nicht denken, wie Sie herausgefunden haben,
daß Miß Peters mit Scotland Yard zusammenarbeitet.«
»Sie bezieht von dort ihr Gehalt.«
»Sind Sie sicher? Selbst wenn es so wäre, bezweifle ich, daß es ein
fürstliches Gehalt ist. Aber lassen wir das – ich selbst gehöre nicht
zur Polizei und habe nie zu ihr gehört.«
»Warum schnüffeln Sie dann in meinem Tätigkeitsbereich her-
um?«
»Ich glaubte, ich hätte das gestern abend ziemlich klargestellt,
oder zumindest meine Frau. Ich suche einen Mann namens Banni-
117
ster.«
»Ich versichere Ihnen, daß es im Klub kein Mitglied dieses Na-
mens gibt.«
»Außerdem würde ich es sehr schätzen, einige Informationen
über die Beziehungen Nadia Tarrants zu Ihrem Klub zu erhalten.«
Jetzt war Corina ehrlich entrüstet. »Wenn Sie und Ihr Freund, der
Kriminaldirektor Goldway, sich wirklich einbilden, ich würde je-
mals einer Frau wie dieser Zutritt zu einem Eliteklub gestatten…«
»Dann geben Sie also zu, sie zu kennen.«
Corina parierte auf brillante Art. »Diese zweifelhafte Ehre ist mir
bisher noch nicht widerfahren.«
Wie alle Ausländer, die sich große Mühe gegeben haben, die eng-
lische Sprache zu meistern, war sein Wortschatz mit Ausdrücken
gespickt, die kein Engländer normalerweise gebrauchen würde. »Ich
bin jedoch imstande, englisch zu lesen. Soweit ich mich erinnern
kann, war Nadia Tarrant die verkommene Komödiantin im Prozeß
gegen Harold Weldon.«
»Ja, sie war es. Die Vergangenheitsform habe ich eben absichtlich
gewählt. Sie wurde nämlich gestern in einem Fluß bei Farnham er-
trunken aufgefunden.«
Mike hatte diese Falle bewußt gestellt. Nur der Mörder selbst und
einige wenige mit der Untersuchung beauftragte Beamte wußten,
daß sie im Wald erwürgt worden war.
Corina fiel nicht darauf herein. »Warum geht sie auch so dicht
ans Wasser, wenn sie nicht schwimmen kann.«
Mike setzte zu seiner Hauptfrage an. »Ich bin nach wie vor daran
interessiert, zu erfahren, was die Tarrant in Ihrem Klub in Beglei-
tung von Irene Long zu suchen hatte.«
Corina stöhnte leise. »Die Unterredung wird nun doch blöder, als
ich gedacht hatte. Vielleicht haben Sie mich nicht richtig verstan-
den. Ich wiederhole nochmals: Nichts auf der Welt würde mich da-
zu bringen, ein so gewöhnliches Frauenzimmer in meinem Etablis-
118
sement zu dulden.«
»Also gut. Wie Sie wollen! Kein Bannister, keine Tarrant. Wie steht
es dann um einen jungen Mann namens Luigi Saltoni? Kennen Sie
ihn?«
»Nein, den auch nicht. Wer oder was ist Saltoni?«
»Auch er ist im Zusammenhang mit dem Fall Weldon wichtig«,
antwortete Mike ausweichend.
»Ist das Ihr einziges Gesprächsthema?«
»Stimmt genau: Der Fall Weldon und der Nachtklub La Pergola.«
»Ich versichere Ihnen, Mr. Baxter – da gibt es keinen Zusammen-
hang.«
»Es scheint aber doch einer zu bestehen. Saltoni hat ausgesagt, er
habe Irene Long, die nach Ihren eigenen Worten Klubmitglied ist,
zusammen mit Nadia Tarrant Ihr exklusives Haus betreten sehen.«
»Dann ist Saltoni ein Lügner.«
»Was noch zu beweisen wäre. Ich will Ihnen mal folgendes sagen,
Corina: Wenn Sie wirklich ein so reines Gewissen haben, dann soll-
te es doch keinen Grund für Sie geben, mich in meinen Bemühun-
gen, einen Unschuldigen vor dem Henker zu retten, zu behindern.
Es sei denn, Sie fürchten, es könnte sich herumsprechen, daß zwei-
felhafte Gestalten Gäste Ihres Klubs sind. Sollte das der Grund sein,
so verspreche ich Ihnen, mein möglichstes zu tun, um den Namen
La Pergola aus allem herauszuhalten.«
Corina antwortete in eisigem Ton: »Danke. Ich ziehe es vor, mei-
ne Public Relations selbst in die Hand zu nehmen. Ich bin durch-
aus in der Lage, den guten Ruf meines Klubs auch ohne Ihre plum-
pe Hilfe zu schützen.«
»Sie sollten Ihre Worte vorsichtiger wählen. Ich habe Ihnen mei-
ne Hilfe angeboten. Wenn Sie sich grundsätzlich weigern, mit mir
zusammenzuarbeiten, kann ich auch offensiv werden.«
»Ich bezweifle, daß Sie mir überhaupt schaden können«, konterte
Corina verächtlich.
119
»So? Ich habe viele Freunde in der Fleet Street, Mr. Corina.«
Corina kehrte ihm für einen Augenblick den Rücken zu, um sein
Glas neu zu füllen. Als er sich umwandte, hatte er sich wieder voll-
kommen in der Gewalt.
»Wissen Sie, Baxter, worüber ich mich bei diesem Hickhack am
meisten ärgere?«
»Woher soll ich das wissen?« entgegnete Mike.
»Über Ihre fortgesetzten Unterstellungen, in meinem Hause könn-
ten kriminelle Dinge vor sich gehen.« Mit seiner Hand wies er
rundherum auf die Kunstschätze im Raum. »Taxieren Sie mich wirk-
lich so ein?«
Mike stand auf und schlenderte zum Kamin hinüber. »Gewandt-
heit auf dem Tanzparkett und Geschmack für Keramik, Corina,
schließen doch noch lange nicht eine aktivere anderweitige Vergan-
genheit der betreffenden Person aus. Wie wäre es, wenn Sie nun
aufhören würden, mich hinzuhalten, und mir sagten, wie Sie erfah-
ren haben, daß Jo Peters mit dem Yard zusammenarbeitet?«
»Ein Vögelchen hat es mir ins Ohr gesungen. Ich habe sehr viele
Bekannte, das ist ein Vorteil meines Berufs.«
»Hatte dieses Vögelchen auch einen Namen?«
»Selbst wenn ich mich erinnern könnte, wäre ich nicht so naiv,
Ihnen den zu nennen. Zunächst habe ich es selbst nicht geglaubt.
Erst als die Polizei es mir ganz offiziell bestätigte –«
Mike fuhr hoch und unterbrach ihn. »Die Polizei?«
»Ja. Das ergab sich aus einer Lappalie. Ein Klubmitglied hatte ei-
nen Ring verloren. Die Versicherung meldete es Scotland Yard, und
Inspektor Rodgers kam zu den üblichen Routineerhebungen zu
uns.«
»Und ich soll Ihnen nun abnehmen, Inspektor Rodgers hätte
Ihnen frank und frei erzählt, Scotland Yard habe Miß Peters in
Ihren Klub eingeschleust?«
»Sie scheinen nicht zuzuhören, Baxter. So habe ich es nicht ge-
120
sagt. Rodgers war viel zu sehr damit beschäftigt, den diensteifrigen
Untersuchungsbeamten zu spielen. Viel mehr als nur – und das ist
einer seiner Aussprüche – ›dumm aus der Wäsche zu gucken‹ hat er
nicht getan, als ich ihn nach Jo Peters fragte. Polizeibeamte sind
nun einmal schlechte Schauspieler. Immerhin erhielt ich auf diese
Weise die gewünschte Bestätigung für das, was mir vorher das Vö-
gelchen ins Ohr gesungen hatte.«
Beide Männer starrten sich mit unverhohlenem Mißfallen an,
während Mike nach seinem Hut griff und leicht mit den Schultern
zuckte. Die aalglatte Schlagfertigkeit Corinas entsprach seiner
schlangenhaften Beweglichkeit auf dem Tanzparkett. Nur einmal im
Verlauf des Gesprächs hatte Mike das Gefühl gehabt, einen Treffer
gelandet zu haben, und zwar mit seiner Andeutung, er könne auch
dafür sorgen, daß der Klub bös ins Gerede komme. Mike entschloß
sich, noch einen Pfeil abzuschießen.
»Ich habe versucht, mit Ihnen im guten ins reine zu kommen,
Corina. Es geht aber auch auf andere Weise. Wenn Sie mir weiter-
hin Schwierigkeiten bereiten, werde ich dafür sorgen, daß Ihr Klub
in kleine Stücke auseinanderbricht. Die einzigen Gäste, die sich
dann noch bei Ihnen aufhalten werden, dürften Journalisten und
argwöhnische Polizeibeamte sein. Habe ich mich klar ausgedrückt?
Außerdem verspreche ich Ihnen noch etwas: Sollte Jo Peters irgend
etwas passiert sein oder noch zustoßen, dann werden Sie mich mit
einer schweren Eisenstange vor der Leuchtreklame Ihres Hauses
wiederfinden.«
Corina war vor der Intensität der Emotion Mikes zurückgewi-
chen. Mit forschem Bemühen, die Situation wieder in die Hand zu
bekommen, hielt er Mike die Tür auf und verbeugte sich leicht, als
Mike vorbeiging.
»Was auch immer Miß Peters zustoßen sollte«, erklärte er, »das
geht mich überhaupt nichts an. Ich bin an der jungen Dame ein-
fach nicht interessiert.«
121
»Darauf wollte ich auch nicht hinaus, Corina!« fuhr Mike ihn
barsch an. »Sie war an Ihnen interessiert.«
10
er hat es heute fertiggebracht, dir deine gute Laune zu steh-
len?« fragte Linda mit halb ängstlichem, halb scherzendem
Blick. Sie ging an Mikes Seite die Stufen des St.-Matthäus-Kranken-
hauses hinunter. »War Corina zu grob, oder hat Saltoni dich stark
aufgeregt?«
W
W
»Die Antwort ist ein ›ja‹ auf beide Fragen. Corina brachte mein
Blut zum Kochen, weil er arrogant war und mir nichts von Belang
erzählte. Er schien zu glauben, ich sei dafür verantwortlich, daß sein
Klub polizeilich beschattet wurde.«
»Hast du ihn auf Jos Verschwinden angesprochen?«
»Ja. Er tat überrascht und gab sich völlig gleichgültig. Ich glaube
ihm nicht. Hinter seinem Charme verbirgt sich ein harter Kern.«
»Und was war mit Saltoni?« Linda blickte über die Schulter noch
einmal zurück zum Krankenhaus, das sie gerade verlassen hatten.
Sie war zu spät gekommen und hatte Mike nicht mehr ins Zimmer
des Italieners begleiten können.
Mike fluchte. »Dieses kleine Stinktier ist jetzt schweigsam wie ein
Grab.«
»Du willst doch damit nicht etwa sagen, er ziehe seine Aussage
zurück, daß Nadia Tarrant in der fraglichen Nacht bei ihm war?«
»Doch, so ist es leider. Ich bin aber wegen einer ganz anderen
Sache so wütend. Jemand ist bei Saltoni gewesen und hat ihn derart
122
unter Druck gesetzt, daß er nun Angst vor seiner Aussage hat.«
»Er durfte doch gar keine Besucher empfangen. Wie war das mög-
lich?«
»An sich nicht. Außer der Polizei und dem Pflegepersonal hatte
niemand Zutritt zu seinem Zimmer.«
»Auf welche Weise hat man denn mit ihm Kontakt aufgenom-
men?«
Mike und Linda waren inzwischen an ihrem Mietwagen angekom-
men. Während Linda sich ans Lenkrad setzte, fuhr Mike fort: »All-
zu schwierig kann das nicht gewesen sein. Vielleicht war es eine
Warnung, die er telefonisch bekam, oder eine Mitteilung auf ei-
nem Zettel, die unter dem Teller einer Mahlzeit lag. Ebensogut kann
auch ein Krankenwärter oder eine Putzfrau bestochen worden sein.
Es bedurfte ja keiner Gewaltanwendung, sondern der Übermittlung
einer Drohung, daß ihm noch Schlimmeres zustoßen würde als das,
was mit ihm bereits geschehen war, wenn er seine Aussage nicht zu-
rückzöge. Ich war ein kompletter Narr, daß ich an diese Möglich-
keit nicht vorher gedacht habe.«
»Auf diese Tour geht uns nun der einzige Verbündete flöten«, be-
merkte Linda bedrückt. »Dieser gerissene Mr. Bannister ist uns wirk-
lich immer um einen Schritt voraus, sofern er wirklich hinter all
diesen Machenschaften steckt.«
»Zumindest scheint er über jede weitere Entwicklung bestens in-
formiert zu sein.«
Mike zündete sich eine Zigarette an. »Wie bist du übrigens mit
Irene Long zurechtgekommen?«
»Die hat vielleicht eine Schau abgezogen. Niemand ist so beschäf-
tigt wie die arme Irene. Schließlich konnte ich den ganzen Tag wie
ein vergessenes Hündchen hinter ihr durch den Laden laufen. Na-
türlich habe ich ihr ein paar Namen hingeworfen, so die von Stai-
nes und Corina; aber abgesehen davon, daß sie errötete, als ich Vic-
tor Sanders erwähnte, ist sie allem ausgewichen.«
123
»Das paßt haargenau in das Bild, das ich mir von ihr gemacht
habe«, erwiderte Mike. Mit einem Blick auf das Armaturenbrett des
Mietwagens fragte er dann: »Kannst du diese Karre überhaupt fah-
ren?«
»Aber gewiß doch, Sir«, flötete Linda mit einem bezaubernden
Augenaufschlag. »Eine ausgebildete Chauffeuse gehört doch zum
Mietvertrag. Wohin darf ich den Herrn fahren?«
»Bitte zur Tottenham Court Road, Miß.«
Linda wollte gerade anfahren, zögerte dann aber. »Sie, da drüben
geht Rodgers ins Krankenhaus.«
Mike riß die Wagentür auf, sprang heraus und rief dem Inspektor
über den Parkplatz etwas zu.
Rodgers drehte sich um und kam herüber. Er grüßte das Ehepaar
höflich, gab sich aber den Anschein, sehr beschäftigt zu sein.
»Sind Sie bei Saltoni gewesen?« fragte er.
»Ja, knappe fünf Minuten.«
»Wie geht es ihm?«
»Er scheint heute an plötzlichem Gedächtnisschwund zu leiden«,
bemerkte Mike trocken. »Heute kann er sich nicht mehr an das er-
innern, was er uns gegenüber gestern nachmittag ausgesagt hat.«
Rodgers murmelte etwas Unverständliches. »Will er etwa ableug-
nen, was er über die Tarrant gesagt hat?«
»Ja, und zwar hartnäckig.«
»Verdammt noch mal!« entfuhr es dem Inspektor. »Was mag er
für einen Grund haben? Was meinen Sie?«
»Für mich steht fest, daß ihm jemand durch Mordandrohung
eine Todesangst eingejagt hat, daß er jetzt schweigt und Gedächt-
nisschwund vorgibt.«
Rodgers nickte düster. »Ich hatte keine Zeit, ihn früher aufzusu-
chen. Seitdem ich ihn gestern abend hier bewußtlos einlieferte,
habe ich ihn nicht mehr gesehen. Ich hatte aber Anweisung ge-
geben, niemand in sein Zimmer zu lassen.«
124
»Irgendwer ist aber trotzdem zu ihm vorgedrungen. Außerdem
steht sogar ein Telefon in seinem Zimmer.«
»Das Krankenhauspersonal hatte aber strikte Anweisung, keine
Anrufe für ihn entgegenzunehmen oder weiterzuleiten. Telefonisch
kann es also nicht geschehen sein. Er durfte auch keine Briefe oder
sonstige Mitteilungen empfangen. Das wird eine strenge Untersu-
chung nach sich ziehen.« Er tippte an seinen Hut und wandte sich
zum Gehen.
»Gibt es etwas Neues über Jo Peters?« rief Linda ihm nach.
Rodgers drehte sich um. »Leider nein. Der Kriminaldirektor er-
wähnte nur, daß sie sich heute nicht zum Dienst gemeldet habe.
Übrigens, Baxter, wußten Sie, daß das Mädchen zum Yard gehört
und den Klub La Pergola beschattete?«
»Ja, das wußte ich, Inspektor.«
Rodgers zog ein saures Gesicht. »Für mich war es neu. Es wäre
besser, wenn die rechte Hand wüßte, was die linke tut.«
»Jo hat aber nicht den Fall Weldon bearbeitet, Inspektor.«
Rodgers schnaubte verächtlich. »Das ändert auch nicht viel an
der Tatsache, daß nur ich nicht Bescheid wußte.«
Mike und Linda sahen sich fragend an. Die Nachricht über Salto-
ni schien den Inspektor in schlechte Stimmung versetzt zu haben.
Mike hielt dem Inspektor sein Etui hin und bot ihm eine Zi-
garette an. »Sie erwähnten eben, Sie hätten nicht gewußt, daß Jo für
den Yard arbeitet. Hat Charles Corina das nicht kürzlich Ihnen ge-
genüber erwähnt?«
»Corina? Der Nachtklubbesitzer?«
»Ja.«
»Nein. Wozu auch? Oder hat der etwa ebenfalls über die Peters
Bescheid gewußt?«
»Das hat er tatsächlich. Übrigens behauptet Corina, er hätte Sie
gefragt, ob das Mädchen für den Yard arbeite.«
»So, so! Und was soll ich im Laufe dieser Unterhaltung geantwor-
125
tet haben?«
»Sie sollen eine ausweichende Antwort gegeben haben.«
Ein grimmiges Lächeln huschte über das Gesicht des Beamten.
»Ich gehe jede Wette ein, daß sie ausweichend war. Was für eine
Phantasie diese Burschen doch entwickeln.«
Damit war für Rodgers das Gespräch beendet. Er wandte sich um
und ging mit zielstrebigen Schritten auf das Krankenhaus zu.
Linda blickte ihm nach und schauderte beim Anblick seiner brei-
ten Schultern etwas. »Ich bin nur froh, daß ich nicht im Kreuzver-
hör dieses Mannes stehe. Saltoni tut mir jetzt fast leid. Rodgers ist
doch ein ziemlich hartgesottener Kerl, meinst du nicht auch?«
»Gewiß. Aber das bringt sein Beruf nun einmal mit sich. Er
kommt ja dienstlich fast nur mit rauhen und brutalen Typen zu-
sammen. Wie ist es, Miß … würden Sie es sich jetzt angelegen sein
lassen und diesen Luxuswagen in die Tottenham Court Road len-
ken?«
»Gewiß, Sir.« Linda lachte herzhaft und schaltete die Zündung
ein. »Da ich ja nur Chauffeuse bin, wird der Herr ja wohl kaum auf
den Gedanken kommen, mir zu sagen, warum wir dorthin fahren?«
»Zufällig handelt es sich um den Ort, wo Saltoni zum erstenmal
mit Nadia Tarrant zusammentraf.«
»Was ist denn daran so aufregend?«
»Für die Begegnung von zwei Typen wie Saltoni und Nadia ist es
wahrlich ein seltsamer Ort.«
Linda sah ihn verdutzt an. »Das verstehe ich nicht. Sie tauschte
vielleicht gerade ihre letzten Schundromane um und –«
»Es handelt sich nicht um eine Leihbücherei, meine Liebe. Dort
wird überhaupt keine Unterhaltungslektüre geführt, sondern nur
Sachbücher. Soweit ich die Tarrant beurteilen kann, war sie kaum
eine Frau, die eine gute Bibliothek ohne ganz besonderen Grund
aufsuchte. Und den möchte ich gern herausfinden.«
126
Etwas abseits stehend, beobachtete Linda mit sichtlichem Vergnü-
gen, wie Mike in der Bibliothek seinen ganzen Charme ins Feld
führte, um eine ältliche und kühl aussehende Bibliothekarin für
sich zu gewinnen. »Würden Sie wohl so liebenswürdig sein und
mich darüber informieren, wie das Ausleihverfahren hier vor sich
geht? Muß man überhaupt seinen Namen angeben, wenn man ein
Buch entleihen will?«
»Selbstverständlich.«
»Und wie geht es dann weiter?« fragte Mike verbindlich.
»Man schlägt im Katalog nach, entscheidet sich für ein Buch und
schreibt dann den Buchtitel zusammen mit dem eigenen Namen
auf einen Vordruck. Wir nehmen den Zettel und händigen Ihnen
dann das Buch aus. Sie dürfen es allerdings nicht mit nach Hause
nehmen, sondern müssen es hier im Lesesaal lesen.«
»Ach so. Und was geschieht mit den Zetteln?«
»An sich werden sie aufbewahrt.«
»Das ist für mich das Interessanteste«, erklärte Mike. »Wissen Sie,
eine Bekannte – sie ist ziemlich groß, vierzig Jahre alt und hat hell-
rotes Haar – hat hier am 14. April in einem Buch geschmökert. Sie
kann sich nicht mehr an den Titel erinnern, empfiehlt mir aber
dringend, es auch zu lesen. Meinen Sie, es wäre möglich, den Zettel
herauszusuchen und…«
»Ich weiß nicht … es ist etwas ungewöhnlich.«
»Das gebe ich zu«, antwortete Mike. »Ich wäre Ihnen aber zu
Dank verbunden, wenn Sie eine Ausnahme machen könnten.«
»Also gut. Ich werde mal schnell nachsehen«, erwiderte die Biblio-
thekarin.
»Das ist wirklich entgegenkommend von Ihnen.«
»Aber ich bitte Sie! Wenn der Zettel noch da ist, werde ich ihn
auch finden. Wie war der Name Ihrer Bekannten?«
»Miß Tarrant. Miß Nadia Tarrant.«
»Danke, Sir. Wenn Sie inzwischen Platz nehmen wollen…«
127
Während die Bibliothekarin zu den Karteikästen ging, fragte Lin-
da leise: »Warum willst du den Namen des Buches wissen?«
»Ich bin neugierig. Das ist alles.«
»Aber warum? Ich kann nicht einsehen, daß es von Bedeutung
sein kann, zu wissen, was sie gelesen hat. Es war vielleicht nur ekel-
haftes Wetter, und sie kam hier einfach herein, um im Trockenen
zu sein.«
Mike lächelte. »Zufällig war an diesem Tag strahlendes Wetter.«
Linda starrte ihn ungläubig an. »Du willst mir doch nicht etwa
einreden, du wüßtest noch genau, was für Wetter an jedem Tag im
April gewesen ist?«
»Das war gar nicht notwendig. Ich habe Saltoni danach gefragt,
der sich gut erinnerte, weil es sein Geburtstag war. Und das war es
ja auch, was mein Gehirn zu einiger Denkarbeit anregte.«
Die Bibliothekarin kehrte zurück und strahlte Mike schon von
weitem an. Er beeilte sich, zu ihr an den Schalter zu kommen.
»Sie haben Glück«, sagte sie. »Der Zettel ist da. Am 14. April hat
Nadia Tarrant zwei Bücher verlangt. Das eine war Lehrbuch der Foto-
grafie,
ein bekanntes Fachbuch über das Fotografieren; das zweite
war die Enzyklopädie der Sozialwissenschaften. Vielleicht haben Sie von
diesem Buch gehört?«
»Ist es das Werk, das Sir Ronald Bakerton herausgegeben hat?«
»Ja, das ist es. Das Buch ist erst vor kurzem erschienen.«
»Könnte ich mir beide Bände einmal ansehen?«
Die Bibliothekarin machte ein unglückliches Gesicht. »Ich dachte
mir schon, daß Sie danach fragen würden, und habe eben nachge-
sehen. Leider befinden sich beide Bände im Augenblick bei unserer
Zweigstelle in Edgware.«
»Ah, das macht nichts. Heute ist meine Zeit ohnehin knapp be-
messen; ich werde an einem anderen Tage vorbeikommen. Sie ha-
ben mir sehr geholfen.«
»Aber das war doch selbstverständlich, Sir.«
128
»Hat uns das nun einen Schritt weitergebracht, Liebling?« fragte
Linda auf dem Heimweg.
»Ich glaube schon. Die Bedeutung eines Fachbuches über Foto-
grafie wird dir sicher nicht entgangen sein.«
»Du zielst auf Sanders? Vielleicht ist es ein reiner Zufall, daß er
ein eifriger Amateurfotograf ist.«
»Mag sein.«
»Und was soll das andere Buch – über Sozialwissenschaften?«
»Darüber werde ich mir eine Meinung bilden, wenn ich Gelegen-
heit gehabt habe, es mir anzusehen. Nach Hause, Johann! Und
schonen Sie die Pferde nicht!«
»Warum halten wir nicht einfach an der nächsten Buchhand-
lung?«
»Beide Bücher sind wahrscheinlich dicke und teure Wälzer, die
ein Händler nicht so ohne weiteres am Lager hat. Außerdem ist es
schon zu spät, Darling. Es ist schon nach sechs Uhr. Nein, wir kön-
nen Zeit sparen, wenn wir morgen früh telefonieren. Ich werde mir
die Bücher durch Boten zustellen lassen.«
Linda und Mike waren kaum zu Hause angelangt, als das Telefon
läutete. Es war Kriminaldirektor Goldway.
»Ich versuche schon seit einer halben Stunde, dich zu erreichen…
Du brauchst dich nicht zu entschuldigen … es ist etwas Wichtiges
passiert. Wir haben Jo aufgegriffen.«
»Aufgegriffen? Wie soll ich das verstehen? – Wo? Und wie geht es
ihr?«
»Sie ist etwas zusammengestaucht, lebt aber und wird bald wieder
quicklebendig sein. Wir fanden sie heute nachmittag in der Nähe
ihrer Wohnung, wo sie in einem Rauschzustand ziellos umherwan-
derte. Wir haben sie zunächst mal ins Bett gesteckt.«
»In einem Rauschzustand? Wie meinst du das?«
»Die Kerle haben sie mit dieser verdammten ›Wahrheitsdroge‹
vollgepumpt.«
129
»Weiß sie, wer es getan hat?«
»Sie ist ziemlich sicher, wer dahintersteckt; aber im Augenblick
kann man nichts unternehmen. Kannst du hierherkommen? Es wä-
re besser, wenn wir die Einzelheiten persönlich besprechen könn-
ten. Vielleicht kannst du dann später, wenn Jo etwas geschlafen hat,
noch mit ihr reden. Und dann sage bitte Linda, sie möchte sich in
ihren besten Staat werfen. Ihr beide habt heute abend Dienst auf
dem Tanzparkett.«
»Etwa wieder in dem Klub von Corina, John? Du weißt doch, wir
sind keine Mitglieder.«
»Mach dir deswegen keine Sorgen, Mike. Das ist schon arran-
giert.«
Als sie am Abend zum Klub La Pergola fuhren, berichtete Mike sei-
ner Frau ausführlich über sein Gespräch mit Goldway.
»Es gibt also wirklich einen Mr. Bannister? Dann hat Saltoni nicht
gelogen?« fragte Linda.
»Ja, ein Bannister existiert. Wir wissen nur noch nicht, wie er aus-
sieht. Irgend so ein Schurke warf Jo Peters einen Sack über den
Kopf und verstaute sie wie ein Bündel in einem Wagen. Das muß
wenige Minuten nach unserer Verabschiedung gestern nacht gewe-
sen sein. Jo meint, es seien mindestens drei oder vier Kerle gewesen.
Das Interessante ist, daß einer von ihnen ihr im Wagen die Pistole
in die Rippen drückte und sie auszufragen begann. Der Kerl am
Lenkrad schrie ihm daraufhin zu, er solle damit aufhören, und sag-
te dann: ›Mr. Bannister wird die Fragen steilen.‹ Jo glaubt nicht,
daß den anderen die Preisgabe des Namens aufgefallen ist.«
»Und wohin hat man Jo gebracht?«
»Das weiß sie nicht, aber ziemlich weit aus der Stadt, falls die
Burschen nicht im Kreis gefahren sind, um sie zu verwirren. Sie
glaubt, daß es sich um ein einsames Landhaus handelt. Jo spürte
Laub und Kies unter den Schuhsohlen und hörte von weither einen
130
Hund bellen. Sie ist ausgebildet, auf solche Dinge zu achten. Dann
wurde sie in ein großes Zimmer geführt und vor eine grelle Lampe
gesetzt. Die Fragen stellte ihr ein Mann, der eine Nylonmaske trug;
er war aber nicht der Chef. Im dunklen Hintergrund des Zimmers
saß jemand, der ständig konsultiert wurde. Er sprach sehr leise, und
Jo konnte nicht verstehen, was er sagte; sie glaubt aber aufgrund
der Stimme und eines Anflugs von Akzent sagen zu können, daß es
ein Ausländer war.«
»Corina!«
»Möglich. Zu ihm würde auch das Thema des Verhörs passen.
Immer wieder drang man mit der Frage auf sie ein, warum sie den
Klub La Pergola beschattet habe. Sie stellte sich so dumm, wie es
ging. Das haben die Kerle natürlich nicht geschluckt. Dann ver-
suchten sie herauszufinden, ob sie wisse, wer Bannister ist, und ob
sie auch Spuren im Fall Harold Weldon nachgegangen sei. Das hat
sie glatt abgestritten. Die Burschen gerieten daraufhin in Wut und
wurden etwas handgreiflich.«
»Das ist ja fürchterlich. Dann hatte ich doch die richtige Ahnung,
als ich mir gestern nacht um sie Sorgen machte.«
»Als die Halunken merkten, daß sie auf die grobe Tour nichts bei
ihr erreichten, verpaßten sie ihr ein paar Spritzen mit der ›Wahr-
heitsdroge‹. Unter deren Wirkung hat sie dann ausgepackt, daß sie
für das Rauschgiftdezernat in Washington arbeite und Kriminaldi-
rektor Goldway bei seiner Untersuchung des verbotenen Rausch-
gifthandels assistiere. Jo hatte den Eindruck, daß diese Enthüllun-
gen bei den Gaunern nicht die geringste Unruhe hervorriefen. De-
ren Hauptinteresse bestand offensichtlich darin, zu erfahren, ob sie
wisse, wer Bannister ist. Es scheint durchaus möglich, daß die Ban-
de überhaupt nichts mit Rauschgift zu tun hat.«
»Und wissen wir jetzt, warum sie uns einen der Schuhe von Jo
schickten?«
»Entweder um uns einen Schreck einzujagen, oder um uns vorzu-
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machen, es bestehe ein Zusammenhang mit dem Fall Weldon. Das
mag sich widerspruchsvoll anhören, aber es kann nur so oder so
sein.«
»Du hast Jo selbst noch gar nicht gesprochen?«
»Nein, sie soll noch immer ziemlich benommen sein.«
»Was hält denn Inspektor Rodgers von der Sache?«
»Weiß ich nicht. Er war nicht anwesend, als ich mit John sprach.
Der Kriminaldirektor wird ihn inzwischen sicherlich informiert ha-
ben. Ich nehme an, Rodgers wird heute abend auch in dem Klub
sein.«
»Und warum verhaftet die Polizei nicht einfach diesen Corina?«
»Weil sie noch keine hieb- und stichfesten Beweise hat. Jo glaubt
zwar, es sei Corina gewesen, der ihre Vernehmung durch einen Mit-
telsmann geleitet hat, doch ist das nicht sicher. Und vergiß bitte
nicht, daß erst noch bewiesen werden muß, daß Bannister und Co-
rina ein und dieselbe Person sind. Deswegen rücken wir jetzt dem
Klub so hart auf die Pelle. Die Polizei hofft, daß sie Corina so viel
Angst und Unsicherheit einjagen kann, daß er sich zu einer unvor-
sichtigen Handlung hinreißen läßt.«
Linda verringerte die Geschwindigkeit, als der Wagen die Außen-
bezirke von Hampstead erreichte. »Und meine Rolle? Ich soll wohl
viel- oder nichtssagende Andeutungen über deine Freunde in der
Fleet Street fallenlassen?«
»Ja. Meiner Ansicht nach ist das das einzige, womit man Corina
aus dem Gleichgewicht bringen kann.«
Der Abend ließ sich nicht gerade erfolgversprechend an. Nachdem
sie fast eine Stunde am Tisch gesessen hatten, ohne daß Corina
sich sehen ließ, wurde Mike ungeduldig.
»Ich glaube, wir sehen uns mal etwas hinter der Bühne um.«
Linda schüttelte zweifelnd den Kopf. »Das ist mir heute hier alles
viel zu ruhig«, meinte sie.
132
Mike trank sein Glas aus. »Wahrscheinlich hat man Corina ver-
ständigt, daß wir hier sind, und er läßt sich nun einfach nicht bli-
cken.«
»Denk bitte an die vier oder fünf Gorillas, die er als Leibwache
hat. Du würdest niemals in sein Büro hineinkommen – oder aber
nicht mehr heraus.«
»Das werden wir gleich sehen, Darling«, sagte Mike und war im
Begriff, sich zu erheben.
»Moment mal. Da kommt Inspektor Rodgers. Er wird schließlich
für die grobe Arbeit bezahlt; überlaß das lieber ihm.«
Der Inspektor hatte sie sofort entdeckt und bahnte sich auf nicht
gerade höfliche Weise einen Weg zu ihnen durch die Tanzpaare.
»Er macht einen recht zufriedenen Eindruck, meinst du nicht
auch?« fragte Linda.
»Er hat sicher einen guten Grund dafür. Guten Abend, Inspektor.
Gefällt es Ihnen hier?«
Rodgers blickte sich verächtlich um. »Nur meine Berufspflicht
kann mich in ein Lokal dieser Art bringen.«
»Die Hauptattraktion des Klubs scheint sich heute einen freien
Abend zu machen.«
»Meinen Sie Corina? Der ist in seinem Büro. Ich habe ihn gerade
besucht.« Rodgers zwinkerte mit den Augen. »Er scheint sich heute
nicht sehr wohl in seiner Haut zu fühlen.«
»Hatten Sie eine Auseinandersetzung?«
Rodgers verzog den Mund. »Sagen wir, er hat sich mit dem Fuß
im Teppich verfangen und ist dabei ungeschickt gestolpert.«
»Man kann eben kein Omelett backen, ohne vorher Eier zu zer-
schlagen«, erwiderte Mike.
»Dieser aalglatte Bursche ist natürlich mit allen Wassern gewa-
schen«, fuhr der Inspektor fort. »Er hat nicht einmal zu verbergen
versucht, daß er um Miß Peters' Entführung wußte.«
»Das hat er von mir erfahren«, sagte Mike.
133
Rodgers strich sich mit der flachen Hand über den Bürstenhaar-
schnitt. »Sie haben ihm das erzählt? Wann?«
»Heute nachmittag. Wir führten ein kurzes Gespräch in seiner Lu-
xuswohnung in der South Audley Street«, antwortete Mike.
»Weiß er, daß Jo wieder da ist?« fragte Linda.
»Ja, ich habe es ihm mitgeteilt.«
»Und wie hat er die Nachricht aufgenommen?«
»Er zeigte sich nicht gerade überrascht. Corina überlasse ich jetzt
Ihnen. Ich bin mit ihm vorerst fertig und muß gleich weg.« Schon
im Gehen, fügte Rodgers noch hinzu: »Übrigens sitzen zwei Be-
kannte von Ihnen drüben in der Cocktailbar.«
»Interessant. Und wer?«
»Sanders und Miß Long. Sie scheinen einen Streit miteinander
auszufechten. Und die Dame hat offenbar etwas zuviel intus.«
»Haben Sie mit den beiden gesprochen?«
»Nein. Vor zehn Minuten ging ich an ihnen vorbei. Sie haben
mich nicht bemerkt.«
»Haben Sie etwas bei Saltoni erreicht, Inspektor?«
»Bis jetzt nicht. Aber das war nicht meine letzte Unterredung mit
ihm. Entschuldigen Sie mich jetzt bitte.«
Linda leerte ihr Glas und fragte: »Darf ich um diesen Tanz bitten,
Mr. Baxter?«
Mike lachte verschmitzt und führte sie zur Tanzfläche. »Bist du
überhaupt nicht neugierig, was sich in der Bar tut?«
»Eigentlich schon; der Abend war bisher recht langweilig.«
Da das eine Ende der Tanzfläche an die Bar grenzte, konnten die
Baxters, indem sie etwas länger auf der Stelle tanzten, Irene Long
und den Oberst eine Weile beobachten, ohne selbst gesehen zu wer-
den.
»Der Inspektor hat vermutlich recht«, flüsterte Mike seiner Frau
ins Ohr. »Irene hat zuviel getrunken.«
»Sie scheint schlechte Laune zu bekommen, wenn sie betrunken
134
ist. Und der Oberst möchte sie offensichtlich gern abwimmeln.«
»Diese Absicht dürfte er schon länger haben. Sanders ist mir nicht
gerade der Typ, der gern heiratet. Und bei Irene Long habe ich den
Eindruck von Torschlußpanik. Hör dir nur ihre Stimme an.«
Irene Long hatte ihr Glas auf den Tisch geknallt, und ihr streitba-
res Organ übertönte sogar die Musik, »…verdammt noch mal, wenn
ich schon nicht mit Charles tanzen kann, dann bestell mir wenig-
stens etwas zu trinken.«
»Irene! Reiß dich doch zusammen!« dröhnte die Stimme von San-
ders gerade in dem Augenblick, als die Musik zu spielen aufhörte.
Sanders sah sich im gleichen Moment unbehaglich um und erblick-
te die Baxters. Sein scharf geschnittenes Gesicht ließ Verlegenheit
erkennen.
Mike und Linda traten an die Bar und begrüßten die beiden
Kampfhähne.
»Diese Höhle ist heute abend stinklangweilig!« sagte Irene Long
herausfordernd.
Sanders schluckte nervös und versuchte, das drückende Schwei-
gen zu überbrücken, weil die anderen Gäste neugierig auf sie starr-
ten. »Irene ist ein wenig aufgebracht, weil Corina nicht hier ist. Sie
zieht seine Art zu tanzen der meinen vor.« Sein Lachen klang ge-
zwungen.
»Victor, Liebling«, fuhr Irene mit ungedämpfter Stimme in ihrem
Lamento fort, »du tanzt ja gar nicht, sondern marschierst von einer
Ecke zur anderen, wie auf dem Kasernenhof. Zum Teufel, wo bleibt
der Gin, den ich bestellt habe?«
»Mr. Corina wird sicher später noch aufkreuzen«, meinte Linda
beschwichtigend.
»Später?« rief Irene Long um mindestens eine Oktave zu hoch.
»Wieviel später kann es denn noch werden? Es ist schon fast Mitter-
nacht, und er hätte schon vor etlichen Stunden hier sein sollen.
Wenn Charles nicht mehr mit seinen Gästen tanzen will, dann soll
135
er den Laden lieber gleich zumachen.«
»Schade, daß Mr. Corina nicht da ist«, warf Linda ein. »Ich hatte
mich ebenfalls auf einen Tanz mit ihm gefreut. Miß Long, wollen
Sie es mal mit meinem Mann versuchen? Der hat Fred Astaire über-
haupt erst das Tanzen beigebracht.«
»Nun übertreibe nicht so stark, Darling«, protestierte Mike la-
chend, fing aber den ihm zugespielten Ball auf. »So alt bin ich denn
doch noch nicht. Wenn es Miß Long mit mir mal versuchen will,
bin ich gern bereit, das Risiko einzugehen.«
Irene Long schoß ihm unter ihren künstlich verlängerten Augen-
wimpern einen Blick zu, der verführerisch sein sollte. Der von ihr
gewünschte Effekt ging aber teilweise dadurch verloren, daß sich
ihre Augen nicht mehr auf ein Ziel zu konzentrieren vermochten.
»Sie führen mich in Versuchung, Mrs. Baxter. Ihr Gatte ist eine sehr
attraktive Erscheinung. Da ich aber schon zu Victor nein gesagt ha-
be –«
Der Oberst erfaßte augenblicklich die günstige Gelegenheit.
»Schon gut, altes Mädchen. Tanze nur. Meine alten Knochen ha-
ben für heute abend sowieso schon genug geleistet.«
Mike verbeugte sich galant und reichte Irene seinen Arm. Sie
nahm ihn mit großer Pose an. Schon eine Sekunde später war sie
froh, daß er sie vor dem Stolpern bewahrte. Mike steuerte sie vor-
sichtig zwischen Tischen und Stühlen hindurch zur Tanzfläche. Sie
kamen nicht recht in Schwung; Irene schien mit allen Körperreak-
tionen um einen halben Takt nachzuhinken. Nach und nach wurde
sie langsam besser, und am Ende des ersten Tanzes waren ihre ge-
meinsamen Bewegungen einigermaßen rhythmisch.
Als die Musik wieder einsetzte, fragte Mike sie: »Wollen wir es
noch einmal wagen?«
Sie stimmte eifrig zu. Glücklicherweise war jetzt ein Cha-Cha-Cha
an der Reihe, einer der wenigen Tänze, die Mike wirklich beherrsch-
te und Irene Long auch.
136
Am Ende dieses Tanzes stieß sie einen langen Seufzer der Befrie-
digung aus. »Ihre Gattin hat wirklich nicht übertrieben, Mr. Bax-
ter«, lobte sie Mike, völlig außer Atem.
»Sie sind aber auch nicht gerade eine Anfängerin, Miß Long«, gab
Mike das Kompliment zurück.
Erst nach dem vierten Tanz begann Miß Long, die während des
Tanzens kaum sprach, doch etwas mit Mike zu reden. Er hörte auf-
merksam zu und ermunterte sie zum Weitersprechen. Als es für ihn
gerade interessant zu werden begann, setzte die Musik aus, und es
wurde eine Bühneneinlage angekündigt. Enttäuscht geleitete Mike
Irene Long, deren Augen übermäßig glänzten, zur Bar zurück, wo
Sanders schon ungeduldig auf sie wartete.
»Ich dachte schon, ihr wolltet die ganze Nacht durchtanzen«,
bellte er. »Komm, Irene, wir müssen gehen.«
Er ergriff ihren Arm und führte sie ungeachtet ihrer Proteste aus
der Bar.
Bevor sie dem Blickfeld entschwand, drehte Miß Long sich noch
einmal um, winkte Mike spielerisch mit einer schlaffen Hand zu
und schenkte ihm ein begehrendes Lächeln.
»Huh!« platzte Linda heraus. Offenbar mußte sie sich sehr beherr-
schen, um nicht laut aufzulachen und den Anschein zu erwecken,
eifersüchtig zu sein. »Ich hoffe doch, daß dieser Schaustellung ein
lobenswertes Motiv zugrunde lag.«
Mike wischte sich die Schweißperlen von der Stirn und grinste er-
schöpft. »Du meine Güte! Schon lange habe ich nicht so hart arbei-
ten müssen. Aber es war die Strapazen wert. Endlich hat sich ihre
Zunge gelöst.«
»Ich will ja nicht in deine Intimsphäre eindringen; aber was hat
sie denn nun wirklich preisgegeben?«
»Zweierlei war interessant: Das eine lieferte mir eine endgültige
Bestätigung, während mich das andere verblüfft und mir Rätsel auf-
gibt. Bestätigt ist, daß Staines sie wirklich nicht besucht hat. Ich
137
bin jetzt sicher, daß sie damals die Wahrheit sagte. Glücklicherweise
kam sie von selbst auf dieses Thema, so daß sie nicht argwöhnen
kann, ich wollte sie aushorchen.«
»Hat sie etwas über Nadia Tarrant gesagt?«
»Nein. Aber nun zu dem, was mich verblüfft. Sie ließ mir eine
mysteriöse Warnung zukommen.«
»Was für eine Warnung?«
»Sie sagte wörtlich: ›Was auch immer geschieht, fahren Sie nicht
nach Reading.‹«
»Kennen wir jemand in Reading?«
»Keine Seele. Ich werde es mir aber für alle Fälle merken. Ich ver-
suchte, etwas mehr aus ihr herauszuholen. Sie wiederholte aber nur
diese Worte und äußerte sich dann nicht mehr dazu.«
Mike bestellte bei dem rothaarigen Barmixer neue Getränke und
fragte Linda: »Und wie bist du in meiner Abwesenheit mit Sanders
zurechtgekommen?«
»Das ist wohl der langweiligste und eingebildetste Esel, der mir je
über den Weg gelaufen ist. Von Konversation versteht der nicht
mehr als ein steinerner Buddha.«
»Laß dem armen Trottel Gerechtigkeit widerfahren – sicher war er
nur verstimmt, weil seine Freundin sich hat vollaufen lassen.«
»Mag sein. Die einzige Abwechslung war ein kurzer Blick, den wir
beide auf Corina werfen konnten.«
»Corina? War er hier im Lokal?«
»Er steckte nur ganz kurz seinen Kopf durch die Hintertür, um
diesem rothaarigen Prachtstück von Barkeeper dort einige Anwei-
sungen zu geben. Er legte offensichtlich keinen Wert darauf, daß
ihn jemand bemerkte.«
»Schade, daß ich ihn nicht gesehen habe. Wir wollen mal schnell
unsere Mäntel holen. Einen Besuch müssen wir noch machen.«
»Was? Zu dieser nachtschlafenden Zeit? Wohin soll's denn ge-
hen?«
138
»Zum Reigate House, Chelsea.«
Linda machte große Augen und lachte. »Lieber Schatz, wenn du
eine galante Verabredung mit deiner neuen Freundin hast, sollte ich
lieber zu Hause bleiben.«
Mike legte seinen Arm um ihre Taille. »Ich nehme dich ja als An-
standsdame mit, Darling.«
11
ike drückte auf den Klingelknopf von Reigate House. Den ge-
dämpften Flüchen des Hausmeisters nach zu urteilen, kam
ihm diese Störung höchst ungelegen, und er gab auch nur ein kurz
angebundenes »Ja?« von sich.
M
M
»Sind Sie der Hausmeister?« fragte Mike mit betonter Höflichkeit.
»Bin ich. Dan Appleby ist mein Name.«
»Prächtig. Da haben wir ja Glück.«
Mike strahlte Linda an, die ebenso freundlich nickte und dann
dem brummigen Hauswart ein Lächeln schenkte, das Butter im
Kühlschrank zum Schmelzen gebracht hätte. Selbst Dan Applebys
frostiger Blick schien etwas aufzutauen.
Appleby sah nun seine beiden Besucher prüfend an und fragte:
»Was wollen Sie?«
Mike hatte die Rangabzeichen auf der verblichenen und zerschlis-
senen Khakijacke bemerkt, die der Mann trug. »Oh, ich sehe, Sie
haben in der Wüste gekämpft.«
»Ja, Sir. Achte Armee«, antwortete der Mann stolz.
Mike nickte bewundernd.
139
Der Hauswart öffnete die Tür zu seinem kleinen Aufenthaltsraum
und bat das Ehepaar herein. Während Linda auf einem wackligen
Lehnstuhl Platz nahm, ermunterte Mike den Mann, erst noch ein
Weilchen über den Krieg in der Wüste zu plaudern, bevor er die
Unterhaltung auf den eigentlichen Zweck seines Besuches lenkte.
»Und jetzt muß ich Ihnen endlich erklären, warum wir Sie noch
zu so später Stunde gestört haben, Mr. Appleby. Ich wäre Ihnen
sehr verbunden, wenn Sie die ganze Sache streng vertraulich behan-
deln würden, da ich einige Auskünfte über einen Ihrer Mieter be-
nötige.«
Die Haltung des Hausmeisters, die während der Schilderung sei-
ner Kriegserlebnisse merklich lockerer geworden war, versteifte sich
wieder. Argwöhnisch fragte er: »Arbeiten Sie etwa für die Polente?«
»Die Polizei? Um Himmels willen, nein! Es handelt sich um eine
private Auskunft, allerdings von intimer Natur. Sie verstehen…«
Mr. Appleby nickte und warf Linda einen wissenden Blick zu, als
er fragte: »Also – um wen handelt es sich?«
»Gerade das ist die Schwierigkeit. Ich bin nicht sicher, welchen
Namen der Herr hier angegeben hat. Aber vielleicht können Sie
mir sagen, wer in der Wohnung neben Miß Long und wer darüber
und darunter wohnt?«
Appleby überlegte einen Augenblick und antwortete dann. »Un-
ter Miß Long wohnt niemand, und das Appartement nebenan ist
im Augenblick nicht vermietet. Die Leute darüber sind Dänen und
heißen Carvreed.«
Das war nicht die Antwort, die Mike erhofft hatte; stirnrunzelnd
fragte er: »Wie sehen die Carvreeds etwa aus?«
»Jung und blond; beide ziemlich groß und schlank. Sehr nette
Leute übrigens. Im Augenblick sind sie nach Dänemark in Urlaub
gefahren.«
»Und diese Wohnung der Dänen steht inzwischen leer?«
»Nein, die ist untervermietet; an einen Mister Williams.«
140
Mikes Interesse stieg wieder. »Wie sieht denn dieser Herr aus?«
Als Dan Appleby seinen beiden Besuchern eine recht genaue Be-
schreibung des älteren, leicht hinkenden und grauhaarigen Mr. Wil-
liams gab, der nur Hector Staines sein konnte, machte Linda ein
verblüfftes Gesicht, während Mike ohne jedes Zeichen der Überra-
schung nickte.
»Ist das der Mann, hinter dem Sie her sind?« fragte Appleby mit
neugierigem Blick.
Mike ging auf die Frage nicht ein. »Könnten Sie mir etwas Inte-
ressantes über diesen Mr. Williams sagen? Über seine Gewohnhei-
ten; was er so treibt; wann er kommt; womit er sein Geld verdient
und ob er Besucher hat?«
Appleby konnte nur wenig berichten. Der neue Mieter schien
sich nur wenige Stunden in der Woche im Appartement aufzuhal-
ten und dann meistens abends. Er war ruhig und hatte gute Manie-
ren. Dem Hausmeister war sein Verhalten jedoch etwas seltsam vor-
gekommen.
Als Appleby seinen Bericht beendet hatte, zog Mike diskret einen
Geldschein aus seiner Brieftasche und schob ihn unter den Aschen-
becher auf dem Tisch.
»Sie waren mir eine wertvolle Hilfe, Mr. Appleby«, sagte Mike,
während er sich aus dem Lehnstuhl erhob. »Mein Klient ist ein
großzügiger Mann und wird für diese Informationen sehr dankbar
sein.«
Applebys Interesse belebte sich schnell, als er die Banknote er-
blickte. »Kann ich noch etwas für Sie tun, Sir?«
»An sich schon; aber ich wage kaum, Ihnen noch weitere Um-
stände zu machen…«
»Von Umständen kann überhaupt keine Rede sein, Sir.«
»Ob es wohl möglich wäre, daß ich mir eine der Wohnungen mal
ansehe? Wenn Sie nicht die notwendige Vollmacht haben sollten,
kann ich mich immer noch an –«
141
»Von Vollmachten verstehe ich nichts; aber ich habe einen Haupt-
schlüssel.« Wieder zwinkerte er Linda verständnisvoll zu. »Haben
Sie an dem Appartement von Mr. Williams ein besonderes Interes-
se?«
»Ja, das wäre ganz nützlich.«
»Mike, ich verstehe das alles nicht«, flüsterte Linda, als der schwer-
fällige Hauswart davonschlurfte, um den Schlüssel zu holen. »Was
soll dein Gerede von einem Klienten? Und warum wollen wir uns
überhaupt das Appartement von Staines ansehen?«
»Aber Darling – hast du es nicht mitbekommen? Unser neuer
Freund nimmt an, ich sammle Material für einen Scheidungspro-
zeß. Lassen wir ihn bei diesem Glauben. Und was das Appartement
von Staines betrifft, da bin ich wirklich neugierig.«
Den Schlüssel in der Hand, kam Appleby zurückgeschlurft und
pfiff leise die Melodie eines alten Volksliedes vor sich hin. Man hat-
te den Eindruck, als mache ihm die mitternächtliche Nachfor-
schung von Mike einen Mordsspaß.
Er fuhr mit ihnen im Lift zum vierten Stock und ließ sie in das
von Staines gemietete Appartement ein. Hier empfing sie die muf-
fige, unpersönliche Atmosphäre eines unbewohnten Raumes. Die
wenigen persönlichen Habseligkeiten darin waren nicht gerade in
sauberem Zustand.
Hinter einem schweren Sofa, das an der Wand gegenüber dem
Kamin stand, fand Mike, was er suchte.
»Welches Zimmer von Miß Long liegt hier direkt darunter?«
wandte er sich fragend an Appleby.
»Das Wohnzimmer – genau wie hier.«
Mike brummte etwas und wuchtete das schwere Sofa von der
Wand weg. Dabei kam ein quadratischer Metallgegenstand von der
Größe einer Kofferschreibmaschine zum Vorschein. Mike betätigte
das Federschloß und ließ den Metalldeckel aufklappen. Der Haus-
meister sah ihm über die Schulter zu.
142
»Teufel noch mal, ich weiß, was das für ein Ding ist«, rief der
Hauswart aus. »Das ist so ein Abhörgerät, wie wir es in die Gefan-
genenlager einbauten, um zu hören, was die Fritzen sich zu erzäh-
len hatten.«
»Da haben Sie vollkommen recht, Mr. Appleby«, antwortete
Mike, der ein Paar Kopfhörer herausnahm und die Aufschriften auf
dem Gerät studierte. »Kein Wunder, daß Mr. Williams dieses Ap-
partement nur in den Abendstunden besucht. Das dürfte die ein-
zige Zeit sein, zu der im Stockwerk darunter eine Unterhaltung
stattfinden wird, der man zuhören will.«
»Du meine Güte, auf welche Tricks die Leute doch heute so ver-
fallen. In der guten alten Zeit war das Leben doch viel einfacher.
Hoffentlich hört meine Frau nichts davon; das würde ihr nur Flau-
sen in den Kopf setzen.«
Mike warf Linda einen schnellen Blick zu. Es gelang ihr, ernst zu
bleiben. »Sie haben recht, Mr. Appleby. Man kann nicht vorsichtig
genug sein.«
»Jetzt weiß ich auch, warum der alte Lustmolch keine Putzfrau in
der Wohnung haben wollte. Er bestand darauf, alles selber zu ma-
chen. Dafür hat er mir allerdings jede Woche einen Schein in die
Hand gedrückt, um ganz sicher zu gehen.«
Mike stellte das Abhörgerät wieder sorgsam auf den alten Platz
und schob das Sofa zurück an die Wand.
»Wollen Sie denn nicht die Drähte herausreißen?«
»Nein. Mein Klient würde nicht wollen, daß Mr. Williams erfährt,
daß wir auf seine Lauschertätigkeit gestoßen sind. Vorläufig wollen
wir ihm noch das Vergnügen lassen. Dabei verlasse ich mich ganz
auf Sie, Mr. Appleby.« Mike zückte erneut seine Brieftasche und
entnahm ihr eine Pfundnote. »Als ein Mann von Welt, der die Be-
deutung der Worte ›Takt‹ und ›Diskretion‹ kennt, werden Sie sicher
nichts von unserem kurzen Besuch hier verlauten lassen.«
Die schwielige Pranke des Hauswarts umschloß mit geübtem Griff
143
den Geldschein, während er breitlächelnd antwortete: »Sie können
sich auf mich verlassen, Sir.«
Von unten her erklang das Geräusch einer laut ins Schloß fallen-
den Tür, gefolgt von Schritten in Irene Longs Wohnzimmer. Alle
drei waren sofort alarmiert.
Wie ein Souffleur auf der Bühne flüsterte Appleby: »Das ist Miß
Long. Dem Geräusch nach sind es die Schritte einer Frau.«
Mike lächelte. »Sie hätten Detektiv werden sollen.«
»Die hat aber lange gebraucht, um dem Obersten gute Nacht zu
sagen«, murmelte Linda.
Appleby führte sie wieder aus der Wohnung, während Mike leise
zu Linda sagte: »Um so besser für uns. Hoffentlich ist sie inzwi-
schen wieder nüchtern geworden.«
Linda sah ihn überrascht an und blickte dann auf die Uhr. »Willst
du etwa jetzt noch zu ihr?«
»Ich könnte mir wenige Gelegenheiten vorstellen, die günstiger
wären«, antwortete Mike entschlossen.
Der Mike Baxter, der Irene Long jetzt gegenüberstand, hatte kaum
noch Ähnlichkeit mit dem Charmeur, der eine Stunde zuvor mit
ihr im Klub La Pergola getanzt hatte. Erschrocken stand sie an der
offenen Tür und forderte die beiden nicht auf, hereinzukommen.
Mike schob einfach die Tür weiter auf und marschierte, obwohl sie
protestierte, an ihr vorbei in die Wohnung.
»Aber, Mr. Baxter«, versuchte sie sein Vordringen zu stoppen, »es
ist sehr spät, und für heute abend habe ich mehr als genug.«
»Der Abend ist noch nicht vorbei, Miß Long. Setzen Sie sich.«
»Das ist unerhört! Ich bin müde und habe Kopfschmerzen. Vic-
tor hat mir mehr zu trinken gegeben, als für mich gut war.«
»Unsinn! Nicht Sanders ist der Anlaß für Ihr übermäßiges Trin-
ken, Miß Long. Ihr Gewissen ist es, oder auch die nackte Angst! Im
Augenblick sind Sie nüchtern wie ein Richter im Ornat, obwohl
144
Sie morgen sicher einen bösen Kater haben werden. Jetzt möchte
ich zunächst mal eine Erklärung dafür, was die Warnung bedeuten
soll, die Sie mir beim Tanzen gegeben haben. Was hat es zu bedeu-
ten, daß ich nicht nach Reading fahren soll?«
Irene Long sank verängstigt in einen Stuhl. Sie fuhr sich mit der
Zungenspitze über die Lippen. »Ich weiß es wirklich nicht. Wahr-
scheinlich habe ich in dem angesäuselten Zustand nur so daherge-
redet. Ich habe wirklich nichts Besonderes damit gemeint.«
»Hören Sie auf, solchen Quatsch zu reden! Ich werde jetzt die
Wahrheit aus Ihnen herausholen, und wenn ich den Rest der Nacht
hier sitzen muß.«
»Dann rufe ich die Polizei!« begehrte sie auf, aber ohne große
Überzeugungskraft.
»Das bezweifle ich stark. Mit der Polizei möchten Sie doch wohl
am allerwenigsten zu tun haben.«
»Bitte, Mr. Baxter, glauben Sie mir doch!« Tränen traten ihr in
die
Augen, und nun sah sie so alt aus, wie sie wirklich war. Nichts war
mehr von der feschen und tüchtigen Direktrice aus der Bond Street
zu sehen. Vor den Baxters stand eine verängstigte und reichlich ver-
blühte Blondine mittleren Alters. Linda empfand schmerzliches
Mitleid mit ihr, doch Mike blieb hart.
»Sparen Sie sich diese rührselige Tour, dafür ist es jetzt zu spät –
in jeder Hinsicht.« Er setzte sich der weinenden Frau gegenüber und
sah ihr voll ins Gesicht. »In weniger als einer Woche wird man Ha-
rold Weldon wegen Mordes an Lucy Staines zum Galgen führen.
Diesen Mord hat er nicht begangen. Wollen Sie sich hier hysteri-
schen Weinkrämpfen hingeben, während ein unschuldiger Mann
sterben wird … ein Unschuldiger, den Sie vielleicht retten könn-
ten?«
»Ich … ich brauche etwas zu trinken.«
»Nein, das brauchen Sie nicht! Für heute haben Sie schon mehr
als genug.«
145
»Bitte, lassen Sie mich jetzt allein. Ich bin müde und muß ins
Bett.«
»Sie werden ja doch nicht schlafen können, dazu sind Sie viel zu
aufgeregt. Warum sagen Sie nicht endlich die Wahrheit? Was wissen
Sie vom Fall Weldon? Was verbergen Sie vor der Polizei und mir?
Und warum sollte ich nicht nach Reading gehen?«
Sie schluckte mehrmals und sagte dann: »Ich habe Ihnen alles ge-
sagt, was ich riskieren konnte. Bitte lassen Sie mich jetzt in Ruhe.«
Linda blickte Mike an; ihre Augen baten förmlich darum, die Frau
nicht weiter zu bedrängen.
Er nickte und stand auf. »Also gut, Miß Long. Wenn Sie nicht
mitmachen wollen, dann geht eben alles auf Ihre Kappe. Diese Ge-
schichte wird Ihnen noch viel mehr Aufregungen bringen. Als Ge-
genleistung für die Warnung, die Sie mir heute gegeben haben, will
ich Ihnen auch einen Dienst erweisen: Achten Sie darauf, was Sie in
diesem Raum sprechen.«
Irene hob den Kopf und blickte ihn verwirrt an, wobei in ihrem
Gesicht erneut Anzeichen von Furcht zu erkennen waren. Mit dün-
ner und brüchiger Stimme fragte sie: »Wie meinen Sie das?«
»Haben Sie den Mann schon einmal zu Gesicht bekommen, der
die Wohnung genau über Ihnen gemietet hat?«
»Mr. Carvreed?«
»Nein. Der ist mit seiner Frau seit einiger Zeit in Dänemark. Die
Wohnung ist für die Dauer seiner Abwesenheit untervermietet an
einen Mann namens Williams, was übrigens nicht sein richtiger Na-
me ist. Der Mann heißt Hector Staines.«
»Das glaube ich Ihnen nicht.«
»Dann erkundigen Sie sich beim Hauswart.«
Irene Long wandte sich verzweifelt an Linda. »Ist das wahr, Mrs.
Baxter? Sie werden mich bestimmt nicht anlügen.«
Linda war sehr blaß, aber ihre Stimme hatte echte Überzeugungs-
kraft. »Keiner von uns will Sie anlügen, Miß Long. Wir wollen Ih-
146
nen doch nur helfen. Sie müssen vorsichtig sein und deshalb darauf
achten, was Sie in diesem Raum sprechen, weil Hector Staines im
Zimmer darüber ein Abhörgerät eingebaut hat. Er hat schon einige
Zeit Ihre Unterhaltungen hier mitgehört. Um das zu erreichen, hat
er die Wohnung von den Dänen gemietet.«
Irene Long wollte etwas sagen, brachte aber keinen Laut hervor.
Sie war in Ohnmacht gefallen.
Mike und Linda hatten die vielfältigen Ereignisse des Tages völlig
erschöpft; dennoch verspürten sie wenig Neigung, schlafen zu ge-
hen.
»Warum mag Staines wohl so großen Wert darauf legen, die Ge-
spräche von Irene Long abzuhören?« fragte Linda.
»Bestimmt nicht, weil sie im Schlaf spricht, worauf du dich ver-
lassen kannst. Die Unterhaltungen mit ihren Besuchern sind es, die
ihn interessieren, und wer diese Besucher sind.«
»Meinst du, sie wird sich bald wieder erholen, Liebling? Sie sah
verdammt mitgenommen aus, als wir von ihr gingen.«
»Sie wird auch das überwinden.«
»Du kannst manchmal sehr hart sein.«
»Manchmal muß man das auch«, erwiderte Mike ernst. »Wenn
Irene Long sich schon vor ein paar harten Worten fürchtet, hätte
sie sich nicht in diese dunklen Machenschaften einlassen sollen. Sie
kann von Glück sagen, daß ich mit ihr nicht so umgesprungen bin
wie die Kerle mit der armen Jo Peters.«
Linda nickte zustimmend.
»Jetzt lasse ich sie bis morgen im eigenen Saft schmoren«, be-
schloß Mike die nächtliche Unterhaltung. »Nach einer schlaflosen
Nacht wird sie vielleicht eher geneigt sein, endlich etwas zu zwit-
schern.«
147
12
m Tage darauf hatte Mike sich gerade nach eingehendem Stu-
dium der beiden Fachbücher, die ihm die Buchhandlung inzwi-
schen geliefert hatte, zu Linda ins Wohnzimmer gesetzt, als es an
der Wohnungstür schellte und Mrs. Potter ihm kurz danach Mr.
Corina meldete.
A
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Schon als Corina das Zimmer betrat, merkte man ihm die innere
Spannung deutlich an. Seine Verbeugung vor Linda war nur ange-
deutet, und der Handkuß blieb aus.
Zweifellos stand Corina noch unter dem Eindruck seines jüngsten
Zusammentreffens mit Inspektor Rodgers, über das er verärgert be-
richtete.
»Nichts hasse ich mehr, als mich von solchen stiernackigen Indi-
viduen herumstoßen zu lassen«, ereiferte er sich. »Ich habe dem Po-
lypen gesagt, daß ich mich beim Polizeipräsidenten beschweren
und die Presse über sein Verhalten informieren werde.«
Mike zuckte mit den Schultern. »Rodgers hatte sicher nichts wei-
ter im Sinn, als seine Pflicht zu tun, Corina.«
»Pflicht! Der Mann scheint von Natur aus ein Sadist und Schlä-
ger zu sein! Der hätte schon längst wegen Unfähigkeit aus der Po-
lizei ausgestoßen werden müssen. Von dieser Type lasse ich mich
nicht zum Sündenbock stempeln.«
»Übertreiben Sie nicht zu sehr?« fragte Mike. »Meines Erachtens
hat Rodgers kaum Zeit, sich mit Sündenböcken abzugeben.«
»Warum belästigt er mich dann so oft mit seiner blöden Frage-
rei?«
»Aus dem sehr einfachen Grund, weil die Bande, die Jo Peters
entführte, nur ein einziger Punkt interessierte: warum Jo Ihren
148
Nachtklub beobachtete.«
»Interesse an meinem Klub? Ich bin doch der einzige Mensch,
den das interessieren könnte.«
»Eben!« Bei dieser leise ausgesprochenen Erwiderung sah Mike
seinen Besucher scharf an.
Corinas ungewöhnlich blasse, aber bewegte Gesichtszüge erstarr-
ten bei dieser Antwort. Es kostete ihn große Mühe, sich zu beherr-
schen.
Linda beendete das spannungsvolle Schweigen mit der Frage: »Ist
das der einzige Grund, weshalb Sie meinen Mann aufgesucht ha-
ben, Mr. Corina?«
»Keineswegs. Gestern nachmittag sprach ich mit Ihrem Gatten,
wobei er mir einige Fragen über Nadia Tarrant stellte. Leider habe
ich Sie, Mr. Baxter, dabei angelogen… Jeder von uns hat so seine
kleinen Eitelkeiten. Ich wollte nicht zugeben, daß eine Frau wie
diese jemals in ein Haus von der Reputation des La Pergola-Klubs
Eingang gefunden habe.«
»Sie war also dort? Und mit wem?« fuhr ihn Mike barsch an.
»Mit Irene Long, wie Sie gestern schon sagten.«
»Und warum haben Sie es gestern nicht schon zugegeben?«
Corina kniff die Lippen zusammen, um seine Worte bedachtsam
zu wählen. »Da konnte ich es leider noch nicht. Die Umstände
sprachen dagegen – inzwischen haben sie sich geändert.«
»Dann lassen Sie mal hören!«
»Hätten Sie vielleicht einen Schluck zu trinken da?«
Mike nickte und ging zur Hausbar hinüber.
Corina dankte mit einer leichten Verbeugung und gewann schnell
seine Fassung wieder. Er lockerte die messerscharfe Bügelfalte ober-
halb des Knies und begann zu sprechen.
»Nachdem ich gestern nacht den Klub verlassen hatte, telefonier-
te ich mit meinem ehemaligen Geschäftspartner. Ich sagte ›Ge-
schäftspartner‹ und nicht ›Freund‹, bitte das zu berücksichtigen.
149
Sein Name ist Westerman, und er war mit Nadia Tarrant bekannt.
Über Westerman hat sie damals auch Eingang in den Klub gefun-
den.«
Corina nippte genießerisch an seinem Drink.
»Mein Vorschlag wäre, Sie sollten einmal mit Westerman selbst
sprechen. Er dürfte sicher bereit sein, Sie nach Zahlung eines gerin-
gen Honorars über Nadia Tarrant und ihre Beziehungen zu Irene
Long näher zu informieren. Vielleicht ist er bereit, mit Ihnen auch
über andere Dinge zu sprechen, die Sie zu interessieren scheinen.«
»Das wäre zu überlegen«, erwiderte Mike nach kurzem Schweigen.
»Genügt es, wenn ich mein Scheckbuch mitnehme, oder verlangt er
eine Wagenladung voll Goldbarren?«
Corina antwortete lächelnd: »Das müssen Sie schon mit ihm
selbst ausmachen. Ich möchte nicht in diese Sache verwickelt wer-
den. Ich habe Sie nur über Westermans Bereitschaft unterrichtet
und mir erlaubt, gleich eine Verabredung für Sie zu treffen. Danach
wasche ich meine Hände in Unschuld.«
»Wann soll ich den Mann denn treffen?«
»Heute abend um zehn Uhr. Paßt Ihnen das?«
Mike warf Linda einen fragenden Blick zu. Sie nickte.
»Also gut. Und wo treffen wir uns? Hier oder im Klubhaus?«
»Weder – noch. Es ist leider auswärts, aber nicht weit – nur bis
Reading.«
Linda unterdrückte einen Ausruf der Überraschung, und im sel-
ben Augenblick fiel eins der leeren Gläser, die sie gerade auf ein
Tablett stellte, klirrend zu Boden. Mike bückte sich, um sich seine
nächsten Worte genau zu überlegen.
Als er Corina wieder ins Gesicht sah, gelang es ihm, in ganz bei-
läufigem Ton zu fragen: »Kann denn Ihr guter Westerman nicht für
etwa eine Stunde nach London kommen? Es ist nicht gerade sehr
angenehm für mich, gegen zehn Uhr abends nach Reading und zu-
rück zu fahren.«
150
»Das hatte ich auch schon angeregt. Aber Westerman wollte da-
von nichts wissen. Ich werde Sie persönlich dorthin fahren, um
Ihnen die Mühe abzunehmen.«
Mike überlegte kurz und nahm das Angebot dann an.
»Also gut«, sagte Corina. »Ich werde Sie kurz vor neun Uhr hier
abholen. Aber erzählen Sie bitte niemandem von diesem Arrange-
ment.«
»Das werde ich nicht tun, wenn Sie mir eine Frage offen beant-
worten. Als ich Sie wegen Nadia Tarrant befragte, logen Sie mich
an. Haben Sie auch die Unwahrheit gesagt, als sie behaupteten, nie-
mals etwas von Mr. Bannister gehört zu haben?«
»Bannister? Nein, da habe ich die volle Wahrheit gesagt. Soweit
ich mich erinnern kann, bin ich in meinem ganzen Leben niemals
einem Mann dieses Namens begegnet.«
»Es könnte ja ein angenommener Name sein. Was ist eigentlich
mit diesem Burschen Westerman? Was heißt das, er sei einst Ihr
Partner gewesen? Haben Sie gemeinsame Geschäfte gemacht?«
»Ja, das haben wir. Wir betrieben etwas, was man vielleicht als
Agentur bezeichnen könnte. Dann überwarfen wir uns – eine kleine
Meinungsverschiedenheit, die gar nicht hätte zu sein brauchen. Et-
was später machte ich mich dann selbständig und eröffnete den
Klub La Pergola. Wieder etwas später erhielt ich einen Brief von
Westerman mit der Aufforderung, nach Reading zu kommen.«
»Aufforderung?« fragte Mike leise.
»Das ist nun mal seine Art. Ich fuhr also nach Reading. Wester-
man sagte mir dann, ich sollte einige seiner Freunde in meinen Klub
aufnehmen. Zwei von ihnen hatten sich bereits um die Mitglied-
schaft beworben, waren jedoch von mir abgelehnt worden, weil sie
nicht meinen für die Mitgliedschaft aufgestellten Ansprüchen ge-
nügten. Aus gewissen Gründen mußte ich jedoch dem Wunsch
Westermans entsprechen und deswegen –«
»Mit anderen Worten: Westerman hatte Sie in der Hand. Er hat
151
Sie also erpreßt?«
Corina sah etwas unbehaglich aus, zuckte dann aber mit den
Schultern. »In gewisser Weise schon. So gelangte auch Nadia Tar-
rant in den Klub und diese Gruppe von Mannequins, die ich lieber
draußen gelassen hätte – Irene Long, Lucy Staines, Peggy Bedford
und andere.«
Linda lächelte. »Nun erzählen Sie nur nicht, daß auch Victor San-
ders Mannequin war, Mr. Corina.«
Er warf ihr einen kühlen Blick zu. »Victor Sanders ist eines un-
serer geachtetsten Gründungsmitglieder, Mrs. Baxter.«
»Dem Vernehmen nach scheint Peggy Bedford eine recht flotte
Biene gewesen zu sein«, warf Mike ein, »und vielleicht auch ihre
Freundin Lucy. Miß Long jedoch scheint mir eine ehrbare Dame
zu sein.«
»Irene Long trinkt.«
»Kommt das nicht dem Geschäft zugute?«
»Bis zu einem gewissen Punkt schon. Sie geht aber zu oft darüber
hinaus.«
»War auch Harold Weldon Mitglied?« fragte Linda.
»Nein. Er war ein paarmal bei uns. Ich kann mich aber nicht er-
innern, mit wem.«
»Mr. Corina«, nahm Linda wieder das Wort, »ist Ihnen noch nicht
der Gedanke gekommen, daß dieser Westerman Ihren Klub als eine
Art Hauptquartier benutzt haben könnte? Ich meine, wenn er schon
mit dieser wüsten Nadia Tarrant in Verbindung stand –«
»Genau das habe ich mich auch schon gefragt«, erwiderte Corina
etwas zu bereitwillig. »Ich stelle auch Überlegungen an, ob nicht
Westerman die Entführung von Jo Peters veranlaßt haben könnte.«
»Mit anderen Worten: Westerman könnte doch durchaus mit Ban-
nister identisch sein!« gab Linda, ihre Aufregung nur mühsam ver-
bergend, zu bedenken und sah zu Mike hinüber.
Mike schien ohne jede Erregung zu sein; er wandte sich in ruhi-
152
gem Ton an Corina: »Wie wäre es mit einer weiteren aufrichtigen
Antwort, da wir nun einmal dabei sind. Wer hat Ihnen wirklich er-
zählt, daß Jo zum Yard gehört?«
»Westerman«, antwortete Corina prompt.
»Um was für eine ›Agentur‹ handelte es sich bei Ihrer einstigen
Partnerschaft mit Westerman?«
»Wir importierten und exportierten verschiedene Produkte.«
»Rauschgift zum Beispiel?« warf Mike blitzschnell ein.
Corina war schockiert. »Rauschgift? Um Himmels willen, nein!
Wer hat Ihnen denn dieses Märchen aufgetischt?«
»Das war nämlich der Grund, weswegen Jo Ihren Klub zu überwa-
chen hatte.«
Corina sah zutiefst verstört aus.
»Bei Scotland Yard stand Ihr Klub unter dem Verdacht, ein Ver-
teilerzentrum für Rauschgift zu sein. Eine bestimmte Spur schien
von jenseits des Atlantiks direkt zu Ihrer Türschwelle zu führen.«
Corina schüttelte verwirrt den Kopf und erhob sich. »Dieser Ver-
dacht ist geradezu absurd. Die Polizei hat offensichtlich nicht ge-
nug Material in der Hand, um etwas unternehmen zu können.« Er
blickte auf seine Uhr. »Ich muß jetzt gehen; ich habe noch eine an-
dere Verabredung. Um neun Uhr hole ich Sie hier ab.«
»Jawohl. Um neun Uhr.«
Als Mike ins Zimmer zurückkehrte, nachdem er Corina hinaus-
geleitet hatte, warf Linda ihm einen fragenden Blick zu. »Nun? Wie-
viel von der Geschichte können wir glauben?«
Mike sank müde auf einen Sessel und stützte den Kopf in beide
Hände. »Lügen von A bis Z, wenn du mich fragst. Heute abend um
zehn Uhr gibt es keinen Westerman. Im Fall Harold Weldon hat es
auch niemanden dieses Namens gegeben. Corina ist von seiner
Überlegenheit so überzeugt – und ich gebe zu, daß er kein Dumm-
kopf ist –, daß er bei allen anderen Leuten von einem kindlichen
Gemüt ausgeht.«
153
»Dann wäre also Corina unser eigentlicher Mann. Habe ich
recht?«
»Das habe ich nicht gesagt, Darling.«
»Mein Gott, wie du mir wieder ausweichst. Mike, wer hat Lucy
Staines ermordet? Weißt du es schon?«
»Ich glaube ja.«
»War es Harold Weldon?«
»Nein.«
»Und hat dieselbe Person auch Nadia Tarrant umgebracht?«
»Ja.«
Linda schwieg einen Augenblick und fragte dann bedächtig: »Sag
mal, Mike – dieser Besuch in der Bibliothek, der hat uns doch ein
gutes Stück vorangebracht, nicht wahr?«
»Du hast inzwischen also auch die beiden Bücher studiert?«
Linda, die in legerer Stellung im Sessel gehockt hatte, schoß ruck-
artig hoch, die Augen weit aufgerissen: »Darling – ich glaube, ich
weiß, wer es ist!«
»Meinst du, Linda?«
»Ich fürchte ja. Fürchten ist nicht ganz der richtige Ausdruck.
Wie kann jemand nur so rücksichtslos sein. Was tun wir jetzt?«
Mike reckte sich verhalten gähnend in seinem Sessel und stand
dann langsam auf. »Das weiß ich noch nicht. Fest steht aber, daß
ich heute abend nicht nach Reading fahre.«
Mike telefonierte kurz mit Jo Peters, deren Befinden immer noch
schlecht, aber nicht kritisch war. Danach führte er ein ausgiebiges
Gespräch mit Kriminaldirektor Goldway im Yard und erreichte, daß
Harold Weldon eine Botschaft ins Gefängnis zugestellt wurde. Sie
war noch nicht allzu ermutigend, doch war sich Mike darüber klar,
wie verzweifelt der Verurteilte auf Neuigkeiten wartete.
Da es ihn sehr interessierte, wie Saltoni sich aufführte, rief er In-
spektor Rodgers an, der aber nicht im Amt war. Mike ließ ihm aus-
richten, er solle doch zurückrufen, sobald er ein paar Minuten Zeit
154
habe.
Inspektor Rodgers telefonierte jedoch nicht, sondern erschien kurz
danach persönlich.
»Guten Tag, Inspektor. Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbie-
ten?«
»Danke nein, Mr. Baxter. Ich trinke nie im Dienst.«
»Dann müssen Sie Abstinenzler sein, da ich Sie noch nie außer
Dienst erlebt habe.«
Rodgers lächelte. »Ach ja, es ist schon ein arbeitsreiches Leben.
Leider habe ich nicht den Eindruck, daß es jemals ruhiger werden
könnte. Im Augenblick bearbeite ich drei oder vier vordringliche
Fälle. Es blieb mir aber noch Zeit, heute früh Saltoni zu besuchen.«
»Was macht sein Gedächtnisschwund? Gibt es Anzeichen einer
Besserung?«
»Leider nicht im geringsten. Morgen werde ich es nochmals ver-
suchen.«
Mike machte ein besorgtes Gesicht. »Ich habe so das Gefühl, er
könnte uns eine ganze Menge mehr sagen, wenn er nur den Mund
aufmachen wollte. Sicher werden wir auch noch von Jo Peters nütz-
liche Informationen bekommen. Sie ist nur immer noch nicht bei
völlig klarem Bewußtsein und kann noch keine detaillierten und
zusammenhängenden Auskünfte über ihr Mißgeschick geben.«
»Haben Sie Jo besucht?«
»Ich hatte es vor. Als ich aber heute früh ihre matte Stimme am
Telefon hörte, entschloß ich mich, die Unterhaltung auf ein Mini-
mum zu beschränken.«
»Und gab sie keinen Hinweis, mit dem sich etwas anfangen ließe?«
Mike schüttelte den Kopf und bot dem Inspektor eine Zigarette
an.
Rodgers nahm sie dankend an und lief dann im Zimmer auf und
ab. »Vielleicht werden Sie meine Haltung gegenüber der Peters für
unfair halten«, begann er ziemlich unvermittelt. »Natürlich tut mir
155
das leid, was ihr zugestoßen ist; aber, verzeihen Sie das offene Wort,
sie hat es ja geradezu herausgefordert!«
Mike hob erstaunt die Augenbrauen, sagte aber nichts. Offenbar
beschäftigte den Inspektor diese Angelegenheit doch sehr, und Mike
hielt Stillschweigen für die beste Methode, ihn dazu zu bewegen,
sich einmal alles von der Leber zu reden. Als Mike die bullige Figur
im Zimmer hin und her gehen sah, verstärkte sich sein Eindruck,
den er von Rodgers bei der ersten Begegnung im Büro des Krimi-
naldirektors gewonnen hatte: ein klarer, ruheloser Geist; ein inner-
lich ausgeglichener Mann, dank seiner völlig einseitigen beruflichen
Ausrichtung. Gab diese Schwarz-Weiß-Zeichnung aber wirklich das
vollständige Bild von Rodgers wieder? Gab es nicht auch da Zwi-
schentöne in Grau; andere Interessen, Hobbys, kleine Laster, merk-
würdige Schrullen, die auch Rodgers zu einem dreidimensionalen
Wesen machten? Frauen vielleicht? Mike überlegte, konnte sich
aber keines einzigen Vorfalls, keiner unfreiwillig herausgerutschten
Bemerkung erinnern, die in diese Richtung wies. Er wußte nicht
einmal, ob Rodgers verheiratet war. Wie stand es etwa mit einer
Schwäche für Geld, Alkohol, übermäßige Eleganz, große Wagen?
Mike konnte nur mit Mühe ein Lachen unterdrücken. Solche Vor-
stellungen in Verbindung mit Rodgers waren geradezu absurd. Mike
gelangte zu der Schlußfolgerung, daß er heute nicht mehr über den
Menschen Rodgers wußte als zu dem Augenblick, da er ihn zum
erstenmal gesehen hatte.
»Der Kampf gegen das Verbrechen ist ein schwieriges, ja unange-
nehmes Handwerk, Mr. Baxter. In diesem Beruf ist kein Platz für
Amateure, vor allem nicht für schutzlose Frauen. Um ganz offen zu
sein: Diese Episode mit Peters halte ich für sinn- und zwecklos. Sie
hätte niemals stattfinden dürfen.«
»In mancher Hinsicht stimme ich Ihnen zu, Inspektor. Es muß
Ihnen ja die Galle überlaufen, wenn Sie alle Augenblicke über Ama-
teurdetektive stolpern. Allerdings meine ich damit eher Leute wie
156
mich und nicht Jo. Denn sie ist ja, wie Sie wohl wissen, mehr als
nur eine Amateurin.«
»Dennoch bleibt sie eine Frau und somit leicht verwundbar. Hät-
te ich gewußt, daß sie den Auftrag hatte, den Klub La Pergola zu
beobachten, ich wäre nicht einmal in die Nähe dieses verdammten
Lokals gegangen.«
»Aber Jos Tätigkeit hatte doch überhaupt nichts mit dem Fall
Weldon zu tun.«
Rodgers machte ein zweifelndes Gesicht. »Sind Sie sicher?«
»Ja. Kriminaldirektor Goldway hat es mir selbst gesagt. Sie beo-
bachtete den Klub nur, weil man ihn für eine Verteilerzentrale für
Rauschgift hielt.«
»Mag sein. Aber sind Sie sicher, daß alles das, was in den letzten
Tagen geschehen ist, nichts mit dem Fall Weldon zu tun hat?«
»Allmählich komme ich zu dem Eindruck, daß man in diesem
wirren Durcheinander überhaupt keiner Sache mehr sicher sein
kann. Wie denken Sie darüber?«
»Meiner Ansicht nach hängen die Dinge alle irgendwie zusam-
men, Mr. Baxter. Betrachten Sie es doch einmal aus folgender Pers-
pektive: Als Lucy Staines ermordet wurde, fehlte ihr ein Schuh.«
»Das stimmt.«
»Der ermordeten Nadia Tarrant fehlte wieder ein Schuh.«
»Und weiter?«
»Meiner Meinung nach hatten beide Frauen etwas besonders
Wertvolles in ihren Schuhen verborgen. Anders kann es nicht sein.«
Mike nickte. »Den Gedanken habe ich auch schon gehabt. Ich
bin aber noch nicht davon überzeugt, daß diese Theorie hieb- und
stichfest ist. Hat Goldway Ihnen mitgeteilt, worum es den Burschen
bei der Vernehmung von Jo Peters hauptsächlich ging?«
»Der Kriminaldirektor hat sich schließlich dazu durchgerungen,
es mir anzuvertrauen«, erwiderte Rodgers säuerlich.
»Die Kerle haben schließlich bei ihr so etwas wie den dritten
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Grad angewendet. Als sie dann zusammenbrach und erzählte, sie sei
einer Bande von Rauschgiftschmugglern auf der Spur, verloren die
Halunken jedes Interesse und ließen sie laufen.«
»Und was soll das Ihrer Meinung nach beweisen?«
»Zumindest doch, daß diese Brüder nichts mit Rauschgift zu tun
haben.«
»Man soll seinen Gegner niemals unterschätzen, Mr. Baxter. Das
kann auch ein netter kleiner Bluff gewesen sein. Vielleicht denken
Sie jetzt genau das, was die Burschen erreichen wollten. Sie befra-
gen die Peters über ihre Arbeit, erfahren dabei, sie spüre Rauschgift-
händlern nach, und tun dann so, als wären sie daran völlig uninte-
ressiert. Sie lassen das Mädchen frei, in der richtigen Annahme, sie
werde uns schnurstracks melden, diese Bande habe nichts mit
Rauschgift zu tun. Für meinen Geschmack ist das alles zu offenkun-
dig. Das schlucke ich nicht so ohne weiteres.«
Mike nickte nachdenklich. »In diesem Licht habe ich den Fall
noch nicht betrachtet; ich muß eingestehen, Ihre Theorie hat man-
ches für sich.«
Rodgers Gesicht zeigte den Anflug eines Lächelns. »Auch wir Kri-
minalbeamte haben gelegentlich Ideen.«
»Entwickeln Sie diese doch mal weiter«, ermunterte Mike seinen
Gesprächspartner. »Wie paßt Corina in dieses Bild?«
»In diesem Punkt bin ich mit Vorurteilen belastet. Den Typ Co-
rina kann ich einfach nicht ausstehen. Doch würde ich mein ganzes
Geld darauf setzen, daß er der Gangsterboß ist.«
»Und er ermordete auch Lucy Staines?«
Rodgers kratzte sich sein kurzgeschnittenes Haar. »So weit würde
ich nun doch nicht gehen. Es ist immerhin möglich, daß Harold
Weldon zu den Leuten um Corina gehörte. Unsere Nachforschun-
gen haben ergeben, daß er ein paarmal im Klub gesehen wurde.«
»Dann hat also Weldon doch seine Verlobte ermordet?«
»Ich glaube schon. Bis jetzt gibt es noch keinen Beweis für das
158
Gegenteil.«
»Und was ist mit der Aussage von Saltoni?«
»Sie haben ihn doch selbst erlebt und im Verhör gehabt. Ein
Grashalm, der sich im Winde biegt. Kein verantwortlicher Richter
würde den Burschen länger als zwei Minuten für einen zuverlässi-
gen Zeugen halten.«
Mike mußte das zugeben. Ihm war schon lange klar, daß es sehr
schwer gewesen wäre, den Beweis für Saltonis Behauptung anzutre-
ten, Nadia Tarrant sei zu der Zeit bei ihm in der Wohnung gewe-
sen, als sie angeblich Weldon gesehen hatte. Es hätte nur das Wort
Saltonis gegen das einer Toten gestanden. Für die Liebesnacht in
seinem düstern kleinen Zimmer in der Meryl Street dürfte es wohl
kaum Zeugen geben.
Mikes Gedankengang wurde durch das Läuten des Telefons unter-
brochen. Mit einer Entschuldigung in Richtung des Inspektors
nahm er den Hörer ab. Die Stimme von Victor Sanders dröhnte
durch die Leitung. Mike hörte zu und machte eine gelegentliche
Zwischenbemerkung. Erfahrung hatte ihn schon gelehrt, daß es
sinnlos war, einen zusammenhängenden Satz zu sprechen, solange
der Oberst noch mit voller Lautstärke redete. »Hallo, Sanders … ja,
das stimmt … verstehe … nein, wirklich, das werde ich nicht tun.
Danke, Sanders, ich werde an das denken, was Sie eben gesagt ha-
ben … auf Wiedersehen.«
»War das Victor Sanders?« erkundigte sich Rodgers.
»Ja. Bei dem kommt man sich stets wie ein Rekrut mit ungeputz-
ten Stiefeln vor.«
»Der Kerl ist wie eine lästige Fliege!« ereiferte sich der Inspektor.
»Es vergeht kaum ein Tag, an dem er mir nicht telefonisch die Zeit
stiehlt.«
»Ich kann ihn auch nicht ausstehen. Sollte ich aber jemals des
Mordes angeklagt werden, dann wünschte ich mir einen so hart-
näckigen Freund wie ihn.«
159
»Nur weil er Harold Weldon für unschuldig hält, brauchte er
doch nicht einen solchen Wirbel zu machen.«
»Sicher nicht. Viele Leute denken zwar wie er, rühren aber keinen
Finger. Sanders ist zumindest beharrlich.«
»Wenn Sie mich fragen«, fuhr Rodgers fort, »dann gibt es viel zu-
viel Leute, die irgend etwas ›in dieser Sache tun‹. Jeder will anschei-
nend mitmischen: Sanders, Hector Staines, Miß Peters –«
»Und Mike Baxter.«
Rodgers' Mund verzog sich zu einem säuerlichen Lächeln. »Das
haben aber Sie zuerst gesagt.« Mike lachte, und Rodgers ereiferte
sich weiter. »Sie mögen mich für schäbig halten, weil man für jede
Hilfe dankbar sein sollte. Aber ich bin immer noch wegen dieser
Miß Peters verärgert. Mein Chef hätte mich auf jeden Fall früher
ins Vertrauen ziehen sollen. Man kann doch wohl wirklich anneh-
men, daß sie, genaugenommen, nichts mit dem Fall Weldon zu tun
hatte.«
»Ich hätte Sie noch gern etwas wegen Sanders gefragt«, unterbrach
ihn Mike. »Als Sie ihn mir zum ersten Male beschrieben, da sagten
Sie, er sei ein eifriger Amateurfotograf.«
»Das stimmt. Seine ganze Wohnung ist mit eigenen Fotos vollge-
pflastert. Bilder hängen an allen Wänden und fast noch an der De-
cke. Er hat auch schon Ausstellungen seiner Fotos veranstaltet.«
»Wissen Sie zufällig, ob er seine Filme auch selbst entwickelt?«
»Ich denke schon. Warum?«
»Ach, es fiel mir nur so ein.« Nach dieser etwas rätselhaften Ant-
wort schaltete Mike auf ein anderes Thema um. »Eine sehr persön-
liche Frage, Inspektor: Sind Sie verheiratet?«
Rodgers war sichtlich verdutzt. »Nein, das bin ich nicht. Was soll
diese Frage?«
»Sie sprachen vorhin von der Verwundbarkeit der Frauen. Nun,
wir Männer halten uns doch gern für zäh und hart; in punkto Frau-
en sind aber auch wir leicht verwundbar. Wenn man nur bedenkt,
160
was mir und meiner Frau widerfahren oder beinahe widerfahren ist,
als man unseren Wagen in der Darlington Street mit Kugeln durch-
siebte.«
»Ja, da haben Sie wirklich Glück gehabt. Wer aber zum Beispiel
mir an den Kragen will, der wird schon die direkte Methode wählen
müssen.«
»Und meinen Sie nicht, daß jemand genau das vorhaben könnte?
Wer auch immer hinter diesem rätselhaften Durcheinander stehen
mag – diese Leute arbeiten nicht gerade mit Glacéhandschuhen.«
Rodgers zuckte verächtlich mit seinen breiten Schultern. »Mag
sein, aber dafür gibt es schließlich Gefahrenzulage.«
»Man kann aber stets auf der Hut sein.«
»Wie meinen Sie das?«
»Indem man niemals zweifelhafte Einladungen annimmt«, antwor-
tete Mike, »vor allem nicht aus einer bestimmten Augenblickssitua-
tion heraus.«
Rodgers sah ihn scharf an. »Haben Sie eine solche zweifelhafte
Einladung erhalten?«
»Heute früh war Corina bei mir und sagte mir, ich könnte wich-
tige Informationen über Nadia Tarrant und den Mord an Lucy
Staines von einem Mann namens Westerman kaufen.«
»Westerman? Den Namen habe ich noch nie gehört. Hat er Ih-
nen etwas über diesen Mann erzählt?«
»Nicht viel. Anscheinend wohnt er in Reading. Corina schlug
vor, ich solle heute abend dorthin fahren. Ich habe die Einladung
zwar angenommen, habe aber keineswegs vor, zu fahren.«
»Warum nicht?«
»Weil ich fest davon überzeugt bin, daß dieser Westerman über-
haupt nicht existiert und das Ganze nur eine Falle ist.«
»Haben Sie Gründe für diesen Verdacht?«
Mike nickte.
»Dann hat Sie also jemand gewarnt?«
161
»Ja, Inspektor. Und ich warne auch Sie. Nehmen Sie keine Einla-
dungen an, besonders nicht von Corina.«
Als der Inspektor wieder mit der Hand über seinen Haarschopf
fuhr, hörte es sich an wie das Kratzen eines leichten Schuhes auf ei-
ner Fußmatte. »Wenn Sie die Verabredung nicht einhalten«, meinte
er dann, »dürfte Corina mir kaum mit derselben Geschichte kom-
men.«
»Im Gegenteil. Genau das wird er tun, und deshalb warne ich Sie
ja auch. Denken Sie doch einmal nach. Glaubt Corina, ich hätte
Verdacht geschöpft, kann er doch schlecht einen Rückzieher ma-
chen und behaupten, er hätte nie eine Verabredung für mich ge-
troffen. Hier haben wir diesen gewissen Westerman, der angeblich
im Besitz entscheidender Informationen in Sachen Weldon ist. Bei-
ße ich nicht an, muß Corina logischerweise die Sache weiterverfol-
gen und kann sie nicht einfach fallenlassen. Also wird er wahr-
scheinlich Sie fragen.«
»Vielleicht haben Sie recht.« Rodgers grinste. »Aber machen Sie
sich keine Sorgen, Mr. Baxter. Vorgewarnt heißt auch vorher gerüs-
tet.«
Nachdem der Inspektor gegangen war, nahm Mike Füllfederhalter
und Papier und schrieb nach sorgfältiger Überlegung eine Mittei-
lung an Irene Long, per Adresse Conway und Racy und versiegelte
sie in einem Umschlag. Er gab Linda den Umschlag und bat sie,
ihn Irene persönlich auszuhändigen.
»Normalerweise würde ich Mrs. Potter damit schicken«, entschul-
digte er sich. »Aber das hier ist fast so etwas wie eine amtliche Vor-
ladung, und ich muß absolut sicher sein, daß niemand sonst sie in
die Hand bekommt. Mrs. Potter aber kennt die Long nicht. Könn-
test du dir die Zeit auf deinem Weg zum Friseur nehmen, Lieb-
ling?«
Linda nickte und hielt den Umschlag nachdenklich in der Hand.
»Du verstärkst jetzt also den Druck?« fragte sie.
162
»Ich muß endlich zu Ergebnissen kommen.«
»Hoffentlich behältst du recht. Muß ich auf Antwort warten?«
»Nein. Du brauchst ihr nur zu sagen, die Mitteilung sei äußerst
dringlich.«
»In Ordnung, auf bald also.«
Mike kehrte in sein Arbeitszimmer zurück, sank dort in einen
breiten Ledersessel und dachte angestrengt nach. Irrte er sich nicht,
war die Unterredung mit Inspektor Rodgers außerordentlich be-
deutsam gewesen. Der Inspektor war nicht der Mann, der viele
Worte vergeudete.
Mrs. Potter brachte Tee, den er nachdenklich schlürfte. Dann
fühlte er sich versucht, an dem noch unvollendeten Kapitel seines
Buches zu arbeiten, konnte sich jedoch nicht darauf konzentrieren.
Immer wieder verirrten sich seine Gedanken zu dem rätselhaften
Durcheinander, in das Sanders, Staines, Irene Long und Charles
Corina verwickelt waren. Außerdem wartete er, wie ihm auf einmal
klarwurde, im Unterbewußtsein auf Lindas Rückkehr.
Als sie um fünf Uhr immer noch nicht zurückgekehrt war, wurde
er sehr unruhig. Soweit er sich erinnerte, sollte Linda schon um
halb vier Uhr fertig sein. Natürlich zog sich so eine Sitzung beim
Damenfriseur meistens länger hin als vorgesehen, so lange aber
hatte es noch nie gedauert.
Zwanzig Minuten nach fünf, als er gerade überlegte, ob er bei
ihrem Friseur anrufen sollte, flog die Wohnungstür auf, und Linda
platzte herein. Statt mit einer neuen Frisur erschien sie mit zerzaus-
ten Haaren und einem Streifen Heftpflaster auf der Stirn. Eine Hand
war bandagiert.
»Du lieber Gott, Linda! Was ist passiert?«
»Alles in Ordnung, Darling«, murmelte sie. »Es ist wirklich nichts
Ernsthaftes – ein kleiner Autounfall, das ist alles.«
»Das ist alles? Wie, um Himmels willen, ist denn das passiert?«
»Ich saß in Sanders' Wagen.«
163
»Was? Bei Victor Sanders?«
»Es war nicht seine Schuld, Darling. Ich erzähle dir gleich alles.
Aber bitte Mrs. Potter zunächst, mir einen starken Tee zu machen.«
»Brauchst du nicht etwas Stärkeres als Tee, Linda?«
»Nein, danke.« An ihrem nervösen Lachen merkte Mike, daß Lin-
da immer noch sehr aufgeregt war.
Als der Tee schließlich auf dem Tisch stand, erzählte Linda ihr
Erlebnis.
Sie hatte Irene Long persönlich Mikes Mitteilung übergeben und
war dann in ein Restaurant in der Nähe von Conway und Racy ge-
gangen. Dort traf sie zufällig Victor Sanders, mit dem sie ein paar
höfliche Worte wechselte, wonach jeder wieder seines Weges ging.
Als sie später aus dem Restaurant kam, sah sie ihn ein zweites Mal,
diesmal aus größerer Entfernung, und nach dem Besuch beim Fri-
seur stieß sie das dritte Mal auf ihn.
»Meinst du, er ist dir gefolgt?«
Linda machte ein unentschlossenes Gesicht. »Ich weiß es nicht.
Natürlich fragte ich mich auch, ob es reiner Zufall sei, als ich ihn
zum drittenmal traf; aber ich bin wirklich nicht sicher, ob er mir
gefolgt ist. In der Bond Street trifft man ja oft Bekannte. Und für
den Oberst ist es ja ganz normal, wenn er sich in der Nähe von
Conway und Racy aufhält, vorausgesetzt, daß er sich nicht inzwi-
schen mit Irene Long verkracht hat.«
»Ich hatte doch den Eindruck, daß er sehr an ihr hängt.«
»Mein Besuch beim Friseur dauerte länger, als ich gedacht hatte.
Deshalb nahm ich gern Sanders' Angebot an, mich nach Hause zu
fahren, obgleich er wirklich nicht mein Typ ist.«
Mike schüttelte den Kopf. »Da stimmt etwas nicht, Liebling. Der
Oberst mag dich nicht mehr als du ihn. Daher kann ich mir über-
haupt nicht vorstellen, warum er dir gefolgt sein könnte.«
Linda lachte. »Ich würde schwören, daß ich ihn richtig einschät-
ze. Der richtet sich in allen Lebenslagen nach einem festgelegten
164
Code mit dem Titel ›Wie benimmt sich der vollkommene Gentle-
man gegenüber einer Dame‹. Er betrachtet uns Frauen nicht als
menschliche Wesen, sondern nur als Symbole des schwächeren Ge-
schlechts. Obwohl er sich selbst für einen Ritter hält, ist er ein lang-
weiliges Ekelpaket. Sein Ehrenkodex erfordert es einfach von ihm,
mich nach Hause zu fahren.«
»Mag sein. Aber wie war das mit dem Unfall? Wurde er auch ver-
letzt?«
»Es hat ihn ganz schön durcheinandergeschüttelt.«
»Welchen Weg ist er gefahren? Hattest du den Eindruck, es war
der normale und kürzeste Weg hierher?«
»Absolut normal. Der Gedanke ist mir natürlich auch gekommen.
Wäre der Unfall vorgeplant gewesen, dann wäre er sicher durch ein-
same Nebenstraßen gefahren. Er ist aber die ganze Zeit auf der
Hauptstraße geblieben, dazu ruhig und überlegt gefahren, ohne ein
Risiko einzugehen. Außerdem hätte er bei einem geplanten An-
schlag auf mich sein eigenes Leben riskiert. Dieser verrückte Fahrer,
der uns von hinten kommend schnitt, als wir gerade am Palast vor-
bei waren, zwang uns einfach, von der Fahrbahn abzukommen.
Sanders wäre dabei um ein Haar umgekommen.«
»So etwas läßt sich ausgezeichnet simulieren, Darling. Wie steht
es mit den Sicherheitsgurten? Hat er welche in seinem Wagen?«
»Ja! Und gerade das beweist, daß der Oberst keine Schuld hatte.
Ich habe mich gewohnheitsgemäß festgeschnallt, weil du ja immer
darauf bestehst. Er hat es aber nicht getan.«
Mike biß sich auf die Lippen und goß Linda eine weitere Tasse
ein. »Über diesen Punkt hätte ich gern mehr Klarheit, bevor ich ihn
fallenlasse. Was für ein Wagen hat euch geschnitten? Konntest du
ihn dir genau ansehen?«
»Nein, kaum. Ich glaube, es war ein amerikanischer Wagen – ei-
ner von diesen Straßenkreuzern mit riesigen Schwanzflossen, die
wie Büchsenöffner aussehen. Ich war viel zu durcheinander, um mir
165
die Nummer zu merken, und die einzigen Zeugen, die wir hatten,
waren ein paar erschreckte pakistanische Touristen, aus denen wir
und die Polizei nicht viel herausholen konnten. Eins ist gewiß: die-
ser Wagen hat uns absichtlich geschnitten, da noch massenhaft
Platz da war und es nicht den geringsten Grund gab, uns bei der
Verkehrslage von der Straße abzudrängen.«
Linda trank ihren Tee, und Mike überlegte eine Weile. Dann
sagte er: »Du bist dir doch darüber im klaren, was du sagst, wenn
du darauf bestehst, Sanders für unschuldig zu halten? Dann muß
man es auf ihn abgesehen haben. Wenn deine Theorie stimmt, war
es reiner Zufall, daß du zu diesem Zeitpunkt in seinem Wagen ge-
sessen hast. Also ist es der Oberst, dem man an den Kragen will.«
Linda nickte. »Auf der Fahrt vom Polizeirevier hierher habe ich
mir im Taxi nochmals alles sorgfältig überlegt. Ich bin ganz sicher,
daß es ein Anschlag auf seinen Wagen war und ich nicht die Person
war, der er galt.«
Mike stand auf und ging zum Fenster. Unentschlossen starrte er
auf die von Sonnenlicht überflutete Straße. Mit einem Blick auf die
Uhr fragte er dann: »Wann geschah es?«
»Genau weiß ich das nicht. So etwa um vier Uhr oder etwas spä-
ter.«
»Dann werden wir wohl bald auf einem anderen Gebiet Ergebnis-
se erzielen«, verhieß er geheimnisvoll.
Linda starrte ihn verwirrt an.
Zehn Minuten später klingelte das Telefon. Die beiden wechsel-
ten einen schnellen, verständnisvollen Blick.
Linda nahm aus ihrer Geldbörse einen Shilling. »Meine Münze
sagt, Victor Sanders ruft an, um sich zu erkundigen, wie es mir
geht. Das gehört zum Ehrenkodex des Gentleman.«
Mike legte eine Krone neben den Shilling. »Mein Geld sagt, es ist
eine Dame.«
Dann nahm er den Hörer ab. »Baxter … ja, meine Frau hat es mir
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erzählt … also gut, je früher, desto besser. Wir kommen in zwanzig
Minuten.«
Er legte auf und steckte triumphierend die beiden Geldstücke in
die Tasche. »Irene Long will endlich reden. Meine Botschaft an sie
hatte Erfolg. Nutzen wir die Stunde.«
13
ährend der Fahrt nach Chelsea war Linda besonders munter
und redselig, was sich weitgehend als Reaktion auf den leich-
ten Schock des Nachmittags erklären ließ.
W
W
Mike warf ihr einen besorgten Blick zu, hielt es dann aber für das
beste, sie einfach reden zu lassen. Jetzt, wo es den Anschein hatte,
als werde der Fall Weldon jeden Augenblick seine überraschende
Lösung finden, hätten Linda keine zehn Pferde daran hindern kön-
nen, ihren Mann zu begleiten.
Sie erzählte ihm nochmals von ihrem Besuch in der Bond Street,
schilderte ihm Irene Longs Reaktion auf seinen Brief und lehnte
sich dann wohlig seufzend mit der Frage in ihren Sitz zurück: »Stö-
re ich dich etwa mit meinem Geschwätz?«
»Aber keineswegs, Liebling.«
»Du brauchst Ruhe, um zu überlegen, was du Irene sagen wirst.«
»Das werden nur zwei Wörter sein: Reden Sie.«
»Also gut. Wenn ich zuviel quatsche, dann sag mir einfach, ich
soll den Mund halten. Wo war ich doch gleich stehengeblieben?«
Mike lächelte. »Quatsch nur weiter«, ermunterte er sie.
»Ich muß schon sagen, das Leben der Mrs. Baxter ist doch ziem-
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lich eintönig… Vor einer Woche gähnte sie sich fast zu Tode, als sie
ihre Kleider für einen Urlaub in Südfrankreich einpackte. Glückli-
cherweise kam dieses entsetzlich langweilige Ereignis nicht zustan-
de. Statt dessen schoß man auf sie; beförderte sie beinahe durch ei-
nen Autounfall ins Jenseits; riskierte sie Gefängnisstrafe durch Be-
antwortung von Anrufen am Telefon fremder Leute; leistete sie Mit-
hilfe und Begünstigung bei der Durchsuchung einer fremden Privat-
wohnung… Habe ich etwas vergessen?«
Mike lachte. »Ich glaube nicht. Doch – es fehlt noch Peggy Bed-
ford und der Abtransport einer Leiche aus mit Gas angefüllten Räu-
men. Auch das gehörte noch zur tödlich langweiligen Routinearbeit
dieser Woche von Mrs. Baxter.«
»Stimmt genau.«
»Und den Ohnmachtsanfall von Irene Long hätten wir beinahe
vergessen.«
»Richtig. Aber Scherz beiseite: Was hattest du ihr in dem Brief
eigentlich geschrieben, den ich ihr überbrachte?«
»Was sie momentan so in Angst versetzt, dürfte weniger der In-
halt meines Briefes, sondern mehr der Unfall sein, den der Oberst
heute hatte. Ich bin sicher, daß sie sehr an ihm hängt, so sonderbar
das auch sein mag. Ich schrieb ihr nur, daß ich wüßte, wer Bannis-
ter ist. Damit habe ich allerdings nur geblufft, in der Hoffnung, daß
sie nun endlich auspacken und meinen Verdacht bestätigen wird.
Der Bluff scheint Erfolg zu haben, und zwar auf eine Weise, wie ich
es gar nicht erwartet habe. Ich erwähnte auch, daß ich überall er-
zählen würde, es sei Sanders gewesen, der mich vor der Fahrt nach
Reading gewarnt hätte. Als Miß Long von diesem Autounfall hörte,
wird sie bestimmt Bannister dahinter vermutet haben, und so weiß
sie jetzt, daß sich ihr Schatz in großer Gefahr befindet. Das hat sie
am meisten erschreckt.«
»Also Liebling, das muß ich erst einmal verdauen. Mein Gehirn
arbeitet nach diesem Schreck noch nicht ganz einwandfrei. Ein Be-
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denken habe ich: Wenn wir uns mit ihr im Wohnzimmer unterhal-
ten, kann man uns doch mit der Abhöranlage belauschen.«
»Ein Wort mit dem Hausmeister Dan Appleby und eine diskret
in die Hand geschobene Banknote dürften das verhindern. Er kann
uns warnen, wenn Hector Staines auftauchen sollte.«
Irene Long saß in steifer Haltung in einem Sessel mit hoher Rü-
ckenlehne, die Hände im Schoß gefaltet, als sei sie krampfhaft be-
müht, einen Rest von Würde zu wahren, während sie die Geschich-
te erzählte, die einer Demütigung ihrer Person gleichkam.
»Ich … ich weiß wirklich nicht, wo ich beginnen soll«, fing sie mit
brüchiger Stimme zu reden an. »Als Lucy Staines bei unserer Firma
zu arbeiten begann…«
»Vielleicht sollten Sie lieber mit dem Córdoba-Raub anfangen,
Miß Long«, unterbrach Mike sie.
»Der Córdoba-Raub! Das wissen Sie auch?« Entsetzt hielt sie sich
die Hand vor den Mund.
»Ich hatte schon lange den Verdacht. Aber nun erzählen Sie bitte
in aller Ruhe.«
»Aber Mike…«, begann Linda.
»Laß das bitte jetzt, Linda«, unterbrach er sie. Einen Augenblick
schwiegen alle drei, während Mike seinen Blick fest auf die blonde
Frau richtete, die nervös auf ihrem Sessel hin und her rutschte, bis
Mike weitersprach. »Vor längerer Zeit wurde der Diamantenanhän-
ger einer Südamerikanerin namens Córdoba gestohlen. Sie wohnte
damals im Hotel Ritz. Der Anhänger, bestehend aus einer Rubinen-
traube mit drei großen dazu passenden Diamanten, hatte einen
Wert von etwa einer Viertelmillion Dollar. Scotland Yard unter-
suchte den Fall, doch wurde das Schmuckstück nie gefunden. Viel-
leicht fahren Sie von hier mit Ihrem Bericht fort, Miß Long.«
Mit deutlichem Widerwillen nahm Irene Long den Faden auf.
»Mrs. Córdoba war eine unserer besten Kundinnen bei Conway
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und Racy. Ich habe ihr Dutzende von Modellkleidern verkauft. Da-
bei freundeten wir uns an, und eines Tages lud sie mich und zwei
andere Mädchen zu einer Cocktailparty ein. Wir waren vor Freude
sehr aufgeregt und nahmen die Einladung natürlich an.«
»Die beiden anderen Mädchen waren wohl Peggy Bedford und
Lucy Staines?«
»Ja. Es war ein wundervoller Abend. Damals begegnete mir übri-
gens Victor Sanders zum erstenmal. Auch Charles Corina war an-
wesend – ich glaube, die beiden Herren hatten früher einmal mit
Señor Córdoba Polo gespielt. Auf dieser Party sah ich dann den
Diamanten; Mrs. Córdoba trug ihn.«
»Und weiter?«
»Am folgenden Morgen haben wir drei uns in der Frühstücks-
pause ausgiebig über den Verlauf der Party unterhalten. Damals
schenkte ich dem, was Peggy sagte, keine große Bedeutung. Hinter-
her erinnerte ich mich allerdings deutlich an ihre Worte. Sie sagte,
es sei doch ungerecht, daß eine alte Zicke wie Mrs. Córdoba so
reich sei und so viele Juwelen besitze. Juwelen dieser Qualität soll-
ten junge und hübsche Mädchen zieren, womit sie natürlich sich
selbst meinte. Peggy war stets sehr von sich überzeugt. Dann sagte
sie noch, wenn jemand Mrs. Córdoba um ihren Anhänger erleich-
tern sollte, würde sie das nicht überraschen. Lucy und ich lachten,
weil wir das Ganze für einen Scherz hielten.«
»War Peggy Bedford damals schon mit Larry Boardman be-
kannt?« fragte Mike.
Linda schnitt Irene Long das Wort ab, ehe sie antworten konnte.
»Larry Boardman? Ist das nicht der Mann, dessen Foto du in Peg-
gys Wohnung vorgefunden hast?«
»Wann hat sie ihn kennengelernt?« drang Mike heftig auf sie ein
und ignorierte die neugierige Einmischung Lindas.
»Das weiß ich nicht genau. Der Diamantenanhänger wurde aber
etwa zwei Wochen nach der Party gestohlen. Natürlich waren wir
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über diese Nachricht sehr erregt, weil wir den wertvollen Schmuck
persönlich bewundert hatten. Kurz danach erschien Peggy nicht
mehr zur Arbeit und teilte mit, daß sie krank sei. Lucy Staines, ihre
engste Freundin, ging sie besuchen. Sie traf Peggy aber nicht an,
denn sie war umgezogen. Das fanden wir aber nicht ungewöhnlich,
weil sie es nirgendwo lange aushielt. Sie liebte es, Trubel um sich zu
haben. Immer Bewegung! Bewegung ist das halbe Leben! Das war
eine ihrer typischen Redensarten. Als sie wieder zur Arbeit erschien,
wollte sie sich nicht mehr in unseren Rhythmus einfügen, sie war
frech, launisch und arrogant. Irgend etwas hatte ihr den Kopf ver-
dreht. Als ich sie dann eines Tages dem Geschäftsführer melden
mußte, zerstritten wir uns, und sie sprach mehrere Tage nicht mehr
mit mir.«
Mike zündete sich eine Zigarette an und reichte auch Irene Long
sein Etui. Sie nahm dankend an und versuchte sich mit tiefen Lun-
genzügen zu beruhigen. Mike spürte, daß sie sich innerlich rüstete,
jetzt über ihre eigene Rolle in dieser Sache zu sprechen, was ihr be-
stimmt nicht leichtfallen würde.
»Etwas später«, nahm Miß Long ihren Bericht wieder auf, »ent-
schied Peggy sich dafür, das Kriegsbeil wieder zu begraben. Sie lud
mich in ihre neue Wohnung zum Abendessen ein. Es war in Ply-
mouth Mansions, wo Sie ihre Leiche gefunden haben. Offengestan-
den hat mich der Luxus in ihrer Wohnung beinahe umgeworfen.
Sie sehen ja, daß ich hier verhältnismäßig einfach lebe«, Miß Long
machte eine Handbewegung rundherum, »und dabei verdiene ich
mehr als Peggy. Sie schwamm also plötzlich in Geld, was mich sehr
überraschte.«
»Jemand, der sie näher kannte, beschrieb Peggy Bedford als eine
bessere Nutte«, unterbrach Mike sie mit schroffen Worten. »Wir
könnten auch sagen, sie war ein besseres Callgirl. Wollen Sie etwa
behaupten, daß Sie über diese Lebensweise Ihrer Kollegin nicht in-
formiert waren?«
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Miß Long hatte bei Mikes rücksichtslosem Hinweis auf Peggys
Nebenbeschäftigung einen wehleidigen Laut von sich gegeben. Die
Antwort auf seine Frage schien ihr so schwerzufallen, daß Linda
sich einmischte: »Das spielt doch jetzt wohl keine Rolle mehr, Mike.
Lassen wir es doch einfach bei der Feststellung, daß Peggy plötzlich
zu Geld kam. Womit hat sie denn ihren plötzlichen Wohlstand er-
klärt, Miß Long?«
»Sie sagte, ein Freund von ihr wäre gestorben und hätte ihr
3.000 Pfund hinterlassen; sie nannte es einen warmen Regem. Ich
sagte ihr, der warme Regen werde bald verdunsten, wenn sie das
Geld weiterhin in diesem Tempo verbrauche. Sie lachte aber nur
und meinte, wo sie das Geld her habe, da sei noch viel mehr zu ho-
len. Ich verstand nicht, wie sie das meinte, und fragte auch nicht
weiter. Beim Abschied gab sie mir dann ein Päckchen. ›Das ist für
dich, Darling‹, sagte sie. ›Nur ein kleines Geschenk als Pflaster auf
unseren überwundenen Streit.‹ Ich nahm das Päckchen mit nach
Hause, war aber zu müde, um es noch am selben Abend zu öffnen.
Sie werden kaum erraten, was ich am anderen Morgen in dem
Päckchen fand…«
»O doch, Miß Long«, unterbrach Mike sie. »Ein Paar Schuhe.«
Irene Long riß die Augen weit auf und schien völlig verdattert.
Mike beachtete ihre Reaktion nicht und fragte weiter: »Und wann
machte Peggy Bedford auch Lucy Staines ein Geschenk?«
Miß Long schüttelte hilflos den Kopf.
»Aber sie hat doch auch Lucy ein Paar Schuhe geschenkt, nicht
wahr?« drängte Mike.
»Ja.«
»Waren es die gleichen wie die Ihren?«
»Sie waren sich ziemlich ähnlich.«
Nun erst wandte Mike sich an Linda und erläuterte ihr den Zu-
sammenhang. »Der Córdoba-Anhänger wurde von Larry Boardman,
alias Leslie Bradley, alias … noch ein Dutzend anderer Namen, ge-
172
stohlen. Jedermann wußte es, das heißt die einschlägigen Kreise der
Unterwelt. Die Polizei konnte es ihm nicht nachweisen. Sie konnte
nichts weiter tun als ihn ständig beobachten, was Larry Boardman
natürlich ebenfalls wußte. Er war sich auch darüber im klaren, daß
es keinen Zweck hatte, den Diamantenanhänger irgendwo schnell
abzusetzen, dazu war die Ware noch zu heiß. Einige Monate später
lag er auf dem Sterbebett. Bevor er starb, ließ er eine gute Freundin
kommen…«
»Peggy Bedford?« warf Linda fragend ein.
»…und erzählte ihr, die Diamanten seien mindestens 80.000 Pfund
wert. Selbst angesichts des Todes war er noch vorsichtig genug, ihr
den Schmuck nicht auszuhändigen. Dieser müsse noch zwei bis drei
Jahre verborgen bleiben, bis sich die Gemüter beruhigt hätten, sag-
te er ihr.«
»Aber wenn Peggy die Diamanten gar nicht hatte…«
»Sie hatte etwas, was fast genauso wertvoll war – einen Mikrofilm,
der das genaue Versteck zeigte.« Zu Irene Long gewandt, fragte
Mike: »Habe ich bis jetzt etwas Falsches gesagt?«
Sie verneinte kopfschüttelnd. »Es stimmt alles; ich frage mich
nur, wie Sie das alles zusammengetragen haben.« Dann ging sie mit
sichtlicher Anstrengung wieder zu ihrer eigenen Geschichte über.
»Zunächst wußte Peggy nicht, was sie mit dem Mikrofilm anfan-
gen sollte. Allmählich dämmerte es ihr aber, was sie sich damit auf-
geladen hatte. Mit aller Deutlichkeit wurde ihr das vor Augen ge-
führt, als sie eines Tages nach Hause kam und die ganze Wohnung
durchwühlt vorfand. Jetzt wußte sie, daß außer der Polizei auch
noch andere Leute an dem Diamantenanhänger interessiert waren.
Deshalb zerschnitt sie den Mikrofilm in drei Teile und versteckte
jeden Teil im Absatz eines Schuhs. Sie schenkte mir und Lucy ein
Paar Schuhe, und in einem von jedem Paar befand sich im Absatz
ein Teil von dem Mikrofilm. Den dritten Schuh mit dem Filmteil
behielt sie selbst.«
173
»Hatten Sie eine Ahnung von dem versteckten Film, als sie Ihnen
die Schuhe gab?«
»Nein, darauf wäre ich nie gekommen. Sie hat es mir erst viel spä-
ter erzählt, und zwar kurz bevor Lucy ermordet wurde.«
Mike nickte und schwieg einen Augenblick. Dann fuhr er fort:
»Meinen Sie nicht auch, daß Sie bis jetzt in dieser Sache viel Glück
gehabt haben?«
»Wieso Glück?«
»Lucy Staines wurde ermordet, Peggy Bedford fand ebenfalls ein
unrühmliches Ende. Nadia Tarrant wurde erwürgt.«
»Ich kenne keine Nadia Tarrant.«
»Na, überlegen Sie lieber noch einmal, Miß Long. Diese Frau
wurde ermordet; auch ihr stahl man einen Schuh. Sie haben sich
ein- oder zweimal mit Nadia Tarrant im La Pergola-Klub getroffen.
Saltoni hat sie dort gesehen, und Corina hat es mir gestern persön-
lich bestätigt.«
Irene Long setzte zum Sprechen an – so, als wolle sie protestie-
ren, besann sich dann aber eines Besseren. Mit einem tiefen Seufzer
fuhr sie fort: »Ich verkaufte mein Drittel des Films an Nadia Tar-
rant. Wie sie herausgefunden hat, daß ich einen Teil besaß, habe
ich nie erfahren. Ich war inzwischen davon überzeugt, daß Bargeld
besser sei als das ständige Risiko, den Film zu behalten. Sie zahlte
mir tausend Pfund dafür. Bald danach fand ich, daß es doch recht
dumm von mir gewesen sei, den Film so billig herzugeben. Deshalb
traf ich mich mit Nadia und … nun ja, ich forderte mehr Geld.«
»Richtiger wäre es wohl, wenn Sie sagten: ›Ich setzte sie unter
Druck‹, Miß Long; selbst ›Erpressung‹ wäre kein zu starker Aus-
druck dafür. Aber lassen wir das jetzt. Ein Punkt ist noch wichtig:
Kaufte Nadia Tarrant den Film für sich selbst oder im Auftrage?«
»Sie sagte, sie sei nur Vermittlerin.«
»Nannte sie keinen Namen?«
»Nein, dazu war sie viel zu vorsichtig.«
174
»Ich nehme an, inzwischen haben Sie selbst eingesehen, wie
dumm Sie sich verhalten haben. Als Sie wußten, was auf dem Film
war, hätten Sie ihn sofort zu Scotland Yard bringen müssen.«
Irene Long gab ein hohlklingendes Lachen von sich. »Wenn man
aus dem Rathaus kommt, ist man stets klüger. Wenn Sie nur ein
wenig menschliches Empfinden besäßen, was ich bezweifle, Mr.
Baxter, dann müßten Sie verstehen, wie leicht jemand in meiner
Situation in eine solche Versuchung geraten kann. Ich mußte mir
mein Leben lang alles hart erarbeiten. Plötzlich ergab sich nun eine
Gelegenheit, mühelos tausend Pfund auf den Tisch geblättert zu be-
kommen. Ich konnte nicht einsehen, daß ich ein schweres Verbre-
chen beging. Ich hatte die Diamanten doch nicht gestohlen und
wollte nicht einmal den Film über das Versteck behalten.«
Mike schüttelte tadelnd den Kopf. »Gott bewahre mich vor sol-
cher Logik! Haben Sie nie etwas von ›Beihilfe und Begünstigung
nach der Tat‹ gehört? Ganz zu schweigen von Ihrem Versuch, Na-
dia Tarrant zu erpressen. Sie wußten, was auf dem Film zu sehen
war. Kein anständiger Mensch hätte auch nur einen Augenblick
Zweifel darüber gehabt, was korrekterweise zu tun war.«
»Ich betrachte mich nach wie vor als anständigen Menschen, Mr.
Baxter. Das war die einzige leichtfertige Handlung meines Lebens.
Ich war einfach zu schwach, der Versuchung zu widerstehen; das ist
alles.«
Mike rekelte sich aus seinem Sessel empor und ging, um seine
Gedanken konzentrieren zu können, zum Fenster hinüber. Miß
Long warf Linda einen forschen Blick zu und beobachtete Mike
ängstlich. Linda wußte, daß Mike in diesem Falle jeden Anflug von
Weichherzigkeit mißbilligen würde. Als sie jedoch dieses Nerven-
bündel von Frau vor sich sah, die sie bisher als Musterbeispiel von
Freundlichkeit und Tüchtigkeit gekannt hatte, kam eine Woge des
Mitgefühls in ihr hoch. Sie wollte gerade zu einem guten Wort für
Miß Long ansetzen, als Mike sich umwandte. Er hatte seine Über-
175
legungen beendet und wirkte jetzt nicht mehr so streng und hart.
»Ich weiß natürlich nicht, wie die Polizei die Sache beurteilen
wird«, begann er. »Ich bin aber bereit, mich für Sie einzusetzen,
wenn Sie von nun an mit mir zusammenarbeiten. Ich habe auch
nicht vergessen, daß Sie mir mit Ihrer Warnung, nicht nach Rea-
ding zu fahren, einen wertvollen Dienst erwiesen haben. Ich bekam
tatsächlich eine Einladung dorthin und bin Ihnen für die Warnung
dankbar.«
»Wer hat Sie nach Reading eingeladen?«
»Corina. Wußten Sie das nicht?«
»Ich kam gerade aus der Damentoilette im Klub, als ich draußen
zwei Männer sprechen hörte. Ich habe ihre Stimmen nicht erkannt,
konnte aber der Unterredung entnehmen, daß man es auf Sie ab-
gesehen hatte.«
»Ach, so war das.«
»Was meinten Sie eben mit ›Zusammenarbeit‹, Mr. Baxter? Was
habe ich dabei zu tun?«
»Nichts, was viel Mühe macht. Sie sollen nur eine Cocktailparty
geben; auf meine Kosten natürlich.«
Irene Long blinzelte überrascht und atmete erleichtert auf. »Wann
soll das sein?«
»Morgen abend. Hier in dieser Wohnung.«
»Und wen soll ich einladen?«
»Alle, die etwas mit dem Fall Harold Weldon zu tun hatten. Vic-
tor Sanders, Hector Staines, meine Frau und mich, Inspektor Rod-
gers und Kriminaldirektor Goldway.«
»Werden die auch alle kommen?«
»Das ist Ihre Sache. Ich verlasse mich auf Ihre Überredungskün-
ste. Da Sie Goldway nicht kennen, werde ich das selbst mit ihm
arrangieren. Für das Kommen aller anderen aber sind Sie verant-
wortlich. Ist das klar?«
»Sie sagten Cocktailparty? Das würde doch eine frühe Stunde
176
sein.«
Mike überlegte kurz. »Sagen wir um sieben Uhr. Stopp, beinahe
hätte ich einen vergessen. Sie müssen auch Charles Corina einla-
den.«
Irene Long nickte, ohne etwas zu sagen. Mike griff nach seinem
Hut, nahm Linda beim Arm und verließ mit ihr die Wohnung.
14
uch mit größter Phantasie hätte niemand den Ablauf von Miß
Longs Cocktailparty als einen lustigen Abend schildern kön-
nen. Obwohl die Gastgeberin großzügig auftischte und einschenkte,
kam bei keinem der Anwesenden das Gefühl der Entspannung auf.
A
A
Sie waren zu acht im Raum – acht Personen und einer, der nur im
Geiste anwesend war, sie aber alle zusammengeführt hatte. Vom Er-
gebnis dieser Party würde es abhängen, ob er das Pentonville-Ge-
fängnis lebend verlassen würde.
Irene Long überbot sich und eilte mit gekünsteltem Lächeln auf
dem stark geschminkten Gesicht von einem zum andern, immer
wieder bemüht, die Gesprächspartner etwas umzugruppieren. Kri-
minaldirektor Goldway und Inspektor Rodgers bildeten ein stum-
mes Paar neben der Tür. In seinem dunklen Anzug mit steifem wei-
ßem Kragen, der ihm etwas zu eng war, nahm sich Rodgers ziem-
lich unglücklich aus. Hector Staines starrte argwöhnisch auf alles
und jedermann von seinem Hocker nahe der Hausbar, den er für
den einzig akzeptablen Platz im ganzen Zimmer hielt. Charles Co-
rina bemühte sich, seinen Charme bei Hector Staines anzubringen,
177
indem er ein nichtssagendes Gespräch über einige Bilder an den
Wänden begann. Aber auch die beiden kamen zu keiner aufgelo-
ckerten Unterhaltung, da Staines sich nicht wohlzufühlen schien.
Die Baxters saßen aufmerksam auf der Couch, wie zwei Theaterbe-
sucher, die darauf warten, daß der Vorhang endlich hochgeht.
Es war schließlich Sanders, der mit hochrotem Gesicht die ›Vor-
stellung‹ beginnen ließ. »Hören Sie mal, Baxter!« rief er mit einer
Lautstärke, daß es jedem in den Ohren dröhnte, aber sofortige
Stille herbeiführte. »Sie sollten mich endlich ins Bild setzen. Was,
zum Teufel, wird hier eigentlich gespielt?«
Mike riß die Augen groß auf und tat völlig unschuldig, während
er zugleich ein Lächeln unterdrückte, als Linda ihm ins Ohr flüster-
te: »Immer nett sein und höflich zuhören, wenn man mit dir
spricht.«
»Was fragen Sie mich, Sanders? Miß Long hielt es für nett, einmal
ein Plauderstündchen mit uns zu veranstalten. Das ist alles.«
»Mein guter Mann… Sie haben doch keine kleinen Kinder vor
sich! Es liegt doch auf der Hand, daß Sie derjenige sind, der uns
hierhergelockt hat, und nicht Irene. Ich verstehe nicht, wie sie sich
für ein solches Affentheater überhaupt hergeben konnte.«
Irene Long sah aus, als würde sie jeden Augenblick umfallen.
Selbst die Schminke konnte die scharfen Gesichtsfalten und die
dunklen Ringe unter den Augen nicht mehr verbergen. Sie setzte
nervös lachend zu einer Antwort an: »Ich bitte dich, Victor!« – aber
Corina schnitt ihr das Wort ab.
»Ich muß gestehen, daß ich einer Meinung mit Mr. Sanders bin.
Schweigen Sie jetzt in Ihrem Talent für Melodrama, Mr. Baxter,
oder mangelt es Ihnen an Material für einen Kriminalroman?« Er
lächelte dünn, wobei seine Augen in Erwartung eines hitzigen Wort-
gefechtes zu glitzern begannen. Er schien sich sehr sicher zu fühlen.
»Wenn ich das brauchte«, konterte Mike, »hätte mir der Fall Wel-
don Material in Hülle und Fülle gegeben.«
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»Wenn Sie uns etwas zu sagen haben, Mr. Baxter«, begann nun
auch Staines mit erregter Stimme, »dann rücken Sie endlich damit
heraus!«
Mike fixierte ihn mit einem Blick aus halbgeschlossenen Augen.
»Nicht ich habe etwas zu sagen, Mr. Staines. Aber ein anderer in
diesem Raum. Vielleicht sollte ich zunächst sein Gedächtnis auffri-
schen: Im Mai dieses Jahres wurde Lucy Staines ermordet und ihr
Verlobter Harold Weldon verhaftet und wegen Mordes verurteilt.«
»Das war ein Fehlurteil!« warf Sanders temperamentvoll ein. »Ha-
rold war nicht der Mörder.«
»Stimmt. Er war es nicht.«
»Vielleicht haben Sie dann die Güte, uns zu sagen, wer es war,
Mr. Baxter«, schlug Corina ironisch vor.
»Das kommt noch. Bitte etwas Geduld. Es stimmt zwar, daß Wel-
don mit Lucy vorher einen Streit gehabt hatte. Mr. Staines und an-
dere Personen können das bezeugen. Da aber nunmehr feststeht,
daß Weldon den Mord danach nicht begangen hat, ist diese Kab-
belei völlig belanglos. Wir können das ausschalten und das Mord-
motiv anderswo suchen. Der Ansatzpunkt für ein Motiv findet sich
im Foto eines bekannten Juwelendiebs, das ich in Peggy Bedfords
Wohnung nach ihrem Tode entdeckte.«
»Meinst du das Bild von Larry Boardman?« fragte Goldway.
Mike nickte. »Ja, Larry Boardman, der auch unter den Namen
Leslie oder Leonard Bradley bekannt war und der sich mit Peggy
angefreundet hatte. Gut informierte Kreise der Unterwelt waren der
Ansicht, daß Larry ein äußerst wertvolles Schmuckstück gestohlen
hätte, und zwar die Córdoba-Diamanten. Die Polizei wußte das
doch auch, nicht wahr, Inspektor?«
Rodgers verzog mürrisch das Gesicht. »Natürlich wußten wir es;
wir hatten aber keine ausreichenden Beweise, um Boardman verhaf-
ten zu können. Wir beschatteten ihn längere Zeit; dann starb er
plötzlich – sonderbarerweise eines natürlichen Todes.«
179
»Genauso war es«, fuhr Mike fort. »Kurz bevor Boardman starb,
händigte er seiner Freundin Peggy Bedford einen Mikrofilm aus,
auf dem das Versteck des gestohlenen Diamantenanhängers festge-
halten war. Nachdem man mehrfach versucht hatte, ihr den Film
zu rauben, schnitt sie ihn in ihrer Verzweiflung in drei Teile und
versteckte jeden Teil im Absatz eines Damenschuhs. Da sie sich
dessen bewußt war, daß sie noch immer im Besitz eines gefährli-
chen Dokuments war, verschenkte sie Schuhe, die zwei Filmteile –«
Staines unterbrach Mike: »An die beiden ermordeten Mädchen,
an meine Tochter und an Nadia Tarrant!«
»An Lucy, ja, Mr. Staines. Aber nicht an Nadia Tarrant.«
»Einen Augenblick, Baxter«, mischte sich jetzt Sanders ein, indem
er sein Glas hinstellte und ein paar Schritte in Richtung der Couch
tat. »Wenn die Tarrant keinen der ominösen Schuhe hatte, dann
war sie doch auch nicht im Besitz des einen Filmstreifens.«
Aus einem Augenwinkel heraus sah Linda, wie Irene Long sich
haltsuchend an den Kamin lehnte. Ob Sanders in diesem Augen-
blick wohl an den Telefonanruf dachte, den sie, Linda, statt der
Tarrant beantwortet hatte?
Mike erwiderte ungerührt: »Ich habe nur gesagt, daß Peggy Bed-
ford ihn ihr nicht gegeben hatte. Trotzdem besaß die Tarrant ein
Drittel des Films, weil es ihr gelungen war, ihn zu kaufen.«
»Und von wem, Mr. Baxter?« fragte Rodgers sofort. »Doch sicher
nicht von Lucy Staines?«
»Nein. Die betreffende Person soll nicht genannt werden, zumin-
dest jetzt noch nicht.«
Corina durchbrach das spannungsgeladene Schweigen, das Mikes
Worten folgte. »Darf ich den Herrn Vorsitzenden unserer kleinen
Versammlung hier etwas fragen? Wie und wann endlich kommt
nun der große Unbekannte, Ihr Mr. Bannister, in Ihre Geschichte
hinein? Dieser Herr interessierte Sie doch so außerordentlich.«
»Mein Interesse für Mr. Bannister ist nach wie vor groß, Corina.
180
Dieser Unbekannte wußte, daß Larry Boardman kurz vor seinem
Tode Peggy Bedford den Film gegeben hatte. Er war entschlossen,
ihn unter allen Umständen in seinen Besitz zu bringen, koste es, was
es wolle. Er beauftragte Nadia Tarrant, die nicht gerade eine Säulen-
heilige war, einen Teil des Mikrofilms gegen Zahlung eines größe-
ren Betrages an sich zu bringen. Dann ermordete Bannister Lucy
Staines –«
»Bist du dessen sicher, Mike?« erkundigte sich der Kriminaldirek-
tor ernst.
»Absolut sicher, John. Und mehr noch: Ein paar Monate später
richtete dieser Mörder es so ein, daß der Tod von Peggy Bedford
wie Selbstmord aussah…«
Staines stieß einen heftigen Laut der Überraschung aus. »Wollen
Sie damit behaupten, daß auch Peggy ermordet wurde?«
Alle Anwesenden starrten Staines an, baß erstaunt über die Wut,
mit der er auf Mikes Darlegung und die unerwartete Enthüllung
reagierte. Staines hatte es hart getroffen. Er packte seinen Stock, als
wolle er jeden Augenblick damit losschlagen. Mit echt weiblichem
Spürsinn wurde es Linda klar, daß der alte Mann in das ermordete
Mädchen verliebt gewesen war, trotz des großen Altersunterschiedes
und Peggys zweifelhaftem Charakter.
Goldway wandte sich nochmals an Mike. »Ich muß meine Frage
wiederholen, Mike. Bist du wirklich sicher, daß du die Dinge und
Zusammenhänge richtig dargestellt hast?«
»Das wäre eine Feststellung von großer Tragweite«, fügte Inspek-
tor Rodgers hinzu. »Ich hoffe, Sie haben die sich daraus ergeben-
den Konsequenzen richtig eingeschätzt.«
Mike nickte zustimmend mit ruhigem Gesichtsausdruck. »Zu den
Einzelheiten kommen wir später. Ich möchte mich jetzt weiter mit
den Taten von Mr. Bannister befassen. Er hatte nun bereits zwei
Teile des Films in Händen, und Miß Tarrant war es gelungen, den
dritten Teil für eintausend Pfund zu erwerben. Sobald sie ihm die-
181
sen Teil aushändigte, hatte er das, was er wollte. Er kannte das Ver-
steck der Córdoba-Diamanten, die einen Wert von etwa 80.000
Pfund haben. Damals muß er das Gefühl gehabt haben, alles sei in
bester Ordnung. Aber dann lief sein Schiff auf Grund; es war gegen
ein Riff gelaufen, denn er hatte nicht mit der Habsucht einer Frau
gerechnet. Nadia Tarrant weigerte sich, das Filmdrittel herzugeben.
Sie wollte einen größeren Anteil an der Beute. Es ist doch immer
das alte Lied, wenn Diebe miteinander Streit bekommen… Seiner
Ansicht nach gab es nur einen Weg, sein Schiff wieder flottzuma-
chen – er mußte die Tarrant umbringen. So lockte er sie zu einer
heimlichen Zusammenkunft in ein abgelegenes Waldstück bei Farn-
ham, während er gleichzeitig eine andere Frau beauftragte, ihr Aus-
sehen dem von Nadia Tarrant anzupassen und deren Wohnung in
Soho zu durchsuchen.«
Sanders' Stimme dröhnte durch den Raum. »Dann war also dieser
Bannister der Strolch, der das Beweismaterial gegen Weldon ge-
fälscht hat?«
»Ja, der war es. Er zeigte der Tarrant vorher Fotos von Weldon,
so daß sie schon vor der Identifizierungsparade im Polizeipräsidium
wußte, wie er aussah, und ihn dann als den Mann herauspicken
konnte, den sie angeblich um Mitternacht vom Tatort hatte fort-
laufen sehen. Das übrige Beweismaterial zu fälschen war ziemlich
einfach, zumal Weldon ihm ungewollt dadurch half, daß er sich
mit Lucy vor deren Ermordung stritt und bei der Polizei eine fal-
sche Aussage im Zusammenhang mit seinem Alibi machte.«
Alle Anwesenden saßen schweigend da, während Rodgers sich ei-
ne neue Zigarette anzündete und Corina zur Hausbar schlenderte,
um sich sein Glas zu füllen. Die Hausbar stand in einer Zimmer-
ecke, so daß Corina allen ins Gesicht sah, als er sich umdrehte und
in freundlichem Ton sagte: »Ich muß zugeben, Mr. Baxter, Sie ver-
stehen es ausgezeichnet, interessante und spannende Geschichten
zu erzählen. Haben Sie Ihren Sinn für Effekte inzwischen so weit
182
ausgekostet, daß Sie uns endlich sagen können, wer Ihrer Ansicht
nach dieser mysteriöse Mr. Bannister ist?«
Mike sah ihn mit halbgeschlossenen Augen an. Es war so still,
daß man nur das schwere Atmen von Hector Staines und das leise
Aufsetzen des Glases hörte, das Corina mit leicht spöttischem Lä-
cheln auf den Rand der Hausbar stellte.
»Vielleicht würden Sie lieber diese Frage beantworten, Mr. Co-
rina?« konterte Mike mit halblauter Stimme.
»Sie schmeicheln mir. Wie kommen Sie darauf, ich könnte Ihr
geistreiches Rätsel lösen?« Corina lächelte und griff nach einer Zi-
garette in einer nahestehenden Zigarettenschachtel. Mit der anderen
Hand suchte er nach seinem Feuerzeug. Statt dessen kam sie mit
einem schußbereiten Revolver zum Vorschein.
»Aufpassen, Baxter!« schrie Inspektor Rodgers, während beide
Frauen aufkreischten. Sanders machte eine instinktive Abwehrbewe-
gung, aber Corina richtete sekundenschnell den Pistolenlauf auf
ihn und rief: »Meine Herrschaften, die Party ist beendet. Schluß
jetzt mit dem Affentheater! Stellen Sie sich alle mit dem Rücken
zur Wand. Los, etwas dalli, bitte! Rodgers und Goldway, geben Sie
die Tür frei. Ich gehe jetzt und möchte mir nicht den Weg frei-
schießen müssen.«
Die Anwesenden waren völlig verdattert und gehorchten ängst-
lich. Sie stellten sich nebeneinander an der Wand auf und ließen ei-
nen breiten Gang zur Tür für Corina frei. Er ging, den Revolver in
der Hand, mit schnellen Schritten an allen vorbei und tastete mit
der freien Hand die Anwesenden mit geübtem Griff nach verbor-
genen Waffen ab. Niemand war bewaffnet.
Im letzten Moment vor dem Verlassen des Zimmers erblickte er
noch Lindas Handtasche. Er ließ das Schloß aufschnappen und
kippte den Inhalt auf den Teppich. Lächelnd und mit einem Unter-
ton des Bedauerns sagte er zu Linda: »Leider spielen Frauen oft mit
derlei Dingen«, wobei er auf den Revolver in seiner Hand deutete.
183
»Ich schließe jetzt die Tür von außen zu. Der erste, der sie aufzu-
brechen versucht, bekommt eine blaue Bohne in den Pelz. So, das
wäre alles.«
Er zog den Schlüssel ab, ging schnell rückwärts zur Tür hinaus
und schloß sie draußen sofort ab. Kein Laut war mehr zu hören.
Sanders bewegte sich als erster. Das gebot ihm der Ehrenkodex
des Gentleman. Mit einem Fluch, der wie ›verdammtes Schwein‹
klang, ging er auf die Tür zu. Irene Long schrie ihm eine Warnung
zu, doch beruhigte Inspektor Rodgers sie. »Der wird kaum noch
draußen herumlungern, sondern zunächst einmal soviel Boden wie
möglich zwischen sich und uns bringen.«
Nach diesen Worten wirbelte er herum, um nach dem Telefon zu
greifen. Kriminaldirektor Goldway war ihm aber schon zuvorge-
kommen und hatte bereits gewählt. Eine Sekunde später gab er An-
weisung für einen allgemeinen Alarm mit dem Befehl, Charles Co-
rina, Inhaber des Nachtklubs La Pergola, festzunehmen.
Inzwischen hatte Sanders seinen Rock ausgezogen und einen
Schürhaken vom Kamin ergriffen, mit dem er sich daran machte,
die Tür geräuschvoll aufzubrechen.
Mike hielt ihn zurück. »Schonen Sie den Lack von Miß Longs
Tür, alter Junge. Ich glaube, es gibt einen leichteren Weg.« An Hec-
tor Staines gewandt, der ermüdet auf der Couch saß, sagte er: »Der
Hauswart wird bestimmt einen Hauptschlüssel haben. Wissen Sie
zufällig die Telefonnummer von Dan Appleby?«
Staines lief scharlachrot an und stammelte etwas Unverständli-
ches, während Rodgers und die anderen ratlos dreinblickten. Irene
Long hatte sich so weit gefaßt, daß ihr die Nummer einfiel. Einige
Minuten später öffnete Dan Appleby von außen und überschlug
sich beinahe, als er die Gesellschaft in Miß Longs Wohnung vor
sich sah. Sein Gesicht zeigte eine solche Mischung von Neugier,
fassungslosem Staunen und sofortigem Wiedererkennen der Baxters,
daß Linda ein Lächeln nicht unterdrücken konnte.
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Mike nutzte die fortdauernde Verwirrung, um Kriminaldirektor
Goldway beiseite zu ziehen und ihm zuzuflüstern: »Ich hätte mit
dir später gern unter vier Augen gesprochen. Aber so, daß uns wirk-
lich niemand sieht.«
Goldway hatte verstanden, warf ihm einen schnellen Blick zu und
flüsterte: »In einer Stunde bei mir zu Haus.«
Vierundzwanzig Stunden später kam Mike nach Haus. Ihm fiel so-
fort auf, daß Linda sehr besorgt war.
»Eben noch war Inspektor Rodgers hier, Darling. Von Corina
fehlt noch jede Spur. Die Polizei wird doch hoffentlich nach all der
harten Arbeit, die du geleistet hast, die Sache jetzt nicht noch ver-
masseln?«
Mike lächelte. »Das glaube ich nicht.«
»Wie hat Weldon die Nachricht aufgenommen?«
»Er war nicht mehr so sarkastisch wie bisher. Du wirst es kaum
glauben – er hat sich sogar bedankt. Ich habe ihm gesagt, er solle
seinen Dank lieber bei dem Innenminister und bei Kriminaldirektor
Goldway abstatten.«
»Du bist wieder einmal zu bescheiden! Mehr hatte er nicht zu
sagen?«
Mike lachte vergnügt vor sich hin. »Nein. Eigentlich muß man ja
seine Haltung bewundern, wenn man bedenkt, durch welche Hölle
er inzwischen gegangen sein muß. Als ich ihm sagte, sein Fall werde
wieder aufgerollt, erwiderte er nur: ›Das ist aber nett; jetzt kann ich
den Scheck wenigstens persönlich zum Anwalt tragen und ihm sa-
gen, was er damit tun kann.‹«
»Ist ja alles ganz schön und gut. Unverständlich ist mir nur, wa-
rum die Polizei so lange braucht, um Corina zu fassen. Rodgers er-
zählte mir, die Fahndung erstrecke sich auf alle Häfen und Bahn-
höfe und es seien massenhaft Beamte eingesetzt. Der Inspektor
selbst sieht aus, als hätte er seit einer Ewigkeit kein Auge mehr zu-
185
getan.«
»Das kann ich mir denken. Du brauchst dir aber wirklich keine
Sorgen zu machen, Liebes. Jetzt kann ich dir versprechen, daß alles
gut ausgehen wird.«
Das Telefon klingelte, und Linda nahm den Anruf entgegen. »Es
ist für dich, Liebling. John Goldway ist es.«
»Guten Abend, John. Was gibt es denn? … Doch, alles läuft plan-
mäßig ab… Ich weiß, aber er wird die Verabredung einhalten, dafür
bürge ich mit meinem Kopf… Richtig. Hauptsache, die Umgebung
ist so abgesichert, daß keine Maus mehr durchschlüpfen kann und
daß deine Leute nicht zu sehen sind… Danke schön, John. Also,
um neun Uhr an der verabredeten Stelle.«
Als er den Hörer auflegte, überfiel ihn Linda aufgeregt mit Fra-
gen. »Etwa eine Verabredung mit Corina? … Wo?«
Mike stützte das Kinn auf zwei Finger und lächelte verschmitzt.
»Nun, wo soll Corina um neun Uhr schon anzutreffen sein? Natür-
lich in seinem Klub.«
Lindas weitere Fragen wehrte er ab: »Nun sei ein liebes Mädchen,
nimm dir ein entspannendes Buch, und mache es dir auf der Couch
bequem. Ich bin bald wieder da.«
»Wo willst du denn jetzt hin?«
»Zum Klub natürlich.«
»Was? Etwa ohne mich?«
»Darling – es besteht durchaus die Möglichkeit, daß es dort heute
etwas rauh zugehen könnte. Es dürfte nicht gerade ein Damen-
kränzchen werden.«
»Mach dir da keine Hoffnungen, Mr. Baxter! Ausgerechnet in
dem Augenblick, wo die Rennpferde in die Zielgerade einbiegen,
soll ich die Tribüne verlassen? Wenn du wirklich ohne mich dahin
willst, dann mußt du mich hier anketten.«
Mike sah sie nachdenkend und kopfschüttelnd an. »Und das ist
die Frau, die sich gestern erst – oder war es vorgestern – darüber be-
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klagte, daß ihr Leben so eintönig verlaufe.«
Linda konnte im Pergola-Klub nichts Ungewöhnliches entdecken,
abgesehen davon, daß an diesem Abend mehr Gäste als sonst da
waren. Dieselbe üppige Blondine, die schon bei ihrem ersten Be-
such mit rauher Stimme ins Mikrophon gezwitschert hatte, war wie-
der aktiv und sang das gleiche Lied. Geschminkte und gepuderte
Mädchen und feminin wirkende junge Männer wiegten sich in der
matten Beleuchtung zu den Klängen der südamerikanischen Rhyth-
men auf der winzigen Tanzfläche. Kellner in rosa Jacken flitzten ge-
schickt zwischen den Tischen hin und her, und der rothaarige Bar-
mixer hatte immer noch einen Haarschnitt dringend nötig. Linda
hatte so viel Aufregendes erwartet, daß sie ihre Enttäuschung kaum
verbergen konnte.
Mike fragte leicht belustigt: »Womit hast du eigentlich gerechnet,
Liebling? Etwa mit schlecht getarnten Polizeihelmen unter jedem
Tisch und einer Polizeikapelle auf der Bühne statt der südamerika-
nischen Band?«
»Es ist doch aber auch draußen niemand von Rodgers' Leuten zu
sehen«, erwiderte Linda.
»Das wäre ja schlimm. Sie sind trotzdem da; du brauchst keine
Angst zu haben.«
»Und was, um Himmels willen, läßt dich annehmen, daß Corina
ausgerechnet hierher zurückkehren wird? Das wäre doch wohl der
letzte Fleck auf Erden, wohin er sich wagen würde.«
»Na, warten wir ab.«
Linda warf ihm einen prüfenden Blick zu. Obwohl Mike sich un-
bekümmert und beinahe leichtfertig gab, kannte sie ihn doch gut
genug, um in seinen Augen, die schnell den überfüllten Raum mus-
terten, Zeichen der Spannung zu erkennen. Als sie plötzlich Rod-
gers allein an einem Tisch in einer Loge sitzen sah, von dem aus er
den Raum gut überblicken konnte, hielt sie den Atem an. Sie gab
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Mike einen Rippenstoß und wollte etwas sagen. Aber er ließ sie
nicht zu Wort kommen.
»Ich weiß. Ich habe ihn auch gesehen. Mache aber bitte nicht
gleich einen Handstand vor Aufregung. Ich werde mich jetzt kurz
mit ihm unterhalten und komme dann zu dir an die Bar. Der Kri-
minaldirektor hat versprochen, uns hier um neun Uhr zu treffen.
Sollte es plötzlich ungemütlich werden, dann gehe einfach hinter
der Bar in Deckung.«
Mike wartete noch, bis Linda einen sicheren Platz an der Bar ge-
funden hatte. Dann bahnte er sich einen Weg zu Inspektor Rod-
gers. Dieser erhob sich und begrüßte Mike mit einer Stimme, die
seine physische Erschöpfung ahnen ließ. Beide setzten sich.
»Noch keine Spur von Corina?« fragte Mike.
»Nein, das Glück war mir noch nicht hold. Was trinken Sie?«
Rodgers winkte einen Kellner herbei und bestellte einen Martini
Dry für Mike und für sich einen Tomatensaft. Selbstbewußt grin-
send erklärte er: »So richtig einen heben werde ich erst, wenn wir
unseren Mann in Handschellen haben.«
»Kann ich mir denken. Eine Zigarette?«
Rodgers nahm eine und zündete sie sich am Rest der noch glü-
henden Zigarette an, die er im Mundwinkel hielt. Nachdem er tief
inhaliert hatte, fragte er: »Wie sind Sie eigentlich auf den Gedanken
gekommen, daß Corina hinter allem steckt?«
Mike hob fragend die Augenbrauen: »Haben Sie ihn etwa nicht
für verdächtig gehalten?«
»Verdächtig schien er mir schon. Doch stand er auf der Liste
nicht an erster Stelle.«
»Wer stand denn da, wenn ich fragen darf?«
»Harold Weldon, leider. Später, nach dem Zwischenfall mit Peggy
Bedford und dem Mord an der Tarrant habe ich alles noch mal
überprüft.«
»Und auf wen tippten Sie dann?«
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»Auf Victor Sanders.«
Mike nickte. »An sich logisch, wie ich zugeben muß. Sanders war
mit Irene Long und Harold Weldon befreundet. Seine Freundin be-
saß ein Drittel des Mikrofilms. Alles, was Sanders noch zu tun hat-
te, war, den zweiten Teil von Lucy Staines in die Hand zu bekom-
men…«
»Womit er schon zwei Drittel des Weges hinter sich hatte.«
»Genau. Dann blieb nur noch Peggy Bedford mit dem fehlenden
Drittel.«
»Das meinte ich auch.«
»Weldon machte aber nicht mit. Deshalb beschloß Sanders, sich
die Mitarbeit von Hector Staines zu sichern. Der mußte doch wohl
imstande sein, den fehlenden Filmteil von seiner Tochter zu be-
kommen. Er erzählte Staines von dem Film und versprach ihm ei-
nen beträchtlichen Anteil an der Beute. Staines befand sich ständig
in Geldnöten, weil er sich unglücklicherweise mit der kostspieligen
jungen Dame Peggy Bedford abgab. Wenn ein alternder Mann sich
eine Freundin dieses Genres hält, kostet das meist eine Stange Geld.
Es war Pech für Sanders und Staines, daß Lucy ermordet wurde,
ehe sie das Mädchen für sich gewinnen konnten.«
Rodgers nickte. »Und wir brauchen auch gar nicht weit nach
ihrem Mörder zu suchen.«
»Natürlich nicht. Es war der mysteriöse Mr. Bannister, der vom
Raub der Córdoba-Diamanten wußte, der Larry Boardman kannte
und darüber informiert war, daß das Versteck der Juwelen auf ei-
nem Filmstreifen festgehalten war, den man inzwischen in drei Teile
zerschnitten hatte. Er wußte auch, daß Lucy Staines einen Teil da-
von besaß.«
Der Kellner brachte die Getränke, und Mike nippte genießerisch
an seinem Glas. »Staines war natürlich entsetzt über den Tod seiner
Tochter, während das für Victor Sanders meines Erachtens kein so
großer Schock war. Der wußte schon ziemlich viel über Bannister
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und konnte erraten, wer der Mörder sein mußte. Deshalb traf es
ihn auch so hart, als sein Freund Harold Weldon verhaftet und spä-
ter verurteilt wurde. Sanders erfuhr von der Fairfax-Eintragung in
Lucys Notizbuch und folgerte daraus, daß Fairfax ein anderer Na-
me für Bannister war. Daher fabrizierte er den Brief dieses sagenhaf-
ten Fairfax, mit dem er zu beweisen hoffte, daß man Weldon dieses
Verbrechen angehängt hatte, was ja auch stimmte.«
»Und Bannister soll das getan haben?«
»Ja, Bannister. Mein erster Eindruck von Staines und Sanders«,
berichtete Mike weiter, »traf beinahe ins Schwarze. Beide waren ehr-
lich bestrebt, Weldons Unschuld zu beweisen. Da ihre Westen je-
doch alles andere als sauber waren, konnten sie nicht allzuviel
Druck dahintersetzen.«
»Das leuchtet mir ein«, sagte Inspektor Rodgers und fragte: »Aber
wie paßt Nadia Tarrant in das Bild?«
»Sie war von Bannister gekauft worden. In seinem Auftrag erwarb
sie von Irene Long den fehlenden dritten Teil des Films. Als San-
ders hörte, daß seine Freundin Irene kalte Füße bekommen und
ihren Teil für ganze tausend Pfund abgestoßen hatte, wurde er wü-
tend. Bei einem Wertobjekt von 80.000 Pfund ist das natürlich eine
lächerliche Summe.«
»Dann hat er der Tarrant sicher sofort mindestens fünfzehnhun-
dert geboten?« fragte Rodgers.
Mike nickte. »Etwa in dieser Höhe. Den genauen Betrag weiß ich
nicht. Deswegen rief er auch damals an, als Linda und ich gerade in
dieser stinkigen Bude der Tarrant in Soho waren. Am Telefon fragte
er doch: ›Was ist mit der Sache Bannister? Bekomme ich endlich
den dritten Schuh?‹, womit er natürlich den dritten Teil des Films
meinte.«
»Hm. Und was mit Nadia Tarrant geschah, wissen wir ja.«
»Das schon. Aber man lief bei ihr leicht Gefahr, sie zu unter-
schätzen.«
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Rodgers warf Mike einen scharfen fragenden Blick zu. »Wie mei-
nen Sie das?«
»Selbst ein Mann wie Bannister unterschätzte sie.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Er muß ihr eine Menge Geld gezahlt haben, damit sie gegen Ha-
rold Weldon als Kronzeugin der Anklage aussagte.«
Rodgers nickte nachdenklich. »Falls er sie nicht erpreßt hat; dann
hätte es ihn gar nichts gekostet.«
»Auch das wäre möglich, doch glaube ich eher, daß es letzten En-
des die Tarrant war, die ihn zu erpressen begann.«
»Wieso das? Ich dachte, sie wäre nie mit ihm persönlich zusam-
mengetroffen.«
»Das war ja auch gar nicht notwendig. Sie muß jedenfalls Ver-
dacht geschöpft haben und verschaffte sich Informationen. Sie ging
sogar so weit, in einer Bibliothek einiges nachzuschlagen.«
Rodgers schien perplex.
Mike teilte ihm lächelnd weitere Einzelheiten mit. »Es handelt
sich um eine Bibliothek in der Tottenham Court Road. Sie hatte ei-
ne bestimmte Person in Verdacht und suchte über sie nähere An-
gaben in einem Nachschlagewerk. Sie hatte inzwischen eigenartige
Dinge über den mysteriösen Mr. Bannister in Erfahrung gebracht
und wollte das nun mit den biographischen Angaben über den
Mann vergleichen, den sie für Bannister hielt.«
Rodgers drückte den Stummel aus und zündete sich eine neue
Zigarette an. Sein Tomatensaft stand noch unberührt vor ihm. »Sie
haben in den letzten Tagen ja erstaunlich viel Informationen zu-
sammengetragen. Jammerschade, daß Sie nicht zur Kriminalpolizei
gehören, Mr. Baxter.«
»Ach, diese Spur zu verfolgen, war gar nicht so schwer. Saltoni er-
zählte mir, er habe Nadia Tarrant in dieser Bibliothek kennenge-
lernt, was mir verdammt merkwürdig vorkam. Ich ging hin und
stellte fest, daß die Tarrant sich dort zwei Bücher hatte geben las-
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sen. Das eine war ein dicker Wälzer über die Technik des Fotogra-
fierens.«
»Sehr interessant! Fotografieren ist doch Sanders' Hobby.«
Mike nickte. »Das schon. Am meisten interessierte sie aber das
zweite Buch: Die Enzyklopädie der Sozialwissenschaften. Sie werden be-
stimmt wissen, welche ich meine.«
Rodgers Augen schlossen sich etwas; er äußerte sich aber nicht
dazu.
Nach einer Pause sprach Mike langsam weiter. »Dieses Buch ent-
hält auch eine große Anzahl biographischer Angaben über Geheim-
agenten und führende Beamte von Scotland Yard.«
Rodgers erstarrte, aber sein Gesicht blieb ausdruckslos wie eine
Maske. »Darin dürfte sie kaum etwas über Corina gefunden haben«,
sagte er schließlich.
Mike lehnte sich weit über den Tisch. »Miß Tarrant suchte auch
keine Angaben über Corina. Sie interessierte sich für die Biographie
über den Kriminalinspektor Rodgers!«
Rodgers schien belustigt. »Wollen Sie damit etwa sagen, daß die-
ses Weibsstück mich verdächtigte? Daß sie dachte, ich sei Bannis-
ter?«
»Genau das wollte ich sagen!«
»Aber warum, zum Teufel? Warum?«
»Weil Sie Bannister sind, Inspektor!« schrie Mike seinem Gegen-
über wie rasend vor Wut ins Gesicht. »Darum!«
Rodgers starrte ihn fassungslos vor Erstaunen an. »Worauf, um
alles in der Welt, wollen Sie eigentlich hinaus?« fragte er dann.
Mike, der die Hände des Inspektors aufmerksam im Auge behielt,
sagte langsam und betont: »Soll ich Ihnen sagen, warum Sie heute
abend hier in den Klub gekommen sind, Rodgers?«
»Um Corina zu fassen. Wozu sonst?«
»Nie und nimmer! Nicht um Corina zu fassen, sondern um sich
mit ihm zu treffen. Corina stellte Ihnen einen Brief zu mit der Auf-
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forderung, ihn hier zu treffen, andernfalls würde er sich genötigt se-
hen, Kriminaldirektor Goldway morgen früh recht unangenehme
Enthüllungen auf den Schreibtisch zu legen. Nur deshalb sind Sie
hier.«
Rodgers' Gesichtsausdruck änderte sich fast unmerklich; seine
Stimme klang immer noch gut artikuliert. Sarkastisch sagte er: »Das
ist wirklich aufschlußreich. Sprechen Sie nur weiter.«
»Sie waren darauf vorbereitet, mit Corina einen Handel abzu-
schließen«, sagte Mike gelassen.
»Unsinn! Wenn ich wirklich Bannister wäre, dann bräuchte ich
keinen Handel abzuschließen, denn dann hätte ich den ganzen
Film.«
»Den haben Sie auch! Alle drei Teile befinden sich in Ihrem Be-
sitz; aber Corina weiß zuviel. Und den müssen Sie erst noch aus
dem Wege schaffen, um endgültig freie Bahn zu haben. Dann brau-
chen Sie über die Córdoba-Affäre nur noch Gras wachsen zu las-
sen, holen sich dann das Diamantenkollier und verduften still und
heimlich damit.«
»Baxter – Sie müssen total verrückt sein!«
»Keineswegs, Rodgers. Ich weiß, daß Sie den Brief von Corina be-
kamen, weil ich dabei war, als er ihn schrieb. Und damit Sie es ganz
genau wissen: ich selbst habe ihn zur Post gebracht. Wenn Sie mir
nicht glauben, können Sie ja Corina fragen.«
Zum ersten Male war Rodgers sichtlich außer Fassung. Er schien
sich zusammenzuziehen wie eine Sprungfeder. »Und wo wäre Co-
rina zu finden?« fragte er mit belegter Stimme.
»Er steht direkt hinter Ihnen, Inspektor.«
Rodgers wirbelte mit dem vollen Glas Tomatensaft in der Hand
herum. »Du verdammter Hund!« schrie er Corina an, schüttete ihm
den Inhalt des Glases ins Gesicht und stieß mit einem blitzschnel-
len kraftvollen Fußtritt den Tisch um, als Mike gerade nach ihm
greifen wollte. Mike ging zu Boden, eine Frau schrie gellend auf,
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und im Handumdrehen herrschte ein heilloses Durcheinander im
ganzen Raum. Mit unglaublicher Behendigkeit sprang Rodgers quer
durch die Nische, versetzte Corina einen wuchtigen Tritt in den
Unterleib und rannte dann einen mit dicken Läufern ausgelegten
Korridor entlang.
Mike rappelte sich etwas unbeholfen wieder hoch, sprang über
die Brüstung der Nische und kniete neben dem stöhnenden Corina
nieder. »Wohin führt dieser Korridor?« schrie er ihn an.
»In mein Büro«, brachte Corina stöhnend hervor und hielt sich
mit beiden Händen den Leib.
»Ist dort ein Ausgang?«
»Nein.«
Als Mike wieder hochsprang, stand plötzlich Kriminaldirektor
Goldway neben ihm.
»Ich hatte euch beide genau beobachtet, war aber dann doch
nicht schnell genug zur Stelle. Bist du verletzt?« fragte er Mike, der
sich in Richtung auf den Korridor, in dem Rodgers verschwunden
war, in Bewegung setzen wollte. Goldway hielt ihn zurück. »Ich
habe meine Leute hier überall verteilt. Das kannst du jetzt uns über-
lassen.«
Seine Worte wurden von vereinzelten Pistolenschüssen unterbro-
chen. Einen Augenblick später kam ein Sergeant zu ihm, der sich
die blutende Schulter hielt. »Ich war im Gang postiert, Sir«, sagte er
atemlos zu Goldway. »Er hat sich aber den Weg an mir vorbei frei-
geschossen. Jetzt hat er sich im Büro eingeschlossen. Ich hörte das
Schiebefenster aufgehen. Poulson und die anderen müssen ihn un-
ten abgefangen haben, als er hinauszuklettern versuchte.«
Mike bahnte sich einen Weg durch die verdatterten Klubgäste
zum Ausgang. Nur im Unterbewußtsein spürte er, daß Linda un-
mittelbar hinter ihm war.
Draußen auf der Straße standen viele neugierige Straßenpassanten
und ein halbes Dutzend Polizisten im Halbkreis um den leblosen
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Körper, der übel zugerichtet auf dem Pflaster unterhalb des geöffne-
ten Fensters lag. Ein Polizeiarzt kniete neben dem am Boden lie-
genden Mann.
Die rosa-blau brennenden Neonlampen über dem Klubeingang
tauchten die grausige Szene in ein unheimlich wirkendes Licht, als
der Arzt aufstand und mit einer Geste unverkennbarer Endgültig-
keit seine Instrumententasche schloß.
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wei Stunden später unterhielten sich die Baxters in ihrer Woh-
nung mit John Goldway bei einer Tasse Kaffee.
Z
Z
»Ich verstehe nur eines nicht…«, sagte Linda.
Sie wurde durch lautes Lachen der beiden Männer unterbrochen.
»Da haben wir es ja schon; jetzt bricht die Neugierde bei Linda
durch«, neckte Mike sie.
»Was verstehen Sie denn nicht, Linda?« fragte Goldway.
»Warum hat Rodgers, oder Bannister, oder wie er wirklich heißt –«
»Rodgers ist sein wirklicher Name«, unterbrach Goldway Linda.
»– also, warum hat Rodgers das getan? Er hatte doch eine gute
Position beim Yard.«
»Anscheinend aber auch enorm viel Schulden«, erwiderte Gold-
way. »Wie wir inzwischen in Erfahrung gebracht haben, hat er viel
zu hoch gespielt, was uns bisher unbekannt war, und dabei fast sie-
bentausend Pfund verloren.«
»Ich hatte mir erst letztens Gedanken darüber gemacht, ob nicht
auch er eine menschliche Schwäche hat«, warf Mike ein. »An
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Glücksspiel habe ich aber nicht gedacht.«
»Die Spielverluste machten ihm schwer zu schaffen. In diesem Di-
lemma müssen ihm die Córdoba-Diamanten als die letzte Rettung
erschienen sein. Niemand wäre es je im Traum eingefallen, ihn zu
verdächtigen. Ihm standen natürlich alle Informationen im Yard
und auch Unterweltkontakte zu Verfügung, was oft eine unange-
nehme, aber notwendige Seite seines Berufs ist. Er muß in einem
nervlichen Schwächezustand nur noch diesen Ausweg aus seiner
finanziellen Misere gesehen haben.«
»Stimmt. Die Córdoba-Diamanten!« rief Linda. »Rodgers war ja
seinerzeit auch an der Untersuchung dieses Falles beteiligt, nicht
wahr? Ich habe darüber etwas im Kapitel ›Berühmte Kriminalfälle‹
in dem Buch gefunden, das Mike kommen ließ; ich meine das
Buch, das sich Nadia Tarrant in der Bibliothek ausgeliehen hatte.«
»Ja. Darüber konnte man nachlesen«, bestätigte Mike. »Aber, da
fällt mir ein, Darling … woher wußtest du, daß ich Rodgers in Ver-
dacht hatte? Ich habe doch nie seinen Namen genannt; in diesem
Buch sind doch auch andere Kriminalbeamte erwähnt.«
»O Mike!« sagte Linda lächelnd. »Aus dir wird nie ein guter De-
tektiv. An dem betreffenden Absatz hast du in dem Buch einen
Bleistiftstrich gemacht. Also wußte ich, daß diese Stelle dein beson-
deres Interesse gefunden hatte.«
»Verdammt noch mal! So unvorsichtig war ich also.«
»Was ich aber nicht verstehe«, fuhr sie fort, »das ist die Rolle, die
der arme Saltoni in diesem Fall spielte.«
»Saltoni wußte vielleicht etwas über Rogers. Deshalb wollte er
auch unbedingt mit Mike allein sprechen und nicht in Gegenwart
der Polizei«, erklärte Goldway.
»Du meinst, als ich ihn in mein Taxi steigen ließ?« fragte Mike.
»Ja, zunächst dachten wir, er hätte ganz allgemein vor der Polizei
Angst. Tatsächlich scheint er aber speziell Rodgers gefürchtet zu ha-
ben.«
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»Und Rodgers war es natürlich, der ein paar Haudegen bezahlte,
die den armen Kerl in der Nähe seiner Wohnung zusammenschlu-
gen. Die Furcht Saltonis war also gerechtfertigt. Er muß fast einen
Herzschlag bekommen haben, als er im Krankenwagen aus seiner
Bewußtlosigkeit aufwachte und Rodgers neben sich sitzen sah.«
»Dann hat also Rodgers im Krankenhaus Saltoni bearbeitet und
seinen ›Gedächtnisschwund‹ herbeigeführt. Aber natürlich! Es wur-
de ja sonst niemand zu ihm gelassen. Kein Wunder, daß Saltoni
plötzlich behauptete, er könne sich an nichts mehr von dem erin-
nern, was er dir am Nachmittag berichtet hatte«, meinte Linda.
»Jetzt muß aber ich mal um eine Erklärung bitten«, wandte Mike
sich an Goldway. »Rodgers ermordete die Tarrant in der Nähe von
Farnham. Wie ist es ihm gelungen, seine Spuren zu verwischen, und
wie ist der Umstand zu erklären, daß er so bald nach der Tat an
diesem Ort war und die Leiche selbst identifizieren konnte?«
»Das war für ihn ein Kinderspiel. Er behauptete einfach, daß er
Spuren, die Hector Staines beträfen, verfolgen müsse, wozu auch
die Firma in Guildford und die Kneipe bei Westerdale gehörten.
Deswegen sei er rein zufällig in der Nähe des Tatortes gewesen. Wir
wären überhaupt nicht auf den Gedanken gekommen, das in Frage
zu stellen.«
»Jetzt fügt sich auf einmal alles so einfach zusammen, nicht wahr?
Natürlich kam ihm der Fall Harold Weldon sehr zustatten. Er hatte
von Anfang an die Untersuchung in der Hand und konnte den wei-
teren Ablauf der Dinge ganz in seinem Interesse lenken.«
»Du meinst solche ›Beweisstücke‹ wie das blutbefleckte Taschen-
tuch, für das Harold Weldon keine Erklärung abgeben konnte?«
fragte Linda nachdenklich. »Das konnte er schrecklich einfach be-
werkstelligen.«
»Nicht zu vergessen die Tatsache, daß Nadia Tarrant das Restau-
rant in der Greek Street gerade zu der Zeit verlassen haben sollte,
als Lucy Staines ermordet wurde. War sie zur fraglichen Stunde
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wirklich bei Saltoni, muß sie ja viel früher weggegangen sein. In sei-
ner amtlichen Eigenschaft konnte Rodgers leicht ein gründlicheres
Eingehen auf diesen Zusammenhang – besonders, was dann viel-
leicht auf den wahren Sachverhalt gedeutet hätte – ausschließen. Ja
er konnte auch sogar Aussagen unterdrücken, die nicht in seinen
Plan paßten.«
»In einem Punkt hatte ich aber wohl doch recht«, sagte Linda.
»Ich meine die Beziehungen zwischen Hector Staines und Peggy
Bedford.«
Goldway nickte. »Staines hat zugegeben, versucht zu haben, das
Mädchen zur Heirat zu bewegen. Er hat auch die Wahrheit gesagt,
als er behauptete, nicht zu wissen, daß er mit ihr im ›Lord Fairfax‹
gewesen wäre. Sie hat ihn dorthin geführt, und er hat einfach nicht
daran gedacht, nach dem Namen des Lokals zu sehen.«
»Das erklärt aber noch immer nicht den rätselhaften Vermerk in
Lucys Notizbuch«, warf Linda ein.
Goldway runzelte die Stirn. »Hierzu können wir nur Vermutun-
gen anstellen, weil beide Mädchen tot sind. Ich könnte mir aber
vorstellen, daß es Peggy einigermaßen in Verlegenheit brachte und
daß sie es für verrückt hielt, als der Vater ihrer besten Freundin auf
einen Heiratsantrag zusteuerte. Denken wir nur an den großen Al-
tersunterschied. Ich nehme an, Peggy verabredete sich dort mit Lu-
cy, um diese Angelegenheit mit ihr zu besprechen. Der ›Lord Fair-
fax‹ war für eine ungestörte Aussprache wie geschaffen.«
»Es hätte aber auch eine Verabredung mit jemandem sein kön-
nen, der einen Teil des Films in Händen hatte und mit dem sie ei-
nen Handel abzuschließen hoffte«, gab Mike zu bedenken.
Linda nickte. »Ja. Und wer auch immer das gewesen sein mag,
dieser uns Unbekannte wollte natürlich nicht zugeben, daß er etwas
über das im Notizbuch vermerkte Rendezvous wußte, um im Dun-
keln bleiben zu können. Das kann man verstehen. Peggy muß in-
dessen erraten haben, warum Lucy ermordet wurde. Sie hatte aber
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zu große Angst, die Polizei könnte hinter ihre Freundschaft mit
Larry Boardman kommen, wenn man sich erst einmal mit ihr näher
befaßte.«
»Das dürfte es gewesen sein«, erwiderte der Kriminaldirektor.
Es klopfte, und Mrs. Potter brachte frischen Kaffee.
Mit freundlichem Lächeln sprach Goldway sie an: »Mrs. Potter,
so ausgezeichnet Ihr Kaffee auch ist, mit dieser Tasse habe ich ge-
nug, denn sonst muß ich noch die ganze Nacht hier zubringen.«
Als Mrs. Potter das Zimmer verlassen hatte, sagte Linda zu Gold-
way: »Aber auf ein, zwei Fragen muß ich unbedingt noch Antwort
haben. In der Nacht, als Irene Long sich im Klub von Corina be-
trank und dann Mike warnte, nicht nach Reading zu fahren, bekam
sie doch zufällig ein Gespräch zweier Männer mit, wie man Mike
fortlocken und kaltstellen könne. Führten Rodgers und Corina die-
se Unterredung?«
»Ja«, antwortete Mike anstelle von Goldway. »Angeblich hat sie
die Stimmen nicht genau erkannt; man muß allerdings berücksich-
tigen, daß sie zu diesem Zeitpunkt schon fast betrunken war. Da-
mals begann mein Verdacht eigentlich erst greifbare Formen anzu-
nehmen. Sanders rief mich am darauffolgenden Tag an und äußerte
sich besorgt über den Lauf der Dinge. Schließlich war er ja selbst
darin verwickelt, und seine Freundin nicht minder. Nicht zu verges-
sen, daß das Leben seines Freundes Harold Weldon am seidenen
Faden hing. Es war also nicht verwunderlich, daß er gern etwas über
den neuesten Stand der Ermittlungen erfahren wollte. Als Sanders
anrief, war zufällig Rodgers bei mir. Ich erzählte ihm absichtlich,
daß man mich davor gewarnt habe, nach Reading zu fahren. Er
brauchte also nur zwei und zwei zusammenzuzählen und kam zu
dem Schluß, daß Sanders mich gewarnt habe.«
»Nach dem Unfall mit Sanders' Wagen gingst du davon aus, daß
Rodgers der Urheber des Anschlages war, weil er Sanders loswerden
wollte.«
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»Genauso war es, Darling«, bestätigte Mike. »Nur wäre daraus für
mich beinahe ein Bumerang geworden. Woher sollte ich wissen,
daß du dabei in Gefahr geraten konntest?«
»Ach, laß das. Schließlich diente ja alles der Aufklärung des Falles
Weldon«, antwortete Linda sichtlich erleichtert. »Wenn man mir
jetzt noch sagen würde, welche Rolle Corina spielte, dann könnte
ich den Herren den wohlverdienten Schlaf zugestehen.«
Mike übernahm es, ihr auch auf diese Frage zu antworten. »Noch
vor ein paar Jahren war Corina nur ein – sagen wir – Außenseiter
mit einem bescheidenen, aber immerhin vorhandenen Vorstrafenre-
gister. Rodgers muß einiges aus seinem Vorleben gewußt haben. Im
Besitz dieser Information hat Rodgers sich dann entschlossen, Co-
rina mehr in den Vordergrund zu schieben, beziehungsweise in die
Zange zu nehmen. Er informierte ihn auch über Jos Verbindung zu
Scotland Yard. Corina war, das kann man verstehen, wütend, daß
der Yard seinen Klub beschattete; aber er war es nicht, der Jo Peters
entführen und mißhandeln ließ; das erledigte Rodgers.«
»Und warum hat er das getan?«
»Um den Verdacht verstärkt auf Corina zu lenken und uns zu
veranlassen, daß wir uns ganz auf den Klub La Pergola konzentrier-
ten. Er ließ sich für die Vernehmung von Jo etwas Besonderes ein-
fallen, indem er einen Mann mit leicht ausländischem Akzent ein-
setzte, um Jo glauben zu machen, es sei Corina gewesen, der das
Verhör leitete.«
»Und warum hat Corina schließlich doch einen Seitenwechsel
vorgenommen? Er hat doch zum Schluß mit dem Yard zusammen-
gearbeitet, denke ich?«
Kriminaldirektor Goldway lächelte verschmitzt und sagte: »Ja, wie
ein dressiertes Zirkuspferd. Wir klärten ihn über die Zusammenhän-
ge auf und machten ihm die Hölle heiß und drohten ihm, wir wür-
den seinen Nachtklub schließen lassen, wenn er nicht auf unserer
Seite mittäte.«
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Goldway trank seinen Kaffee aus und machte Anstalten zu gehen.
Linda entging das nicht, und sie schoß sofort ihre letzte Frage ab:
»Warum baute Staines das Abhörgerät über Irenes Wohnzimmer
ein? Nahm er an, daß sie für Bannister arbeite?«
»Das glaube ich nicht. Schließlich war Sanders sein Komplize,
und zwischen den beiden bestand nicht gerade ein Vertrauensver-
hältnis. Da Staines ihm mißtraute und sichergehen wollte, daß San-
ders ihn nicht übers Ohr haute, beschloß er, den Lauscher an der
Wand zu spielen. Er tat es dort, wo Sanders die meisten Abende
verbrachte – in der Wohnung von Irene Long.«
»Das leuchtet mir ein«, sagte Linda, die nun endlich ihre Neu-
gierde voll befriedigt hatte.
Goldway erhob sich und fragte: »Und was wirst du jetzt tun,
Mike? Wolltet ihr nicht nach Südfrankreich in Urlaub fahren?«
Mike warf Linda einen schuldbewußten Blick zu. »Ja, das war
wirklich unsere Absicht; aber unsere Ferien sind wohl vorerst abge-
blasen, fürchte ich.«
Linda sah ihren Mann entrüstet an. »Das ist mir vollkommen
neu, Mike. Ich habe nach wie vor die Absicht, sofort mit dir zu
verreisen.«
»Ich wollte es dir vorhin gerade schonend beibringen, Darling.
Der Herausgeber der Tribune hat bei mir eine Artikelserie über den
Fall Weldon bestellt, die ich der Aktualität wegen sofort schreiben
muß.«
Linda schüttelte energisch und entschlossen den Kopf. »Der Fall
Weldon ist abgeschlossen! Morgen fahren wir nach Cannes.«
»Moment mal«, warf Mike mit einem Seitenblick auf Goldway
ein. »Wer ist hier Herr im Hause? Du oder ich?«
Linda zeigte ein strahlendes, unschuldsvolles Lächeln. »Was für
eine törichte Frage, Mike. Du natürlich, Liebling! Das weißt du doch
ganz genau.«
»Also werde ich diese Artikelserie schreiben«, erwiderte Mike,
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innerlich belustigt über Lindas Reaktion. »Und jetzt bitte keine Wi-
derrede mehr, Darling.«
Mike schrieb wirklich die Serie. Am Strand von Cannes.
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