background image
background image

 

Rolands Entritterung 

von Ekkehart Reinke 

scanned by : horseman 

kleser: Larentia 

Version 1.0 

Freiwillig meldete sich Funkenmann, der Gaukler, für die 
erste Nachtwache.
 

Volker vom Hohentwiel sah ihm fest in die unsteten 

Augen und sagte mahnend: »Dies ist wildes Land. Mensch 
und Tier sind uns feindlich. Sperre also die Ohren auf, und 
halte die Augen offen! Geh nicht in den Schein des 
Lagerfeuers! Bleib im Dunkel! Und nach zwei Stunden 
wecke Louis, der dich ablösen wird!«
 

Funkenmann versprach alles, aber der Gaukler war ein 

leichtsinniger  Kerl. Er wartete nur ab, bis Volker, die 
Knappen Louis und Pierre und sein Kumpan 

background image

Schiebermann fest eingeschlafen waren. Dann streckte er 
sich am Boden aus, zog die Decke über die Ohren und 
schloß die Augen. Bald schlief auch er.
 

Und niemand sah oder hörte die finsteren Gestalten, die 

sich mit Mordgedanken heranschlichen. 

background image

Sie wurden von Trumm angeführt. Der grauhaarige Riese besaß 
gewaltige Körperkraft. Seine unerschöpfliche Ausdauer war allen 
Strapazen spielend gewachsen. Tagelang schon folgte seine Horde 
den Spuren Volkers und seiner Gefährten. In dieser Nacht wollten sie 
den Gejagten endgültig den Untergang bereiten. 

Trumm verpflichtete sie, beim Anschleichen nicht das leiseste 

Wörtchen zu flüstern. »Wer sein Maul aufmacht«, warnte er, »dem 
stopfe ich es persönlich  - und für immer!« Als einzige Waffen 
nahmen sie kurze, scharfgeschliffene Messer mit. Kein Stahlgeklirr 
sollte ihre Annäherung verraten. 

Mit drei Schritten Abstand nach links und rechts glitten Trumms 

Männer über den hartgefrorenen Waldboden. Schneelöcher 
umgingen sie. Jeder Baum, ob Fichte, ob Buche, bot willkommene 
Deckung. Und zu keiner Zeit ließen sie das niedrige Lagerfeuer aus 
den Augen. 

Nach einer Stunde gebot Trumm Halt. Sie waren kaum hundert 

Klafter von den Feinden entfernt, die sich offenbar zur Ruhe 
niedergelegt hatten. Dann schickte der Anführer den kleinsten und 
leichtesten Mann als Späher los. Unhörbar entfernte sich der 
Auserwählte. Geduldig harrten die anderen. Während sie auf der 
steinharten Erde lagen, kroch die Kälte in ihre Körper, und mancher 
mußte die Zähne aufeinanderbeißen, damit sie nicht laut zu klappern 
begannen. 

Klamme Hände krallten sich um gerillte und gekerbte 

Messergriffe. Zäh tropfte die Zeit. 

Dann war der Späher plötzlich mitten unter ihnen. Ungehört und 

ungesehen war er zurückgekommen und raunte in Trumms Ohr 
seinen Bericht: »Sie schlafen alle  - fest. Nicht mal eine Wache haben 
sie ausgestellt. Sie fühlten sich wohl allzu sicher. Es ist eine 
Kleinigkeit, sie zu überrumpeln.« 

Trumm hörte es  voller Genugtuung. Dann befahl er den Angriff. 

Nacheinander kroch jeder zum Nebenmann und gab ihm durch 
Armauflegen den Befehl bekannt. 

Noch langsamer und vorsichtiger bewegte sich die Kette der 

background image

Angreifer auf das Lagerfeuer zu. Sie hatten die Schuhe mit Lappen 
umwickelt. So wurden sie lautlos wie Katzen. Ab und zu nur knackte 
ein Zweig. Zweimal brach ein aufgestörtes Stück Wild durchs 
Unterholz. Dann erstarrten sie alle mitten in der Bewegung und 
rührten sich lange Zeit nicht mehr. Das lauteste Geräusch, das sie 
von sich gaben, war das Atmen  - ein Hauch, den kein Schläfer 
wahrnehmen konnte. 

Zum letzten Mal verharrten sie an der Lichtgrenze des Feuers. 

Tiefgeduckt führten sie die Messerhand zum Mund und klemmten 
den Griff der Klinge zwischen die Zähne. Denn von hier aus wollten 
sie auf allen vieren, dem Boden angeschmiegt, weiterkriechen. 

Schon konnten sie die Gestalten der Schläfer im zuckenden Licht 

der Flammen ausmachen. Jeder nahm sich einen zum Ziel. Vielleicht 
noch hundert Atemzüge waren denen vergönnt. Dann würden sie 
dem Ritter, den Knappen und den beiden Gauklern schwer auf der 
Brust hocken. Und im Augenblick des Erwachens würden die 
Überfallenen mit dem Messer in der Kehle auch schon wieder 
entschlummern - für immer ... 

Den tiefsten Schlaf hatte Louis. Sein wechselvolles Abenteuerleben 
hatte ihn gelehrt, in kürzester Frist aus dem Wachsein in traumlosen 
Schlaf zu gleiten. 

Und doch hatte Louis, der einstige waldgewohnte Räuber, auch 

den leisesten Schlaf. Seine Instinkte waren schärfer als die  des 
scheuen Rehs. Es war, als wachte, während sein übriger Körper 
erschöpft und hingegeben ausruhte, ein winziger Teil seines 
Bewußtseins hellhörig weiter. 

So kam es, daß der Überfall um ein Haar mißglückt wäre. Denn als 

Trumms Männer sich endlich in den  Feuerschein wagten, fühlten sie 
sich schon allzu sicher. Ihre Opfer nämlich schnarchten! 

Sie kamen näher, immer näher. Noch fünf Schritte war Trumm von 

Volker entfernt. Von Volker, dem Sänger, aus dessen Kehle jetzt 

background image

sehr unmusikalische Töne drangen. 

Und vier Schritte war der Mann rechts von Trumm vor Pierre. 
Da riß es Louis aus dem Schlaf! 
Von einem Augenblick zum anderen tauchte sein Bewußtsein aus 

dem tiefsten Grund an die Oberfläche. Von einem Augenblick zum 
anderen war er hellwach. 

Eine Eule strich mit schwerem Flügelschlag über das Halbdunkel 

des Lagerplatzes, als Louis die Augen aufriß. 

Drei Schritte vor ihm kauerte der Feind, der soeben das Messer aus 

dem Mund nahm, um sich auf ihn zu stürzen und ihm die Kehle 
aufzuschneiden. Und während seine Kameraden nichtsahnend, 
todgeweiht selig träumten, schrie Louis mit verzweifelter Stimme  - 
schrie er, daß die Vögel im Umkreis aus den Nestern aufflatterten, 
daß die Flamme über den verkohlenden Scheiten flackerte, daß 
Schnee von niedrig hängenden Ästen stob ... 

Louis schrie mit einer Stimme, die so schrill und nackt wie erster 

Frost war: »Alaaaarm! Alaarm!« 

Die Schläfer fuhren hoch und starrten mit blinden Augen ins Leere. 

Ehe sie in die Wirklichkeit zurückfanden, wurden sie vom Ansprung 
der Angreifer wieder niedergerissen, zu Boden gedrückt und 
festgehalten. Funken rieselten wie kleine Sternschnuppen aus dem 
Flammenspitzen und spiegelten sich in den Messerklingen, die über 
den Köpfen der Überfallenen schwebten ... 

Ein wenig abseits von den Kameraden war Funkenmann durch 

Louis' wilden Schreckensschrei hochgerissen worden. Kein Mann 
der Horde Trumms bedrohte ihn in diesem Augenblick. Schwer aber 
fiel ihm die Erkenntnis aufs Herz, daß er die Freunde dem Tod 
preisgegeben hatte  - aus Trägheit nur! Weil er zu faul gewesen war 
zu wachen. Weil er geglaubt hatte, ein Nickerchen für zwei Stunden 
machen zu können. 

Ja, Funkenmann war ein leichtsinniger Hund, wie man ihn selbst 

unter Gauklern so schnell nicht ein zweites Mal fand. Aber er war 
auch ein Kerl, der im Augenblick brennender Gefahr Tod und Teufel 
nicht fürchtete. 

background image

Mit beiden Händen griff Funkenmann ins lodernde Lagerfeuer, 

packte drei glühende Äste, riß den Schlund  - wie ihm schien  - 
meilenweit auf und schluckte, wie er es von seinem Vater und 
Großvater schon als Kind gelernt hatte, das Feuer. Es war der 
lebensgefährlichste Akt, den die Gauklerzunft kannte. Denn er hatte 
nicht den Regeln entsprechend Mund, Zunge, Gaumen und Rachen 
vorher mit hitzeabstoßenden ölen gesalbt. Ohne Vorbereitung 
schluckte er den glühheißen Brand. 

Tausend sengende Nadeln stachen in seine Mundhöhle. Ein 

Gluthauch verbrannte ihm den Rachen und stieß mit spitzen, 
verdorrenden Pfeilen in seine Lufthöhle. Einen Augenblick lang 
glaubte  Funkenmann, er müsse wie eine Fackel verlodern. Der 
Schmerz war unerträglich. Ein Schattenband legte sich über seine 
Augen. Es waren Tränen, die ihm die Sicht nahmen. 

Doch selbst als die Todesangst ihn mit unerbittlichen Klammern 

packte, vergaß Funkenmann nicht einen Augenblick die Regeln der 
Gauklerzunft. 

Der Schmerz wurde unerträglich. Die Sinne drohten ihm zu 

vergehen. Da stieß Funkenmann vom Zwerchfell her den Atem aus! 

Und dieser feurige Atem wehte über den Banditen, der Volker 

erledigen wollte. Der  Kerl schrie auf wie ein geblendeter Stier, ließ 
das Messer fallen und floh ins Dickicht, soweit ihn seine Füße 
trugen. 

Funkenmann richtete den Feuerstrahl auf den nächsten Angreifer. 

Es war Trumm. 

Der Riese brüllte auf. Rot glühten seine Wangen! Jeder Mut war 

ihm vergangen. Zwar hielt er sein Messer fest, doch auch er wandte 
sich zu schneller Flucht. Er floh über Busch und Stein, über Eis und 
Bach. Und er achtete nicht einmal des Weges. 

Und wiederum waberte Funkenmanns Lohe über den Lagerplatz. 

Diesmal traf er den Späher. Der wich entsetzt zurück und folgte 
Trumm auf regelloser Flucht. 

Nun drehte Funkenmann sich im Halbkreis. Ununterbrochen schoß 

der Feuerstrahl aus seinem Mund. 

background image

Da wendeten sich auch die letzten aus Trumms Horde und 

verschwanden im Wald. 

Die Freunde waren gerettet. Gauklerkunst hatte sie vor einem 

grauenhaften Schicksal bewahrt. 

Als Trumm lange Stunden später seine Männer wieder beisammen 

hatte, weigerten sie sich einstimmig, die Verfolgung fortzusetzen. Sie 
meinten, ein Drache habe den Feinden geholfen, und abergläubische 
Furcht beherrschte sie. 

Volker und seine Männer setzten ihren Weg fort. Sie waren dem 
Leben wiedergeschenkt, aber sie schienen keine Freude darüber zu 
empfinden. Funkenmann, dem Retter, wurde kaum Dank zuteil. 
Langsam ritten sie mit gesenkten Köpfen über Land. Je näher sie 
Schloß Camelot kamen, um so langsamer ließen sie die Pferde 
gehen. Denn es war eine traurige Rückkehr. Und Volker graute es 
vor dem Augenblick, da er vor König Artus treten und ihm mitteilen 
mußte: Roland, der Ritter mit dem Löwenherzen, ist tot! 

Nur zwei Wochen waren vergangen, seit der König den tapferen 

Roland mit der schwersten Aufgabe seiner bisherigen Laufbahn 
betraut hatte. Er sollte ihm Haggan bringen  - Haggan, den 
Gräßlichen, dem es gelungen war, aus dem Verlies des Schlosses 
Camelot auszubrechen! 

Haggan war ein bärenstarker Ritter, der von früher Jugend an mit 

einer Bande zügelloser Gesellen überall im Land gebrandschatzt und 
geplündert hatte. Er ermordete seinen älteren Bruder, vergewaltigte 
dessen Verlobte Griseldis und schwor, er werde Artus die Krone 
samt Kopf von den Schultern reißen, um sich an seiner Statt zum 
Herrn des Landes zu machen. 

Roland hatte ihn nach fürchterlichen Abenteuern in der Burg des 

Atz von Atzerath aufgespürt und zum Duell gefordert. Haggan nahm 
die Herausforderung unbedenklich an, denn er fürchtete niemanden 
auf der Welt und glaubte felsenfest, daß er unüberwindlich sei. Vor 

background image

den Augen der Freunde hatte Roland ihn jedoch nach stundenlangem 
Kampf an den Rand der Niederlage gebracht. 

In diesem Höhepunkt des Kampfes hatten sich die Gegner aus dem 

Gesichtskreis Volkers und seiner Freunde entfernt. Als sie dort 
eintrafen, fanden sie zu ihrem Entsetzen nur Haggan vor. Einen 
Haggan, der blutüberströmt, bis auf die Knochen durchnäßt, aber 
auch im Bewußtsein seines entscheidenden Sieges wie ein 
Übermensch wirkte, dem niemand widerstehen konnte. 

Rolands Leiche wurde nie gefunden. Haggan deutete auf ein 

frisches Loch in dem eisbedeckten Bach, an dessen Ufer die letzten 
Streiche dieses unvergleichlichen Duells geführt worden waren. »Da 
hinein versank er, als ich ihm den Todesschlag versetzte«, sagte 
Haggan. »Die Strömung trug ihn von dannen. Schneller, als ein Roß 
seinen Reiter trägt. Und würdet Ihr fünf  Pferde zuschanden reiten«, 
sagte er zu Volker, »Rolands Leiche wäre dennoch viele Tage vor 
Euch im Meer!« 

Haggan wankte. Der Blutverlust setzte ihm arg zu. Sein Gesicht 

war blaß wie Marmor. Dennoch wirkte er wie ein unüberwindlicher 
Gegner. »Geht!« gebot er mit einer Stimme, die einem Furcht 
einjagte. »Bestellt Eurem König, daß ich seinen besten Vasallen in 
den Tod schickte! Sagt ihm, daß seine Tage auf dem Thron gezählt 
sind! Roland war sein bester Mann. Seht auf mein Schwert! Es ist rot 
von Rolands Blut.« 

Er tauchte die Klinge in den Bach und zog sie heraus. Er hob die 

gesäuberte Klinge in den Abendhimmel. »Wenn sie zum nächsten 
Mal rot ist«, prophezeite er mit klirrender, schrecklicher Stimme, 
»dann vom Blut des Königs Artus!« 

Wie betäubt ritten die  Freunde davon. Tagelang suchten sie am 

Unterlauf des Baches. Dann folgten sie dem Fluß, in den er mündete, 
ehe sie endlich, völlig mutlos geworden, die Suche aufgaben. 

Nun blieb ihnen nur eins. Die traurige Pflicht, dem König Artus 

Niederlage und Tod seines treuesten und besten Ritters zu melden. 

Ein Kind konnte sehen, daß schwere Zeiten über Schloß Camelot 

heraufzogen. 

background image

Und doch war Roland nicht tot. Er hatte den heimtückischen Angriff 
des hünenhaften Trumm, der Haggans Vertrauter war, überlebt. Tag 
und Nacht wachte an seinem Lager tief unter der Erde die blonde 
Heide, die ihn liebte. Sie pflegte die Schwertwunde an seinem Kopf. 
Sie bereitete ihm kräftige Nahrung zu. Sie beschützte seinen 
totenähnlichen Schlaf. Und sie rief ihn mit behutsamer Zärtlichkeit 
langsam ins Leben zurück. 

Eines Morgens erwachte Roland und fühlte sich wie frischgeboren. 

Zwar schwindelte ihn noch, als er sich zum ersten Mal vom 
Krankenlager erhob. Aber die Schwäche ging schnell vorüber. 
Kräftig wie früher kreiste bald das Blut durch seinen Körper. 

»Wo bin ich?« fragte er fast munter. 
»In Haggans Gewalt«, sagte Heide. »Erinnerst du dich nicht, süßer 

Roland? Du hattest den Gräßlichen besiegt. Du zogst ihn mit deiner 
siegreichen Hand aus dem eisigen Bach, der sonst zu seinem Grab 
geworden wäre. Da erschien Trumm und drohte, mich zu töten. Ich 
war ja in seiner Gewalt. Du ließest im Vertrauen auf freies Geleit die 
Waffe fallen, und der niederträchtige Trumm streckte dich mit einem 
gemeinen Schwertstreich nieder.« 

Die wenigen Worte Heides zogen ganze Reihen ,von Schleiern von 

Rolands Gedächtnis fort. Szene für Szene erstand klar vor seinem 
inneren Auge. 

Doch die Erinnerung hielt den Ritter nicht lange im Bann. Er war 

so geartet, daß er Vergangenem nicht lange nachhing. Er war der 
Gegenwart zugewandt. Sein Auge umfaßte Heides schöne Gestalt, 
ihr helles, strahlendes, kühnes Gesicht  - und er streckte die Arme 
nach ihr aus. 

Willig sank sie an seine Brust. Ihre Lippen fanden sich zu einem 

langen Kuß. Heiß pulste Erregung durch ihre Körper. 

Noch nie war Roland so verliebt gewesen. Er hatte schon einige 

Frauen kennengelernt. Meist waren sie erfahrener gewesen als er. Sie 
hatten ihn gereizt, ihn erobert, ihn benutzt und manchmal verraten. 

background image

Heide war anders als sie alle. Mit Rührung erinnerte er sich der 

Tage, da sie, als Mann verkleidet, ihm als Knappe gefolgt war. Sie 
wollte dem heimlich Geliebten nah sein, und wenn es unter den 
gefährlichsten Umständen geschah. Lange hatte er sich täuschen 
lassen. Der Augenblick, da er sie als Frau erkannte, besiegelte seine 
Niederlage gegen Haggan und Trumm  - und doch wollte er ihn nicht 
missen. Denn Heide bedeutete dem Ritter mehr als aller Heldenruhm 
der Welt. 

Lange standen die Liebenden eng umschlungen. Ihre Küsse 

wurden heißer und heißer. Ihre Leiber  schienen ineinander zu 
verschmelzen, so. sehr drängte jeder zum anderen. 

Und aus der unmittelbaren Zärtlichkeit erwuchs grenzenlose 

Leidenschaft. Roland hob Heide hoch. Wie eine Feder war sie in 
seinen wiedererstarkten Armen. Er trug sie zur Lagerstätte. Ihre 
Augenpaare brannten ineinander. Ihr Atem ging fliegend. Er nestelte 
an ihrem Rock. Seine Hände bebten. Es konnte ihm nicht schnell 
genug gehen. 

Heides geschmeidige Finger lösten die Knöpfe an seiner Kleidung. 

Beider Atem ging heiß. Wieder und wieder verschmolzen ihre 
Lippen. 

Da hörten sie Geräusche. Leichte Schritte näherten sich. Heide und 

Roland fuhren auseinander. 

Die Tür flog auf. Ein dunkelhaariger, kleinwüchsiger Junge von 

höchstens 17 Jahren wirbelte ins Zimmer. Sie hatten ihn noch nie 
gesehen. Dem Aussehen nach stammte er aus dem Morgenland. Das 
verriet auch seine fremdartige Aussprache. 

In höchster Aufregung rief er Roland zu: »Jetzt keine Zeit für 

Liebe, stolzer Ritter! Jetzt Zeit für Kämpfen.« 

»Wer bist du?« 
»Ich sein Omar.« 
»Und was tust du hier?« 
»Ich was tun? Ich tun alles! Ich sein Sohn von Haggan. Und 

Freund von Haggan, Berater von Haggan, Freund von Freunde von 
Haggan und Beschützer von Haggan!« 

background image

Während die Liebenden den quecksilbrigen Morgenländer noch 

entgeistert anstarrten, griff er in seine Pluderhosen, zog einen 
maurischen Krummdolch hervor und reichte ihn Roland. »Horch!« 
Schwere Schritte klangen draußen auf. »Dein Feind kommen! Feind 
sehr stark. Feind dich totmachen. Du jetzt kämpfen!« 

Heide brach in Tränen aus. Was war mit dieser Welt geschehen, 

daß es in ihr so wenig Zeit zur Liebe gab? Und soviel, so entsetzlich 
viel Zeit zum Kämpfen?! 

Sobald sich Haggan von den Wunden erholt hatte, die er im Duell 
mit Roland erlitten, schmiedete er neue Pläne gegen König Artus. 
Haggan war ein Mann, der über großen Einfallsreichtum verfügte. 
Hätte der König nur im mindesten gewußt, was sein Todfeind 
diesmal im Schilde führte, es wäre ihm eisig kalt geworden auf 
seinem Thron. 

Haggans Plan, wie er Artus überlisten, entmachten und töten 

konnte, war von einer abgrundtiefen Bosheit und Gemeinheit, 
gleichzeitig jedoch unerhört scharfsinnig und kühn. 

In Haggans Überlegungen platzte Trumm. Schon sein erster 

Anblick schockierte den Gräßlichen. Trumms Gesicht war versengt. 
Die Haltung des erfolgverwöhnten Riesen sprach von unerhörten 
Strapazen. Der Mann, der unzählige Abenteuer im Dienste Haggans 
bestanden hatte, schwankte und war kaum Herr seiner Sprache. 

»Sind Volker und seine Kumpane tot?« fragte Haggan. 
»Nein!« rief ihm Trumm entgegen. Der Hüne wankte. Aber er hielt 

sich aufrecht. »Nein! Volker ist mit dem Teufel im Bunde! Wir 
hatten ihn zur Nachtzeit überfallen. Er war so gut wie tot. Er und 
seine Spießgesellen. Da geschah etwas Unglaubliches. Er hatte ein 
Tier bei sich, das Flammen sprühte. Eine feurige Lohe schoß uns 
entgegen. Seht, wie verbrannt mein Gesicht ist! Meinen Gefährten 
erging es noch schlimmer. Einer verbrannte wie eine Fackel. Ein 
anderer wurde erstochen. Der dritte wimmerte: >Mit mir ist es 

background image

vorbei.<« 

In Wirklichkeit waren Trumms Leute ihm nach dem feurigen 

Angriff Funkenmanns davongelaufen. 

Haggan, der keine menschlichen Bande kannte, faßte einen 

schnellen Entschluß. Mit jener Stimme, die auch dem abgebrühtesten 
Strauchräuber Angst einjagte, sagte er zu Trumm: »Wenn du Volker 
nicht töten konntest, dann töte Roland!« 

Trumm, dessen hartes, faltendurchwirktes Gesicht vom Staub der 

Straßen überpudert war, antwortete mit schwankender Stimme: 
»Haggan, was tut Dir mir an? Ich tötete Roland am Rand jenes 
Baches, als ich Heide im Arm hielt.« 

»Du irrst«, entgegnete ihm Haggan, und er grinste höhnisch, weil 

es ihn freute, seinen langjährigen Gefährten zerknirscht zu seinen 
Füßen zu sehen. »Roland überlebte deinen allzu gelinden Schlag.« 
Voller Hohn fügte er hinzu: »Kann es  sein, daß das Alter deinen 
Schwung lahmte?« 

Trumm machte eine abwehrende Handbewegung. 
»Nun gut«, sagte Haggan schneidend. »Ich gebe dir die 

Gelegenheit, dich für dein Versagen bei Minnesänger Volker zu 
revanchieren. Bringe mir Rolands Kopf, und du wirst mein Bruder 
sein!« 

Doch im selben Augenblick gab Haggan dem jungen 

Morgenländer Omar ein Zeichen, das der  - und nur er  - zu deuten 
wußte. 

Vor zehn Jahren war Omar im Zelt seines Vaters, eines reichen 

Kaufmanns aus dem Morgenland, durch diese Gegend gezogen, als 
Haggans Bande unter Verletzung aller Handelsabkommen die 
östliche Schar überfiel. Es wurde ein Gemetzel. Von den 
Überfallenen überlebte nur der damals siebenjährige Omar. Eine 
Laune Haggans des Gräßlichen rettete ihm das Leben. 

Mit der Zeit wurde Omar zu Haggans engstem Vertrauten. Der 

elternlose Junge hing dem schwarzen Ritter mit einer abgrundtiefen 
Liebe an. Er wurde zu seinem besten Verbündeten. Denn im 
Gegensatz zu dem schwerfälligen Trumm wußte er den leichtesten 

background image

Wink seines Auges zu deuten.  Ein geringes Heben der Augenbrauen 
verriet Omar mehr als tausend Worte. 

So kam es, daß Roland wenigstens einen krummen Dolch in der 

Hand hatte, als der riesige Trumm in sein Liebesidyll einbrach, um 
ihm den Garaus zu machen. 

Roland erwartete ihn hinter der Tür und stellte ihm ein Bein. Aber 

das Manöver mißlang. Trumms Beine waren zu lang und ihr Schritt 
zu hoch, als daß er diesem Trick zum Opfer gefallen wäre. 

Also war Trumm mit seinem Langschwert zunächst Beherrscher 

des achteckigen Geheimraums unter der Erde. 

Omar hatte Heide mit sanfter Gewalt aus dem Bereich der 

tödlichen Klingen gebracht. 

Einen Augenblick lang verspürte Roland das Verlangen, seinem 

Gegner, der an ihm vorbei hereingeschossen war, den Krummdolch 
in den Rücken zu stoßen. Doch mitten im erhobenen Schwung hielt 
Roland inne. Er konnte niemanden von hinten töten. 

Er wartete, bis der Hüne sich zu ihm umgewendet hatte. Er wollte 

einen Kampf, in dem beide Gegner die gleichen Chancen hatten. 
Dabei übersah Roland völlig, daß Trumms Waffen den seinen weit 
überlegen waren. 

Roland sah in die Augen eines finster entschlossenen Mannes. 

Trumms Blick war nahezu lähmend. Und wie gelähmt sah Roland 
zu, als der Hüne mit dem Langschwert zum tödlichen Schlag gegen 
ihn ausholte. 

Die Klinge sauste auf ihn nieder. 
Roland wartete bis zum letzten Augenblick. Dann bog er seinen 

jungen Körper schmiegsam zur Seite und entging dem mörderischen 
Schlag haarfein. 

Doch wenn er geglaubt hätte, dadurch einen entscheidenden 

Vorteil herauszuholen, so sah er sich wenige Augenblicke später 
furchtbar enttäuscht. 

Denn schon schwebte zum zweiten Mal Trumms schier 

unentrinnbares Langschwert über seinem schutzlosen Haupt. 
Wiederum zuckte es wie ein gleißender Blitz aus der Gewitterwolke 

background image

auf ihn nieder. 

Diesmal war Rolands Entkommen noch knapper. 
Die Klinge streifte ihn. Sie schnitt ihm ein Büschel blonder Haare 

ab und ritzte seine Hüfte, die teuflisch zu brennen begann. 

Trumm stieß einen unartikulierten Schrei aus. Darin entlud sich 

seine angestaute Erregung. Noch ehe der Schrei verhallt war, prallte 
das Schwert mit aller Kraft, die er ihm verliehen hatte, auf den 
steinernen Fußboden. 

Und dann geschah etwas, das für beide Männer überraschend kam 

und sie verblüffte. 

Mit einem klirrenden Laut zersprang das Eisen nicht weit unter 

dem Griff! Plötzlich hatte Trumm nur noch eine lächerlich kurze 
Klinge von knapp drei Handspannen Länge in der Faust. Der andere, 
weit längere Teil des Schwertes war abgebrochen und schwirrte, vom 
Boden abspringend, wie ein Geschoß durch den Raum. 

Zwei Augenpaare hatten Mühe, dem Verlauf des fliegenden 

Eisenstücks zu folgen. Die abgebrochene Klinge schmetterte gegen 
die Wand. Aber sie fiel nicht herab, sondern wurde wie von einer 
gespannten Sehne zurückgeschleudert. In Kopfhöhe schoß sie durch 
das Gemach. Dabei drehte sie sich wie ein Kreisel. 

Roland ließ sich fallen. Das tödlich scharfe, an der Bruchstelle 

schartig gezackte Eisen rotierte haarscharf über ihn hinweg. 

Zu spät erkannte Trumm, daß es nun genau auf ihn zuflog. Der 

muskelbepackte, sehnige Hüne war wohl auch nicht mehr beweglich 
genug, um so schnell zu reagieren wie der viel jüngere, in ritterlichen 
Spielen geübte Roland. 

Am Boden wälzte sich der Artus-Ritter herum. Und er sah voll 

Entsetzen, wie die Klinge, als hätte sie ein Eigenleben, Trumm in 
den Hals flog und ihm glatt den Kopf abschnitt. 

Noch einmal klirrte es, als die blutige Klinge sich senkte und über 

den Fußboden glitt, ehe sie endlich wie erschöpft liegenblieb. Gleich 
darauf sackte der riesenhafte Körper des Geköpften in sich 
zusammen. 

Roland lag eine Weile wie erstarrt. Dann raffte er sich auf. Von 

background image

Grauen geschüttelt, schleifte er den Toten zur Seite. Er bettete ihn 
vor der Badewanne unter dem natürlichen Wasserfall. Vorsichtig hob 
er dann an der stumpfen Seite das abgebrochene Schwert auf und 
legte es zu dem Toten. 

Ein Geräusch ließ ihn herumfahren. Omar stand hinter ihm. Er 

hatte den Schluß des Kampfes heimlich beobachtet. 

Omars dunkle Augen leuchteten vor Begeisterung. »Ritter, du 

prima, fabelhaft, großartig! Du töten Trumm! Du zaubern! Ich kaum 
glauben, was du getan, aber meine Augen sehen, wie du zaubern 
Schwert in Trumms Hals, ohne Anfassen. Du wirklich prima, 
extraprima! Ich sehr froh. Dieser Trumm immer böse gewesen auf 
Omar. Warum? Weil eifersüchtig! Weil ich sein Sohn von Haggan, 
Freund von Haggan, Berater von Haggan, Freund von Freunde von 
Haggan und Beschützer von Haggan!« 

Plötzlich verschwamm Omars braunes Gesicht vor Rolands Augen. 

Das achteckige Gemach begann sich zu drehen. Roland schwankte. 
Das Blut wich aus seinem Gesicht. Die Erregung und Anspannung 
des kurzen, aber heißen Kampfes waren für seinen eben erst 
genesenen Körper zuviel gewesen. 

Der Krummdolch glitt ihm aus der Hand. 
»Vorsicht!« rief Omar. »Du fallen!« 
Schwer sank Roland auf  den Diwan. Er lehnte sich zurück. 

Augenblicklich wurde ihm ein wenig wohler. Aber seine Augen 
blieben trüb. Es fiel ihm schwer, Umrisse zu erkennen. Alles tanzte 
vor seinem Blick auf und nieder. 

»Ruhig sitzen!« mahnte ihn Omar. »Kleine Geduld! Gleich Omar 

dir bringen Heiltrunk. Den du trinken, und alles wieder gut, bestimmt 
extraprima gut!« 

Wirklich verschwand Omar, ohne daß Roland sah, wohin. Nach 

kurzer Zeit war der Junge aus dem Morgenland wieder da und setzte 
einen Kelch mit goldgelbem Wein vor dem Ritter nieder. Besorgt 
betrachtete er Roland. 

»Du jetzt trinken! Dann ganz schnell wieder munter und stark wie 

Löwe!« 

background image

Mit einem Seufzer griff Roland nach dem Kelch. In seinem Kopf 

herrschte ein unbeschreibliches Durcheinander. Er konnte keinen 
klaren Gedanken fassen. Er hatte bereits vergessen, wer Omar war 
und daß er ihn vor dem rasenden Trumm gewarnt hatte. Ja, selbst an 
den mörderischen Kampf konnte er sich kaum noch erinnern. 

Ein Name tauchte immer wieder in seinen wirren Gedanken auf: 

Heide ... Aber Roland war nicht imstande, die Bedeutung des 
Namens zu erfassen. Nur undeutlich war ihm bewußt, daß er etwas 
unerhört Schönes bezeichnete, daß er das Symbol alles Glücks dieser 
Erde war. 

Mit diesen unklaren Gefühlen setzte Roland den Kelch an die 

Lippen und nahm einen tiefen Schluck. Das Getränk rann wie öl über 
seine Zunge. Die Kehle wurde ihm heiß, und in seinem Magen 
verbreitete sich angenehme Wärme. Er fühlte sich, als könne er 
wieder Bäume ausreißen. 

Omar beobachtete ihn gespannt. 
Roland nahm einen zweiten langen Schluck, und diesmal wurden 

ihm die Augenlider schwer. Sein Geist erschien ihm von herrlicher 
Klarsichtigkeit. Er glaubte, am Eingang einer wundervollen 
Erkenntnis zu stehen ... 

Doch da klappten ihm die Lider zu. Er zuckte noch einmal mit den 

Armen, dann fiel er seitwärts auf den Diwan. 

Omar lächelte undurchdringlich. In seiner leisen, fast 

schleichenden Art trat er an den Ritter heran und beugte sich über 
ihn. Befriedigt vernahm er die ruhigen, gleichmäßigen Atemzüge. 

Sein Lächeln vertiefte sich. Unhörbar formten seine Lippen ein 

Wort. Seine Hände packten Rolands Schultern. 

Als Roland aus den Tiefen des Schlafs wieder emportauchte, hatte 
sich seine Umgebung verändert. Er befand sich nicht mehr in dem 
achteckigen, unterirdischen Geheimraum, zu dem nur wenige 
Auserwählte den Zugang kannten. Man hatte ihn in die Burg 

background image

hinaufgeschafft. 

Er öffnete die Lider - und sah in Heides lachende Augen! 
Ein ungeheures Glücksgefühl durchströmte ihn. In einem weißen, 

fließenden Gewand saß sie auf dem Rand des Bettes, in dem er ruhte. 
Er wollte etwas sagen... 

Doch da legte sie sich schon neben ihn und versiegelte ihm den 

Mund mit ihren weichen, vollen Lippen. Und diesmal sollte sie kein 
frecher, unerbittlicher Überfall beim Liebesspiel stören! 

Behutsam streifte ihr Roland das lose Gewand von den Schultern 

und labte seine Augen an der Pracht ihres straffen, jungen Körpers 
mit dem zärtlich blickenden Gesicht. Er strich ihr mit bebender Hand 
die langen hellen Haare von den festen, runden Brüsten und fühlte, 
wie Heide erschauerte. Er bewunderte die schmale Taille, die 
reizende Rundung ihrer Hüften. Seine Hände glitten, wie von 
unwiderstehlichen Magneten gezogen, über ihren flachen Bauch zu 
dem goldschimmernden Haardreieck über dem Ansatz der Schenkel. 

Es war Roland klargeworden, daß Omar ihm einen Schlaftrunk in 

den Wein gemischt hatte. Im Schlaf mußte man ihn in die Burg 
geschafft haben. 

»Wie lange schlief ich?« fragte er flüsternd Heide, während seine 

Hand das schimmernde Gelock über der Scham erreichte. 

Sie zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht. Ich bin nur kurze Zeit 

vor dir erwacht.« Und sie schmiegte sich enger an ihn. 

Also hatte Omar auch sie betäubt... 
So begann ein herrlicher Tag für das Paar. Sie vergaßen die Rätsel, 

die sie doch nicht lösen konnten, und probten alle Spiele aus, die 
Liebenden einfallen und sie in den Himmel der Lust versetzen. Heide 
war noch unerfahren. Aber ihr glühendheißes Temperament, einmal 
geweckt, machte sie zu einer Partnerin, die Roland von einem 
Taumel des Entzückens in den nächsten stürzte. 

Zwischen den zuckenden Ekstasen ihrer Vereinigungen lagen sie 

ruhig und entspannt da, hielten sich an den Händen, streichelten 
einander und unterhielten sich leise, während hochfliegende Gefühle 
sie durchdrangen. Immer wieder wollte Heide die Beteuerung seiner 

background image

Liebe hören, und immer wieder tat der Ritter ihr aus vollem Herzen 
diesen Gefallen. 

»Ich liebe dich mehr als alles andere in der Welt«, sagte Roland 

ernst. »Bisher war der Gedanke an eine Aufnahme in die Tafelrunde 
des Königs Artus das Höchste, was es zu erreichen galt. Aber jetzt 
weiß ich, daß sie zwar ein erstrebenswertes Ziel ist, um das ich mit 
aller Kraft kämpfen werde. Doch sollte je ein Auftrag des Königs 
meiner Liebe zu dir zuwiderlaufen, würde ich auf ihn verzichten. Ich 
würde ihn nicht erfüllen. Sag, Heide, wirst denn du mir ewig treu 
sein?« 

Da sagte sie nach kurzem Besinnen: »Zweifel nicht, Roland! 

Zweifle niemals an mir! Ich bin dir so treu wie die Sterne dem 
Nachthimmel, so treu wie die Blüte der suchenden Biene, so treu wie 
das geduldige Moos dem Tau. Aber du, Roland, wie steht es mit 
deiner Treue?« 

Er sah sie lange an, und ihm war, als schmelze seine Seele vor 

Glück. »Wenn ich dir je untreu werde, meine Liebste, dann soll die 
Sonne am hellen Tag vom Himmel verschwinden und mitternächt-
liche Finsternis den heiteren Mittag ersetzen!« 

Heide lachte froh. »Das wird nie geschehen, solange die Erde steht 

und der Himmel sich über uns wölbt. Also kann  ich deiner Treue 
sicher sein!« 

Es dauerte nicht lange, und das Blut begann, wieder schneller in 

den Adern der Liebenden zu kreisen. Heißer wurde ihr Atem, heißer 
als der Atem der Wüste. Die Hände zuckten über den Körper des 
anderen. Die Blicke wurden fordernd und verhüllten nichts. 

Und von neuem begannen sie, die unerschöpflichen Melodien der 

körperlichen Liebe zu spielen ... 

Haggan saß auf dem Sessel, den einst der von Jong ermordete Atz 
von Atzerath einzunehmen pflegte. Über seinen Knien lag ein 
Schwert. In der Hand hielt er, die Spitze nach oben gekehrt, eine 

background image

Turnierlanze. Ihr Schaft ruhte auf dem Boden neben seinem rechten 
Fuß. 

Fünf Klafter entfernt stand Roland in trotziger Haltung vor ihm. 
Sonst war die Halle leer. Nicht einmal der allgegenwärtige kleine 

Omar befand sich in der Nähe. 

Es war das erste Mal, daß sich die beiden Gegner des großen 

Duells auf den Bachauen vor der Burg Atzerath wiedersahen. Beide 
hatten schwere Verwundungen überstanden. Haggan jene, die Roland 
ihm im ehrlichen Kampf zugefügt hatte, Roland den heimtückischen, 
niederträchtigen Schwerthieb Trumms, mit dem der damalige 
Kumpan des Gräßlichen Roland hinterrücks überfallen hatte, als das 
Duell schon zugunsten des Artus-Ritters entschieden schien. 

Lange hielten beide ein  vorsichtiges Schweigen ein. Endlich ergriff 

Haggan das Wort. Er sprach in freundlichem Ton, der deutlich von 
seiner üblichen düsteren Stimmung abwich: »Was wollt Ihr von mir, 
Roland? Was fordert Ihr, edler Ritter? Die Heimkehr nach Schloß 
Camelot? Wünscht  Ihr Eure Waffen und Euer Pferd Samum zurück? 
Verlangt Ihr freies Geleit für Euch und die schöne Heide, um die 
jeder Mann Euch beneiden dürfte?« 

»Ja«, antwortete Roland mit klingender Stimme. »Die Antwort auf 

jede Eurer Fragen lautet: ja!« 

»Fürchtet nichts!« erwiderte Haggan leutselig. »Ich bin bereit, 

Euch dies alles zu gewähren. Ich hörte davon, wie übel Euch mein 
einstiger Diener Trumm mitspielte, und bin glücklich, daß Ihr den 
Anschlag lebend überstandet und ihn in die Hölle schicktet!« 

»Ein Junge aus dem Morgenland warnte mich.« 
»Ich selber schickte Omar zu Euch. Daraus mögt Ihr ersehen, wie 

sehr mir Euer Wohl am Herzen liegt. Sagt, wann Ihr reiten wollt  - 
Samum und der Graue des Mädchens werden pünktlich gesattelt im 
Burghof bereitstehen. Doch will ich Euch nicht zur Abreise drängen, 
Roland. Viel lieber wäre es mir, Ihr würdet mir noch eine Weile 
Gesellschaft leisten. Nur selten hat man das Glück, einem so edlen 
Ritter wie Euch zu begegnen.« 

Roland trat drei Schritte näher an Haggan heran und richtete sich 

background image

stolz auf. »Ich fürchte«, sagte er mit Nachdruck, »Ihr werdet in 
jedem Fall noch einige Tage in meiner Gesellschaft verbringen 
müssen.« 

»Nichts käme mir erwünschter!« 
Rolands Blick bohrte sich in Haggans bartumgebenem 

Quadratschädel. »In meiner Gesellschaft, Haggan  - aber anders, als 
Ihr denkt! Nicht als mein Gastgeber, sondern als mein Gefangener!« 

Roland schwieg, und die Wände der fast leeren Halle warfen das 

letzte Wort »Gefangener« als ein drohendes Echo zurück. 

Ungehalten schüttelte Haggan die  Lanze. »Das müßt Ihr mir näher 

erklären, mein Freund«, sagte er dann mit erzwungener Ruhe. 

»Nennt mich nicht Freund!« donnerte Roland. »Ich bin nicht Euer 

Freund und werde es niemals sein. Ihr seid ein Flüchtling aus dem 
Verlies des Schlosses Camelot, in  das Ihr rechtmäßig wegen Eurer 
himmelschreienden Untaten gesperrt wart. Daraufhin beauftragte 
mich König Artus, dessen weises Wort in diesem Land Gesetz ist, 
Euch wieder einzufangen und ihm zurückzubringen, tot oder 
lebendig! Und genau das werde ich tun!« 

Ein verächtliches Lächeln zeigte sich auf Haggans Lippen. Er hob 

das Schwert ein wenig an und berührte damit die Lanze. Es klang 
wie ein Gong. 

»Ich bin neugierig, wie Ihr das anstellen wollt, Roland. Bei aller 

Hochachtung vor Eurem Mut und Eurer Ritterkunst  - Ihr seid in 
meiner Gewalt und nicht ich in Eurer. Ihr seid waffenlos. Omars 
Krummdolch ließ ich Euch wieder wegnehmen, als Ihr schlieft. 
Dagegen bin ich bis an die Zähne bewaffnet. Ihr habt niemanden an 
Eurer Seite außer dem Mädchen Heide, das eine Zeitlang täuschend 
die Rolle Eures Knappen spielte. Auf einen Wink von mir würden 20 
- oder wenn ich wollte  - doppelt so viele Krieger hereinstürmen und 
Euch niedermetzeln. Kein Entkommen gäbe es für Euch vor ihren 
Lanzen, Schwertern, Keulen und Pfeilen. Bedenkt das, Roland, und 
gebt zu, daß Ihr den Mund zu voll nahmt!« 

Mit wenigen langen Sätzen glitt Roland zur Tür, die ins Innere der 

Burg führte. Der Schlüssel steckte im Schloß. Roland drehte ihn 

background image

zweimal herum. Dann zog er ihn ab und barg ihn im Wams. Ebenso 
rasch begab er sich zum Außenportal. Dort wandte er sich zu Haggan 
um. 

»Ruft nur nach Euren Kumpanen, Gefangener des Königs! Den 

ersten,  der durch diese Tür hereinstürzt, bringe ich zu Fall und nehme 
ihm die Waffe ab. Dann schließe ich auch dieses Portal  - und wir 
können ein neues Duell beginnen!« 

Zum ersten Mal wirkte Haggan leicht beunruhigt. 
Roland fuhr fort: »Einmal, als ich in den Händen jener 

verkommenen Bauern war, habt Ihr mir das Leben gerettet. Damals 
kannten wir einander noch nicht. Einmal rettete ich Euch das Leben, 
als ich Euch, den Schwerverwundeten, schon Besiegten, aus dem 
eisbedeckten Bach zog. Wir sind quitt. Von jetzt  an werde ich keine 
Rücksicht mehr üben. König Artus wird höchst zufrieden sein, wenn 
ich mit Eurer Leiche vor mir auf dem Pferderücken nach Camelot 
zurückkehre. Ihm kommt es nur darauf an, Euch ein für allemal 
unschädlich zu machen. Die Methode überließ er mir!« 

Haggan lächelte wieder. Unbeeindruckt saß er da und hob leicht 

die Lanze. »Ihr vergeßt, daß Ihr im Augenblick noch unbewaffnet 
seid, Roland!« 

»Täuscht Euch nicht!« entgegnete der. »Ich habe vorgesorgt, um 

Euren Ränken zu begegnen. In meinen Kleidern gibt es verborgene 
Taschen, und ich bin ein Meister mit dem Wurfmesser.« 

Unwillkürlich zog Haggan den Kopf ein, als wäre schon ein 

solches tödliches Werkzeug im Anflug. In Wirklichkeit bluffte 
Roland nur. Weder besaß seine Kleidung Geheimtaschen, noch  hatte 
er irgendwo das kleinste Stück Eisen am Körper verborgen. 

Als Haggan wieder sprach, war sein Ton genauso freundlich wie 

zu Beginn des Gesprächs. »Erregt Euch nicht, edler Roland! Fern lag 
es mir, Euch zu drohen. Laßt mich statt dessen etwas sagen, das Euch 
bestimmt überraschen wird! Ich bin gern bereit, Euch zum Schloß 
Camelot und vor König Artus' Thron zu folgen. Sogar als Euer 
Gefangener, wenn Ihr darauf besteht! Lieber wäre mir allerdings, ich 
ritte als Freund an Eurer Seite!« 

background image

Roland erhob abwehrend die Hand. »Als Freund?« wiederholte er 

verachtungsvoll. »Eher wünschte ich mir den Teufel zum Freund! 
Wie könnt Ihr Euch unterfangen ...?« Er brach ab. Die Empörung 
schnürte ihm die Kehle zu. 

»Gemach, gemach!« mahnte Haggan, nun jeder Zoll von 

maßvoller Würde. »Ehe wir weiterstreiten, verratet mir lieber, 
wessen mich der König, den ich nicht weniger achte und verehre als 
Ihr, denn eigentlich beschuldigt!« 

»Als ob Ihr das nicht wüßtet!« rief Roland ärgerlich. »Nun wohl, 

ich will es Euch dennoch wiederholen. Es sind neben Eurem wüsten, 
unritterlichen Lebenswandel, mit dem Ihr unseren Stand befleckt, 
drei Hauptanklagepunkte. Punkt eins: Ihr habt Euren Bruder Jorn 
ermordet und seine Burg dem Erdboden gleichgemacht!« 

Heftig schüttelte Haggan den Kopf. 
»Punkt zwei«, fuhr Roland mit erhobener Stimme fort: »Ihr habt 

Griseldis, die Gattin Eures Bruders und Verwandte der Königin, mit 
Gewalt genommen und versucht, auch sie umzubringen. Nur wie 
durch ein Wunder entkam sie dem Tode!« 

Zornig stampfte Haggan den Schaft der Lanze auf dem Boden auf. 
Roland kümmerte sich gar nicht darum, sondern schloß: »Punkt 

drei: Ihr plant Hochverrat, wollt Artus vom Thron stoßen, ihn 
ermorden und statt seiner König werden.« 

Haggan lachte laut auf, doch sein Lachen hatte einen bitteren 

Klang. »Nun begreife ich Euren Zorn, Roland«, sagte er nach einer 
Weile, und seine Stimme klang traurig. »Wäre es so, wie Ihr sagtet, 
so verdiente ich allerdings strengstes Gericht, lebenslangen Kerker 
bei Wasser und Brot und täglicher Prügelstrafe, oder gar peinlichen 
Tod.« 

Roland horcht auf. »Wollt Ihr die Vorwürde etwa leugnen?« 
»Man hat mich verleumdet«, sagte Haggan in bitterem Ton. »Es 

gibt einen alten Mann am Königshof, dem jeder aufstrebende, 
geistvolle, lebensglühende Ritter ein Dorn im Auge ist. Ihr kennt ihn 
auch. Und es würde mich nicht wundern, wenn er Euch nicht 
ebenfalls schon so manchen Knüppel zwischen die Beine geworfen 

background image

hätte.« 

So eindringlich und aufrichtig klangen Haggans Worte im fast 

leeren Saal, daß Roland verwundert aufschaute. 

Haggan erhob die rauhe Stimme zu äußerster Nachdrücklichkeit. 

»Ich meine Wilhelmus, den weißhaarigen Schurken, den 
langbärtigen Intriganten, den schönrednerischen Ränkeschmied! Er 
will, koste es was es wolle, einen aus seiner verfluchten Heißblut-
Sippe in  die Tafelrunde hineinbringen! Erst sollte es Percy sein. 
Nach dessen Tod jetzt Douglas Heißblut. Mich sah er früh als 
Rivalen an. Darum streute er diese Lügen über meinen angeblich 
schändlichen Lebenswandel, die blutrünstigen Fantastereien über 
meine angeblichen Verbrechen unter die Leute!« 

Mit gemischten Gefühlen lauschte Roland den Vorwürfen 

Haggans. Mancher seiner Sätze schien Schleier von bisher nie 
verstandenen Ereignissen zu reißen. Andere wieder erschienen ihm 
als schiere Lüge. Sein Treuegefühl  wehrte sich dagegen, in der Nähe 
des Königs Artus böse Machenschaften zu vermuten. 

Erwartungsvoll blickte Haggan den blonden jungen Ritter an. 
Schließlich antwortete Roland: »Eure Worte, Haggan, mögen 

Kinder und Narren betören, doch kein Ohr, das aus des  Königs 
eigenem Mund das wahre Geschehen erfuhr. Sprecht weiter! 
Drechselt Eure Sätze, gebt ihnen Politur und Glanz, sprecht bis zum 
Abend! Sprecht, bis Euch die Zunge den Dienst versagt! Mich 
werdet Ihr nicht überzeugen. Ich weiß, daß Ihr ein Unhold seid, von 
dem dieses Land befreit werden muß. Und ich werde es sein, der 
Euch zurück ins Verlies stürzt oder  - wenn Ihr Euch wehrt  - ins 
Grab!« 

Mit großer Überwindung gelang es Haggan, ein mildes Lächeln 

auf seine harten Züge zu zaubern. »Seid Ihr dessen so sicher, 
verblendeter Ritter? Nun denn, so will ich Euch einen Zeugen 
vorführen, an dessen Aussage kein Intrigant, kein ehrlicher Mann, 
kein Schuft, kein Ritter und kein König drehen und deuteln kann ...« 

Mehr denn je war Roland von Haggans Schuld überzeugt. 

Trotzdem hörte er ihm gebannt zu. Der Bursche verstand es wirklich 

background image

zu fesseln! 

»Ritter Lutz hat es auf meinen Wunsch übernommen, diesen 

Zeugen hierher nach Atzerath zu bringen«, sagte Haggan fast so 
feierlich, wie der Zeremonienmeister am Hof von Camelot einen 
Ehrengast anzukündigen pflegte. 

Gegen seinen Willen platzte Roland mit der Frage heraus: »Und 

wer sollte dieser Zeuge sein?« 

Haggan warf ihm einen durchbohrenden Blick zu und sagte  nach 

einer genau berechneten Pause: »Es ist die Frau, der ich den 
Ehemann, die Burg und die weibliche Ehre genommen haben soll ... 
Es ist Griseldis!« 

Noch ein volles Jahr nach den schrecklichen Schicksalsschlägen, die 
ihr Leben aus der Bahn geworfen hatten, lebte Griseldis wie betäubt 
dahin. Sie lehnte alle Einladungen von Verwandten und Freunden ab, 
bei ihnen zu wohnen. Nicht einmal Königin Ginevra konnte sie dazu 
überreden, zu ihr zu kommen. 

Griseldis wollte niemanden sehen. Sie verkroch sich. Sie zog  sich 

in ein Bürgerhaus der Stadt Rivage zurück. Keiner der 
Stadtbewohner kannte sie oder hatte von ihr gehört. Niemand wußte 
von ihrem tragischen Geschick. Sie ließ sich auch kaum in der Stadt 
blicken. 

Griseldis war eine schöne Frau von hoheitsvollem Auftreten. Aber 

seit einem Jahr hatte die Witwe kaum in einen Spiegel geblickt. Sie 
vergrub sich in ihren Kummer und vernachlässigte ihr Äußeres. 

Ihr herrliches kastanienbraunes Haar wurde strähnig und glanzlos. 

Ihre Augen trübten sich. Ihre Haut nahm durch das ständige 
Stubenhocken eine ungesunde, bleiche Färbung an. Sie aß nur wenig 
und mit Widerwillen. An manchen Tagen rührte sie überhaupt keine 
Nahrung an. So kam es, daß ihr Körper mager wurde und nur wenige 
Spuren der früheren bezaubernden Schönheit behielt. 

Griseldis sann auf Rache. 

background image

Sie entwarf Plan um Plan. Doch nur, um immer bald zu erkennen, 

daß keiner ausführbar war. Wie wollte sie, ein schwaches Weib, 
Haggan den Gräßlichen in ihre Gewalt bekommen? 

Es war aussichtslos. 
Mit fremder Hilfe rechnete sie nicht, wollte auch keine haben. Es 

war ihr Schicksal, ihre Trauer, ihr Verhängnis  - und ihre Rache, die 
sie mit keinem teilen wollte! 

Sie wurde nicht müde, sich immer aufs neue auszumalen, wie sie 

Haggan überwältigen und grausam zu Tode bringen würde. Es waren 
Streiche, die ihr die überhitzte Fantasie spielte. 

Selten sah sie einen Menschen. Nur ihre Zofe Velma duldete sie 

um sich. Ihr vertraute sie wie einer Schwester. Velma hielt die 
Verbindung zur Außenwelt. Sie verwaltete auch die Dukaten, die 
Königin Ginevra ihr von Zeit zu Zeit schickte, damit sie keine Not zu 
leiden brauchte. 

So wie ihre Herrin bei dieser Lebensart früh alterte, verfiel und 

immer unansehnlicher wurde, so blühte die Zofe auf. Velma war von 
Natur aus  ein wohlgestaltetes Mädchen. Die Zeit auf der Burg des 
Ritters Jorn hatte sie vieles gelehrt. Sie hatte Griseldis und all den 
begehrten Damen des Adels, die dort verkehrten, eine Menge 
abgeschaut. 

Die Manieren, die höfische Sprache, die Kunst, sich nach der 

geltenden Mode verführerisch zu kleiden, die Handgriffe und Tricks 
der Körperpflege und die vornehme Haltung. 

Wenn Velma jetzt durch die Straßen von Rivage schritt, um 

irgendwelche Besorgungen zu erledigen, sah sie mit ihrer gepflegten 
dunkelbraunen Haartracht, dem stolzen Gang, dem 
hochgewachsenen, schöngeformten Körper und den feinen Kleidern 
selber wie eine vornehme Dame aus. 

Da Griseldis keinerlei Wünsche äußerte und ihr die Verwaltung 

des Hauses völlig überließ, war Velma allmählich ein begütertes 
Fräulein geworden, deren Gedanken von Tag zu Tag ehrgeiziger und 
begehrlicher wurden. 

Zwei Seelen wohnten in ihrem Herzen. Die kalte, berechnende, die 

background image

nach Gold strebte. Und die sinnlich heiße, die in der Umarmung 
kräftiger Männer das Glück suchte. Sie verstand es, beide Seelen zu 
befriedigen. 

Sie begann und beendete manch Liebesverhältnis. Der Bewerber 

mußte von angenehmem Äußeren sein, zu den besseren Ständen 
gehören und verschwiegen sein. Denn sie legte Wert darauf, daß ihr 
Ruf untadlig blieb. So traf sie ihre Rendezvous mit größter 
Heimlichkeit und reizte die Sinne ihrer Anbeter durch hinhaltendes 
Zögern, schwierig einzuhaltende Verabredungen und allerlei Listen 
aufs äußerste. Noch bevor sie sich einem hingab, bat sie um 
Geschenke. Heiratsanträge überging sie mit Stillschweigen. War sie 
eines Liebhabers überdrüssig, was meist nach kurzer Zeit eintraf, 
verabschiedete sie ihn mit einer Kälte, daß er meinte, die Erinnerung 
an heiße Nächte sei pure Einbildung gewesen, er hätte sie in 
Wirklichkeit nie besessen. 

Eines Nachmittags stieg Velma an einem abgelegenen Platz am 
Flußufer vor der Stadt, das Weiden und Pappeln säumten, in eine 
vornehme Kutsche, die nicht aus Rivage stammte. Der Wohlgeruch 
von ölen und Kreszenzen, die sie benutzte, erfüllte betörend das 
Innere des Wagens. 

Der Mann, der sie erwartet hatte, gab dem Kutscher Befehl zur 

Abfahrt. Er legte den Arm um ihre Schultern und zog sie mit 
herrischer Bewegung an sich. 

Velma versuchte nicht, sich zu wehren. Das war kein Mann wie die 

üblichen Verehrer aus der Stadt. Sein Griff war entschlossen, sein 
Gesicht hart, seine Sprache gebieterisch. 

Velma spürte, wie ihr Inneres zerfloß. 
Es war ihre dritte Begegnung, und sie wußte, daß sie sich ihm 

diesmal hingeben würde. Selbst wenn er ihre gewohnten 
Bedingungen der Heimlichkeiten mißachtete und ihr kein Geschenk 
anbot! 

background image

Gegen die Stärke dieses Mannes vermochte auch ihre angeborene 

berechnende Kälte nicht standzuhalten. 

Doch es kam alles anders, als sie es sich erträumt hatte. 
Der Mann flüsterte ihr keine Liebesbeteuerungen ins Ohr, wie sie 

es gewöhnt war. Der Mann sagte mit einer Stimme, die Widerspruch 
ausschloß: »Du bist Griseldis, die Witwe Jorns?« 

»Nur ihre Freundin«, sagte sie, erstaunt über ihre eigene 

Zaghaftigkeit. »Ich heiße ...« 

»Griseldis!« unterbrach der Mann heftig. »Das wirst du von jetzt 

an gegenüber jedermann behaupten.« 

»Aber...« 
Fünf Finger quetschten schmerzhaft ihren Oberarm. Sie schrie auf. 
»Gegen jedermann! Verstanden?« 
»Ja«, wimmerte sie kläglich. Der Druck ließ nach.  Der Schmerz 

aber hielt vorerst an. 

»Gut, Griseldis. Du weißt, was geschehen ist. Trauerst du noch um 

Jorn, um seine Burg und um die Schande, die man deinem Leib 
angetan hat?« Er machte eine winzige Pause, ehe er in verändertem 
Ton fortfuhr: »Sag jetzt nicht ja, sonst vernichte ich dich, verdammte 
Hure!« 

Ein köstliches Erschrecken durchrieselte Velma. Sie fühlte, daß sie 

an der entscheidenden Wende ihre Lebens stand. Schmerz ließ sich 
ertragen, aber nicht ewig der Mief der Kleinstadt Rivage. So hätte 
dort keiner mit ihr zu sprechen gewagt! Sie wurde klein unter dem 
herrischen Griff dieses Mannes. Gleichzeitig aber fühlte sie sich auf 
unbegreifliche Weise über die Nichtigkeiten ihres bisherigen Lebens 
erhoben. 

Die geborene Abenteuerin spürte, wie das große Abenteuer sie in 

den Fängen hielt. 

»Nein«, sagte sie froh, und dabei log sie nicht einmal. »Ich haßte 

Jorn, den sturen Langweiler. Ich mochte die Burg nicht, in der es so 
streng und gleichförmig zuging. Und von einer Schande, die 
Griseldis zugestoßen sein soll, weiß ich nichts.« 

»Gut so«, sagte der Mann zufrieden. »Du lernst schnell. Du wirst 

background image

es weit bringen.« 

Er packte ihre Hand, und sie fühlte den kalten Druck harten 

Metalls in ihrer Handfläche. 

»Das sind 20 Dukaten«, sagte er gleichgültig, als sei die Summe 

ein Dreck. »Du wirst noch zehnmal soviel erhalten, wenn du alles 
tust, was ich dir jetzt sage.« 

Lutz von Lutzerath, dem jetzt nach dem Tod seinen Bruders auch 

das viel mächtigere Atzerath gehörte, besaß eine Menge Bargeld. Als 
Haggan noch auf dem Schmerzenslager fieberte, hatte er mit dessen 
Höllenhunden eine Karawane von Kaufleuten überfallen. Der 
Angriff wäre um ein Haar fatal ausgegangen, weil die Kaufleute eine 
starke Bedeckung bei sich hatten. 

Viele Höllensöhne bissen ins Gras. Aber Lutz kam mit Glück und 

dem größten Teil der Kasse davon. Den Rest seines Haufens speiste 
er mit wenigen Dukaten ab. Dann kehrte er nach Atzerath zurück, 
übergab Haggan die Hälfte des geraubten Goldes und beriet sich 
lange mit ihm. 

Die Kühnheit und Schläue von Haggans Plan setzten ihn in 

Verzückung. Mit großer Begeisterung machte er sich auf den Weg 
nach Rivage und hatte wenig Mühe, Velma ausfindig zu machen und 
zu umgarnen. 

Während die Kutsche den langen Weg nach Atzerath einschlug, 

entwickelte Lutz der entführten Velma in beschwörenden Worten, 
was sie in den nächsten Tagen zu tun habe. Nicht einmal stellte sie 
unbequeme Fragen. Nicht einmal erhob sie Einwendungen. 
Verlangte er, daß sie einen Teil der Einflüsterungen wiederhole, dann 
tat sie es ohne Fehler. Sie war die gelehrigste Schülerin, die man sich 
denken konnte. 

Sie übernachteten in guten Gasthöfen, wo sie getrennte Zimmer 

bezogen. Überall trat Velma mit untadliger Vornehmheit auf. Sie 
bestand jede Probe. 

Klopfte er nachts an ihr Zimmer, so antwortete sie spröde: »Es ist 

verschlossen und verriegelt. Ich bitte Euch, bewahrt Eure und meine 
Ehre, Herr Ritter!« 

background image

Grinsend zog sich Lutz dann in sein Gemach zurück. 
Sprach er sie tagsüber unversehens mit dem Namen Velma an, so 

reagierte sie, als habe sie den Namen nie gehört, geschweige denn 
selber getragen. Sagte er Griseldis, so antwortete sie selbstver-
ständlich: »Was beliebt, Herr Ritter?« 

Nur einmal  - und das war wenige Stunden vor der Ankunft auf 

Atzerath  – fiel Velma Griseldis aus der Rolle. Das war, als sie in 
einer Anwandlung lang unterdrückter Lüsternheit fragte: »Ist es 
eigentlich erlaubt, diesen Roland, von dem Dir mir erzähltet, zu 
verführen?« 

Lutz lachte. »Das steht Euch frei! Nur fürchte ich, Ihr müßtet 

vorher ein Weib namens Heide vergiften!« 

Roland erklärte sich einverstanden, noch fünf Tage auf Lutz und die 
Zeugin Griseldis zu warten. 

Den ersten Tag sattelte er Samum und preschte mit ihm 

stundenlang über verschneite Äcker und Wiesen, über Saumpfade 
und Hügelkämme, durch Hohlwege und Gehölze. 

Den zweiten Tag übte er sich im Bogenschießen, wobei er ständig 

das Ziel verkleinerte und die Entfernung vergrößerte. 

Den dritten Tag sah er seine Waffen und Rüstung durch, schärfte 

und putzte, bastelte und schmirgelte, bis alles blitzte wie Silber. 

Die Nächte verbrachte er mit Heide. 
Den vierten Tag ging er auf die Jagd. Er hatte bei seinem Streifzug 

weit im Südwesten den Schimmer eines ausgedehnten hügeligen 
Waldlands entdeckt. Dort, meinte er, müsse es allerhand jagdbares 
Getier geben. 

Heide schlummerte noch tief, als er sie am frühen Morgen verließ. 

Einen Augenblick zögerte er, von Rührung bei dem Anblick ihres 
feingemeißelten Köpfchens übermannt. Dann schrieb er auf ein Blatt 
ein paar Zeilen, die ihm das Gefühl eingab. 

O Nacht der Nächte! 

background image

Ja, keine brächte Mir immerzu Ein Glück wie du! 
Er hoffte, sie werde es beim Aufwachen finden und sich darüber 

freuen. Im Wegreiten dachte er, daß wohl wirklich am hellen Tag die 
Sonne vom Himmel verschwinden und tiefe Dunkelheit die Erde 
umfangen halten müsse, ehe er ihr untreu werden würde. 

Nach zwei Stunden scharfen Rittes war der Waldsaum erreicht. 

Spuren fand Roland viele im dichten Schnee. Aber da er keine 
Hunde bei sich führte, war es nicht einfach, die flüchtigen Tiere zu 
erjagen. Fast den ganzen Tag tummelte er den unermüdlichen 
Samum im Galopp durch die Wälder. Aber oft genug mußte Roland 
eine lange Hatz abbrechen, wenn der verfolgte Keiler, der 
schnaufende Hirsch oder das flinke Reh in dichtes Unterholz 
flüchteten, wo für Pferd und Reiter kein Durchkommen war. 

Als die Nacht hereinbrach, hatte er sich verirrt. Der Himmel war 

bezogen. Kein Stern wies die Richtung. Aufs Geratewohl ließ er 
Samum traben. Ihn fror im dünnen Jägeranzug. 

Einmal schimmerte ein Licht. Oder narrte ihn das überreizte  Auge? 

Er hielt darauf zu. Immer wieder entschwand es hinter 
Baumstämmen und Bodensenken. Doch endlich war es nah. Er hatte 
sich nicht getäuscht. 

Er kam auf einen breiten Weg, wie ihn Holzfäller oder Händler 

gern benutzten, und das Lichtlein wurde zur Stallaterne, die an einem 
rostigen Gittertor hing. Eine Blockhütte kauerte tief im Schnee. Die 
Läden waren geschlossen. Und doch konnte Roland im Schein der 
Lampe die eingekerbte Schrift entziffern: 

Herberge zur guten Ruh. 
Nach langem Rufen und Klopfen öffnete sich die Tür, und ein 

krummgewachsener Mann in mittlerem Alter mit hellem, dünnem 
Haar trat heraus. Er war mürrisch und abweisend, wurde aber 
anderen Sinnes, als Roland ihm für ein Nachtquartier die Hälfte 
seiner erlegten Beute anbot. 

Das bedeutete zwei Fasanen, einen Hasen und einen Hirsch. 
Der Mann wurde zunehmend freundlicher, führte Samum in einen 

geräumigen Anbau, in dem es angenehm nach Futter roch, und ließ 

background image

dann Roland über die Schwelle ins Haus. Beim Eintreten sah der 
Ritter sieben tiefe Kerben an der vom Alter geschwärzten Tür. 

Roland verschwendete keinen Gedanken an die mögliche 

Bedeutung der Kerben. Er hätte sie auch nie erraten. Und der Wirt 
hätte eine Frage danach höchstens mit einer Lüge erwidert. 

Der Wirt, der sich Hellmer nannte, wohnte seit einem guten 

Dutzend Jahren an dieser abgelegenen Stelle im Wald. Weil sich nur 
selten Gäste zu ihm verirrten, hatte er vor einigen Monaten 
begonnen, einzelne Reisende des Nachts, wenn sie im tiefsten Schlaf 
lagen, zu ermorden. Später vergrub er sie an abgelegener Stelle und 
behielt ihre mitgeführten Habseligkeiten, deren Wert oft beträchtlich 
war. 

Jede Kerbe bedeutete einen ermordeten Gast! 
Roland ahnte nicht, was sein Wirt beschlossen hatte. Er sollte in 

dieser Nacht das achte Opfer werden! 

Nachdem Hellmer diesen Entschluß gefaßt hatte, taute er rasch auf 

und behandelte seinen Gast mit großer Fürsorge. Er tischte ihm auf, 
was Küche und Keller hielten  - und das war nicht wenig. Beim 
Schmausen leistete Hellmer dem Ritter Gesellschaft. Er langte auch 
ab und zu selber nach einem schmackhaften Bissen. Und er nötigte 
den Ritter zu herzhaftem Zechen. 

Nun war Roland nach dem hitzigen Jagdtag durstig genug und ließ 

sich nicht zweimal bitten. Die Unterhaltung blieb einsilbig, da 
Hellmer wortkarg war und Roland nicht wußte, worüber er sich mit 
dem einfältigen Menschen unterhalten sollte. So kam es, daß er 
schließlich dem Weinkrug nicht allein aus Durst, sondern auch aus 
Langeweile kräftig zusprach. 

Hellmer nahm nur selten einen Schluck zu sich. Beim Schein des 

flackernden Kaminfeuers hatte er eine schwere Axt zur Hand 
genommen und begann, sie sorgfältig an der Schneide zu schärfen. 

Plötzlich bemerkte er Rolands Blick und ließ sich dazu herbei, 

seine Beschäftigung mit den Worten zu erklären: »Ich muß morgen 
einige Bäume fällen.« 

Flüchtig fragte sich Roland: Wozu? Denn draußen und drinnen 

background image

waren riesige Mengen von Brennholz gestapelt. Ein leichter 
Argwohn kroch in ihm hoch, verflüchtigte sich aber völlig, als er den 
nächsten Becher leerte. 

Hellmer schenkte ihm fleißig nach und fuhr fort, seine Axt zu 

schärfen. 

Mit Behagen leerte Roland noch drei Becher. Dann wurde er 

plötzlich sehr müde. Die Augen fielen ihm zu. Als er nach wenigen 
Augenblicken aufschreckte, sah er, daß Hellmer sich erhoben hatte 
und ihn aufmerksam beobachtete. 

Roland gähnte und stand auf. »Zeig mir mein Zimmer, Wirt!« 

sagte er. »Die Mahlzeit war köstlich. Ich gedenke, einen tiefen Schlaf 
zu tun.« Dabei fiel ihm der Name des Hauses ein, den er bei der 
Ankunft draußen gelesen hatte: 

Herberge zur guten Ruh . .. 
Wie doppelsinnig dieser Name war, hatten die sieben Opfer 

Hellmers nie erfahren. 

Hellmer geleitete ihn über einen dunklen Gang und stieß eine 

windschiefe Tür auf. Die Lagerstätte bestand aus einem Holzgestell, 
auf dem ein Strohsack und eine uralte Pferdedecke lagen. Licht gab 
es nicht. Aber Hellmer hatte das Fenster aufgestoßen. Der Himmel 
hatte sich ein wenig aufgeklärt. Schon funkelten einige Sterne, und 
schwaches Mondlicht kam herein. 

»Gute Nacht!« wünschte der Mörderwirt. Er hatte die Axt nicht 

losgelassen. Als er hinausging, strich er mit dem Daumen zufrieden 
über die messerscharfe Schneide. 

Roland antwortete nicht. Er war zu müde. Kaum hatte er die Stiefel 

von den Füßen gezogen, da fiel er auf den Strohsack und war nach 
wenigen Atemzügen eingeschlafen. So bemerkte er auch nicht, daß 
Hellmer beim Hinausgehen die Tür nicht ins Schloß fallen, sondern 
einen Spaltbreit offenließ. 

Hellmer schlurfte in die Küche zurück und setzte sich, die Axt im 

Arm, geduldig an den Tisch.  Er wollte noch ein, zwei Stunden 
warten, bis sein argloser Gast im Tiefschlaf lag. Dann würde er in 
seine Kammer gehen und ihm den Garaus machen. Er war überzeugt, 

background image

daß der Fremde nicht wenige Golddukaten bei sich führte. 

Das Pferd würde er fürs erste behalten. 
So saß er beim matten Schein eines Öllämpchens und trank ab und 

zu einen Schluck Wasser. Nach vollbrachter Tat würde er sich einen 
Rausch antrinken. Jetzt aber brauchte er eine sichere Hand. 

Indessen wanderte der Mond weiter und schien schließlich  hell in 
Rolands Kammer hinein. War er es, der den Ritter weckte? Oder 
erwachte er, weil ihm die gewohnte Wärme von Heides lieblichem 
Körper fehlte? Oder ließ ihn jener sechste Sinn nicht zur Ruhe 
kommen, der Waldläufer, Jäger und Kämpfer auszeichnet? 

Jedenfalls richtete er sich nach kaum einer Stunde auf  - und war 

plötzlich hellwach! 

Sein erster Gedanke ging zu Heide. Wahrscheinlich wartete sie zu 

dieser Zeit noch auf seine Rückkehr. Wie sie ihm fehlte! Er nahm 
sich vor, morgen früh beim ersten Licht zur Burg zurückzureiten. 

Schon wollte er sich gähnend wieder aufs Lager fallen lassen, als 

sein Blick auf einige Sterne fiel. Gleichzeitig erinnerte er sich an sein 
Versprechen, das er Heide vor zwei Nächten unter Lachen und 
Scherzen gegeben hatte. 

Vom Fenster aus, das nach Süden lag, hatten sie den winterlichen 

Sternenhimmel betrachtet, Hand in Hand, Wange an Wange, Schulter 
an Schulter. Er zeigte ihr die Sterne, die das Bild des Orion 
ausmachten. Heide kannte das prächtige Nachtgestirn. Sie hatte es 
schon oft bewundert. 

Roland fiel ein, was sein Lehrer, der Einsiedler Klaus, ihm darüber 

berichtet hatte. »Orion war ein berühmter Jäger des Altertums. Den 
wilden Jäger nannten ihn die Griechen, und er war der Geliebte der 
Eos, der Morgenröte.« Er streichelte Heides Arm und flüsterte ihr ins 
Ohr: »Eos - das bist du für mich.« 

»Und du wilder Jäger«, flüsterte sie zurück, »bist mein Orion!« 
Sie lachten herzlich, küßten sich viel und wurden schließlich ernst. 

background image

»So wollen wir uns geloben«, sagte Heide nach langem Schweigen, 
»daß wir, wenn wir getrennt und fern sind, des Nachts den Orion 
anschauen und dann aneinander denken!« 

Daran erinnerte sich Roland jetzt in der Waldwüste, in der elenden 

Kammer der finsteren Herberge »Zur guten Ruh«, die noch besser 
»Herberge zur ewigen Ruh« geheißen hätte. Er stand von seinem 
Strohsack auf und schlich in Strümpfen an das schmale Fenster. 
Lange stand er dort, schaute den Orion an, den leuchtenden 
Schulterstern, die Gürtelsterne, das Schwertgehänge und den 
schwachschimmernden Nebel. Und ihm wurde wohl ums Herz, weil 
er sicher war, daß Heides Blicke jetzt ebenfalls in dieser 
Himmelsgegend weilten und ihre Gedanken sich dort im 
Unendlichen zärtlich begegneten. 

Sein Kopf fuhr herum. 
Ein ganz schwaches Geräusch hatte sein Ohr erreicht. Wie der 

vorsichtige Schritt eines Menschen! 

Roland zog sich lautlos vom Fenster zurück, um nicht gegen den 

helleren Himmel als Schattenriß erkennbar zu sein. Seine Augen 
hatten sich inzwischen an das Dunkel in der niedrigen Kammer 
gewöhnt. So sah er, wie sich die Tür leise öffnete und Hellmer 
hereinschlich. 

Es waren nur fünf kurze Schritte von der Tür bis zum Kopfende 

des Lagers, aber der Wirt ließ sich lange Zeit. Zwischen jedem 
Schritt verstrichen Ewigkeiten. Roland atmete ganz flach, um sich 
nicht zu verraten. Als der Wirt den fünften Schritt tat, erkannte 
Roland auch, daß er die Axt bei sich hatte. 

Ein kalter Schauer zog Rolands Kopfhaut zusammen. Und dann 

geschah es in Blitzesschnelle. 

Hellmer hob die Arme und schwang die Axt. Dann ließ er sie 

dorthin niedersausen, wo er Rolands Kopf auf dem Lager vermutete. 
Er führte drei fürchterliche Schläge. Dann hielt er inne, und Roland 
hörte ihn mit schwerer Zunge sagen: »Das reicht für dich, Fremder! 
Du warst der achte! Ich darf morgen die Kerbe nicht vergessen ...« 

Er murmelte noch einiges, was unverständlich blieb. Dann ging er 

background image

mit lauten Schritten hinaus, vermutlich, um das Öllämpchen zu 
holen. Roland zog sich noch tiefer in den Schatten der Wand zurück 
und wartete auf seine Wiederkehr. 

Wie erwartet kam der Wirt bald zurück. Die Axt hatte er mit dem 

Lämpchen vertauscht. Rasch trat er ans Lager und leuchtete. 

Hellmer traute seinen Augen nicht. Tiefer und tiefer beugte er sich 

über den Strohsack, strich mit den Händen fahrig darüber hin und 
murmelte in abgerissenen Tönen verzweifelt: »Das kann nicht sein ... 
Das ist Trug der Sinne ... Ich traf ihn dreimal... Er schlief wie ein 
Stein ... Wo ... Wo ... ist er!« 

»Hier!« sagte Roland scharf, sprang ihn an und packte ihn an 

beiden Armen. 

Überraschend schnell faßte sich Hellmer, der doch mit diesem 

Angriff überhaupt nicht gerechnet hatte. Die Berührung schien 
ungeheure Kräfte auszulösen. Vielleicht hatte ihn Roland auch nicht 
kräftig genug angefaßt. Jedenfalls schleuderte der Mörderwirt den 
Ritter mit einer heftigen Bewegung seines Oberkörpers von sich. 

Dabei ließ er das Öllämpchen los. Es fiel auf den Strohsack. 
Hellmer wirbelte herum. »Da ist er!« schrie er, und seine Haare 

sträubten sich. Er glaubte, Roland sei mit finsteren Mächten im 
Bunde. Anders konnte sich der einfältige Waldmensch dessen 
Überleben nicht erklären. 

Aber der Aberglaube lahmte ihn nicht, sondern verdoppelte eher 

seine Kräfte. Als sie miteinander rangen, bekam Roland es zu spüren. 
Der Griff des Mörders war wie ein Schraubstock. Die Luft wurde 
ihm knapp. Vor seinen Augen tanzten bunte Flecken. Roland 
röchelte. 

Er angelte nach Hellmers Beinen, bekam einen Fußknöchel in die 

Hände und riß ihn scharf nach vorn. Hellmer grunzte wütend und 
stürzte nach hinten. Mit dem Kopf schlug er gegen die Bettkante und 
war für den Augenblick betäubt. 

Sein Griff lockerte sich. 
Roland nutzte diesen Glücksfall sofort aus und setzte dem Gegner 

das Knie auf die Brust. 

background image

Bei Hellmers Sturz war das Öllämpchen umgefallen. Die kleine 

Flamme entzündete den trockenen, dünnen Überzug der Bettauflage 
und das festgepackte, ausgedörrte Stroh. Als Roland sich mit dem 
Oberkörper über den Gegner warf, schoß ihm eine heiße 
Stichflamme entgegen. 

Aufschreiend prallte Roland zurück. Schon stand das Bett in hellen 

Flammen, die bis an das niedere Dach loderten. Sie griffen in 
Windeseile auf einen Stapel Reisig über, der neben dem Bett aufge-
häuft war. Rot, grellgelb, purpurn und orange waberte es stechend, 
beißend, brennend vor Rolands Gesicht. 

Wenige Herzschläge noch, und die ganze Herberge würde ein 

Feuermeer sein! 

Nur wie einen dunklen Schemen nahm Roland noch die Gestalt des 

hingestreckten Mörderwirts in dem züngelnden Schwall des Feuers 
wahr. Die Hitze brannte ihm ins Gesicht, wollte ihm in die Augen 
stechen. Er kniff die Augen zu, bückte sich und griff nach Hellmers 
Beinen. 

Ein prasselnder Krach! Das Dach kam herunter. Klafterhoch 

schossen die Flammen wie Fackeln beim Osterfeuer. 

Roland mußte loslassen. Er schlug die Arme vors Gesicht und 

wandte sich um. Die Wand bekam einen Riß. Wieder glaubte er, 
keine Luft mehr zu bekommen  - wie vorhin unter dem eisernen 
Zugriff des Mörders. 

Ringsum krachte, knallte und prasselte es. Die Flammen züngelten 

nach Rolands Körper. Halb erstickt floh er durch den Riß der Wand. 
Balken, Feuerstöße und zerbrochene Dachsparren flogen hinter ihm 
her. Manche trafen seinen Rücken wie Huftritte. Hinter sich hörte er 
einen gräßlichen Schrei. 

Wie von selbst trugen ihn seine Füße über zerbrechenden 

Fußboden, durch Flammen und Schutt ins Freie. Ein Blick zurück 
belehrte ihn, daß es für Hellmer, den Waldmörder, keine Rettung 
mehr gab. Er verbrannte an der Stätte seiner bisher ungesühnten 
Untaten. 

Die kalte Nachtluft war belebend. Aber Roland gönnte sich keinen 

background image

Augenblick der Ruhe und des Atemholens. Er rannte zum 
angrenzenden Stall. 

Samum! Würde auch der edle Araber den Feuertod erleiden? Das 

Herz krampfte sich Roland bei diesem Gedanken zusammen. Dann 
fiel ihm ein, daß er ihm vorhin den Sattel abgenommen und ihn nicht 
angeleint hatte. 

Im gleichen Augenblick, da er die Stalltür von außen öffnete, 

schlug Samum von innen mit den Vorderhufen dagegen. Das 
erschrockene Tier stand hoch aufgerichtet über Roland. Der machte 
einen schnellen Satz zur Seite, als Samums Vorderbeine 
herunterkamen. Ein Huf streifte seine Schulter. 

Dann schoß Samum wie ein Pfeil aus dem Stall. Er floh 

meilenweit, und Roland stolperte die halbe Nacht durch den Wald, 
ehe er das furchtgepeinigte Tier wiederfand. 

Zu diesem Zeitpunkt hatten die Flammen ihr grausiges Werk schon 

lange vollbracht. Nur eine dünne Rauchsäule kündete noch von dem 
Geschehen. Langsam stieg sie im Süden aus den Baumwipfeln 
empor und mischte sich mit dem grauen Morgennebel. 

Zitternd und schnaubend empfing Samum seinen Herrn. Unruhig 

tänzelten die  Hufe auf der Stelle. Die Nüstern blähten sich. Roland 
legte seine Wange an den schöngeformten Kopf des Rappschimmels, 
klopfte ihm den schlanken Hals und sprach beruhigend auf ihn ein. 
Unendliche Zärtlichkeit erfüllte sein Herz. Heide hatte auch aus der 
Ferne schützend die Hand über ihn gehalten! 

Zwei Tage waren seit Rolands Begegnung mit dem Mörder und 
seiner knapp gelungenen Flucht vor dem Brand vergangen, als er die 
Zeugin Haggans kennenlernte. Sie empfing ihn vor dem Kamin der 
Burg Atzerath. 

Außer  bei Königin Ginevra hatte der junge Ritter noch nie so 

kostbare Frauenkleidung, so prächtige Haarfrisur und so würdevolle 
Haltung erblickt. Kaum wollte ihm ein Wort der Begrüßung über die 

background image

Lippen, als Ritter Lutz ihn der schönen Dame vorstellte. 

Sie reichte ihm eine ringgeschmückte, kühle, schlanke Hand, die er 

ehrfürchtig an die Lippen führte. 

»Ich lasse Euch jetzt allein«, hörte er wie in weiter Ferne Lutz 

sagen. Dann sank er in den Sessel, auf den die Dame deutete. Seine 
Augen hingen an diesem großflächigen, stolzen Gesicht, dem 
schlanken weißen Hals und dem Ansatz des schwellenden Busens, 
den ihr Mieder freiließ. 

Sie waren allein. 
Sie sagte, und ihre Stimme war volltönend wie Musik einer Geige: 

»Ich bin Griseldis, die Witwe. Oh, Ritter Roland, vergebt es einer 
unglücklichen, zutiefst leidenden Frau, daß sie Euch aufsucht! Ich 
habe oft Eure Taten rühmen hören. Man schilderte mir Eure 
Erscheinung. Und ich erfuhr von dem Auftrag, den unser gnädiger 
König Euch erteilte. Da hielt es mich nicht mehr in meiner 
Kemenate. Ich ließ nach Euch forschen. Und als ich von Ritter Lutz 
vernahm, daß Ihr auf Atzerath weilt, bat ich ihn inständig, mich zu 
Euch zu führen.« 

Roland errötete, denn er bemerkte, daß sie ihn von Kopf bis Füßen 

aufmerksam musterte. Ein wollüstiger Schauer rann durch seine 
Adern. Verlegen fuhr er sich mit der Hand über das Kinn. Und 
verlegen sagte er: »Haggan behauptete ...»Heftig unterbrach ihn die 
Frau, die sich als Griseldis vorgestellt hatte und in Wirklichkeit deren 
Zofe Velma war: »Sprecht mir  nicht von Haggan. Mit diesem bösen 
Mann begann all mein Unglück!« 

Erstaunt blickte Roland sie an. Seltsame Worte aus dem Mund 

einer Frau, die Haggan als Entlastungszeugin aufgeboten hatte! Um 
so gespannter lauschte er dem, was sie zu sagen hatte. 

Sie lächelte jetzt. Ein bittersüßes, ein schmerzlich tapferes Lächeln, 

wie es Roland schien. »Verzeiht einer Frau, daß sie nur aus dem 
Gefühl heraus urteilt! Vielleicht tue ich Haggan unrecht. Aber diese 
dunklen, bärtigen Typen mit den stechenden Augen und den rauhen 
Stimmen waren mir schon als Kind unsympathisch. Vielleicht lasse 
ich mich allzusehr vom Äußeren blenden. Aber wovon sprach ich?« 

background image

»Daß mit diesem bösen Mann all Euer Unglück begann«, half ihr 

Roland. 

»Ja, richtig. Er erwies sich als Unheilsbringer.  Durch ihn lernte ich 

seinen Bruder Jorn kennen. Ihr müßt wissen, dieser Jorn war 
Haggans Abgott. Er himmelte ihn an. Jorn hier, Jorn da. Jorn der 
Edle, Jorn der Kluge, Jorn der Schöne, Jorn das Idol. Er schwärmte 
von ihm wie von einem Halbgott.« 

Rolands Augen hingen an ihren vollen, sinnlichen Lippen. 
»Kein Wunder«, fuhr sie fort und senkte die langen, seidigen 

Wimpern, »daß ich unerfahrenes Mädchen mich unsterblich in Jorn 
verliebte, als ich ihm endlich begegnete. Er war blond  - wie Ihr, 
Roland. Und ich sah ihn mit Haggans Augen, der ja von seinem 
Bruder verblendet war. All das Edle, Kluge, Schöne, von dem 
Haggan mir erzählt hatte, meinte ich in Jorn zu finden. Ehe ich mich 
versah, war ich seine Frau.« 

Sie schlug die Augen auf und sah ihn voll an. Wieder errötete der 

Ritter. 

»Schon nach wenigen Wochen fand ich zu meinem Leidwesen 

heraus, daß er ein elender Blender war. Er hatte mich, Haggan und 
alle Welt getäuscht. Ein Mann, dessen Stimme und Rede wie Honig 
waren, doch seine Gedanken waren Gift. Ein Schauspieler, der 
seinen schlechten Charakter hinter einer Maske zu verbergen wußte. 
Wißt Ihr, warum er mich überhaupt zum Weibe nahm?« 

»Das ist nicht schwer zu erraten, Griseldis«, platzte Roland heraus. 

»Es gibt im ganzen Land schwerlich ein schöneres Weib, als Ihr es 
seid.« 

Sie schlug scherzhaft mit ihrem Fächer nach ihm. »Roland, 

Schmeichelei steht Euch schlecht zu Gesicht. Die Wahrheit ist, daß 
Jorn sich aus Frauen kaum etwas machte. Er verbrachte die Nächte 
lieber mit seinen Knappen. Ihr versteht, was ich meine?« 

Roland nickte. Das waren ja unerhörte Neuigkeiten! Sie klangen 

fast unglaublich. Doch da Jorns Frau es selber sagte, so mußte es 
wahr sein. 

»Er hatte mich geheiratet, weil... Das Wort will mir schwer über 

background image

die Lippen. Ich habe auch seit seinem Tod  mit niemandem darüber 
gesprochen. Aber vor Euch will ich kein Geheimnis haben. Jorn 
heiratete mich aus Habgier!« 

Roland schüttelte den Kopf. »Wie das, Griseldis?« 
»Er hatte erfahren, daß sein Vater Greif ein Testament geschrieben 

hatte. In aller Heimlichkeit suchte Jorn danach, fand es und las es. So 
erfuhr er, daß Greif seine Burg dem seiner beiden Söhne vererbte, 
der als erster heiratete! Dies hat mir Jorn selber gestanden, Roland! 
Und daß er es gerade auf mich abgesehen hatte, hatte seinen Grund 
darin:  Ich bin die Lieblingsnichte der Königin Ginevra. Davon 
erhoffte er sich als mein Ehemann weitere Vorteile. Als Mensch, als 
Frau, als Charakter, als Wesen, als Seele war ich ihm gleichgültiger 
als der letzte seiner Jagdhunde. Ich war ihm nur das Werkzeug,  das 
ihm zu Besitz und Vermögen verhelfen sollte!« 

Unwillkürlich ballte Roland die Fäuste. Welch ein fluchwürdiger 

Mann war dieser Jorn gewesen! Und welch ein Unglück für 
Griseldis, daß sie ihr Schicksal mit dem seinen vereinte! Doch noch 
so vieles blieb unklar ... 

»Sprecht weiter! Als sein Vater starb ...« 
»Oh, welch ein unheilvoller Tag! Dieser gütige, freundliche Mann, 

dessen wohlmeinende Absichten so ins Gegenteil verkehrt wurden!« 

»War Greif lange krank, bevor der Tod ihn erlöste?« fragte 

Roland. 

Griseldis schlug die Hände vors Gesicht. »Krank? O ja, er war 

krank! Er siechte dahin! Es war schrecklich mitanzusehen, wie er 
täglich mehr von Schmerzen geplagt wurde, wie er abmagerte und 
jede Farbe verlor. Aus dem lebensprühenden Alten wurde ein 
bleiches Gespenst.« 

»Und die Natur seiner Krankheit?« »Ich kenne sie sehr wohl. Einer 

von Jorns Knappen gestand mir, woran Greif litt. Leider viel zu spät, 
als er schon Wochen im Grab lag. Jorn hatte den Knappen bestochen, 
dem Alten Gift ins Essen zu mischen.  Gift, Roland! Der Sohn dem 
Vater! Gift, mit dem sie Ratten töten! Ich warf mich schreiend zu 
Boden, als ich es erfuhr. Ich wollte Jorn nie wiedersehen. Ich 

background image

verschloß ihm mein Gemach. Nun, er hatte sowieso wenig Sehnsucht 
nach mir. Ihr wißt ja, er zog die Körper seiner Knappen den 
zärtlichen Armen seiner Gattin vor.« 

Roland starrte sie entgeistert an. Er war wie vor den Kopf 

geschlagen. Was hatte diese Frau durchgemacht! An der Seite einer 
solchen Bestie zu leben! 

»Doch das Schrecklichste ...« Griseldis stockte. 
»Das Schrecklichste?« fragte Roland. 
Die Schultern der schönen Frau ihm gegenüber begannen zu 

zucken. Ein erstickter Laut wurde hörbar. Unschlüssig schaute 
Roland zu ihr hin. Noch immer verdeckte sie mit den Händen das 
Gesicht. Ihr ganzer Körper wurde wie von einem Krampf geschüttelt. 
Sie schluchzte laut. 

Roland sprang auf, eilte zu ihr hinüber, kniete neben ihr nieder und 

strich ihr schüchtern über das reiche Haar. »Beruhigt Euch, 
Griseldis! Es ist ja alles längst vergangen ...« 

Er wußte nicht, wie lange Zeit verstrich, ehe Griseldis sich faßte. 

Und er bemerkte auch nicht, daß sich in dieser Zeit die Tür leise, 
öffnete. 

Heide war es, die auf der Suche nach Roland zufällig 

hierhergeraten war. Wie versteinert blieb sie bei dem Anblick auf der 
Schwelle stehen. Ihr Geliebter kniete vor der fremden Frau und strich 
ihr zärtlich übers Haar! Und jetzt nahm die Frau Rolands Hand in die 
ihre und zog sie an ihren Busen! 

Heides Augen verdunkelten sich. Das Zimmer begann, um sie zu 

kreisen. Eine eiskalte Hand umklammerte ihr Herz. Furchtbare Angst 
erfaßte sie, sie könne ohnmächtig werden. Nur das nicht! Mit letzter 
Kraft unterdrückte sie den Schrei, der ihr auf den Lippen lag, zog 
sich lautlos zurück, lehnte von außen die Tür an und floh in ihr 
Zimmer, wo sie sich, von lautlosem Weinen geschüttelt, aufs Bett 
warf. 

Die beiden Menschen im Zimmer hatten nichts von alldem 

bemerkt. Griseldis streichelte Rolands Hand und sagte gefaßt: »Es tut 
so wohl, einem Mann zu begegnen, der nicht nur ein tapferer 

background image

Kämpfer ist, sondern auch Mitgefühl mit den Leiden einer 
schwachen Frau hat. Ach, Roland, Ihr wißt gar nicht, wie Ihr mir 
helft!« 

Plötzlich wurde es Roland bewußt, daß sie sich in einer 

verfänglichen Situation befanden. Er kniete wie ein Liebhaber vor 
der Frau und spürte ihr Herz klopfen, denn seine Hand lag auf ihrer 
Brust! Wenn sie jemand so überraschte! Lutz, Haggan, ein Diener! 
Oder gar Heide! 

Niemand würde ihm glauben, daß alles ganz harmlos war. Und 

doch hatte reines Mitgefühl ihn getrieben, ihre Hand zu ergreifen. 
Und nur die natürliche Hoffnung auf Beistand in tiefem Unglück 
bewog Griseldis  - dessen glaubte er sicher zu sein  -, ihn zu streicheln 
und ihr vornehm schönes Gesicht dem seinen so zu nähern, daß sich 
ihre Lippen beinahe berührten. 

Sanft löste sich Roland von ihr. Er sah ihren Blick, in dem er 

Trauer, aber auch Vertrauen las und den er dennoch nicht ganz zu 
deuten wußte. Dann nahm er in sicherem Abstand auf dem Sessel 
Platz, den sie ihm zu Beginn der Unterredung angeboten hatte. »Was 
geschah weiter?« fragte er eifrig. 

Sie seufzte tief. Als sie wieder sprach, überschlugen sich ihre 

Worte. »Ich stellte Jorn zur Rede. Er gab den Mord an seinem Vater 
nicht zu, leugnete ihn aber auch nicht ausdrücklich ab. Er hohnlachte 
mir ins Gesicht. Nach einer Weile aber wurde er zornig und befahl 
mir, mich aus allen Männerangelegenheiten, wie er es nannte, 
herauszuhalten. Die gingen mich nichts an. Er drohte mir auch: 
>Noch ein Wort, und es wird dir übel ergehen!< Dabei glänzten 
seine Augen hinterhältig. Nach diesem Gespräch war jede 
gemeinsame Tafel für mich eine Qual. Ich wagte kaum, einen Bissen 
zu mir zu nehmen. Mit tiefem Mißtrauen betrachtete ich die 
Knappen, die in der Halle mit uns zu Tische saßen. Argwöhnisch 
folgte ich den Handreichungen der Diener. Wer unter ihnen würde 
mir Gift ins Essen mischen?« 

Sie schwieg, wie überwältigt von der Last so schauerlicher 

Erinnerungen. »Einige Tage später kam Haggan. Irgendwo in der 

background image

Fremde hatte ihn die Nachricht vom Tod seines Vaters erreicht. Er 
schien tief bestürzt. Viele Stunden verweilte er am Grab. Sein 
Schmerz um den alten Greif war groß und echt. Dennoch betrachtete 
ich ihn mit Abscheu. Ich sah in ihm den Urheber allen Unglücks. 
Sicherlich tat ich ihm unrecht. Aber ohne seine Schwärmerei für Jorn 
wäre ich doch niemals dessen Frau geworden!« 

Roland räusperte sich. »Zürnte Haggan dem Bruder, daß er die 

Burg allein geerbt hatte? War er neidisch?« 

»Nein, gar nicht«, war die rasche Antwort. »Über diese 

Güterverteilung schien Haggan eher erfreut zu sein. Ein seßhaftes 
Leben als Burgherr wäre wohl seiner abenteuerlichen Veranlagung 
zuwider. Ihn lockten nur die Weite, die Ferne, das Unbekannte. So 
war er froh, ungebunden und frei zu sein.« 

Roland nickte. Das konnte er sich gut vorstellen. Auch ihn trieben 

Fernweh und die Sehnsucht nach spannenden Erlebnissen durch die 
Welt. »Wie verlief es weiter?« fragte er. 

Sie schaute auf ihre Hände, die jetzt im Schoß lagen. »Ich kam auf 

einen unglückseligen Gedanken. Als ich mit Haggan allein war, 
erzählte ich ihm alles, was ich erfahren hatte. Die Wirkung war 
niederschlagend für mich. Meine Worte erregten seinen Grimm. Er 
schalt mich eine gemeine Lügnerin. So finster war sein Gesicht, daß 
ich mich vor ihm fürchtete. Ich merkte, wie es ihm in den Händen 
zuckte, mich zu schlagen. Doch 'er beherrschte sich, sprach aber 
während seines Aufenthalts kein Wort mehr mit mir. Er blickte durch 
mich hindurch, als sei ich nicht verbanden.« Sie zog ihr 
Spitzentaschentuch und betupfte die Augen. »Oh, ich weinte viel in 
jenen Tagen ...« 

»Ihr Ärmste!« 
»Ich hätte es besser wissen müssen! Haggan vergötterte doch Jorn! 

Jeder, der schlecht über seinen Bruder sprach, war sein Feind!« 

»Damit mußtet Ihr allerdings rechnen.« 
»Es kam noch schlimmer. Jorn erfuhr, daß ich ihn angeklagt hatte. 

Sobald Haggan abgereist war, sagte er es mir auf den Kopf zu. Er 
hatte wohl erkannt, daß ich ihm fortan gefährlich werden konnte. 

background image

Andererseits brauchte er mich noch für seine hochfliegenden Pläne, 
die er mir nach und nach enthüllte. Ich sollte ihm dabei helfen, das 
Vertrauen der Königin zu erringen. Weil ich ihre Lieblingsnichte bin, 
wollte Jorn ihr bevorzugter Ritter werden. Doch damit nicht genug! 
Ihr wißt, daß Artus oft monatelang unterwegs auf der Suche nach 
dem heiligen Gral ist. Eine solche Abwesenheit wollte Jorn 
ausnutzen, um die Krone an sich zu reißen und den rechtmäßigen 
König bei seiner Rückkehr ermorden zu lassen.« 

»Nein«, entfuhr es Roland, »das kann nicht sein!« 
Wieder schluchzte Griseldis tieftraurig auf, aber es klang 

gedämpfter. Dann gab sie sich einen Ruck. »Doch, Roland», so war 
es. Er selber prahlte vor mir mit diesem abscheulichen Vorhaben. 
Wie ein Pfau stolzierte er dabei auf und ab und brüstete sich mit 
seiner Schlauheit, der niemand im Königreich gewachsen sei. Es war 
unerträglich! Als er mich verließ, schloß er mich sorgfältig in meiner 
Kemenate ein. Ich fürchtete mich unsagbar ...« 

Roland beugte sich vor. »Man sagt, zu diesem Zeitpunkt sei 

Haggan nochmals zurückgekehrt, habe Euch allein angetroffen und  - 
verzeiht, daß ich den Punkt erwähne!  - habe Euch mit Gewalt zur 
Liebe gezwungen. Danach ...« 

Griseldis hob die Hand, und Roland verstummte. »Ich habe keinen 

Anlaß, Haggans Partei zu ergreifen«, sagte sie in völliger Ruhe. »Ich 
mag ihn und seine Art heute noch weniger als zu Beginn unserer 
Bekanntschaft. Aber als ich vor kurzem erfuhr, daß man ihn solcher 
Verbrechen bezichtigt, faßte ich den Entschluß, ihn von den absurden 
Vorwürfen zu reinigen. Haggan mag alles mögliche sein  - ein 
Leichtfuß, ein Draufgänger, ein häßlicher Kerl. Aber eins ist er 
bestimmt nicht: ein Verbrecher. Trotz aller Vorurteile, die ich gegen 
ihn hege, muß ich gestehen, daß er sich stets ritterlich benahm. Und 
das werde ich jederzeit freimütig bezeugen: Haggan ist ein Ritter 
vom Scheitel bis zur Sohle!« 

Die ruhigen Worte einer Frau, die nach eigenem Eingeständnis 

keinerlei Sympathien für den Gegenstand ihres Gesprächs verspürte, 
verfehlten ihren Eindruck auf Roland nicht. Dennoch beharrte er 

background image

darauf, ihr weitere Fragen zu stellen. »Wie erklärt Ihr dann den Mord 
an Eurem Gatten Jorn und der Zerstörung seiner Burg? Beides legte 
man bisher Haggan zur Last.« 

»Das ist leicht zu beantworten, Roland. Zwei von Jorns Knappen 

hatten seine Gunst in jeder Hinsicht besonders genossen. Auf einmal 
zog er seine Hand von ihnen ab und wandte sich einem dritten zu. 
Die beiden muckten eifersüchtig auf. Da entließ er sie aus seinem 
Dienst. In seiner Habgier ließ er den beiden ehemaligen Lieblingen 
nicht einmal Pferd und Rüstung und verweigerte ihnen den 
aufgelaufenen Sold. Sie zogen murrend von dannen, trafen sich 
insgeheim und verschworen sich zu gemeinsamer Rachetat. Als Jorn 
unbewaffnet im Wald nahe der Burg einherwandelte und über seinen 
Plänen grübelte,  überfielen sie ihn und erschlugen ihn wie einen 
tollen Hund. In der darauffolgenden Nacht legten sie Feuer an die 
Burg, ehe sie für immer verschwanden. Das ist die ganze Geschichte. 
»Und wie«, wollte Roland wissen, »entkamt Ihr dem zerstörenden 
Brand?« 

»Ich war schon einen Tag zuvor aus meinem Gefängnis entwichen, 

Ritter Roland. Auf die einfachste Weise der Welt! Ich besaß, was 
Jorn wohl vergessen hatte, ein zweites Bund aller wichtigen 
Schlüssel!« 

Roland sprang erregt auf. Mit langen Schritten kreuzte er 

mehrmals das Gemach. Er glaubte der falschen Griseldis jedes Wort. 
Und so wurde er zum ersten Mal an seinem Auftrag irre. 

Schließlich blieb er vor der schönen Betrügerin stehen und sagte 

ernst: »Hier liegt offenbar ein großes Mißverständnis vor. Am Hofe 
des Königs hält man Haggan für einen Schwerverbrecher und 
gemeingefährlichen Hochverräter. Ich habe deshalb den Auftrag 
erhalten, ihn tot oder lebendig nach Camelot zu bringen, wo es ihm 
gelang, dem Verlies zu entfliehen. Und nun erfahre ich, daß er ein 
Ehrenmann ist!« 

Griseldis neigte würdevoll das Haupt  - eine Bewegung, die ihre 

ganze Schönheit zum Ausdruck brachte. 

»Irgendwie spürte ich es seit langem«, gestand Roland. »Bei 

background image

mehreren Gelegenheiten erwies sich Haggan, den man mir als 
Inbegriff aller Schlechtigkeit geschildert hat, als fairer Gegner, so 
daß mein Herz ihm keine ruchlose Tat zutrauen wollte ...« 

»So kehrt nach Camelot zurück, und berichtet dem König, daß er 

im Irrtum befangen ist!« rief die Frau leidenschaftlich. »Vertraut 
Eurem Herzen und ...« Leise schloß sie: »... Und mir!« 

»Aber wer wird mir dort glauben?« sagte Roland traurig. 

»Weiterhin spricht der Schein gegen Haggan. Von Camelot aus 
sehen Dinge und Menschen anders aus als auf Atzerath. Er hat doch 
mächtige Feinde ...« 

»Der alte Wilhelmus«, sagte Griseldis dumpf. 
»Auch das wißt Ihr?« 
Sie nickte  - und wieder betörte die schöne Würde dieser einfachen 

Kopfbewegung Rolands Auge, so daß er nie an einem Wort von ihr 
zweifeln würde. 

Plötzlich kam ihm ein rettender Gedanke. »Kommt mit mir nach 

Camelot! Und sagt dann vor dem versammelten Hof oder vor der 
Tafelrunde aus, was Ihr mir eben anvertrautet!« 

»Nein.« Sie schüttelte leicht den Kopf. »Erlaßt es mir, ein zweites 

Mal all das Schreckliche, das mir widerfuhr, aufzurühren! Und dann 
gleich vor so vielen Personen! Es triebe mir die Schamröte ins 
Gesicht, mein Geschick allen darzulegen. Bei Euch war es etwas 
anderes.« Sie ergriff seine Hand. Ein paar heuchlerische Tränen 
hingen an den langen Wimpern. »Ihr seid so gut. Ihr seid so stark. Ihr 
seid ein Mann, dem eine Frau bedingungslos vertrauen kann.« 

»Aber«, wandte Roland ein, »wie soll dann Haggan seine 

Unschuld beweisen?« 

»Ich schrieb einen Brief an meine Tante, die Königin. Mit ihm als 

Unterpfand kann er sich beruhigt nach Schloß Camelot wagen. Sie 
wird nicht zweifeln an dem Wort ihrer Lieblingsnichte.« 

Roland seufzte erleichtert auf. Eine Zentnerlast war ihm von der 

Seele genommen. 

Morgen würden sie reiten ... 
Auf dem Weg in sein Quartier begegnete ihm Omar, der Junge aus 

background image

dem Morgenland. »Oh, Ritter Roland!« Der schwarzhaarige Kleine 
stürzte auf ihn zu. »Unglück! Extraprima Unglück! Deine 
Braut...»Roland stockte das Herz. Er packte den Jungen bei den 
schmalen Schultern. »Sprich, was ist mit Heide?« 

Als Heide das Gemach verließ, in dem sie unbemerkt Roland und die 
schöne fremde Frau überrascht hatte, war sie einer Ohnmacht nahe. 
Sie wankte durch den Gang und mußte sich mehrmals an der Wand 
abstützen. Ihr Körper war wie Eis. 

Dauerte es eine Viertelstunde? Waren es nur ein paar 

Augenblicke? Sie wußte nicht mehr, wie sie in ihr Zimmer 
zurückgefunden hatte. Sie lehnte am hohen, schmalen Fenster, und 
ihre Augen waren blind vor Tränen. 

Ihr war, als müsse sie sterben. Wie schmählich hatte der junge 

Ritter ihre Liebe verraten! Wie niederträchtig hatte er sie getäuscht! 
Es drückte ihr das Herz ab. 

Nur langsam wichen die Schleier vor ihren Augen. Draußen 

prangte der kurze Wintertag in gleißender Helligkeit. Die Sonne 
verwandelte das Eis des Baches, den Schnee auf Wiesen und Wald in 
gleißendes Silber. 

Im Außenhof übten einige Knappen ihre Fechtkünste. Am 

Waldrand stand witternd ein Rudel Rehe. 

Wie- schön war die Welt - und wie schwer zu ertragen! 
Heide setzte sich an das schmale Pult vor dem Fenster und stützte 

den Kopf mit den langen hellen Haaren in die Hände. Ihre Gedanken 
waren eine Kette von Entschlüssen, die sie in größter Schnelligkeit 
faßte und nach kurzem Besinnen wieder verwarf. 

So verging einige Zeit, in der ihr schönes, feines Gesicht 

allmählich einen trotzigen Zug bekam. Sie stand auf, trat vor die Tür 
und bat einen Pagen um Schreibzeug. 

Als sie später den Federkiel in die Tinte tauchte, brauchte sie nicht 

mehr zu überlegen. Ihr Mädchenstolz hatte die Oberhand über 

background image

Schmerz und Kränkung gewonnen. 

»Lieber Roland« schrieb sie oben auf das Blatt, während sie ein 

letztes Schluchzen niederkämpfte, das ihr in die Kehle stieg ... 

»Was ist mit Heide?« fragte Roland ungeduldig. 

Omar wand sich in seinem heftigen Griff. »Du tun mir weh! 

Loslassen!« 

Mühsam beherrschte Roland seine Aufregung. Sein Griff lockerte 

sich. »Dann sprich!« 

»Heide weg aus Burg! Heimlich!« 
»Wann?« stieß Roland hervor. 
»Eine Stunde vergangen.« 
Eine Stunde! Vor einer Stunde war er bei Griseldis gewesen. Und 

nichts hatte ihn gewarnt. Nicht das kleinste Zucken seines Herzens ... 
»Woher weißt du es?« 

»Ich nichts sehen. Reitknecht sagen: >Sie holen Pferd, steigen auf, 

dann weg!<« 

Roland zwang sich zur Ruhe. Das bedeutete gar nichts. Sicherlich 

unternahm sie nur einen Spazierritt. Er wollte ihr nach. 

Eine Handbewegung Omars hielt ihn auf. »Warten, Roland! Erst 

dies lesen!« Und er übergab ihm einen Brief. »Reitknecht bekommen 
von deiner Braut. Für dich.« 

Roland riß den Umschlag auf und las, während Omar sich taktvoll 

entfernte, erbleichend die wenigen Zeilen. 

»Lieber Roland, es war doch nicht die große Liebe! Für mich 

warst du ein Sinnenreiz, der nur wenige Tage anhielt. Verzeih mir - 
oder verzeih mir nicht... Mir gilt es gleich. Mein Herz ist nun mal ein 
flatterhaftes Ding. Such nicht nach mir! Ich bin auf der Reise zu 
einem anderen Mann, für den ich mehr Leidenschaft empfinde als für 
Dich. Vergiß mich, wie ich Dich schon hinter der nächsten 
Wegkreuzung vergessen haben werde. 

Deine leichtfertige Heide.« 

background image

Roland hatte das Verlangen, seinen Schmerz und seine 

Enttäuschung laut hinauszubrüllen. War je einem Liebenden ein so 
gemeines Leid angetan worden, solange die Erde bestand? Doch 
dann entrang sich seiner Kehle nur ein qualvolles Stöhnen. 

Er entsann sich des schönsten, des ersten Tages ihrer Liebe. Er 

hatte noch Heides klare Stimme im Ohr, mit der sie ihm schwur: 
»Zweifle nicht, Roland! Zweifle niemals an mir! Ich bin dir so treu 
wie die Sterne dem Nachthimmel, so treu wie Blüte der suchenden 
Biene, so treu wie das geduldige Moos dem Tau...«
 

Und das alles sollte Lüge sein? Die Lüge eines leichtfertigen, 

flatterhaften Mädchens? War der Schwur falsch? Wurden die Sterne 
dem Nachthimmel untreu  - oder die Blüten der suchenden Biene  - 
oder das geduldige Moos dem Tau? 

Roland ballte die Fäuste und  biß die Zähne so fest aufeinander, daß 

es knirschte, Er begriff es nicht. Wie konnte soviel Treulosigkeit 
hinter einer so reinen Stirn wohnen? Wie konnten so zärtliche Lippen 
so unmenschliche Lügen sprechen? Wie konnte er sich durch den 
Schein ehrlich blickender Lippen so gründlich hinters Licht führen 
lassen? 

Unwillkürlich hatte Roland das Blatt in seiner Hand zerknüllt. Als 

es ihm bewußt wurde, öffnete er mit plötzlichem Entschluß die 
geballte Faust, nahm das Papierknäuel heraus, glättete es, faltete es 
säuberlich zusammen und verwahrte es in der Brusttasche seines 
Wamses. Dann verbannte er für immer  - so glaubte er  - jede 
Erinnerung an Heide aus seinen Gedanken. 

In einem anderen Teil der Burg empfing Ritter Lutz die falsche 
Griseldis, die in Wirklichkeit die Zofe Velma war. Wort für Wort 
berichtete sie ihm vom Ergebnis ihrer Unterredung mit Roland. 

»Dieser junge Tölpel schlürfte meine Sätze wie göttliche 

Verkündungen«, sagte sie lachend. »Ich hätte ihm auch erzählen 
können, daß sein Vater ein Strauchdieb und seine Mutter eine Hure 

background image

gewesen sei. Ich glaube, sogar das hätte diese heilige Einfalt für bare 
Münze genommen, und fortan hätte er seine Eltern wie billiges 
Geschmeiß verflucht.« 

»Da kannst du recht haben«, sagte Lutz lachend. »Nun, und hast du 

deinen Vorsatz wahrgemacht, Roland zu verführen?« 

»Das wäre mir nicht schwergefallen, glaubt es mir, Ritter! Solche 

jungen Springer wickle ich um den Finger. Aber ich mochte es nicht. 
Etwas an ihm stieß mich ab. Der Bursche hat keine Zukunft. Um ihn 
ist eine Atmosphäre ... Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll... 
Die Atmosphäre des Todes. Ja, das ist es. Er ist ein Kerl, der über 
kurz oder lang in den Tod stolpern wird. Solche Männer schrecken 
mich ab. Ich halte mich fern von ihnen.  Mir gefallen Männer mit 
Zukunft besser.« 

»Denkst du an einen bestimmten Mann mit Zukunft?« fragte Lutz 

und sah sie lauernd an. 

Genau wie bei ihrer ersten Begegnung fühlte Velma, daß sie in 

seiner Gegenwart zu Wachs wurde. 

»Und an wen?« fragte er weiter. »Sag es!« 
Sie verschoß auf ihn jenen Blick, der in der Kleinstadt Rivage die 

Männer reihenweise zum Erliegen brachte. Sie sagte: »Könnt Ihr 
einen ...?« 

»Ach, halts Maul!« unterbrach er sie rauh. »Ich will's gar nicht 

wissen.« Er stapelte einen Haufen Münzen auf den Eichentisch. 
»Hier ist dein versprochener Lohn. Zähl nach!« 

Ihre gierige Hand war schon auf dem Weg zuzugreifen. Aber im 

letzten Augenblick besann sie sich anders. Mit spitzen Fingern 
schnippte sie die Münzen auseinander. »Das soll mein Lohn sein? 
Das ist mir zuwenig!« 

»So war es ausgemacht!« polterte er. 
Nach den lauten Worten wurde es still im Gemach. Aufmerksam 

betrachtete Lutz die Frau, mit deren Hilfe Haggan und er den Ritter 
Roland in ein namenloses Unglück stürzen wollten. Hinter dem 
hoheitsvollen Äußeren, das die vornehme Dame vorspiegelte, hatte 
er schon gleich die sinnenlustige und gewöhnliche Dirne gespürt, 

background image

und diese Mischung gefiel ihm und schmeichelte seinen Sinnen. 

»Nimm das Gold, oder laß es bleiben!« sagte er schließlich. Aber 

jetzt war seine Stimme nur gemacht gleichgültig. Plötzlich riß er 
Velma in seine Arme. Während sie ihren verführerischen Körper in 
schnell wachsender Sinnengier an seinen drängte, wußte sie, daß sie 
ihrem Ziel, Herrin auf Burg Atzerath zu werden, ein großes Stück 
näher gekommen war. 

Gleich darauf taumelten sie ineinanderverschlungen aufs Bett, und 

außer schnellen Atemzügen und gelegentlichen Seufzern war nichts 
mehr zu hören. In Velmas Schoß begründete Lutz die Zukunft der 
verruchten Burg Atzerath. 

Es war ein heiterer Tag, an dem Roland den Ritt in das 
fürchterlichste Schicksal antrat, das je einen Ritter erwartet hatte. 

Und er war zuversichtlich gestimmt, weil Haggan ihm das heilige 

Ritter-Ehrenwort gegeben hatte, auf dem Weg nach Camelot keinen 
Fluchtversuch zu machen. »Ich betrachte mich als Euer Gefangener«, 
sagte er. »Aber ich folge Euch ohne Furcht vor des Königs strengem 
Antlitz. Das ausführliche Schreiben, das mir Griseldis mitgab, wird 
mich von jeder Schuld entlasten. Und danach hoffe ich, daß wir 
beide noch manches Abenteuer gemeinsam bestehen werden  - aber 
von nun an als Freunde.« 

»So sei es«, sagte Roland ernst. 
Omar begleitete sie, und Roland bemerkte mit Freude, wie 

väterlich und gütig Haggan den kleinen Morgenländer behandelte. 
Ein Knappe von Lutz vervollständigte den kleinen Trupp. 

Dieser Knappe, der Konrad hieß, kannte sich von früheren 

Ausflügen hervorragend in der Gegend aus. Mal ritt er an der Spitze, 
mal tat es Haggan, der ebenfalls gut Bescheid wußte. Die beiden 
hielten im allgemeinen eine nordwestliche Richtung ein und hofften, 
am dritten Tag die Waldburg zu erreichen, wo man ausgezeichnet 
rasten konnte. 

background image

Unterwegs dachte Roland oft an Heide. Wenn sich ihr süßes 

Gesicht vor sein inneres Auge drängte, gab es ihm immer einen 
feinen  Stich im Herzen. Aber er wußte ja nun, daß sie einer großen, 
dauerhaften Liebe nicht fähig war. Er mußte sie vergessen. Es gefiel 
ihm, daß Haggan und Omar sie mit keinem Wort erwähnten. 

Zuweilen, wenn der Weg recht deutlich vor ihnen lag, ließ Roland 

seinen Rappschimmel nach Herzenslust laufen. Dann blieben die 
Gefährten weit hinter ihm zurück. 

Als er wieder einmal so allein über die leicht gewellte Ebene 

dahinjagte, hörte er vor sich lautes Geschrei. Es klang nach einem 
heftigen Streit. Unverzüglich ritt er auf die Stelle zu. 

Bald sah er die streitende Gruppe nahe einem großen zugefrorenen 

Teich. Ein vierschrötiger Ritter mit rotem Zottelhaar führte das große 
Wort. Umringt von einigen Begleitern schalt er in lauten Tönen drei 
abgerissene arme Bauern, die schlotternd vor dem zornigen Mann 
standen. 

Auf einen Wink des rothaarigen Ritters ergriffen seine Begleiter 

die Bauern und fesselten sie an drei Pappeln. Der Ritter zog seine 
Reitgerte und versetzte dem ersten einen Schlag über den Kopf. 

Mannhaft verbiß sich der Bauer den Schmerz. Kein Laut kam über 

seine Lippen. 

Das vermehrte die Wut des aufgebrachten Ritters. Er warf die 

Reitgerte weg und zog sein Schwert, um mit der flachen Seite auf 
den Gefesselten einzuprügeln. Schon beim ersten Schlag wurde das 
Opfer ohnmächtig. 

In diesem Augenblick erreichten Roland und Samum den 

Schauplatz. »Was geht hier vor?« rief der Neuankömmling. 

Der rothaarige Ritter fuhr herum. Seine Begleiter scharten sich 

enger um ihn. Die beiden Bauern, die noch bei Bewußtsein waren 
und mehr tot als lebendig in ihren Fesseln hingen, schöpften 
Hoffnung und flehten Roland um Beistand an. 

Der Ritter war nur einen Augenblick verblüfft. Dann fuhr er 

Roland in derben Tönen an, wie der sie auch bei Kämpfen auf Tod 
und Leben noch nie aus dem Mund eines Ritters vernommen hatte. 

background image

»Scher dich weg, krummbeiniger Scheißer!« brüllte der rothaarige 
Zottelkopf. »Niemand hat dich Schafsnase gebeten, diesen Grund 
und Boden mit deiner dämlichen Erscheinung zu verpesten. Solche 
Arschlöcher wie du pflege ich von den Mägden meiner Frau auf die 
Wäscheleine hängen zu lassen, damit sie trocken hinter den Ohren 
werden. Aber wenn du zugucken willst, wie hier Recht geübt wird, 
dann halte dein ungewaschenes Dreckmaul, und zahl erst mal 20 
Dukaten Eintritt!« 

Und ohne Roland weiter zu beachten, trat er auf den zweiten 

Bauern zu und holte mit dem Schwert aus. 

Mit einem Riesensatz war Roland aus dem Sattel und riß den 

Rotkopf an der Schulter herum. »Mensch, schämt Ihr Euch nicht, 
Wehrlose halb totzuschlagen? Ist das ritterlich?« 

»Du verlauster Affe!« schäumte der andere. »Hier geschieht, was 

ich bestimme. Mach, daß du Land gewinnst, du Wildschwein!« 

Allmählich wurde auch Roland von Zorn ergriffen. Er wollte 

seinem Gegner die Faust zu spüren geben. Aber da sprangen dessen 
Begleiter zwischen ihn und ihren Herrn und baten, Frieden zu halten. 

Der Älteste, der auch am ehesten vertrauenerweckend aussah, 

sprach Roland an: »Wer Ihr auch seid, Ihr müßt wissen, daß Ihr auf 
dem Land dieses Ritters steht.« Er wies auf den Rotkopf, der sich in 
die Brust warf und ein bärbeißiges Gesicht zog. »Ritter Gottlieb von 
der Waldburg ist ein gerechter Mann.« 

»Ja«, sagte Roland verächtlich. »Er prügelt Wehrlose und belegt 

Fremde mit unflätigen Schimpfwörtern.« 

Der ältere Mann lachte. »Das dürft Ihr nicht so schwer nehmen. 

Für seine derbe Ausdrucksweise ist Ritter Gottlieb im ganzen Land 
berühmt und geachtet. Habt Ihr noch nie vom Groben Gottlieb 
gehört? Das ist er. Er beschimpft Gott und die Welt, und alle mögen 
es gern, weil es besser klingt als die heuchlerischen Phrasen der 
Höflinge.« 

»Ich liebe es aber gar nicht, von ihm Arschloch genannt zu 

werden«, verwahrte sich Roland. 

»Seid doch nicht so empfindlich! Uns hat er schon hundertmal 

background image

schlimmere Namen gegeben, und wir nahmen es ihm nicht übel. Das 
ist so seine kernige, erdverbundene Natur. Der Grobe Gottlieb ist ein 
Mann von altem Schrot und Korn, wie das Volk es gern hat. Ihr 
solltet einmal hören, wenn er seine Frau beschimpft. >Du 
hergelaufene dumme Kuh, du schweißfüßige Vettel, du 
hirnverbranntes Luder!< So traktiert er sie Tag für Tag. Und sie ... 
Sie läßt sich's gern gefallen und liebt den Groben Gottlieb um so 
mehr, je gröber er sie beschimpft.« 

Bei der Vorstellung, eine Rittersfrau fühle sich durch unflätige 

Beleidigungen ihres Gatten geschmeichelt und liebe ihn nur um so 
inniger, mußte Roland unwillkürlich lächeln. Doch nach einem Blick 
auf die aschfahlen Gesichter der Bauern verging ihm der kurze 
Anflug von Fröhlichkeit. 

»Bindet die armen Kerle los!« rief er. 
Der Grobe Gottheb  verwünschte ihn: »Stopft denn keiner diesem 

streunenden Drecksköter das Maul?« fragte er und schaute sich 
gekränkt unter seinen Begleitern um. 

Wieder legte sich der ältere Mann ins Zeug. Er setzte Roland in 

ruhigen Worten den Fall auseinander. Danach also waren die drei 
Bauern ergriffen worden, als sie Löcher in den zugefrorenen Teich 
hackten, um nach Fischen zu angeln. Erwartungsvoll sah der Mann 
nach dieser Erklärung Roland an. 

Aber der begriff nicht. »Und worin besteht ihr Vergehen?« wollte 

er wissen. 

Das Gesicht des Groben Gottlieb wurde so rot wie sein Zottelhaar, 

als er herausbrüllte: »Dieser beschissene Teich gehört mir, und die 
stinkenden Fische darin rührt mir keiner an, dem ich nicht den 
verdammten Auftrag dazu gab!« 

»Das ist gelogen«, verwahrte sich einer der Bauern. »Der Teich 

gehört Ritter Friedland, und er ermächtigte uns, jederzeit darin zu 
fischen.« 

»So  - und du widerliches Stück Mist meinst also, ich lüge?« rief 

Gottlieb mit finsterem Gesicht und näherte sich drohend dem 
Sprecher, der verzweifelte Blicke auf Roland warf. 

background image

Der ältere Mann setzte nun Roland und den Bauern auseinander, 

warum sich die Besitzverhältnisse geändert hatten. »Gestern nacht 
gewann der Grobe Gottlieb im Kartenspiel dem Ritter Friedland 60 
Dukaten und obendrein den Teich ab«, schloß er. 

»Demnach konnten diese drei Männer hier noch gar nichts davon 

wissen«, sagte Roland. 

»Unkenntnis schützt vor Strafe nicht«, meinte der ältere Mann 

gemessen. 

»Jedenfalls dulde ich nicht, daß die Leute geschlagen werden!« 
»Das duldest du nicht, du großmäuliger Hosenmatz und Scheißer?« 

ereiferte sich Gottlieb und wandte sein hochrotes Gesicht Roland zu. 
»Dann bezahl du mir doch den Schaden!« 

»Soweit ich sehe, ist Euch kein Schaden entstanden.« 
»Und die Löcher im Eis? Ich bin der Besitzer, und ich sage dir 

Hundsfott, daß jedes Loch zwölf Dukaten kostet!« 

Roland hatte bisher alle Beleidigungen in guter Haltung ertragen, 

aber sein Inneres bebte vor Wut. Er hatte seine Fäuste kaum noch in 
der Gewalt. Wenn er länger in das gemeine Gesicht des Groben 
Gottliebs starrte, würde er ihm bestimmt mitten hineinschlagen. 

Die Ankunft Haggans und der beiden Knappen bot ihm eine 

erwünschte Ablenkung. Er nutzte sie aus, schnitt den Bauern die 
Fesseln durch und sagte: »Geht rasch davon! Ihr seid frei!« 

Sie nahmen sich nicht einmal die Zeit, ihm zu danken, sondern 

machten, daß sie davonkamen. Sogar der dritte, der eben erst aus 
seiner Ohnmacht erwacht war, rannte über das verschneite Feld und 
hielt fast mit den beiden anderen Schritt. 

Eine Stunde später befand sich die ganze Gesellschaft in Gottliebs 
niedriger, düsterer und ziemlich verwahrlosten Waldburg. Es schien, 
daß der Hausherr sich aus Respekt vor dem ihm gutbekannten 
Haggan jetzt gegenüber Roland zurückhielt. Bei einem 
Begrüßungstrunk hatte er sogar so etwas wie eine Entschuldigung 

background image

zustande gebracht. 

Sie lautete: »Ihr sollt verdammt sein und vom Teufel frikassiert 

werden, Ritter Roland, wenn Ihr mir meine derben Bemerkungen von 
vorhin übelnehmt. Ich  habe zwar ein loses Mundwerk, aus  dem nicht 
sehr viel Honig kommt, aber ich meine es gut mit Euch. Ihr seid ein 
richtig nettes Arschl...  - und ich will Euer Kamerad sein. Habt Dir 
Lust zu einem ritterlichen Kraftspiel?« 

Roland nahm noch einen kräftigen Zug Branntwein, um seinen 

Zorn zu besänftigen. Dann sagte er: »Zu einem ehrlichen 
Kräftemessen stehe ich Euch und jedermann immer zur Verfügung.« 

Die Männer begaben sich in den Burghof. Die Branntweinkrüge 

wurden ihnen von Knechten nachgetragen. Gottlieb deutete auf einen 
fast halbmannshohen Findling, der in einer Ecke des Hofes stand. In 
sein oberes Ende war ein eiserner Griff eingemauert. 

Unbemerkt von Roland, warf der Grobe Gottlieb Haggan einen 

verschwörerischen Blick zu und sagte: »Ich fordere Euch heraus, 
junger Mann! Wer von uns beiden diesen Stein höher hebt, dem muß 
der andere sein Pferd geben.« Denn er hatte inzwischen mit 
Kennermiene den Wert von Samum abgeschätzt. 

Roland hatte sich zwar noch nie an einem so schweren Findling 

versucht, aber bei manchem Wettkampf im Steinstoßen auf den 
Burgen sehr gut abgeschnitten. Außerdem hoffte er, auf diese Weise 
dem Grobian eine gebührende Lektion zu erteilen. Also stimmte er 
sofort zu. 

Es wurde ausgemacht, daß jeder drei Versuche habe. Haggan und 

der ältere Mann sollten Schiedsrichter sein. Als Gast durfte Roland 
anfangen. Noch einmal reichte ihm ein Knecht einen Branntwein. 

Das Zeug fuhr durch die Knochen wie ein glühender Blitz. Er 

spürte es bis in den Magen. Nach diesem Trunk fühlte sich Roland 
stark wie Samson. Voll Zuversicht trat er an den Stein, packte den 
Eisenring und zog daran. 

Offenbar hatte er das Gewicht doch unterschätzt, denn den Stein 

rückte und rührte sich nicht. Er verdoppelte seine Anstrengung, doch 
das Ergebnis blieb das gleiche. Er ächzte, und seine Armmuskeln 

background image

wölbten sich wie Seilstränge durch die Haut, aber der Stein hob er 
nicht mal so hoch, daß man eine Feder hätte darunterschieben 
können. 

Verwirrt ließ Roland los und trat zurück. 
»Nicht schlecht für einen Rotzjungen«, sagte Gottlieb mit 

spöttischer Anerkennung. »Aber nun will ich Euch mal zeigen, wie 
ein Erwachsener mit diesem Kieselsteinchen umgeht!« 

Er fuhr sich mit den Händen durch das rote Zottelhaar und schritt 

selbstbewußt auf den Findling zu. Der ältere Mann stieß Roland 
sacht mit dem Ellbogen in die Seite und sagte: »Vom Groben 
Gottlieb könnt Ihr was lernen!« 

Roland konnte sich kaum vorstellen, daß sein Gegner mehr Glück 

haben sollte. Und er irrte sich nicht. Auch Gottlieb konnte den Stein 
nicht heben. Doch der Rotkopf grinste nur, ließ sich Branntwein 
reichen und rief: »Bin abgerutscht  - glaubt es mir! Nun seid Ihr 
wieder dran ...« Er murmelte noch ein paar Silben. Roland glaubte, 
mit feinem Gehör zu vernehmen: »... Elender Schlappschwanz!« und 
es schüttelte ihn innerlich vor Wut. Doch diesmal nicht wegen 
Gottliebs losem Maul, sondern wegen seines eigenen Versagens. 

Vor dem zweiten Versuch konzentrierte sich Roland sorgfältig. 

Jetzt packte er mit beiden Händen zu, ertastete den besten Griff am 
Eisenring, schloß die Hände, ging ein wenig in die Kniebeuge, 
atmete ruhig, stellte sich in Gedanken nochmals den 
Bewegungsablauf vor - und drückte ruckartig die Knie durch! 

Es riß ihm fast die Arme ab. Aber auch diesmal blieb der 

unregelmäßig gerundete Feldstein wie angewurzelt auf dem Boden 
ruhen, so sehr sich Roland auch mühte. Die Finger rieben sich wund. 
Die Handgelenke knackten bedenklich. Die Armmuskeln schwollen, 
als wollten sie platzen. 

Nichts half. 
In seinem Rücken hörte Roland ein hämisches Gelächter. Laut 

stieß er die angehaltene Luft aus den Lungen und ließ die steinerne 
Kugel los. Als er sich zu den Lachern umwandte, stritten Ärger und 
Beschämung in ihm und verschleierten seinen Blick, so daß er die 

background image

Gesichter nur wie durch einen wallenden Nebel sah. 

Da stampfte Gottlieb schon dicht an ihm vorbei. Er streifte ihn hart 

mit der Schulter  - Zufall oder Absicht? Rolands Blick wurde klar. 
Scharf beobachtete er, wie Gottlieb sich an die Aufgabe machte. 

Bevor der zottelhaarige Burgherr in den Eisengriff faßte, lehnte er 

sich mit beiden Händen für kurze Zeit gegen den Stein. Dann trat er 
zurück und spuckte sich in die Handflächen. Nun straffte er sich ... 

Gleich darauf ging ein Raunen durch die Zuschauer. Die Knechte 

klatschten in die Hände. Der ältere Mann aus Gottliebs Begleitung 
rief: »Bravo! Wundervoll! Das ist der Sieg! Das macht Euch 
niemand nach!« 

Roland schaute, daß ihm fast die Augen aus dem Kopf fielen. 

Großmaul Gottlieb hatte das Kunststück vollbracht! Gut einen  Drittel 
Klafter hatte er den Stein vom Boden hochgestemmt. Sein sowieso 
schon gerötetes Gesicht war purpurn wie der Kamm eines Hahnes. 
Man sah ihm an, daß er das letzte Quentchen Kraft einsetzte. 

Es schien eine Ewigkeit zu dauern, ehe er den Stein herunterließ. 

Auch er stieß die Luft pfeifend aus. Völlig erschöpft lehnte er sich 
dann gegen den Findling, als würde er ohne diesen Halt umsinken. 

Doch der Augenblick der Schwäche ging rasch vorbei. Schon 

wandte er sich um und ließ sich von seinen Knechten und Begleitern 
feiern. Dann streckte er mit höhnisch einladender Gebärde die Hand 
zu Roland aus: »Nun zeigt uns noch einmal, daß Ihr statt Mark nur 
ranzigen Talg in den Knochen habt, Schlappschwanz von einem 
Vagabundenritter! Auf meinen dritten Versuch verzichte ich jetzt 
schon. Euer Pferd gehört mir, Bastard! Dröhnendes Gelächter 
belohnte diesen Beweis vom Humor des berühmten Groben Gottlieb. 
Rolands Blick traf auf Haggan, der etwas abseits stand. Haggan 
lachte nicht. Er zuckte die Achseln. Es war nicht unbedingt eine 
Geste, die Roland Mut machte. Aber alles war besser als dieses 
höhnische Lachen. Roland dachte an Samum, seinen Wetteinsatz. 
Der Hengst war für ihn so gut wie verloren ... Sein Herz krampfte 
sich zusammen. Der Gedanke schien ihm unerträglich. Aber doch 
gab er die Hoffnung nicht auf. Ihm war etwas an Gottliebs 

background image

Hebetechnik aufgefallen, das ihn stutzig machte. Soviel stärker als er 
konnte das Großmaul doch nicht sein! Mit unverhohlener 
Schadenfreude blickten Gottliebs Männer auf den jungen blonden 
Artus-Ritter, der sich nun zum dritten Mal dem widerspenstigen, 
rauhen Stein näherte. Dann hörte er deutlich die Stimme des 
Zottelkopfes heraus: »Seht euch das muskellose Waschweib nur an! 
Der sollte erst mal mit Sandkörnern üben, der beschissene 
Vagabund!« 

Wie vorher sein Gegner stützte sich jetzt auch Roland bedächtig 

mit den Händen gegen den Stein. Dann versuchte er, ihn zu drehen. 

Nach rechts. Nein, das ging nicht. 
Nach links? 
Sein Herz tat einen freudigen Sprung. Der Stein folgte gehorsam 

dem Druck seiner Hände. Ganz leicht ließ er sich drehen  - nach 
links! 

Nun war Roland der Mechanismus klar. 
Gottlieb hatte ein falsches Spiel getrieben. Der Wettkampf war 

nicht fair. Er hatte den Gegner mit Tücke reingelegt. 

Der Stein war an einem im Hofboden eingelassenen Eisendorn 

verankert. In dieser Stellung war er selbst vom stärksten Mann der 
Welt nicht zu heben. Aber durch eine geringe Linksdrehung kam er 
von dem Dorn frei! 

Nun packte Roland den oberen Ring, ging in die Beuge und 

streckte abermals die Knie! Da endlich hob sich die ungefüge 
Steinkugel vom Boden. Höher und höher stieg sie. Und Roland 
lachte, so leicht erschien ihm plötzlich ihr Gewicht, an dem er doch 
vorher fast verzweifelt wäre. Zuletzt stemmte er sie mit weit 
ausgestreckten Armen über den Kopf. 

Eine dünne, fremdartige Stimme rief: »Roland Sieger!« Es war der 

kleine Omar aus dem Morgenland, und aus seinem Ruf klangen 
unverfälschte Freude und Begeisterung. 

Dagegen erschollen nun aus Gottliebs Mund die abscheulichsten 

Flüche und Schimpfwörter. In hemmungslosem Wortschwall 
verdächtigte er seine Begleiter: »Welcher Teufel hat ihm den Trick 

background image

verraten? Wenn ich den verruchten Satan finde, werfe ich ihn 
lebendig in die Jauchegrube! Am liebsten täte ich es auf der Stelle 
mit euch allen!« Und lauter  und lauter verwünschte er den Kerl, von 
dem er meinte, er habe ihn um den Gewinn von Rolands wertvollem 
Araberhengst gebracht. 

Roland aber ließ den Stein langsam bis in Hüfthöhe hinab und 

begann, sich auf der Stelle zu drehen. 

Schreckensrufe ertönten! Schon wandten sich die ersten, die die 

Drohung erkannten, zur Flucht. Vornweg rannte niemand anderer als 
das rothaarige Großmaul. Die anderen folgten ihm auf den Fersen. Es 
sah aus, als rannten sie um die Wette. 

Und Rolands lange aufgestauter Zorn über das gemeine und 

hinterlistige Verhalten des Groben Gottlieb entlud sich in dem 
Augenblick, als er den mächtigen Stein aus schneller Drehung heraus 
hinter der fliehenden Bande herschleuderte! 

Krachend schlug er auf dem gepflasterten Hofboden auf. Funken 

sprühten. Und der Stein rollte weiter wie eine Granitlawine. Mit 
einem mächtigen Satz rettete sich Gottlieb vor dem fürchterlichen 
Geschoß. 

Ja, der kleine Omar hatte wahr gesprochen. Roland war Sieger im 

Wettkampf! 

Aber er hatte sich auch einen Todfeind geschaffen... 

Mit betretenem Gesicht erschien Haggan am nächsten Morgen vor 
Roland. »Es tut mir unendlich leid«, stammelte er. »Ich habe 
entsetzliches Pech gehabt. Aber ich gebe Euch mein Ehrenwort...« 

An Haggans schwarzem Haarschopf vorbei sah Roland über den 

schmutziggrauen Burghof in die graue Wolkendekke, die sich 
während der Nacht über den Himmel gelegt hatte. Er überdachte die 
Geschichte, in die Haggan sich verstrickt hatte. Der zerknirschte 
Mann hatte sie ihm eben gebeichtet. 

So war es am vergangenen Abend weiter geschehen: Nach seiner 

background image

Niederlage geriet der Grobe Gottlieb in eine tierische Wut. Mehrmals 
äußerte er die Absicht, unter Bruch des heiligen Gastrechts in das 
Roland zugewiesene Gemach einzudringen, den Ritter dank der 
Übermacht seiner Männer zu überwältigen und mit dem Kopf voran 
in den Burghof zu werfen. 

Die Lage sah bedenklich aus. 
Da machte der ältere Mann, der wohl als einziger einigen Einfluß 

auf Gottlieb besaß, einen Vorschlag, der dessen Gefallen fand. Er 
schlug dem Rasenden ein Kartenspiel vor! 

Sie spielten die ganze Nacht. Und Haggan verlor 400 Dukaten! 

Nur 200 konnte er bezahlen. Nun wollte Gottlieb ihn nicht eher 
davonlassen, bis der Rest beglichen war. 

»Ich werde ihm anbieten, das Pferd, das ich von ihm gewann, als 

Pfand zurückzugeben«, meinte Roland nach kurzer Überlegung. 

»Er will es nicht haben!« rief Haggan. »Er will die 200 Goldmäuse 

und nichts anderes!« 

Roland machte seinem Gefangenen keine Vorwürfe. Es gab zu 

dieser Zeit wohl keinen Ritter, der nicht der Spielleidenschaft 
verfallen gewesen wäre. Wie viele hatten schon ganze Burgen, ihr 
gesamtes Hab und Gut, ihre Dienerschaft, ja, ihre Geliebten oder 
Ehefrauen im Rausch der Karten und Würfel verloren und standen 
am Ende einer heißen Spielschlacht vor dem Nichts! 

Spiele und Wetten  - in der Ritterschaft des Landes verging fast 

kein Tag ohne sie. Hatte nicht Roland gestern selber durch eine 
unbedachte gefährliche Wette fast seinen herrlichen Araber Samum 
verloren? Und trug er nicht auf dem Schild die Erinnerung an ein 
Spiel - den Würfel mit dem einen Auge? 

Dennoch hatte ihn Haggans Spielverlust in eine vertrackte Lage 

gebracht. Denn Roland konnte und wollte keinen Augenblick länger 
in der Waldburg bleiben. Hier war er seines Lebens nicht sicher. Der 
unberechenbare Gottlieb verfolgte ihn mit seinem Haß. In aller Frühe 
hatte er ihm durch den älteren Mann förmlich das Gastrecht 
aufgekündigt. 

Das kam der Übergabe eines Fehdehandschuhs gleich. Roland 

background image

mußte das Weite suchen. Sonst lief er Gefahr, wie ein toller Hund 
von der Übermacht erschlagen zu werden. 

Andererseits konnte er Haggan nicht zwingen, ihn sofort zu 

begleiten, auch wenn er sein freiwilliger Gefangener war. Die 
Umstände hatten sich geändert. Spielschulden waren Ehrenschulden 
- und zu keiner Zeit wurde dieser Grundsatz ernster genommen als 
unter den Rittern des Mittelalters. Wenn der Grobe Gottlieb 
verlangte, Haggan müsse bis zu seiner Auslösung auf seiner Burg 
bleiben, so war er nach landläufiger Ansicht unbestreitbar im Recht. 

Und leider besaß Roland selber so gut wie gar kein Geld. Er hatte 

noch ganze zwölf Dukaten bei sich. Natürlich würde ihm kein 
Bewohner der Waldburg etwas leihen oder abkaufen. Sonst hätte er 
sich - außer von Samum - von allem getrennt. 

In Gedanken überschlug er, wie lange Omar von der Waldburg 

nach Atzerath und zurück brauchen würde. Wenn alles gutging, vier 
Tage. Vielleicht fünf. Im ungünstigsten Fall eine Woche. Dann 
würde er auf jeden Fall mit dem Geld zurück sein. 

Er sah in Haggans tiefliegende Augen, die seinen Blick ruhig 

erwiderten. Roland spürte eine leichte Beunruhigung, die jedoch 
wich, als er jetzt seine Entscheidung traf. 

»Haggan«, sagte er streng, »in drei Tagen werde ich auf Camelot 

sein und dort verkünden, daß ich Euch gefangengenommen habe. 
Spätestens in zehn Tagen, von heute an gerechnet, müßt Ihr dort 
eintreffen. Spätestens in zehn Tagen werdet Ihr Euch der 
Gerichtsbarkeit des Königs stellen. Bis dahin bürge ich für Euch.« 

»Es wird keine zehn Tage dauern«, versprach Haggan mit 

Nachdruck. »Es gibt keinen zuverlässigeren und flinkeren Boten als 
meinen Omar.« 

»Um so besser.« Ein Sonnenstrahl brach durch die Wolkendecke 

und tanzte über Haggans Gesicht. »Haggan, vergeßt es keinen 
Augenblick: Ich bürge für Euch mit Leib und Leben!« 

Haggan ergriff mit beiden Händen Rolands Rechte und drückte sie 

beinahe schmerzhaft. »Ihr seid ein wahrer Freund, Roland. Einem 
Mann wie Euch bin ich noch nie begegnet.« Er blinzelte. »Nun seid 

background image

aber unbesorgt! Ich werde rechtzeitig zur Stelle sein. Darauf gebe ich 
euch mein großes Ritter-Ehrenwort!« 

Wieder blinzelte Haggan, als er mit dem großen Ritter-Ehrenwort 

ein Versprechen gab, das noch weit bindender war als ein Eid oder 
ein feierliches Gelübde. War es die Sonne, die blendete? 

Roland aber war zufrieden. Konnte er mehr verlangen? Es war die 

beste Lösung! Er schüttelte Haggans harte Hände und sagte bewegt: 
»Auf bald!« Dann wandte er sich um und schritt zu Samum und dem 
von Gottlieb gewonnenen Fuchs. Wenig später ritt er, den Fuchs an 
der Leine hinter sich, durchs Burgtor und folgte dem 
festgestampften, breiten Weg nach Norden. 

Haggan verfolgte ihn mit den Augen, bis eine Bodenwelle ihn 

seinem Blick entzog. Sein Gesicht war so ausdruckslos wie aus 
stumpfem Stein gehauen. Er  blinzelte auch nicht mehr, obwohl ihm 
die Sonne jetzt voll ins Gesicht schien. 

»Halt, Ritter, keinen Schritt weiter!« 

Roland parierte sein Pferd. Er hatte, tief in Gedanken versunken, 

kaum auf die Umgebung geachtet. Der Reiter, der plötzlich mit 
gefällter Lanze vor ihm aufgetaucht war, überraschte ihn völlig. 

Dann erkannte er ihn. Es war der ältere Mann, der stets vermittelnd 

eingegriffen hatte, wenn Gottliebs wildes Temperament ihn zu 
rascher Gewalttat hinreißen wollte. 

»Was wollt ihr?« fragte Roland. 
»Euch warnen! Keine zwei Meilen von hier liegt der Grobe 

Gottlieb mit acht Gewappneten im Hinterhalt.« 

Leichtes Mißtrauen kroch in Roland hoch. »Was kümmert es Euch, 

alter Mann?« 

»Ich will vermeiden, daß Ihr zu Schaden kommt. Nicht, weil Ihr 

mir ans Herz gewachsen wärt. Es ist Gottlieb, den ich eigentlich 
schütze. Ich kenne ihn seit vielen Jahren. Ihr habt ihn gereizt wie 
noch selten jemand. Er ist außer sich. Er glüht vor Haß wie im 

background image

Fieber. Er wird Euch beim Überfall töten  - oder zumindest einige 
Knochen brechen. Ein paar Stunden danach, wenn er seinen Zorn 
ausgetobt hat und wieder zur Besinnung kommt, wird ihm die böse 
Tat leid tun. Ich höre ihn schon, wie er seine Freunde anklagt, weil 
sie ihm nicht in den Arm gefallen sind! So ist es immer mit ihm.« 

Er holte tief Atem und sprach vertraulich zu Roland weiter: »Ja, so 

ist es immer mit ihm. Aber wie soll ich alter Mann ihm in den Arm 
fallen? Wißt Ihr: Gottlieb ist nicht wirklich schlecht, aber durch und 
durch grob und unbeherrscht. Ich bin so etwas wie sein guter Geist. 
Darum versuche ich immer, ihn vor Unbesonnenheiten zu schützen.« 

Es war nahezu rührend, wie der Alte mit seinen verträumten, leicht 

melancholischen braunen Augen Roland, um Verständnis bittend, 
anschaute. Der zweifelte nicht an seiner Aufrichtigkeit. Zu oft schon 
hatte der alte Mann seit gestern ausgleichend und Frieden stiftend 
gewirkt. 

»Nun gut«, sagte Roland. »Was schlagt Ihr vor? Umkehren werde 

ich nicht.« 

»Ich führe Euch auf sicherem Weg um den Hinterhalt herum. Der 

Weg ist ein wenig mühseliger, aber gefahrlos.« 

»Dann laßt uns nicht länger säumen!« 
Die Pferde setzten sich, auf Schenkeldruck gehorchend, in 

Bewegung. Der ältere Mann wich nach rechts vom Weg ab. 
Zwischen halb im Schnee begrabenen Büschen und kahlen Bäumen 
mit starren  schwarzen Ästen ging es in einen ausgedehnten und 
unübersichtlichen Schneekessel, in dem verstreut Felsen von 
einfacher bis zehnfacher Mannshöhe aus dem Schnee ragten. 

Die kahlen dunklen Äste erinnerten an Grabkreuze, an Tod. 

Bedrückt ritt Roland neben dem älteren Mann her. Seine Augen 
spähten unter dem Helm nach allen Seiten. Der Schnee blendete. 
Manchmal glaubte er, eine Bewegung zwischen den Büschen 
wahrzunehmen. Doch bei näherem Hinsehen erwies es sich jedesmal 
als Täuschung. Außer ihnen schien es nichts Lebendes hier zu geben. 

Und doch sah man im Schnee die Spuren von Hirsch, Hase, und 

Fuchs. Aber kein Mensch hatte einen Fußabdruck hinterlassen. 

background image

Roland fuhr zusammen, als halbrechts hinter ihm die ruhige 

Stimme seines Begleiters erklang. »Ihr habt ein wundervoll 
gearbeitetes Schwert.« 

»O ja, ein berühmter Schmied fertigte es für meinen damaligen 

Ritter Sigurd, der es mir sterbend vermachte. Es ist hart wie ein Fels, 
geschmeidig wie die Bogensehne und scharf wie ein Rasiermesser.« 

»Ich bewundere vor allem die künstlerischen Ziselierungen am 

Griff. Erlaubt, daß ich sie näher betrachte?« Ohne eine Antwort 
abzuwarten, zog der ältere Mann Roland das Schwert aus der 
Scheide und legte es vorsichtig auf die Kruppe seines eigenen 
Pferdes. 

»Sollten wir nicht leiser sprechen?« fragte Roland. 
»Keine Sorge! Wir haben Gottliebs Hinterhalt weit umgangen. 

Niemand, kann unsere Stimmen hören. Noch eine Viertelstunde, und 
wir werden schon in seinem Rücken sein. Oh, wie kunstvoll das alles 
ist! Welche herrlichen Ornamente!« 

Während er Rolands Schwert mit beglückten Augen betrachtete, 

blieb der ältere Mann ein wenig zurück. Roland behielt, soweit 
Boden und Vegetation es erlaubten, die von ihm eingeschlagene 
Richtung bei. Als Richtpunkt wählte er einen durch seine rötliche 
Färbung auffallenden Felsblock. 

Er war noch zehn Pferdelängen entfernt, als über dem rötlichen 

Felsblock wie eine Erscheinung der Oberkörper eines 
grüngekleideten Mannes auftauchte. Ungehalten krächzend flogen 
zwei Raben vorüber. Der Mann im grünen Wams spannte einen 
Bogen und richtete den Pfeil auf Roland. 

Er oder ich! dachte der Ritter. Schon riß er den rechten Arm in die 

Höhe, setzte die Bewegung kraftvoll nach vorn fort, und die Lanze 
mit dem rotgelben Wimpel flog mit Urgewalt gegen den 
Bogenschützen. Als ihre Spitze noch einen Klafter zu durchmessen 
hatte, schwirrte die Sehne, und der Pfeil schoß auf Roland zu. 

Er oder ich, dachte der Ritter abermals ... 
Da war die Frage schon entschieden. Der Mann im grünen Wams 

warf die Arme in die Luft, ließ den Bogen fallen und stürzte 

background image

hintenüber, die Lanze in der Brust. 

Im selben Augenblick beugte sich Roland fast waagrecht nach 

links. Ein Luftzug streifte sein Gesicht, und der Pfeil flog drei 
Handbreiten entfernt gefahrlos an ihm vorbei. 

Samum war indessen unbeeindruckt weitergetrabt. 
Über dem rötlichen Felsblock erschien ein zweiter Bogenschütze, 

der ein gelbes Wams trug. 

Roland tastete unwillkürlich nach seinem Schwert. Doch die 

Scheide war leer. Nun besaß er keine Waffe mehr. 

In seinem Rücken vernahm er einen zornigen Ruf. 
Ohne darüber nachzudenken, riß Roland sein Pferd herum. Es hatte 

keinen Zweck, wehrlos in einen tödlichen Pfeil zu rasen. 

Samum erschrak und stieg mit den Vorderbeinen hoch in die Luft. 

Nun deckte der Pferdekörper Roland ab. Einen Augenblick lang war 
der Ritter außer Gefahr. Doch er bangte um Samum! 

Wenn der Bogenschütze schnell spannte und sofort abschoß ... Da 

hörte er hinter sich die erregte Stimme des älteren Mannes: »Nicht 
auf den Araber schießen! Den will ich lebend zur Beute! Zum 
Teufel, wer das Pferd verwundet, dem gerbe ich die wertlose Haut! 
Der Ritter ist's, dem ihr den Arsch aufreißen sollt!« 

Samum tänzelte noch auf den Hinterbeinen vorwärts. So näherte er 

sich dem Felsblock, hinter dem der Mann im gelben Wams 
unschlüssig den Bogen sinken ließ. Mächtig keilte der Hengst mit 
den Vorderhufen aus ... 

Da, ein lauter Schmerzensschrei! Samum hatte den Mann in Gelb 

mit dem Huf am Schädel getroffen! 

Nun stand der Rappschimmel wieder auf allen vieren und drehte 

auf der Stelle.  Sie waren bereits an dem Felsblock vorbei. 
Nebeneinander hingestreckt lagen dort der Mann im gelben und der 
im grünen Wams. Drei andere Bogenschützen in brauner Kleidung, 
die hier gelauert hatten, sprangen auf und rannten wie 
aufgescheuchte Hühner davon, ohne sich noch einmal umzudrehen. 

Samum hielt mit bebenden Flanken. Er schnaubte leise. 
Roland erkannte, daß er sein Vertrauen einem Unwürdigen 

background image

geschenkt hatte. Statt ihn um Gottliebs angeblichen Hinterhalt 
herumzuführen, wie er versprochen, hatte ihn  der ältere Mann in eine 
selber gestellte Falle gelockt. 

Einen schnellen Blick warf Roland hinter sich. In 30 Klaftern 

Entfernung hielt der ältere Mann, schwenkte die bewaffneten Arme 
und brüllte: »Rennt doch nicht weg, ihr Feiglinge! Schnappt euch 
den Ritter! Er kann sich nicht wehren. Seine Lanze warf er weg, und 
sein Schwert habe ich ihm abgenommen. Bleibt stehen, ihr 
Saftsäcke, und holt ihn vom Pferd! Macht ihn fertig! Ich verspreche 
euch ein großes Siegesfest mit 20 geilen Weibern!« 

Roland knirschte mit den Zähnen. Er schalt sich einen Esel. Er 

hatte sich wie ein Kind hinters Licht führen lassen. Ein ruhiges 
Gehabe, heuchlerische Schönrednerei und ein Paar verträumter 
brauner Augen hatten ihn genarrt. Der alte Mann, dem er vertraut 
hatte, war ja zehnmal so gefährlich wie der Grobe Gottlieb, der einen 
wenigstens keinen Augenblick lang über seine unfreundlichen 
Absichten im Zweifel ließ! 

Zu Rolands Bestürzung hatten die Fliehenden nun wirklich 

haltgemacht und pirschten sich, die Bogen gespannt, vorsichtig 
heran. Es war nur ein Glück, daß sie nach Art ängstlicher Leute eng 
beieinander blieben, statt sich im Gelände zu verteilen und von 
mehreren Seiten heranzurücken. 

So blieben Roland rechts und links noch zwei Fluchtwege offen. 

Wenn er Gottliebs Fuchs im  Stich ließ, würde niemand Samum 
folgen können, auch nicht der schnellste Pfeil. 

Aber Roland dachte nicht an Flucht. 
Der alte Mann, der die Bogenschützen befehligte, ließ ihm auch 

keine Gelegenheit dazu. Bis an die Zähne bewaffnet führte er seinen 
Überraschungsangriff. Fast hätte er Roland wirklich überrumpelt. 

Zuerst warf der Alte die Lanze. Doch viel zu früh! »Verdammte 

Scheiße!« hörte Roland hinter sich. Er drehte sich um und sah, wie 
sich die Lanze einen Klafter hinter Samum in die schneebedeckte 
Erde bohrte. Und der alte Mann kam nun genau auf ihn zugaloppiert! 
Er lag mit dem Oberkörper auf dem Hals seines Pferdes. Das eigene 

background image

Schwert schwang er in der Rechten zum Schlag erhoben. Rolands 
Schwert hielt er mit der Linken. Die Spitze ragte weit über die 
Pferdenase hinaus. Als Stichwaffe wollte er das durch eine List 
erbeutete Schwert einsetzen. 

Roland wendete Samum und ließ ihn tänzeln, so daß er kein 

sicheres Ziel bot. Im letzten Augenblick wollte er an der linken Seite 
des Gegners vorbeipreschen, um beiden Waffen zu entgehen. 

Da erhielt er einen heftigen Stoß in den Rücken! Ein Pfeil hatte 

gesessen! Nur die Rüstung bewahrte Roland vor einer gefährlichen 
Wunde. Aber der harte Aufprall nahm ihm für Augenblicke die Luft. 

Er wagte nicht, sich umzublicken. Waffenlos stand er zwischen 

den Angreifern. Aus größerer Nähe abgeschossen, würde ein Pfeil 
leicht die im Rücken dünnere Rüstung durchbohren. 

Also vorwärts! 
Roland gab dem Rapphengst die Sporen. Gehorsam galoppierte 

Samum raumgreifend an. Roland lenkte ihn auf die Seite, die er 
ausgewählt hatte. Der ältere Mann war bis auf wenige Klafter heran. 
Wie der Kerl schrie! Man verstand nichts. Der Schrei sollte dem 
Gegner wohl Angst einjagen. 

Und jetzt wechselte der Alte die Auslage. Nun wurde das Schwert 

in der Rechten zur Stichwaffe, und das geraubte Schwert in der 
Linken wurde zum Schlag erhoben. Der Mann steckte voller Listen. 
Er war also Linkshänder! 

Samum befand sich bereits in vollem Galopp. Es war zu spät, die 

Richtung zu wechseln. Roland würde von beiden Schwertern 
getroffen werden! 

Oder konnte er eins mit dem Schild, der ihm verblieben war, 

abwehren? 

Doch darauf wollte er sich lieber nicht verlassen. Wer konnte 

sagen, ob der Schild standhielt? Roland kannte die Schärfe  seines 
Schwertes. 

Sie waren noch zwei Galoppsprünge auseinander... 
Blitzschnell ließ sich Roland in verzweifeltem Entschluß zur Seite 

aus dem Sattel fallen. Verdutzt schaute der alte Mann auf den 

background image

plötzlich reiterlosen Samum. Dann stieß er einen Siegesruf aus und 
zügelte sein Pferd. 

Er meinte nichts anderes, als daß ein Pfeil seiner drei 

Bogenschützen Roland aus dem Sattel geschossen hätte. 

Indessen sprang Roland federnd auf die Füße, streifte den nun 

nutzlosen Schild vom Arm, nahm Anlauf und sprang mit gewaltigem 
Schwung auf das Pferd des Gegners. Er kam genau hinter den alten 
Mann zu sitzen. Unter dem unerwarteten doppelten Gewicht knickte 
dessen Pferd etwas ein. 

Der Alte war völlig verwirrt. Er wußte nicht mehr, wie ihm 

geschah. 

Roland packte ihn am linken Arm und entriß ihm das gestohlene 

Schwert, ehe der andere überhaupt mitkriegte, was vorging. Dann 
bohrte er dem Pferd die Sporen in die Weichen. 

Aufs äußerte gereizt und verängstigt brach das Tier zur Seite weg 

und rannte einen der Bogenschützen, der sich am weitesten 
vorgewagt hatte, über den Haufen. Die beiden anderen warfen sich 
der Länge nach in den Schnee, als könnten sie sich so verstecken. 
Das Letzte, was sie außer dem Mißgeschick ihres Kameraden sahen, 
war die Niederlage ihres Anführers. 

Denn Roland hatte seinen Vorteil geschickt ausgenutzt. Er packte 

den Alten unter den Achseln, trat mit den Füßen gegen seine Beine 
und hob ihn aus dem Sattel. Vor Schreck ließ der Alte auch gleich 
sein eigenes Schwert fallen. Dann stürzte er kopfüber zu Boden. 

Ächzend blieb der alte Mann liegen. Doch schon nach kurzer Zeit 

erhob er den Kopf und überhäufte seine Bogner mit Schmähworten. 
Die hörten ihn wohl in ihren Verstecken. Aber zu Hilfe kamen sie 
ihm nicht. Roland sah schadenfroh, wie sie eilig davonkrochen. 

Sobald sie die erste Bodenwelle überwunden hatten, sprangen sie 

auf und rannten weg, diesmal aber endgültig. 

Roland hatte Mühe, das aufgeregte Pferd des alten Mannes zu 

bändigen. Doch als er die Oberschenkel zusammenpreßte, wurde das 
ungebärdige Tier bald sanfter und trabte, wie Roland es wollte, zu 
seinem Herrn, der noch im Schnee saß und unentwegt fluchte. 

background image

Roland stieg ab und fragte: »Seid Ihr verletzt?« 
»Ich hab' mir das Bein gebrochen, verdammter Bockmist!« heulte 

der Alte. »Hätte ich mich doch nie  auf einen Kampf mit Euch 
eingelassen! Aber wie konnte ich denn ahnen, daß Ihr mich hier 
überfallt?« 

Roland wollte ihm heftig auf diesen erlogenen Vorwurf entgegnen. 

Doch da bemerkte er, daß dem tückischen Alten beim Sturz der 
Helm vom Kopf gerollt war. Auch er hatte rotes Zottelhaar  - wie 
Gottlieb! Eine Ahnung stieg in ihm auf. 

»Seid Ihr etwa Gottliebs Vater, alter Mann?« fragte er. 
»Wer denn sonst? Der Scheißkerl hat das Fluchen und Betrügen 

doch von mir geerbt!« 

»Ich hoffe, dies wird Euch eine Lehre sein«, sagte Roland. Er griff 

nach dem Schwert des Besiegten und zerbrach es über dem Knie. 
Das gleiche tat er mit seiner Lanze. Inzwischen kamen Samum und 
der Fuchs im Schritt heran und warteten geduldig auf das, was nun 
folgen sollte. 

»So helft mir doch, Dreckschwein!« stöhnte der Alte. »Wollt Ihr 

mich etwa mit gebrochenem Bein liegenlassen?« 

»Warum nicht?« fragte Roland ungerührt. »Ihr wolltet mich ja 

sogar umbringen  - und beinahe wäre es Euch gelungen. Verlangt 
nicht, daß ich mich um Euch kümmere! Ich bin Eure Beleidigungen 
und Tücken leid. Ihr seid nicht Gottliebs guter, sondern sein böser 
Geist.« 

Da änderte der Alte sein Benehmen. »Verzeiht mir, Roland. Ich 

bitte Euch tausendmal um Verzeihung! Ich habe gesündigt. Ich war 
verblendet. Man hat mich zu dem Überfall angestiftet...« 

»Spart Euch Eure Lügen!« versetzte Roland, der indessen seine 

eigene Lanze geborgen hatte. Er bestieg Samum und nahm den Fuchs 
am Zügel. »Früher oder später werden Eure Männer Euch finden. Ich 
aber möchte Euch nie wiedersehen. Darum hütet Euch, mir je wieder 
unter die Augen zu treten!« 

Wenige Augenblicke später schlug er den Pfad zwischen den 

Felsblöcken ein. Als letzten Gruß des alten Mannes hörte er dessen 

background image

wutentbranntes Gekrächze: »Du gemeine Wildsau, du  verrückter 
Bastard ...!« 

Wie Roland vorausgesehen hatte, wurde der Verletzte einige 

Stunden später geborgen. Einer der geflohenen Bogenschützen hatte 
auf der Waldburg von dem mißglückten Scharmützel berichtet. 

Der Grobe Gottlieb belegte seinen Vater mit  allen Schimpfwörtern, 

die der ihn einst gelehrt hatte, und erfand bei dieser Gelegenheit noch 
einige neue, deren Saftigkeit und Verworfenheit alle seine früheren 
Schöpfungen auf diesem Gebiet weit übertrafen. Gottliebs Vater 
wurde auch von Haggan streng ins Gebet genommen. 

»Wie konntet Ihr versuchen, ihn umzubringen?« schimpfte der 

Gräßliche und sah in seiner Wut zum Fürchten aus. »Ich habe alles 
so eingefädelt, daß Roland den gräßlichsten Tod erleiden wird, den 
es für einen Ritter gibt. Und das noch dazu auf Camelot  - von der 
Hand der eigenen Freunde!« 

Freude herrschte im Schloß. Der Totgeglaubte war gesund 
zurückgekehrt! 

Volker ließ Jubelhymnen erklingen. Die Knappen liefen mit 

strahlenden Gesichtern umher. Während Rolands Abwesenheit hatte 
Pierre Dienst in der Küche genommen, wie es seiner Natur 
entsprach. Louis dagegen erteilte jungen Rittern Fechtunterricht, 
denn darin hatte er es fast zur Meisterschaft gebracht. 

Heide hörte die Kunde und wurde vom Übermaß der 

widerstreitenden Gefühle geschüttelt. Mal drängte es sie, zu Roland 
zu eilen, sich an seine Brust zu werfen, ihn zu umarmen und nie 
wieder loszulassen. Mal beschloß sie mit verhärtetem Gesicht, so zu 
tun, als gäbe es ihn nicht, ihn zu meiden, solange er im Schloß war. 
Er war und blieb ein  Verräter an ihrer Liebe. Oder täuschte sie sich? 
Hatte sie die Szene mit Griseldis falsch gedeutet? 

So schwankte die arme Heide und durchlief in einer Stunde die 

ganze Skala menschlicher Gefühle von innigster Sehnsucht bis zu 

background image

abweisendem Starrsinn. Bei alldem verrichtete sie mit großer 
Selbstbeherrschung weiter ihren Dienst als Hoffräulein der Königin. 

Stundenlang erzählte Roland vor dem König und der Tafelrunde 

von seinen Abenteuern, und der Jubel wurde unermeßlich, als er 
ankündigte, er habe Haggan gefangengenommen ... 

»Wo ist er?« fragten sie durcheinander. Die Ritter waren 

aufgesprungen und umstanden Roland dicht. Selbst König Artus war 
ungeduldig. »Wo habt Ihr ihn verborgen?« 

Es kostete Roland einige Anstrengung, die Wahrheit zu sagen, die 

jetzt in seinen eigenen Ohren wie ein unerhörter Fehltritt klang. »Ich 
ließ ihn in der Waldburg zurück«, gab er schließlich fast tonlos zu. 
»Er gab mir sein Ehrenwort, später selber nach Camelot zu folgen. 
Zehn Tage Frist gab ich ihm. Er hatte Spielschulden, die er 
begleichen mußte.« 

Ein Raunen erhob sich. Die Ritter prallten zurück. Verwunderte 

Blicke trafen Roland. Der König legte die Hand vor die Augen. 
Stimmengewirr erhob sich. Roland kam sich wie ein Verfemter vor. 

Und bald war er es auch. Er verschlimmerte  seine Lage noch, als er 

von seiner Überzeugung sprach, Haggan der Gräßliche sei 
unschuldig. Als er Griseldis und ihre Aussagen erwähnte, ging 
Zorngeschrei durch den Saal der Tafelrunde. 

Denn Griseldis war zu der Zeit, als Roland sie auf Atzerath 

gesehen  haben wollte, verwahrlost und halb verhungert in ihrem 
Haus in Rivage tot aufgefunden worden. 

Unverzüglich schickte man Boten zur Waldburg, die wenige Tage 

später mit der Meldung wiederkamen: »Roland hat dort übernachtet 
und sich ungebührlich benommen, so  daß sie ihm das Tor wiesen. 
Ein Haggan wurde dort nie gesehen!« 

Und die zehn Tage, die er Haggan auf Ehrenwort gewährt hatte, 

waren längst vergangen. 14 Tage, 20 Tage ... 

Nun sah auch Roland ein, daß er sich hatte betrügen lassen. Er 

schalt sich einen Leichtfuß, einen Dümmling, einen Narr. 

Doch die Ritter, an der Spitze König Artus, nannten ihn anders. 

Für sie war er ein Verräter, der den gefährlichsten Feind, den das 

background image

Land je gehabt, unterstützte! 

Roland kam in Haft. 
Die Ereignisse überstürzten sich. 
Eines Tages wurde er vor das heilige Geheimgericht gebracht. Nie 

klangen die Anklagen, die der greise Wilhelmus vorbrachte, 
bezwingender in seinen Ohren. Nie erschien ihm seine eigene 
Verteidigungsrede schwächer, unglaubwürdiger und verächtlicher! 

Mit Demut vernahm er den Spruch des Gerichts. Entritterung! Nur 

unklar war ihm, was das bedeutete. 

Volker vom Hohentwiel, der ihn tags darauf im Haftzimmer 

besuchte, klärte ihn auf. Entritterung war die schwerste Strafe, die 
einen Ritter treffen konnte. Er verlor seinen gesamten Besitz, 
Rüstung, Waffen und Pferde. Er verlor seine Ehre und seinen Stand. 
Er wurde verflucht. 

Wenn all dies überstanden war, gab es zwei Möglichkeiten. 

Entweder wurde er vor allem Volk hingerichtet, oder er wurde auf 
Lebenszeit aus dem Land verbannt. Das heißt: Er war vogelfrei. 
Jedermann hatte das Recht  - ja, die Pflicht ihn wie einen tollen Hund 
zu töten ... 

Vernichtet blieb Roland zurück. Zwar hatte ihm sein Freund einen 

Befreiungsplan auseinandergesetzt, der geringe Möglichkeiten des 
Gelingens aufwies. Aber Roland wollte davon nichts wissen. Das 
Gefühl des eigenen Versagens saß zu tief in ihm. Lieber wollte er die 
schwerste Strafe auf sich nehmen, als andere Menschen, seine 
Freunde, in den Strudel seines Untergangs mit hineinzureißen. 

Die Tage vergingen in der Qual der erzwungenen Untätigkeit, der 

Haft auf engem Raum. 

Die Nächte brachten Selbstvorwürfe, Angstzustände und dann 

wieder wahnwitzige Hoffnungen auf ein erlösendes Ereignis. 

Einmal besuchte ihn die Königin. Sie kam nicht in seine Zelle, 

sondern sprach ungesehen aus einer Nische hinter dem Gitter zu ihm. 
Sie überbrachte ihm einen Vorschlag, den sie aus Mitleid für ihn 
ersonnen hatte. Artus hatte sein Einverständnis gegeben. 

»Es gibt noch einen Weg, Euch zu retten«, sprach sie. »Ihr müßt 

background image

von Euren bisherigen Träumen und Zielen ablassen. Ihr müßt 
schwören, Euch ewig verborgen zu halten und nie wieder einem 
Menschen unter die Augen zu treten. Dann läßt Euch der König bei 
Nacht und Nebel in ein fernes kleines Kloster bringen, dessen strenge 
Gesetze gefürchtet sind. Dort werdet Ihr als Mönch in karger Zelle 
bei 18 Stunden Arbeit und Gebet am Tag Euer Leben verbringen.« 

Hochfahrend lehnte Roland den Vorschlag ab. »Für ein solches 

Leben bin ich nicht gemacht!  Ich würde verkümmern. Verlassen Sie 
mich, Königin! Sie quälen mich nur ...« 

Enttäuscht schritt sie hinweg. Ihr Herz blutete für den Jüngling. 
Und dann kam die Nachricht, daß die Entritterung auf den 

Donnerstag der nächsten Woche festgesetzt worden sei. 

Volker gab keine Ruhe. Zusammen mit dem Knappen Louis ritt er 

zwei Tagesreisen weit, fast ständig im Galopp, bis sie ins Gebirge 
kamen und nach längerem Suchen Rolands alten Lehrer, den 
frommen Einsiedler Klaus, auf seinem hohen Felsen fanden. Ihm 
trugen sie alles vor. Der Alte lauschte, ohne seine Gefühle zu 
verraten. Aber ein Blick in das verwitterte, vom Frost gegerbte 
Gesicht zeigte, wie sehr er unter den Nachrichten litt. 

Als Volkers Bericht beendet war, dachte der Einsiedler lange nach. 

Mehrmals schien er eine Idee zu haben. Er setzte bereits zum 
Sprechen an, um sie den beiden Ratsuchenden mitzuteilen. Aber 
dann kam immer eine resignierende Handbewegung, und die Idee 
blieb unausgesprochen. Er hatte sie verworfen. 

Klaus holte unter Moos und Reisig ein in Schweinsleder 

gebundenes altes Buch hervor und blätterte darin. Stunden 
verstrichen. Geduldig wartete Volker. Aber Louis hielt es nicht aus. 
Er schweifte inzwischen umher und erlegte zwei Fasane, die er dem 
Alten zu Füßen legte. 

In diesem Augenblick  hatte Klaus offenbar seinen Entschluß 

gefaßt. Er schloß das schweinslederne Buch, auf

 

dessen Seiten es von 

Zeichen und Zeichnungen wimmelte, barg es wieder unter Moos und 
Reisig und sprach mit großer Ruhe und Bestimmtheit. Er gab seinen 
Rat, der aber in den Ohren der beiden mehr als verwunderlich, ja, 

background image

unbegreiflich klang. 

Dennoch bedankten sie sich und überbrachten Roland den Rat 

seines alten Lehrers, verbunden mit tiefen Glückwünschen. »Klaus«, 
berichtete Volker, »glaubt nicht eine Stunde, daß du dich  an den 
Gesetzen des Rittertums vergangen hast.« 

Auch Roland fand Klaus' Rat seltsam. Doch als die Stunde kam, 

als ihn der Herold nach seinem letzten Wunsch fragte, antwortete er 
mit den Worten des weisen Einsiedlers: »Ich möchte, daß die 
Entritterung um einen Tag auf Mittwoch vorverlegt wird!« 

Und so wurde es angeordnet... 

Frage niemand, ob Roland in dieser Nacht Schlaf fand! Als die 
Büttel um sechs Uhr morgens kamen, um ihn mit groben Worten zu 
wecken, war er jedenfalls schon wach und erwartete sie stehend. 

Die Suppe  - Hirse mit Rindfleisch  - war heiß. Roland aß langsam 

und mit Bedacht. Der Koch, eine gute Seele, hatte sich Mühe 
gegeben. 

»Warum soll ein zum Tode Verurteilter schlechter essen als ein 

König?« hatte er gesagt. »Wäre es nicht wunderbar, wenn er in 
seinen letzten Augenblicken noch voll Dankbarkeit an mich und 
meine gute Suppe denkt?« 

Roland genoß jeden Bissen, jeden Schluck der Mahlzeit, die seine 

letzte sein sollte. 

Eine Stunde später ritten von den entgegengesetzten Schmalseiten 

des Turnierfelds zwei gerüstete Reiter aufeinander los. Dämmerung 
lag noch über dem vom Schnee geräumten graugelben Gras. Im 
Osten schob sich gerade der oberste Rand der blutroten 
Sonnenscheibe über den flachen Horizont. 

Stumpf 'schimmerte das Metall der Rüstungen. 
Weit griffen die Pferde aus. Immer schneller wurde ihr Galopp. 

Drei Trompeter schmetterten eine anfeuernde Melodie in den kalten 
Winterhimmel. Unter einem farbenprächtigen Baldachin, den 

background image

kunstvolle Wappen, Figuren und Malereien zierten, saß König Artus 
mit blassem, starrem Gesicht, umgeben von den Rittern der 
Tafelrunde. 

»Das Gottesurteil!« sagte der alte Wilhelmus in das lastende 

Schweigen. 

Das Gottesurteil! Volker vom Hohentwiel hatte es überraschend 

am gestrigen Tag angerufen. Im Kampf mit einem vom König 
bestimmten Ritter wollte er seines Freundes Roland Unschuld 
beweisen. Denn in jenen Tagen glaubte man fest daran, daß Gott in 
strittigen Fragen durch das Ergebnis eines Ritterkampfes den 
Menschen die Wahrheit enthüllte. 

Wenn Volker siegte, mußte Roland freigelassen werden! 
Aber sein Gegner war ein Mann, der im Jahr zuvor nicht weniger 

als vier Turniere glänzend gewonnen hatte. Douglas Heißsporn, der 
jüngere Bruder des erschlagenen Percy. Sein Blut war so feurig wie 
sein loderndes rotgoldenes Haar, das ihm gleich einer Flammenkrone 
ums Haupt lag. Sein Auge war falkenscharf. 

Die Lanze führte Douglas mit traumhafter Sicherheit. Man sagte 

ihm nach, daß er oft des Nachts bei völliger Dunkelheit unter 
mondlosem Himmel zu Pferde saß und an einem Gerüst mit 
drehbarer Scheibe den Lanzenstoß übte. Angeblich traf er in der 
Finsternis so sicher wie am hellen Tag. 

Die Hufe der beiden Pferde donnerten über den steinhart 

gefrorenen Boden. Durch die Augenschlitze des geschlossenen 
Visiers sah Volker den Gegner schnell größer werden, so rasend 
näherte er sich ihm. Nur noch ein Atemzug  - und da waren sie schon 
auf Lanzennähe! 

Volker zielte gut. Er traf Douglas an der Schulter. Aber die 

Lanzenspitze schrammte über die Rüstung, wurde abgelenkt und 
rutschte über Douglas Heißbluts Schulter hinweg ins Leere. 

Dessen Lanzenstoß erschütterte Volker schwer. Ein furchtbarer 

Ruck ließ seinen Körper beben. Ihm war, als wäre aus mächtiger 
Höhe ein Felsblock auf seine Brust gefallen. Glühender Schmerz 
breitete sich unter seinen Rippen aus. Er wollte Luft holen  - und 

background image

konnte nur stöhnen vor Qual. 

Mit dem Rücken war er heftig gegen die erhöhte Sattelstütze 

geprallt. Nur sie bewahrte ihn vor einem Sturz, der die sofortige 
Niederlage bedeutet hätte. 

Was man sich über Douglas Heißsporn erzählte, schien also zu 

stimmen! Der leidenschaftliche, ungebärdige Junge war ein noch 
größerer Kämpfer als einst sein Bruder. 

Volker ließ sein Pferd betont langsam bis ans Ende des 

Turnierfeldes traben, wo das weiße Schneeband begann. Er brauchte 
Zeit, um sich von dem Lanzenstoß zu erholen. 

Ungeduldig wartete auf der anderen Seite Douglas, der kurz 

gewendet hatte. 

Der schmerzende Ring um Volkers Oberkörper lockerte sich 

allmählich. Nun wendete auch er sein Pferd. 

Der zweite Turniergang begann. Und wieder galoppierten sie 

aufeinander zu! Wieder sah Volker den Gegner wachsen und immer 
größer, immer drohender aufragen. 

Da veränderte Douglas Heißblut ein wenig die Richtung seines 

Rittes, und Volker schaute genau in den Sonnenball, der jetzt eine 
Handbreit über dem Horizont schwamm und nicht mehr rot und kalt 
erschien, sondern gelb und glühheiß. Im nächsten Augenblick 
tanzten goldene und orangefarbene Flecken vor Volkers Augen, und 
die Gestalt des gegnerischen Ritters verschwand in dem glühenden 
Farbenwirbel. 

Ziellos stocherte die Lanze des geblendeten Minnesängers in der 

Luft. Den Gegner berührte sie nie. Aber Douglas' Lanze hob Volker 
mit Urgewalt aus dem Sattel. Da halfen nicht mehr der feste Griff am 
Zügel, der sichere Stand in den besonders starken Steigbügeln und 
die erhöhte Sattellehne. Von seines Pferdes Rücken stürzte Volker, 
jeden Halts beraubt, in seiner schweren Rüstung auf den steinhart 
gefrorenen Boden. 

Der helmgeschützte Kopf schlug zuerst auf, und es war der Helm, 

der den Sänger vor einem Schädelbruch bewahrte. Aber er verlor die 
Besinnung und blieb den ganzen Tag über ohne Bewußtsein und 

background image

konnte sich, als er tags darauf erwachte, nicht mehr an den Kampf 
erinnern, und die Erinnerung sollte auch nie wiederkehren. 

Erschüttert sagte der König mit erloschener Stimme: »Gott hat sein 

Urteil gesprochen! Roland ist schuldig. Das Urteil ist gerecht, das 
wir gesprochen.« Er fuhr sich mit der Hand über die Augen und sagte 
mit einer Stimme, die kaum die Nächststehenden verstanden: »Die 
Entritterung soll beginnen!« 

In den alten Augen des Ritters Wilhelmus blitzte es von 

jugendlicher Rachsucht. Nie hatten seine Hände seinen langen 
weißen Bart mit so zufriedenem Behagen gestrichen wie heute. 

Die drei Trompeter hoben ihre Instrumente der Sonne entgegen, 

die einen strahlendhellen Tag versprach, und bliesen eine 
triumphierende Melodie. 

Douglas Heißblut ritt vor den Baldachin des Königs und grüßte mit 

formeller Geste. 

Nun war auch dem Dümmsten klar, daß Roland verdammt war, in 

die Erde zu fahren, und die Zukunft dem Jüngling mit dem 
Flammenhaar gehörte! 

Roland betete. Das Gebet war kurz. Er betete nur um die Kraft, 
würdig in den Tod zu gehen. Er glaubte nichts anderes, als daß er auf 
einer Anhöhe vor der Burg durch einen raschen  Schwertstreich ent-
hauptet werden würde. 

Aber seiner wartete die fürchterlichste Zeremonie, die ein 

Menschenhirn sich erdenken konnte, um einen Mitmenschen nicht 
nur vom Leben zum Tode zu bringen, sondern ihn vorher noch auf 
alle erdenkliche Arten zu quälen und zu demütigen. 

Zu seinem Erstaunen brachte man ihm seine vollständige Rüstung, 

und er mußte alles anlegen. Helm, Harnisch, Brünne, Beinschienen 
und Eisenschuhe. Nur eine Waffe gab man ihm nicht. Zuletzt drückte 
man ihm noch seinen Schild in den Arm,  der mit dem Würfel und 
dem einen Auge darauf - Erinnerungen an eigene Narrheit. 

background image

Die Sonne stand schon zwei Handspannen über dem Horizont, als 

sie ihn ins Freie führten. Aber wie sehr hatte sich das Bild verändert! 
Tausende füllten jetzt den Turnierplatz, in dessen Mitte ein Galgen 
errichtet war. 

Roland erschauerte, als er ihn sah. So sollte er denn eines 

unwürdigen Todes sterben - wie ein gemeiner Mörder und Räuber! 

Wie eine Statue saß König Artus unbeweglich unter dem 

Baldachin, umgeben von den Rittern der Tafelrunde. 

Von nah und fern war das Volk herbeigeströmt, um den Tod eines 

seiner Lieblinge mitzuerleben. Es herrschte eine merkwürdig geteilte 
Stimmung. Viele gab es, die sich darauf freuten, einen stolzen jungen 
Mann, der so lange vom Glück begünstigt schien, erniedrigt, 
gedemütigt und schließlich hingerichtet zu sehen. Es waren die ewig 
Zukurzgekommenen, die Neider, die Mißgünstigen. 

Weit größer aber war die Schar derer, die Roland  aus tiefstem 

Herzen bedauerten. Viele Augen füllten sich mit Tränen, als sie ihn 
erblickten. Frauen wehklagten laut. Männer gaben ihrem Mitleid für 
den Helden beredten Ausdruck. 

Noch jetzt wirkte der Ritter mit dem Löwenherzen strahlend im 

vollen Glanz seiner Rüstung, in der sich die Sonnenstrahlen 
spiegelten. War er nicht das vollendete Abbild edler Jugend, freien 
Mutes und guter Sitten? Hatte er nicht immer, wie sein Rittereid es 
ihm auferlegte, die Armen und Schwachen, die Hilflosen und 
Unglücklichen beschützt, die Lasterhaften bekämpft und die Feinde 
des Volkes vernichtet? 

So führten sie ihn zum Schafott. 
Rufe des Mitleids drangen an sein Ohr, Schluchzen und 

Wehklagen ergriffen sein Herz. Flüchtig dachte Roland daran, daß er 
noch 24 Stunden hätte leben können, wenn er dem Rat des alten 
Klaus nicht gefolgt wäre und nicht als letzten Wunsch die 
Vorverlegung der Entritterung um einen Tag erbeten hätte. 

Aber der alte Klaus hatte in geheimnisvollen Andeutungen von 

Rettungshoffnungen gesprochen, wenn er  sich für den Mittwoch 
entschied. 

background image

Roland wußte nun, daß jede Hoffnung unnütz war. Und gerade 

jetzt lockte ihn das Leben wie nie zuvor. Die kalte, klare Luft brachte 
schon die Verheißung des Frühlings mit sich. Jeder Blick in die 
Runde zeigte ihm, wie schön  die Welt war, wie herrlich der Schnee, 
wie unergründlich der blaßblaue Himmel! 

Und er war doch noch so jung! Er hatte sein Leben kaum 

begonnen. Und er mußte sterben, weil er allzu treuherzig einem 
besiegten Feind aufs Ehrenwort geglaubt hatte. 

Aber nun erkannte er auch, daß das Urteil gerecht war. Durch seine 

Schuld blieb Haggan weiterhin eine große Gefahr für alles Land und 
Volk. Schmählich hatte er König Artus' väterliche Mahnungen in den 
Wind geschlagen und seinen Auftrag gleichsam verraten. 

Hinter dem Galgen saßen zwölf ernste Mönche in schwarzen 

Kutten wie ebenso viele düstere Raben. Als Roland ihnen näher kam, 
sah er ihre Augen trauernd, aber auch streng auf sich gerichtet. Mehr 
war von den Gesichtern nicht zu erkennen. 

Auf ein Wort der Büttel blieb Roland stehen. Sie banden ihn mit 

Stricken, verschnürten sie unter den Armen und zogen ihn daran am 
Galgen in die Höhe. Den Schild nahmen sie ihm weg und hängten 
ihn verkehrt herum an einen niedrigeren Mast neben dem Galgen. 

Die Mönche begannen zu singen. Es war eine todtraurige Melodie, 

in der alles Elend und aller Jammer der Welt beschlossen schienen. 
Die getragenen Töne versetzten Roland in tiefe Niederge-
schlagenheit, obwohl er kaum die Worte verstand. Nur dann und 
wann hörte er etwas heraus, das so klang wie ... 

Aber nein, das war nicht möglich! 
Er zwang sich, schärfer hinzuhören. Doch da brach der Gesang ab. 

Die Büttel traten an ihn heran und rissen ihm roh den Helm vom 
Kopf. 

Wieder sangen die Mönche. Nach der zweiten Strophe nahmen die 

Büttel ihm mit harten Händen den Brustharnisch weg. 

Wieder Mönchsgesang. Und jetzt unterschied Roland ganz deutlich 

ein nur allzu bekanntes Wort. 

Was immer die anderen sangen, ein Mönch wiederholte im 

background image

Rahmen der Melodie immer wieder das Wort »extraprima«! 

Es war verrückt  - aber das konnte niemand anderer als der 

morgenländische Junge Omar sein. Er war wohl seinem Herrn 
Haggan entlaufen und nach Camelot geflohen. Wie kam Omar unter 
die Mönche? 

Die Mönche waren am späten Abend des vorherigen Tages nach 
langem, ermüdendem Fußmarsch hungrig und durstig auf Camelot 
eingetroffen. Man hatte ein Mahl für sie vorbereitet, das sie in einiger 
Eile einnehmen mußten. Denn nach Mitternacht durften sie weder 
Speise noch Trank genießen und kein Wort mehr sprechen. So 
lauteten die strengen Bräuche. 

Das Mahl war reichhaltig und wohlschmeckend wie alles, was der 

königliche Koch zubereitete. Zu denen, die es in der Gesindestube 
auftrugen, gehörte Pierre. Er hatte drei Mönche zu bedienen, und 
allen dreien erging es sonderbar. 

Auf dem Weg von der Küche in die Stube nämlich mischte ihnen 

Pierre ein geriebenes Pülverchen von starken Eigenschaften in das 
Essen. Doch den Geschmack veränderte es nicht. Ja, eine Stunde 
lang machte es sich kaum bemerkbar. 

Doch als die Mönche sich kurz vor Mitternacht aufs bescheidene 

Strohlager legten, und die letzten Sätze vor dem Beginn des 
Sprechverbots austauschten, machte sich bei den drei Mönchen ein 
Grummeln im Magen bemerkbar. 

Aus dem harmlosen Grummeln wurden ein Rumpeln und Pumpeln, 

ein Zerren, Ziehen und Kneifen. Es war schon eine arge Pein. Die 
drei Unglücklichen meinten, sie hätten sich überfressen, und 
schämten sich ihres Unmaßes. Darum verbargen sie auch sorgsam 
ihren Zustand vor ihren Brüdern. 

Doch es wurde immer schlimmer. Es  kollerte in ihren Därmen, als 

triebe der Teufel da sein Unwesen. Es zwickte und zwackte. Es 
hämmerte und stach. Es würgte und schnitt. Es schmerzte, daß ihnen 

background image

der Schweiß ausbrach und die Tränen über die faltigen Wangen 
liefen. Verstohlen preßten sie die Hände gegen den Leib, zitterten 
und zuckten und wälzten sich. Doch Linderung fanden sie nicht. 

Sie hätten gern ihrem Schmerz durch Gebrüll Luft gemacht. Aber 

das wagten sie nicht. Es hätte ja geheißen, gegen die Bräuche zu 
verstoßen! 

Mittlerweile war den drei armen Seelen zumute, als zerreiße es 

ihnen die Eingeweide. Während ihre Brüder schon schlummerten, 
spürten sie große Not und mußten sich unbedingt erleichtern. Aber 
sie kannten sich im Schloß nicht aus und standen unschlüssig, vor 
Weh und Ach von einem Fuß auf den anderen tretend, in der Stube, 
wo noch eine einzelne Fackel blakte. 

Wo konnten sie den inneren Drang entladen? 
Da erschien Pierre, der Retter in der Not. Die drei Märtyrer liefen 

auf ihn zu und gaben ihm durch Gesten zu verstehen, wonach ihr 
Leib verlangte. 

Pierre ließ sich Zeit. Mit grausamer Schadenfreude tat er zunächst 

so, als begreife er ihr Anliegen nicht. Da griffen sie zu gröberen 
Hilfsmitteln, hockten sich hin und machten mit dem Mund platzende 
Geräusche. 

Erst jetzt faßte Pierre sich  an die Stirn und sagte roh: »So ist das, 

ihr Racker! Dir habt euch überfressen und müßt dringend 
abprotzen!« 

Die drei Mönchlein nickten eifrig. Dazu machten sie fragende 

Gebärden und zeigten mit den Fingern in alle Himmelsrichtungen. 

»Ach, Ihr wißt nicht,  wo der Abtritt ist?« meinte Pierre gelassen. 

»Na, dann folgt mir! Ich werd' Euch das stille Örtchen zeigen. Da 
könnt Dir Euch nach Herzenslust stundenlang erleichtern.« 

Langsam machte er sich auf den Weg, und die drei Mönche folgten 

ihm, während neue Hoffnung ihnen die Qual zu ertragen half. Sie 
hielten sich krumm und schief und führten alle möglichen 
Verrenkungen aus, über die sich Pierre innerlich verlustierte. Denn es 
war keine Kleinigkeit, wacker auszuschreiten, Treppen hinabzugehen 
und dabei, doch die Gesäßbacken eisern zusammenzukneifen, damit 

background image

ja nicht vorzeitig etwas in die Hose ging! 

Endlich standen sie vor einer festen Tür tief unten im Schloß. 

Dahinter lag der älteste, halbvergessene und kaum noch benutzte 
Abtritt. Doch würde er seinen Zweck trefflich erfüllen. Umständlich 
schloß Pierre auf, während die Mönche ihn gestenreich zur Eile 
mahnten. 

Bevor er sie einließ, sagte er mit gutgespielter Besorgnis: »Seid 

vorsichtig, fromme Brüder! Ich rate Euch gut. Legt um Himmels 
willen eure Kutten ab! Ich sehe, Ihr habt sie zur Feier des Tages 
frisch gewaschen. Legt sie ab  - ich halte sie, während Ihr fahrenlaßt, 
was euer Körper nicht bei sich halten kann. Sonst mögt Ihr Euch im 
Drang Eurer Geschäfte noch übel beschmutzen und morgen vor dem 
König und allem Volk ein elendes Schauspiel geben und obendrein 
stinken.« 

In diesem Augenblick hätte er alles von den Ärmsten verlangen 

können. Geschwind legten sie die Kutten ab, und Pierre nahm die 
Gewänder in Empfang. 

Dann trat er beiseite, ließ sie in das dunkle Gemach mit der tiefen 

Grube hinter einem nicht sehr bequemen, aber breiten Balken 
eintreten und schloß die Tür. 

Er verweilte noch eine Weile draußen und lauschte mit herzlichem 

Vergnügen den urwelthaften Lauten, die vom Abtritt herausschallten, 
und er konnte nicht umhin, ihre Vielfalt zu bewundern. 

Es furzte und knurzte. Es hallte und knallte. Es krachte, donnerte 

und strömte. Es riß und schiß. Es war ein gewaltiges Gewitter, das 
dieses unscheinbare Pulver aus Rhabarberwurzel und Sennesblättern 
da zuwege brachte, und Pierre war ein wenig stolz darauf, daß er den 
Männern, denen er zunächst übel mitgespielt hatte, nun so herrliche 
Erleichterung zuteil werden ließ. 

Dann aber fiel ihm mitten bei heimlichem Gekicher der Ernst der 

Stunde ein. Sorgfältig schloß er die eiserne Tür ab und begab sich 
mit den Kutten zu den wartenden Louis und Omar. Kurz berichtete er 
das Vorgefallene, ohne jedoch Einzelheiten zu erwähnen. Die Zeit 
drängte. Sie kleideten sich in die Kutten, schnürten die Hanfstricke 

background image

um den Leib und schlichen in den Schlafraum der Mönche. Niemand 
nahm Notiz von ihnen, als sie sich neben ihnen auf die Matratzen 
legten. 

Rundum sägte beruhigendes Schnarchen. Aber die beiden Knappen 

und der Junge aus dem Morgenlande, der um Rolands Willen seinen 
Herrn Haggan verlassen hatte, taten vor Aufregung kein Auge zu. 
Mit klopfendem Herzen dachten sie an ihr Vorhaben. Und wenn sie 
sich den Ablauf ihres Plans vorstellten, wurde ihnen von Mal zu Mal 
klarer, daß ihr tollkühnes Unternehmen kaum Aussicht auf Erfolg 
hatte. 

Pierre, der eben noch so lustig gestimmt war, schob sich zitternd 

die Faust in den Mund, weil er meinte, er würde sonst vor 
erbärmlicher Angst laut aufschluchzen. 

Noch im Dunkeln wurden die Mönche von Schloßbediensteten 

geweckt und trotteten einer hinter dem anderen den langen Weg zum 
Galgen. Noch immer galt das Sprechverbot, und so bestand 
wenigstens jetzt keine Gefahr, daß jemand die Eindringlinge an ihren 
jugendlichen Stimmen erkannte. 

Von ihren Gesichtern waren sowieso nur die Augen zu sehen. Und 

in der Dämmerung fielen noch nicht einmal die schwarzen 
Glitzeraugen Louis' und die tiefbraunen Mandelaugen Omars auf. 

Nun wurden sie aufgefordert, zum Galgen zu wandern und hinter 

ihm Platz zu nehmen. Abergläubische Furcht preßte Louis das Herz 
zusammen. Verzagt blickte Pierre zu Boden und wagte nicht einmal, 
die Lider zu heben. 

Kein Wunder, daß die beiden Knappen den Galgen nur mit 

Entsetzen wahrgenommen hatten. Vor gar nicht langer Zeit hatten 
ihnen aufgebrachte Bürger selber einmal den Strick um den Hals 
gelegt. Damals hatte Ritter Roland sie im letzten Augenblick gerettet, 
als sie sich schon im Jenseits wähnten. 

Heute mußten sie ihm das Leben retten. Aber sie glaubten nicht 

mehr daran, daß sie es schaffen würden. Die Übermacht war 
erdrückend. Wie sollte inmitten von vielen 100 Bewaffneten und 
Tausenden von Zuschauern dieser tolle Handstreich gelingen? 

background image

Nein, es war unmöglich. Sie würden mit Roland zusammen 

untergehen. 

Nur Omar war ruhig. Zuversichtlich umkrampfte seine kleine, zähe 

braune Hand unter der schwarzen Kutte den scharfen Krummdolch. 

Der Morgen schritt voran. Unter einer Wintersonne, deren ergreifend 
schöne Klarheit Wald, Feld und Schloß märchenhaft verzauberte, 
vollzog sich das düster tragische Schicksal des Ritters Roland, der 
einmal, nur einmal, vom rechten Wege abgeirrt war. 

Nach jeder Strophe im eintönigen, unendlich traurigen Gesang der 

Mönche traten die Büttel zu Roland und rissen ihm mit heftigen, 
absichtlich wilden Bewegungen einen Teil der Rüstung nach der 
anderen ab. 

Nun waren sie bei den Beinschienen. Das letzte würden die spitzen 

Panzerschuhe sein. Danach würden sie seinen Schild vom Mast 
holen und ihn zerschmettern. Und dann ... 

In diesem Augenblick tauchten vier Henker in roten Gewändern 

mit Kapuzen auf. Gemessenen Schrittes näherten sie sich der 
Richtstätte. Ein Raunen des Erschreckens ging durch die 
Volksmenge. Viele Frauen schrien laut und ließen dann ihren Tränen 
freien Lauf. Männer bissen sich auf die Lippen oder knirschten in 
ohnmächtigem Zorn mit den Zähnen. Andere ballten heimlich die 
Fäuste oder wandten die Blicke ab. 

Die vier Henker trugen einen schwarzen Eichensarg. Sie stellten 

ihn wenige Schritte vor dem Mann ab, der wehrlos, seiner Waffen 
und Rüstung beraubt, geschändet, vor aller Augen entehrt, am 
Galgen hing, mit starken Stricken unter den Armen festgeschnürt. 

Die Henker bückten sich erneut und klappten den Deckel auf. Und 

mit brennenden Augen starrte Roland in den offenen Sarg. 

Seinen Sarg! Der Anblick ließ ihn frieren. Mit einem Schlag 

begriff er die ganze Schrecklichkeit des Todes. Eines Todes, den er 
in der Blüte seiner Jugendkraft erleiden sollte. Und warum? Eines 

background image

einzigen Irrtums wegen! 

Es schien, als hegten die Menschen rund um die Richtstätte 

ähnliche Gedanken. Denn ihre Unruhe, wurde immer größer. Die 
Menschen der damaligen Zeit waren öffentliche Hinrichtungen 
gewöhnt. Ohne Mitleid, ja, mit einer gewissen Befriedigung sahen 
sie zu, wenn Verbrecher vom Leben zum Tode gebracht wurden. 
Aber Roland war alles andere ein Verbrecher. Er war bereits ein 
glänzendes Vorbild der Jugend geworden! 

Gewaltsam wendete Roland den Blick von seinem eichenen Sarg 

ab, aber das Frieren blieb. Es war, als sei es plötzlich kälter 
geworden. Kälter und auch ein wenig dunkler, obwohl keine Wolke 
den Himmel trübte und die Sonne sich noch in aufsteigender Bahn 
befand. 

Irgend etwas Unheimliches lag in der Luft! 

Der kleine Graue schnaufte erwartungsvoll, als Heide den Stall 
betrat. Aber er wurde enttäuscht. Seine Herrin würdigte ihn keines 
Blicks und ging eilig an ihm vorbei. 

In langen Reihen standen die Pferde des königlichen Schlosses an 

den Längswänden. Es gab viele edle Tiere darunter. Aber alle 
überstrahlte der herrliche Araber, der Rappschimmel Samum, das 
Pferd Rolands. 

Erkannte er Heide? Wohl kaum. Doch wühlte er zutraulich die 

Nüstern in ihre hochgereckte Hand, als sie bei ihm stehenblieb. 
Wahrscheinlich hätte er jeden so begrüßt, der ihn nach tagelangem 
Herumstehen Aussicht auf einen herzhaften, langen Galopp, ein 
Austoben im Freien verhieß. Denn der ebenso schnelle wie 
ausdauernde Hengst fühlte sich vernachlässigt. Nur selten erschien 
der königliche Marschall, der als einziger Erlaubnis  hatte, ihn zu 
reiten. Der Herr war schon ein wenig ältlich geworden, und wenn 
Samum unter ihm weit ausgriff, wurde es dem Reiter mulmig. 

Samums Erwartungen stiegen, als Heide ihm den Sattel auflegte. 

background image

Sie band ihn los und führte ihn ins Freie. Dort saß sie auf, hielt ihn 
aber mit Schenkeldruck und Zügelführung zunächst im Schritt. 

So kamen sie zur Wache. Drei Männer vertraten ihnen den Weg. 

»Das ist Samum«, rief der erste, »das Pferd des Verräters. Nur der 
Marschall darf ihn ausreiten. Zurück mit euch, Fräulein! Sonst 
müssen wir Gewalt anwenden. Zur Bestrafung melden werden wir 
Euch sowieso!« 

Ein wenig nur entspannte Heide die Muskeln der Oberschenkel. 

Kaum merkbar lockerte sie die Zügel. Und wirklich, nur mit der 
Sporenspitze kitzelte sie die Weichen Samums. 

Der aber rannte los, als wäre ein Rudel hungriger Wölfe hinter ihm 

her. Die Wächter wurden völlig überrumpelt. Einen stieß der Hengst 
mit der Schulter zur Seite, daß der der Länge nach hinfiel. Den 
beiden anderen blieb nichts weiter übrig, als dem 
davongaloppierenden Pferd mit der schönen Reiterin offenen 
Mundes nachzuschauen. 

In Windeseile hatten sie den Waldrand erreicht. 
Der erste Wächter erhob sich vom Boden. »Am besten, wir tun, als 

wäre nichts geschehen«, sagte er. »Sonst kriegt uns nur der Burgvogt 
am Arsch, streicht uns den Sold und läßt uns die Latrinen säubern.« 

»Ganz meine Meinung«, bestätigte der zweite. 
»Es ist ja auch nichts geschehen«, sagte der dritte. »Ich habe 

jedenfalls nichts bemerkt.« 

Sie waren sich wieder mal einig. 
Heide verhielt  vor den kahlen Birken und weißüberzuckerten 

Fichten. Unter ihr lag in der Ferne der Richtplatz. Sie biß sich auf die 
Unterlippe, als sie Roland einsam vor seinem Sarg sah. Auch für sie 
war er ein Verräter gewesen. Ihre Liebe hatte er verraten. Noch hatte 
sie seinen Schwur im Ohr. 

Wenn  ich dir je untreu werde, meine Liebste, dann soll die Sonne 

am hellen Tag verschwinden und mitternächtliche Finsternis den 
heiteren Mittag ersetzen.
 

Und dann hatte er sich Griseldis an den Busen geworfen! 
Ja, sie haßte ihn deshalb. Aber sie liebte ihn auch noch. Und er 

background image

durfte nicht sterben! 

Heide war von den Knappen in deren Plan eingeweiht worden und 

hatte sich sofort bereit erklärt, eine Rolle zu übernehmen. Sie würde 
am Waldrand mit Samum warten, wenn die drei Jungen den Ritter 
befreit hatten. Er brauchte nur zu Fuß ihren Warteplatz zu erreichen. 
Dann konnte er Samum besteigen und mit ihm die Flucht fortsetzen. 

Aber als sie jetzt auf den weiten Platz sah, sank ihr das Herz. 

Selbst wenn es den Knappen und Omar gelang, ihn von den Stricken 
zu befreien, würde er nach wenigen Schritten von den zahlreichen 
Bütteln, von den Rittern oder von Zuschauern eingeholt und 
überwältigt werden. 

»Roland«, flüsterte Heide. Und im Angesicht seines sicheren 

Todes und dem Ende aller ihrer Hoffnungen vergab sie ihm. Ihr Haß 
schwand, und ihre Liebe zu dem Todgeweihten wurde so 
übermächtig in ihr, daß ihr die Sinne schwanden und sie ohnmächtig 
vom Pferde sank. 

Ihre letzte Empfindung war,  daß eine ungeheure Kälte durch die 

Luft schnitt und die Sonne alle Kraft verlor ... 

In der Waldburg hob Haggan einen goldenen Pokal, der wohl zwei 
Liter Wein faßte, und lachte dröhnend. 

Die Ritter Lutz und Gottlieb tranken aus viel kleineren Pokalen. 

»Was ist der Grund Eurer Fröhlichkeit?« fragten sie. Denn seit dem 
Verschwinden seines Lieblings Omar hatte Haggan nur kalte 
Verdrossenheit zur Schau getragen. 

»Gleich sollt Ihr es erfahren«, antwortete Haggan. »Erlaubt, daß 

ich erst diesen Humpen leere.« 

»Etwa auf einen Zug?« meinte Gottlieb listig. 
»Guter Gedanke!« lobte Haggan. »Ich erhielt soeben eine 

Nachricht, die einen starken Trunk verdient.« Er setzte das Gefäß an 
die Lippen. 

»Bei meinem und deinem Arsch, das schaffst du nie!« kreischte 

background image

der Grobe Gottlieb. »Ich wette zehn Dukaten dagegen!« 

»Die Wette gilt!« erwiderte Haggan, und seine finsteren Augen 

waren scharf und stechend wie zwei Messer. Schon hob er den Stiel 
des Glases und begann zu schlucken. Nun war die Reihe an Gottlieb, 
unmäßig zu lachen. Der leidenschaftliche Wetter meinte, noch nie so 
schnell zehn Dukaten gewonnen zu haben. 

Doch bald verging ihm das Lachen. Denn Haggan soff und soff 

und fand kein Ende. Bedenklich ging der Wein im Pokal zur Neige. 
»Hör auf!« schrie Gottlieb. »Setz ab! Du ruinierst dich! Soviel Wein 
auf einen Schlag macht krank!« Ihm bangte es nämlich um seinen 
Einsatz. 

Aber Haggan schluckte unbeirrt weiter, bis nur noch Luft im Glas 

war. Dann setzte er das Gefäß ab und drehte es um. Kein Tropfen fiel 
zu Boden. Er hatte es wirklich leergesoffen. Haggan holte tief Luft, 
warf den Pokal gegen die Wand, daß er zerschellte, und hielt die 
Hand offen hin. 

Mißlaunig zählte ihm der Grobe Gottlieb zehn Goldmünzen in die 

Handfläche. 

Haggan strich sie ein und klopfte dem Verlierer munter auf die 

Schulter: »Nun zieh nicht so ein langes Gesicht, alter Zottelbär! Was 
ich euch jetzt berichte, muß jeden echten Glücksritter und Artus-
Feind fröhlich stimmen. .So hört denn: In dieser Stunde erleidet 
Roland den Tod durch Entritterung!« 

Ein paar Augenblicke lang sahen Lutz und Gottlieb den Sprecher 

überrascht an. Dann fielen sie sich glückstrahlend in die Arme und 
tanzten bärenhaft miteinander. 

»Mehr Wein her!« schrie Haggan, und die Knappen spritzten 

eilfertig herbei. »Mein schlauer Plan gelang. Der einzige Mann, der 
uns die Eroberung Camelots hätte vereiteln können, wird von seinen 
eigenen Leuten umgebracht! Ich habe den Naseweis getäuscht! Ich 
habe den senilen Kopfwackler Artus reingelegt! Ich habe der 
Tafelrunde einen Kandidaten weggenommen, der binnen kurzem 
aller Ruhm in den Schatten gestellt hätte.« 

Die drei Männer ließen sich neue Pokale reichen, taten einander 

background image

Bescheid und tranken in herzhaften Schlucken. Lutz zählte die Ritter 
auf, die er auf seine Seite gebracht hatte. Der Grobe Gottlieb nannte 
seine Lehensmänner, die bisher als Raubritter durch die Lande 
gezogen waren. Und Haggan verwies auf seine Höllensöhne, die es 
vor Kampfbegier kaum noch in der Burg litt. 

»In drei Tagen«, kündigte er an, »reiten wir gen Camelot und holen 

die Krone, die mir gebührt!« 

Johlend fielen die beiden anderen in sein Triumphgeheul ein. Sie 

schlugen sich auf die Schenkel. Sie soffen und prahlten. Sie 
schmiedeten Pläne und trieben ihren Spott über die verblendeten 
Ritter von Camelot und ihren unfähigen König... 

Trotz seiner Trunkenheit bemerkte Haggan als erster, wie unruhig 

die Knappen umherliefen, wie sie mit bleichen Gesichtern heimlich 
untereinander flüsterten. »He, ihr Leute«, rief er mit rauher Stimme, 
»was schleicht ihr mit Geistergesichtern an den Wänden entlang? 
Was schreckt euch? Los, gebt Antwort!« 

Ein Knappe trat zitternd vor, deutete zur Tür und sagte mit 

angstvoll verzogenen Lippen: »Herr, Unheil bahnt sich an. Die 
Sonne ... Die Sonne ... Es ist keine Wolke am Himmel... Aber die 
Sonne ... Sie wird immer kleiner und dunkler!« 

Es war nicht mehr lange bis Mittag, als endlich ein Page die 
verzweifelten Schreie und die Klopfgeräusche der drei im tiefsten 
Abtritt eingesperrten Mönche hörte. Er benachrichtigte den 
Stellvertreter des Burgvogts. Der stieg selber nach unten und schloß 
mit eigener Hand die Tür auf. 

Gestank schlug ihm entgegen. Er rümpfte die Nase. »Wer schrie 

da?« 

Mehr tot als  lebendig, übernächtigt und blaß torkelten ihm in ihren 

härenen Unterkleidern die drei Mönche entgegen, denen Pierre in der 
vergangenen Nacht so übel mitgespielt hatte. Sie sprachen alle 
durcheinander, fielen sich gegenseitig dauernd ins Wort und 

background image

verhaspelten sich vor Aufregung. So dauerte es geraume Zeit, bis der 
Stellvertreter des Burgvogts aus ihren wirren Reden schlau wurde. 

Am liebsten hätte er den Kerlen ja noch einen Tritt in den Hintern 

versetzt. Aber nun hieß es sich sputen. Wer weiß, was das 
hinterhältige Manöver des Pagen Pierre zu bedeuten hatte? War er 
nicht als Knappe mit Roland geritten? Plante er etwa in der 
Vermummung eines Mönches eine Verzweiflungstat unter dem 
Galgen? 

Der Stellvertreter war ein energischer Mann. Er hieß eine Rotte 

von  Knappen sich bewaffnen und stürmte mit ihnen in den 
Wintertag, der ihm nicht mehr ganz so hell erschien wie zuvor, 
obwohl der Himmel in makellosem, zartem Blau schwamm. Irgend 
etwas war mit der Sonne ... 

Er hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. Gefolgt  von den 

Knappen erreichte er den Baldachin, unter dem die Edlen saßen. Er 
unterrichtete den Burgvogt, der ihm sogleich den Befehl erteilte, die 
frechen Kuttenräuber unter dem Mönchschor herauszusuchen und 
abzuführen, ehe sie Unheil stiften konnten. 

Pierre sah die Vorgänge und deutete sie sofort richtig. Das Herz 

schlug ihm, als wolle es die Brust zersprengen. Die Angst lag wie ein 
schwerer Klumpen auf seinen Schultern. Er wußte, sie waren 
entdeckt, ihr Anschlag verraten. 

Wie gehetzt schaute er um sich. Er sprang auf. »Louis, sie holen 

uns!« schrie er mit sich überschlagender Stimme. Wild stieß er den 
Mönch, der vor ihm saß, zur Seite und suchte sein Heil in eiliger 
Flucht. 

Aber der dicke Knappe kam nicht weit. Sternförmig kam die Schar 

der Häscher auf ihn zu. Er versuchte noch, Haken zu schlagen, aber 
schon beim zweiten rutschte er aus und fiel hin. 

Schon saß ihm ein Häscher im Nacken, versetzte ihm gleich ein 

paar Püffe, verdrehte ihm die Arme und zerrte ihm die Kutte von den 
Schultern. Pierre vergingen vor Angst fast die Sinne, als er eine 
wütende Stimme hörte: »Du nachgemachter Mönch kannst dir 
gratulieren! Dir geht's jetzt dreckig! Ich sorge dafür, daß du deines 

background image

Lebens nicht mehr froh wirst, so wahr ich der Stellvertreter des 
Burgvogts bin!« 

Auch Louis war aufgesprungen. Doch er dachte nicht an Flucht. 

Seine Hand tastete unter der Kutte zum Griff des verborgenen 
Kurzschwerts. 

Unschlüssig blieben die übrigen Häscher vor der Gruppe der 

Mönche stehen, die einer dem anderen zum Verwechseln glichen. Sie 
hatten aufgehört zu singen und erhoben sich in großer Verwirrung. 
Zugleich breitete sich eine seltsame Düsternis über dem Gelände aus, 
als bräche die Nacht herein ... 

Und es war doch erst kurz vor Mittag! 
Plötzlich streckte einer der Mönche den Arm aus, deutete auf Louis 

und schrie: »Das ist der zweite! Ergreifen! Ergreift die 
Lumpenhunde.»Noch ehe Louis das Schwert heben konnte, hingen 
zwei Häscher an seinen Armen, und zwei andere entwanden ihm mit 
Gewalt die Waffe. Omar aber duckte sich wieder unter die anderen 
Mönche. Er hatte Louis geopfert, um selber unentdeckt zu bleiben. 
Sein Krummdolch hatte Roland schon einmal gute Dienste geleistet, 
als er ihn ihm im Geheimgemach von Atzerath zum Schutz vor dem 
tobenden Trumm zuspielte ... Roland hatte von dem Zwischenspiel 
überhaupt nichts bemerkt. Seine Augen brannten vor Scham, als er 
zusehen mußte, wie sie seinen Schild zerbrachen, während der 
Wappenherold sein Todesurteil verlas. Rundum lagen im Gras 
verstreut die gezackten Stücke des erprobten Schilds. Rolands Ohren 
dröhnten, als die Trompeten schmetterten und König Artus mit 
weithin schallender Stimme zu reden begann: »Ich enthebe hiermit 
Roland dem heiligen Ritterstand. Seine schmachvollen Sünden wider 
die Gesetze der Ritter sind übergroß und durch nichts zu sühnen.« 

Noch einmal meldete sich der Wappenherold. »Nicht allein Roland 

sei für alle Zeiten verflucht, sondern die sündigen Eltern, die ihn 
geboren, und alle seine Verwandten, Kinder und Kindeskinder. Wer 
auch nur einen Tropfen vom verfluchten Blut dieses Verräters in den 
Adern hat, ist unedel und gemein, für alle Zeiten unwürdig zum 
Waffentragen und zur Teilnahme oder zum Besuch ...« 

background image

Der Herold stockte mitten im Satz und richtete mit einem 

Ausdruck fassungslosen Staunens den Blick zum Himmel, der jetzt 
nicht mehr in freundlichem Blau strahlte, sondern schwarz wie der 
Nachthimmel erschien. Und wie der Herold, so taten es alle. Die 
Mönche, die Büttel, die Häscher, die Henker, die Tafelrunde, die 
schluchzenden Frauen, die Männer des Volks. 

Noch einmal ermannte sich der Herold und fuhr mit belegter 

Stimme fort: »Oder zum Besuch von Turnieren, königlichen 
Hofhaltungen und Versammlungen. Bei Verstoß werden sie zur 
Strafe nackt ausgezogen und als niedere Gemeinlinge öffentlich mit 
Zuchtruten geschlagen werden!« 

Aber niemand auf dem weiten Feld lauschte noch den furchtbaren 

Worten. 

Entsetzen breitete sich unter den Menschen aus. 
Schreie der Angst und Verzweiflung gellten von allen Seiten. 
Dunkler und dunkler wurde es. Es war, als werde die Sonne von 

teuflischer Schwärze aufgesogen, als verlösche sie... 

Wer rief es zuerst, das Schreckenswort? Ein Bauer, eine Frau, ein 

Ritter? 

Genug. Jetzt riefen es in panischer Verwirrung hunderte: »Der 

Jüngste Tag ist angebrochen!« Während sich dieser Ruf wie ein 
Lauffeuer fortpflanzte, erhob sich an anderer Stelle ein Ruf, der 
äußerste Verzweiflung kundtat. 

»Wir sind alle verloren! Die Welt geht unter!« 
Niemanden hielt es mehr an seinem Platz. Obwohl alle überzeugt 

waren, daß Rettung ausgeschlossen war, daß sie alle von der großen 
Dunkelheit, der großen Kälte, dem großen Nichts wie von einem 
Riesendämon verschlungen werden würden, rannten sie nach allen 
Seiten auseinander, als könne man doch irgendwie entkommen, 
wenn man nur die richtige Himmelsrichtung fand. 

Es war ein Chaos ohnegleichen. 
In der Düsternis, in der man kaum die Hand vor Augen sah, stießen 

sich die Menschen gegenseitig nieder, gerieten in unerbittliche 
Prügeleien, schlugen, traten, kratzten, heulten, schrien wie Ver-

background image

dammte und kannten kein Erbarmen gegen den Mitmenschen. Es 
war, als habe ihnen das Verschwinden der Sonne allen gleichzeitig 
den Verstand geraubt und lange überwundene Urängste geweckt. 

Auch Omar war ein einziges zitterndes Bündel Angst. Aber seine 

rechte Hand ließ den Griff des gefährlichen, messerscharfen 
Krummdolches nicht los, den er zu dem vorgesehenen Anschlag 
unter der geraubten Mönchskutte verborgen trug. Und diese seine 
rechte Hand war klüger als sein Verstand, der sich verwirrt hatte. Die 
rechte Hand und das Gefühl des Waffengriffs erinnerten ihn daran, 
daß er geschworen hatte, Roland zu befreien, bevor sie ihn am Halse 
hängten. 

Aber wo war Roland? 
In dem Durcheinander und der fast nächtlichen Finsternis hatte er 

jede  Orientierung verloren. Er wußte nicht, wie oft ihn Fremde 
angestoßen, niedergeschlagen, herumgewirbelt hatten. Seine Augen 
waren tränennaß. Seine Ohren gellten von den Schreien der 
verschreckten Menschen. 

Da sah er nicht weit ein Feuer aufflammen. 
Es kam aus dem lederartigen Schlund Funkenmanns, des 

Feuergauklers. Zusammen mit seinem Kameraden Schiebermann 
hatte er seit dem frühen Morgen einzelne Gruppen in der Menge mit 
den gewohnten Kunststücken unterhalten. Ihre Taschen waren 
schwer von kleinen Kupfermünzen, die man ihnen gespendet hatte. 
Ja, sie hatten einen einträglichen Vormittag hinter sich. 

Als einzige fast erlebten sie das unbegreifliche Ereignis mit 

Gelassenheit. Sie glaubten weder an den Jüngsten Tag noch an 
Weltuntergang oder daran, daß  sie alle verloren seien. Ihrer Natur 
und ihrer Arbeit gemäß hielten sie den plötzlichen Eintritt der Nacht 
am hellen Tag für ein lustiges und bewundernswertes 
Gauklerstückchen des lieben Gottes, dem sie fachmännischen Beifall 
zollten. 

Noch dreimal stob Feuer aus Funkenmanns Mund. In dem Licht, 

das er jeweils für einige Augenblicke verbreitete, gewann Omar die 
Übersicht wieder. 

background image

Er sah, daß es nur ein paar Schritte bis zu dem Galgen waren. Er 

erblickte auch Schiebermann und schloß sich den beiden Gauklern 
an, die jetzt rasch die kleine Anhöhe zum Schafott hinaufstiegen. 

Roland war ganz allein. Seine Bewacher und Henker waren Hals 

über Kopf geflohen. 

Mut strömte in Rolands Herz. Der Himmel selber hatte den 

Fortgang der Entritterung verhindert! Also war er doch nicht 
schuldig, sondern böse List hatte ihn als Schuldigen erscheinen 
lassen. 

Er war gerettet! 
Nun galt es nur noch, die Stricke zu zerreißen, die ihn an den 

elenden Galgen fesselten. Mit seiner Riesenkraft zerrte er daran und 
spürte auch schon, daß  das etwas nachlässig geschlungene 
Flechtwerk an seinem rechten Arm nachgab. 

Roland teilte nicht die abergläubische Furcht des Volkes vor der 

unbegreiflichen Himmelserscheinung. Dafür hatte er bei dem weisen 
Einsiedler Klaus eine zu gute und gründliche Erziehung genossen. Er 
wußte sofort, daß es sich um eine Sonnenfinsternis handelte, die seit 
Anbeginn der Welt in unregelmäßigen, aber stets langen Abständen 
stundenweise auftrat, weil der Lauf der Gestirne es so wollte. 

Sie mochte unwissende Geister verwirren, war aber im übrigen so 

ungefährlich wie das allnächtliche Dunkel. Man konnte sie sogar, 
wenn man die Kenntnisse des Eremiten besaß, vorher auf den Tag 
genau berechnen! 

Nun verstand Roland den Ratschlag seines alten Lehrers Klaus, er 

solle als letzten Wunsch verlangen, den Tag der Entritterung um 24 
Stunden vorzuverlegen. Klaus kannte den Termin der Finsternis 
lange voraus und hoffte, daß Roland, da alle anderen 
Rettungsversuche unsinnig waren, in der allgemeinen Verwirrung 
entkommen würde. 

Heiße Dankbarkeit erfüllte Roland. 
Und mit verstärkter Kraftentfaltung zerrte er an den lästigen 

Stricken. 

Dann sah auch er die Gaukler. 

background image

Fast hatte er den rechten Arm frei, als drei Schatten vor ihm 

auftauchten. Eine zitternde Stimme flüsterte verzagt: »Gleich du  frei, 
Roland. Hier Dolch, ich schneiden, alles extraprima!« 

»Omar!« 
Und von Angst geschüttelt ermannte sich der Junge aus dem 

Morgenland dazu, die Hand mit dem Krummdolch zu heben und die 
letzten Stricke zu zerschneiden. 

Roland fühlte festen Boden unter sich. Arme und Beine waren frei! 

Zwar schmerzten sie nach der langen Fesselung und ließen sich nur 
mit Mühe langsam und schwerfällig bewegen. Aber das würde sich 
bald ändern. 

Funkenmann klopfte ihm freundlich auf die Schulter und sagte in 

seiner mitteilsamen Art, als handle es sich um einen vergnüglichen 
Scherz: »Am westlichen Waldrand unter den Birken und Fichten 
wartet Heide Euer und mit ihr Euer gutes Pferd Samum.« 

Roland fühlte überströmende Freude. Er wollte Omar und 

Funkenmann umarmen und ihnen jubelnd für ihre Hilfe danken. 
Doch da schob sich der dritte Schatten vor die beiden. 
Schiebermann! 

Der Schwertschlucker faßte sich ins Gehege der Zähne, aus denen 

der Griff einer Waffe ragte, die er heute schon an die dutzendmal 
zum Erstaunen seines Publikums tief in seinen Körper gestoßen 
hatte. Jetzt zog er sie mit einer einzigen unnachahmlichen, in langen 
Jahren erlernten kunstvollen Bewegung heraus und drückte sie 
Roland in die Hand. Roland spürte, daß er mit dieser Übergabe der 
leichten Waffe 1000 gute Wünsche verband, obwohl Schiebermann, 
seiner Gewohnheit gemäß, stumm blieb. 

»Und nun«, ließ sich Funkenmann vernehmen, »zeig' ich Euch die 

Richtung, Ritter!« 

Noch einmal riß er das an lodernde Hitze gewöhnte Maul weit auf 

und blies mit aller Lungenkraft. Doch der Feuerstrom war versiegt. 
»Tut mir leid«, sagte er. »Hab' mein ganzes Feuer schon vergeudet.« 

Zum ersten Mal seit Wochen mußte Roland lächeln, so komisch 

erschien ihm dieses Mißgeschick des erfahrenen Gauklers. 

background image

»Keine Sorge«, beruhigte er den zerknirschten Funkenmann. »Ich 

kenne die Richtung. Ich finde Heide unfehlbar!« 

Und das war die Wahrheit. Denn niemand hatte Roland 

angestoßen, niedergeschlagen und herumgewirbelt. Er wußte die 
Himmelsrichtungen genau. 

»Lebt wohl, Freunde!« rief er, und seine Stimme hatte wieder den 

warmen, kräftigen Klang, den sie von ihm kannten. »Ich komme 
wieder.« 

Schiebermanns Schwert schwingend machte er sich auf den Weg. 

Nur die ersten 20 Schritte fielen ihm schwer. Dann begann sein 
junges Blut wieder in gewohnter Weise durch die so lange 
abgeschnürten Adern zu kreisen. Sein Schritt wurde länger. Bald lief 
Roland, leichtfüßig wie eh und je, mit ausholenden Sätzen über das 
Gras, und trotz der nachtdunklen Umgebung hielt er die Richtung 
unwandelbar ein. 

So kam er Heide und Samum rasch näher, und sein Herz schlug in 

heller Vorfreude. 

Heide erwachte aus ihrer Ohnmacht, weil die Kälte ihr schneidend 
ins Fleisch fuhr. Sie schlug die Augen auf und sah nichts. Es war 
stockdunkel! 

Verwirrt richtete sie sich auf. Ein leises Schnaufen erreichte ihr 

Ohr. Samum! 

War es schon Nacht? Unmöglich. Sie konnte nicht so viele 

Stunden im Schnee gelegen haben, ohne zu erfrieren. Irgend etwas 
Ungewöhnliches war im Gange. 

Sie sah zum Himmel auf, der schwarz wie zur tiefsten Nachtzeit 

war, aber nicht den kleinsten Stern aufwies. Doch in halber Höhe des 
Zenits sah sie einen glühenden Ring. Es mußte die Sonne sein. 
Irgend etwas aber verdeckte ihre Scheibe. Nur aus den Rändern 
schossen, schwache Strahlen hervor. 

»Hei - de! Hei - de!« 

background image

Die Stimme drang wie durch eine Watteschicht, aber sie war 

unverkennbar. Roland rief nach ihr! 

»Hier bin ich! Hierher!« 
Sie hörte ihn lange, bevor sie ihn sah. Er mußte schnell gelaufen 

sein, so hastig ging sein Atem. Keuchend überwand er den letzten 
Anstieg. 

Dann lag sie in seinen Armen. 
»Wie kalt du bist«, sagte er voll Mitleid. 
»Wie heiß du bist«, antwortete sie. 
Ihre Lippen verbissen sich ineinander. Erst jetzt sah sie ihn, so 

finster war es noch. Von unten herauf drang Geschrei von 1000 
tobenden, entfesselten, geängstigten Menschen. Sie aber fühlten sich 
unbedroht, frei, gerettet! 

Endlich trennten sich ihre Lippen. Sie rangen nach Atem. Dann 

stieß er hervor: »Wir müssen fort! Wir sind nur sicher, solange diese 
Finsternis dauert. Danach ... Wo ist Samum? Man sagte mir ...« 

»Hier ist er, mein Liebster!« 
Der Hengst drängte sich an seinen Herrn. Roland streichelte 

beglückt seine Flanken. Er fühlte, ob der Sattel richtig saß. Er prüfte 
den Sitz des Steigbügels und des Halfters. Dann saß er auf. Er spürte, 
wie Samum zu trippeln begann. Ungeduld erfaßte das edle Tier. Es 
wollte laufen, rennen, im Galopp über die Erde fliegen ... 

Roland beugte sich hinab und streckte die Arme nach Heide aus, 

um sie vor sich auf Samums Bücken zu heben. Er spürte sie in 
beiden Händen. Doch plötzlich ging ein Ruck durch ihre schlanke 
Gestalt, die er so verzehrend liebte, und er hörte sie rufen: »Mit dir 
reite ich nie mehr! Du hast mich betrogen. Weißt du noch, wie du 
mir Treue schworst?« 

»Und ob ich es weiß! Nie werde ich es vergessen! Es kam aus dem 

tiefsten Grund meines Herzens.« 

»Lügner! Sieh, selbst die Sonne verfinstert sich am hellichten Tag! 

Unerhörtes geschah, weil du es herausfordertest! Dies ist der Beweis, 
daß du mich mit Griseldis betrogst! Laß mich los!« 

Nur fester schlossen sich seine Arme um ihre verlockenden 

background image

Hüften. Er hob sie an. Sie strampelte. Aber seiner Kraft war sie nicht 
gewachsen. Noch ein Ruck, und sie würde vor ihm auf Samums 
Rücken sitzen... 

Da fiel ihm ein, was er ihr in Atzerath geschworen: 
Wenn ich dir je untreu werde, meine Liebste, dann soll die Sonne 

am hellen Tag vom Himmel verschwinden und mitternächtliche 
Finsternis den heiteren Mittag ersetzen!
 

Wie gut er ihr Zappeln, ihr Strampeln, ihren herben Widerstand 

begriff! Der Wortlaut dieses Schwurs schien zu bezeugen, daß er sie 
mit einem anderen Weib, mit Griseldis betrogen hatte. Aber es 
schien nur so! Die Worte der Menschen sagten nicht immer aus, was 
wahrhaftig geschah in der Welt. Worte von Herolden und Worte aus 
Königsmund hatten ihn verdammt, obwohl nie ein Falsch in seinem 
Herzen gewesen war! 

Er zog Heide vollends hinauf und legte seine Arme beschützend 

um sie. Ihm schien, als leiste sie keinen Widerstand mehr. Sie lehnte 
sich an seine Brust. 

Und das Naturwunder, das die Menschen von Camelot so 

unerwartet überfallen hatte, wendete sich zum Gegenteil. Die 
Schwärze gerann zum lichten Grau. 

Schatten lösten sich zu erkennbaren Umrissen auf. Der lichte Ring 

am Himmel verstärkte sich an einer Seite. Die Sonne hatte bereits 
den Umriß eines Viertelmonds. Der Schnee war nicht mehr schwarz. 
Er schimmerte dunkelgrün. 

Roland griff mit der freien Hand in Samums  Zügel. Sein Griff um 

Heide wurde stärker. »Halte dich fest, Liebste, jetzt geht es über 
Stock und Stein!« 

Er gab Samum mit den Fersen das Zeichen zum Angaloppieren. 
Aber der Rappe rührte sich nicht von der Stelle. 
Eine wohlbekannte Stimme rief flackernd: »Halt, Verräter! Keinen 

Schritt weiter. Du stürzt in mein Schwert!« 

Die Welt wurde heller. Vor ihnen stand ein Mann mit edlen 

Gesichtszügen, rot leuchtendem Haar und kraftvollem Körper. Auch 
er trug keine Rüstung, und auch er hielt nur den leichten Fechtdegen 

background image

wie Roland. 

Es war Douglas Heißblut, der im Gottesurteil-Kampf Volker vom 

Hohentwiel überwunden hatte. 

»Roland«, sagte er, und die wiederauferstandene Sonne ließ sein 

Haupthaar lodern. »Jetzt hab' ich dich! Jetzt stirbst du!« 

Schon wurde es lichter. Die Schatten wichen. 
»Flieh, Roland, flieh!« rief Heide angstvoll. 
Doch dafür war es sowieso zu spät. Douglas war schon nahe heran. 

Als einziger hatte er rechtzeitig die Verfolgung Rolands 
aufgenommen. Was scherte ihn die abergläubische Angst des 
Volkes! In seinem feurigen Überschwang kannte er kein  Zagen,  kein 
Zittern. 

Roland glitt vom Pferd und stand nun Douglas gegenüber. Noch 

ein wenig im Halbdunkel, aber deutlich hoben sich die Umrisse des 
Gegners ab. 

Und dann klang es schon hell wie Vogelruf oder Instrumentensang. 

Sie kreuzten die Degen. Sie führten die ersten Schläge. Es war 
Douglas' zweites Duell an diesem Tag, und sicherlich war er zu Pferd 
mit der Lanze ein gefährlicherer Gegner als zu Fuß mit dem Degen. 

Roland drängte ihn schnell in die Verteidigung. Dicht über 

Douglas‘ Haupt tanzte Rolands Degen, und mehrmals konnte der 
Rotkopf erst im allerletzten Augenblick durch eine verzweifelte 
Parade schwere Verwundungen vermeiden. 

Und doch mußte er Schritt um Schritt zurückweichen. 
Ein Ausfall Rolands, der Douglas Heißblut überraschte, schien den 

Kampf endgültig zu entscheiden. Aber da trat Roland mit dem 
vorderen Fuß in ein Kaninchenloch und stürzte  - fast in den 
vorgestreckten Degen des Gegners. 

Douglas stieß einen Jubelruf aus und warf sich auf den Gefallenen. 

Roland empfing ihn mit Fußtritten. So hielt er ihn sich vom Leib, bis 
er wieder auf beiden Beinen stand. 

Beim nächsten Angriff vermied er das tückische Loch im Boden. 

Sein Schlag von schräg oben  fegte Douglas' Degen zur Seite. So viel 
Kraft saß dahinter, daß der heißblütige Jüngling die Hand öffnen und 

background image

seinen Degen fahrenlassen mußte. 

Den Tod vor Augen schwankte Douglas nur ganz kurz. Er war 

tollkühn und furchtlos, aber er war nicht verrückt. Und  nur ein 
Verrückter hätte jetzt weitergekämpft. Douglas wußte, wann er 
verloren hatte. Und daß es dumm war, als Verlierer den Platz zu 
behaupten. 

Also wendete er sich zur Flucht. Jetzt galt es nur noch, das Leben 

zu bewahren. Denn sterben wollte Douglas nicht. Nicht für König 
Artus, nicht für seinen Onkel Wilhelmus, nicht für Camelot. Er 
wollte am Leben bleiben und sich mit der Waffe Ehre und Schätze 
erwerben. 

Douglas floh wie ein Hase, der in der Ackerfurche aufgescheucht 

wurde. In Kürze verschwand er in den Büschen. Roland folgte ihm 
nicht. Auch er war ein Mann auf der Flucht. Je mehr Meilen er 
zwischen sich und Camelot legte, um so besser für ihn. 

Von fern hörte er Douglas’ herausfordernde Stimme: »Dich treff’ 

ich wieder, Verräter! Nie sollst du Ruhe vor mir haben. Und solltest 
du an den Rand der Welt fliehen, ich erwische dich doch!« 

Roland zuckte die Achseln. Als er sich in den Sattel schwang, 

umarmte Heide ihn und küßte ihn glücklich, weil er unverletzt 
geblieben war. 

»Halt dich fest!« rief Roland. »Wir haben einen weiten Ritt vor 

uns. Wir reiten Haggan entgegen - zum Ort der Abrechnung!« 

Als Samum angaloppierte, strahlte die Sonne friedlich und heiter 

wie vor einer Stunde, und nichts erinnerte mehr an die erschreckende 
Finsternis. 

 

Ende des zweiten Teil der Trilogie 

background image

Liebe Ritter-Roland-Freunde, 
in 14 Tagen kommt mit dem Band 30 der letzte Teil der 
Trilogie von Ekkehart Reinke auf den Markt. Die Spannung 
ist groß. Wird Roland seine Ritterwürde  zurückerhalten? 
Mit Band 30 beenden wir auch vorzeitig die Ritter-Roland-
Reihe. Wir müssen diesen Schritt wählen, weil die 
Leserschaft nicht groß  genug war.  - Allen Ritter-Roland-
Stammlesern möchte ich an dieser Stelle für  ihre Treue 
danken. »Steigen« Sie nächste Woche ein in:
 

Die Schlacht um 

Camelot 

Der Posten am niedergebrannten Wachfeuer spähte 
angestrengt in den Morgennebel. Er weckte seine schlafenden 
Kumpane. »Da kommen zwei!« warnte er.  Die Männer sprangen 
auf, griffen zu ihren Spießen und starrten in die weißen 
Schwaden, aus denen sich zwei Gestalten auf derben 
Bauernpferden lösten.  Der größere Reiter hatte struppiges 
braunes Haar. Von seinem Gesicht war nichts  zu erkennen. Es 
wurde von einer schwarzen Maske verdeckt. Als sie auf 20 
Schritte heranwaren, schrie der Posten: »Halt! Wer da?«  Die 
beiden Reiter ließen sich nicht beirren. Sie kamen immer näher. Der 
kleinere, der  schmächtig in den Schultern, aber mächtig in der 
Leibesmitte war, zog sein Schwert  und stach es steil in die Luft. 
Einige Strahlen, die in diesem Augenblick als Vorhut der Sonne 
durch den Nebel schossen, ließen die Spitze der Klinge rot 
erglühen.  »Platz für den schwarzen Ritter!« schrie der Dicke. »Wer 
den Weg nicht freigibt, der stirbt!«