Rolands Entritterung
von Ekkehart Reinke
scanned by : horseman
kleser: Larentia
Version 1.0
Freiwillig meldete sich Funkenmann, der Gaukler, für die
erste Nachtwache.
Volker vom Hohentwiel sah ihm fest in die unsteten
Augen und sagte mahnend: »Dies ist wildes Land. Mensch
und Tier sind uns feindlich. Sperre also die Ohren auf, und
halte die Augen offen! Geh nicht in den Schein des
Lagerfeuers! Bleib im Dunkel! Und nach zwei Stunden
wecke Louis, der dich ablösen wird!«
Funkenmann versprach alles, aber der Gaukler war ein
leichtsinniger Kerl. Er wartete nur ab, bis Volker, die
Knappen Louis und Pierre und sein Kumpan
Schiebermann fest eingeschlafen waren. Dann streckte er
sich am Boden aus, zog die Decke über die Ohren und
schloß die Augen. Bald schlief auch er.
Und niemand sah oder hörte die finsteren Gestalten, die
sich mit Mordgedanken heranschlichen.
Sie wurden von Trumm angeführt. Der grauhaarige Riese besaß
gewaltige Körperkraft. Seine unerschöpfliche Ausdauer war allen
Strapazen spielend gewachsen. Tagelang schon folgte seine Horde
den Spuren Volkers und seiner Gefährten. In dieser Nacht wollten sie
den Gejagten endgültig den Untergang bereiten.
Trumm verpflichtete sie, beim Anschleichen nicht das leiseste
Wörtchen zu flüstern. »Wer sein Maul aufmacht«, warnte er, »dem
stopfe ich es persönlich - und für immer!« Als einzige Waffen
nahmen sie kurze, scharfgeschliffene Messer mit. Kein Stahlgeklirr
sollte ihre Annäherung verraten.
Mit drei Schritten Abstand nach links und rechts glitten Trumms
Männer über den hartgefrorenen Waldboden. Schneelöcher
umgingen sie. Jeder Baum, ob Fichte, ob Buche, bot willkommene
Deckung. Und zu keiner Zeit ließen sie das niedrige Lagerfeuer aus
den Augen.
Nach einer Stunde gebot Trumm Halt. Sie waren kaum hundert
Klafter von den Feinden entfernt, die sich offenbar zur Ruhe
niedergelegt hatten. Dann schickte der Anführer den kleinsten und
leichtesten Mann als Späher los. Unhörbar entfernte sich der
Auserwählte. Geduldig harrten die anderen. Während sie auf der
steinharten Erde lagen, kroch die Kälte in ihre Körper, und mancher
mußte die Zähne aufeinanderbeißen, damit sie nicht laut zu klappern
begannen.
Klamme Hände krallten sich um gerillte und gekerbte
Messergriffe. Zäh tropfte die Zeit.
Dann war der Späher plötzlich mitten unter ihnen. Ungehört und
ungesehen war er zurückgekommen und raunte in Trumms Ohr
seinen Bericht: »Sie schlafen alle - fest. Nicht mal eine Wache haben
sie ausgestellt. Sie fühlten sich wohl allzu sicher. Es ist eine
Kleinigkeit, sie zu überrumpeln.«
Trumm hörte es voller Genugtuung. Dann befahl er den Angriff.
Nacheinander kroch jeder zum Nebenmann und gab ihm durch
Armauflegen den Befehl bekannt.
Noch langsamer und vorsichtiger bewegte sich die Kette der
Angreifer auf das Lagerfeuer zu. Sie hatten die Schuhe mit Lappen
umwickelt. So wurden sie lautlos wie Katzen. Ab und zu nur knackte
ein Zweig. Zweimal brach ein aufgestörtes Stück Wild durchs
Unterholz. Dann erstarrten sie alle mitten in der Bewegung und
rührten sich lange Zeit nicht mehr. Das lauteste Geräusch, das sie
von sich gaben, war das Atmen - ein Hauch, den kein Schläfer
wahrnehmen konnte.
Zum letzten Mal verharrten sie an der Lichtgrenze des Feuers.
Tiefgeduckt führten sie die Messerhand zum Mund und klemmten
den Griff der Klinge zwischen die Zähne. Denn von hier aus wollten
sie auf allen vieren, dem Boden angeschmiegt, weiterkriechen.
Schon konnten sie die Gestalten der Schläfer im zuckenden Licht
der Flammen ausmachen. Jeder nahm sich einen zum Ziel. Vielleicht
noch hundert Atemzüge waren denen vergönnt. Dann würden sie
dem Ritter, den Knappen und den beiden Gauklern schwer auf der
Brust hocken. Und im Augenblick des Erwachens würden die
Überfallenen mit dem Messer in der Kehle auch schon wieder
entschlummern - für immer ...
*
Den tiefsten Schlaf hatte Louis. Sein wechselvolles Abenteuerleben
hatte ihn gelehrt, in kürzester Frist aus dem Wachsein in traumlosen
Schlaf zu gleiten.
Und doch hatte Louis, der einstige waldgewohnte Räuber, auch
den leisesten Schlaf. Seine Instinkte waren schärfer als die des
scheuen Rehs. Es war, als wachte, während sein übriger Körper
erschöpft und hingegeben ausruhte, ein winziger Teil seines
Bewußtseins hellhörig weiter.
So kam es, daß der Überfall um ein Haar mißglückt wäre. Denn als
Trumms Männer sich endlich in den Feuerschein wagten, fühlten sie
sich schon allzu sicher. Ihre Opfer nämlich schnarchten!
Sie kamen näher, immer näher. Noch fünf Schritte war Trumm von
Volker entfernt. Von Volker, dem Sänger, aus dessen Kehle jetzt
sehr unmusikalische Töne drangen.
Und vier Schritte war der Mann rechts von Trumm vor Pierre.
Da riß es Louis aus dem Schlaf!
Von einem Augenblick zum anderen tauchte sein Bewußtsein aus
dem tiefsten Grund an die Oberfläche. Von einem Augenblick zum
anderen war er hellwach.
Eine Eule strich mit schwerem Flügelschlag über das Halbdunkel
des Lagerplatzes, als Louis die Augen aufriß.
Drei Schritte vor ihm kauerte der Feind, der soeben das Messer aus
dem Mund nahm, um sich auf ihn zu stürzen und ihm die Kehle
aufzuschneiden. Und während seine Kameraden nichtsahnend,
todgeweiht selig träumten, schrie Louis mit verzweifelter Stimme -
schrie er, daß die Vögel im Umkreis aus den Nestern aufflatterten,
daß die Flamme über den verkohlenden Scheiten flackerte, daß
Schnee von niedrig hängenden Ästen stob ...
Louis schrie mit einer Stimme, die so schrill und nackt wie erster
Frost war: »Alaaaarm! Alaarm!«
Die Schläfer fuhren hoch und starrten mit blinden Augen ins Leere.
Ehe sie in die Wirklichkeit zurückfanden, wurden sie vom Ansprung
der Angreifer wieder niedergerissen, zu Boden gedrückt und
festgehalten. Funken rieselten wie kleine Sternschnuppen aus dem
Flammenspitzen und spiegelten sich in den Messerklingen, die über
den Köpfen der Überfallenen schwebten ...
Ein wenig abseits von den Kameraden war Funkenmann durch
Louis' wilden Schreckensschrei hochgerissen worden. Kein Mann
der Horde Trumms bedrohte ihn in diesem Augenblick. Schwer aber
fiel ihm die Erkenntnis aufs Herz, daß er die Freunde dem Tod
preisgegeben hatte - aus Trägheit nur! Weil er zu faul gewesen war
zu wachen. Weil er geglaubt hatte, ein Nickerchen für zwei Stunden
machen zu können.
Ja, Funkenmann war ein leichtsinniger Hund, wie man ihn selbst
unter Gauklern so schnell nicht ein zweites Mal fand. Aber er war
auch ein Kerl, der im Augenblick brennender Gefahr Tod und Teufel
nicht fürchtete.
Mit beiden Händen griff Funkenmann ins lodernde Lagerfeuer,
packte drei glühende Äste, riß den Schlund - wie ihm schien -
meilenweit auf und schluckte, wie er es von seinem Vater und
Großvater schon als Kind gelernt hatte, das Feuer. Es war der
lebensgefährlichste Akt, den die Gauklerzunft kannte. Denn er hatte
nicht den Regeln entsprechend Mund, Zunge, Gaumen und Rachen
vorher mit hitzeabstoßenden ölen gesalbt. Ohne Vorbereitung
schluckte er den glühheißen Brand.
Tausend sengende Nadeln stachen in seine Mundhöhle. Ein
Gluthauch verbrannte ihm den Rachen und stieß mit spitzen,
verdorrenden Pfeilen in seine Lufthöhle. Einen Augenblick lang
glaubte Funkenmann, er müsse wie eine Fackel verlodern. Der
Schmerz war unerträglich. Ein Schattenband legte sich über seine
Augen. Es waren Tränen, die ihm die Sicht nahmen.
Doch selbst als die Todesangst ihn mit unerbittlichen Klammern
packte, vergaß Funkenmann nicht einen Augenblick die Regeln der
Gauklerzunft.
Der Schmerz wurde unerträglich. Die Sinne drohten ihm zu
vergehen. Da stieß Funkenmann vom Zwerchfell her den Atem aus!
Und dieser feurige Atem wehte über den Banditen, der Volker
erledigen wollte. Der Kerl schrie auf wie ein geblendeter Stier, ließ
das Messer fallen und floh ins Dickicht, soweit ihn seine Füße
trugen.
Funkenmann richtete den Feuerstrahl auf den nächsten Angreifer.
Es war Trumm.
Der Riese brüllte auf. Rot glühten seine Wangen! Jeder Mut war
ihm vergangen. Zwar hielt er sein Messer fest, doch auch er wandte
sich zu schneller Flucht. Er floh über Busch und Stein, über Eis und
Bach. Und er achtete nicht einmal des Weges.
Und wiederum waberte Funkenmanns Lohe über den Lagerplatz.
Diesmal traf er den Späher. Der wich entsetzt zurück und folgte
Trumm auf regelloser Flucht.
Nun drehte Funkenmann sich im Halbkreis. Ununterbrochen schoß
der Feuerstrahl aus seinem Mund.
Da wendeten sich auch die letzten aus Trumms Horde und
verschwanden im Wald.
Die Freunde waren gerettet. Gauklerkunst hatte sie vor einem
grauenhaften Schicksal bewahrt.
Als Trumm lange Stunden später seine Männer wieder beisammen
hatte, weigerten sie sich einstimmig, die Verfolgung fortzusetzen. Sie
meinten, ein Drache habe den Feinden geholfen, und abergläubische
Furcht beherrschte sie.
*
Volker und seine Männer setzten ihren Weg fort. Sie waren dem
Leben wiedergeschenkt, aber sie schienen keine Freude darüber zu
empfinden. Funkenmann, dem Retter, wurde kaum Dank zuteil.
Langsam ritten sie mit gesenkten Köpfen über Land. Je näher sie
Schloß Camelot kamen, um so langsamer ließen sie die Pferde
gehen. Denn es war eine traurige Rückkehr. Und Volker graute es
vor dem Augenblick, da er vor König Artus treten und ihm mitteilen
mußte: Roland, der Ritter mit dem Löwenherzen, ist tot!
Nur zwei Wochen waren vergangen, seit der König den tapferen
Roland mit der schwersten Aufgabe seiner bisherigen Laufbahn
betraut hatte. Er sollte ihm Haggan bringen - Haggan, den
Gräßlichen, dem es gelungen war, aus dem Verlies des Schlosses
Camelot auszubrechen!
Haggan war ein bärenstarker Ritter, der von früher Jugend an mit
einer Bande zügelloser Gesellen überall im Land gebrandschatzt und
geplündert hatte. Er ermordete seinen älteren Bruder, vergewaltigte
dessen Verlobte Griseldis und schwor, er werde Artus die Krone
samt Kopf von den Schultern reißen, um sich an seiner Statt zum
Herrn des Landes zu machen.
Roland hatte ihn nach fürchterlichen Abenteuern in der Burg des
Atz von Atzerath aufgespürt und zum Duell gefordert. Haggan nahm
die Herausforderung unbedenklich an, denn er fürchtete niemanden
auf der Welt und glaubte felsenfest, daß er unüberwindlich sei. Vor
den Augen der Freunde hatte Roland ihn jedoch nach stundenlangem
Kampf an den Rand der Niederlage gebracht.
In diesem Höhepunkt des Kampfes hatten sich die Gegner aus dem
Gesichtskreis Volkers und seiner Freunde entfernt. Als sie dort
eintrafen, fanden sie zu ihrem Entsetzen nur Haggan vor. Einen
Haggan, der blutüberströmt, bis auf die Knochen durchnäßt, aber
auch im Bewußtsein seines entscheidenden Sieges wie ein
Übermensch wirkte, dem niemand widerstehen konnte.
Rolands Leiche wurde nie gefunden. Haggan deutete auf ein
frisches Loch in dem eisbedeckten Bach, an dessen Ufer die letzten
Streiche dieses unvergleichlichen Duells geführt worden waren. »Da
hinein versank er, als ich ihm den Todesschlag versetzte«, sagte
Haggan. »Die Strömung trug ihn von dannen. Schneller, als ein Roß
seinen Reiter trägt. Und würdet Ihr fünf Pferde zuschanden reiten«,
sagte er zu Volker, »Rolands Leiche wäre dennoch viele Tage vor
Euch im Meer!«
Haggan wankte. Der Blutverlust setzte ihm arg zu. Sein Gesicht
war blaß wie Marmor. Dennoch wirkte er wie ein unüberwindlicher
Gegner. »Geht!« gebot er mit einer Stimme, die einem Furcht
einjagte. »Bestellt Eurem König, daß ich seinen besten Vasallen in
den Tod schickte! Sagt ihm, daß seine Tage auf dem Thron gezählt
sind! Roland war sein bester Mann. Seht auf mein Schwert! Es ist rot
von Rolands Blut.«
Er tauchte die Klinge in den Bach und zog sie heraus. Er hob die
gesäuberte Klinge in den Abendhimmel. »Wenn sie zum nächsten
Mal rot ist«, prophezeite er mit klirrender, schrecklicher Stimme,
»dann vom Blut des Königs Artus!«
Wie betäubt ritten die Freunde davon. Tagelang suchten sie am
Unterlauf des Baches. Dann folgten sie dem Fluß, in den er mündete,
ehe sie endlich, völlig mutlos geworden, die Suche aufgaben.
Nun blieb ihnen nur eins. Die traurige Pflicht, dem König Artus
Niederlage und Tod seines treuesten und besten Ritters zu melden.
Ein Kind konnte sehen, daß schwere Zeiten über Schloß Camelot
heraufzogen.
*
Und doch war Roland nicht tot. Er hatte den heimtückischen Angriff
des hünenhaften Trumm, der Haggans Vertrauter war, überlebt. Tag
und Nacht wachte an seinem Lager tief unter der Erde die blonde
Heide, die ihn liebte. Sie pflegte die Schwertwunde an seinem Kopf.
Sie bereitete ihm kräftige Nahrung zu. Sie beschützte seinen
totenähnlichen Schlaf. Und sie rief ihn mit behutsamer Zärtlichkeit
langsam ins Leben zurück.
Eines Morgens erwachte Roland und fühlte sich wie frischgeboren.
Zwar schwindelte ihn noch, als er sich zum ersten Mal vom
Krankenlager erhob. Aber die Schwäche ging schnell vorüber.
Kräftig wie früher kreiste bald das Blut durch seinen Körper.
»Wo bin ich?« fragte er fast munter.
»In Haggans Gewalt«, sagte Heide. »Erinnerst du dich nicht, süßer
Roland? Du hattest den Gräßlichen besiegt. Du zogst ihn mit deiner
siegreichen Hand aus dem eisigen Bach, der sonst zu seinem Grab
geworden wäre. Da erschien Trumm und drohte, mich zu töten. Ich
war ja in seiner Gewalt. Du ließest im Vertrauen auf freies Geleit die
Waffe fallen, und der niederträchtige Trumm streckte dich mit einem
gemeinen Schwertstreich nieder.«
Die wenigen Worte Heides zogen ganze Reihen ,von Schleiern von
Rolands Gedächtnis fort. Szene für Szene erstand klar vor seinem
inneren Auge.
Doch die Erinnerung hielt den Ritter nicht lange im Bann. Er war
so geartet, daß er Vergangenem nicht lange nachhing. Er war der
Gegenwart zugewandt. Sein Auge umfaßte Heides schöne Gestalt,
ihr helles, strahlendes, kühnes Gesicht - und er streckte die Arme
nach ihr aus.
Willig sank sie an seine Brust. Ihre Lippen fanden sich zu einem
langen Kuß. Heiß pulste Erregung durch ihre Körper.
Noch nie war Roland so verliebt gewesen. Er hatte schon einige
Frauen kennengelernt. Meist waren sie erfahrener gewesen als er. Sie
hatten ihn gereizt, ihn erobert, ihn benutzt und manchmal verraten.
Heide war anders als sie alle. Mit Rührung erinnerte er sich der
Tage, da sie, als Mann verkleidet, ihm als Knappe gefolgt war. Sie
wollte dem heimlich Geliebten nah sein, und wenn es unter den
gefährlichsten Umständen geschah. Lange hatte er sich täuschen
lassen. Der Augenblick, da er sie als Frau erkannte, besiegelte seine
Niederlage gegen Haggan und Trumm - und doch wollte er ihn nicht
missen. Denn Heide bedeutete dem Ritter mehr als aller Heldenruhm
der Welt.
Lange standen die Liebenden eng umschlungen. Ihre Küsse
wurden heißer und heißer. Ihre Leiber schienen ineinander zu
verschmelzen, so. sehr drängte jeder zum anderen.
Und aus der unmittelbaren Zärtlichkeit erwuchs grenzenlose
Leidenschaft. Roland hob Heide hoch. Wie eine Feder war sie in
seinen wiedererstarkten Armen. Er trug sie zur Lagerstätte. Ihre
Augenpaare brannten ineinander. Ihr Atem ging fliegend. Er nestelte
an ihrem Rock. Seine Hände bebten. Es konnte ihm nicht schnell
genug gehen.
Heides geschmeidige Finger lösten die Knöpfe an seiner Kleidung.
Beider Atem ging heiß. Wieder und wieder verschmolzen ihre
Lippen.
Da hörten sie Geräusche. Leichte Schritte näherten sich. Heide und
Roland fuhren auseinander.
Die Tür flog auf. Ein dunkelhaariger, kleinwüchsiger Junge von
höchstens 17 Jahren wirbelte ins Zimmer. Sie hatten ihn noch nie
gesehen. Dem Aussehen nach stammte er aus dem Morgenland. Das
verriet auch seine fremdartige Aussprache.
In höchster Aufregung rief er Roland zu: »Jetzt keine Zeit für
Liebe, stolzer Ritter! Jetzt Zeit für Kämpfen.«
»Wer bist du?«
»Ich sein Omar.«
»Und was tust du hier?«
»Ich was tun? Ich tun alles! Ich sein Sohn von Haggan. Und
Freund von Haggan, Berater von Haggan, Freund von Freunde von
Haggan und Beschützer von Haggan!«
Während die Liebenden den quecksilbrigen Morgenländer noch
entgeistert anstarrten, griff er in seine Pluderhosen, zog einen
maurischen Krummdolch hervor und reichte ihn Roland. »Horch!«
Schwere Schritte klangen draußen auf. »Dein Feind kommen! Feind
sehr stark. Feind dich totmachen. Du jetzt kämpfen!«
Heide brach in Tränen aus. Was war mit dieser Welt geschehen,
daß es in ihr so wenig Zeit zur Liebe gab? Und soviel, so entsetzlich
viel Zeit zum Kämpfen?!
*
Sobald sich Haggan von den Wunden erholt hatte, die er im Duell
mit Roland erlitten, schmiedete er neue Pläne gegen König Artus.
Haggan war ein Mann, der über großen Einfallsreichtum verfügte.
Hätte der König nur im mindesten gewußt, was sein Todfeind
diesmal im Schilde führte, es wäre ihm eisig kalt geworden auf
seinem Thron.
Haggans Plan, wie er Artus überlisten, entmachten und töten
konnte, war von einer abgrundtiefen Bosheit und Gemeinheit,
gleichzeitig jedoch unerhört scharfsinnig und kühn.
In Haggans Überlegungen platzte Trumm. Schon sein erster
Anblick schockierte den Gräßlichen. Trumms Gesicht war versengt.
Die Haltung des erfolgverwöhnten Riesen sprach von unerhörten
Strapazen. Der Mann, der unzählige Abenteuer im Dienste Haggans
bestanden hatte, schwankte und war kaum Herr seiner Sprache.
»Sind Volker und seine Kumpane tot?« fragte Haggan.
»Nein!« rief ihm Trumm entgegen. Der Hüne wankte. Aber er hielt
sich aufrecht. »Nein! Volker ist mit dem Teufel im Bunde! Wir
hatten ihn zur Nachtzeit überfallen. Er war so gut wie tot. Er und
seine Spießgesellen. Da geschah etwas Unglaubliches. Er hatte ein
Tier bei sich, das Flammen sprühte. Eine feurige Lohe schoß uns
entgegen. Seht, wie verbrannt mein Gesicht ist! Meinen Gefährten
erging es noch schlimmer. Einer verbrannte wie eine Fackel. Ein
anderer wurde erstochen. Der dritte wimmerte: >Mit mir ist es
vorbei.<«
In Wirklichkeit waren Trumms Leute ihm nach dem feurigen
Angriff Funkenmanns davongelaufen.
Haggan, der keine menschlichen Bande kannte, faßte einen
schnellen Entschluß. Mit jener Stimme, die auch dem abgebrühtesten
Strauchräuber Angst einjagte, sagte er zu Trumm: »Wenn du Volker
nicht töten konntest, dann töte Roland!«
Trumm, dessen hartes, faltendurchwirktes Gesicht vom Staub der
Straßen überpudert war, antwortete mit schwankender Stimme:
»Haggan, was tut Dir mir an? Ich tötete Roland am Rand jenes
Baches, als ich Heide im Arm hielt.«
»Du irrst«, entgegnete ihm Haggan, und er grinste höhnisch, weil
es ihn freute, seinen langjährigen Gefährten zerknirscht zu seinen
Füßen zu sehen. »Roland überlebte deinen allzu gelinden Schlag.«
Voller Hohn fügte er hinzu: »Kann es sein, daß das Alter deinen
Schwung lahmte?«
Trumm machte eine abwehrende Handbewegung.
»Nun gut«, sagte Haggan schneidend. »Ich gebe dir die
Gelegenheit, dich für dein Versagen bei Minnesänger Volker zu
revanchieren. Bringe mir Rolands Kopf, und du wirst mein Bruder
sein!«
Doch im selben Augenblick gab Haggan dem jungen
Morgenländer Omar ein Zeichen, das der - und nur er - zu deuten
wußte.
Vor zehn Jahren war Omar im Zelt seines Vaters, eines reichen
Kaufmanns aus dem Morgenland, durch diese Gegend gezogen, als
Haggans Bande unter Verletzung aller Handelsabkommen die
östliche Schar überfiel. Es wurde ein Gemetzel. Von den
Überfallenen überlebte nur der damals siebenjährige Omar. Eine
Laune Haggans des Gräßlichen rettete ihm das Leben.
Mit der Zeit wurde Omar zu Haggans engstem Vertrauten. Der
elternlose Junge hing dem schwarzen Ritter mit einer abgrundtiefen
Liebe an. Er wurde zu seinem besten Verbündeten. Denn im
Gegensatz zu dem schwerfälligen Trumm wußte er den leichtesten
Wink seines Auges zu deuten. Ein geringes Heben der Augenbrauen
verriet Omar mehr als tausend Worte.
So kam es, daß Roland wenigstens einen krummen Dolch in der
Hand hatte, als der riesige Trumm in sein Liebesidyll einbrach, um
ihm den Garaus zu machen.
Roland erwartete ihn hinter der Tür und stellte ihm ein Bein. Aber
das Manöver mißlang. Trumms Beine waren zu lang und ihr Schritt
zu hoch, als daß er diesem Trick zum Opfer gefallen wäre.
Also war Trumm mit seinem Langschwert zunächst Beherrscher
des achteckigen Geheimraums unter der Erde.
Omar hatte Heide mit sanfter Gewalt aus dem Bereich der
tödlichen Klingen gebracht.
Einen Augenblick lang verspürte Roland das Verlangen, seinem
Gegner, der an ihm vorbei hereingeschossen war, den Krummdolch
in den Rücken zu stoßen. Doch mitten im erhobenen Schwung hielt
Roland inne. Er konnte niemanden von hinten töten.
Er wartete, bis der Hüne sich zu ihm umgewendet hatte. Er wollte
einen Kampf, in dem beide Gegner die gleichen Chancen hatten.
Dabei übersah Roland völlig, daß Trumms Waffen den seinen weit
überlegen waren.
Roland sah in die Augen eines finster entschlossenen Mannes.
Trumms Blick war nahezu lähmend. Und wie gelähmt sah Roland
zu, als der Hüne mit dem Langschwert zum tödlichen Schlag gegen
ihn ausholte.
Die Klinge sauste auf ihn nieder.
Roland wartete bis zum letzten Augenblick. Dann bog er seinen
jungen Körper schmiegsam zur Seite und entging dem mörderischen
Schlag haarfein.
Doch wenn er geglaubt hätte, dadurch einen entscheidenden
Vorteil herauszuholen, so sah er sich wenige Augenblicke später
furchtbar enttäuscht.
Denn schon schwebte zum zweiten Mal Trumms schier
unentrinnbares Langschwert über seinem schutzlosen Haupt.
Wiederum zuckte es wie ein gleißender Blitz aus der Gewitterwolke
auf ihn nieder.
Diesmal war Rolands Entkommen noch knapper.
Die Klinge streifte ihn. Sie schnitt ihm ein Büschel blonder Haare
ab und ritzte seine Hüfte, die teuflisch zu brennen begann.
Trumm stieß einen unartikulierten Schrei aus. Darin entlud sich
seine angestaute Erregung. Noch ehe der Schrei verhallt war, prallte
das Schwert mit aller Kraft, die er ihm verliehen hatte, auf den
steinernen Fußboden.
Und dann geschah etwas, das für beide Männer überraschend kam
und sie verblüffte.
Mit einem klirrenden Laut zersprang das Eisen nicht weit unter
dem Griff! Plötzlich hatte Trumm nur noch eine lächerlich kurze
Klinge von knapp drei Handspannen Länge in der Faust. Der andere,
weit längere Teil des Schwertes war abgebrochen und schwirrte, vom
Boden abspringend, wie ein Geschoß durch den Raum.
Zwei Augenpaare hatten Mühe, dem Verlauf des fliegenden
Eisenstücks zu folgen. Die abgebrochene Klinge schmetterte gegen
die Wand. Aber sie fiel nicht herab, sondern wurde wie von einer
gespannten Sehne zurückgeschleudert. In Kopfhöhe schoß sie durch
das Gemach. Dabei drehte sie sich wie ein Kreisel.
Roland ließ sich fallen. Das tödlich scharfe, an der Bruchstelle
schartig gezackte Eisen rotierte haarscharf über ihn hinweg.
Zu spät erkannte Trumm, daß es nun genau auf ihn zuflog. Der
muskelbepackte, sehnige Hüne war wohl auch nicht mehr beweglich
genug, um so schnell zu reagieren wie der viel jüngere, in ritterlichen
Spielen geübte Roland.
Am Boden wälzte sich der Artus-Ritter herum. Und er sah voll
Entsetzen, wie die Klinge, als hätte sie ein Eigenleben, Trumm in
den Hals flog und ihm glatt den Kopf abschnitt.
Noch einmal klirrte es, als die blutige Klinge sich senkte und über
den Fußboden glitt, ehe sie endlich wie erschöpft liegenblieb. Gleich
darauf sackte der riesenhafte Körper des Geköpften in sich
zusammen.
Roland lag eine Weile wie erstarrt. Dann raffte er sich auf. Von
Grauen geschüttelt, schleifte er den Toten zur Seite. Er bettete ihn
vor der Badewanne unter dem natürlichen Wasserfall. Vorsichtig hob
er dann an der stumpfen Seite das abgebrochene Schwert auf und
legte es zu dem Toten.
Ein Geräusch ließ ihn herumfahren. Omar stand hinter ihm. Er
hatte den Schluß des Kampfes heimlich beobachtet.
Omars dunkle Augen leuchteten vor Begeisterung. »Ritter, du
prima, fabelhaft, großartig! Du töten Trumm! Du zaubern! Ich kaum
glauben, was du getan, aber meine Augen sehen, wie du zaubern
Schwert in Trumms Hals, ohne Anfassen. Du wirklich prima,
extraprima! Ich sehr froh. Dieser Trumm immer böse gewesen auf
Omar. Warum? Weil eifersüchtig! Weil ich sein Sohn von Haggan,
Freund von Haggan, Berater von Haggan, Freund von Freunde von
Haggan und Beschützer von Haggan!«
Plötzlich verschwamm Omars braunes Gesicht vor Rolands Augen.
Das achteckige Gemach begann sich zu drehen. Roland schwankte.
Das Blut wich aus seinem Gesicht. Die Erregung und Anspannung
des kurzen, aber heißen Kampfes waren für seinen eben erst
genesenen Körper zuviel gewesen.
Der Krummdolch glitt ihm aus der Hand.
»Vorsicht!« rief Omar. »Du fallen!«
Schwer sank Roland auf den Diwan. Er lehnte sich zurück.
Augenblicklich wurde ihm ein wenig wohler. Aber seine Augen
blieben trüb. Es fiel ihm schwer, Umrisse zu erkennen. Alles tanzte
vor seinem Blick auf und nieder.
»Ruhig sitzen!« mahnte ihn Omar. »Kleine Geduld! Gleich Omar
dir bringen Heiltrunk. Den du trinken, und alles wieder gut, bestimmt
extraprima gut!«
Wirklich verschwand Omar, ohne daß Roland sah, wohin. Nach
kurzer Zeit war der Junge aus dem Morgenland wieder da und setzte
einen Kelch mit goldgelbem Wein vor dem Ritter nieder. Besorgt
betrachtete er Roland.
»Du jetzt trinken! Dann ganz schnell wieder munter und stark wie
Löwe!«
Mit einem Seufzer griff Roland nach dem Kelch. In seinem Kopf
herrschte ein unbeschreibliches Durcheinander. Er konnte keinen
klaren Gedanken fassen. Er hatte bereits vergessen, wer Omar war
und daß er ihn vor dem rasenden Trumm gewarnt hatte. Ja, selbst an
den mörderischen Kampf konnte er sich kaum noch erinnern.
Ein Name tauchte immer wieder in seinen wirren Gedanken auf:
Heide ... Aber Roland war nicht imstande, die Bedeutung des
Namens zu erfassen. Nur undeutlich war ihm bewußt, daß er etwas
unerhört Schönes bezeichnete, daß er das Symbol alles Glücks dieser
Erde war.
Mit diesen unklaren Gefühlen setzte Roland den Kelch an die
Lippen und nahm einen tiefen Schluck. Das Getränk rann wie öl über
seine Zunge. Die Kehle wurde ihm heiß, und in seinem Magen
verbreitete sich angenehme Wärme. Er fühlte sich, als könne er
wieder Bäume ausreißen.
Omar beobachtete ihn gespannt.
Roland nahm einen zweiten langen Schluck, und diesmal wurden
ihm die Augenlider schwer. Sein Geist erschien ihm von herrlicher
Klarsichtigkeit. Er glaubte, am Eingang einer wundervollen
Erkenntnis zu stehen ...
Doch da klappten ihm die Lider zu. Er zuckte noch einmal mit den
Armen, dann fiel er seitwärts auf den Diwan.
Omar lächelte undurchdringlich. In seiner leisen, fast
schleichenden Art trat er an den Ritter heran und beugte sich über
ihn. Befriedigt vernahm er die ruhigen, gleichmäßigen Atemzüge.
Sein Lächeln vertiefte sich. Unhörbar formten seine Lippen ein
Wort. Seine Hände packten Rolands Schultern.
*
Als Roland aus den Tiefen des Schlafs wieder emportauchte, hatte
sich seine Umgebung verändert. Er befand sich nicht mehr in dem
achteckigen, unterirdischen Geheimraum, zu dem nur wenige
Auserwählte den Zugang kannten. Man hatte ihn in die Burg
hinaufgeschafft.
Er öffnete die Lider - und sah in Heides lachende Augen!
Ein ungeheures Glücksgefühl durchströmte ihn. In einem weißen,
fließenden Gewand saß sie auf dem Rand des Bettes, in dem er ruhte.
Er wollte etwas sagen...
Doch da legte sie sich schon neben ihn und versiegelte ihm den
Mund mit ihren weichen, vollen Lippen. Und diesmal sollte sie kein
frecher, unerbittlicher Überfall beim Liebesspiel stören!
Behutsam streifte ihr Roland das lose Gewand von den Schultern
und labte seine Augen an der Pracht ihres straffen, jungen Körpers
mit dem zärtlich blickenden Gesicht. Er strich ihr mit bebender Hand
die langen hellen Haare von den festen, runden Brüsten und fühlte,
wie Heide erschauerte. Er bewunderte die schmale Taille, die
reizende Rundung ihrer Hüften. Seine Hände glitten, wie von
unwiderstehlichen Magneten gezogen, über ihren flachen Bauch zu
dem goldschimmernden Haardreieck über dem Ansatz der Schenkel.
Es war Roland klargeworden, daß Omar ihm einen Schlaftrunk in
den Wein gemischt hatte. Im Schlaf mußte man ihn in die Burg
geschafft haben.
»Wie lange schlief ich?« fragte er flüsternd Heide, während seine
Hand das schimmernde Gelock über der Scham erreichte.
Sie zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht. Ich bin nur kurze Zeit
vor dir erwacht.« Und sie schmiegte sich enger an ihn.
Also hatte Omar auch sie betäubt...
So begann ein herrlicher Tag für das Paar. Sie vergaßen die Rätsel,
die sie doch nicht lösen konnten, und probten alle Spiele aus, die
Liebenden einfallen und sie in den Himmel der Lust versetzen. Heide
war noch unerfahren. Aber ihr glühendheißes Temperament, einmal
geweckt, machte sie zu einer Partnerin, die Roland von einem
Taumel des Entzückens in den nächsten stürzte.
Zwischen den zuckenden Ekstasen ihrer Vereinigungen lagen sie
ruhig und entspannt da, hielten sich an den Händen, streichelten
einander und unterhielten sich leise, während hochfliegende Gefühle
sie durchdrangen. Immer wieder wollte Heide die Beteuerung seiner
Liebe hören, und immer wieder tat der Ritter ihr aus vollem Herzen
diesen Gefallen.
»Ich liebe dich mehr als alles andere in der Welt«, sagte Roland
ernst. »Bisher war der Gedanke an eine Aufnahme in die Tafelrunde
des Königs Artus das Höchste, was es zu erreichen galt. Aber jetzt
weiß ich, daß sie zwar ein erstrebenswertes Ziel ist, um das ich mit
aller Kraft kämpfen werde. Doch sollte je ein Auftrag des Königs
meiner Liebe zu dir zuwiderlaufen, würde ich auf ihn verzichten. Ich
würde ihn nicht erfüllen. Sag, Heide, wirst denn du mir ewig treu
sein?«
Da sagte sie nach kurzem Besinnen: »Zweifel nicht, Roland!
Zweifle niemals an mir! Ich bin dir so treu wie die Sterne dem
Nachthimmel, so treu wie die Blüte der suchenden Biene, so treu wie
das geduldige Moos dem Tau. Aber du, Roland, wie steht es mit
deiner Treue?«
Er sah sie lange an, und ihm war, als schmelze seine Seele vor
Glück. »Wenn ich dir je untreu werde, meine Liebste, dann soll die
Sonne am hellen Tag vom Himmel verschwinden und mitternächt-
liche Finsternis den heiteren Mittag ersetzen!«
Heide lachte froh. »Das wird nie geschehen, solange die Erde steht
und der Himmel sich über uns wölbt. Also kann ich deiner Treue
sicher sein!«
Es dauerte nicht lange, und das Blut begann, wieder schneller in
den Adern der Liebenden zu kreisen. Heißer wurde ihr Atem, heißer
als der Atem der Wüste. Die Hände zuckten über den Körper des
anderen. Die Blicke wurden fordernd und verhüllten nichts.
Und von neuem begannen sie, die unerschöpflichen Melodien der
körperlichen Liebe zu spielen ...
*
Haggan saß auf dem Sessel, den einst der von Jong ermordete Atz
von Atzerath einzunehmen pflegte. Über seinen Knien lag ein
Schwert. In der Hand hielt er, die Spitze nach oben gekehrt, eine
Turnierlanze. Ihr Schaft ruhte auf dem Boden neben seinem rechten
Fuß.
Fünf Klafter entfernt stand Roland in trotziger Haltung vor ihm.
Sonst war die Halle leer. Nicht einmal der allgegenwärtige kleine
Omar befand sich in der Nähe.
Es war das erste Mal, daß sich die beiden Gegner des großen
Duells auf den Bachauen vor der Burg Atzerath wiedersahen. Beide
hatten schwere Verwundungen überstanden. Haggan jene, die Roland
ihm im ehrlichen Kampf zugefügt hatte, Roland den heimtückischen,
niederträchtigen Schwerthieb Trumms, mit dem der damalige
Kumpan des Gräßlichen Roland hinterrücks überfallen hatte, als das
Duell schon zugunsten des Artus-Ritters entschieden schien.
Lange hielten beide ein vorsichtiges Schweigen ein. Endlich ergriff
Haggan das Wort. Er sprach in freundlichem Ton, der deutlich von
seiner üblichen düsteren Stimmung abwich: »Was wollt Ihr von mir,
Roland? Was fordert Ihr, edler Ritter? Die Heimkehr nach Schloß
Camelot? Wünscht Ihr Eure Waffen und Euer Pferd Samum zurück?
Verlangt Ihr freies Geleit für Euch und die schöne Heide, um die
jeder Mann Euch beneiden dürfte?«
»Ja«, antwortete Roland mit klingender Stimme. »Die Antwort auf
jede Eurer Fragen lautet: ja!«
»Fürchtet nichts!« erwiderte Haggan leutselig. »Ich bin bereit,
Euch dies alles zu gewähren. Ich hörte davon, wie übel Euch mein
einstiger Diener Trumm mitspielte, und bin glücklich, daß Ihr den
Anschlag lebend überstandet und ihn in die Hölle schicktet!«
»Ein Junge aus dem Morgenland warnte mich.«
»Ich selber schickte Omar zu Euch. Daraus mögt Ihr ersehen, wie
sehr mir Euer Wohl am Herzen liegt. Sagt, wann Ihr reiten wollt -
Samum und der Graue des Mädchens werden pünktlich gesattelt im
Burghof bereitstehen. Doch will ich Euch nicht zur Abreise drängen,
Roland. Viel lieber wäre es mir, Ihr würdet mir noch eine Weile
Gesellschaft leisten. Nur selten hat man das Glück, einem so edlen
Ritter wie Euch zu begegnen.«
Roland trat drei Schritte näher an Haggan heran und richtete sich
stolz auf. »Ich fürchte«, sagte er mit Nachdruck, »Ihr werdet in
jedem Fall noch einige Tage in meiner Gesellschaft verbringen
müssen.«
»Nichts käme mir erwünschter!«
Rolands Blick bohrte sich in Haggans bartumgebenem
Quadratschädel. »In meiner Gesellschaft, Haggan - aber anders, als
Ihr denkt! Nicht als mein Gastgeber, sondern als mein Gefangener!«
Roland schwieg, und die Wände der fast leeren Halle warfen das
letzte Wort »Gefangener« als ein drohendes Echo zurück.
Ungehalten schüttelte Haggan die Lanze. »Das müßt Ihr mir näher
erklären, mein Freund«, sagte er dann mit erzwungener Ruhe.
»Nennt mich nicht Freund!« donnerte Roland. »Ich bin nicht Euer
Freund und werde es niemals sein. Ihr seid ein Flüchtling aus dem
Verlies des Schlosses Camelot, in das Ihr rechtmäßig wegen Eurer
himmelschreienden Untaten gesperrt wart. Daraufhin beauftragte
mich König Artus, dessen weises Wort in diesem Land Gesetz ist,
Euch wieder einzufangen und ihm zurückzubringen, tot oder
lebendig! Und genau das werde ich tun!«
Ein verächtliches Lächeln zeigte sich auf Haggans Lippen. Er hob
das Schwert ein wenig an und berührte damit die Lanze. Es klang
wie ein Gong.
»Ich bin neugierig, wie Ihr das anstellen wollt, Roland. Bei aller
Hochachtung vor Eurem Mut und Eurer Ritterkunst - Ihr seid in
meiner Gewalt und nicht ich in Eurer. Ihr seid waffenlos. Omars
Krummdolch ließ ich Euch wieder wegnehmen, als Ihr schlieft.
Dagegen bin ich bis an die Zähne bewaffnet. Ihr habt niemanden an
Eurer Seite außer dem Mädchen Heide, das eine Zeitlang täuschend
die Rolle Eures Knappen spielte. Auf einen Wink von mir würden 20
- oder wenn ich wollte - doppelt so viele Krieger hereinstürmen und
Euch niedermetzeln. Kein Entkommen gäbe es für Euch vor ihren
Lanzen, Schwertern, Keulen und Pfeilen. Bedenkt das, Roland, und
gebt zu, daß Ihr den Mund zu voll nahmt!«
Mit wenigen langen Sätzen glitt Roland zur Tür, die ins Innere der
Burg führte. Der Schlüssel steckte im Schloß. Roland drehte ihn
zweimal herum. Dann zog er ihn ab und barg ihn im Wams. Ebenso
rasch begab er sich zum Außenportal. Dort wandte er sich zu Haggan
um.
»Ruft nur nach Euren Kumpanen, Gefangener des Königs! Den
ersten, der durch diese Tür hereinstürzt, bringe ich zu Fall und nehme
ihm die Waffe ab. Dann schließe ich auch dieses Portal - und wir
können ein neues Duell beginnen!«
Zum ersten Mal wirkte Haggan leicht beunruhigt.
Roland fuhr fort: »Einmal, als ich in den Händen jener
verkommenen Bauern war, habt Ihr mir das Leben gerettet. Damals
kannten wir einander noch nicht. Einmal rettete ich Euch das Leben,
als ich Euch, den Schwerverwundeten, schon Besiegten, aus dem
eisbedeckten Bach zog. Wir sind quitt. Von jetzt an werde ich keine
Rücksicht mehr üben. König Artus wird höchst zufrieden sein, wenn
ich mit Eurer Leiche vor mir auf dem Pferderücken nach Camelot
zurückkehre. Ihm kommt es nur darauf an, Euch ein für allemal
unschädlich zu machen. Die Methode überließ er mir!«
Haggan lächelte wieder. Unbeeindruckt saß er da und hob leicht
die Lanze. »Ihr vergeßt, daß Ihr im Augenblick noch unbewaffnet
seid, Roland!«
»Täuscht Euch nicht!« entgegnete der. »Ich habe vorgesorgt, um
Euren Ränken zu begegnen. In meinen Kleidern gibt es verborgene
Taschen, und ich bin ein Meister mit dem Wurfmesser.«
Unwillkürlich zog Haggan den Kopf ein, als wäre schon ein
solches tödliches Werkzeug im Anflug. In Wirklichkeit bluffte
Roland nur. Weder besaß seine Kleidung Geheimtaschen, noch hatte
er irgendwo das kleinste Stück Eisen am Körper verborgen.
Als Haggan wieder sprach, war sein Ton genauso freundlich wie
zu Beginn des Gesprächs. »Erregt Euch nicht, edler Roland! Fern lag
es mir, Euch zu drohen. Laßt mich statt dessen etwas sagen, das Euch
bestimmt überraschen wird! Ich bin gern bereit, Euch zum Schloß
Camelot und vor König Artus' Thron zu folgen. Sogar als Euer
Gefangener, wenn Ihr darauf besteht! Lieber wäre mir allerdings, ich
ritte als Freund an Eurer Seite!«
Roland erhob abwehrend die Hand. »Als Freund?« wiederholte er
verachtungsvoll. »Eher wünschte ich mir den Teufel zum Freund!
Wie könnt Ihr Euch unterfangen ...?« Er brach ab. Die Empörung
schnürte ihm die Kehle zu.
»Gemach, gemach!« mahnte Haggan, nun jeder Zoll von
maßvoller Würde. »Ehe wir weiterstreiten, verratet mir lieber,
wessen mich der König, den ich nicht weniger achte und verehre als
Ihr, denn eigentlich beschuldigt!«
»Als ob Ihr das nicht wüßtet!« rief Roland ärgerlich. »Nun wohl,
ich will es Euch dennoch wiederholen. Es sind neben Eurem wüsten,
unritterlichen Lebenswandel, mit dem Ihr unseren Stand befleckt,
drei Hauptanklagepunkte. Punkt eins: Ihr habt Euren Bruder Jorn
ermordet und seine Burg dem Erdboden gleichgemacht!«
Heftig schüttelte Haggan den Kopf.
»Punkt zwei«, fuhr Roland mit erhobener Stimme fort: »Ihr habt
Griseldis, die Gattin Eures Bruders und Verwandte der Königin, mit
Gewalt genommen und versucht, auch sie umzubringen. Nur wie
durch ein Wunder entkam sie dem Tode!«
Zornig stampfte Haggan den Schaft der Lanze auf dem Boden auf.
Roland kümmerte sich gar nicht darum, sondern schloß: »Punkt
drei: Ihr plant Hochverrat, wollt Artus vom Thron stoßen, ihn
ermorden und statt seiner König werden.«
Haggan lachte laut auf, doch sein Lachen hatte einen bitteren
Klang. »Nun begreife ich Euren Zorn, Roland«, sagte er nach einer
Weile, und seine Stimme klang traurig. »Wäre es so, wie Ihr sagtet,
so verdiente ich allerdings strengstes Gericht, lebenslangen Kerker
bei Wasser und Brot und täglicher Prügelstrafe, oder gar peinlichen
Tod.«
Roland horcht auf. »Wollt Ihr die Vorwürde etwa leugnen?«
»Man hat mich verleumdet«, sagte Haggan in bitterem Ton. »Es
gibt einen alten Mann am Königshof, dem jeder aufstrebende,
geistvolle, lebensglühende Ritter ein Dorn im Auge ist. Ihr kennt ihn
auch. Und es würde mich nicht wundern, wenn er Euch nicht
ebenfalls schon so manchen Knüppel zwischen die Beine geworfen
hätte.«
So eindringlich und aufrichtig klangen Haggans Worte im fast
leeren Saal, daß Roland verwundert aufschaute.
Haggan erhob die rauhe Stimme zu äußerster Nachdrücklichkeit.
»Ich meine Wilhelmus, den weißhaarigen Schurken, den
langbärtigen Intriganten, den schönrednerischen Ränkeschmied! Er
will, koste es was es wolle, einen aus seiner verfluchten Heißblut-
Sippe in die Tafelrunde hineinbringen! Erst sollte es Percy sein.
Nach dessen Tod jetzt Douglas Heißblut. Mich sah er früh als
Rivalen an. Darum streute er diese Lügen über meinen angeblich
schändlichen Lebenswandel, die blutrünstigen Fantastereien über
meine angeblichen Verbrechen unter die Leute!«
Mit gemischten Gefühlen lauschte Roland den Vorwürfen
Haggans. Mancher seiner Sätze schien Schleier von bisher nie
verstandenen Ereignissen zu reißen. Andere wieder erschienen ihm
als schiere Lüge. Sein Treuegefühl wehrte sich dagegen, in der Nähe
des Königs Artus böse Machenschaften zu vermuten.
Erwartungsvoll blickte Haggan den blonden jungen Ritter an.
Schließlich antwortete Roland: »Eure Worte, Haggan, mögen
Kinder und Narren betören, doch kein Ohr, das aus des Königs
eigenem Mund das wahre Geschehen erfuhr. Sprecht weiter!
Drechselt Eure Sätze, gebt ihnen Politur und Glanz, sprecht bis zum
Abend! Sprecht, bis Euch die Zunge den Dienst versagt! Mich
werdet Ihr nicht überzeugen. Ich weiß, daß Ihr ein Unhold seid, von
dem dieses Land befreit werden muß. Und ich werde es sein, der
Euch zurück ins Verlies stürzt oder - wenn Ihr Euch wehrt - ins
Grab!«
Mit großer Überwindung gelang es Haggan, ein mildes Lächeln
auf seine harten Züge zu zaubern. »Seid Ihr dessen so sicher,
verblendeter Ritter? Nun denn, so will ich Euch einen Zeugen
vorführen, an dessen Aussage kein Intrigant, kein ehrlicher Mann,
kein Schuft, kein Ritter und kein König drehen und deuteln kann ...«
Mehr denn je war Roland von Haggans Schuld überzeugt.
Trotzdem hörte er ihm gebannt zu. Der Bursche verstand es wirklich
zu fesseln!
»Ritter Lutz hat es auf meinen Wunsch übernommen, diesen
Zeugen hierher nach Atzerath zu bringen«, sagte Haggan fast so
feierlich, wie der Zeremonienmeister am Hof von Camelot einen
Ehrengast anzukündigen pflegte.
Gegen seinen Willen platzte Roland mit der Frage heraus: »Und
wer sollte dieser Zeuge sein?«
Haggan warf ihm einen durchbohrenden Blick zu und sagte nach
einer genau berechneten Pause: »Es ist die Frau, der ich den
Ehemann, die Burg und die weibliche Ehre genommen haben soll ...
Es ist Griseldis!«
*
Noch ein volles Jahr nach den schrecklichen Schicksalsschlägen, die
ihr Leben aus der Bahn geworfen hatten, lebte Griseldis wie betäubt
dahin. Sie lehnte alle Einladungen von Verwandten und Freunden ab,
bei ihnen zu wohnen. Nicht einmal Königin Ginevra konnte sie dazu
überreden, zu ihr zu kommen.
Griseldis wollte niemanden sehen. Sie verkroch sich. Sie zog sich
in ein Bürgerhaus der Stadt Rivage zurück. Keiner der
Stadtbewohner kannte sie oder hatte von ihr gehört. Niemand wußte
von ihrem tragischen Geschick. Sie ließ sich auch kaum in der Stadt
blicken.
Griseldis war eine schöne Frau von hoheitsvollem Auftreten. Aber
seit einem Jahr hatte die Witwe kaum in einen Spiegel geblickt. Sie
vergrub sich in ihren Kummer und vernachlässigte ihr Äußeres.
Ihr herrliches kastanienbraunes Haar wurde strähnig und glanzlos.
Ihre Augen trübten sich. Ihre Haut nahm durch das ständige
Stubenhocken eine ungesunde, bleiche Färbung an. Sie aß nur wenig
und mit Widerwillen. An manchen Tagen rührte sie überhaupt keine
Nahrung an. So kam es, daß ihr Körper mager wurde und nur wenige
Spuren der früheren bezaubernden Schönheit behielt.
Griseldis sann auf Rache.
Sie entwarf Plan um Plan. Doch nur, um immer bald zu erkennen,
daß keiner ausführbar war. Wie wollte sie, ein schwaches Weib,
Haggan den Gräßlichen in ihre Gewalt bekommen?
Es war aussichtslos.
Mit fremder Hilfe rechnete sie nicht, wollte auch keine haben. Es
war ihr Schicksal, ihre Trauer, ihr Verhängnis - und ihre Rache, die
sie mit keinem teilen wollte!
Sie wurde nicht müde, sich immer aufs neue auszumalen, wie sie
Haggan überwältigen und grausam zu Tode bringen würde. Es waren
Streiche, die ihr die überhitzte Fantasie spielte.
Selten sah sie einen Menschen. Nur ihre Zofe Velma duldete sie
um sich. Ihr vertraute sie wie einer Schwester. Velma hielt die
Verbindung zur Außenwelt. Sie verwaltete auch die Dukaten, die
Königin Ginevra ihr von Zeit zu Zeit schickte, damit sie keine Not zu
leiden brauchte.
So wie ihre Herrin bei dieser Lebensart früh alterte, verfiel und
immer unansehnlicher wurde, so blühte die Zofe auf. Velma war von
Natur aus ein wohlgestaltetes Mädchen. Die Zeit auf der Burg des
Ritters Jorn hatte sie vieles gelehrt. Sie hatte Griseldis und all den
begehrten Damen des Adels, die dort verkehrten, eine Menge
abgeschaut.
Die Manieren, die höfische Sprache, die Kunst, sich nach der
geltenden Mode verführerisch zu kleiden, die Handgriffe und Tricks
der Körperpflege und die vornehme Haltung.
Wenn Velma jetzt durch die Straßen von Rivage schritt, um
irgendwelche Besorgungen zu erledigen, sah sie mit ihrer gepflegten
dunkelbraunen Haartracht, dem stolzen Gang, dem
hochgewachsenen, schöngeformten Körper und den feinen Kleidern
selber wie eine vornehme Dame aus.
Da Griseldis keinerlei Wünsche äußerte und ihr die Verwaltung
des Hauses völlig überließ, war Velma allmählich ein begütertes
Fräulein geworden, deren Gedanken von Tag zu Tag ehrgeiziger und
begehrlicher wurden.
Zwei Seelen wohnten in ihrem Herzen. Die kalte, berechnende, die
nach Gold strebte. Und die sinnlich heiße, die in der Umarmung
kräftiger Männer das Glück suchte. Sie verstand es, beide Seelen zu
befriedigen.
Sie begann und beendete manch Liebesverhältnis. Der Bewerber
mußte von angenehmem Äußeren sein, zu den besseren Ständen
gehören und verschwiegen sein. Denn sie legte Wert darauf, daß ihr
Ruf untadlig blieb. So traf sie ihre Rendezvous mit größter
Heimlichkeit und reizte die Sinne ihrer Anbeter durch hinhaltendes
Zögern, schwierig einzuhaltende Verabredungen und allerlei Listen
aufs äußerste. Noch bevor sie sich einem hingab, bat sie um
Geschenke. Heiratsanträge überging sie mit Stillschweigen. War sie
eines Liebhabers überdrüssig, was meist nach kurzer Zeit eintraf,
verabschiedete sie ihn mit einer Kälte, daß er meinte, die Erinnerung
an heiße Nächte sei pure Einbildung gewesen, er hätte sie in
Wirklichkeit nie besessen.
*
Eines Nachmittags stieg Velma an einem abgelegenen Platz am
Flußufer vor der Stadt, das Weiden und Pappeln säumten, in eine
vornehme Kutsche, die nicht aus Rivage stammte. Der Wohlgeruch
von ölen und Kreszenzen, die sie benutzte, erfüllte betörend das
Innere des Wagens.
Der Mann, der sie erwartet hatte, gab dem Kutscher Befehl zur
Abfahrt. Er legte den Arm um ihre Schultern und zog sie mit
herrischer Bewegung an sich.
Velma versuchte nicht, sich zu wehren. Das war kein Mann wie die
üblichen Verehrer aus der Stadt. Sein Griff war entschlossen, sein
Gesicht hart, seine Sprache gebieterisch.
Velma spürte, wie ihr Inneres zerfloß.
Es war ihre dritte Begegnung, und sie wußte, daß sie sich ihm
diesmal hingeben würde. Selbst wenn er ihre gewohnten
Bedingungen der Heimlichkeiten mißachtete und ihr kein Geschenk
anbot!
Gegen die Stärke dieses Mannes vermochte auch ihre angeborene
berechnende Kälte nicht standzuhalten.
Doch es kam alles anders, als sie es sich erträumt hatte.
Der Mann flüsterte ihr keine Liebesbeteuerungen ins Ohr, wie sie
es gewöhnt war. Der Mann sagte mit einer Stimme, die Widerspruch
ausschloß: »Du bist Griseldis, die Witwe Jorns?«
»Nur ihre Freundin«, sagte sie, erstaunt über ihre eigene
Zaghaftigkeit. »Ich heiße ...«
»Griseldis!« unterbrach der Mann heftig. »Das wirst du von jetzt
an gegenüber jedermann behaupten.«
»Aber...«
Fünf Finger quetschten schmerzhaft ihren Oberarm. Sie schrie auf.
»Gegen jedermann! Verstanden?«
»Ja«, wimmerte sie kläglich. Der Druck ließ nach. Der Schmerz
aber hielt vorerst an.
»Gut, Griseldis. Du weißt, was geschehen ist. Trauerst du noch um
Jorn, um seine Burg und um die Schande, die man deinem Leib
angetan hat?« Er machte eine winzige Pause, ehe er in verändertem
Ton fortfuhr: »Sag jetzt nicht ja, sonst vernichte ich dich, verdammte
Hure!«
Ein köstliches Erschrecken durchrieselte Velma. Sie fühlte, daß sie
an der entscheidenden Wende ihre Lebens stand. Schmerz ließ sich
ertragen, aber nicht ewig der Mief der Kleinstadt Rivage. So hätte
dort keiner mit ihr zu sprechen gewagt! Sie wurde klein unter dem
herrischen Griff dieses Mannes. Gleichzeitig aber fühlte sie sich auf
unbegreifliche Weise über die Nichtigkeiten ihres bisherigen Lebens
erhoben.
Die geborene Abenteuerin spürte, wie das große Abenteuer sie in
den Fängen hielt.
»Nein«, sagte sie froh, und dabei log sie nicht einmal. »Ich haßte
Jorn, den sturen Langweiler. Ich mochte die Burg nicht, in der es so
streng und gleichförmig zuging. Und von einer Schande, die
Griseldis zugestoßen sein soll, weiß ich nichts.«
»Gut so«, sagte der Mann zufrieden. »Du lernst schnell. Du wirst
es weit bringen.«
Er packte ihre Hand, und sie fühlte den kalten Druck harten
Metalls in ihrer Handfläche.
»Das sind 20 Dukaten«, sagte er gleichgültig, als sei die Summe
ein Dreck. »Du wirst noch zehnmal soviel erhalten, wenn du alles
tust, was ich dir jetzt sage.«
Lutz von Lutzerath, dem jetzt nach dem Tod seinen Bruders auch
das viel mächtigere Atzerath gehörte, besaß eine Menge Bargeld. Als
Haggan noch auf dem Schmerzenslager fieberte, hatte er mit dessen
Höllenhunden eine Karawane von Kaufleuten überfallen. Der
Angriff wäre um ein Haar fatal ausgegangen, weil die Kaufleute eine
starke Bedeckung bei sich hatten.
Viele Höllensöhne bissen ins Gras. Aber Lutz kam mit Glück und
dem größten Teil der Kasse davon. Den Rest seines Haufens speiste
er mit wenigen Dukaten ab. Dann kehrte er nach Atzerath zurück,
übergab Haggan die Hälfte des geraubten Goldes und beriet sich
lange mit ihm.
Die Kühnheit und Schläue von Haggans Plan setzten ihn in
Verzückung. Mit großer Begeisterung machte er sich auf den Weg
nach Rivage und hatte wenig Mühe, Velma ausfindig zu machen und
zu umgarnen.
Während die Kutsche den langen Weg nach Atzerath einschlug,
entwickelte Lutz der entführten Velma in beschwörenden Worten,
was sie in den nächsten Tagen zu tun habe. Nicht einmal stellte sie
unbequeme Fragen. Nicht einmal erhob sie Einwendungen.
Verlangte er, daß sie einen Teil der Einflüsterungen wiederhole, dann
tat sie es ohne Fehler. Sie war die gelehrigste Schülerin, die man sich
denken konnte.
Sie übernachteten in guten Gasthöfen, wo sie getrennte Zimmer
bezogen. Überall trat Velma mit untadliger Vornehmheit auf. Sie
bestand jede Probe.
Klopfte er nachts an ihr Zimmer, so antwortete sie spröde: »Es ist
verschlossen und verriegelt. Ich bitte Euch, bewahrt Eure und meine
Ehre, Herr Ritter!«
Grinsend zog sich Lutz dann in sein Gemach zurück.
Sprach er sie tagsüber unversehens mit dem Namen Velma an, so
reagierte sie, als habe sie den Namen nie gehört, geschweige denn
selber getragen. Sagte er Griseldis, so antwortete sie selbstver-
ständlich: »Was beliebt, Herr Ritter?«
Nur einmal - und das war wenige Stunden vor der Ankunft auf
Atzerath – fiel Velma Griseldis aus der Rolle. Das war, als sie in
einer Anwandlung lang unterdrückter Lüsternheit fragte: »Ist es
eigentlich erlaubt, diesen Roland, von dem Dir mir erzähltet, zu
verführen?«
Lutz lachte. »Das steht Euch frei! Nur fürchte ich, Ihr müßtet
vorher ein Weib namens Heide vergiften!«
*
Roland erklärte sich einverstanden, noch fünf Tage auf Lutz und die
Zeugin Griseldis zu warten.
Den ersten Tag sattelte er Samum und preschte mit ihm
stundenlang über verschneite Äcker und Wiesen, über Saumpfade
und Hügelkämme, durch Hohlwege und Gehölze.
Den zweiten Tag übte er sich im Bogenschießen, wobei er ständig
das Ziel verkleinerte und die Entfernung vergrößerte.
Den dritten Tag sah er seine Waffen und Rüstung durch, schärfte
und putzte, bastelte und schmirgelte, bis alles blitzte wie Silber.
Die Nächte verbrachte er mit Heide.
Den vierten Tag ging er auf die Jagd. Er hatte bei seinem Streifzug
weit im Südwesten den Schimmer eines ausgedehnten hügeligen
Waldlands entdeckt. Dort, meinte er, müsse es allerhand jagdbares
Getier geben.
Heide schlummerte noch tief, als er sie am frühen Morgen verließ.
Einen Augenblick zögerte er, von Rührung bei dem Anblick ihres
feingemeißelten Köpfchens übermannt. Dann schrieb er auf ein Blatt
ein paar Zeilen, die ihm das Gefühl eingab.
O Nacht der Nächte!
Ja, keine brächte Mir immerzu Ein Glück wie du!
Er hoffte, sie werde es beim Aufwachen finden und sich darüber
freuen. Im Wegreiten dachte er, daß wohl wirklich am hellen Tag die
Sonne vom Himmel verschwinden und tiefe Dunkelheit die Erde
umfangen halten müsse, ehe er ihr untreu werden würde.
Nach zwei Stunden scharfen Rittes war der Waldsaum erreicht.
Spuren fand Roland viele im dichten Schnee. Aber da er keine
Hunde bei sich führte, war es nicht einfach, die flüchtigen Tiere zu
erjagen. Fast den ganzen Tag tummelte er den unermüdlichen
Samum im Galopp durch die Wälder. Aber oft genug mußte Roland
eine lange Hatz abbrechen, wenn der verfolgte Keiler, der
schnaufende Hirsch oder das flinke Reh in dichtes Unterholz
flüchteten, wo für Pferd und Reiter kein Durchkommen war.
Als die Nacht hereinbrach, hatte er sich verirrt. Der Himmel war
bezogen. Kein Stern wies die Richtung. Aufs Geratewohl ließ er
Samum traben. Ihn fror im dünnen Jägeranzug.
Einmal schimmerte ein Licht. Oder narrte ihn das überreizte Auge?
Er hielt darauf zu. Immer wieder entschwand es hinter
Baumstämmen und Bodensenken. Doch endlich war es nah. Er hatte
sich nicht getäuscht.
Er kam auf einen breiten Weg, wie ihn Holzfäller oder Händler
gern benutzten, und das Lichtlein wurde zur Stallaterne, die an einem
rostigen Gittertor hing. Eine Blockhütte kauerte tief im Schnee. Die
Läden waren geschlossen. Und doch konnte Roland im Schein der
Lampe die eingekerbte Schrift entziffern:
Herberge zur guten Ruh.
Nach langem Rufen und Klopfen öffnete sich die Tür, und ein
krummgewachsener Mann in mittlerem Alter mit hellem, dünnem
Haar trat heraus. Er war mürrisch und abweisend, wurde aber
anderen Sinnes, als Roland ihm für ein Nachtquartier die Hälfte
seiner erlegten Beute anbot.
Das bedeutete zwei Fasanen, einen Hasen und einen Hirsch.
Der Mann wurde zunehmend freundlicher, führte Samum in einen
geräumigen Anbau, in dem es angenehm nach Futter roch, und ließ
dann Roland über die Schwelle ins Haus. Beim Eintreten sah der
Ritter sieben tiefe Kerben an der vom Alter geschwärzten Tür.
Roland verschwendete keinen Gedanken an die mögliche
Bedeutung der Kerben. Er hätte sie auch nie erraten. Und der Wirt
hätte eine Frage danach höchstens mit einer Lüge erwidert.
Der Wirt, der sich Hellmer nannte, wohnte seit einem guten
Dutzend Jahren an dieser abgelegenen Stelle im Wald. Weil sich nur
selten Gäste zu ihm verirrten, hatte er vor einigen Monaten
begonnen, einzelne Reisende des Nachts, wenn sie im tiefsten Schlaf
lagen, zu ermorden. Später vergrub er sie an abgelegener Stelle und
behielt ihre mitgeführten Habseligkeiten, deren Wert oft beträchtlich
war.
Jede Kerbe bedeutete einen ermordeten Gast!
Roland ahnte nicht, was sein Wirt beschlossen hatte. Er sollte in
dieser Nacht das achte Opfer werden!
Nachdem Hellmer diesen Entschluß gefaßt hatte, taute er rasch auf
und behandelte seinen Gast mit großer Fürsorge. Er tischte ihm auf,
was Küche und Keller hielten - und das war nicht wenig. Beim
Schmausen leistete Hellmer dem Ritter Gesellschaft. Er langte auch
ab und zu selber nach einem schmackhaften Bissen. Und er nötigte
den Ritter zu herzhaftem Zechen.
Nun war Roland nach dem hitzigen Jagdtag durstig genug und ließ
sich nicht zweimal bitten. Die Unterhaltung blieb einsilbig, da
Hellmer wortkarg war und Roland nicht wußte, worüber er sich mit
dem einfältigen Menschen unterhalten sollte. So kam es, daß er
schließlich dem Weinkrug nicht allein aus Durst, sondern auch aus
Langeweile kräftig zusprach.
Hellmer nahm nur selten einen Schluck zu sich. Beim Schein des
flackernden Kaminfeuers hatte er eine schwere Axt zur Hand
genommen und begann, sie sorgfältig an der Schneide zu schärfen.
Plötzlich bemerkte er Rolands Blick und ließ sich dazu herbei,
seine Beschäftigung mit den Worten zu erklären: »Ich muß morgen
einige Bäume fällen.«
Flüchtig fragte sich Roland: Wozu? Denn draußen und drinnen
waren riesige Mengen von Brennholz gestapelt. Ein leichter
Argwohn kroch in ihm hoch, verflüchtigte sich aber völlig, als er den
nächsten Becher leerte.
Hellmer schenkte ihm fleißig nach und fuhr fort, seine Axt zu
schärfen.
Mit Behagen leerte Roland noch drei Becher. Dann wurde er
plötzlich sehr müde. Die Augen fielen ihm zu. Als er nach wenigen
Augenblicken aufschreckte, sah er, daß Hellmer sich erhoben hatte
und ihn aufmerksam beobachtete.
Roland gähnte und stand auf. »Zeig mir mein Zimmer, Wirt!«
sagte er. »Die Mahlzeit war köstlich. Ich gedenke, einen tiefen Schlaf
zu tun.« Dabei fiel ihm der Name des Hauses ein, den er bei der
Ankunft draußen gelesen hatte:
Herberge zur guten Ruh . ..
Wie doppelsinnig dieser Name war, hatten die sieben Opfer
Hellmers nie erfahren.
Hellmer geleitete ihn über einen dunklen Gang und stieß eine
windschiefe Tür auf. Die Lagerstätte bestand aus einem Holzgestell,
auf dem ein Strohsack und eine uralte Pferdedecke lagen. Licht gab
es nicht. Aber Hellmer hatte das Fenster aufgestoßen. Der Himmel
hatte sich ein wenig aufgeklärt. Schon funkelten einige Sterne, und
schwaches Mondlicht kam herein.
»Gute Nacht!« wünschte der Mörderwirt. Er hatte die Axt nicht
losgelassen. Als er hinausging, strich er mit dem Daumen zufrieden
über die messerscharfe Schneide.
Roland antwortete nicht. Er war zu müde. Kaum hatte er die Stiefel
von den Füßen gezogen, da fiel er auf den Strohsack und war nach
wenigen Atemzügen eingeschlafen. So bemerkte er auch nicht, daß
Hellmer beim Hinausgehen die Tür nicht ins Schloß fallen, sondern
einen Spaltbreit offenließ.
Hellmer schlurfte in die Küche zurück und setzte sich, die Axt im
Arm, geduldig an den Tisch. Er wollte noch ein, zwei Stunden
warten, bis sein argloser Gast im Tiefschlaf lag. Dann würde er in
seine Kammer gehen und ihm den Garaus machen. Er war überzeugt,
daß der Fremde nicht wenige Golddukaten bei sich führte.
Das Pferd würde er fürs erste behalten.
So saß er beim matten Schein eines Öllämpchens und trank ab und
zu einen Schluck Wasser. Nach vollbrachter Tat würde er sich einen
Rausch antrinken. Jetzt aber brauchte er eine sichere Hand.
*
Indessen wanderte der Mond weiter und schien schließlich hell in
Rolands Kammer hinein. War er es, der den Ritter weckte? Oder
erwachte er, weil ihm die gewohnte Wärme von Heides lieblichem
Körper fehlte? Oder ließ ihn jener sechste Sinn nicht zur Ruhe
kommen, der Waldläufer, Jäger und Kämpfer auszeichnet?
Jedenfalls richtete er sich nach kaum einer Stunde auf - und war
plötzlich hellwach!
Sein erster Gedanke ging zu Heide. Wahrscheinlich wartete sie zu
dieser Zeit noch auf seine Rückkehr. Wie sie ihm fehlte! Er nahm
sich vor, morgen früh beim ersten Licht zur Burg zurückzureiten.
Schon wollte er sich gähnend wieder aufs Lager fallen lassen, als
sein Blick auf einige Sterne fiel. Gleichzeitig erinnerte er sich an sein
Versprechen, das er Heide vor zwei Nächten unter Lachen und
Scherzen gegeben hatte.
Vom Fenster aus, das nach Süden lag, hatten sie den winterlichen
Sternenhimmel betrachtet, Hand in Hand, Wange an Wange, Schulter
an Schulter. Er zeigte ihr die Sterne, die das Bild des Orion
ausmachten. Heide kannte das prächtige Nachtgestirn. Sie hatte es
schon oft bewundert.
Roland fiel ein, was sein Lehrer, der Einsiedler Klaus, ihm darüber
berichtet hatte. »Orion war ein berühmter Jäger des Altertums. Den
wilden Jäger nannten ihn die Griechen, und er war der Geliebte der
Eos, der Morgenröte.« Er streichelte Heides Arm und flüsterte ihr ins
Ohr: »Eos - das bist du für mich.«
»Und du wilder Jäger«, flüsterte sie zurück, »bist mein Orion!«
Sie lachten herzlich, küßten sich viel und wurden schließlich ernst.
»So wollen wir uns geloben«, sagte Heide nach langem Schweigen,
»daß wir, wenn wir getrennt und fern sind, des Nachts den Orion
anschauen und dann aneinander denken!«
Daran erinnerte sich Roland jetzt in der Waldwüste, in der elenden
Kammer der finsteren Herberge »Zur guten Ruh«, die noch besser
»Herberge zur ewigen Ruh« geheißen hätte. Er stand von seinem
Strohsack auf und schlich in Strümpfen an das schmale Fenster.
Lange stand er dort, schaute den Orion an, den leuchtenden
Schulterstern, die Gürtelsterne, das Schwertgehänge und den
schwachschimmernden Nebel. Und ihm wurde wohl ums Herz, weil
er sicher war, daß Heides Blicke jetzt ebenfalls in dieser
Himmelsgegend weilten und ihre Gedanken sich dort im
Unendlichen zärtlich begegneten.
Sein Kopf fuhr herum.
Ein ganz schwaches Geräusch hatte sein Ohr erreicht. Wie der
vorsichtige Schritt eines Menschen!
Roland zog sich lautlos vom Fenster zurück, um nicht gegen den
helleren Himmel als Schattenriß erkennbar zu sein. Seine Augen
hatten sich inzwischen an das Dunkel in der niedrigen Kammer
gewöhnt. So sah er, wie sich die Tür leise öffnete und Hellmer
hereinschlich.
Es waren nur fünf kurze Schritte von der Tür bis zum Kopfende
des Lagers, aber der Wirt ließ sich lange Zeit. Zwischen jedem
Schritt verstrichen Ewigkeiten. Roland atmete ganz flach, um sich
nicht zu verraten. Als der Wirt den fünften Schritt tat, erkannte
Roland auch, daß er die Axt bei sich hatte.
Ein kalter Schauer zog Rolands Kopfhaut zusammen. Und dann
geschah es in Blitzesschnelle.
Hellmer hob die Arme und schwang die Axt. Dann ließ er sie
dorthin niedersausen, wo er Rolands Kopf auf dem Lager vermutete.
Er führte drei fürchterliche Schläge. Dann hielt er inne, und Roland
hörte ihn mit schwerer Zunge sagen: »Das reicht für dich, Fremder!
Du warst der achte! Ich darf morgen die Kerbe nicht vergessen ...«
Er murmelte noch einiges, was unverständlich blieb. Dann ging er
mit lauten Schritten hinaus, vermutlich, um das Öllämpchen zu
holen. Roland zog sich noch tiefer in den Schatten der Wand zurück
und wartete auf seine Wiederkehr.
Wie erwartet kam der Wirt bald zurück. Die Axt hatte er mit dem
Lämpchen vertauscht. Rasch trat er ans Lager und leuchtete.
Hellmer traute seinen Augen nicht. Tiefer und tiefer beugte er sich
über den Strohsack, strich mit den Händen fahrig darüber hin und
murmelte in abgerissenen Tönen verzweifelt: »Das kann nicht sein ...
Das ist Trug der Sinne ... Ich traf ihn dreimal... Er schlief wie ein
Stein ... Wo ... Wo ... ist er!«
»Hier!« sagte Roland scharf, sprang ihn an und packte ihn an
beiden Armen.
Überraschend schnell faßte sich Hellmer, der doch mit diesem
Angriff überhaupt nicht gerechnet hatte. Die Berührung schien
ungeheure Kräfte auszulösen. Vielleicht hatte ihn Roland auch nicht
kräftig genug angefaßt. Jedenfalls schleuderte der Mörderwirt den
Ritter mit einer heftigen Bewegung seines Oberkörpers von sich.
Dabei ließ er das Öllämpchen los. Es fiel auf den Strohsack.
Hellmer wirbelte herum. »Da ist er!« schrie er, und seine Haare
sträubten sich. Er glaubte, Roland sei mit finsteren Mächten im
Bunde. Anders konnte sich der einfältige Waldmensch dessen
Überleben nicht erklären.
Aber der Aberglaube lahmte ihn nicht, sondern verdoppelte eher
seine Kräfte. Als sie miteinander rangen, bekam Roland es zu spüren.
Der Griff des Mörders war wie ein Schraubstock. Die Luft wurde
ihm knapp. Vor seinen Augen tanzten bunte Flecken. Roland
röchelte.
Er angelte nach Hellmers Beinen, bekam einen Fußknöchel in die
Hände und riß ihn scharf nach vorn. Hellmer grunzte wütend und
stürzte nach hinten. Mit dem Kopf schlug er gegen die Bettkante und
war für den Augenblick betäubt.
Sein Griff lockerte sich.
Roland nutzte diesen Glücksfall sofort aus und setzte dem Gegner
das Knie auf die Brust.
Bei Hellmers Sturz war das Öllämpchen umgefallen. Die kleine
Flamme entzündete den trockenen, dünnen Überzug der Bettauflage
und das festgepackte, ausgedörrte Stroh. Als Roland sich mit dem
Oberkörper über den Gegner warf, schoß ihm eine heiße
Stichflamme entgegen.
Aufschreiend prallte Roland zurück. Schon stand das Bett in hellen
Flammen, die bis an das niedere Dach loderten. Sie griffen in
Windeseile auf einen Stapel Reisig über, der neben dem Bett aufge-
häuft war. Rot, grellgelb, purpurn und orange waberte es stechend,
beißend, brennend vor Rolands Gesicht.
Wenige Herzschläge noch, und die ganze Herberge würde ein
Feuermeer sein!
Nur wie einen dunklen Schemen nahm Roland noch die Gestalt des
hingestreckten Mörderwirts in dem züngelnden Schwall des Feuers
wahr. Die Hitze brannte ihm ins Gesicht, wollte ihm in die Augen
stechen. Er kniff die Augen zu, bückte sich und griff nach Hellmers
Beinen.
Ein prasselnder Krach! Das Dach kam herunter. Klafterhoch
schossen die Flammen wie Fackeln beim Osterfeuer.
Roland mußte loslassen. Er schlug die Arme vors Gesicht und
wandte sich um. Die Wand bekam einen Riß. Wieder glaubte er,
keine Luft mehr zu bekommen - wie vorhin unter dem eisernen
Zugriff des Mörders.
Ringsum krachte, knallte und prasselte es. Die Flammen züngelten
nach Rolands Körper. Halb erstickt floh er durch den Riß der Wand.
Balken, Feuerstöße und zerbrochene Dachsparren flogen hinter ihm
her. Manche trafen seinen Rücken wie Huftritte. Hinter sich hörte er
einen gräßlichen Schrei.
Wie von selbst trugen ihn seine Füße über zerbrechenden
Fußboden, durch Flammen und Schutt ins Freie. Ein Blick zurück
belehrte ihn, daß es für Hellmer, den Waldmörder, keine Rettung
mehr gab. Er verbrannte an der Stätte seiner bisher ungesühnten
Untaten.
Die kalte Nachtluft war belebend. Aber Roland gönnte sich keinen
Augenblick der Ruhe und des Atemholens. Er rannte zum
angrenzenden Stall.
Samum! Würde auch der edle Araber den Feuertod erleiden? Das
Herz krampfte sich Roland bei diesem Gedanken zusammen. Dann
fiel ihm ein, daß er ihm vorhin den Sattel abgenommen und ihn nicht
angeleint hatte.
Im gleichen Augenblick, da er die Stalltür von außen öffnete,
schlug Samum von innen mit den Vorderhufen dagegen. Das
erschrockene Tier stand hoch aufgerichtet über Roland. Der machte
einen schnellen Satz zur Seite, als Samums Vorderbeine
herunterkamen. Ein Huf streifte seine Schulter.
Dann schoß Samum wie ein Pfeil aus dem Stall. Er floh
meilenweit, und Roland stolperte die halbe Nacht durch den Wald,
ehe er das furchtgepeinigte Tier wiederfand.
Zu diesem Zeitpunkt hatten die Flammen ihr grausiges Werk schon
lange vollbracht. Nur eine dünne Rauchsäule kündete noch von dem
Geschehen. Langsam stieg sie im Süden aus den Baumwipfeln
empor und mischte sich mit dem grauen Morgennebel.
Zitternd und schnaubend empfing Samum seinen Herrn. Unruhig
tänzelten die Hufe auf der Stelle. Die Nüstern blähten sich. Roland
legte seine Wange an den schöngeformten Kopf des Rappschimmels,
klopfte ihm den schlanken Hals und sprach beruhigend auf ihn ein.
Unendliche Zärtlichkeit erfüllte sein Herz. Heide hatte auch aus der
Ferne schützend die Hand über ihn gehalten!
*
Zwei Tage waren seit Rolands Begegnung mit dem Mörder und
seiner knapp gelungenen Flucht vor dem Brand vergangen, als er die
Zeugin Haggans kennenlernte. Sie empfing ihn vor dem Kamin der
Burg Atzerath.
Außer bei Königin Ginevra hatte der junge Ritter noch nie so
kostbare Frauenkleidung, so prächtige Haarfrisur und so würdevolle
Haltung erblickt. Kaum wollte ihm ein Wort der Begrüßung über die
Lippen, als Ritter Lutz ihn der schönen Dame vorstellte.
Sie reichte ihm eine ringgeschmückte, kühle, schlanke Hand, die er
ehrfürchtig an die Lippen führte.
»Ich lasse Euch jetzt allein«, hörte er wie in weiter Ferne Lutz
sagen. Dann sank er in den Sessel, auf den die Dame deutete. Seine
Augen hingen an diesem großflächigen, stolzen Gesicht, dem
schlanken weißen Hals und dem Ansatz des schwellenden Busens,
den ihr Mieder freiließ.
Sie waren allein.
Sie sagte, und ihre Stimme war volltönend wie Musik einer Geige:
»Ich bin Griseldis, die Witwe. Oh, Ritter Roland, vergebt es einer
unglücklichen, zutiefst leidenden Frau, daß sie Euch aufsucht! Ich
habe oft Eure Taten rühmen hören. Man schilderte mir Eure
Erscheinung. Und ich erfuhr von dem Auftrag, den unser gnädiger
König Euch erteilte. Da hielt es mich nicht mehr in meiner
Kemenate. Ich ließ nach Euch forschen. Und als ich von Ritter Lutz
vernahm, daß Ihr auf Atzerath weilt, bat ich ihn inständig, mich zu
Euch zu führen.«
Roland errötete, denn er bemerkte, daß sie ihn von Kopf bis Füßen
aufmerksam musterte. Ein wollüstiger Schauer rann durch seine
Adern. Verlegen fuhr er sich mit der Hand über das Kinn. Und
verlegen sagte er: »Haggan behauptete ...»Heftig unterbrach ihn die
Frau, die sich als Griseldis vorgestellt hatte und in Wirklichkeit deren
Zofe Velma war: »Sprecht mir nicht von Haggan. Mit diesem bösen
Mann begann all mein Unglück!«
Erstaunt blickte Roland sie an. Seltsame Worte aus dem Mund
einer Frau, die Haggan als Entlastungszeugin aufgeboten hatte! Um
so gespannter lauschte er dem, was sie zu sagen hatte.
Sie lächelte jetzt. Ein bittersüßes, ein schmerzlich tapferes Lächeln,
wie es Roland schien. »Verzeiht einer Frau, daß sie nur aus dem
Gefühl heraus urteilt! Vielleicht tue ich Haggan unrecht. Aber diese
dunklen, bärtigen Typen mit den stechenden Augen und den rauhen
Stimmen waren mir schon als Kind unsympathisch. Vielleicht lasse
ich mich allzusehr vom Äußeren blenden. Aber wovon sprach ich?«
»Daß mit diesem bösen Mann all Euer Unglück begann«, half ihr
Roland.
»Ja, richtig. Er erwies sich als Unheilsbringer. Durch ihn lernte ich
seinen Bruder Jorn kennen. Ihr müßt wissen, dieser Jorn war
Haggans Abgott. Er himmelte ihn an. Jorn hier, Jorn da. Jorn der
Edle, Jorn der Kluge, Jorn der Schöne, Jorn das Idol. Er schwärmte
von ihm wie von einem Halbgott.«
Rolands Augen hingen an ihren vollen, sinnlichen Lippen.
»Kein Wunder«, fuhr sie fort und senkte die langen, seidigen
Wimpern, »daß ich unerfahrenes Mädchen mich unsterblich in Jorn
verliebte, als ich ihm endlich begegnete. Er war blond - wie Ihr,
Roland. Und ich sah ihn mit Haggans Augen, der ja von seinem
Bruder verblendet war. All das Edle, Kluge, Schöne, von dem
Haggan mir erzählt hatte, meinte ich in Jorn zu finden. Ehe ich mich
versah, war ich seine Frau.«
Sie schlug die Augen auf und sah ihn voll an. Wieder errötete der
Ritter.
»Schon nach wenigen Wochen fand ich zu meinem Leidwesen
heraus, daß er ein elender Blender war. Er hatte mich, Haggan und
alle Welt getäuscht. Ein Mann, dessen Stimme und Rede wie Honig
waren, doch seine Gedanken waren Gift. Ein Schauspieler, der
seinen schlechten Charakter hinter einer Maske zu verbergen wußte.
Wißt Ihr, warum er mich überhaupt zum Weibe nahm?«
»Das ist nicht schwer zu erraten, Griseldis«, platzte Roland heraus.
»Es gibt im ganzen Land schwerlich ein schöneres Weib, als Ihr es
seid.«
Sie schlug scherzhaft mit ihrem Fächer nach ihm. »Roland,
Schmeichelei steht Euch schlecht zu Gesicht. Die Wahrheit ist, daß
Jorn sich aus Frauen kaum etwas machte. Er verbrachte die Nächte
lieber mit seinen Knappen. Ihr versteht, was ich meine?«
Roland nickte. Das waren ja unerhörte Neuigkeiten! Sie klangen
fast unglaublich. Doch da Jorns Frau es selber sagte, so mußte es
wahr sein.
»Er hatte mich geheiratet, weil... Das Wort will mir schwer über
die Lippen. Ich habe auch seit seinem Tod mit niemandem darüber
gesprochen. Aber vor Euch will ich kein Geheimnis haben. Jorn
heiratete mich aus Habgier!«
Roland schüttelte den Kopf. »Wie das, Griseldis?«
»Er hatte erfahren, daß sein Vater Greif ein Testament geschrieben
hatte. In aller Heimlichkeit suchte Jorn danach, fand es und las es. So
erfuhr er, daß Greif seine Burg dem seiner beiden Söhne vererbte,
der als erster heiratete! Dies hat mir Jorn selber gestanden, Roland!
Und daß er es gerade auf mich abgesehen hatte, hatte seinen Grund
darin: Ich bin die Lieblingsnichte der Königin Ginevra. Davon
erhoffte er sich als mein Ehemann weitere Vorteile. Als Mensch, als
Frau, als Charakter, als Wesen, als Seele war ich ihm gleichgültiger
als der letzte seiner Jagdhunde. Ich war ihm nur das Werkzeug, das
ihm zu Besitz und Vermögen verhelfen sollte!«
Unwillkürlich ballte Roland die Fäuste. Welch ein fluchwürdiger
Mann war dieser Jorn gewesen! Und welch ein Unglück für
Griseldis, daß sie ihr Schicksal mit dem seinen vereinte! Doch noch
so vieles blieb unklar ...
»Sprecht weiter! Als sein Vater starb ...«
»Oh, welch ein unheilvoller Tag! Dieser gütige, freundliche Mann,
dessen wohlmeinende Absichten so ins Gegenteil verkehrt wurden!«
»War Greif lange krank, bevor der Tod ihn erlöste?« fragte
Roland.
Griseldis schlug die Hände vors Gesicht. »Krank? O ja, er war
krank! Er siechte dahin! Es war schrecklich mitanzusehen, wie er
täglich mehr von Schmerzen geplagt wurde, wie er abmagerte und
jede Farbe verlor. Aus dem lebensprühenden Alten wurde ein
bleiches Gespenst.«
»Und die Natur seiner Krankheit?« »Ich kenne sie sehr wohl. Einer
von Jorns Knappen gestand mir, woran Greif litt. Leider viel zu spät,
als er schon Wochen im Grab lag. Jorn hatte den Knappen bestochen,
dem Alten Gift ins Essen zu mischen. Gift, Roland! Der Sohn dem
Vater! Gift, mit dem sie Ratten töten! Ich warf mich schreiend zu
Boden, als ich es erfuhr. Ich wollte Jorn nie wiedersehen. Ich
verschloß ihm mein Gemach. Nun, er hatte sowieso wenig Sehnsucht
nach mir. Ihr wißt ja, er zog die Körper seiner Knappen den
zärtlichen Armen seiner Gattin vor.«
Roland starrte sie entgeistert an. Er war wie vor den Kopf
geschlagen. Was hatte diese Frau durchgemacht! An der Seite einer
solchen Bestie zu leben!
»Doch das Schrecklichste ...« Griseldis stockte.
»Das Schrecklichste?« fragte Roland.
Die Schultern der schönen Frau ihm gegenüber begannen zu
zucken. Ein erstickter Laut wurde hörbar. Unschlüssig schaute
Roland zu ihr hin. Noch immer verdeckte sie mit den Händen das
Gesicht. Ihr ganzer Körper wurde wie von einem Krampf geschüttelt.
Sie schluchzte laut.
Roland sprang auf, eilte zu ihr hinüber, kniete neben ihr nieder und
strich ihr schüchtern über das reiche Haar. »Beruhigt Euch,
Griseldis! Es ist ja alles längst vergangen ...«
Er wußte nicht, wie lange Zeit verstrich, ehe Griseldis sich faßte.
Und er bemerkte auch nicht, daß sich in dieser Zeit die Tür leise,
öffnete.
Heide war es, die auf der Suche nach Roland zufällig
hierhergeraten war. Wie versteinert blieb sie bei dem Anblick auf der
Schwelle stehen. Ihr Geliebter kniete vor der fremden Frau und strich
ihr zärtlich übers Haar! Und jetzt nahm die Frau Rolands Hand in die
ihre und zog sie an ihren Busen!
Heides Augen verdunkelten sich. Das Zimmer begann, um sie zu
kreisen. Eine eiskalte Hand umklammerte ihr Herz. Furchtbare Angst
erfaßte sie, sie könne ohnmächtig werden. Nur das nicht! Mit letzter
Kraft unterdrückte sie den Schrei, der ihr auf den Lippen lag, zog
sich lautlos zurück, lehnte von außen die Tür an und floh in ihr
Zimmer, wo sie sich, von lautlosem Weinen geschüttelt, aufs Bett
warf.
Die beiden Menschen im Zimmer hatten nichts von alldem
bemerkt. Griseldis streichelte Rolands Hand und sagte gefaßt: »Es tut
so wohl, einem Mann zu begegnen, der nicht nur ein tapferer
Kämpfer ist, sondern auch Mitgefühl mit den Leiden einer
schwachen Frau hat. Ach, Roland, Ihr wißt gar nicht, wie Ihr mir
helft!«
Plötzlich wurde es Roland bewußt, daß sie sich in einer
verfänglichen Situation befanden. Er kniete wie ein Liebhaber vor
der Frau und spürte ihr Herz klopfen, denn seine Hand lag auf ihrer
Brust! Wenn sie jemand so überraschte! Lutz, Haggan, ein Diener!
Oder gar Heide!
Niemand würde ihm glauben, daß alles ganz harmlos war. Und
doch hatte reines Mitgefühl ihn getrieben, ihre Hand zu ergreifen.
Und nur die natürliche Hoffnung auf Beistand in tiefem Unglück
bewog Griseldis - dessen glaubte er sicher zu sein -, ihn zu streicheln
und ihr vornehm schönes Gesicht dem seinen so zu nähern, daß sich
ihre Lippen beinahe berührten.
Sanft löste sich Roland von ihr. Er sah ihren Blick, in dem er
Trauer, aber auch Vertrauen las und den er dennoch nicht ganz zu
deuten wußte. Dann nahm er in sicherem Abstand auf dem Sessel
Platz, den sie ihm zu Beginn der Unterredung angeboten hatte. »Was
geschah weiter?« fragte er eifrig.
Sie seufzte tief. Als sie wieder sprach, überschlugen sich ihre
Worte. »Ich stellte Jorn zur Rede. Er gab den Mord an seinem Vater
nicht zu, leugnete ihn aber auch nicht ausdrücklich ab. Er hohnlachte
mir ins Gesicht. Nach einer Weile aber wurde er zornig und befahl
mir, mich aus allen Männerangelegenheiten, wie er es nannte,
herauszuhalten. Die gingen mich nichts an. Er drohte mir auch:
>Noch ein Wort, und es wird dir übel ergehen!< Dabei glänzten
seine Augen hinterhältig. Nach diesem Gespräch war jede
gemeinsame Tafel für mich eine Qual. Ich wagte kaum, einen Bissen
zu mir zu nehmen. Mit tiefem Mißtrauen betrachtete ich die
Knappen, die in der Halle mit uns zu Tische saßen. Argwöhnisch
folgte ich den Handreichungen der Diener. Wer unter ihnen würde
mir Gift ins Essen mischen?«
Sie schwieg, wie überwältigt von der Last so schauerlicher
Erinnerungen. »Einige Tage später kam Haggan. Irgendwo in der
Fremde hatte ihn die Nachricht vom Tod seines Vaters erreicht. Er
schien tief bestürzt. Viele Stunden verweilte er am Grab. Sein
Schmerz um den alten Greif war groß und echt. Dennoch betrachtete
ich ihn mit Abscheu. Ich sah in ihm den Urheber allen Unglücks.
Sicherlich tat ich ihm unrecht. Aber ohne seine Schwärmerei für Jorn
wäre ich doch niemals dessen Frau geworden!«
Roland räusperte sich. »Zürnte Haggan dem Bruder, daß er die
Burg allein geerbt hatte? War er neidisch?«
»Nein, gar nicht«, war die rasche Antwort. »Über diese
Güterverteilung schien Haggan eher erfreut zu sein. Ein seßhaftes
Leben als Burgherr wäre wohl seiner abenteuerlichen Veranlagung
zuwider. Ihn lockten nur die Weite, die Ferne, das Unbekannte. So
war er froh, ungebunden und frei zu sein.«
Roland nickte. Das konnte er sich gut vorstellen. Auch ihn trieben
Fernweh und die Sehnsucht nach spannenden Erlebnissen durch die
Welt. »Wie verlief es weiter?« fragte er.
Sie schaute auf ihre Hände, die jetzt im Schoß lagen. »Ich kam auf
einen unglückseligen Gedanken. Als ich mit Haggan allein war,
erzählte ich ihm alles, was ich erfahren hatte. Die Wirkung war
niederschlagend für mich. Meine Worte erregten seinen Grimm. Er
schalt mich eine gemeine Lügnerin. So finster war sein Gesicht, daß
ich mich vor ihm fürchtete. Ich merkte, wie es ihm in den Händen
zuckte, mich zu schlagen. Doch 'er beherrschte sich, sprach aber
während seines Aufenthalts kein Wort mehr mit mir. Er blickte durch
mich hindurch, als sei ich nicht verbanden.« Sie zog ihr
Spitzentaschentuch und betupfte die Augen. »Oh, ich weinte viel in
jenen Tagen ...«
»Ihr Ärmste!«
»Ich hätte es besser wissen müssen! Haggan vergötterte doch Jorn!
Jeder, der schlecht über seinen Bruder sprach, war sein Feind!«
»Damit mußtet Ihr allerdings rechnen.«
»Es kam noch schlimmer. Jorn erfuhr, daß ich ihn angeklagt hatte.
Sobald Haggan abgereist war, sagte er es mir auf den Kopf zu. Er
hatte wohl erkannt, daß ich ihm fortan gefährlich werden konnte.
Andererseits brauchte er mich noch für seine hochfliegenden Pläne,
die er mir nach und nach enthüllte. Ich sollte ihm dabei helfen, das
Vertrauen der Königin zu erringen. Weil ich ihre Lieblingsnichte bin,
wollte Jorn ihr bevorzugter Ritter werden. Doch damit nicht genug!
Ihr wißt, daß Artus oft monatelang unterwegs auf der Suche nach
dem heiligen Gral ist. Eine solche Abwesenheit wollte Jorn
ausnutzen, um die Krone an sich zu reißen und den rechtmäßigen
König bei seiner Rückkehr ermorden zu lassen.«
»Nein«, entfuhr es Roland, »das kann nicht sein!«
Wieder schluchzte Griseldis tieftraurig auf, aber es klang
gedämpfter. Dann gab sie sich einen Ruck. »Doch, Roland», so war
es. Er selber prahlte vor mir mit diesem abscheulichen Vorhaben.
Wie ein Pfau stolzierte er dabei auf und ab und brüstete sich mit
seiner Schlauheit, der niemand im Königreich gewachsen sei. Es war
unerträglich! Als er mich verließ, schloß er mich sorgfältig in meiner
Kemenate ein. Ich fürchtete mich unsagbar ...«
Roland beugte sich vor. »Man sagt, zu diesem Zeitpunkt sei
Haggan nochmals zurückgekehrt, habe Euch allein angetroffen und -
verzeiht, daß ich den Punkt erwähne! - habe Euch mit Gewalt zur
Liebe gezwungen. Danach ...«
Griseldis hob die Hand, und Roland verstummte. »Ich habe keinen
Anlaß, Haggans Partei zu ergreifen«, sagte sie in völliger Ruhe. »Ich
mag ihn und seine Art heute noch weniger als zu Beginn unserer
Bekanntschaft. Aber als ich vor kurzem erfuhr, daß man ihn solcher
Verbrechen bezichtigt, faßte ich den Entschluß, ihn von den absurden
Vorwürfen zu reinigen. Haggan mag alles mögliche sein - ein
Leichtfuß, ein Draufgänger, ein häßlicher Kerl. Aber eins ist er
bestimmt nicht: ein Verbrecher. Trotz aller Vorurteile, die ich gegen
ihn hege, muß ich gestehen, daß er sich stets ritterlich benahm. Und
das werde ich jederzeit freimütig bezeugen: Haggan ist ein Ritter
vom Scheitel bis zur Sohle!«
Die ruhigen Worte einer Frau, die nach eigenem Eingeständnis
keinerlei Sympathien für den Gegenstand ihres Gesprächs verspürte,
verfehlten ihren Eindruck auf Roland nicht. Dennoch beharrte er
darauf, ihr weitere Fragen zu stellen. »Wie erklärt Ihr dann den Mord
an Eurem Gatten Jorn und der Zerstörung seiner Burg? Beides legte
man bisher Haggan zur Last.«
»Das ist leicht zu beantworten, Roland. Zwei von Jorns Knappen
hatten seine Gunst in jeder Hinsicht besonders genossen. Auf einmal
zog er seine Hand von ihnen ab und wandte sich einem dritten zu.
Die beiden muckten eifersüchtig auf. Da entließ er sie aus seinem
Dienst. In seiner Habgier ließ er den beiden ehemaligen Lieblingen
nicht einmal Pferd und Rüstung und verweigerte ihnen den
aufgelaufenen Sold. Sie zogen murrend von dannen, trafen sich
insgeheim und verschworen sich zu gemeinsamer Rachetat. Als Jorn
unbewaffnet im Wald nahe der Burg einherwandelte und über seinen
Plänen grübelte, überfielen sie ihn und erschlugen ihn wie einen
tollen Hund. In der darauffolgenden Nacht legten sie Feuer an die
Burg, ehe sie für immer verschwanden. Das ist die ganze Geschichte.
»Und wie«, wollte Roland wissen, »entkamt Ihr dem zerstörenden
Brand?«
»Ich war schon einen Tag zuvor aus meinem Gefängnis entwichen,
Ritter Roland. Auf die einfachste Weise der Welt! Ich besaß, was
Jorn wohl vergessen hatte, ein zweites Bund aller wichtigen
Schlüssel!«
Roland sprang erregt auf. Mit langen Schritten kreuzte er
mehrmals das Gemach. Er glaubte der falschen Griseldis jedes Wort.
Und so wurde er zum ersten Mal an seinem Auftrag irre.
Schließlich blieb er vor der schönen Betrügerin stehen und sagte
ernst: »Hier liegt offenbar ein großes Mißverständnis vor. Am Hofe
des Königs hält man Haggan für einen Schwerverbrecher und
gemeingefährlichen Hochverräter. Ich habe deshalb den Auftrag
erhalten, ihn tot oder lebendig nach Camelot zu bringen, wo es ihm
gelang, dem Verlies zu entfliehen. Und nun erfahre ich, daß er ein
Ehrenmann ist!«
Griseldis neigte würdevoll das Haupt - eine Bewegung, die ihre
ganze Schönheit zum Ausdruck brachte.
»Irgendwie spürte ich es seit langem«, gestand Roland. »Bei
mehreren Gelegenheiten erwies sich Haggan, den man mir als
Inbegriff aller Schlechtigkeit geschildert hat, als fairer Gegner, so
daß mein Herz ihm keine ruchlose Tat zutrauen wollte ...«
»So kehrt nach Camelot zurück, und berichtet dem König, daß er
im Irrtum befangen ist!« rief die Frau leidenschaftlich. »Vertraut
Eurem Herzen und ...« Leise schloß sie: »... Und mir!«
»Aber wer wird mir dort glauben?« sagte Roland traurig.
»Weiterhin spricht der Schein gegen Haggan. Von Camelot aus
sehen Dinge und Menschen anders aus als auf Atzerath. Er hat doch
mächtige Feinde ...«
»Der alte Wilhelmus«, sagte Griseldis dumpf.
»Auch das wißt Ihr?«
Sie nickte - und wieder betörte die schöne Würde dieser einfachen
Kopfbewegung Rolands Auge, so daß er nie an einem Wort von ihr
zweifeln würde.
Plötzlich kam ihm ein rettender Gedanke. »Kommt mit mir nach
Camelot! Und sagt dann vor dem versammelten Hof oder vor der
Tafelrunde aus, was Ihr mir eben anvertrautet!«
»Nein.« Sie schüttelte leicht den Kopf. »Erlaßt es mir, ein zweites
Mal all das Schreckliche, das mir widerfuhr, aufzurühren! Und dann
gleich vor so vielen Personen! Es triebe mir die Schamröte ins
Gesicht, mein Geschick allen darzulegen. Bei Euch war es etwas
anderes.« Sie ergriff seine Hand. Ein paar heuchlerische Tränen
hingen an den langen Wimpern. »Ihr seid so gut. Ihr seid so stark. Ihr
seid ein Mann, dem eine Frau bedingungslos vertrauen kann.«
»Aber«, wandte Roland ein, »wie soll dann Haggan seine
Unschuld beweisen?«
»Ich schrieb einen Brief an meine Tante, die Königin. Mit ihm als
Unterpfand kann er sich beruhigt nach Schloß Camelot wagen. Sie
wird nicht zweifeln an dem Wort ihrer Lieblingsnichte.«
Roland seufzte erleichtert auf. Eine Zentnerlast war ihm von der
Seele genommen.
Morgen würden sie reiten ...
Auf dem Weg in sein Quartier begegnete ihm Omar, der Junge aus
dem Morgenland. »Oh, Ritter Roland!« Der schwarzhaarige Kleine
stürzte auf ihn zu. »Unglück! Extraprima Unglück! Deine
Braut...»Roland stockte das Herz. Er packte den Jungen bei den
schmalen Schultern. »Sprich, was ist mit Heide?«
*
Als Heide das Gemach verließ, in dem sie unbemerkt Roland und die
schöne fremde Frau überrascht hatte, war sie einer Ohnmacht nahe.
Sie wankte durch den Gang und mußte sich mehrmals an der Wand
abstützen. Ihr Körper war wie Eis.
Dauerte es eine Viertelstunde? Waren es nur ein paar
Augenblicke? Sie wußte nicht mehr, wie sie in ihr Zimmer
zurückgefunden hatte. Sie lehnte am hohen, schmalen Fenster, und
ihre Augen waren blind vor Tränen.
Ihr war, als müsse sie sterben. Wie schmählich hatte der junge
Ritter ihre Liebe verraten! Wie niederträchtig hatte er sie getäuscht!
Es drückte ihr das Herz ab.
Nur langsam wichen die Schleier vor ihren Augen. Draußen
prangte der kurze Wintertag in gleißender Helligkeit. Die Sonne
verwandelte das Eis des Baches, den Schnee auf Wiesen und Wald in
gleißendes Silber.
Im Außenhof übten einige Knappen ihre Fechtkünste. Am
Waldrand stand witternd ein Rudel Rehe.
Wie- schön war die Welt - und wie schwer zu ertragen!
Heide setzte sich an das schmale Pult vor dem Fenster und stützte
den Kopf mit den langen hellen Haaren in die Hände. Ihre Gedanken
waren eine Kette von Entschlüssen, die sie in größter Schnelligkeit
faßte und nach kurzem Besinnen wieder verwarf.
So verging einige Zeit, in der ihr schönes, feines Gesicht
allmählich einen trotzigen Zug bekam. Sie stand auf, trat vor die Tür
und bat einen Pagen um Schreibzeug.
Als sie später den Federkiel in die Tinte tauchte, brauchte sie nicht
mehr zu überlegen. Ihr Mädchenstolz hatte die Oberhand über
Schmerz und Kränkung gewonnen.
»Lieber Roland« schrieb sie oben auf das Blatt, während sie ein
letztes Schluchzen niederkämpfte, das ihr in die Kehle stieg ...
*
»Was ist mit Heide?« fragte Roland ungeduldig.
Omar wand sich in seinem heftigen Griff. »Du tun mir weh!
Loslassen!«
Mühsam beherrschte Roland seine Aufregung. Sein Griff lockerte
sich. »Dann sprich!«
»Heide weg aus Burg! Heimlich!«
»Wann?« stieß Roland hervor.
»Eine Stunde vergangen.«
Eine Stunde! Vor einer Stunde war er bei Griseldis gewesen. Und
nichts hatte ihn gewarnt. Nicht das kleinste Zucken seines Herzens ...
»Woher weißt du es?«
»Ich nichts sehen. Reitknecht sagen: >Sie holen Pferd, steigen auf,
dann weg!<«
Roland zwang sich zur Ruhe. Das bedeutete gar nichts. Sicherlich
unternahm sie nur einen Spazierritt. Er wollte ihr nach.
Eine Handbewegung Omars hielt ihn auf. »Warten, Roland! Erst
dies lesen!« Und er übergab ihm einen Brief. »Reitknecht bekommen
von deiner Braut. Für dich.«
Roland riß den Umschlag auf und las, während Omar sich taktvoll
entfernte, erbleichend die wenigen Zeilen.
»Lieber Roland, es war doch nicht die große Liebe! Für mich
warst du ein Sinnenreiz, der nur wenige Tage anhielt. Verzeih mir -
oder verzeih mir nicht... Mir gilt es gleich. Mein Herz ist nun mal ein
flatterhaftes Ding. Such nicht nach mir! Ich bin auf der Reise zu
einem anderen Mann, für den ich mehr Leidenschaft empfinde als für
Dich. Vergiß mich, wie ich Dich schon hinter der nächsten
Wegkreuzung vergessen haben werde.
Deine leichtfertige Heide.«
Roland hatte das Verlangen, seinen Schmerz und seine
Enttäuschung laut hinauszubrüllen. War je einem Liebenden ein so
gemeines Leid angetan worden, solange die Erde bestand? Doch
dann entrang sich seiner Kehle nur ein qualvolles Stöhnen.
Er entsann sich des schönsten, des ersten Tages ihrer Liebe. Er
hatte noch Heides klare Stimme im Ohr, mit der sie ihm schwur:
»Zweifle nicht, Roland! Zweifle niemals an mir! Ich bin dir so treu
wie die Sterne dem Nachthimmel, so treu wie Blüte der suchenden
Biene, so treu wie das geduldige Moos dem Tau...«
Und das alles sollte Lüge sein? Die Lüge eines leichtfertigen,
flatterhaften Mädchens? War der Schwur falsch? Wurden die Sterne
dem Nachthimmel untreu - oder die Blüten der suchenden Biene -
oder das geduldige Moos dem Tau?
Roland ballte die Fäuste und biß die Zähne so fest aufeinander, daß
es knirschte, Er begriff es nicht. Wie konnte soviel Treulosigkeit
hinter einer so reinen Stirn wohnen? Wie konnten so zärtliche Lippen
so unmenschliche Lügen sprechen? Wie konnte er sich durch den
Schein ehrlich blickender Lippen so gründlich hinters Licht führen
lassen?
Unwillkürlich hatte Roland das Blatt in seiner Hand zerknüllt. Als
es ihm bewußt wurde, öffnete er mit plötzlichem Entschluß die
geballte Faust, nahm das Papierknäuel heraus, glättete es, faltete es
säuberlich zusammen und verwahrte es in der Brusttasche seines
Wamses. Dann verbannte er für immer - so glaubte er - jede
Erinnerung an Heide aus seinen Gedanken.
*
In einem anderen Teil der Burg empfing Ritter Lutz die falsche
Griseldis, die in Wirklichkeit die Zofe Velma war. Wort für Wort
berichtete sie ihm vom Ergebnis ihrer Unterredung mit Roland.
»Dieser junge Tölpel schlürfte meine Sätze wie göttliche
Verkündungen«, sagte sie lachend. »Ich hätte ihm auch erzählen
können, daß sein Vater ein Strauchdieb und seine Mutter eine Hure
gewesen sei. Ich glaube, sogar das hätte diese heilige Einfalt für bare
Münze genommen, und fortan hätte er seine Eltern wie billiges
Geschmeiß verflucht.«
»Da kannst du recht haben«, sagte Lutz lachend. »Nun, und hast du
deinen Vorsatz wahrgemacht, Roland zu verführen?«
»Das wäre mir nicht schwergefallen, glaubt es mir, Ritter! Solche
jungen Springer wickle ich um den Finger. Aber ich mochte es nicht.
Etwas an ihm stieß mich ab. Der Bursche hat keine Zukunft. Um ihn
ist eine Atmosphäre ... Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll...
Die Atmosphäre des Todes. Ja, das ist es. Er ist ein Kerl, der über
kurz oder lang in den Tod stolpern wird. Solche Männer schrecken
mich ab. Ich halte mich fern von ihnen. Mir gefallen Männer mit
Zukunft besser.«
»Denkst du an einen bestimmten Mann mit Zukunft?« fragte Lutz
und sah sie lauernd an.
Genau wie bei ihrer ersten Begegnung fühlte Velma, daß sie in
seiner Gegenwart zu Wachs wurde.
»Und an wen?« fragte er weiter. »Sag es!«
Sie verschoß auf ihn jenen Blick, der in der Kleinstadt Rivage die
Männer reihenweise zum Erliegen brachte. Sie sagte: »Könnt Ihr
einen ...?«
»Ach, halts Maul!« unterbrach er sie rauh. »Ich will's gar nicht
wissen.« Er stapelte einen Haufen Münzen auf den Eichentisch.
»Hier ist dein versprochener Lohn. Zähl nach!«
Ihre gierige Hand war schon auf dem Weg zuzugreifen. Aber im
letzten Augenblick besann sie sich anders. Mit spitzen Fingern
schnippte sie die Münzen auseinander. »Das soll mein Lohn sein?
Das ist mir zuwenig!«
»So war es ausgemacht!« polterte er.
Nach den lauten Worten wurde es still im Gemach. Aufmerksam
betrachtete Lutz die Frau, mit deren Hilfe Haggan und er den Ritter
Roland in ein namenloses Unglück stürzen wollten. Hinter dem
hoheitsvollen Äußeren, das die vornehme Dame vorspiegelte, hatte
er schon gleich die sinnenlustige und gewöhnliche Dirne gespürt,
und diese Mischung gefiel ihm und schmeichelte seinen Sinnen.
»Nimm das Gold, oder laß es bleiben!« sagte er schließlich. Aber
jetzt war seine Stimme nur gemacht gleichgültig. Plötzlich riß er
Velma in seine Arme. Während sie ihren verführerischen Körper in
schnell wachsender Sinnengier an seinen drängte, wußte sie, daß sie
ihrem Ziel, Herrin auf Burg Atzerath zu werden, ein großes Stück
näher gekommen war.
Gleich darauf taumelten sie ineinanderverschlungen aufs Bett, und
außer schnellen Atemzügen und gelegentlichen Seufzern war nichts
mehr zu hören. In Velmas Schoß begründete Lutz die Zukunft der
verruchten Burg Atzerath.
*
Es war ein heiterer Tag, an dem Roland den Ritt in das
fürchterlichste Schicksal antrat, das je einen Ritter erwartet hatte.
Und er war zuversichtlich gestimmt, weil Haggan ihm das heilige
Ritter-Ehrenwort gegeben hatte, auf dem Weg nach Camelot keinen
Fluchtversuch zu machen. »Ich betrachte mich als Euer Gefangener«,
sagte er. »Aber ich folge Euch ohne Furcht vor des Königs strengem
Antlitz. Das ausführliche Schreiben, das mir Griseldis mitgab, wird
mich von jeder Schuld entlasten. Und danach hoffe ich, daß wir
beide noch manches Abenteuer gemeinsam bestehen werden - aber
von nun an als Freunde.«
»So sei es«, sagte Roland ernst.
Omar begleitete sie, und Roland bemerkte mit Freude, wie
väterlich und gütig Haggan den kleinen Morgenländer behandelte.
Ein Knappe von Lutz vervollständigte den kleinen Trupp.
Dieser Knappe, der Konrad hieß, kannte sich von früheren
Ausflügen hervorragend in der Gegend aus. Mal ritt er an der Spitze,
mal tat es Haggan, der ebenfalls gut Bescheid wußte. Die beiden
hielten im allgemeinen eine nordwestliche Richtung ein und hofften,
am dritten Tag die Waldburg zu erreichen, wo man ausgezeichnet
rasten konnte.
Unterwegs dachte Roland oft an Heide. Wenn sich ihr süßes
Gesicht vor sein inneres Auge drängte, gab es ihm immer einen
feinen Stich im Herzen. Aber er wußte ja nun, daß sie einer großen,
dauerhaften Liebe nicht fähig war. Er mußte sie vergessen. Es gefiel
ihm, daß Haggan und Omar sie mit keinem Wort erwähnten.
Zuweilen, wenn der Weg recht deutlich vor ihnen lag, ließ Roland
seinen Rappschimmel nach Herzenslust laufen. Dann blieben die
Gefährten weit hinter ihm zurück.
Als er wieder einmal so allein über die leicht gewellte Ebene
dahinjagte, hörte er vor sich lautes Geschrei. Es klang nach einem
heftigen Streit. Unverzüglich ritt er auf die Stelle zu.
Bald sah er die streitende Gruppe nahe einem großen zugefrorenen
Teich. Ein vierschrötiger Ritter mit rotem Zottelhaar führte das große
Wort. Umringt von einigen Begleitern schalt er in lauten Tönen drei
abgerissene arme Bauern, die schlotternd vor dem zornigen Mann
standen.
Auf einen Wink des rothaarigen Ritters ergriffen seine Begleiter
die Bauern und fesselten sie an drei Pappeln. Der Ritter zog seine
Reitgerte und versetzte dem ersten einen Schlag über den Kopf.
Mannhaft verbiß sich der Bauer den Schmerz. Kein Laut kam über
seine Lippen.
Das vermehrte die Wut des aufgebrachten Ritters. Er warf die
Reitgerte weg und zog sein Schwert, um mit der flachen Seite auf
den Gefesselten einzuprügeln. Schon beim ersten Schlag wurde das
Opfer ohnmächtig.
In diesem Augenblick erreichten Roland und Samum den
Schauplatz. »Was geht hier vor?« rief der Neuankömmling.
Der rothaarige Ritter fuhr herum. Seine Begleiter scharten sich
enger um ihn. Die beiden Bauern, die noch bei Bewußtsein waren
und mehr tot als lebendig in ihren Fesseln hingen, schöpften
Hoffnung und flehten Roland um Beistand an.
Der Ritter war nur einen Augenblick verblüfft. Dann fuhr er
Roland in derben Tönen an, wie der sie auch bei Kämpfen auf Tod
und Leben noch nie aus dem Mund eines Ritters vernommen hatte.
»Scher dich weg, krummbeiniger Scheißer!« brüllte der rothaarige
Zottelkopf. »Niemand hat dich Schafsnase gebeten, diesen Grund
und Boden mit deiner dämlichen Erscheinung zu verpesten. Solche
Arschlöcher wie du pflege ich von den Mägden meiner Frau auf die
Wäscheleine hängen zu lassen, damit sie trocken hinter den Ohren
werden. Aber wenn du zugucken willst, wie hier Recht geübt wird,
dann halte dein ungewaschenes Dreckmaul, und zahl erst mal 20
Dukaten Eintritt!«
Und ohne Roland weiter zu beachten, trat er auf den zweiten
Bauern zu und holte mit dem Schwert aus.
Mit einem Riesensatz war Roland aus dem Sattel und riß den
Rotkopf an der Schulter herum. »Mensch, schämt Ihr Euch nicht,
Wehrlose halb totzuschlagen? Ist das ritterlich?«
»Du verlauster Affe!« schäumte der andere. »Hier geschieht, was
ich bestimme. Mach, daß du Land gewinnst, du Wildschwein!«
Allmählich wurde auch Roland von Zorn ergriffen. Er wollte
seinem Gegner die Faust zu spüren geben. Aber da sprangen dessen
Begleiter zwischen ihn und ihren Herrn und baten, Frieden zu halten.
Der Älteste, der auch am ehesten vertrauenerweckend aussah,
sprach Roland an: »Wer Ihr auch seid, Ihr müßt wissen, daß Ihr auf
dem Land dieses Ritters steht.« Er wies auf den Rotkopf, der sich in
die Brust warf und ein bärbeißiges Gesicht zog. »Ritter Gottlieb von
der Waldburg ist ein gerechter Mann.«
»Ja«, sagte Roland verächtlich. »Er prügelt Wehrlose und belegt
Fremde mit unflätigen Schimpfwörtern.«
Der ältere Mann lachte. »Das dürft Ihr nicht so schwer nehmen.
Für seine derbe Ausdrucksweise ist Ritter Gottlieb im ganzen Land
berühmt und geachtet. Habt Ihr noch nie vom Groben Gottlieb
gehört? Das ist er. Er beschimpft Gott und die Welt, und alle mögen
es gern, weil es besser klingt als die heuchlerischen Phrasen der
Höflinge.«
»Ich liebe es aber gar nicht, von ihm Arschloch genannt zu
werden«, verwahrte sich Roland.
»Seid doch nicht so empfindlich! Uns hat er schon hundertmal
schlimmere Namen gegeben, und wir nahmen es ihm nicht übel. Das
ist so seine kernige, erdverbundene Natur. Der Grobe Gottlieb ist ein
Mann von altem Schrot und Korn, wie das Volk es gern hat. Ihr
solltet einmal hören, wenn er seine Frau beschimpft. >Du
hergelaufene dumme Kuh, du schweißfüßige Vettel, du
hirnverbranntes Luder!< So traktiert er sie Tag für Tag. Und sie ...
Sie läßt sich's gern gefallen und liebt den Groben Gottlieb um so
mehr, je gröber er sie beschimpft.«
Bei der Vorstellung, eine Rittersfrau fühle sich durch unflätige
Beleidigungen ihres Gatten geschmeichelt und liebe ihn nur um so
inniger, mußte Roland unwillkürlich lächeln. Doch nach einem Blick
auf die aschfahlen Gesichter der Bauern verging ihm der kurze
Anflug von Fröhlichkeit.
»Bindet die armen Kerle los!« rief er.
Der Grobe Gottheb verwünschte ihn: »Stopft denn keiner diesem
streunenden Drecksköter das Maul?« fragte er und schaute sich
gekränkt unter seinen Begleitern um.
Wieder legte sich der ältere Mann ins Zeug. Er setzte Roland in
ruhigen Worten den Fall auseinander. Danach also waren die drei
Bauern ergriffen worden, als sie Löcher in den zugefrorenen Teich
hackten, um nach Fischen zu angeln. Erwartungsvoll sah der Mann
nach dieser Erklärung Roland an.
Aber der begriff nicht. »Und worin besteht ihr Vergehen?« wollte
er wissen.
Das Gesicht des Groben Gottlieb wurde so rot wie sein Zottelhaar,
als er herausbrüllte: »Dieser beschissene Teich gehört mir, und die
stinkenden Fische darin rührt mir keiner an, dem ich nicht den
verdammten Auftrag dazu gab!«
»Das ist gelogen«, verwahrte sich einer der Bauern. »Der Teich
gehört Ritter Friedland, und er ermächtigte uns, jederzeit darin zu
fischen.«
»So - und du widerliches Stück Mist meinst also, ich lüge?« rief
Gottlieb mit finsterem Gesicht und näherte sich drohend dem
Sprecher, der verzweifelte Blicke auf Roland warf.
Der ältere Mann setzte nun Roland und den Bauern auseinander,
warum sich die Besitzverhältnisse geändert hatten. »Gestern nacht
gewann der Grobe Gottlieb im Kartenspiel dem Ritter Friedland 60
Dukaten und obendrein den Teich ab«, schloß er.
»Demnach konnten diese drei Männer hier noch gar nichts davon
wissen«, sagte Roland.
»Unkenntnis schützt vor Strafe nicht«, meinte der ältere Mann
gemessen.
»Jedenfalls dulde ich nicht, daß die Leute geschlagen werden!«
»Das duldest du nicht, du großmäuliger Hosenmatz und Scheißer?«
ereiferte sich Gottlieb und wandte sein hochrotes Gesicht Roland zu.
»Dann bezahl du mir doch den Schaden!«
»Soweit ich sehe, ist Euch kein Schaden entstanden.«
»Und die Löcher im Eis? Ich bin der Besitzer, und ich sage dir
Hundsfott, daß jedes Loch zwölf Dukaten kostet!«
Roland hatte bisher alle Beleidigungen in guter Haltung ertragen,
aber sein Inneres bebte vor Wut. Er hatte seine Fäuste kaum noch in
der Gewalt. Wenn er länger in das gemeine Gesicht des Groben
Gottliebs starrte, würde er ihm bestimmt mitten hineinschlagen.
Die Ankunft Haggans und der beiden Knappen bot ihm eine
erwünschte Ablenkung. Er nutzte sie aus, schnitt den Bauern die
Fesseln durch und sagte: »Geht rasch davon! Ihr seid frei!«
Sie nahmen sich nicht einmal die Zeit, ihm zu danken, sondern
machten, daß sie davonkamen. Sogar der dritte, der eben erst aus
seiner Ohnmacht erwacht war, rannte über das verschneite Feld und
hielt fast mit den beiden anderen Schritt.
*
Eine Stunde später befand sich die ganze Gesellschaft in Gottliebs
niedriger, düsterer und ziemlich verwahrlosten Waldburg. Es schien,
daß der Hausherr sich aus Respekt vor dem ihm gutbekannten
Haggan jetzt gegenüber Roland zurückhielt. Bei einem
Begrüßungstrunk hatte er sogar so etwas wie eine Entschuldigung
zustande gebracht.
Sie lautete: »Ihr sollt verdammt sein und vom Teufel frikassiert
werden, Ritter Roland, wenn Ihr mir meine derben Bemerkungen von
vorhin übelnehmt. Ich habe zwar ein loses Mundwerk, aus dem nicht
sehr viel Honig kommt, aber ich meine es gut mit Euch. Ihr seid ein
richtig nettes Arschl... - und ich will Euer Kamerad sein. Habt Dir
Lust zu einem ritterlichen Kraftspiel?«
Roland nahm noch einen kräftigen Zug Branntwein, um seinen
Zorn zu besänftigen. Dann sagte er: »Zu einem ehrlichen
Kräftemessen stehe ich Euch und jedermann immer zur Verfügung.«
Die Männer begaben sich in den Burghof. Die Branntweinkrüge
wurden ihnen von Knechten nachgetragen. Gottlieb deutete auf einen
fast halbmannshohen Findling, der in einer Ecke des Hofes stand. In
sein oberes Ende war ein eiserner Griff eingemauert.
Unbemerkt von Roland, warf der Grobe Gottlieb Haggan einen
verschwörerischen Blick zu und sagte: »Ich fordere Euch heraus,
junger Mann! Wer von uns beiden diesen Stein höher hebt, dem muß
der andere sein Pferd geben.« Denn er hatte inzwischen mit
Kennermiene den Wert von Samum abgeschätzt.
Roland hatte sich zwar noch nie an einem so schweren Findling
versucht, aber bei manchem Wettkampf im Steinstoßen auf den
Burgen sehr gut abgeschnitten. Außerdem hoffte er, auf diese Weise
dem Grobian eine gebührende Lektion zu erteilen. Also stimmte er
sofort zu.
Es wurde ausgemacht, daß jeder drei Versuche habe. Haggan und
der ältere Mann sollten Schiedsrichter sein. Als Gast durfte Roland
anfangen. Noch einmal reichte ihm ein Knecht einen Branntwein.
Das Zeug fuhr durch die Knochen wie ein glühender Blitz. Er
spürte es bis in den Magen. Nach diesem Trunk fühlte sich Roland
stark wie Samson. Voll Zuversicht trat er an den Stein, packte den
Eisenring und zog daran.
Offenbar hatte er das Gewicht doch unterschätzt, denn den Stein
rückte und rührte sich nicht. Er verdoppelte seine Anstrengung, doch
das Ergebnis blieb das gleiche. Er ächzte, und seine Armmuskeln
wölbten sich wie Seilstränge durch die Haut, aber der Stein hob er
nicht mal so hoch, daß man eine Feder hätte darunterschieben
können.
Verwirrt ließ Roland los und trat zurück.
»Nicht schlecht für einen Rotzjungen«, sagte Gottlieb mit
spöttischer Anerkennung. »Aber nun will ich Euch mal zeigen, wie
ein Erwachsener mit diesem Kieselsteinchen umgeht!«
Er fuhr sich mit den Händen durch das rote Zottelhaar und schritt
selbstbewußt auf den Findling zu. Der ältere Mann stieß Roland
sacht mit dem Ellbogen in die Seite und sagte: »Vom Groben
Gottlieb könnt Ihr was lernen!«
Roland konnte sich kaum vorstellen, daß sein Gegner mehr Glück
haben sollte. Und er irrte sich nicht. Auch Gottlieb konnte den Stein
nicht heben. Doch der Rotkopf grinste nur, ließ sich Branntwein
reichen und rief: »Bin abgerutscht - glaubt es mir! Nun seid Ihr
wieder dran ...« Er murmelte noch ein paar Silben. Roland glaubte,
mit feinem Gehör zu vernehmen: »... Elender Schlappschwanz!« und
es schüttelte ihn innerlich vor Wut. Doch diesmal nicht wegen
Gottliebs losem Maul, sondern wegen seines eigenen Versagens.
Vor dem zweiten Versuch konzentrierte sich Roland sorgfältig.
Jetzt packte er mit beiden Händen zu, ertastete den besten Griff am
Eisenring, schloß die Hände, ging ein wenig in die Kniebeuge,
atmete ruhig, stellte sich in Gedanken nochmals den
Bewegungsablauf vor - und drückte ruckartig die Knie durch!
Es riß ihm fast die Arme ab. Aber auch diesmal blieb der
unregelmäßig gerundete Feldstein wie angewurzelt auf dem Boden
ruhen, so sehr sich Roland auch mühte. Die Finger rieben sich wund.
Die Handgelenke knackten bedenklich. Die Armmuskeln schwollen,
als wollten sie platzen.
Nichts half.
In seinem Rücken hörte Roland ein hämisches Gelächter. Laut
stieß er die angehaltene Luft aus den Lungen und ließ die steinerne
Kugel los. Als er sich zu den Lachern umwandte, stritten Ärger und
Beschämung in ihm und verschleierten seinen Blick, so daß er die
Gesichter nur wie durch einen wallenden Nebel sah.
Da stampfte Gottlieb schon dicht an ihm vorbei. Er streifte ihn hart
mit der Schulter - Zufall oder Absicht? Rolands Blick wurde klar.
Scharf beobachtete er, wie Gottlieb sich an die Aufgabe machte.
Bevor der zottelhaarige Burgherr in den Eisengriff faßte, lehnte er
sich mit beiden Händen für kurze Zeit gegen den Stein. Dann trat er
zurück und spuckte sich in die Handflächen. Nun straffte er sich ...
Gleich darauf ging ein Raunen durch die Zuschauer. Die Knechte
klatschten in die Hände. Der ältere Mann aus Gottliebs Begleitung
rief: »Bravo! Wundervoll! Das ist der Sieg! Das macht Euch
niemand nach!«
Roland schaute, daß ihm fast die Augen aus dem Kopf fielen.
Großmaul Gottlieb hatte das Kunststück vollbracht! Gut einen Drittel
Klafter hatte er den Stein vom Boden hochgestemmt. Sein sowieso
schon gerötetes Gesicht war purpurn wie der Kamm eines Hahnes.
Man sah ihm an, daß er das letzte Quentchen Kraft einsetzte.
Es schien eine Ewigkeit zu dauern, ehe er den Stein herunterließ.
Auch er stieß die Luft pfeifend aus. Völlig erschöpft lehnte er sich
dann gegen den Findling, als würde er ohne diesen Halt umsinken.
Doch der Augenblick der Schwäche ging rasch vorbei. Schon
wandte er sich um und ließ sich von seinen Knechten und Begleitern
feiern. Dann streckte er mit höhnisch einladender Gebärde die Hand
zu Roland aus: »Nun zeigt uns noch einmal, daß Ihr statt Mark nur
ranzigen Talg in den Knochen habt, Schlappschwanz von einem
Vagabundenritter! Auf meinen dritten Versuch verzichte ich jetzt
schon. Euer Pferd gehört mir, Bastard! Dröhnendes Gelächter
belohnte diesen Beweis vom Humor des berühmten Groben Gottlieb.
Rolands Blick traf auf Haggan, der etwas abseits stand. Haggan
lachte nicht. Er zuckte die Achseln. Es war nicht unbedingt eine
Geste, die Roland Mut machte. Aber alles war besser als dieses
höhnische Lachen. Roland dachte an Samum, seinen Wetteinsatz.
Der Hengst war für ihn so gut wie verloren ... Sein Herz krampfte
sich zusammen. Der Gedanke schien ihm unerträglich. Aber doch
gab er die Hoffnung nicht auf. Ihm war etwas an Gottliebs
Hebetechnik aufgefallen, das ihn stutzig machte. Soviel stärker als er
konnte das Großmaul doch nicht sein! Mit unverhohlener
Schadenfreude blickten Gottliebs Männer auf den jungen blonden
Artus-Ritter, der sich nun zum dritten Mal dem widerspenstigen,
rauhen Stein näherte. Dann hörte er deutlich die Stimme des
Zottelkopfes heraus: »Seht euch das muskellose Waschweib nur an!
Der sollte erst mal mit Sandkörnern üben, der beschissene
Vagabund!«
Wie vorher sein Gegner stützte sich jetzt auch Roland bedächtig
mit den Händen gegen den Stein. Dann versuchte er, ihn zu drehen.
Nach rechts. Nein, das ging nicht.
Nach links?
Sein Herz tat einen freudigen Sprung. Der Stein folgte gehorsam
dem Druck seiner Hände. Ganz leicht ließ er sich drehen - nach
links!
Nun war Roland der Mechanismus klar.
Gottlieb hatte ein falsches Spiel getrieben. Der Wettkampf war
nicht fair. Er hatte den Gegner mit Tücke reingelegt.
Der Stein war an einem im Hofboden eingelassenen Eisendorn
verankert. In dieser Stellung war er selbst vom stärksten Mann der
Welt nicht zu heben. Aber durch eine geringe Linksdrehung kam er
von dem Dorn frei!
Nun packte Roland den oberen Ring, ging in die Beuge und
streckte abermals die Knie! Da endlich hob sich die ungefüge
Steinkugel vom Boden. Höher und höher stieg sie. Und Roland
lachte, so leicht erschien ihm plötzlich ihr Gewicht, an dem er doch
vorher fast verzweifelt wäre. Zuletzt stemmte er sie mit weit
ausgestreckten Armen über den Kopf.
Eine dünne, fremdartige Stimme rief: »Roland Sieger!« Es war der
kleine Omar aus dem Morgenland, und aus seinem Ruf klangen
unverfälschte Freude und Begeisterung.
Dagegen erschollen nun aus Gottliebs Mund die abscheulichsten
Flüche und Schimpfwörter. In hemmungslosem Wortschwall
verdächtigte er seine Begleiter: »Welcher Teufel hat ihm den Trick
verraten? Wenn ich den verruchten Satan finde, werfe ich ihn
lebendig in die Jauchegrube! Am liebsten täte ich es auf der Stelle
mit euch allen!« Und lauter und lauter verwünschte er den Kerl, von
dem er meinte, er habe ihn um den Gewinn von Rolands wertvollem
Araberhengst gebracht.
Roland aber ließ den Stein langsam bis in Hüfthöhe hinab und
begann, sich auf der Stelle zu drehen.
Schreckensrufe ertönten! Schon wandten sich die ersten, die die
Drohung erkannten, zur Flucht. Vornweg rannte niemand anderer als
das rothaarige Großmaul. Die anderen folgten ihm auf den Fersen. Es
sah aus, als rannten sie um die Wette.
Und Rolands lange aufgestauter Zorn über das gemeine und
hinterlistige Verhalten des Groben Gottlieb entlud sich in dem
Augenblick, als er den mächtigen Stein aus schneller Drehung heraus
hinter der fliehenden Bande herschleuderte!
Krachend schlug er auf dem gepflasterten Hofboden auf. Funken
sprühten. Und der Stein rollte weiter wie eine Granitlawine. Mit
einem mächtigen Satz rettete sich Gottlieb vor dem fürchterlichen
Geschoß.
Ja, der kleine Omar hatte wahr gesprochen. Roland war Sieger im
Wettkampf!
Aber er hatte sich auch einen Todfeind geschaffen...
*
Mit betretenem Gesicht erschien Haggan am nächsten Morgen vor
Roland. »Es tut mir unendlich leid«, stammelte er. »Ich habe
entsetzliches Pech gehabt. Aber ich gebe Euch mein Ehrenwort...«
An Haggans schwarzem Haarschopf vorbei sah Roland über den
schmutziggrauen Burghof in die graue Wolkendekke, die sich
während der Nacht über den Himmel gelegt hatte. Er überdachte die
Geschichte, in die Haggan sich verstrickt hatte. Der zerknirschte
Mann hatte sie ihm eben gebeichtet.
So war es am vergangenen Abend weiter geschehen: Nach seiner
Niederlage geriet der Grobe Gottlieb in eine tierische Wut. Mehrmals
äußerte er die Absicht, unter Bruch des heiligen Gastrechts in das
Roland zugewiesene Gemach einzudringen, den Ritter dank der
Übermacht seiner Männer zu überwältigen und mit dem Kopf voran
in den Burghof zu werfen.
Die Lage sah bedenklich aus.
Da machte der ältere Mann, der wohl als einziger einigen Einfluß
auf Gottlieb besaß, einen Vorschlag, der dessen Gefallen fand. Er
schlug dem Rasenden ein Kartenspiel vor!
Sie spielten die ganze Nacht. Und Haggan verlor 400 Dukaten!
Nur 200 konnte er bezahlen. Nun wollte Gottlieb ihn nicht eher
davonlassen, bis der Rest beglichen war.
»Ich werde ihm anbieten, das Pferd, das ich von ihm gewann, als
Pfand zurückzugeben«, meinte Roland nach kurzer Überlegung.
»Er will es nicht haben!« rief Haggan. »Er will die 200 Goldmäuse
und nichts anderes!«
Roland machte seinem Gefangenen keine Vorwürfe. Es gab zu
dieser Zeit wohl keinen Ritter, der nicht der Spielleidenschaft
verfallen gewesen wäre. Wie viele hatten schon ganze Burgen, ihr
gesamtes Hab und Gut, ihre Dienerschaft, ja, ihre Geliebten oder
Ehefrauen im Rausch der Karten und Würfel verloren und standen
am Ende einer heißen Spielschlacht vor dem Nichts!
Spiele und Wetten - in der Ritterschaft des Landes verging fast
kein Tag ohne sie. Hatte nicht Roland gestern selber durch eine
unbedachte gefährliche Wette fast seinen herrlichen Araber Samum
verloren? Und trug er nicht auf dem Schild die Erinnerung an ein
Spiel - den Würfel mit dem einen Auge?
Dennoch hatte ihn Haggans Spielverlust in eine vertrackte Lage
gebracht. Denn Roland konnte und wollte keinen Augenblick länger
in der Waldburg bleiben. Hier war er seines Lebens nicht sicher. Der
unberechenbare Gottlieb verfolgte ihn mit seinem Haß. In aller Frühe
hatte er ihm durch den älteren Mann förmlich das Gastrecht
aufgekündigt.
Das kam der Übergabe eines Fehdehandschuhs gleich. Roland
mußte das Weite suchen. Sonst lief er Gefahr, wie ein toller Hund
von der Übermacht erschlagen zu werden.
Andererseits konnte er Haggan nicht zwingen, ihn sofort zu
begleiten, auch wenn er sein freiwilliger Gefangener war. Die
Umstände hatten sich geändert. Spielschulden waren Ehrenschulden
- und zu keiner Zeit wurde dieser Grundsatz ernster genommen als
unter den Rittern des Mittelalters. Wenn der Grobe Gottlieb
verlangte, Haggan müsse bis zu seiner Auslösung auf seiner Burg
bleiben, so war er nach landläufiger Ansicht unbestreitbar im Recht.
Und leider besaß Roland selber so gut wie gar kein Geld. Er hatte
noch ganze zwölf Dukaten bei sich. Natürlich würde ihm kein
Bewohner der Waldburg etwas leihen oder abkaufen. Sonst hätte er
sich - außer von Samum - von allem getrennt.
In Gedanken überschlug er, wie lange Omar von der Waldburg
nach Atzerath und zurück brauchen würde. Wenn alles gutging, vier
Tage. Vielleicht fünf. Im ungünstigsten Fall eine Woche. Dann
würde er auf jeden Fall mit dem Geld zurück sein.
Er sah in Haggans tiefliegende Augen, die seinen Blick ruhig
erwiderten. Roland spürte eine leichte Beunruhigung, die jedoch
wich, als er jetzt seine Entscheidung traf.
»Haggan«, sagte er streng, »in drei Tagen werde ich auf Camelot
sein und dort verkünden, daß ich Euch gefangengenommen habe.
Spätestens in zehn Tagen, von heute an gerechnet, müßt Ihr dort
eintreffen. Spätestens in zehn Tagen werdet Ihr Euch der
Gerichtsbarkeit des Königs stellen. Bis dahin bürge ich für Euch.«
»Es wird keine zehn Tage dauern«, versprach Haggan mit
Nachdruck. »Es gibt keinen zuverlässigeren und flinkeren Boten als
meinen Omar.«
»Um so besser.« Ein Sonnenstrahl brach durch die Wolkendecke
und tanzte über Haggans Gesicht. »Haggan, vergeßt es keinen
Augenblick: Ich bürge für Euch mit Leib und Leben!«
Haggan ergriff mit beiden Händen Rolands Rechte und drückte sie
beinahe schmerzhaft. »Ihr seid ein wahrer Freund, Roland. Einem
Mann wie Euch bin ich noch nie begegnet.« Er blinzelte. »Nun seid
aber unbesorgt! Ich werde rechtzeitig zur Stelle sein. Darauf gebe ich
euch mein großes Ritter-Ehrenwort!«
Wieder blinzelte Haggan, als er mit dem großen Ritter-Ehrenwort
ein Versprechen gab, das noch weit bindender war als ein Eid oder
ein feierliches Gelübde. War es die Sonne, die blendete?
Roland aber war zufrieden. Konnte er mehr verlangen? Es war die
beste Lösung! Er schüttelte Haggans harte Hände und sagte bewegt:
»Auf bald!« Dann wandte er sich um und schritt zu Samum und dem
von Gottlieb gewonnenen Fuchs. Wenig später ritt er, den Fuchs an
der Leine hinter sich, durchs Burgtor und folgte dem
festgestampften, breiten Weg nach Norden.
Haggan verfolgte ihn mit den Augen, bis eine Bodenwelle ihn
seinem Blick entzog. Sein Gesicht war so ausdruckslos wie aus
stumpfem Stein gehauen. Er blinzelte auch nicht mehr, obwohl ihm
die Sonne jetzt voll ins Gesicht schien.
*
»Halt, Ritter, keinen Schritt weiter!«
Roland parierte sein Pferd. Er hatte, tief in Gedanken versunken,
kaum auf die Umgebung geachtet. Der Reiter, der plötzlich mit
gefällter Lanze vor ihm aufgetaucht war, überraschte ihn völlig.
Dann erkannte er ihn. Es war der ältere Mann, der stets vermittelnd
eingegriffen hatte, wenn Gottliebs wildes Temperament ihn zu
rascher Gewalttat hinreißen wollte.
»Was wollt ihr?« fragte Roland.
»Euch warnen! Keine zwei Meilen von hier liegt der Grobe
Gottlieb mit acht Gewappneten im Hinterhalt.«
Leichtes Mißtrauen kroch in Roland hoch. »Was kümmert es Euch,
alter Mann?«
»Ich will vermeiden, daß Ihr zu Schaden kommt. Nicht, weil Ihr
mir ans Herz gewachsen wärt. Es ist Gottlieb, den ich eigentlich
schütze. Ich kenne ihn seit vielen Jahren. Ihr habt ihn gereizt wie
noch selten jemand. Er ist außer sich. Er glüht vor Haß wie im
Fieber. Er wird Euch beim Überfall töten - oder zumindest einige
Knochen brechen. Ein paar Stunden danach, wenn er seinen Zorn
ausgetobt hat und wieder zur Besinnung kommt, wird ihm die böse
Tat leid tun. Ich höre ihn schon, wie er seine Freunde anklagt, weil
sie ihm nicht in den Arm gefallen sind! So ist es immer mit ihm.«
Er holte tief Atem und sprach vertraulich zu Roland weiter: »Ja, so
ist es immer mit ihm. Aber wie soll ich alter Mann ihm in den Arm
fallen? Wißt Ihr: Gottlieb ist nicht wirklich schlecht, aber durch und
durch grob und unbeherrscht. Ich bin so etwas wie sein guter Geist.
Darum versuche ich immer, ihn vor Unbesonnenheiten zu schützen.«
Es war nahezu rührend, wie der Alte mit seinen verträumten, leicht
melancholischen braunen Augen Roland, um Verständnis bittend,
anschaute. Der zweifelte nicht an seiner Aufrichtigkeit. Zu oft schon
hatte der alte Mann seit gestern ausgleichend und Frieden stiftend
gewirkt.
»Nun gut«, sagte Roland. »Was schlagt Ihr vor? Umkehren werde
ich nicht.«
»Ich führe Euch auf sicherem Weg um den Hinterhalt herum. Der
Weg ist ein wenig mühseliger, aber gefahrlos.«
»Dann laßt uns nicht länger säumen!«
Die Pferde setzten sich, auf Schenkeldruck gehorchend, in
Bewegung. Der ältere Mann wich nach rechts vom Weg ab.
Zwischen halb im Schnee begrabenen Büschen und kahlen Bäumen
mit starren schwarzen Ästen ging es in einen ausgedehnten und
unübersichtlichen Schneekessel, in dem verstreut Felsen von
einfacher bis zehnfacher Mannshöhe aus dem Schnee ragten.
Die kahlen dunklen Äste erinnerten an Grabkreuze, an Tod.
Bedrückt ritt Roland neben dem älteren Mann her. Seine Augen
spähten unter dem Helm nach allen Seiten. Der Schnee blendete.
Manchmal glaubte er, eine Bewegung zwischen den Büschen
wahrzunehmen. Doch bei näherem Hinsehen erwies es sich jedesmal
als Täuschung. Außer ihnen schien es nichts Lebendes hier zu geben.
Und doch sah man im Schnee die Spuren von Hirsch, Hase, und
Fuchs. Aber kein Mensch hatte einen Fußabdruck hinterlassen.
Roland fuhr zusammen, als halbrechts hinter ihm die ruhige
Stimme seines Begleiters erklang. »Ihr habt ein wundervoll
gearbeitetes Schwert.«
»O ja, ein berühmter Schmied fertigte es für meinen damaligen
Ritter Sigurd, der es mir sterbend vermachte. Es ist hart wie ein Fels,
geschmeidig wie die Bogensehne und scharf wie ein Rasiermesser.«
»Ich bewundere vor allem die künstlerischen Ziselierungen am
Griff. Erlaubt, daß ich sie näher betrachte?« Ohne eine Antwort
abzuwarten, zog der ältere Mann Roland das Schwert aus der
Scheide und legte es vorsichtig auf die Kruppe seines eigenen
Pferdes.
»Sollten wir nicht leiser sprechen?« fragte Roland.
»Keine Sorge! Wir haben Gottliebs Hinterhalt weit umgangen.
Niemand, kann unsere Stimmen hören. Noch eine Viertelstunde, und
wir werden schon in seinem Rücken sein. Oh, wie kunstvoll das alles
ist! Welche herrlichen Ornamente!«
Während er Rolands Schwert mit beglückten Augen betrachtete,
blieb der ältere Mann ein wenig zurück. Roland behielt, soweit
Boden und Vegetation es erlaubten, die von ihm eingeschlagene
Richtung bei. Als Richtpunkt wählte er einen durch seine rötliche
Färbung auffallenden Felsblock.
Er war noch zehn Pferdelängen entfernt, als über dem rötlichen
Felsblock wie eine Erscheinung der Oberkörper eines
grüngekleideten Mannes auftauchte. Ungehalten krächzend flogen
zwei Raben vorüber. Der Mann im grünen Wams spannte einen
Bogen und richtete den Pfeil auf Roland.
Er oder ich! dachte der Ritter. Schon riß er den rechten Arm in die
Höhe, setzte die Bewegung kraftvoll nach vorn fort, und die Lanze
mit dem rotgelben Wimpel flog mit Urgewalt gegen den
Bogenschützen. Als ihre Spitze noch einen Klafter zu durchmessen
hatte, schwirrte die Sehne, und der Pfeil schoß auf Roland zu.
Er oder ich, dachte der Ritter abermals ...
Da war die Frage schon entschieden. Der Mann im grünen Wams
warf die Arme in die Luft, ließ den Bogen fallen und stürzte
hintenüber, die Lanze in der Brust.
Im selben Augenblick beugte sich Roland fast waagrecht nach
links. Ein Luftzug streifte sein Gesicht, und der Pfeil flog drei
Handbreiten entfernt gefahrlos an ihm vorbei.
Samum war indessen unbeeindruckt weitergetrabt.
Über dem rötlichen Felsblock erschien ein zweiter Bogenschütze,
der ein gelbes Wams trug.
Roland tastete unwillkürlich nach seinem Schwert. Doch die
Scheide war leer. Nun besaß er keine Waffe mehr.
In seinem Rücken vernahm er einen zornigen Ruf.
Ohne darüber nachzudenken, riß Roland sein Pferd herum. Es hatte
keinen Zweck, wehrlos in einen tödlichen Pfeil zu rasen.
Samum erschrak und stieg mit den Vorderbeinen hoch in die Luft.
Nun deckte der Pferdekörper Roland ab. Einen Augenblick lang war
der Ritter außer Gefahr. Doch er bangte um Samum!
Wenn der Bogenschütze schnell spannte und sofort abschoß ... Da
hörte er hinter sich die erregte Stimme des älteren Mannes: »Nicht
auf den Araber schießen! Den will ich lebend zur Beute! Zum
Teufel, wer das Pferd verwundet, dem gerbe ich die wertlose Haut!
Der Ritter ist's, dem ihr den Arsch aufreißen sollt!«
Samum tänzelte noch auf den Hinterbeinen vorwärts. So näherte er
sich dem Felsblock, hinter dem der Mann im gelben Wams
unschlüssig den Bogen sinken ließ. Mächtig keilte der Hengst mit
den Vorderhufen aus ...
Da, ein lauter Schmerzensschrei! Samum hatte den Mann in Gelb
mit dem Huf am Schädel getroffen!
Nun stand der Rappschimmel wieder auf allen vieren und drehte
auf der Stelle. Sie waren bereits an dem Felsblock vorbei.
Nebeneinander hingestreckt lagen dort der Mann im gelben und der
im grünen Wams. Drei andere Bogenschützen in brauner Kleidung,
die hier gelauert hatten, sprangen auf und rannten wie
aufgescheuchte Hühner davon, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Samum hielt mit bebenden Flanken. Er schnaubte leise.
Roland erkannte, daß er sein Vertrauen einem Unwürdigen
geschenkt hatte. Statt ihn um Gottliebs angeblichen Hinterhalt
herumzuführen, wie er versprochen, hatte ihn der ältere Mann in eine
selber gestellte Falle gelockt.
Einen schnellen Blick warf Roland hinter sich. In 30 Klaftern
Entfernung hielt der ältere Mann, schwenkte die bewaffneten Arme
und brüllte: »Rennt doch nicht weg, ihr Feiglinge! Schnappt euch
den Ritter! Er kann sich nicht wehren. Seine Lanze warf er weg, und
sein Schwert habe ich ihm abgenommen. Bleibt stehen, ihr
Saftsäcke, und holt ihn vom Pferd! Macht ihn fertig! Ich verspreche
euch ein großes Siegesfest mit 20 geilen Weibern!«
Roland knirschte mit den Zähnen. Er schalt sich einen Esel. Er
hatte sich wie ein Kind hinters Licht führen lassen. Ein ruhiges
Gehabe, heuchlerische Schönrednerei und ein Paar verträumter
brauner Augen hatten ihn genarrt. Der alte Mann, dem er vertraut
hatte, war ja zehnmal so gefährlich wie der Grobe Gottlieb, der einen
wenigstens keinen Augenblick lang über seine unfreundlichen
Absichten im Zweifel ließ!
Zu Rolands Bestürzung hatten die Fliehenden nun wirklich
haltgemacht und pirschten sich, die Bogen gespannt, vorsichtig
heran. Es war nur ein Glück, daß sie nach Art ängstlicher Leute eng
beieinander blieben, statt sich im Gelände zu verteilen und von
mehreren Seiten heranzurücken.
So blieben Roland rechts und links noch zwei Fluchtwege offen.
Wenn er Gottliebs Fuchs im Stich ließ, würde niemand Samum
folgen können, auch nicht der schnellste Pfeil.
Aber Roland dachte nicht an Flucht.
Der alte Mann, der die Bogenschützen befehligte, ließ ihm auch
keine Gelegenheit dazu. Bis an die Zähne bewaffnet führte er seinen
Überraschungsangriff. Fast hätte er Roland wirklich überrumpelt.
Zuerst warf der Alte die Lanze. Doch viel zu früh! »Verdammte
Scheiße!« hörte Roland hinter sich. Er drehte sich um und sah, wie
sich die Lanze einen Klafter hinter Samum in die schneebedeckte
Erde bohrte. Und der alte Mann kam nun genau auf ihn zugaloppiert!
Er lag mit dem Oberkörper auf dem Hals seines Pferdes. Das eigene
Schwert schwang er in der Rechten zum Schlag erhoben. Rolands
Schwert hielt er mit der Linken. Die Spitze ragte weit über die
Pferdenase hinaus. Als Stichwaffe wollte er das durch eine List
erbeutete Schwert einsetzen.
Roland wendete Samum und ließ ihn tänzeln, so daß er kein
sicheres Ziel bot. Im letzten Augenblick wollte er an der linken Seite
des Gegners vorbeipreschen, um beiden Waffen zu entgehen.
Da erhielt er einen heftigen Stoß in den Rücken! Ein Pfeil hatte
gesessen! Nur die Rüstung bewahrte Roland vor einer gefährlichen
Wunde. Aber der harte Aufprall nahm ihm für Augenblicke die Luft.
Er wagte nicht, sich umzublicken. Waffenlos stand er zwischen
den Angreifern. Aus größerer Nähe abgeschossen, würde ein Pfeil
leicht die im Rücken dünnere Rüstung durchbohren.
Also vorwärts!
Roland gab dem Rapphengst die Sporen. Gehorsam galoppierte
Samum raumgreifend an. Roland lenkte ihn auf die Seite, die er
ausgewählt hatte. Der ältere Mann war bis auf wenige Klafter heran.
Wie der Kerl schrie! Man verstand nichts. Der Schrei sollte dem
Gegner wohl Angst einjagen.
Und jetzt wechselte der Alte die Auslage. Nun wurde das Schwert
in der Rechten zur Stichwaffe, und das geraubte Schwert in der
Linken wurde zum Schlag erhoben. Der Mann steckte voller Listen.
Er war also Linkshänder!
Samum befand sich bereits in vollem Galopp. Es war zu spät, die
Richtung zu wechseln. Roland würde von beiden Schwertern
getroffen werden!
Oder konnte er eins mit dem Schild, der ihm verblieben war,
abwehren?
Doch darauf wollte er sich lieber nicht verlassen. Wer konnte
sagen, ob der Schild standhielt? Roland kannte die Schärfe seines
Schwertes.
Sie waren noch zwei Galoppsprünge auseinander...
Blitzschnell ließ sich Roland in verzweifeltem Entschluß zur Seite
aus dem Sattel fallen. Verdutzt schaute der alte Mann auf den
plötzlich reiterlosen Samum. Dann stieß er einen Siegesruf aus und
zügelte sein Pferd.
Er meinte nichts anderes, als daß ein Pfeil seiner drei
Bogenschützen Roland aus dem Sattel geschossen hätte.
Indessen sprang Roland federnd auf die Füße, streifte den nun
nutzlosen Schild vom Arm, nahm Anlauf und sprang mit gewaltigem
Schwung auf das Pferd des Gegners. Er kam genau hinter den alten
Mann zu sitzen. Unter dem unerwarteten doppelten Gewicht knickte
dessen Pferd etwas ein.
Der Alte war völlig verwirrt. Er wußte nicht mehr, wie ihm
geschah.
Roland packte ihn am linken Arm und entriß ihm das gestohlene
Schwert, ehe der andere überhaupt mitkriegte, was vorging. Dann
bohrte er dem Pferd die Sporen in die Weichen.
Aufs äußerte gereizt und verängstigt brach das Tier zur Seite weg
und rannte einen der Bogenschützen, der sich am weitesten
vorgewagt hatte, über den Haufen. Die beiden anderen warfen sich
der Länge nach in den Schnee, als könnten sie sich so verstecken.
Das Letzte, was sie außer dem Mißgeschick ihres Kameraden sahen,
war die Niederlage ihres Anführers.
Denn Roland hatte seinen Vorteil geschickt ausgenutzt. Er packte
den Alten unter den Achseln, trat mit den Füßen gegen seine Beine
und hob ihn aus dem Sattel. Vor Schreck ließ der Alte auch gleich
sein eigenes Schwert fallen. Dann stürzte er kopfüber zu Boden.
Ächzend blieb der alte Mann liegen. Doch schon nach kurzer Zeit
erhob er den Kopf und überhäufte seine Bogner mit Schmähworten.
Die hörten ihn wohl in ihren Verstecken. Aber zu Hilfe kamen sie
ihm nicht. Roland sah schadenfroh, wie sie eilig davonkrochen.
Sobald sie die erste Bodenwelle überwunden hatten, sprangen sie
auf und rannten weg, diesmal aber endgültig.
Roland hatte Mühe, das aufgeregte Pferd des alten Mannes zu
bändigen. Doch als er die Oberschenkel zusammenpreßte, wurde das
ungebärdige Tier bald sanfter und trabte, wie Roland es wollte, zu
seinem Herrn, der noch im Schnee saß und unentwegt fluchte.
Roland stieg ab und fragte: »Seid Ihr verletzt?«
»Ich hab' mir das Bein gebrochen, verdammter Bockmist!« heulte
der Alte. »Hätte ich mich doch nie auf einen Kampf mit Euch
eingelassen! Aber wie konnte ich denn ahnen, daß Ihr mich hier
überfallt?«
Roland wollte ihm heftig auf diesen erlogenen Vorwurf entgegnen.
Doch da bemerkte er, daß dem tückischen Alten beim Sturz der
Helm vom Kopf gerollt war. Auch er hatte rotes Zottelhaar - wie
Gottlieb! Eine Ahnung stieg in ihm auf.
»Seid Ihr etwa Gottliebs Vater, alter Mann?« fragte er.
»Wer denn sonst? Der Scheißkerl hat das Fluchen und Betrügen
doch von mir geerbt!«
»Ich hoffe, dies wird Euch eine Lehre sein«, sagte Roland. Er griff
nach dem Schwert des Besiegten und zerbrach es über dem Knie.
Das gleiche tat er mit seiner Lanze. Inzwischen kamen Samum und
der Fuchs im Schritt heran und warteten geduldig auf das, was nun
folgen sollte.
»So helft mir doch, Dreckschwein!« stöhnte der Alte. »Wollt Ihr
mich etwa mit gebrochenem Bein liegenlassen?«
»Warum nicht?« fragte Roland ungerührt. »Ihr wolltet mich ja
sogar umbringen - und beinahe wäre es Euch gelungen. Verlangt
nicht, daß ich mich um Euch kümmere! Ich bin Eure Beleidigungen
und Tücken leid. Ihr seid nicht Gottliebs guter, sondern sein böser
Geist.«
Da änderte der Alte sein Benehmen. »Verzeiht mir, Roland. Ich
bitte Euch tausendmal um Verzeihung! Ich habe gesündigt. Ich war
verblendet. Man hat mich zu dem Überfall angestiftet...«
»Spart Euch Eure Lügen!« versetzte Roland, der indessen seine
eigene Lanze geborgen hatte. Er bestieg Samum und nahm den Fuchs
am Zügel. »Früher oder später werden Eure Männer Euch finden. Ich
aber möchte Euch nie wiedersehen. Darum hütet Euch, mir je wieder
unter die Augen zu treten!«
Wenige Augenblicke später schlug er den Pfad zwischen den
Felsblöcken ein. Als letzten Gruß des alten Mannes hörte er dessen
wutentbranntes Gekrächze: »Du gemeine Wildsau, du verrückter
Bastard ...!«
Wie Roland vorausgesehen hatte, wurde der Verletzte einige
Stunden später geborgen. Einer der geflohenen Bogenschützen hatte
auf der Waldburg von dem mißglückten Scharmützel berichtet.
Der Grobe Gottlieb belegte seinen Vater mit allen Schimpfwörtern,
die der ihn einst gelehrt hatte, und erfand bei dieser Gelegenheit noch
einige neue, deren Saftigkeit und Verworfenheit alle seine früheren
Schöpfungen auf diesem Gebiet weit übertrafen. Gottliebs Vater
wurde auch von Haggan streng ins Gebet genommen.
»Wie konntet Ihr versuchen, ihn umzubringen?« schimpfte der
Gräßliche und sah in seiner Wut zum Fürchten aus. »Ich habe alles
so eingefädelt, daß Roland den gräßlichsten Tod erleiden wird, den
es für einen Ritter gibt. Und das noch dazu auf Camelot - von der
Hand der eigenen Freunde!«
*
Freude herrschte im Schloß. Der Totgeglaubte war gesund
zurückgekehrt!
Volker ließ Jubelhymnen erklingen. Die Knappen liefen mit
strahlenden Gesichtern umher. Während Rolands Abwesenheit hatte
Pierre Dienst in der Küche genommen, wie es seiner Natur
entsprach. Louis dagegen erteilte jungen Rittern Fechtunterricht,
denn darin hatte er es fast zur Meisterschaft gebracht.
Heide hörte die Kunde und wurde vom Übermaß der
widerstreitenden Gefühle geschüttelt. Mal drängte es sie, zu Roland
zu eilen, sich an seine Brust zu werfen, ihn zu umarmen und nie
wieder loszulassen. Mal beschloß sie mit verhärtetem Gesicht, so zu
tun, als gäbe es ihn nicht, ihn zu meiden, solange er im Schloß war.
Er war und blieb ein Verräter an ihrer Liebe. Oder täuschte sie sich?
Hatte sie die Szene mit Griseldis falsch gedeutet?
So schwankte die arme Heide und durchlief in einer Stunde die
ganze Skala menschlicher Gefühle von innigster Sehnsucht bis zu
abweisendem Starrsinn. Bei alldem verrichtete sie mit großer
Selbstbeherrschung weiter ihren Dienst als Hoffräulein der Königin.
Stundenlang erzählte Roland vor dem König und der Tafelrunde
von seinen Abenteuern, und der Jubel wurde unermeßlich, als er
ankündigte, er habe Haggan gefangengenommen ...
»Wo ist er?« fragten sie durcheinander. Die Ritter waren
aufgesprungen und umstanden Roland dicht. Selbst König Artus war
ungeduldig. »Wo habt Ihr ihn verborgen?«
Es kostete Roland einige Anstrengung, die Wahrheit zu sagen, die
jetzt in seinen eigenen Ohren wie ein unerhörter Fehltritt klang. »Ich
ließ ihn in der Waldburg zurück«, gab er schließlich fast tonlos zu.
»Er gab mir sein Ehrenwort, später selber nach Camelot zu folgen.
Zehn Tage Frist gab ich ihm. Er hatte Spielschulden, die er
begleichen mußte.«
Ein Raunen erhob sich. Die Ritter prallten zurück. Verwunderte
Blicke trafen Roland. Der König legte die Hand vor die Augen.
Stimmengewirr erhob sich. Roland kam sich wie ein Verfemter vor.
Und bald war er es auch. Er verschlimmerte seine Lage noch, als er
von seiner Überzeugung sprach, Haggan der Gräßliche sei
unschuldig. Als er Griseldis und ihre Aussagen erwähnte, ging
Zorngeschrei durch den Saal der Tafelrunde.
Denn Griseldis war zu der Zeit, als Roland sie auf Atzerath
gesehen haben wollte, verwahrlost und halb verhungert in ihrem
Haus in Rivage tot aufgefunden worden.
Unverzüglich schickte man Boten zur Waldburg, die wenige Tage
später mit der Meldung wiederkamen: »Roland hat dort übernachtet
und sich ungebührlich benommen, so daß sie ihm das Tor wiesen.
Ein Haggan wurde dort nie gesehen!«
Und die zehn Tage, die er Haggan auf Ehrenwort gewährt hatte,
waren längst vergangen. 14 Tage, 20 Tage ...
Nun sah auch Roland ein, daß er sich hatte betrügen lassen. Er
schalt sich einen Leichtfuß, einen Dümmling, einen Narr.
Doch die Ritter, an der Spitze König Artus, nannten ihn anders.
Für sie war er ein Verräter, der den gefährlichsten Feind, den das
Land je gehabt, unterstützte!
Roland kam in Haft.
Die Ereignisse überstürzten sich.
Eines Tages wurde er vor das heilige Geheimgericht gebracht. Nie
klangen die Anklagen, die der greise Wilhelmus vorbrachte,
bezwingender in seinen Ohren. Nie erschien ihm seine eigene
Verteidigungsrede schwächer, unglaubwürdiger und verächtlicher!
Mit Demut vernahm er den Spruch des Gerichts. Entritterung! Nur
unklar war ihm, was das bedeutete.
Volker vom Hohentwiel, der ihn tags darauf im Haftzimmer
besuchte, klärte ihn auf. Entritterung war die schwerste Strafe, die
einen Ritter treffen konnte. Er verlor seinen gesamten Besitz,
Rüstung, Waffen und Pferde. Er verlor seine Ehre und seinen Stand.
Er wurde verflucht.
Wenn all dies überstanden war, gab es zwei Möglichkeiten.
Entweder wurde er vor allem Volk hingerichtet, oder er wurde auf
Lebenszeit aus dem Land verbannt. Das heißt: Er war vogelfrei.
Jedermann hatte das Recht - ja, die Pflicht ihn wie einen tollen Hund
zu töten ...
Vernichtet blieb Roland zurück. Zwar hatte ihm sein Freund einen
Befreiungsplan auseinandergesetzt, der geringe Möglichkeiten des
Gelingens aufwies. Aber Roland wollte davon nichts wissen. Das
Gefühl des eigenen Versagens saß zu tief in ihm. Lieber wollte er die
schwerste Strafe auf sich nehmen, als andere Menschen, seine
Freunde, in den Strudel seines Untergangs mit hineinzureißen.
Die Tage vergingen in der Qual der erzwungenen Untätigkeit, der
Haft auf engem Raum.
Die Nächte brachten Selbstvorwürfe, Angstzustände und dann
wieder wahnwitzige Hoffnungen auf ein erlösendes Ereignis.
Einmal besuchte ihn die Königin. Sie kam nicht in seine Zelle,
sondern sprach ungesehen aus einer Nische hinter dem Gitter zu ihm.
Sie überbrachte ihm einen Vorschlag, den sie aus Mitleid für ihn
ersonnen hatte. Artus hatte sein Einverständnis gegeben.
»Es gibt noch einen Weg, Euch zu retten«, sprach sie. »Ihr müßt
von Euren bisherigen Träumen und Zielen ablassen. Ihr müßt
schwören, Euch ewig verborgen zu halten und nie wieder einem
Menschen unter die Augen zu treten. Dann läßt Euch der König bei
Nacht und Nebel in ein fernes kleines Kloster bringen, dessen strenge
Gesetze gefürchtet sind. Dort werdet Ihr als Mönch in karger Zelle
bei 18 Stunden Arbeit und Gebet am Tag Euer Leben verbringen.«
Hochfahrend lehnte Roland den Vorschlag ab. »Für ein solches
Leben bin ich nicht gemacht! Ich würde verkümmern. Verlassen Sie
mich, Königin! Sie quälen mich nur ...«
Enttäuscht schritt sie hinweg. Ihr Herz blutete für den Jüngling.
Und dann kam die Nachricht, daß die Entritterung auf den
Donnerstag der nächsten Woche festgesetzt worden sei.
Volker gab keine Ruhe. Zusammen mit dem Knappen Louis ritt er
zwei Tagesreisen weit, fast ständig im Galopp, bis sie ins Gebirge
kamen und nach längerem Suchen Rolands alten Lehrer, den
frommen Einsiedler Klaus, auf seinem hohen Felsen fanden. Ihm
trugen sie alles vor. Der Alte lauschte, ohne seine Gefühle zu
verraten. Aber ein Blick in das verwitterte, vom Frost gegerbte
Gesicht zeigte, wie sehr er unter den Nachrichten litt.
Als Volkers Bericht beendet war, dachte der Einsiedler lange nach.
Mehrmals schien er eine Idee zu haben. Er setzte bereits zum
Sprechen an, um sie den beiden Ratsuchenden mitzuteilen. Aber
dann kam immer eine resignierende Handbewegung, und die Idee
blieb unausgesprochen. Er hatte sie verworfen.
Klaus holte unter Moos und Reisig ein in Schweinsleder
gebundenes altes Buch hervor und blätterte darin. Stunden
verstrichen. Geduldig wartete Volker. Aber Louis hielt es nicht aus.
Er schweifte inzwischen umher und erlegte zwei Fasane, die er dem
Alten zu Füßen legte.
In diesem Augenblick hatte Klaus offenbar seinen Entschluß
gefaßt. Er schloß das schweinslederne Buch, auf
dessen Seiten es von
Zeichen und Zeichnungen wimmelte, barg es wieder unter Moos und
Reisig und sprach mit großer Ruhe und Bestimmtheit. Er gab seinen
Rat, der aber in den Ohren der beiden mehr als verwunderlich, ja,
unbegreiflich klang.
Dennoch bedankten sie sich und überbrachten Roland den Rat
seines alten Lehrers, verbunden mit tiefen Glückwünschen. »Klaus«,
berichtete Volker, »glaubt nicht eine Stunde, daß du dich an den
Gesetzen des Rittertums vergangen hast.«
Auch Roland fand Klaus' Rat seltsam. Doch als die Stunde kam,
als ihn der Herold nach seinem letzten Wunsch fragte, antwortete er
mit den Worten des weisen Einsiedlers: »Ich möchte, daß die
Entritterung um einen Tag auf Mittwoch vorverlegt wird!«
Und so wurde es angeordnet...
*
Frage niemand, ob Roland in dieser Nacht Schlaf fand! Als die
Büttel um sechs Uhr morgens kamen, um ihn mit groben Worten zu
wecken, war er jedenfalls schon wach und erwartete sie stehend.
Die Suppe - Hirse mit Rindfleisch - war heiß. Roland aß langsam
und mit Bedacht. Der Koch, eine gute Seele, hatte sich Mühe
gegeben.
»Warum soll ein zum Tode Verurteilter schlechter essen als ein
König?« hatte er gesagt. »Wäre es nicht wunderbar, wenn er in
seinen letzten Augenblicken noch voll Dankbarkeit an mich und
meine gute Suppe denkt?«
Roland genoß jeden Bissen, jeden Schluck der Mahlzeit, die seine
letzte sein sollte.
Eine Stunde später ritten von den entgegengesetzten Schmalseiten
des Turnierfelds zwei gerüstete Reiter aufeinander los. Dämmerung
lag noch über dem vom Schnee geräumten graugelben Gras. Im
Osten schob sich gerade der oberste Rand der blutroten
Sonnenscheibe über den flachen Horizont.
Stumpf 'schimmerte das Metall der Rüstungen.
Weit griffen die Pferde aus. Immer schneller wurde ihr Galopp.
Drei Trompeter schmetterten eine anfeuernde Melodie in den kalten
Winterhimmel. Unter einem farbenprächtigen Baldachin, den
kunstvolle Wappen, Figuren und Malereien zierten, saß König Artus
mit blassem, starrem Gesicht, umgeben von den Rittern der
Tafelrunde.
»Das Gottesurteil!« sagte der alte Wilhelmus in das lastende
Schweigen.
Das Gottesurteil! Volker vom Hohentwiel hatte es überraschend
am gestrigen Tag angerufen. Im Kampf mit einem vom König
bestimmten Ritter wollte er seines Freundes Roland Unschuld
beweisen. Denn in jenen Tagen glaubte man fest daran, daß Gott in
strittigen Fragen durch das Ergebnis eines Ritterkampfes den
Menschen die Wahrheit enthüllte.
Wenn Volker siegte, mußte Roland freigelassen werden!
Aber sein Gegner war ein Mann, der im Jahr zuvor nicht weniger
als vier Turniere glänzend gewonnen hatte. Douglas Heißsporn, der
jüngere Bruder des erschlagenen Percy. Sein Blut war so feurig wie
sein loderndes rotgoldenes Haar, das ihm gleich einer Flammenkrone
ums Haupt lag. Sein Auge war falkenscharf.
Die Lanze führte Douglas mit traumhafter Sicherheit. Man sagte
ihm nach, daß er oft des Nachts bei völliger Dunkelheit unter
mondlosem Himmel zu Pferde saß und an einem Gerüst mit
drehbarer Scheibe den Lanzenstoß übte. Angeblich traf er in der
Finsternis so sicher wie am hellen Tag.
Die Hufe der beiden Pferde donnerten über den steinhart
gefrorenen Boden. Durch die Augenschlitze des geschlossenen
Visiers sah Volker den Gegner schnell größer werden, so rasend
näherte er sich ihm. Nur noch ein Atemzug - und da waren sie schon
auf Lanzennähe!
Volker zielte gut. Er traf Douglas an der Schulter. Aber die
Lanzenspitze schrammte über die Rüstung, wurde abgelenkt und
rutschte über Douglas Heißbluts Schulter hinweg ins Leere.
Dessen Lanzenstoß erschütterte Volker schwer. Ein furchtbarer
Ruck ließ seinen Körper beben. Ihm war, als wäre aus mächtiger
Höhe ein Felsblock auf seine Brust gefallen. Glühender Schmerz
breitete sich unter seinen Rippen aus. Er wollte Luft holen - und
konnte nur stöhnen vor Qual.
Mit dem Rücken war er heftig gegen die erhöhte Sattelstütze
geprallt. Nur sie bewahrte ihn vor einem Sturz, der die sofortige
Niederlage bedeutet hätte.
Was man sich über Douglas Heißsporn erzählte, schien also zu
stimmen! Der leidenschaftliche, ungebärdige Junge war ein noch
größerer Kämpfer als einst sein Bruder.
Volker ließ sein Pferd betont langsam bis ans Ende des
Turnierfeldes traben, wo das weiße Schneeband begann. Er brauchte
Zeit, um sich von dem Lanzenstoß zu erholen.
Ungeduldig wartete auf der anderen Seite Douglas, der kurz
gewendet hatte.
Der schmerzende Ring um Volkers Oberkörper lockerte sich
allmählich. Nun wendete auch er sein Pferd.
Der zweite Turniergang begann. Und wieder galoppierten sie
aufeinander zu! Wieder sah Volker den Gegner wachsen und immer
größer, immer drohender aufragen.
Da veränderte Douglas Heißblut ein wenig die Richtung seines
Rittes, und Volker schaute genau in den Sonnenball, der jetzt eine
Handbreit über dem Horizont schwamm und nicht mehr rot und kalt
erschien, sondern gelb und glühheiß. Im nächsten Augenblick
tanzten goldene und orangefarbene Flecken vor Volkers Augen, und
die Gestalt des gegnerischen Ritters verschwand in dem glühenden
Farbenwirbel.
Ziellos stocherte die Lanze des geblendeten Minnesängers in der
Luft. Den Gegner berührte sie nie. Aber Douglas' Lanze hob Volker
mit Urgewalt aus dem Sattel. Da halfen nicht mehr der feste Griff am
Zügel, der sichere Stand in den besonders starken Steigbügeln und
die erhöhte Sattellehne. Von seines Pferdes Rücken stürzte Volker,
jeden Halts beraubt, in seiner schweren Rüstung auf den steinhart
gefrorenen Boden.
Der helmgeschützte Kopf schlug zuerst auf, und es war der Helm,
der den Sänger vor einem Schädelbruch bewahrte. Aber er verlor die
Besinnung und blieb den ganzen Tag über ohne Bewußtsein und
konnte sich, als er tags darauf erwachte, nicht mehr an den Kampf
erinnern, und die Erinnerung sollte auch nie wiederkehren.
Erschüttert sagte der König mit erloschener Stimme: »Gott hat sein
Urteil gesprochen! Roland ist schuldig. Das Urteil ist gerecht, das
wir gesprochen.« Er fuhr sich mit der Hand über die Augen und sagte
mit einer Stimme, die kaum die Nächststehenden verstanden: »Die
Entritterung soll beginnen!«
In den alten Augen des Ritters Wilhelmus blitzte es von
jugendlicher Rachsucht. Nie hatten seine Hände seinen langen
weißen Bart mit so zufriedenem Behagen gestrichen wie heute.
Die drei Trompeter hoben ihre Instrumente der Sonne entgegen,
die einen strahlendhellen Tag versprach, und bliesen eine
triumphierende Melodie.
Douglas Heißblut ritt vor den Baldachin des Königs und grüßte mit
formeller Geste.
Nun war auch dem Dümmsten klar, daß Roland verdammt war, in
die Erde zu fahren, und die Zukunft dem Jüngling mit dem
Flammenhaar gehörte!
*
Roland betete. Das Gebet war kurz. Er betete nur um die Kraft,
würdig in den Tod zu gehen. Er glaubte nichts anderes, als daß er auf
einer Anhöhe vor der Burg durch einen raschen Schwertstreich ent-
hauptet werden würde.
Aber seiner wartete die fürchterlichste Zeremonie, die ein
Menschenhirn sich erdenken konnte, um einen Mitmenschen nicht
nur vom Leben zum Tode zu bringen, sondern ihn vorher noch auf
alle erdenkliche Arten zu quälen und zu demütigen.
Zu seinem Erstaunen brachte man ihm seine vollständige Rüstung,
und er mußte alles anlegen. Helm, Harnisch, Brünne, Beinschienen
und Eisenschuhe. Nur eine Waffe gab man ihm nicht. Zuletzt drückte
man ihm noch seinen Schild in den Arm, der mit dem Würfel und
dem einen Auge darauf - Erinnerungen an eigene Narrheit.
Die Sonne stand schon zwei Handspannen über dem Horizont, als
sie ihn ins Freie führten. Aber wie sehr hatte sich das Bild verändert!
Tausende füllten jetzt den Turnierplatz, in dessen Mitte ein Galgen
errichtet war.
Roland erschauerte, als er ihn sah. So sollte er denn eines
unwürdigen Todes sterben - wie ein gemeiner Mörder und Räuber!
Wie eine Statue saß König Artus unbeweglich unter dem
Baldachin, umgeben von den Rittern der Tafelrunde.
Von nah und fern war das Volk herbeigeströmt, um den Tod eines
seiner Lieblinge mitzuerleben. Es herrschte eine merkwürdig geteilte
Stimmung. Viele gab es, die sich darauf freuten, einen stolzen jungen
Mann, der so lange vom Glück begünstigt schien, erniedrigt,
gedemütigt und schließlich hingerichtet zu sehen. Es waren die ewig
Zukurzgekommenen, die Neider, die Mißgünstigen.
Weit größer aber war die Schar derer, die Roland aus tiefstem
Herzen bedauerten. Viele Augen füllten sich mit Tränen, als sie ihn
erblickten. Frauen wehklagten laut. Männer gaben ihrem Mitleid für
den Helden beredten Ausdruck.
Noch jetzt wirkte der Ritter mit dem Löwenherzen strahlend im
vollen Glanz seiner Rüstung, in der sich die Sonnenstrahlen
spiegelten. War er nicht das vollendete Abbild edler Jugend, freien
Mutes und guter Sitten? Hatte er nicht immer, wie sein Rittereid es
ihm auferlegte, die Armen und Schwachen, die Hilflosen und
Unglücklichen beschützt, die Lasterhaften bekämpft und die Feinde
des Volkes vernichtet?
So führten sie ihn zum Schafott.
Rufe des Mitleids drangen an sein Ohr, Schluchzen und
Wehklagen ergriffen sein Herz. Flüchtig dachte Roland daran, daß er
noch 24 Stunden hätte leben können, wenn er dem Rat des alten
Klaus nicht gefolgt wäre und nicht als letzten Wunsch die
Vorverlegung der Entritterung um einen Tag erbeten hätte.
Aber der alte Klaus hatte in geheimnisvollen Andeutungen von
Rettungshoffnungen gesprochen, wenn er sich für den Mittwoch
entschied.
Roland wußte nun, daß jede Hoffnung unnütz war. Und gerade
jetzt lockte ihn das Leben wie nie zuvor. Die kalte, klare Luft brachte
schon die Verheißung des Frühlings mit sich. Jeder Blick in die
Runde zeigte ihm, wie schön die Welt war, wie herrlich der Schnee,
wie unergründlich der blaßblaue Himmel!
Und er war doch noch so jung! Er hatte sein Leben kaum
begonnen. Und er mußte sterben, weil er allzu treuherzig einem
besiegten Feind aufs Ehrenwort geglaubt hatte.
Aber nun erkannte er auch, daß das Urteil gerecht war. Durch seine
Schuld blieb Haggan weiterhin eine große Gefahr für alles Land und
Volk. Schmählich hatte er König Artus' väterliche Mahnungen in den
Wind geschlagen und seinen Auftrag gleichsam verraten.
Hinter dem Galgen saßen zwölf ernste Mönche in schwarzen
Kutten wie ebenso viele düstere Raben. Als Roland ihnen näher kam,
sah er ihre Augen trauernd, aber auch streng auf sich gerichtet. Mehr
war von den Gesichtern nicht zu erkennen.
Auf ein Wort der Büttel blieb Roland stehen. Sie banden ihn mit
Stricken, verschnürten sie unter den Armen und zogen ihn daran am
Galgen in die Höhe. Den Schild nahmen sie ihm weg und hängten
ihn verkehrt herum an einen niedrigeren Mast neben dem Galgen.
Die Mönche begannen zu singen. Es war eine todtraurige Melodie,
in der alles Elend und aller Jammer der Welt beschlossen schienen.
Die getragenen Töne versetzten Roland in tiefe Niederge-
schlagenheit, obwohl er kaum die Worte verstand. Nur dann und
wann hörte er etwas heraus, das so klang wie ...
Aber nein, das war nicht möglich!
Er zwang sich, schärfer hinzuhören. Doch da brach der Gesang ab.
Die Büttel traten an ihn heran und rissen ihm roh den Helm vom
Kopf.
Wieder sangen die Mönche. Nach der zweiten Strophe nahmen die
Büttel ihm mit harten Händen den Brustharnisch weg.
Wieder Mönchsgesang. Und jetzt unterschied Roland ganz deutlich
ein nur allzu bekanntes Wort.
Was immer die anderen sangen, ein Mönch wiederholte im
Rahmen der Melodie immer wieder das Wort »extraprima«!
Es war verrückt - aber das konnte niemand anderer als der
morgenländische Junge Omar sein. Er war wohl seinem Herrn
Haggan entlaufen und nach Camelot geflohen. Wie kam Omar unter
die Mönche?
*
Die Mönche waren am späten Abend des vorherigen Tages nach
langem, ermüdendem Fußmarsch hungrig und durstig auf Camelot
eingetroffen. Man hatte ein Mahl für sie vorbereitet, das sie in einiger
Eile einnehmen mußten. Denn nach Mitternacht durften sie weder
Speise noch Trank genießen und kein Wort mehr sprechen. So
lauteten die strengen Bräuche.
Das Mahl war reichhaltig und wohlschmeckend wie alles, was der
königliche Koch zubereitete. Zu denen, die es in der Gesindestube
auftrugen, gehörte Pierre. Er hatte drei Mönche zu bedienen, und
allen dreien erging es sonderbar.
Auf dem Weg von der Küche in die Stube nämlich mischte ihnen
Pierre ein geriebenes Pülverchen von starken Eigenschaften in das
Essen. Doch den Geschmack veränderte es nicht. Ja, eine Stunde
lang machte es sich kaum bemerkbar.
Doch als die Mönche sich kurz vor Mitternacht aufs bescheidene
Strohlager legten, und die letzten Sätze vor dem Beginn des
Sprechverbots austauschten, machte sich bei den drei Mönchen ein
Grummeln im Magen bemerkbar.
Aus dem harmlosen Grummeln wurden ein Rumpeln und Pumpeln,
ein Zerren, Ziehen und Kneifen. Es war schon eine arge Pein. Die
drei Unglücklichen meinten, sie hätten sich überfressen, und
schämten sich ihres Unmaßes. Darum verbargen sie auch sorgsam
ihren Zustand vor ihren Brüdern.
Doch es wurde immer schlimmer. Es kollerte in ihren Därmen, als
triebe der Teufel da sein Unwesen. Es zwickte und zwackte. Es
hämmerte und stach. Es würgte und schnitt. Es schmerzte, daß ihnen
der Schweiß ausbrach und die Tränen über die faltigen Wangen
liefen. Verstohlen preßten sie die Hände gegen den Leib, zitterten
und zuckten und wälzten sich. Doch Linderung fanden sie nicht.
Sie hätten gern ihrem Schmerz durch Gebrüll Luft gemacht. Aber
das wagten sie nicht. Es hätte ja geheißen, gegen die Bräuche zu
verstoßen!
Mittlerweile war den drei armen Seelen zumute, als zerreiße es
ihnen die Eingeweide. Während ihre Brüder schon schlummerten,
spürten sie große Not und mußten sich unbedingt erleichtern. Aber
sie kannten sich im Schloß nicht aus und standen unschlüssig, vor
Weh und Ach von einem Fuß auf den anderen tretend, in der Stube,
wo noch eine einzelne Fackel blakte.
Wo konnten sie den inneren Drang entladen?
Da erschien Pierre, der Retter in der Not. Die drei Märtyrer liefen
auf ihn zu und gaben ihm durch Gesten zu verstehen, wonach ihr
Leib verlangte.
Pierre ließ sich Zeit. Mit grausamer Schadenfreude tat er zunächst
so, als begreife er ihr Anliegen nicht. Da griffen sie zu gröberen
Hilfsmitteln, hockten sich hin und machten mit dem Mund platzende
Geräusche.
Erst jetzt faßte Pierre sich an die Stirn und sagte roh: »So ist das,
ihr Racker! Dir habt euch überfressen und müßt dringend
abprotzen!«
Die drei Mönchlein nickten eifrig. Dazu machten sie fragende
Gebärden und zeigten mit den Fingern in alle Himmelsrichtungen.
»Ach, Ihr wißt nicht, wo der Abtritt ist?« meinte Pierre gelassen.
»Na, dann folgt mir! Ich werd' Euch das stille Örtchen zeigen. Da
könnt Dir Euch nach Herzenslust stundenlang erleichtern.«
Langsam machte er sich auf den Weg, und die drei Mönche folgten
ihm, während neue Hoffnung ihnen die Qual zu ertragen half. Sie
hielten sich krumm und schief und führten alle möglichen
Verrenkungen aus, über die sich Pierre innerlich verlustierte. Denn es
war keine Kleinigkeit, wacker auszuschreiten, Treppen hinabzugehen
und dabei, doch die Gesäßbacken eisern zusammenzukneifen, damit
ja nicht vorzeitig etwas in die Hose ging!
Endlich standen sie vor einer festen Tür tief unten im Schloß.
Dahinter lag der älteste, halbvergessene und kaum noch benutzte
Abtritt. Doch würde er seinen Zweck trefflich erfüllen. Umständlich
schloß Pierre auf, während die Mönche ihn gestenreich zur Eile
mahnten.
Bevor er sie einließ, sagte er mit gutgespielter Besorgnis: »Seid
vorsichtig, fromme Brüder! Ich rate Euch gut. Legt um Himmels
willen eure Kutten ab! Ich sehe, Ihr habt sie zur Feier des Tages
frisch gewaschen. Legt sie ab - ich halte sie, während Ihr fahrenlaßt,
was euer Körper nicht bei sich halten kann. Sonst mögt Ihr Euch im
Drang Eurer Geschäfte noch übel beschmutzen und morgen vor dem
König und allem Volk ein elendes Schauspiel geben und obendrein
stinken.«
In diesem Augenblick hätte er alles von den Ärmsten verlangen
können. Geschwind legten sie die Kutten ab, und Pierre nahm die
Gewänder in Empfang.
Dann trat er beiseite, ließ sie in das dunkle Gemach mit der tiefen
Grube hinter einem nicht sehr bequemen, aber breiten Balken
eintreten und schloß die Tür.
Er verweilte noch eine Weile draußen und lauschte mit herzlichem
Vergnügen den urwelthaften Lauten, die vom Abtritt herausschallten,
und er konnte nicht umhin, ihre Vielfalt zu bewundern.
Es furzte und knurzte. Es hallte und knallte. Es krachte, donnerte
und strömte. Es riß und schiß. Es war ein gewaltiges Gewitter, das
dieses unscheinbare Pulver aus Rhabarberwurzel und Sennesblättern
da zuwege brachte, und Pierre war ein wenig stolz darauf, daß er den
Männern, denen er zunächst übel mitgespielt hatte, nun so herrliche
Erleichterung zuteil werden ließ.
Dann aber fiel ihm mitten bei heimlichem Gekicher der Ernst der
Stunde ein. Sorgfältig schloß er die eiserne Tür ab und begab sich
mit den Kutten zu den wartenden Louis und Omar. Kurz berichtete er
das Vorgefallene, ohne jedoch Einzelheiten zu erwähnen. Die Zeit
drängte. Sie kleideten sich in die Kutten, schnürten die Hanfstricke
um den Leib und schlichen in den Schlafraum der Mönche. Niemand
nahm Notiz von ihnen, als sie sich neben ihnen auf die Matratzen
legten.
Rundum sägte beruhigendes Schnarchen. Aber die beiden Knappen
und der Junge aus dem Morgenlande, der um Rolands Willen seinen
Herrn Haggan verlassen hatte, taten vor Aufregung kein Auge zu.
Mit klopfendem Herzen dachten sie an ihr Vorhaben. Und wenn sie
sich den Ablauf ihres Plans vorstellten, wurde ihnen von Mal zu Mal
klarer, daß ihr tollkühnes Unternehmen kaum Aussicht auf Erfolg
hatte.
Pierre, der eben noch so lustig gestimmt war, schob sich zitternd
die Faust in den Mund, weil er meinte, er würde sonst vor
erbärmlicher Angst laut aufschluchzen.
Noch im Dunkeln wurden die Mönche von Schloßbediensteten
geweckt und trotteten einer hinter dem anderen den langen Weg zum
Galgen. Noch immer galt das Sprechverbot, und so bestand
wenigstens jetzt keine Gefahr, daß jemand die Eindringlinge an ihren
jugendlichen Stimmen erkannte.
Von ihren Gesichtern waren sowieso nur die Augen zu sehen. Und
in der Dämmerung fielen noch nicht einmal die schwarzen
Glitzeraugen Louis' und die tiefbraunen Mandelaugen Omars auf.
Nun wurden sie aufgefordert, zum Galgen zu wandern und hinter
ihm Platz zu nehmen. Abergläubische Furcht preßte Louis das Herz
zusammen. Verzagt blickte Pierre zu Boden und wagte nicht einmal,
die Lider zu heben.
Kein Wunder, daß die beiden Knappen den Galgen nur mit
Entsetzen wahrgenommen hatten. Vor gar nicht langer Zeit hatten
ihnen aufgebrachte Bürger selber einmal den Strick um den Hals
gelegt. Damals hatte Ritter Roland sie im letzten Augenblick gerettet,
als sie sich schon im Jenseits wähnten.
Heute mußten sie ihm das Leben retten. Aber sie glaubten nicht
mehr daran, daß sie es schaffen würden. Die Übermacht war
erdrückend. Wie sollte inmitten von vielen 100 Bewaffneten und
Tausenden von Zuschauern dieser tolle Handstreich gelingen?
Nein, es war unmöglich. Sie würden mit Roland zusammen
untergehen.
Nur Omar war ruhig. Zuversichtlich umkrampfte seine kleine, zähe
braune Hand unter der schwarzen Kutte den scharfen Krummdolch.
*
Der Morgen schritt voran. Unter einer Wintersonne, deren ergreifend
schöne Klarheit Wald, Feld und Schloß märchenhaft verzauberte,
vollzog sich das düster tragische Schicksal des Ritters Roland, der
einmal, nur einmal, vom rechten Wege abgeirrt war.
Nach jeder Strophe im eintönigen, unendlich traurigen Gesang der
Mönche traten die Büttel zu Roland und rissen ihm mit heftigen,
absichtlich wilden Bewegungen einen Teil der Rüstung nach der
anderen ab.
Nun waren sie bei den Beinschienen. Das letzte würden die spitzen
Panzerschuhe sein. Danach würden sie seinen Schild vom Mast
holen und ihn zerschmettern. Und dann ...
In diesem Augenblick tauchten vier Henker in roten Gewändern
mit Kapuzen auf. Gemessenen Schrittes näherten sie sich der
Richtstätte. Ein Raunen des Erschreckens ging durch die
Volksmenge. Viele Frauen schrien laut und ließen dann ihren Tränen
freien Lauf. Männer bissen sich auf die Lippen oder knirschten in
ohnmächtigem Zorn mit den Zähnen. Andere ballten heimlich die
Fäuste oder wandten die Blicke ab.
Die vier Henker trugen einen schwarzen Eichensarg. Sie stellten
ihn wenige Schritte vor dem Mann ab, der wehrlos, seiner Waffen
und Rüstung beraubt, geschändet, vor aller Augen entehrt, am
Galgen hing, mit starken Stricken unter den Armen festgeschnürt.
Die Henker bückten sich erneut und klappten den Deckel auf. Und
mit brennenden Augen starrte Roland in den offenen Sarg.
Seinen Sarg! Der Anblick ließ ihn frieren. Mit einem Schlag
begriff er die ganze Schrecklichkeit des Todes. Eines Todes, den er
in der Blüte seiner Jugendkraft erleiden sollte. Und warum? Eines
einzigen Irrtums wegen!
Es schien, als hegten die Menschen rund um die Richtstätte
ähnliche Gedanken. Denn ihre Unruhe, wurde immer größer. Die
Menschen der damaligen Zeit waren öffentliche Hinrichtungen
gewöhnt. Ohne Mitleid, ja, mit einer gewissen Befriedigung sahen
sie zu, wenn Verbrecher vom Leben zum Tode gebracht wurden.
Aber Roland war alles andere ein Verbrecher. Er war bereits ein
glänzendes Vorbild der Jugend geworden!
Gewaltsam wendete Roland den Blick von seinem eichenen Sarg
ab, aber das Frieren blieb. Es war, als sei es plötzlich kälter
geworden. Kälter und auch ein wenig dunkler, obwohl keine Wolke
den Himmel trübte und die Sonne sich noch in aufsteigender Bahn
befand.
Irgend etwas Unheimliches lag in der Luft!
*
Der kleine Graue schnaufte erwartungsvoll, als Heide den Stall
betrat. Aber er wurde enttäuscht. Seine Herrin würdigte ihn keines
Blicks und ging eilig an ihm vorbei.
In langen Reihen standen die Pferde des königlichen Schlosses an
den Längswänden. Es gab viele edle Tiere darunter. Aber alle
überstrahlte der herrliche Araber, der Rappschimmel Samum, das
Pferd Rolands.
Erkannte er Heide? Wohl kaum. Doch wühlte er zutraulich die
Nüstern in ihre hochgereckte Hand, als sie bei ihm stehenblieb.
Wahrscheinlich hätte er jeden so begrüßt, der ihn nach tagelangem
Herumstehen Aussicht auf einen herzhaften, langen Galopp, ein
Austoben im Freien verhieß. Denn der ebenso schnelle wie
ausdauernde Hengst fühlte sich vernachlässigt. Nur selten erschien
der königliche Marschall, der als einziger Erlaubnis hatte, ihn zu
reiten. Der Herr war schon ein wenig ältlich geworden, und wenn
Samum unter ihm weit ausgriff, wurde es dem Reiter mulmig.
Samums Erwartungen stiegen, als Heide ihm den Sattel auflegte.
Sie band ihn los und führte ihn ins Freie. Dort saß sie auf, hielt ihn
aber mit Schenkeldruck und Zügelführung zunächst im Schritt.
So kamen sie zur Wache. Drei Männer vertraten ihnen den Weg.
»Das ist Samum«, rief der erste, »das Pferd des Verräters. Nur der
Marschall darf ihn ausreiten. Zurück mit euch, Fräulein! Sonst
müssen wir Gewalt anwenden. Zur Bestrafung melden werden wir
Euch sowieso!«
Ein wenig nur entspannte Heide die Muskeln der Oberschenkel.
Kaum merkbar lockerte sie die Zügel. Und wirklich, nur mit der
Sporenspitze kitzelte sie die Weichen Samums.
Der aber rannte los, als wäre ein Rudel hungriger Wölfe hinter ihm
her. Die Wächter wurden völlig überrumpelt. Einen stieß der Hengst
mit der Schulter zur Seite, daß der der Länge nach hinfiel. Den
beiden anderen blieb nichts weiter übrig, als dem
davongaloppierenden Pferd mit der schönen Reiterin offenen
Mundes nachzuschauen.
In Windeseile hatten sie den Waldrand erreicht.
Der erste Wächter erhob sich vom Boden. »Am besten, wir tun, als
wäre nichts geschehen«, sagte er. »Sonst kriegt uns nur der Burgvogt
am Arsch, streicht uns den Sold und läßt uns die Latrinen säubern.«
»Ganz meine Meinung«, bestätigte der zweite.
»Es ist ja auch nichts geschehen«, sagte der dritte. »Ich habe
jedenfalls nichts bemerkt.«
Sie waren sich wieder mal einig.
Heide verhielt vor den kahlen Birken und weißüberzuckerten
Fichten. Unter ihr lag in der Ferne der Richtplatz. Sie biß sich auf die
Unterlippe, als sie Roland einsam vor seinem Sarg sah. Auch für sie
war er ein Verräter gewesen. Ihre Liebe hatte er verraten. Noch hatte
sie seinen Schwur im Ohr.
Wenn ich dir je untreu werde, meine Liebste, dann soll die Sonne
am hellen Tag verschwinden und mitternächtliche Finsternis den
heiteren Mittag ersetzen.
Und dann hatte er sich Griseldis an den Busen geworfen!
Ja, sie haßte ihn deshalb. Aber sie liebte ihn auch noch. Und er
durfte nicht sterben!
Heide war von den Knappen in deren Plan eingeweiht worden und
hatte sich sofort bereit erklärt, eine Rolle zu übernehmen. Sie würde
am Waldrand mit Samum warten, wenn die drei Jungen den Ritter
befreit hatten. Er brauchte nur zu Fuß ihren Warteplatz zu erreichen.
Dann konnte er Samum besteigen und mit ihm die Flucht fortsetzen.
Aber als sie jetzt auf den weiten Platz sah, sank ihr das Herz.
Selbst wenn es den Knappen und Omar gelang, ihn von den Stricken
zu befreien, würde er nach wenigen Schritten von den zahlreichen
Bütteln, von den Rittern oder von Zuschauern eingeholt und
überwältigt werden.
»Roland«, flüsterte Heide. Und im Angesicht seines sicheren
Todes und dem Ende aller ihrer Hoffnungen vergab sie ihm. Ihr Haß
schwand, und ihre Liebe zu dem Todgeweihten wurde so
übermächtig in ihr, daß ihr die Sinne schwanden und sie ohnmächtig
vom Pferde sank.
Ihre letzte Empfindung war, daß eine ungeheure Kälte durch die
Luft schnitt und die Sonne alle Kraft verlor ...
*
In der Waldburg hob Haggan einen goldenen Pokal, der wohl zwei
Liter Wein faßte, und lachte dröhnend.
Die Ritter Lutz und Gottlieb tranken aus viel kleineren Pokalen.
»Was ist der Grund Eurer Fröhlichkeit?« fragten sie. Denn seit dem
Verschwinden seines Lieblings Omar hatte Haggan nur kalte
Verdrossenheit zur Schau getragen.
»Gleich sollt Ihr es erfahren«, antwortete Haggan. »Erlaubt, daß
ich erst diesen Humpen leere.«
»Etwa auf einen Zug?« meinte Gottlieb listig.
»Guter Gedanke!« lobte Haggan. »Ich erhielt soeben eine
Nachricht, die einen starken Trunk verdient.« Er setzte das Gefäß an
die Lippen.
»Bei meinem und deinem Arsch, das schaffst du nie!« kreischte
der Grobe Gottlieb. »Ich wette zehn Dukaten dagegen!«
»Die Wette gilt!« erwiderte Haggan, und seine finsteren Augen
waren scharf und stechend wie zwei Messer. Schon hob er den Stiel
des Glases und begann zu schlucken. Nun war die Reihe an Gottlieb,
unmäßig zu lachen. Der leidenschaftliche Wetter meinte, noch nie so
schnell zehn Dukaten gewonnen zu haben.
Doch bald verging ihm das Lachen. Denn Haggan soff und soff
und fand kein Ende. Bedenklich ging der Wein im Pokal zur Neige.
»Hör auf!« schrie Gottlieb. »Setz ab! Du ruinierst dich! Soviel Wein
auf einen Schlag macht krank!« Ihm bangte es nämlich um seinen
Einsatz.
Aber Haggan schluckte unbeirrt weiter, bis nur noch Luft im Glas
war. Dann setzte er das Gefäß ab und drehte es um. Kein Tropfen fiel
zu Boden. Er hatte es wirklich leergesoffen. Haggan holte tief Luft,
warf den Pokal gegen die Wand, daß er zerschellte, und hielt die
Hand offen hin.
Mißlaunig zählte ihm der Grobe Gottlieb zehn Goldmünzen in die
Handfläche.
Haggan strich sie ein und klopfte dem Verlierer munter auf die
Schulter: »Nun zieh nicht so ein langes Gesicht, alter Zottelbär! Was
ich euch jetzt berichte, muß jeden echten Glücksritter und Artus-
Feind fröhlich stimmen. .So hört denn: In dieser Stunde erleidet
Roland den Tod durch Entritterung!«
Ein paar Augenblicke lang sahen Lutz und Gottlieb den Sprecher
überrascht an. Dann fielen sie sich glückstrahlend in die Arme und
tanzten bärenhaft miteinander.
»Mehr Wein her!« schrie Haggan, und die Knappen spritzten
eilfertig herbei. »Mein schlauer Plan gelang. Der einzige Mann, der
uns die Eroberung Camelots hätte vereiteln können, wird von seinen
eigenen Leuten umgebracht! Ich habe den Naseweis getäuscht! Ich
habe den senilen Kopfwackler Artus reingelegt! Ich habe der
Tafelrunde einen Kandidaten weggenommen, der binnen kurzem
aller Ruhm in den Schatten gestellt hätte.«
Die drei Männer ließen sich neue Pokale reichen, taten einander
Bescheid und tranken in herzhaften Schlucken. Lutz zählte die Ritter
auf, die er auf seine Seite gebracht hatte. Der Grobe Gottlieb nannte
seine Lehensmänner, die bisher als Raubritter durch die Lande
gezogen waren. Und Haggan verwies auf seine Höllensöhne, die es
vor Kampfbegier kaum noch in der Burg litt.
»In drei Tagen«, kündigte er an, »reiten wir gen Camelot und holen
die Krone, die mir gebührt!«
Johlend fielen die beiden anderen in sein Triumphgeheul ein. Sie
schlugen sich auf die Schenkel. Sie soffen und prahlten. Sie
schmiedeten Pläne und trieben ihren Spott über die verblendeten
Ritter von Camelot und ihren unfähigen König...
Trotz seiner Trunkenheit bemerkte Haggan als erster, wie unruhig
die Knappen umherliefen, wie sie mit bleichen Gesichtern heimlich
untereinander flüsterten. »He, ihr Leute«, rief er mit rauher Stimme,
»was schleicht ihr mit Geistergesichtern an den Wänden entlang?
Was schreckt euch? Los, gebt Antwort!«
Ein Knappe trat zitternd vor, deutete zur Tür und sagte mit
angstvoll verzogenen Lippen: »Herr, Unheil bahnt sich an. Die
Sonne ... Die Sonne ... Es ist keine Wolke am Himmel... Aber die
Sonne ... Sie wird immer kleiner und dunkler!«
*
Es war nicht mehr lange bis Mittag, als endlich ein Page die
verzweifelten Schreie und die Klopfgeräusche der drei im tiefsten
Abtritt eingesperrten Mönche hörte. Er benachrichtigte den
Stellvertreter des Burgvogts. Der stieg selber nach unten und schloß
mit eigener Hand die Tür auf.
Gestank schlug ihm entgegen. Er rümpfte die Nase. »Wer schrie
da?«
Mehr tot als lebendig, übernächtigt und blaß torkelten ihm in ihren
härenen Unterkleidern die drei Mönche entgegen, denen Pierre in der
vergangenen Nacht so übel mitgespielt hatte. Sie sprachen alle
durcheinander, fielen sich gegenseitig dauernd ins Wort und
verhaspelten sich vor Aufregung. So dauerte es geraume Zeit, bis der
Stellvertreter des Burgvogts aus ihren wirren Reden schlau wurde.
Am liebsten hätte er den Kerlen ja noch einen Tritt in den Hintern
versetzt. Aber nun hieß es sich sputen. Wer weiß, was das
hinterhältige Manöver des Pagen Pierre zu bedeuten hatte? War er
nicht als Knappe mit Roland geritten? Plante er etwa in der
Vermummung eines Mönches eine Verzweiflungstat unter dem
Galgen?
Der Stellvertreter war ein energischer Mann. Er hieß eine Rotte
von Knappen sich bewaffnen und stürmte mit ihnen in den
Wintertag, der ihm nicht mehr ganz so hell erschien wie zuvor,
obwohl der Himmel in makellosem, zartem Blau schwamm. Irgend
etwas war mit der Sonne ...
Er hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. Gefolgt von den
Knappen erreichte er den Baldachin, unter dem die Edlen saßen. Er
unterrichtete den Burgvogt, der ihm sogleich den Befehl erteilte, die
frechen Kuttenräuber unter dem Mönchschor herauszusuchen und
abzuführen, ehe sie Unheil stiften konnten.
Pierre sah die Vorgänge und deutete sie sofort richtig. Das Herz
schlug ihm, als wolle es die Brust zersprengen. Die Angst lag wie ein
schwerer Klumpen auf seinen Schultern. Er wußte, sie waren
entdeckt, ihr Anschlag verraten.
Wie gehetzt schaute er um sich. Er sprang auf. »Louis, sie holen
uns!« schrie er mit sich überschlagender Stimme. Wild stieß er den
Mönch, der vor ihm saß, zur Seite und suchte sein Heil in eiliger
Flucht.
Aber der dicke Knappe kam nicht weit. Sternförmig kam die Schar
der Häscher auf ihn zu. Er versuchte noch, Haken zu schlagen, aber
schon beim zweiten rutschte er aus und fiel hin.
Schon saß ihm ein Häscher im Nacken, versetzte ihm gleich ein
paar Püffe, verdrehte ihm die Arme und zerrte ihm die Kutte von den
Schultern. Pierre vergingen vor Angst fast die Sinne, als er eine
wütende Stimme hörte: »Du nachgemachter Mönch kannst dir
gratulieren! Dir geht's jetzt dreckig! Ich sorge dafür, daß du deines
Lebens nicht mehr froh wirst, so wahr ich der Stellvertreter des
Burgvogts bin!«
Auch Louis war aufgesprungen. Doch er dachte nicht an Flucht.
Seine Hand tastete unter der Kutte zum Griff des verborgenen
Kurzschwerts.
Unschlüssig blieben die übrigen Häscher vor der Gruppe der
Mönche stehen, die einer dem anderen zum Verwechseln glichen. Sie
hatten aufgehört zu singen und erhoben sich in großer Verwirrung.
Zugleich breitete sich eine seltsame Düsternis über dem Gelände aus,
als bräche die Nacht herein ...
Und es war doch erst kurz vor Mittag!
Plötzlich streckte einer der Mönche den Arm aus, deutete auf Louis
und schrie: »Das ist der zweite! Ergreifen! Ergreift die
Lumpenhunde.»Noch ehe Louis das Schwert heben konnte, hingen
zwei Häscher an seinen Armen, und zwei andere entwanden ihm mit
Gewalt die Waffe. Omar aber duckte sich wieder unter die anderen
Mönche. Er hatte Louis geopfert, um selber unentdeckt zu bleiben.
Sein Krummdolch hatte Roland schon einmal gute Dienste geleistet,
als er ihn ihm im Geheimgemach von Atzerath zum Schutz vor dem
tobenden Trumm zuspielte ... Roland hatte von dem Zwischenspiel
überhaupt nichts bemerkt. Seine Augen brannten vor Scham, als er
zusehen mußte, wie sie seinen Schild zerbrachen, während der
Wappenherold sein Todesurteil verlas. Rundum lagen im Gras
verstreut die gezackten Stücke des erprobten Schilds. Rolands Ohren
dröhnten, als die Trompeten schmetterten und König Artus mit
weithin schallender Stimme zu reden begann: »Ich enthebe hiermit
Roland dem heiligen Ritterstand. Seine schmachvollen Sünden wider
die Gesetze der Ritter sind übergroß und durch nichts zu sühnen.«
Noch einmal meldete sich der Wappenherold. »Nicht allein Roland
sei für alle Zeiten verflucht, sondern die sündigen Eltern, die ihn
geboren, und alle seine Verwandten, Kinder und Kindeskinder. Wer
auch nur einen Tropfen vom verfluchten Blut dieses Verräters in den
Adern hat, ist unedel und gemein, für alle Zeiten unwürdig zum
Waffentragen und zur Teilnahme oder zum Besuch ...«
Der Herold stockte mitten im Satz und richtete mit einem
Ausdruck fassungslosen Staunens den Blick zum Himmel, der jetzt
nicht mehr in freundlichem Blau strahlte, sondern schwarz wie der
Nachthimmel erschien. Und wie der Herold, so taten es alle. Die
Mönche, die Büttel, die Häscher, die Henker, die Tafelrunde, die
schluchzenden Frauen, die Männer des Volks.
Noch einmal ermannte sich der Herold und fuhr mit belegter
Stimme fort: »Oder zum Besuch von Turnieren, königlichen
Hofhaltungen und Versammlungen. Bei Verstoß werden sie zur
Strafe nackt ausgezogen und als niedere Gemeinlinge öffentlich mit
Zuchtruten geschlagen werden!«
Aber niemand auf dem weiten Feld lauschte noch den furchtbaren
Worten.
Entsetzen breitete sich unter den Menschen aus.
Schreie der Angst und Verzweiflung gellten von allen Seiten.
Dunkler und dunkler wurde es. Es war, als werde die Sonne von
teuflischer Schwärze aufgesogen, als verlösche sie...
Wer rief es zuerst, das Schreckenswort? Ein Bauer, eine Frau, ein
Ritter?
Genug. Jetzt riefen es in panischer Verwirrung hunderte: »Der
Jüngste Tag ist angebrochen!« Während sich dieser Ruf wie ein
Lauffeuer fortpflanzte, erhob sich an anderer Stelle ein Ruf, der
äußerste Verzweiflung kundtat.
»Wir sind alle verloren! Die Welt geht unter!«
Niemanden hielt es mehr an seinem Platz. Obwohl alle überzeugt
waren, daß Rettung ausgeschlossen war, daß sie alle von der großen
Dunkelheit, der großen Kälte, dem großen Nichts wie von einem
Riesendämon verschlungen werden würden, rannten sie nach allen
Seiten auseinander, als könne man doch irgendwie entkommen,
wenn man nur die richtige Himmelsrichtung fand.
Es war ein Chaos ohnegleichen.
In der Düsternis, in der man kaum die Hand vor Augen sah, stießen
sich die Menschen gegenseitig nieder, gerieten in unerbittliche
Prügeleien, schlugen, traten, kratzten, heulten, schrien wie Ver-
dammte und kannten kein Erbarmen gegen den Mitmenschen. Es
war, als habe ihnen das Verschwinden der Sonne allen gleichzeitig
den Verstand geraubt und lange überwundene Urängste geweckt.
Auch Omar war ein einziges zitterndes Bündel Angst. Aber seine
rechte Hand ließ den Griff des gefährlichen, messerscharfen
Krummdolches nicht los, den er zu dem vorgesehenen Anschlag
unter der geraubten Mönchskutte verborgen trug. Und diese seine
rechte Hand war klüger als sein Verstand, der sich verwirrt hatte. Die
rechte Hand und das Gefühl des Waffengriffs erinnerten ihn daran,
daß er geschworen hatte, Roland zu befreien, bevor sie ihn am Halse
hängten.
Aber wo war Roland?
In dem Durcheinander und der fast nächtlichen Finsternis hatte er
jede Orientierung verloren. Er wußte nicht, wie oft ihn Fremde
angestoßen, niedergeschlagen, herumgewirbelt hatten. Seine Augen
waren tränennaß. Seine Ohren gellten von den Schreien der
verschreckten Menschen.
Da sah er nicht weit ein Feuer aufflammen.
Es kam aus dem lederartigen Schlund Funkenmanns, des
Feuergauklers. Zusammen mit seinem Kameraden Schiebermann
hatte er seit dem frühen Morgen einzelne Gruppen in der Menge mit
den gewohnten Kunststücken unterhalten. Ihre Taschen waren
schwer von kleinen Kupfermünzen, die man ihnen gespendet hatte.
Ja, sie hatten einen einträglichen Vormittag hinter sich.
Als einzige fast erlebten sie das unbegreifliche Ereignis mit
Gelassenheit. Sie glaubten weder an den Jüngsten Tag noch an
Weltuntergang oder daran, daß sie alle verloren seien. Ihrer Natur
und ihrer Arbeit gemäß hielten sie den plötzlichen Eintritt der Nacht
am hellen Tag für ein lustiges und bewundernswertes
Gauklerstückchen des lieben Gottes, dem sie fachmännischen Beifall
zollten.
Noch dreimal stob Feuer aus Funkenmanns Mund. In dem Licht,
das er jeweils für einige Augenblicke verbreitete, gewann Omar die
Übersicht wieder.
Er sah, daß es nur ein paar Schritte bis zu dem Galgen waren. Er
erblickte auch Schiebermann und schloß sich den beiden Gauklern
an, die jetzt rasch die kleine Anhöhe zum Schafott hinaufstiegen.
Roland war ganz allein. Seine Bewacher und Henker waren Hals
über Kopf geflohen.
Mut strömte in Rolands Herz. Der Himmel selber hatte den
Fortgang der Entritterung verhindert! Also war er doch nicht
schuldig, sondern böse List hatte ihn als Schuldigen erscheinen
lassen.
Er war gerettet!
Nun galt es nur noch, die Stricke zu zerreißen, die ihn an den
elenden Galgen fesselten. Mit seiner Riesenkraft zerrte er daran und
spürte auch schon, daß das etwas nachlässig geschlungene
Flechtwerk an seinem rechten Arm nachgab.
Roland teilte nicht die abergläubische Furcht des Volkes vor der
unbegreiflichen Himmelserscheinung. Dafür hatte er bei dem weisen
Einsiedler Klaus eine zu gute und gründliche Erziehung genossen. Er
wußte sofort, daß es sich um eine Sonnenfinsternis handelte, die seit
Anbeginn der Welt in unregelmäßigen, aber stets langen Abständen
stundenweise auftrat, weil der Lauf der Gestirne es so wollte.
Sie mochte unwissende Geister verwirren, war aber im übrigen so
ungefährlich wie das allnächtliche Dunkel. Man konnte sie sogar,
wenn man die Kenntnisse des Eremiten besaß, vorher auf den Tag
genau berechnen!
Nun verstand Roland den Ratschlag seines alten Lehrers Klaus, er
solle als letzten Wunsch verlangen, den Tag der Entritterung um 24
Stunden vorzuverlegen. Klaus kannte den Termin der Finsternis
lange voraus und hoffte, daß Roland, da alle anderen
Rettungsversuche unsinnig waren, in der allgemeinen Verwirrung
entkommen würde.
Heiße Dankbarkeit erfüllte Roland.
Und mit verstärkter Kraftentfaltung zerrte er an den lästigen
Stricken.
Dann sah auch er die Gaukler.
Fast hatte er den rechten Arm frei, als drei Schatten vor ihm
auftauchten. Eine zitternde Stimme flüsterte verzagt: »Gleich du frei,
Roland. Hier Dolch, ich schneiden, alles extraprima!«
»Omar!«
Und von Angst geschüttelt ermannte sich der Junge aus dem
Morgenland dazu, die Hand mit dem Krummdolch zu heben und die
letzten Stricke zu zerschneiden.
Roland fühlte festen Boden unter sich. Arme und Beine waren frei!
Zwar schmerzten sie nach der langen Fesselung und ließen sich nur
mit Mühe langsam und schwerfällig bewegen. Aber das würde sich
bald ändern.
Funkenmann klopfte ihm freundlich auf die Schulter und sagte in
seiner mitteilsamen Art, als handle es sich um einen vergnüglichen
Scherz: »Am westlichen Waldrand unter den Birken und Fichten
wartet Heide Euer und mit ihr Euer gutes Pferd Samum.«
Roland fühlte überströmende Freude. Er wollte Omar und
Funkenmann umarmen und ihnen jubelnd für ihre Hilfe danken.
Doch da schob sich der dritte Schatten vor die beiden.
Schiebermann!
Der Schwertschlucker faßte sich ins Gehege der Zähne, aus denen
der Griff einer Waffe ragte, die er heute schon an die dutzendmal
zum Erstaunen seines Publikums tief in seinen Körper gestoßen
hatte. Jetzt zog er sie mit einer einzigen unnachahmlichen, in langen
Jahren erlernten kunstvollen Bewegung heraus und drückte sie
Roland in die Hand. Roland spürte, daß er mit dieser Übergabe der
leichten Waffe 1000 gute Wünsche verband, obwohl Schiebermann,
seiner Gewohnheit gemäß, stumm blieb.
»Und nun«, ließ sich Funkenmann vernehmen, »zeig' ich Euch die
Richtung, Ritter!«
Noch einmal riß er das an lodernde Hitze gewöhnte Maul weit auf
und blies mit aller Lungenkraft. Doch der Feuerstrom war versiegt.
»Tut mir leid«, sagte er. »Hab' mein ganzes Feuer schon vergeudet.«
Zum ersten Mal seit Wochen mußte Roland lächeln, so komisch
erschien ihm dieses Mißgeschick des erfahrenen Gauklers.
»Keine Sorge«, beruhigte er den zerknirschten Funkenmann. »Ich
kenne die Richtung. Ich finde Heide unfehlbar!«
Und das war die Wahrheit. Denn niemand hatte Roland
angestoßen, niedergeschlagen und herumgewirbelt. Er wußte die
Himmelsrichtungen genau.
»Lebt wohl, Freunde!« rief er, und seine Stimme hatte wieder den
warmen, kräftigen Klang, den sie von ihm kannten. »Ich komme
wieder.«
Schiebermanns Schwert schwingend machte er sich auf den Weg.
Nur die ersten 20 Schritte fielen ihm schwer. Dann begann sein
junges Blut wieder in gewohnter Weise durch die so lange
abgeschnürten Adern zu kreisen. Sein Schritt wurde länger. Bald lief
Roland, leichtfüßig wie eh und je, mit ausholenden Sätzen über das
Gras, und trotz der nachtdunklen Umgebung hielt er die Richtung
unwandelbar ein.
So kam er Heide und Samum rasch näher, und sein Herz schlug in
heller Vorfreude.
*
Heide erwachte aus ihrer Ohnmacht, weil die Kälte ihr schneidend
ins Fleisch fuhr. Sie schlug die Augen auf und sah nichts. Es war
stockdunkel!
Verwirrt richtete sie sich auf. Ein leises Schnaufen erreichte ihr
Ohr. Samum!
War es schon Nacht? Unmöglich. Sie konnte nicht so viele
Stunden im Schnee gelegen haben, ohne zu erfrieren. Irgend etwas
Ungewöhnliches war im Gange.
Sie sah zum Himmel auf, der schwarz wie zur tiefsten Nachtzeit
war, aber nicht den kleinsten Stern aufwies. Doch in halber Höhe des
Zenits sah sie einen glühenden Ring. Es mußte die Sonne sein.
Irgend etwas aber verdeckte ihre Scheibe. Nur aus den Rändern
schossen, schwache Strahlen hervor.
»Hei - de! Hei - de!«
Die Stimme drang wie durch eine Watteschicht, aber sie war
unverkennbar. Roland rief nach ihr!
»Hier bin ich! Hierher!«
Sie hörte ihn lange, bevor sie ihn sah. Er mußte schnell gelaufen
sein, so hastig ging sein Atem. Keuchend überwand er den letzten
Anstieg.
Dann lag sie in seinen Armen.
»Wie kalt du bist«, sagte er voll Mitleid.
»Wie heiß du bist«, antwortete sie.
Ihre Lippen verbissen sich ineinander. Erst jetzt sah sie ihn, so
finster war es noch. Von unten herauf drang Geschrei von 1000
tobenden, entfesselten, geängstigten Menschen. Sie aber fühlten sich
unbedroht, frei, gerettet!
Endlich trennten sich ihre Lippen. Sie rangen nach Atem. Dann
stieß er hervor: »Wir müssen fort! Wir sind nur sicher, solange diese
Finsternis dauert. Danach ... Wo ist Samum? Man sagte mir ...«
»Hier ist er, mein Liebster!«
Der Hengst drängte sich an seinen Herrn. Roland streichelte
beglückt seine Flanken. Er fühlte, ob der Sattel richtig saß. Er prüfte
den Sitz des Steigbügels und des Halfters. Dann saß er auf. Er spürte,
wie Samum zu trippeln begann. Ungeduld erfaßte das edle Tier. Es
wollte laufen, rennen, im Galopp über die Erde fliegen ...
Roland beugte sich hinab und streckte die Arme nach Heide aus,
um sie vor sich auf Samums Bücken zu heben. Er spürte sie in
beiden Händen. Doch plötzlich ging ein Ruck durch ihre schlanke
Gestalt, die er so verzehrend liebte, und er hörte sie rufen: »Mit dir
reite ich nie mehr! Du hast mich betrogen. Weißt du noch, wie du
mir Treue schworst?«
»Und ob ich es weiß! Nie werde ich es vergessen! Es kam aus dem
tiefsten Grund meines Herzens.«
»Lügner! Sieh, selbst die Sonne verfinstert sich am hellichten Tag!
Unerhörtes geschah, weil du es herausfordertest! Dies ist der Beweis,
daß du mich mit Griseldis betrogst! Laß mich los!«
Nur fester schlossen sich seine Arme um ihre verlockenden
Hüften. Er hob sie an. Sie strampelte. Aber seiner Kraft war sie nicht
gewachsen. Noch ein Ruck, und sie würde vor ihm auf Samums
Rücken sitzen...
Da fiel ihm ein, was er ihr in Atzerath geschworen:
Wenn ich dir je untreu werde, meine Liebste, dann soll die Sonne
am hellen Tag vom Himmel verschwinden und mitternächtliche
Finsternis den heiteren Mittag ersetzen!
Wie gut er ihr Zappeln, ihr Strampeln, ihren herben Widerstand
begriff! Der Wortlaut dieses Schwurs schien zu bezeugen, daß er sie
mit einem anderen Weib, mit Griseldis betrogen hatte. Aber es
schien nur so! Die Worte der Menschen sagten nicht immer aus, was
wahrhaftig geschah in der Welt. Worte von Herolden und Worte aus
Königsmund hatten ihn verdammt, obwohl nie ein Falsch in seinem
Herzen gewesen war!
Er zog Heide vollends hinauf und legte seine Arme beschützend
um sie. Ihm schien, als leiste sie keinen Widerstand mehr. Sie lehnte
sich an seine Brust.
Und das Naturwunder, das die Menschen von Camelot so
unerwartet überfallen hatte, wendete sich zum Gegenteil. Die
Schwärze gerann zum lichten Grau.
Schatten lösten sich zu erkennbaren Umrissen auf. Der lichte Ring
am Himmel verstärkte sich an einer Seite. Die Sonne hatte bereits
den Umriß eines Viertelmonds. Der Schnee war nicht mehr schwarz.
Er schimmerte dunkelgrün.
Roland griff mit der freien Hand in Samums Zügel. Sein Griff um
Heide wurde stärker. »Halte dich fest, Liebste, jetzt geht es über
Stock und Stein!«
Er gab Samum mit den Fersen das Zeichen zum Angaloppieren.
Aber der Rappe rührte sich nicht von der Stelle.
Eine wohlbekannte Stimme rief flackernd: »Halt, Verräter! Keinen
Schritt weiter. Du stürzt in mein Schwert!«
Die Welt wurde heller. Vor ihnen stand ein Mann mit edlen
Gesichtszügen, rot leuchtendem Haar und kraftvollem Körper. Auch
er trug keine Rüstung, und auch er hielt nur den leichten Fechtdegen
wie Roland.
Es war Douglas Heißblut, der im Gottesurteil-Kampf Volker vom
Hohentwiel überwunden hatte.
»Roland«, sagte er, und die wiederauferstandene Sonne ließ sein
Haupthaar lodern. »Jetzt hab' ich dich! Jetzt stirbst du!«
Schon wurde es lichter. Die Schatten wichen.
»Flieh, Roland, flieh!« rief Heide angstvoll.
Doch dafür war es sowieso zu spät. Douglas war schon nahe heran.
Als einziger hatte er rechtzeitig die Verfolgung Rolands
aufgenommen. Was scherte ihn die abergläubische Angst des
Volkes! In seinem feurigen Überschwang kannte er kein Zagen, kein
Zittern.
Roland glitt vom Pferd und stand nun Douglas gegenüber. Noch
ein wenig im Halbdunkel, aber deutlich hoben sich die Umrisse des
Gegners ab.
Und dann klang es schon hell wie Vogelruf oder Instrumentensang.
Sie kreuzten die Degen. Sie führten die ersten Schläge. Es war
Douglas' zweites Duell an diesem Tag, und sicherlich war er zu Pferd
mit der Lanze ein gefährlicherer Gegner als zu Fuß mit dem Degen.
Roland drängte ihn schnell in die Verteidigung. Dicht über
Douglas‘ Haupt tanzte Rolands Degen, und mehrmals konnte der
Rotkopf erst im allerletzten Augenblick durch eine verzweifelte
Parade schwere Verwundungen vermeiden.
Und doch mußte er Schritt um Schritt zurückweichen.
Ein Ausfall Rolands, der Douglas Heißblut überraschte, schien den
Kampf endgültig zu entscheiden. Aber da trat Roland mit dem
vorderen Fuß in ein Kaninchenloch und stürzte - fast in den
vorgestreckten Degen des Gegners.
Douglas stieß einen Jubelruf aus und warf sich auf den Gefallenen.
Roland empfing ihn mit Fußtritten. So hielt er ihn sich vom Leib, bis
er wieder auf beiden Beinen stand.
Beim nächsten Angriff vermied er das tückische Loch im Boden.
Sein Schlag von schräg oben fegte Douglas' Degen zur Seite. So viel
Kraft saß dahinter, daß der heißblütige Jüngling die Hand öffnen und
seinen Degen fahrenlassen mußte.
Den Tod vor Augen schwankte Douglas nur ganz kurz. Er war
tollkühn und furchtlos, aber er war nicht verrückt. Und nur ein
Verrückter hätte jetzt weitergekämpft. Douglas wußte, wann er
verloren hatte. Und daß es dumm war, als Verlierer den Platz zu
behaupten.
Also wendete er sich zur Flucht. Jetzt galt es nur noch, das Leben
zu bewahren. Denn sterben wollte Douglas nicht. Nicht für König
Artus, nicht für seinen Onkel Wilhelmus, nicht für Camelot. Er
wollte am Leben bleiben und sich mit der Waffe Ehre und Schätze
erwerben.
Douglas floh wie ein Hase, der in der Ackerfurche aufgescheucht
wurde. In Kürze verschwand er in den Büschen. Roland folgte ihm
nicht. Auch er war ein Mann auf der Flucht. Je mehr Meilen er
zwischen sich und Camelot legte, um so besser für ihn.
Von fern hörte er Douglas’ herausfordernde Stimme: »Dich treff’
ich wieder, Verräter! Nie sollst du Ruhe vor mir haben. Und solltest
du an den Rand der Welt fliehen, ich erwische dich doch!«
Roland zuckte die Achseln. Als er sich in den Sattel schwang,
umarmte Heide ihn und küßte ihn glücklich, weil er unverletzt
geblieben war.
»Halt dich fest!« rief Roland. »Wir haben einen weiten Ritt vor
uns. Wir reiten Haggan entgegen - zum Ort der Abrechnung!«
Als Samum angaloppierte, strahlte die Sonne friedlich und heiter
wie vor einer Stunde, und nichts erinnerte mehr an die erschreckende
Finsternis.
Ende des zweiten Teil der Trilogie
Liebe Ritter-Roland-Freunde,
in 14 Tagen kommt mit dem Band 30 der letzte Teil der
Trilogie von Ekkehart Reinke auf den Markt. Die Spannung
ist groß. Wird Roland seine Ritterwürde zurückerhalten?
Mit Band 30 beenden wir auch vorzeitig die Ritter-Roland-
Reihe. Wir müssen diesen Schritt wählen, weil die
Leserschaft nicht groß genug war. - Allen Ritter-Roland-
Stammlesern möchte ich an dieser Stelle für ihre Treue
danken. »Steigen« Sie nächste Woche ein in:
Die Schlacht um
Camelot
Der Posten am niedergebrannten Wachfeuer spähte
angestrengt in den Morgennebel. Er weckte seine schlafenden
Kumpane. »Da kommen zwei!« warnte er. Die Männer sprangen
auf, griffen zu ihren Spießen und starrten in die weißen
Schwaden, aus denen sich zwei Gestalten auf derben
Bauernpferden lösten. Der größere Reiter hatte struppiges
braunes Haar. Von seinem Gesicht war nichts zu erkennen. Es
wurde von einer schwarzen Maske verdeckt. Als sie auf 20
Schritte heranwaren, schrie der Posten: »Halt! Wer da?« Die
beiden Reiter ließen sich nicht beirren. Sie kamen immer näher. Der
kleinere, der schmächtig in den Schultern, aber mächtig in der
Leibesmitte war, zog sein Schwert und stach es steil in die Luft.
Einige Strahlen, die in diesem Augenblick als Vorhut der Sonne
durch den Nebel schossen, ließen die Spitze der Klinge rot
erglühen. »Platz für den schwarzen Ritter!« schrie der Dicke. »Wer
den Weg nicht freigibt, der stirbt!«