Charmed 28 Im Reich der Schatten Antje Görnig

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Wer hätte gedacht, dass es eine Kopie vom Buch der Schatten
gibt? Die Halliwell-Hexen sicherlich nicht, denn durch dieses
falsche Buch geraten sie dem gefährlichen Hexenjäger
Solomon Ford in die Fänge. Es wird eine Herausforderung auf
Leben und Tod, denn Piper, Phoebe und ihre Halbschwester
Paige dürfen ihre Zauberkräfte nicht einsetzen, weil sie sie
sonst an die Macht des Bösen verlieren würden. Da ist guter
Rat teuer. Mit einem nicht ganz vorschriftsmäßigen Trick
können die Hexen aber beweisen, dass sie nicht nur jedem
Angreifer gewachsen sind, sondern auch über strategisches
Denken verfügen. Sie bekommen überraschend Unterstützung
von drei Schülerinnen der Budford High, die unwissentlich das
Spiel der magischen Mächte durcheinander bringen. Doch auf
den zweiten Blick entpuppen sich Trish, D’reen und Sandy als
würdige Vertreterinnen der Halliwells. Für kurze Zeit
verwandeln sie sich in Junior-Hexen. Dass damit viel Schweiß
und Mühe verbunden ist, dämmert den Mädchen langsam.
Doch ihre Mühe wird schließlich belohnt, und ihr Ausflug wird
zu einem unvergesslichen Abenteuer...

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C

harmed

Zauberhafte

Schwestern

Im Reich der

Schatten

Roman von

Torsten Dewi

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Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen

Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.ddb.de abrufbar.









Das Buch »Charmed – Zauberhafte Schwestern. Im Reich der Schatten«

von Torsten Dewi entstand auf der Basis der gleichnamigen Fernsehserie

von Spelling Television, ausgestrahlt bei ProSieben.


© des ProSieben-Titel-Logos mit freundlicher Genehmigung der ProSieben

Television GmbH


® & © 2003 Spelling Television Inc.

All Rights Reserved.


1. Auflage 2003

© der deutschsprachigen Ausgabe:

Egmont vgs Verlagsgesellschaft mbH

Alle Rechte vorbehalten.

Lektorat: Ilke Vehling

Produktion: Wolfgang Arntz

Umschlaggestaltung: Sens, Köln

Titelfoto: © Spelling Television Inc. 2003

Satz: Kalle Giese, Overath

Printed in Germany

ISBN 3-8025-5257-0


Besuchen Sie unsere Homepage im WWW:

http://www.vgs.de

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Gewidmet meinem Kumpel David Yother,

für viele Jahre der Treue und Freundschaft.

Und Harald Dolezal, für Fan-Freuden

und Frucade. You guys rock!

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Prolog

E

R RANNTE SO SCHNELL ER KONNTE

. Als Grimling war er es

gewohnt, sich in völliger Dunkelheit durch unbekanntes Gebiet
zu bewegen.

Zweige peitschten in sein Gesicht, aber er bemerkte es kaum.

Der Boden unter seinen Füßen war weich, die vermoderten
Blätter des Herbstes waren wie ein dicker Teppich. Es roch
nach Feuchtigkeit.

Stille. Selbst die Eulen und anderes Nachtgetier schienen zu

lauschen und zu beobachten. Als wollten sie wissen, wer bei
dieser ungewöhnlichen Treibjagd als Sieger hervorging.

Jäger oder Gejagter.
Kindelschlag hasste es, der Gejagte zu sein. Er hasste es

überhaupt, sich bewegen zu müssen. Er war zwar ein Dämon,
aber keiner von der Sorte, die permanent durch die
Dimensionen reisten, um unglückliche Seelen zu erhaschen.

Nein, er verbrachte seine Zeit lieber im stillen Kämmerlein.
Kindelschlag war, wie gesagt, ein Grimling. Das war eine

niedere Kaste von parasitären Dämonen, die sich für
Höllenfürsten verdingten, damit ab und an mal etwas
Frischfleisch für sie abfiel.

Grimlinge waren nicht sehr beliebt, aber nützlich. Denn sie

waren lernfähig und fleißig, ganz im Gegensatz zu den meisten
anderen Dämonen, die zwar groß und stark, aber auch dumm
und faul waren. Grimlinge erfüllten in der Hierarchie der Hölle
vielfältige Aufgaben, meistens bürokratischer Natur.

Auch Kindelschlag war eher ein Sesselpupser, darum hasste

er es, hier wie ein aufgescheuchtes Huhn durch den Wald zu
hetzen. Aber so war es ja auch nicht geplant gewesen.

Es hatte eine einfache Aufgabe sein sollen. Zusammen mit

einem hünenhaften Bergdämon hatte Kindelschlag versucht,

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während einer Sonnenwendfeier das berühmte Buch der Hexen
zu stehlen – das Buch der Schatten.

Leider hatte der blöde Bergdämon dabei so viel Krach

gemacht, dass die Hexen ihnen auf die Schliche gekommen
waren. Den Bergdämon hatten sie schnell erwischt, und
Kindelschlag hatte seine Schreie noch kilometerweit gehört. Er
wollte gar nicht wissen, was genau passiert war.

Und nun waren sie hinter dem kleinen Grimling her!
Kein Wunder – hatte Kindelschlag es doch tatsächlich

geschafft, sich das Buch unter den Nagel zu reißen. Der kaum
ein Meter große Dämon trug schwer an dem Wälzer.

Aber das war es wert.
Das Buch der Schatten war der wertvollste Besitz der

gesamten Hexenzunft. In ihm standen unzählige Zaubersprüche
und Flüche, die den Leser in die Lage versetzten, unglaubliche
Macht zu erlangen.

Es zischelte in der Luft. Kindelschlag, dessen Augen kein

Licht brauchten, ahnte bereits, was los war.

Die Hexen kamen!
Auf ihren Besen ritten sie über die Baumspitzen hinweg,

feurige Schweife nach sich ziehend, und mit glühenden Augen
Ausschau haltend.

Sie waren stinksauer, das war klar.
Der kleine Grimling schlug ein paar Haken.
Er machte sich nichts vor.
Sie würden ihn kriegen.
Selbst wenn es ihm gelang, durch ein Zaubertor in eine

andere Dimension zu fliehen – das Buch der Schatten war für
jede Hexe so leicht zu orten wie ein Leuchtfeuer.

Aber das war auch nicht der Grund, weshalb Kindelschlag

das Buch hatte stehlen wollen.

Er wollte bloß die Zeit zwischen Diebstahl und Rückgabe gut

nutzen.

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Kindelschlag hatte nämlich früher einmal einen sehr

ehrwürdigen Beruf erlernt – den des Kopisten.

Die Menschen, die es noch nicht einmal geschafft hatten,

mechanische Buchpressen zu erfinden – die in verschiedenen
Höllendimensionen schon Standard waren – kamen vor nicht
allzu langer Zeit auf die Idee, wichtige Werke von speziell
ausgebildeten Mönchen bis ins kleinste Detail kopieren zu
lassen. Es gab Abteien, die sich mit nichts anderem
beschäftigten.

Diese Tätigkeit hatte auch in den schwarzen Dimensionen für

Aufmerksamkeit gesorgt. Magische Werke hatten nämlich den
Nachteil, als mechanische Kopie untauglich zu werden. Man
konnte sie nur von Hand abzeichnen, wenn man ihr
zauberisches Potenzial nicht verlieren wollte.

Und darum hatte man ein paar Grimlinge als Kopisten

ausgebildet. Grimlinge wie Kindelschlag.

Das war mitunter eine echte Strapaze, denn viele der Werke

waren so voller lächerlich kleiner Details, dass Fehler
unvermeidlich waren. Und Fehler führten zu unvorhersehbaren
Zwischenfällen. Allein drei Grimlinge waren bei dem Versuch,
das Nekronomikon zu kopieren, kurzerhand explodiert!

Kindelschlag rutschte jetzt eine Böschung hinab, die zum

Ufer eines Flusses führte.

Der Grimling befand sich irgendwo im germanischen Reich,

aber Erdkunde war nie seine Stärke gewesen. Stand er am
Rhein? An der Isar? Er wusste es nicht. Die Germanen waren
ihm sowieso herzlich egal – raue Burschen in unmodischen
Fellklamotten, die den größten Teil ihrer Zeit damit
verbrachten, sich gegenseitig den Kopf einzuschlagen. In der
Beziehung waren sie nicht besser als die Bergdämonen.

Es platschte, als seine Füße durch das Wasser des Flusses

tapsten. Das war eigentlich zu laut, aber jetzt konnten die
Hexen wenigstens seine Fußspuren nicht mehr riechen.

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Für den Bruchteil einer Sekunde fragte sich Kindelschlag, ob

Wasser dem Buch der Schatten wohl etwas anhaben konnte?

Er würde es gleich herausfinden!
Mit diesem Gedanken warf er sich in die Strömung, die ihn

sofort flussabwärts riss. Mehrfach wurde sein Kopf unter
Wasser gedrückt, aber als Grimling brauchte Kindelschlag Luft
so wenig wie Licht.

Es knallte überall, und Lichtblitze erhellten die Nacht in allen

Farben.

Die Hexen machten Krawall. Sie wollten den Dieb des

Buches auf keinen Fall entkommen lassen.

Kindelschlag blieb ruhig. Die Strömung half ihm, und er

konnte sich ein wenig entspannen.

Er hatte das Buch, nur das zählte.
Was er jetzt noch brauchte, war Zeit. Nur ein paar Tage oder

Wochen, um das Werk bis ins kleinste Detail zu kopieren.
Danach konnten die blöden Hexen es gerne wiederhaben – als
Besitzer einer legitimen Kopie war Kindelschlags Zukunft
gesichert.

Gut möglich, dass er keine Woche haben würde, um das

Buch der Schatten zu kopieren.

Das war egal. Er würde sein Bestes geben.
Es würde schon reichen.
Er war schließlich zäh und fleißig.

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»

I

CH LANGWEILE MICH

«, stöhnte Phoebe, während sie lustlos

auf der Fernbedienung des Fernsehers herumdrückte.

»Ich habe Hunger«, nölte Paige und schielte zum

wiederholten Male in Richtung Küche.

»Und ich habe Gott sei Dank keinen Grund, mir euer

Gejammer noch länger anhören zu müssen«, verkündete Piper
und stand mit einem Ruck von der Couch auf. »Leo und ich
werden die Tatsache, dass ich den Club für eine Woche
geschlossen habe, ausnutzen. Wir gehen ins Theater.«

Die beiden jüngeren Hexen des Halliwell-Clans stierten

weiter lustlos vor sich hin.

»Bringst du mir ein Video mit?«, fragte Phoebe schließlich

gedehnt.

»Und mir eine Pizza?«, fügte Paige hinzu.
Piper konnte nur noch den Kopf schütteln. Seit einigen

Wochen hatte es praktisch keine dämonischen Aktivitäten
mehr in San Francisco gegeben. Das war eigentlich eine gute
Nachricht. Aber Phoebe und Paige hatten die Gelegenheit
genutzt, sich dem Müßiggang hinzugeben. Seit Tagen hatten
die beiden jungen Frauen nichts mehr unternommen, waren
allenfalls zwischen Bett, Bad und Wohnzimmer hin und her
geschlurft. Dadurch hatte Paiges an sich sehr prächtige Figur
schon deutlich an unerwünschten Pölsterchen gewonnen, und
selbst Phoebe, die normalerweise sehr eitel war, traute sich
momentan kaum noch in ihre hautengen Jeans.

Sie seufzte. Andererseits war es ihren Schwestern nicht zu

verdenken, dass sie nach dem Stress der letzten Monate endlich
mal wieder etwas Entspannung haben wollten. Paige hatte
Schwierigkeiten genug gehabt, sich als neues Mitglied der
Zauberhaften zurechtzufinden, und Phoebes exzessives

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Liebesleid mit Cole, der auch als Dämon Balthasar bekannt
war, hatte ihr fast das Herz gebrochen.

Piper sah ihre Familien- und WG-Mitglieder noch einmal an.

Nein, es war schon gut. In absehbarer Zeit würden die Kräfte
des Bösen sich wieder blicken lassen, das war so klar wie das
Amen in der Kirche. Bis dahin konnten die Halliwell-Hexen
ruhig mal etwas ausspannen, auch wenn das eine der biblischen
Todsünden war.

Sie griff sich ihre Jacke. »Okay«, sagte sie, »dann sehen wir

uns vermutlich morgen beim Frühstück. Es könnte nämlich
spät werden.«

»Ist schon recht«, murmelte Phoebe, während sie versuchte,

der Handlung einer Krimiserie zu folgen.

»Viel Spaß«, nuschelte Paige und griff sich ein paar alte,

weiche Kartoffelchips, die in einem Schälchen auf dem Tisch
standen. »Wo triffst du dich denn mit Leo?«

Piper blickte auf ihre Uhr. »Jetzt und – hier!«
In diesem Moment regnete es Funken von der Decke, und in

einem warmen Licht erschien Leo, Pipers Ehemann und seines
Zeichens Wächter des Lichts.

»Können wir?«, fragte er lächelnd und drückte ihr einen

zarten Kuss auf den Mund. Dann machte er eine grüßende
Handbewegung in Richtung Phoebe und Paige, die wenig
enthusiastisch erwidert wurde.

Piper musste grinsen. Auf Leo war immer Verlass – als

Wesen aus der Lichtwelt hatte er ein geradezu pedantisches
Pflichtgefühl. »Sicher.«

Sie wandten sich in Richtung Hausflur.
»Ich will auch einen Mann, der mich abholt«, knurrte Phoebe

und drückte auf die Fernbedienung. Sie landete in einer
dämlichen Quiz-Sendung, in der ein Kandidat sich gerade an
der Master-Frage den Kopf zerbrach. Der Moderator
wiederholte: »Noch einmal – wie hieß Robert de Niros
Charakter in dem Film ›Brazil‹?«

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Der sichtlich nervöse junge Mann wippte von einem Bein auf

das andere. Dann stotterte er: »B-Buttle.«

»Tuttle!«, rief Phoebe entnervt. »Wie kann man denn das

nicht wissen?«

Paige warf ihr einen kritischen Blick zu. »Hallo, Miss Super-

Hirn – es hat nicht jeder sein Leben vor dem Fernseher
zugebracht.«

Phoebe ließ sich nicht beirren. »Der Film ist ein Klassiker –

das muss man einfach wissen.«

Paige verzichtete darauf, die Diskussion fortzusetzen und

verkündete erneut: »Ich habe Hunger.«

»Das kommt von der Diät«, grinste Phoebe. »Hättest du in

den letzten Wochen die Finger von der Walnuss-Eiscreme
gelassen, würdest du heute noch in das kleine Schwarze mit
den süßen Schnürriemchen am Rücken passen.«

Paige nickte missmutig. Leider hatte Phoebe da Recht – und

als die Sexbombe der Familie konnte sie es sich leisten, Kritik
zu üben. Was immer Phoebe trug, in was für ein Stöffchen sie
auch immer ihren sportlichen Körper zwängte, es sah einfach
umwerfend aus. Paige wünschte sich, auch nur halb so gut
auszusehen – oder auch nur halb so viele Blicke auf sich zu
ziehen.

Sie hörten die Haustür. Damit war das Halliwell-Trio für den

Abend ein Halliwell-Duo geworden.

RUMMS!

Es knallte, als hätte Gottes Faust persönlich auf das Dach des

Hauses gehauen. Der Boden erzitterte, ein paar Porzellanteller
fielen aus ihren Wandhalterungen. Funken sprühten, und der
Fernseher hauchte sein Leben aus.

Was dann geschah, passierte so schnell, dass Phoebe und

Paige gar nicht darauf reagieren konnten.

In einer Staubwolke flogen zwei Körper aus dem Flur ins

Wohnzimmer und donnerten gegen die Wand.

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Es waren Piper und Leo!
»Was ist denn jetzt los?«, schrie Phoebe, während es schon

wieder krachte, und das Haus in seinen Grundfesten erschüttert
wurde. Kalk rieselte von der Decke.

Paige eilte ihrer Schwester und ihrem Schwager zu Hilfe, die

sich mühsam aufrappelten. Eigentlich unglaublich – selbst Leo
war offensichtlich so überrascht worden, dass er keine
Gelegenheit mehr gehabt hatte, sich in Luft aufzulösen.

»Ende der Schonzeit«, keuchte Piper.
Jetzt waren von draußen Stimmen zu hören.
»KOMMT RAUS, IHR HEXENPACK!«
Phoebe warf vorsichtig einen Blick durch die Glastür in den

Garten. Diese Tür hatten sie schon ein halbes Dutzend Mal
ersetzen lassen müssen, weil sie die Schwachstelle des
Halliwell-Hauses war. Zwar kamen Dämonen hier nicht so
leicht über die Schwelle, weil das Gebäude magisch
abgeriegelt war, aber schon ein wohl platzierter Stein konnte
das Glas zertrümmern. Darum kamen die Attacken meist von
dieser Seite.

Tatsächlich sahen sie von links und rechts zwei Gestalten in

den Garten schleichen. Phoebe kniff die Augen zusammen,
denn draußen war es dunkel, und die Wohnzimmerlampe
spiegelte sich in der Terrassentür.

»Sieht nach zwei ziemlich finsteren Gestalten aus«,

murmelte Phoebe, »aber ich kann kaum was erkennen.«

Paige schlug mit der flachen Hand gegen den Lichtschalter.

Es wurde zappenduster im Wohnzimmer und dadurch
einfacher, die Angreifer im Garten zu erkennen.

»Bist du okay?«, flüsterte Leo in Richtung Piper.
»Es geht schon. Eigentlich hätten wir ja mit so etwas rechnen

müssen.«

»Wieso?«
»Weil immer etwas dazwischen kommt, wenn wir mal ein

wenig Zeit für uns haben wollen.«

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Da konnte Leo nicht widersprechen. Manchmal schien es

ihm, als ob ein Fluch über der jungen Ehe lag. Da die
Mitglieder des Rates gegen ihre Verbindung gewesen waren,
konnte das auch tatsächlich der Fall sein.

Paige tastete sich bis zu ihrer Schwester Phoebe vor. »Und?

Kannst du jetzt was sehen?«

In diesem Augenblick machte eine der Gestalten eine

ausladende Bewegung. Einen Herzschlag später bebte die
ganze Nachbarschaft.

»Ich kann die Typen hören, aber nicht sehen«, stellte Phoebe

nüchtern fest.

»ELENDE HEXENBRUT, STELLT EUCH ZUM

KAMPF!«, tönte es mit opernhafter Dramatik.

»Ich glaube, die wollen zu uns«, bemerkte Paige trocken.
»Lass die bösen Wölfe schnaufen – das Haus dieser drei

kleinen Schweinchen ist aus Stein gebaut«, knurrte Piper.

»Was meinst du denn mit Schweinchen?«, zischte Paige. »So

fett bin ich nun auch wieder nicht.«

Piper seufzte. Dieser Gag war danebengegangen.
»IHR FEIGEN BIESTER, WIR WOLLEN DEN KAMPF!«
Phoebe trat etwas näher an die Glastür und antwortete aus

vollem Hals: »Ist ja gut, wir haben euch gehört! Gebt uns eine
Minute, wir... wir sind gerade nicht passend angezogen!«

Jetzt musste sogar Leo lachen, auch wenn mit Dämonen

nicht zu spaßen war.

»Wenn wir wüssten, wie die beiden aussehen, könnten wir

im Buch der Schatten nachschlagen«, bemerkte Piper. »Der
Krawall macht uns ja im ganzen Viertel unbeliebt.«

»Kein Problem«, antwortete Paige, und noch bevor jemand

Einspruch erheben konnte, löste sie sich in einem Funkenregen
auf. Diese Fähigkeit hatte sie von ihrem Vater geerbt, der wie
Leo ein Wächter des Lichts gewesen war.

Paige materialisierte direkt hinter den beiden Angreifern. Sie

hoffte, dass ihr Funkenregen nicht zu auffällig gewesen war.

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Es war dunkel im Garten, die elektrische Lichterkette am

Boden brannte nicht, und der Schein von den Straßenlaternen
drang nur mangelhaft bis hierher. Trotzdem hatte Paige keine
Mühe, die Dämonen aus nächster Nähe in Augenschein zu
nehmen.

Sie waren groß. Sehr groß.
Knappe drei Meter – trotz gebeugter Gestalt. Ihre massigen

Leiber waren dunkel und behaart, und zum Glück waren
relevante Stellen mit einem Lederschurz bedeckt – was bei
Dämonen nicht immer der Fall war. Die fetten, fast bis auf den
Boden hängenden Arme hielten zwei Keulen, die dick wie
Baumstämme waren.

Und sie stanken!
Meine Güte, die beiden verbreiteten Gerüche, die man nicht

mal auf der Müllkippe zu riechen bekam. Als ob sie innerlich
faulten.

Glücklicherweise hatten die Höllenboten Paige nicht

bemerkt, und sie achtete darauf, sich möglichst viele Details
einzuprägen, damit Piper im Buch der Schatten nachschlagen
konnte.

Nun schrie einer der Fleischberge wieder los: »WIR

REISSEN EUCH DIE KÖPFE AB!«

Wie zur Bestätigung schlug der andere in einer enormen

Kreisbewegung seine Keule auf den Boden, was ein kleines
Erdbeben zur Folge hatte, das Paige fast umwarf.

»Ups!«, entfuhr es ihr, während sie zwei Schritte

zurückstolperte.

Böser Fehler.
Ruckartig drehten sich die beiden Dämonen um, als sie die

Stimme der Halliwell-Hexe hinter sich hörten. Ihre gelblich
funkelnden Schlitzaugen fixierten die junge Frau.

»Noch einmal ups«, grinste Paige entschuldigend, winkte

kurz, und löste sich auf, bevor es unangenehm wurde.

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Einen Moment später stand Paige wieder bei Piper, Phoebe

und Leo im Wohnzimmer. Vor Aufregung hyperventilierte sie
ein bisschen.

Piper hatte mittlerweile zwei antike Vasen in der Hand, die

sie nicht durch einen weiteren Knall verlieren wollte.

»Und?«, fragte Phoebe. Es würde später noch genügend Zeit

sein, Paige für ihren gefährlichen Alleingang den Hosenboden
stramm zu ziehen.

»Groß«, keuchte Paige, »sehr groß. Braun-schwarz. Fett.

Stinken wie die Pest. Glatzköpfig. Dicke Keulen. So wie die
Orks in ›Herr der Ringe‹.«

»Gibt es Orks wirklich?«, fragte Piper ihren Ehemann.
Leo zuckte mit den Achseln. »Nicht im tolkienschen Sinne,

aber in den Millionen von Höllen-Dimensionen gibt es sicher
Dämonen, die so ähnlich aussehen. Es gibt ja auch welche, die
Wellensittichen ähneln – oder Snoopy von den Peanuts.«

Paige blickte von Piper zu Leo und wieder zurück. »Meint

der das ernst?«

Piper legte den Kopf schräg, während sie Leo ansah. »Ich

liebe ihn, und er hat viele gute Eigenschaften – aber
ausgeprägter Humor gehört nicht dazu.«

RUMMS.
Wieder dröhnte es, und die Wände wackelten.
»Ich denke, wir sollten jetzt wirklich mal im Buch der

Schatten nachsehen«, rief Phoebe, während sie sich Staub aus
den Haaren schüttelte.

Piper griff Leos Hand, und Paige fasste ihre Halbschwester

Phoebe an der Schulter. Zu viert lösten sie sich in Luft auf, um
auf dem Dachboden des Hauses wieder zu erscheinen.

»BRATEN WERDEN WIR EUCH – UND FRESSEN!«,

drang es von draußen zu ihnen.

Als Paige das Licht anmachte, sah Phoebe kritisch ihre

Hüften an. »Na ja, satt würden die beiden von uns ja werden.«

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Piper ging zum Podest, auf dem das Buch der Schatten lag.

Ihre Finger flogen nur so über die Seiten.

Es war praktisch unmöglich zu sagen, wie viele Seiten das

Buch hatte – oder wie viele Einträge. Es gab kein
Inhaltsverzeichnis, und die Darstellungen schienen sich jedes
Mal zu verändern. Nur wenn man wusste, was man suchte,
konnte man es auch finden.

Und weil die Halliwell-Hexen eine mentale Verbindung zum

Buch der Schatten hatten, konnten sie die Einträge meist mit
traumwandlerischer Sicherheit lokalisieren.

Es dauerte kaum dreißig Sekunden, da tippte Piper mit dem

Zeigefinger auf eine kolorierte Zeichnung: »Gesucht und
gefunden – Mitglieder des Lorar-Clans. Dämonen niederer
Sorte, kräftig, aber dumm.«

»Das hätte ich dir auch ohne Buch der Schatten sagen

können«, murmelte Paige.

»WIR WERDEN MIT EUREN SCHÄDELN KEGELN!«
»Steht was drin, wie man die beiden Stinker wieder los

wird?«, wollte Phoebe wissen.

Piper legte den Kopf schräg, während sie still den Eintrag zur

Zeichnung las. »Nicht mit einem Zauberspruch, leider. Die
Lorar treten meist als Familie auf. Da draußen stehen
vermutlich Brüder. Normalerweise bleiben sie in ihrer
Dimension und kümmern sich nur um sich selbst. Aber wenn
die jungen Dämonen heranwachsen, müssen sie sich beweisen,
indem sie Heldentaten vollbringen.«

»Du meinst, das da draußen sind Teenager?«, fragte Phoebe

ungläubig und blickte durch das Buntglasfenster in den Garten,
wo die beiden Monster gerade die Gartenzwerge mit ihren
Keulen zerlegten. »Ich hoffe mal, die haben keine großen
Brüder.«

Piper nickte. »Die Keulen sind ihre schwache Stelle. Nur

eine Waffe aus Lorar-Hand kann einen Lorar töten.«

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»Ich glaube kaum, dass die beiden freiwillig ihre Keulen

herausrücken werden«, merkte Leo kritisch an.

Phoebe blickte zu ihren Schwestern. »Mit vereinten Kräften

dürfte das ja wohl kein Problem sein, oder?«

Paige nickte. »Alle für eine, eine für alle – wie immer.«

Börp und Barf, die beiden Zwillinge aus der Lorar-
Dämonenfamilie, wurden langsam sauer. Sie hatten sich die
Sache wirklich einfacher vorgestellt. Ein kleines Duell, Kopf
ab, Halliwells tot – große Ehre.

Doch diese miesen Hexen verschanzten sich in ihrem Haus,

das sie durch Bannsprüche geschützt hatten, anstatt sich
ehrenhaft dem Kampf zu stellen!

»Ich habe doch gesagt, dass wir uns diesen Geister jagenden

Inspektor von Scotland Yard hätten vornehmen sollen«, knurrte
Börp, der für Lorar-Verhältnisse der vernünftigere der beiden
Brüder war.

Barf haute noch mal mit seiner Keule auf den Boden.

»Unverschämt. Einfach unverschämt ist das.«

Er atmete tief ein und brüllte sich den Frust aus dem

massigen Leib: »HEXEN-SCHLAMPEN, IHR KÖNNT
EUCH NICHT EWIG VOR UNS VERSTECKEN!«

»Wer sagt denn, dass wir das wollen?«, ertönte plötzlich eine

Stimme hinter ihnen.

Börp und Barf drehten sich um.
Da waren sie.
Die drei Halliwell-Hexen.
Und ein langweilig aussehender blonder Typ.
»Endlich«, knurrte Börp schmierig grinsend, »jetzt werden

wir ja sehen, wer stärker ist.«

Piper legte fast mitleidig den Kopf schräg. »Tut mir Leid,

aber wir kämpfen ungern fair.«

Sie hob die Hand – und die Zwillingsdämonen erstarrten.

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Phoebe und Paige hatten nur darauf gewartet. Sie spurteten

zu Börp und Barf, die wie angewurzelt dastanden, und
begannen, an den mächtigen Keulen zu zerren.

Aber das war gar nicht so einfach. Die Dämonen hatten ihre

fleischigen Fäuste fest um die Griffe ihrer Waffen gekrallt und
waren dank der Zauberstarre nicht zu bewegen.

»Es geht nicht«, keuchte Phoebe, »die wollen einfach nicht

loslassen.«

»Meiner macht auch Zicken«, schnaufte Paige, die sogar an

Barf hochgeklettert war, und nun mit beiden Beinen gegen
seinen Bauch drückte, um an die Keule zu kommen.

Es war ein bizarrer Anblick, wie die zwei gut aussehenden

Hexen versuchten, die Höllendiener zu entwaffnen.

»Soll ich helfen?«, fragte Leo.
»Das wird auch nichts bringen«, knurre Phoebe.
»Beeilt euch, ich weiß nicht, wie lange die Starre noch

anhält«, warnte Piper.

»Ich habe eine Idee!«, rief Paige, sprang von Barf herunter

und stellte sich hinter ihn. »Phoebe, hock dich hinter den
Fleischklops!«

»Was soll das bringen?«, fragte Phoebe verwirrt, als sie sah,

wie Paige hinter Barf in die Hocke ging.

»Nun mach schon!«
Widerwillig tat Phoebe, wie ihr geheißen war.
Piper ahnte, was ihre Halbschwester vorhatte. »Das meinst

du doch nicht ernst!«

Paige, schon auf Knien im Gras, winkte Piper und Leo heran.

»In der Schule hat das auch immer funktioniert!«

Leo sah seine Frau fragend an. Diese schaffte ihn direkt vor

Börp, während sie vor Barf Position bezog. »Sobald ich die
Starre aufhebe, schubst du ihn!«

Leo blickte sie zweifelnd an, nickte aber.
Piper atmete tief ein. »Alles bereit?«
»Klar!«, rief Paige.

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»Lebensmüde!«, rief Phoebe.
»Jetzt!«, befahl Piper und löste mental den Bann auf, der die

Dämonenbrüder festhielt.

Wer immer sich unter Pipers Zauber befand, hatte keine

Ahnung, dass um ihn herum die Zeit weiterging. Deshalb
reagierten Börp und Barf, als sei nichts geschehen.

Sie waren nur einen Moment lang verwirrt, dass Leo und

Piper nun direkt vor ihnen standen. Fast zeitgleich hoben sie
ihre Keulen.

Piper warf einen Seitenblick zu ihrem Ehemann, der

entschlossen nickte. Dann stießen sie mit aller Kraft gegen die
Dämonenleiber.

Es war ihr Glück, dass Börp und Barf so fett waren. Dadurch

waren sie sehr leicht aus dem Gleichgewicht zu bringen. Kaum
angestoßen, schwankten ihre Fleischmassen wie getroffene
Kegel, und als sie einen Ausfallschritt nach hinten machen
wollten, stolperten sie über die kauernden Schwestern Paige
und Phoebe.

Wie in Zeitlupe segelten die beiden dem Boden entgegen,

und der Aufprall verursachte eine fast noch größere
Schockwelle als die Keulenschläge.

Leo und Piper machten ein paar schnelle Schritte auf die

Dämonen zu und packten die riesigen Keulen. Wie erhofft
hatten Börp und Barf durch den Sturz den Griff gelockert, und
es gelang dem jungen Ehepaar, die Keulen an sich zu nehmen.

Leo hatte den übergroßen Baseball-Schläger als Erster in der

Luft. Das Teil war so schwer, dass er nicht mal zuschlagen
musste – er ließ einfach der Schwerkraft ihren Lauf. Das
knorrige Holz machte einen dumpfen Ton, als es auf Börps
Schädel traf.

Es gab einen hässlichen Knackton, und dann quietschte Börp

wie ein kleines Schweinchen, das im Gehege herumgejagt
wurde. Grüne Rauchfäden schlängelten sich aus Ohren, Mund
und Nase, und binnen weniger Sekunden löste er sich auf.

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Barf hatte den Tod seines Bruders fassungslos beobachtet.

Nun drehte er den Kopf langsam zu Piper, die vergeblich
versuchte, die Keule in die Höhe zu wuchten.

»DUUUUUU!!!«, schrie Barf, und in seinen Augen brannte

ungezügelte Mordlust. Er warf sich zur Seite, um nach Piper zu
schnappen.

Paige war es mittlerweile gelungen, sich unter den speckigen

Beinen von Barf herauszuwinden. Sie sprang ihrer Schwester
zur Seite, und vierhändig gelang es ihnen, die Keule zu heben.

»Hau den Lukas!«, rief Phoebe enthusiastisch, während sie

etwas von dem grünen Rauch aushustete, den Börp hinterlassen
hatte.

Mit einem mehr oder weniger gelungenen Schlag machten

die Schwestern auch Barf den Garaus.

Eine Minute lang war es still im Garten. Nur das Keuchen

der drei jungen Frauen war zu hören.

Als es verebbt war, meldete sich Paige zu Wort. Mit einem

kritischen Blick zu Phoebe und einem sarkastischen Unterton
in der Stimme fragte sie: »Ganz leicht, ja?«

Diese hob die Schultern. »Na ja, es war ein bisschen

schwerer als gedacht – in wahrsten Sinne des Wortes. Aber ist
doch gut gegangen.«

Piper deutete auf die massigen Keulen, die nun im Gras

lagen. »Was machen wir mit denen?«

»Feuerholz!«, verkündete Piper.
Sie sah ihren Ehemann an. »Du hackst.«
»Hat das bis morgen Zeit?«, fragte Leo, der sichtlich

erleichtert war, dass niemand verletzt wurde. Er war ein Wesen
des Friedens, und diese Kämpfe standen im krassen Gegensatz
zu seiner Natur. Obwohl er sich allmählich daran gewöhnen
musste – als Ehemann einer Zauberhaften.

Piper strich ihm zärtlich über die Wange, dann machten sich

wieder auf den Weg ins Haus.

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»Von diesen Lorar habe ich jetzt gestrichen die Nase voll«,

murmelte Paige, während sie sich einen Splitter aus dem Finger
pulte.

»Und ich erst«, bekräftigte Phoebe.

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2

E

S WAR DUNKEL IN DIESER

D

IMENSION

, dunkel und feucht.

Der Steinboden war zerfurcht und brüchig, überall konnte man
stolpern. Es roch entsetzlich nach Schwefel, und in der Ferne
meinte man die Schreie der gepeinigten Seelen zu hören.

Kurzum, es – war eine Höllendimension wie Millionen

andere auch.

Nifzik schlich missmutig durch die Gänge, hielt inne und

ging wieder ein paar Schritte zurück. Er hatte es nicht eilig,
und an manchen Stellen versuchte er, sich absichtlich zu
verlaufen.

Alles, um nicht dem großen Gru’Aar Bericht erstatten zu

müssen!

Gru’Aar war der Herrscher dieser Welt, König und Teufel in

einer Person. Er war der Urvater der Lorar, ihr Anführer. Er
war der Erzeuger jedes Dämonen, der in den endlos
scheinenden Höhlengängen hauste. Er führte ein hartes
Regiment, und jeder Anflug von Missmut des Meisters konnte
seine Berater den Kopf kosten.

Nifzik wusste das. Schließlich hatte es erst gestern den armen

Ranzick erwischt, nur weil er dem Lieblings-Olm des Meisters
auf den Schwanz getreten war.

Im Vergleich dazu hatte Nifzik allerdings wirklich schlechte

Nachrichten zu überbringen – er bezweifelte sogar, dass
Gru’Aar sich nur mit seinem Tod zufrieden geben würde.
Wahrscheinlich würde er sich etwas weit Schlimmeres
einfallen lassen.

Nifzik seufzte. Es hatte keinen Sinn. Da musste er durch. Als

Berater des Meisters war er auserkoren worden, ein Auge auf
die Zwillinge zu haben.

Er betrat vorsichtig die Haupthöhle, die von Fackeln an den

Wänden erhellt wurde. Es sah aus wie immer – nackte Leiber

23

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wälzten sich auf dem Boden, Fleisch lag auf kleinen groben
Holztischen, und Wein floss aus einer marmornen Statue in der
Mitte der Höhle.

Im Hintergrund sah er den Thron, der aus riesigen

Holzstämmen gezimmert und mit eisernen Nieten verstärkt
worden war, um das Gewicht von Gru’Aar zu halten. Denn im
Vergleich zu seinen Nachkommen war der Meister ein
Prachtexemplar – an die sechs Meter groß und breit wie ein
Scheunentor. Nicht, dass Nifzik jemals ein Scheunentor
gesehen hätte.

Als Gru’Aar seinen Berater sah, hellte sich sein düsterer

Blick ein wenig auf.

»Ah, Nifzik«, polterte der Dämonenfürst, »mein treuer

Berater und Beobachter.«

Nifzik verbeugte sich so tief, dass seine Stirn fast den kalten

Höhlenboden berührte, obwohl er ahnte, dass eh alles umsonst
war. »Meister«, krächzte er.

»Was machen meine Prachtburschen? Haben sie schon ein

paar widerliche Gutmenschen erlegt? Ein paar Priester
zerstückelt? Engeln die Flügel gestutzt?« Er lachte dröhnend,
als hätte er einen guten Witz gemacht.

Nifzik nahm all seinen Mut zusammen, um die Sache schnell

hinter sich zu bringen: »Börp und Barf sind tot, Euere
Schrecklichkeit.«

Einen Moment lang war es grabesstill. Die Anwesenden

hörten sogar auf zu kauen.

Gru’Aars Augen verengten sich zu Schlitzen. »Sie sind

was?«

»Tot«, wiederholte Nifzik, »gefallen im zweifellos

glorreichen Kampf gegen einen zahlenmäßig überlegenen und
äußerst trickreichen Gegner.«

Das klang gut. Und irgendwie entsprach es sogar der

Wahrheit. Es war nicht wichtig, dass die beiden Trottel

24

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vermutlich auch den Kampf gegen einen bebrillten
Zauberschüler verloren hätten.

Gru’Aar stand ächzend auf.
Er drehte sich um.
Packte seinen Thron.
Und warf ihn in hohem Bogen quer durch die Höhle, bis er

an einer Felswand zersplitterte.

Aus den Augenwinkeln sah Nifzik, wie der für die

Tischlerarbeiten zuständige Hilfsdämon aus der Höhle schlich.
Auf ihn kam Arbeit zu.

Gru’Aar schnaufte nun. Immer schneller. Statt einen

Wutschrei loszulassen, schleuderte er einen gigantischen
Feuerstrahl aus seinem Mund, der die vor ihm liegenden
Wesen kurzerhand pulverisierte.

Gru’Aar war böse – wirklich böse.
Kein Wunder – die beiden Zwillinge waren seine Lieblinge

gewesen, und nichts hätte ihm mehr Freude bereitet, als wenn
sie ihn eines Tages hinterrücks getötet hätten, um an seinen
Thron zu kommen.

Damit war es jetzt wohl Essig. Nicht das Nifzik gewusst

hätte, was Essig war.

»Wer war es?«, knurrte Gru’Aar.
»Es waren die Halliwell-Hexen«, antwortete Nifzik hastig,

der nun Hoffnung schöpfte, doch noch seinen Kopf zu
behalten, wenn es ihm gelang, die Wut des Meisters auf die
Schwestern zu lenken.

Gru’Aar schloss einen Moment lang die Augen.
Die Halliwell-Hexen. Von denen hatte er schon gehört.

Miese kleine Biester mit großen Zauberkräften, die vom Buch
der Schatten
beschützt wurden.

Er wollte sie zermalmen, ihnen die schmalen Hälse

umdrehen, ihre Rippchen am Spieß braten, ihre Knochen den
Höllenhunden vorwerfen...

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Doch halt! Träumerei half hier nicht weiter. Er hatte von

vielen anderen Dämonenfürsten gehört, die gegen die
Halliwells angetreten waren – und schmachvoll verloren
hatten. Zweifellos waren die jungen Hexen nicht zu
unterschätzen.

Gru’Aar traf eine Entscheidung. Er brauchte Hilfe. Hilfe, die

ihm kein lebender Dämon bieten konnte.

Aber glücklicherweise waren Leben und Tod zwischen den

Dimensionen sehr relative Begriffe...

»PAHZICK!«, brüllte Gru’Aar schließlich.
Einer seiner Berater wieselte heran. »Ja, Eure

Monströsigkeit?«

Gru’Aar beugte sich zu ihm herab und knurrte mit fauligem

Atem: »Ich will Rache. Rache für meine Söhne.«

Pahzick lächelte unbeholfen: »Aber, Meister – die

Halliwells... sie sind sehr stark. Und haben mächtige Freunde.«

Gru’Aar zog Pahzick an sich heran, bis ihre Nasen fast

aneinander stießen. »Sie sind Hexen, keine Göttinnen. Also
sind sie sterblich. Und wen holt man, wenn man Hexen den
Garaus machen will?«

Pahzick dachte angestrengt nach, und schließlich ging ihm

ein Licht auf: »Einen Hexentöter!«

Gru’Aar grinste, und Gestank drang aus seinem Mund.

»Einen Hexentöter, genau.«

»Aber es gibt doch gar keine...«, begann Pahzick, bis ihm

etwas einfiel, und er aschfahl wurde. »Nein!«

»Doch«, knurrte Gru’Aar, »zieh los und bring mir Solomon

Ford!«

Der Name wirkte wie Pipers Bannkräfte – alles in der Höhle

erstarrte. Kein Muskel wurde bewegt, kein Wort gesprochen.
Jeder wusste, was die Erwähnung dieses Namens zu bedeuten
hatte.

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Nifzik schlängelte sich nun an seinen Meister heran und bot

eilfertig seine Dienste an. »Das kann ich doch tun, Eure
Fürchterlichkeit! Ich bringe ihn Euch!«

Gru’Aar sah seinen Berater aus den Augenwinkeln kommen,

packte ihn mit seiner riesigen Pranke – und biss einmal kräftig
ab!

»Pahzick«, verkündete er kauend, »du wirst dich persönlich

um diese Sache kümmern.«

Pahzick nickte. Als er sah, wie die Füße von Nifzik im

Schlund des Dämonenfürsten verschwanden, zweifelte er keine
Sekunde, dass von diesem Auftrag sein mieses kleines Leben
abhing.

27

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3

»

W

IR BESCHWÖREN DICH

...«, murmelte Trish leise und

bemüht ernsthaft.

»Wir, die Hexen von Buford High, beschwören dich«,

korrigierte Sandy. »Woher sollen die Schwarzen Mächte denn
sonst wissen, wer wir sind?«

Die rothaarige Trish sah ihre dünne blonde Freundin scharf

an. »Vielleicht möchtest du der Schwarzen Macht auch noch
deine Telefonnummer geben?«

Sandy verzog beleidigt das Gesicht. »Mich würden sie

wenigstens anrufen, während du den ganzen Abend nur auf den
Apparat starren würdest.«

»Gar nicht wahr!«
»Jetzt kriegt euch mal wieder ein«, unterbrach D’reen, die

Dritte im Bunde. Sie war eine der wenigen farbigen
Schülerinnen an der Buford High, und galt als das
pragmatischste der drei Mädchen. »Wenn wir das hier
durchziehen wollen, müssen wir uns beeilen. In fünf Minuten
haben wir Mathe bei der alten Miss Gillycuddy.«

Trish, Sandy und D’reen sahen sich verschwörerisch an und

nickten.

Klar wollten sie das durchziehen.
In diesem Moment war von draußen ein Geräusch zu hören.
Die Tür ging.
Alle drei Mädchen hielten den Atem an. Es dauerte ungefähr

dreißig Sekunden, dann war rauschendes Wasser zu hören.
Kurz darauf – wieder die Tür.

»Endlich«, knurrte Sandy, »das war garantiert diese blöde

Zicke Monique. Die wäscht sich nie die Finger.«

»Ihhhh!« D’reen schüttelte sich.
»Es war aber auch eine dämliche Idee, unseren Hexentreff im

Mädchenklo zu veranstalten«, stellte Trish fest.

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In der Tat – eingeklemmt in dem kleinen Toilettenraum

konnten die Mädchen sich nicht einmal auf den Boden hocken,
weil ihre Knie aneinander stießen. Sie standen im Kreis um die
Schüssel, in den Händen magische Glücksbringer und ein
Beschwörungsbuch, das Sandy im Internet bei Amazon gekauft
hatte.

»Was wäre dir denn lieber gewesen?«, zischte Sandy. »Ein

Beschwörungsritual auf dem Footballplatz? Oder im
Lehrerzimmer?«

Es gab nicht viele Orte, an denen man als Schülerin der

Buford High School seine Ruhe hatte.

»Ich wäre wirklich lieber auf dem Footballplatz«, bemerkte

D’reen.

Die beiden anderen Mädchen seufzten.
Sie wussten den Grund.
Es war derselbe Grund, aus dem sie hier in der Kabine

standen.

Brad Nichols!
Brad Nichols, der Traum jedes Mädchens der Schule. Groß,

braune Haare, tiefgrüne Augen – und auch noch Quarterback
der Buford Bulls! Aber das war noch nicht alles – schließlich
gab es im Team eine ganze Reihe von gut aussehenden Jungs.

Brad spielte Gitarre! In einer Band!
Er war einfach göttlich. Brad Pitt und Ben Affleck in einer

Person. Jedes Mädchen war in ihn verliebt.

Inklusive Trish, Sandy und D’reen.
Leider hatte Brad nur Augen für die schönsten Mädchen der

Schule – und dazu gehörten weder die bebrillte Trish, noch
Sandy mit der Zahnspange oder D’reen mit dem Babyspeck.

Die drei Freundinnen beeilten sich, ihren magischen Spruch

aufzusagen.

»Wir, die Hexen von Buford High«, begann Trish erneut,

»rufen die Schwarzen Mächte. Wir schenken unsere Seelen
und erbitten Beistand.«

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»Beistand«, flüsterten Sandy und D’reen, während sie

Basilikumblätter, eine Knoblauchzehe und jeweils einen
Haarbüschel in die Toilettenschüssel warfen.

»Bringe uns die Liebe von Brad Nichols, damit er keine

anderen Mädchen mehr begehre«, fuhr Trish fort.

Dann spülte sie.
Einen Moment lang starrten alle drei auf den Wasserwirbel,

bis die magischen Bestandteile gänzlich in der Kanalisation
gelandet waren.

»Ich denke, wir hätte die Sachen vielleicht doch verbrennen

sollen, so wie es im Buch steht«, meinte D’reen.

»Klar«, stellte Sandy fest, »offenes Feuer im Schulgebäude!

Wenn du rausfliegen willst, bitte – aber ohne mich.«

»Vielleicht klappt der Zauber ja auch so«, hoffte Trish. Sie

packte das Buch mit den Sprüchen wieder in ihre Tasche.

Sandy warf einen vorsichtigen Blick durch die Ritze der

Kabinentür. Die Luft war rein.

Die Mädchen machten sich auf den Weg zum Unterricht.
In den Fluren der Buford High herrschte geschäftiges

Treiben. Hunderte von Teenagern rannten durcheinander,
ständig knallten überall die Metalltüren der Spinde. Cliquen
standen zusammen, Pärchen knutschten.

»Da ist er!«, rief Sandy plötzlich, und vor Schreck ließ sie

fast ihre Schultasche fallen.

Auch Trish und D’reen erstarrten.
Tatsächlich – es war Brad Nichols. Und er kam direkt auf sie

zu!

Seine halblangen Haare wurden wie in Zeitlupe vom Wind

zerzaust, und wie von Geisterhand machten ihm die Mitschüler
den Weg frei.

Er war so – lässig.
Einen Moment lang stand die Zeit still. Trish, Sandy und

D’reen hielten den Atem an.

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Dann drehte sich Brad beiläufig zu Caroline Spencer um, die

in hautengen Hilfiger-Jeans und bauchfreiem Prada-Top an
ihm vorbeischlenderte. »Hi, Süße, sehe ich dich heute Abend
im McNally’s?«

Die Zeit lief weiter, die drei Freundinnen sahen einander an,

und die Welt war wieder in Normalsterbliche und Götter
unterteilt.

Der Gott Brad hatte sie keines Blickes gewürdigt.
Trish zog das Buch mit den Zaubersprüchen aus der Tasche

und warf es in einen Papierkorb. »So viel dazu.«

31

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4

S

EUFZEND LIEß

P

IPER

die Überreste eines weiteren

Porzellantellers in die Mülltüte wandern. Nicht, dass sie die
Dinger schön gefunden hätte, aber es waren Erinnerungsstücke
an ihre Großmutter.

Zum Glück gab es im Halliwell-Haushalt genug davon.

Genau betrachtet war das ganze Haus ein Schrein, Oma
Halliwell gewidmet.

Paige kam im Pyjama die Treppe herunter und gähnte

herzhaft. »So früh schon wach?«

Piper konnte sich einen strafenden Blick nicht verkneifen.

»Früh ist gut. Es ist schon fast elf Uhr.«

Paige winkte ab und schlurfte in Richtung Küche. »Früh

genug für ein Frühstück.«

Sie kratzte sich am Kopf und gähnte erneut.
Es klingelte an der Haustür. Piper wollte gerade den

Müllbeutel an die Seite stellen, als Phoebe durch das Haus
schrie: »Das ist für mich!«

Drei Sekunden später kam die jüngste der Halliwells aus dem

Bad gerannt – nur mit zwei Handtüchern bekleidet. Sie hatte
ein großes Duschtuch unter den Achselhöhlen um ihren
Oberkörper geschlungen und ein kleineres um ihren Kopf.

In dieser Aufmachung stapfte sie zur Haustür.
Es war einer jener City-Kuriere, die auf einem Mountainbike

mit halsbrecherischer Geschwindigkeit durch den
Berufsverkehr von San Francisco manövrierten.

»Hi!«, rief Phoebe fröhlich und außer Atem, was ihre

Vorzüge unter dem Duschtuch deutlich zur Geltung brachte.

Der junge Mann war sichtlich überrascht, aber nicht

unerfreut. Er grinste etwas verlegen und zog ein Päckchen aus
seiner Schultertasche. »Für Phoebe Halliwell?«

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»Immer her damit«, antwortete Phoebe, und schnappte sich

die Schachtel. Dann unterschrieb sie die Empfangsbestätigung.

»Ciao«, verabschiedete Phoebe den jungen Mann, drehte sich

auf dem Absatz um und warf mit einem Fußtritt nach hinten
die Tür zu.

Piper konnte vom Wohnzimmer aus sehen, dass sich der

Bote nicht von der Stelle rührte, sondern Phoebe durch das
farbige Glas hinterher schaute.

Während Phoebe ins Wohnzimmer ging und sich samt Paket

auf die Couch fallen ließ, fing sie sich von Piper eine Rüge ein.

»Du solltest in diesem Aufzug die Tür nicht aufmachen – der

arme Kerl steht immer noch gaffend draußen.«

Phoebe schüttelte den Kopf, während sie mit ihrem

Fingernagel das Klebeband durchtrennte. »Der geht schon weg
– das tun sie immer. Manche früher, manche später.«

»Was hast du denn da?«, wollte Paige wissen, die gerade mit

einem Stück Mohnkuchen und einer Tasse Kaffee aus der
Küche kam.

Sogar Piper war neugierig.
Phoebe klappte den Deckel auf, sah in das Paket, und

strahlte: »Hier ist der Beweis, dass ich doch zu etwas tauge!«

Piper verdrehte die Augen. Hoffentlich ging jetzt nicht schon

wieder die Diskussion über Phoebes mangelnde
Einsatzbereitschaft in Sachen Karriere los. Seit Prue tot war,
hatte sich die Lage eigentlich entspannt – sie beide waren
früher wie Feuer und Wasser gewesen, wenn es um die
Themen Zukunftsplanung und Geld ging.

Phoebe drehte nun kurzerhand das Paket um, und eine Flut

von Briefen, Postkarten und wattierten Umschlägen fiel auf
den Holzboden.

»Du meine Güte, hast du eine Bekanntschaftsanzeige

aufgegeben – mit Ganzkörperfoto?«, fragte Paige ungläubig.

Phoebe schüttelte den Kopf. »Die sind alle von der Zeitung,

für die ich meine Ratgeber-Seite schreibe. Seit ich da

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angefangen habe, hat sich die Zahl der Zuschriften glatt
verzehnfacht!«

»So viele Beschwerden?«, grinste Piper.
Phoebe streckte ihr die Zunge raus. »Du bist bloß neidisch,

weil so viele Leute meinen Ratschlag wollen.«

»Warum schickt die Zeitung dir die Sachen nach Hause?«,

fragte Paige, während sie mampfend auf den Post-Berg
schaute.

»Weil ich nicht den ganzen Tag in der Redaktion

herumhängen kann«, erklärte Phoebe. »Schließlich bin ich im
Hauptberuf immer noch Hexe. Aber je mehr Post ich
beantworte, desto höher ist mein Honorar. Also habe ich mit
dem Redaktionsleiter abgemacht, dass man mir die Post nach
Hause schickt. Ich bearbeite die Briefe dann, wenn ich Zeit
habe.«

»Mangelnde Freizeit ist ja momentan nicht das Problem«,

meinte Piper. »Es war wohl noch nie so stressfrei, eine Hexe zu
sein, wie gerade jetzt.«

»Beschrei’s nicht«, warnte Paige mit erhobenem Zeigefinger.

Sie entdeckte daran noch einige Kuchenkrümel und leckte sie
gierig ab.

»Das ist ja super öde hier«, knurrte Trish, während sie mit
Sandy und D’reen über den kleinen Trödelmarkt schlenderte,
der sich zwischen zwei Häusern auf einem Parkplatz erstreckte.

D’reen sah sich eine Bluse an, aber als sie einen Fleck darauf

entdeckte, drehte sie sich wieder zu ihren Freundinnen.
»Stimmt.«

Sandy deutete auf einen Stand mit Pappkartons. »Da gibt es

Schallplatten.«

»Prima«, sagte Trish wenig begeistert, »und auf welchem

deiner CD-Player willst du die abspielen?«

Die drei Mädchen waren immer noch vom Flop ihres

Zauberspruchs enttäuscht. Es hätte ja nur eine Kleinigkeit

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gebraucht, einen Blick von Brad Nichols, und sie hätten die
Aktion als Erfolg werten können.

»Wenn Magie doch nur wirklich funktionieren würde. Ich

gäbe alles dafür«, verkündete Sandy.

Plötzlich wurde Trishs Blick auf einen Stand gelenkt, der im

Gegensatz zu den anderen wirkliche Antiquitäten zu führen
schien. Es gab verzierte Biedermeier-Tische, kleine Messing-
Lampen und die scheußlichen Brokat-Überzüge, die in den
siebziger Jahren über Telefone gestülpt worden waren.

Die junge Frau begann interessiert in einer Kiste mit alten

Büchern zu wühlen.

»Hast du noch nicht genug zu lesen?«, maulte Sandy.

Schließlich waren Fünfzehnjährige nicht dafür bekannt,
Bücherwürmer zu sein. In ihren Regalen fanden sich,
abgesehen von der Pflichtlektüre für die Schule, höchstens ein
paar Begleitromane zu Fernsehserien.

Trish ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Sie legte ein paar

alte Romane und Atlanten beiseite, bis sie auf einen reich
verzierten Lederband stieß. Sie blätterte darin herum, fasziniert
von den vielen Stichen und exotischen Formeln.

D’reen blickte ihr über die Schulter. »Was soll das sein?«
»Erkläre ich dir später«, zischte Trish und wandte sich an den

Händler. »Wie viel?«

Der Mann zuckte mit den Schultern. »Neunzig Dollar.«
Trish lachte kurz auf. »Zwanzig, maximal.«
»Siebzig, mindestens.«
»Fünfundzwanzig.«
»Sechzig, und wenn es dir nicht passt, dann lass es.«
»Fünfundzwanzig.«
»Hast du was an den Ohren?«
»Nein, aber fünfundzwanzig Dollar in der Tasche.«
»Kommt nicht in Frage. Fünfzig, aber dann ist Ende.«
Trish drehte sich zu Sandy. »Gib mir fünfzehn Dollar.«

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»Aber dann hast du nur vierzig«, wandte Sandy ein, während

sie das Geld aus ihrer Tasche kramte.

Trish nahm die Geldscheine, tat ihre eigenen dazu und hielt

sie dem Mann hin. »Vierzig, und du bist den Schinken los.«

Der Mann dachte einen Moment lang nach. Er wollte sich

von dieser Göre nicht übervorteilen lassen – aber das Bargeld
lockte. Er schnappte sich die Scheine.

Trish griff triumphierend nach dem Buch und machte sich

mit schnellen Schritten auf den Weg. Sandy und D’reen
konnten kaum mithalten.

»Was ist denn los?«, keuchte D’reen, die schon nach ein paar

Metern aus der Puste war.

»Was willst du mit der alten Schwarte?«, setzte Sandy nach.
Trish sah ihre Freundinnen nicht an, während sie weiter die

Straße hinunterging. »Unsere Träume wahr machen. Dieser
Schinken ist ein echtes Hexenbuch – mit echten
Hexensprüchen!«

Wie vom Donner gerührt blieben Sandy und D’reen stehen.
»Dafür habe ich dir fünfzehn Dollar geliehen?«, fragte Sandy

ungläubig. »Damit wir jetzt noch einmal diesen Blödsinn
ausprobieren?«

»Woher willst du überhaupt wissen, dass es ein Hexenbuch

ist?«, wollte D’reen wissen.

Trish blieb stehen, drehte sich um und funkelte ihre

Freundinnen an. Sie hielt das Buch triumphierend über ihren
Kopf, sodass die Mädchen den Titel lesen konnten, der in alten
Lettern in das Leder gestanzt war.

Buch der Schatten.

36

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5

L

EO WAR NICHT DER

E

HEMANN

, der seine Frau belog. Er liebte

Piper von ganzem Herzen, und er war der festen Überzeugung,
dass sie füreinander geschaffen waren. Jedenfalls so sehr, wie
Wächter des Lichts und Hexen füreinander geschaffen sein
konnten.

Dennoch gab es immer wieder Dinge, die er nicht mit ihr

teilen konnte. Aufgaben, die er von ganz oben bekam. Der Rat
der Ältesten
hatte immer noch nicht ganz verdaut, dass Piper
und Leo ohne Zustimmung geheiratet hatten, deshalb war es
momentan sehr unklug, sich mit dem Rat anzulegen.

Leo hatte Piper lediglich gesagt, er habe etwas zu erledigen.

Dann hatte er sich aus dem Halliwell-Haus gezaubert, bevor
seine Frau nachfragen konnte.

Nun stand er in einem kleinen Wald in Neu-England, kaum

drei Meilen von der Ortschaft Hopkins entfernt. Was aber
wichtiger war – noch vor hundert Jahren lag Hopkins einen
Tagesritt von Salem entfernt.

Salem – dort, wo man vor langer Zeit angebliche Hexen

gejagt und verbrannt hatte. Wo unschuldige Frauen auf Grund
von Neid und Missgunst ihr Leben lassen mussten.

Während in Salem selbst eine florierende Touristenindustrie

mit der gruseligen Vergangenheit Kasse machte, war in
Hopkins und Umgebung die Zeit stehen geblieben. Nur noch
wenige Menschen lebten in den verfallenden Häusern, und
viele Grundstücke lagen brach. Manchmal schien es, als könnte
die Sonne hier kaum durch die Wolken brechen.

Es dauerte ein paar Minuten, bis Leo den ehemaligen

Friedhof fand. Zierbäume waren verwahrlost, und Unkraut
hatte sich wie ein Teppich über den Platz gelegt. Bis auf die
umgestürzten und teilweise zerbrochenen Grabsteine deutete

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nichts darauf hin, dass hier bis vor zweihundertfünfzig Jahren
Menschen beerdigt worden waren.

Leo sah sich unsicher um. Er wusste, wonach er suchte –

aber nicht, wie er es finden sollte. Ein paar Mal wischte er mit
der Hand über die Steinplatten, aber der Regen hatte die
Inschriften längst ausgewaschen.

Plötzlich hielt er inne. Kaum drei Meter entfernt von ihm sah

er etwas, das es eigentlich nicht geben durfte. Und das war ein
ganz schlechtes Zeichen.

Es war ein Grab.
Ein Grab, dessen Gedenkstein aus schwarzem Marmor blank

poliert war wie am ersten Tag.

Und das Grab war leer!
Es war deutlich zu sehen, dass das Erdreich erst vor kurzem

aufgewühlt worden war. Es war locker, und dunkle feuchte
Brocken lagen um das Grab herum.

Aber das war es nicht, was Leo Sorgen machte und die

Befürchtungen des Rates bestätigte.

Es war die Tatsache, dass das Grab von innen geöffnet

worden war. Und es war die Tatsache, dass es sich dabei um
das Grab vom Solomon Ford handelte.

Von Solomon Ford, dem Hexentöter.

Paige war froh, nicht mehr so viele Zeitschriften und Zeitungen
abonniert zu haben. Schließlich hatte sie sich als Hexe auf dem
Laufenden halten müssen. Hinter den belanglosesten
Schlagzeilen versteckten sich oft dämonische Aktivitäten, und
früher hatte sie manchmal bis zu zwei Stunden am Tag damit
zugebracht, die Hefte durchzublättern. Doch die Nutzung des
Internets hatte auch hier einiges verändert. San Francisco war
eine sehr moderne Stadt, und die wichtigsten Zeitungen hatten
große Websites, die bei der Recherche halfen. Außerdem gab
es diverse private Homepages, auf denen ›Para-Jäger‹ und
›Eso-Experten‹ ihren Unsinn verbreiteten. Da gab es mitunter

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Hinweise, lange bevor die Abendnachrichten davon Notiz
nahmen.

Aber heute war wieder einmal der Tag des gedruckten

Wortes.

Paige las die ›San Francisco Gazette‹, ein vergleichsweise

schmuddeliges Blatt, das mittlerweile zur Hälfte aus
Gegendarstellungen bestand, in denen belästigte Bürger die
Fakten richtig stellten.

Die Themen hielten sich im üblichen Bereich – ein lokaler

Politiker wurde der Korruption bezichtigt, ein Starlet war mit
Koks erwischt worden, die Polizei wollte einen Park nachts für
Obdachlose öffnen und Elvis hatte im Supermarkt ein
Erdnussbutter-Sandwich geklaut.

Plötzlich stutzte Paige. Eine kleine Meldung auf Seite acht

erregte ihre Aufmerksamkeit. Sie las den Artikel zweimal. Das
stank.

Und zwar gewaltig.
Nach Magie.
»Ich hab was!«, verkündete die junge Hexe halblaut.
»Ich auch!«, murmelte Phoebe, die gerade im ›SF Observer‹

blätterte.

Piper, die gerade in der Küche das Mittagessen vorbereitete,

kam ins Wohnzimmer – mit Schürze und Kartoffelmesser.
»Was gibt’s?«

Phoebe fing an: »Hier im Observer steht was von einem

Pudel, der plötzlich in die Luft geflogen sein soll.«

»Du meinst, er ist explodiert?«, fragte Piper ungläubig.
»Nein«, erklärte Phoebe, »er ist angeblich wirklich geflogen.

Wie ein Vogel.«

»Und gesehen hat es wahrscheinlich nur die senile

Besitzerin«, merkte Paige kritisch an.

»Das ist es ja«, fuhr Phoebe fort. »Mehrere Nachbarn

bestätigen die Geschichte.«

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»Okay, das könnte etwas sein«, stimmte Piper zu. »Und was

ist bei dir, Paige?«

»Ein Lehrer der Buford High School liegt mit einer

unerklärlichen Krankheit im Hospital«, fasste Paige zusammen.
»Sein Zustand ist nicht kritisch, aber die Ärzte stehen vor
einem Rätsel.«

»Eine unbekannte Krankheit – was ist daran so

geheimnisvoll?«, wollte Phoebe wissen.

Statt zu antworten, hielt Paige die entsprechende Seite der

Zeitung in Richtung ihrer Schwestern. Ein Bild war zu sehen,
und zwar in Farbe. Und auf dem Bild lag der Lehrer in seinem
Krankenbett – knallgrün im Gesicht.

»Das ist ja abgefahren«, kicherte Phoebe. »Manchmal

wünschte ich, mir wäre letztes Jahr in der Schule auch so was
eingefallen.«

»Das ist der Punkt«, sagte Paige. »Für dich als Hexe wäre es

kein Problem gewesen. Im Buch der Schatten gibt es einen
harmlosen Rache-Spruch mit genau diesem Effekt.«

»Okay, das riecht nach Magie. Und da wir es nicht waren...«,

sie sah kurz ihre Schwestern an, um einer möglichen Beichte
Raum zu lassen, »und der Mangel an wirklichen Katastrophen
Dämoneneinfluss ausschließt, haben wir es hier mit
Zauberstreichen zu tun.«

»Aber wer macht so was?«, wollte Phoebe wissen. »Jede

Hexe muss damit rechnen, für den Missbrauch ihrer Kräfte zur
Rechenschaft gezogen zu werden.«

Piper nickte. Das stimmte. Es war kein leichtes Vergehen,

magische Kräfte zu missbrauchen. So etwas lernte man gleich
am Anfang.

»Wir sollten der Sache nachgehen«, erklärte Paige. »Bevor

wirklich jemand zu Schaden kommt.«

»Okay«, stimmte Piper zu, »wir können dem Lehrer und der

Pudel-Dame ja nachher mal einen Besuch abstatten.«

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»Wo ist Leo eigentlich?«, fragte Phoebe. »Vielleicht will er

mitkommen.«

Piper runzelte die Stirn. »Keine Ahnung. Er ist heute Morgen

einfach abgedüst. Wer weiß, was der Rat mal wieder von ihm
wollte.«

Trish konnte kaum an sich halten vor lachen. »Ihr hättet den
blöden Wentworth mal sehen sollen, als sie ihn mit dem
Krankenwagen abgeholt haben! Grün wie Kermit der Frosch!«

Sandy war weniger begeistert. »Aber die Wirkung hätte laut

Buch der Schatten doch schon längst nachlassen sollen. Er liegt
immerhin im Krankenhaus!«

Trish winkte ab: »Hexerei ist keine exakte Wissenschaft.«
»Aber die Sache mit dem Pudel haben ein paar Leute

gesehen«, gab D’reen zu bedenken. »Was ist, wenn man uns
auf die Schliche kommt?«

»Ich finde, wir sollten es mit der Magie jetzt erst einmal gut

sein lassen«, pflichtete Sandy ihr bei.

»Unsinn!«, zischte Trish böse und senkte dann die Stimme,

weil ein paar andere Schüler auf dem Parkplatz an ihnen
vorbeigingen. »Das ist genau das, was wir wollten – echte
Magie! Damit können wir alles haben!«

Sandy und D’reen schauten immer noch kritisch, und Trish

setzte noch eins drauf: »Sogar Brad Nichols.«

Nun hellten sich die Mienen der beiden anderen Mädchen

auf. Die Aussicht, Brad Nichols’ Aufmerksamkeit zu erlangen,
ließ alle Zweifel unwichtig erscheinen.

»Wie gehen wir die Sache an?«, fragte D’reen schließlich.
Trish grinste triumphierend. Sie hatte ihre Freundinnen an

der Angel.

»Zuerst einmal treffen wir uns heute Abend bei mir und

suchen uns den entsprechenden Zauberspruch aus dem Buch.
Morgen können wir dann ja den Erfolg überprüfen.«

Sandy und D’reen nickten.

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»Okay, bis später dann«, verabschiedete Trish ihre

Freundinnen und machte sich auf den Heimweg.

D’reen und Sandy, die in die andere Richtung gehen

mussten, schwiegen lange.

»Ich weiß immer noch nicht, ob das so eine gute Idee ist«,

begann Sandy, die nicht gerade für ihren Mut bekannt war.

D’reen ging es nicht besser. »Magie ist eine gefährliche

Sache. Glaubst du, es gibt einen Spruch, mit dem wir alles
wieder rückgängig machen können?«

Sandy hob die Schultern. »Wohl kaum. Das wäre ja dann

auch wieder Magie.«

»Aber Brad Nichols«, erinnerte D’reen.
»Brad Nichols«, seufzte Sandy.
Er war Grund genug, sich auch mit dem Teufel einzulassen.

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6

»

W

IR WÜRDEN GERNE DEN

M

ANN

mit dem grünen Gesicht

sehen«, platzte es aus Phoebe heraus.

Piper haute ihr den Ellbogen in die Seite und lächelte die

Rezeptionistin des Krankenhauses freundlich an. »Es geht um
den Lehrer von der Buford High.«

Die ältere Dame musterte die drei Schwestern. »Sind sie

etwa auch von der Presse?«

Während Piper und Phoebe überlegten, wusste Paige die

richtige Antwort: »Nein, wir sind Schülerinnen von ihm. Und
wir dachten, er würde sich über Besuch freuen.«

Der Blick der Rezeptionistin hellte sich nur wenig auf –

schließlich waren die drei jungen Frauen offensichtlich schon
über zwanzig.

»Ehemalige Schülerinnen«, ergänzte Piper schnell.
Letzten Endes war es der Frau egal, deshalb murmelte sie:

»Zimmer 415. Besuchszeit endet in einer halben Stunde.«

»Danke.«
Die Schwestern machten sich auf den Weg in den dritten

Stock.

Das San Francisco Medical Centre war ein Krankenhaus wie

tausend andere in den Vereinigten Staaten – ein riesiger
rechteckiger Bau mit zehn Stockwerken, endlosen Gängen
samt PVC-Belag, Neonröhren und dem Geruch von
Desinfektionsmitteln. Es war nicht viel los, nur ab und an
huschte eine Krankenschwester vorbei.

Vor der Tür des Zimmers 415 blieben die Halliwell-Hexen

stehen.

»Was sagen wir dem Mann denn, wer wir sind?«, wollte

Paige wissen.

Diese Frage hatte Piper sich auch gerade gestellt.

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Phoebe antwortete nicht, sondern sah sich im Flur um. Sie

entdeckte zwei leere Betten, an deren Fußenden Klemmbretter,
Krankenblätter und Kugelschreiber hingen. Sie schnappte sich
die Utensilien und drückte sie ihren Schwestern in die Hand.
»Einfach meinem Beispiel folgen.«

Dann betrat sie das Krankenzimmer.
Bevor Paige und Piper ihr folgten, sahen sie einander

unsicher an. Phoebe war sicher die Halliwell-Hexe mit dem
größten Improvisationstalent, aber manchmal schoss sie weit
über das Ziel hinaus.

Der Patient blickte die drei jungen Frauen unsicher an, die

nun sein Zimmer betraten. »Nein, bitte nicht noch mehr Presse.
Ich weiß nicht, was mit mir los ist!«

Phoebe lächelte ihn strahlend an, während sie mit ihren

Augenlidern zwinkerte. »Mr....«, sie warf einen schnellen Blick
auf das Klemmbrett am Ende seines Betts, »... Mr. Wentworth,
es freut mich, Sie zu sehen. Mein Name ist Pamela Grier. Ich
bin von der Abteilung Medizinische Forschung der SFU.«

Sie gab ihm überschwänglich die Hand und deutete auf ihre

Schwestern. »Das sind... Gloria Hendry, und... Tamara
Dobson. Sie arbeiten in meiner Abteilung.«

Paige und Piper nickten verschüchtert.
»Sehr erfreut«, sagte Wentworth, »ich hoffe wirklich, dass

Sie mir helfen können.« Er deutete auf sein Gesicht. »So kann
ich doch nicht unterrichten!«

Paige hatte sichtlich Mühe, sich ein Lachen zu verkneifen.

Phoebe hingegen war erstaunlich professionell. »Da machen
Sie sich mal keine Sorgen. Spontane Pigment-Veränderungen
sind so ungewöhnlich nicht.«

Sie tätschelte seinen Arm.
Wentworth hob die Augenbrauen. »Das sollten Sie mal den

Ärzten hier im Hospital erklären – die haben keine Ahnung,
woher das kommt.«

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»Wann haben Sie die... äh, die Symptome erstmals

bemerkt?«, stammelte Piper.

»Vor zwei Tagen. Als ich nach der Pause wieder in die

Klasse zurückwollte, war ich grün!«

»Entschuldigen Sie uns einen Augenblick!«, flötete Phoebe

und zog Piper und Paige zur anderen Seite des
Krankenzimmers.

»Okay«, flüsterte sie, »das ist mit ziemlicher Sicherheit der

Zauberspruch gewesen, den Paige in dem Buch der Schatten
gesehen hatte.«

»Aber der wäre doch nach ein paar Stunden abgeklungen«,

warf Piper ein.

»Was weiß ich, was da schief gelaufen ist. Hoffen wir, dass

wenigstens der Gegenspruch funktioniert«, knurrte Phoebe.
»Macht mir jetzt alles nach.«

Sie wandte sich wieder Wentworth zu. »Mr. Wentworth, in

einigen klinischen Studien haben wir festgestellt, dass die
plötzliche Pigment-Veränderung, PPV genannt, relativ leicht
rückgängig zu machen ist. Die notwendigen Hormone für die
Heilung sammeln sich in... in den Lymphknoten, genau.«

Sie griff sich seinen linken Arm, und begann, die Stelle unter

der Achselhöhle leicht zu massieren. Mit einem scharfen Blick
deutete sie Piper an, das Gleiche auf der anderen Seite zu tun.

Es war reine Augenwischerei. Phoebe hatte keine Ahnung,

was sie da tat, aber sie musste Wentworth ablenken, während
Paige die Gegenformel sprach.

Der Patient war sichtlich irritiert, plötzlich von zwei jungen

Frauen durchgeknetet zu werden.

»Mrs. Dobson«, sagte Phoebe betont deutlich, »wenn Sie

dann mal Ihre Notizen machen würden.«

Paige hatte angesichts dieses seltsamen Anblicks fast ihre

Aufgabe vergessen. Jetzt tat sie so, als würde sie in ihre
Krankenakte schreiben, während sie kaum hörbar den
Zauberspruch vor sich hin murmelte.

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Sie hatte die letzte Silbe kaum ausgesprochen, da zeigte die

Magie ihre Wirkung: Schnell wich das Grün aus Wentworths
Gesicht und verwandelte sich in ein nicht sehr gesundes, aber
zumindest normales Rosa.

Phoebe und Piper hörten mit der Massage auf.
»Und?«, fragte Wentworth neugierig, während er sein

Gesicht betastete. Er hatte keinen Spiegel im Blickfeld, daher
konnte er das Ergebnis nicht sehen. Er stemmte sich auf, aber
Phoebe drückte ihn wieder ins Bett zurück.

»Schön langsam«, sagte sie. »Es wird noch ein paar Stunden

dauern, bis Sie wieder voll regeneriert sind. Am besten, Sie
lassen die Kollegen von der Abendschicht noch mal einen
Blick drauf werfen.«

Sie wandte sich ihren beiden Assistentinnen zu. »Gloria,

Tamara – wir haben unsere Aufgabe erledigt. Ich denke, wir
sollten ins Institut fahren, um das Ergebnis zu protokollieren.«

Piper und Paige nickten eifrig, winkten Wentworth noch

einmal zu, und machten sich auf den Weg nach draußen.

Auf dem Gang atmeten die drei Schwestern erst einmal ruhig
durch.

»Könntest du uns vielleicht vorher in deine Rollenspiele

einweisen?«, fragte Piper schließlich. »Ich habe vor Nervosität
fast einen Herzinfarkt bekommen.«

»Dann wärst du ja gleich am richtigen Ort gewesen«,

bemerkte Phoebe spöttisch. »Ich musste eben improvisieren –
hat doch prima geklappt.«

»Und wie hast du dir so schnell drei neue Namen für uns

ausdenken können?«, wollte Paige wissen.

Phoebe grinste breit. »Ganz einfach – ich suche mir immer

Namen aus einem bestimmten Themenbereich aus. Gloria
Hendry, Tamara Dobson und Pam Grier waren
Hauptdarstellerinnen in schwarzen Actionfilmen der siebziger
Jahre.«

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»Schwarze Actionfilme der siebziger Jahre?«, fragte Piper

ungläubig nach. »Hat Pam Grier nicht in ›Jackie Brown‹ von
Quentin Tarantino die Hauptrolle gespielt?«

»Klar«, bestätigte Paige, die wusste, dass Pam Grier durch

den Streifen ein Comeback geglückt war – wenn auch nicht mit
dem gleichen Erfolg wie John Travolta mit »Pulp Fiction«.
Aber sie kannte natürlich die Klassiker der alten Fernsehserien,
die nachts im Kabelprogramm ausgestrahlt wurden und ratterte
wie aus der Pistole geschossen die Namen herunter. »Cleopatra
Jones, Velvet Smooth, Friday Foster!«

Phoebe legte ihre Arme um die Schultern ihrer Schwestern.

»Das haben wir ganz toll gemacht. Charlies Engel sind ein
Dreck gegen uns!«

Piper lachte. »Wir sollten besser nicht diskutieren, wer von

uns welcher Engel ist. Was machen wir jetzt?«

Phoebe nahm ihren Schwestern die beiden Klemmbretter ab

und warf sie auf eines der herumstehenden Betten. »Jetzt sehen
wir uns mal den fliegenden Pudel an.«

47

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7

P

HOEBE PACKTE NACH DEM

G

RIFF

der großen

Doppelschwingtür am Ende des Gangs – doch die war plötzlich
verschlossen.

»Komisch«, murmelte Paige, während sie ebenfalls erfolglos

dagegen drückte. »Eben war hier noch alles offen.«

»Nehmen wir den Ausgang am anderen Ende«, meinte Piper,

und die drei Schwestern drehten sich um.

Dann sahen sie ihn.
Er stand am anderen Ende des Ganges.
Ein langes schwarzes Cape mit einer goldenen Kragenkette

hing staubig an seiner hageren Figur hinunter. Er trug eine
breitkrempige Kopfbedeckung, die nach oben hin die Form
eines Zuckerhutes hatte. Seine Schuhe waren aus altem Leder,
mit einer silbernen Schnalle auf der Oberseite. Die Hose hörte
unter den Knien auf, wo sie um die Beine geschnürt war.

Alles in allem ein gruseliger Anblick, der Graf Dracula alle

Ehre gemacht hätte.

Aber das war gar nicht das Schlimmste – der Kopf des

Fremden war es, der Frösteln verursachte.

Seine Haut war aschfahl, und seine Haare hingen struppig

um sein schmales Gesicht. Er hielt den Kopf leicht gesenkt,
wie ein Tier, das sich gierig nach seiner Beute umschaut.

Und dann diese Augen!
Statt Pupille und Iris gab es eine matt silbern schimmernde

Fläche. Es war schwer vorzustellen, dass man damit sehen
konnte, aber irgendwie zweifelten die Zauberhaften keinen
Moment daran.

Der Fremde stand nur da.
Vor der Tür am anderen Ende des Korridors.
»Ich habe das blöde Gefühl, dass der nicht wegen einer

Diabetes-Vorsorgeuntersuchung hier ist«, flüsterte Paige.

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Phoebe und Piper nickten. Sie waren nun todernst. Es

gehörte zu ihren Erfahrungen als Hexen, potentielle Gegner gut
einschätzen zu können.

Börp und Barf waren kleine Fische gewesen – groß an

Gestalt, aber keine echte Gefahr.

Dieser Typ hier, der strahlte Autorität aus. Macht. Schwarze

Macht.

»Was tun? Kämpfen?«, zischte Phoebe.
Piper schüttelte den Kopf. »Zu viele unschuldige Menschen

in der Umgebung. Und bevor wir nicht wissen, wer er ist,
sollten wir kein Risiko eingehen.«

Da hatte sie zweifellos Recht. Im Buch der Schatten würden

sie sicher genug Informationen finden, um sich für den Kampf
mit diesem seltsam aussehenden Dämon zu wappnen.

Die Schwestern machten vorsichtig ein paar Schritte nach

vorne.

Der Fremde rührte sich nicht.
Er stand nur da.
Paige deutete unauffällig nach links, wo sich eine Tür mit der

Aufschrift »Schwesternzimmer« befand. »Wenn ich mich
richtig erinnere, führen die Schwesternzimmer auf der anderen
Seite zum zweiten Krankentrakt des Stockwerks. Wir müssen
nur da durch.«

Phoebe und Piper nickten.
»Auf drei«, murmelte Phoebe, und nach drei Herzschlägen

warfen sie sich gegen die Tür.

Verschlossen!
»Verdammt!«, knurrte Piper, die sich durch einen kurzen

Blick versicherte, dass der Dämon noch immer an seinem Platz
stand. »Das geht doch nicht mit rechten Dingen zu!«

Paige nahm all ihren Mut zusammen und konfrontierte den

Gegner direkt: »Ich nehme mal an, dass alle Türen
verschlossen sind, richtig?«

Phoebe und Piper stellten sich demonstrativ an ihre Seite.

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Der Fremde machte einen langsamen Schritt auf sie zu.
Dann noch einen.
Nun ertönte seine Stimme.
Dunkel, knarzig, grausam.
»BEREUT EURE SÜNDEN – FINDET EUREN EWIGEN

FRIEDEN.«

Die Halliwell-Hexen atmeten tief ein. Okay, damit waren die

Fronten erst einmal geklärt.

»Ich sehe mal zu, ob ich Leo finden kann. Könnt ihr einen

Moment ohne mich auskommen?«, fragte Paige.

Piper nickte. »Aber lass dir nicht zu lange Zeit.«
Paige konzentrierte sich auf das Halliwell-Haus, in dem sie

im Bruchteil einer Sekunde erscheinen wollte.

Doch nichts geschah.
»Was ist?«, fragte Phoebe, als sie sah, dass ihre Schwester

nicht verschwand.

»Es geht nicht!«, flüsterte Paige entsetzt.
Piper sah sich den Fremden an, der nun immer näher kam.

Anscheinend hatte er nicht nur die Türen magisch versiegelt,
sondern das ganze Stockwerk.

»SCHWÖRT DER DUNKLEN MACHT AB – DER TAG

DER ABRECHNUNG IST GEKOMMEN!«

»Geht es um den Steuerbescheid? Ich dachte, der wäre erst

im Herbst fällig«, ätzte Phoebe, um den Gegner aus der
Reserve zu locken.

Der Fremde hob den rechten Arm, und plötzlich spürte

Phoebe, wie sich ihre Kehle zusammenzog. Sie begann zu
röcheln. Dann ging sie in die Knie.

»Phoebe!«, rief Paige und beugte sich zu ihrer Schwester.
Mit der linken Hand griff der Dämon unter sein Cape, und

als er sie wieder hervorzog, rieselte silbriger Staub zwischen
seinen Fingern. Mit einer schnellen Bewegung warf er ihn nach
vorn. Wie ein feiner Nebel verbreitete er sich im Flur.

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Piper hustete, als der Staub in ihre Lungen eindrang. Was

zum Geier sollte das? Doch sie hatte schon genug gesehen. Es
war an der Zeit, zum Angriff überzugehen. Glücklicherweise
hatten sich ihre Kräfte in letzter Zeit deutlich verstärkt, und so
konnte Piper weit mehr tun, als bloß die Zeit anhalten.

Um ihre Schwester aus dem telepathischen Würgegriff des

Dämons zu befreien, entschied sie sich für eine Frontalattacke.

Sie machte drei kraftvolle Schritte in Richtung des Gegners,

der inzwischen nur noch ein paar Meter von ihr entfernt war.
Dann stieß sie sich ab, und während ihr schlanker Körper durch
die Luft flog, nahm sie ihre ganze Konzentration zusammen,
um ihm die gesammelte Materie aus zehn Metern Umkreis um
die Ohren zu hauen.

Das war zumindest der Plan.
Und der Plan fiel in dem Augenblick in sich zusammen, als

Leo plötzlich zwischen ihr und dem Dämon auftauchte.

Piper konnte noch aufschreien, aber im Flug die Richtung zu

wechseln war unmöglich.

Hart krachte sie gegen ihren Ehemann, und zusammen

polterten sie auf den Boden.

»Leo!«, keuchte Piper. »Gut, dass du da bist – wir können

gerade deine Hilfe gebrauchen!«

Sie rappelte sich auf und konzentrierte sich erneut.
Der Dämon war offensichtlich von dem Erscheinen des

Wächters abgelenkt. Er ließ den telepathischen Griff an
Phoebes Hals los, und die junge Hexe kam wieder auf die
Beine. Sie hob nun ihrerseits den Arm, um dem Gegner eine
ordentliche Portion ihres Höllenfeuers entgegenzuschicken.
Zusammen mit Pipers Kräften hoffte sie, den Kampf damit zu
beenden.

Wieder war es Leo, der einschritt.
Er packte seine Frau und drehte sie in seine Richtung, damit

sie sich nicht auf den Dämon konzentrieren konnte. Auch
Phoebes Angriff verhinderte der Wächter des Lichts. Den

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Feuerstrahl, den sie aus ihrer Hand abschoss, fing er mit
seinem Körper auf. Er absorbierte die Energie und ließ sie
verschwinden.

»SETZT NICHT EURE KRÄFTE EIN!«, rief Leo nun aus

vollem Hals, immer den Dämon im Augenwinkel. »Darauf hat
er es angelegt!«

Er schob seine Frau von dem Gegner weg, in Richtung

Phoebe und Paige.

»Was ist hier los?«, fragte Piper verdattert. »Leo, wer ist der

Typ?«

»ICH BIN EUER BEICHTVATER, EUER RICHTER,

EUER HENKER!«, ertönte es dröhnend aus dem Mund des
Dämons.

»Sein Name ist Solomon Ford«, keuchte Leo. »Er hat einen

Staub auf euch geworfen, der wie ein Katalysator wirkt. Sobald
ihr eure Kräfte gegen ihn anwendet, werdet ihr sie verlieren. Er
wird sie in sich aufsaugen. So macht er es seit Jahrhunderten!«

»Was sollen wir denn dann gegen ihn tun?«, fragte Phoebe.
Leo zog die Schultern hoch. Er hatte keine Antwort parat.
»Ich weiß nur eins – wenn er eure Kräfte besitzt, wird er

euch töten.«

»Kannst du uns hier rausholen – eine nach der anderen?«,

fragte Piper.

Leo schüttelte den Kopf. »Ihr seid hier gefangen. Nur ich bin

gegen seine Magie immun.«

»Na, großartig«, seufzte Paige, »ein mächtiger Dämon – und

wir dürfen unsere Kräfte nicht benutzen!«

Phoebe blickte sich auf dem Gang um. Vielleicht fand sie

etwas, das ihr bei der Lösung des Problems behilflich sein
konnte. Es musste doch etwas geben, das sich als Waffe gegen
Ford einsetzen ließ.

Schließlich erspähte sie etwas – leider hinter dem Dämon,

und der würde sie wohl kaum freiwillig vorbeilassen. Sie

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überlegte angestrengt, während Solomon Ford weiter seine
Hasstiraden auf die Hexen niederprasseln ließ.

»DAS REINIGENDE FEUER WIRD EURE SEELEN

RETTEN! MIR KÖNNT IHR NICHT ENTKOMMEN! ICH
WERDE EUER VOLLSTRECKER SEIN UND DIE
MENSCHHEIT VOR EUREN UNTATEN RETTEN. EUCH
HAT DIE HÖLLE AUSGESPIEN!«, wütete der Hexentöter.

Dann ließ er aus seinen Händen blassblaue Blitze schießen,

die Paige völlig überraschend direkt in die Brust trafen. Ihr
Körper wurde nach hinten geschleudert, bis er von der
verschlossenen Schwungtür aufgehalten wurde. Ohnmächtig
blieb sie liegen.

»Paige!«, schrie Piper und wollte sofort nach ihrer Schwester

sehen. Doch Phoebe hielt sie am Arm fest. »Leo soll sich um
sie kümmern. Ich brauche dich hier.«

Piper sah ihre jüngere Schwester verständnislos an, aber dann

wurde ihr klar, dass Phoebe einen Plan hatte. Und angesichts
der Gefährlichkeit des Gegners musste das Vorrang haben.

Leo wusste, was zu tun war. Er eilte zu Paige, um die

Verletzungen mit seinen Heilkräften zu lindern.

»Was sollen wir machen?«, flüsterte Piper.
»Du gehst auf die rechte Seite, ich auf die linke. Und wenn

ich ›los‹ sage, schiebst du ihm ein Krankenbett in die
Weichteile. Wir werden ja sehen, ob das nicht wirkt!«,
verkündete Phoebe angriffslustig.

Piper zweifelte an dem Erfolg ihres Vorhabens, aber sie hatte

gelernt, Phoebe zu vertrauen – nach einem sehr langen und
schmerzhaften Prozess. Doch das war jetzt vergessen, hier und
jetzt zählte nur eins – das Überleben!

Sie machten zwei Schritte in verschiedene Richtungen,

während Solomon Ford immer näher kam. Er breitete die Arme
aus, als wäre er Jesus persönlich.

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Phoebe wusste, dass er mit dieser Geste den Abstand zu den

beiden Schwestern verringern wollte. Sie mussten auf der Hut
sein.

Und schon hörten sie erneut die donnernde Stimme von

Solomon Ford.

»GEBT EUCH MEINER MACHT HIN, UND EUER TOD

WIRD SCHMERZLOS SEIN!«

»Das ist wirklich ein sympathischer Vorschlag«, sagte

Phoebe, »und ich habe auch definitives Interesse an einem
schmerzlosen Tod – in ungefähr sechzig Jahren!«

Solomon Ford sah sie mit seinen toten, silbernen Augen an.
»DER TAG DES JÜNGSTEN GERICHTS IST FÜR DICH

HEUTE GEKOMMEN!«

Um seine Finger zuckten blaue Blitze.
»Los!«, rief Phoebe ihrer Schwester zu.
Piper packte ein Krankenhausbett und schob es mit Schwung

in Richtung Solomon Ford. Er war davon so überrascht, dass er
durch den Stoß vornüber auf das Bett fiel.

Jetzt sah Phoebe ihre Chance gekommen. Sie nahm Anlauf,

rannte auf das Bett zu und stieß sich ab. Ihr rechter Fuß
berührte kurz das Aluminiumgestell. Sie nutzte es zum
Absprung und gab sich damit noch einmal einen weiteren
Schub. In der Luft überschlug sie sich, wie sie es im
Sportunterricht gelernt hatte.

Mit diesem Salto segelte sie über den abgelenkten Solomon

Ford hinweg.

Auf der anderen Seite schaffte sie es mit Mühe, sich auf dem

PVC-Boden abzurollen. Zwei-, dreimal überschlug sie sich
dabei.

Jeder einzelne Knochen im Körper tat ihr weh.
Doch es blieb keine Zeit sich auszuruhen.
Sie sprang auf die Füße.

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Solomon Ford hatte sich wieder erhoben und lehnte nun mit

dem Rücken an der Flurwand, um beide Schwestern im Auge
behalten zu können.

»Wie geht es Paige?«, rief Piper, ohne sich umzudrehen.
»Wird schon wieder«, antwortete Leo.
Während Ford in Pipers Richtung blickte, machte Phoebe

ein, zwei Schritte rückwärts, bis sie an den schweren
Elektronikkasten stieß, der auf Hartgummirollen an der Wand
gelehnt stand. Mit der Hand auf dem Rücken ertastete sie den
Einschaltknopf. Kurz darauf war ein leichtes Summen zu
hören.

Piper bemerkte, was vor sich ging. Und ihr wurde klar, dass

sie Solomon Ford so gut wie möglich ablenken musste, wenn
Phoebe eine Chance haben sollte.

»Was soll das alles? Was wollen Sie von uns?«, fragte die

junge Hexe den Dämon provozierend.

»EURE SEELEN, EURE KRÄFTE!«, knurrte Solomon Ford

ungeduldig. »SIE WERDEN MEIN, DENN SIE SIND
MEIN!«

»Geht’s etwas genauer?«, hakte Piper nach, während Phoebe

die beiden Elektro-Pads von der Konsole nahm. Dabei stießen
die metallenen Kontaktflächen aneinander, was ein deutlich
vernehmbares Klicken zur Folge hatte.

Solomon Ford drehte sich zu Phoebe.
Und Phoebe hob die Pads des Defibrillators.
»Bahn frei!«, rief sie todesmutig, wie sie es in unzähligen

Folgen von ›Emergency Room‹ gesehen hatte, und knallte Ford
die beiden Kontakte auf den hageren Körper.

Dann drückte sie die roten Knöpfe.
50.000 Volt jagten durch Solomon Fords Körper – 50.000

Volt, die eigentlich dazu gedacht waren, herztote Patienten
wieder ins Leben zurückzurufen. Phoebe hoffte, dass das auch
umgekehrt funktionierte.

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Der Dämon zuckte, als hätte er in eine Steckdose gefasst. Er

streckte seinen Rücken durch und wedelte hilflos mit den
Armen. Sein Körper zappelte unter der gewaltigen
Stromladung.

Phoebe zog die Pads wieder zurück, die mit Spiralkabeln an

der Elektro-Konsole befestigt waren.

Wie ein Stein fiel Solomon Ford um, direkt auf das Bett

hinter ihm.

Phoebe trat einen Schritt auf ihn zu, um sicherzugehen, dass

er auch wirklich erledigt war.

»Nicht!«, rief Leo vom anderen Ende des Flurs. »Du darfst

ihn nicht berühren!«

»Ist er nicht hinüber?!«, wunderte sich Phoebe. »Das kann

doch niemand überleben, noch nicht einmal ein Dämon!«

»Dafür ist Ford zu stark«, erklärte Leo. »Er wird sich bald

erholt haben. Wir müssen hier weg, bevor er aufwacht und
wieder versucht, euch die Kräfte zu entreißen.«

Phoebe nickte. Sie ließ die Pads fallen. Vorsichtig schlich sie

an dem Krankenbett vorbei, auf dem Ford lag. Sie ging zu
Piper hinüber, und gemeinsam liefen sie zu Leo. Er war gerade
dabei, Paige auf die Beine zu helfen.

»Wie geht’s?«, fragte Piper besorgt.
»Frag nicht! Mein Schädel platzt gleich«, knurrte Paige und

hielt sich den Kopf.

»Bist du fit genug, uns hier rauszubringen?«, wollte Phoebe

wissen.

»Wird schon gehen«, antwortete die junge Hexe, und sie

packte Phoebe am Arm. »So lange dieser Spinner nicht noch
mehr Stockwerke magisch verriegelt hält, kann ich euch
überall hinbringen.«

Leo legte den Arm um die Schulter seiner Frau. »Das werden

wir gleich sehen.«

Einen Herzschlag später waren sie verschwunden.

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8

K

AUM MATERIALISIERTEN DIE

Halliwell-Hexen in ihrem Haus,

da begannen sie auch schon, auf Leo einzureden.

»Wer ist dieser Solomon Ford?«, wollte Piper wissen.
»Woher kennst du ihn überhaupt?«, verlangte Phoebe zu

erfahren.

»Und wieso kennen wir ihn nicht, obwohl du ihn kennst?«,

hakte Paige nach.

Leo hob abwehrend die Arme. »Nun mal langsam. Eins nach

dem anderen. Setzt euch erst einmal.«

Die Schwestern nahmen Platz. Leo begann, vor ihnen auf

und ab zu gehen, während er versuchte, sie auf den neuesten
Stand zu bringen. »Der Rat der Ältesten hat mich heute
Morgen zu sich gerufen. Es hat eine Verschiebung gegeben.
Eine Verschiebung in der Balance zwischen Gut und Böse.«

»Da verschiebt sich doch dauernd irgendetwas«, warf Phoebe

ein.

»Aber diesmal ist es ernst«, fuhr Leo fort. »Ich war in Neu-

England, in der Nähe von Salem. Ihr wisst, was das für ein Ort
ist.«

Die Hexen nickten. Sie hatten nicht nur davon gehört,

sondern bei früheren Fällen auch schon damit zu tun gehabt.

»Damals wurden viele Frauen als Hexen hingerichtet.

Heutzutage ist man natürlich überzeugt, dass diese Frauen samt
und sonders unschuldig waren. Aber das ist nur die halbe
Wahrheit – es gab in Salem wirklich Hexen. Eine von ihnen,
Tanith, hatte ein Auge auf Solomon Ford geworfen, den
Prediger einer obskuren urchristlichen Sekte, die den
Menschen ständig mit dem Höllenfeuer drohte. Doch Solomon
war verheiratet – und treu.«

»Und was hat das mit uns zu tun?«, fragte Paige ungeduldig.

Das Ganze klang wie eine blöde Seifenoper.

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»Tanith belegte Maria Ford, Solomons schwangere Frau, mit

einem Fluch. Sie starb kurz darauf am Gelbfieber. Solomon ist
darüber nie hinweggekommen.«

»Aber das ist doch schon Jahrhunderte her!«, rief Phoebe.
Leo wedelte mit seinen Händen herum, so wie er es immer

tat, wenn er nervös war. »Solomon schwor Rache für den Tod
seiner Frau. Er machte es sich zur Aufgabe, alle Hexen zu
finden und zu töten – egal, wie lange es dauern würde.«

»Das ist doch absurd«, wandte Paige ein. »Man kann doch

aber nicht alle Hexen in einen Topf werfen. Gut und Böse ist
doch nicht dasselbe. Für seine Verwandtschaft kann man
schließlich nichts.«

»Solomon Ford sieht das anders«, erklärte Leo. »Er schwor

sich damals, alle Hexen zu vernichten. Dazu war er sogar
bereit, einen Bund mit dem Teufel einzugehen. Dieser gab ihm
die Macht, Hexen ihre Kraft zu rauben.«

»Das ist ja eine völlig verquaste Geschichte«, bemerkte

Piper. »Ein Prediger, der zum Dämon wird, um Hexen zu
verfolgen.«

»Es wird noch schlimmer«, ergänzte Leo. »Innerhalb von

knapp fünfzig Jahren tötete Solomon Ford fast achtzig Hexen
in Amerika, England und Deutschland. Erst dann gelang es
einer Gruppe mutiger Männer, ihn zu töten und unter einem
gesegneten Grabstein zu beerdigen. Dadurch wurde die
Balance zwischen Gut und Böse wieder hergestellt. Das ist
schon mehr als dreihundert Jahre her.«

»Okay, okay«, sagte Phoebe. »Damit haben wir die

Grundzüge der Geschichte kapiert. Aber wie ist er aus seinem
Grab entkommen? Und was will er von uns?«

Leo hob die Schultern. »Ich weiß es nicht. Auf jeden Fall

muss ihn ein mächtiger Dämon geweckt haben, dessen Ziel es
ist, euch zu töten. Mehr kann man bis jetzt nicht sagen.«

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Ein paar Sekunden lang war es still. Wenn Solomon Ford

wirklich schon achtzig Hexen getötet hatte, dann durfte man
ihn keinesfalls unterschätzen. Er war ein Profi.

Piper hatte genug gehört. »Dann wollen wir mal

nachschauen, was das Buch der Schatten zu dem Thema zu
sagen hat.«

Sie stand auf, und im selben Moment klingelte das Telefon.
Paige nahm ab. »Hallo?«
Sie horchte zwei, drei Sekunden lang, dann sagte sie: »Okay,

Darryl, ich drücke mal auf den Lautsprecher, damit auch die
anderen dich verstehen können.«

Paige bediente den Knopf am Telefon und legte den Hörer

wieder auf.

»Hi, hier ist Darryl«, erklang die sympathische Stimme des

jungen Polizeibeamten aus dem Apparat. »Seid ihr alle da?«

»Das Halliwell-Trio samt hauseigenem Wächter des Lichts

ist komplett«, verkündete Piper.

»Gut«, fuhr Darryl fort. »Es gibt ein paar Vorkommnisse der

letzten Tage, die ich euch in die Schuhe schieben würde, wenn
ich nicht wüsste, dass ihr die Finger von dummen Streichen
lasst.«

Die Schwestern sahen sich an.
»Was meinst du?«, fragte Phoebe.
»Fliegende Hunde, explodierende Cheerleader-Pompoms,

Autos, die sich in Pferde verwandeln – so in der Richtung.«
Darryl klang hörbar genervt. »Es wird zunehmend schwerer,
meine Vorgesetzten davon zu überzeugen, dass es sich nicht
um Hexerei handelt.«

Jeder der Frauen war klar, was das bedeutete: Darryl war

eine Art Schutzschild, ihre Garantie, dass niemand aus den
seltsamen Ereignissen in San Francisco die richtigen Schlüsse
zog. Nur einmal hatte ein Dämon dafür gesorgt, dass die
Identität der Halliwells publik geworden war. Es hatte nicht nur
Chaos ausgelöst, sondern am Ende auch Prues Leben gekostet.

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»Wir haben mit dieser Sache nichts zu tun«, erklärte Paige.
»Das glaube ich euch ja auch«, antwortete Darryl, »aber

wenn ihr es nicht seid, dann wildern derzeit andere Hexen auf
eurem Territorium. Und diese Hexen sind sehr unvorsichtig.«

Piper warf entnervt die Arme in die Luft. »Na prima! Erst ein

gefährlicher Hexentöter – und jetzt auch noch Konkurrenz!«

»Wie bitte?«, fragte Darryl.
»Nicht dein Problem«, antwortete Phoebe, »wir kommen

schon damit klar.«

»Kannst du versuchen, zwischen den Hexenstreichen eine

Verbindung herzustellen – irgendetwas, das uns hilft, die
Konkurrenz ausfindig zu machen?«, bat Piper.

»Keine Sorge, ich arbeite daran. Genau wie Mörder und

Taschendiebe arbeiten auch Hexen nach dem immer gleichen
Strickmuster.«

Phoebe streckte dem Telefon die Zunge heraus.
»Nett von dir«, sagte Piper, »wir melden uns, sobald wir

etwas wissen.«

Paige unterbrach die Verbindung.
Die Hexen sahen sich an.
»Er vergleicht uns mit Mördern und Ladendieben?«, fragte

Phoebe ungläubig.

Paige winkte ab. »Wichtig ist doch, dass wir es mit zwei

Problemen gleichzeitig zu tun haben – es geht ein Hexentöter
um und ein paar Amateur-Hexen mischen sich in unsere Arbeit
ein.«

»Das ist noch nicht das Schlimmste«, druckste Leo herum.
Piper sah ihren Ehemann überrascht an. »Noch mehr

schlechte Nachrichten?«

»Das Pulver, das ihr im Krankenhaus eingeatmet habt...«,

begann Leo. Er suchte nach den richtigen Worten. »Seine
Wirkung dauert an. Sie ist nicht zeitlich begrenzt.«

»Und das heißt?«, wollte Paige wissen.

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»Solange Solomon Ford lebt«, erklärte Leo, »dürft ihr in

seiner Gegenwart eure Kräfte nicht benutzen. Sonst werdet ihr
sie verlieren – und danach euer Leben.«

Jetzt mussten die drei Hexen tief durchatmen.
»Verstehe ich das richtig«, sagte Phoebe schließlich, »wir

haben es nicht nur mit einem übermächtigen Gegner zu tun –
sondern wir dürfen ihn auch nicht mit unseren Zauberkräften
bekämpfen?«

»Leider«, gab Leo zu.
»Was sollen wir denn sonst machen?«, schimpfte Paige.

»Ihm eins mit dem Nudelholz überbraten?«

»Wir sind schließlich Hexen. Hexen hexen. Das ist unser

Job!«, grummelte Piper.

»Was uns zu dem anderen Problem führt«, begann Paige.

»Was machen wir mit unserer Konkurrenz?«

Phoebe seufzte. »Vielleicht können wir zwei Fliegen mit

einer Klappe schlagen und diesen Solomon Ford dazu bringen,
die Mitstreiterinnen zu beseitigen.«

»Daran solltet ihr mal denken«, mischte sich Leo ein. »Es ist

noch völlig unklar, ob die anderen Hexen überhaupt böse sind.
Und Solomon Ford hat es anscheinend nur auf euch
abgesehen.«

Piper musste ihrem Ehemann Recht geben. »Es ist wohl das

Beste, wenn wir jetzt im Buch der Schatten nachschlagen und
uns eine Strategie überlegen.«

Die anderen nickten.
Eine Strategie.
Die konnten sie jetzt wirklich brauchen.

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9

E

S WURDE SCHON LANGSAM

dunkel draußen, als Sandy und

D’reen endlich am Haus von Trishs Eltern eintrudelten.

»Wo wart ihr denn so lange?«, wollte Trish wissen.
»Entschuldigung«, zischte D’reen genervt, als sie sich zu

dritt auf den Weg in den Keller machten, wo sich Trish ein
cooles Zimmer eingerichtet hatte. »Macht das Buch der
Schatten
vielleicht auch unsere Hausaufgaben?«

»Natürlich«, kicherte Trish, »wir müssen nur den richtigen

Zauberspruch finden.«

Sandy schnappte sich eine Diät-Cola aus dem Kühlschrank

und ließ sich auf das alte Sofa fallen. »Ich weiß nicht – die
Sache mit Wentworth war ja ganz lustig, aber vielleicht sollten
wir trotzdem die Finger von der Magie lassen.«

»Wieso denn?«, fragte Trish empört. »Schließlich ist

Wentworth ja wieder ganz der Alte, oder? Also hat der Spruch
doch komplett funktioniert.«

Da mussten Sandy und D’reen ihrer Freundin Recht geben.

Am späten Nachmittag war in den Lokalnachrichten verkündet
worden, dass Mr. Wentworth wieder gesund und seine alte
Gesichtsfarbe zurückgekehrt sei. Das war also erledigt!

Trish hatte mit Kreide auf den Betonboden des Kellers ein

Pentagramm gemalt. Verschiedene magische Zeichen, die sie
dem Buch der Schatten entnommen hatte, waren in die Spitzen
gekritzelt. Es war gar nicht so einfach gewesen, die Runen und
Hieroglyphen richtig abzumalen. Der Verfasser des Buches
musste eine ziemliche Sauklaue gehabt haben. Wahrscheinlich
war das Buch in ziemlicher Hektik geschrieben worden.

Eine einzelne schwarze Kerze brannte in der Mitte des

Pentagramms.

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»Fangen wir an«, entschied Trish. »Ich möchte das hier

durchgezogen haben, bevor meine Eltern vom Bowling nach
Hause kommen.«

Die drei Mädchen nahmen im Schneidersitz um das

Pentagramm herum Platz und fassten sich an den Händen.
Trish hatte das Buch der Schatten aufgeschlagen auf ihren
Oberschenkeln liegen.

»Wir alle wissen, was wir heute Abend wollen«, murmelte

Trish.

»Ja«, antworteten Sandy und D’reen, die solche Rituale

schon dutzende Male mitgemacht hatten.

Es hatte nur bisher noch nie funktioniert.
»Wir, die Hexen der Buford High, rufen die Schwarzen

Mächte«, begann Trish.

»Wir rufen die Schwarzen Mächte«, echoten die beiden

anderen Mädchen.

Sie begannen ihre Körper leicht hin und her zu wiegen.
»Die Schwarzen Mächte mögen uns beistehen und uns zu

Willen sein«, fuhr Trish fort.

»Uns beistehen und uns zu Willen sein.«
Ein Windstoß fegte durch den Keller, obwohl es kein Fenster

gab.

Sandy fröstelte, und einen Moment lang dachte sie daran, den

Hexenkreis zu verlassen. Es war ihr unheimlich.

Aber wie würde sie dann vor Trish und D’reen dastehen?
Jetzt begann Trish mit dem eigentlichen Zauberspruch.

»Die Macht der Liebe wünschen wir,
unsere reinen Seelen geben wir,
auf dass unsere Herzen werden erhört,
und das scharlachrote Glück uns widerfährt!«

Sandy und D’reen wiederholten den Vierzeiler.

Der Wind legte sich.

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Die Kerze ging aus.
Der Geruch von Wachs verbreitete sich im Keller.
Ansonsten geschah – nichts.
D’reen öffnete langsam die Augen, die sie aus Angst

während der gesamten Zeremonie geschlossen hatte.

»War’s das?«, flüsterte Sandy.
Trish ließ die Hände ihrer Freundinnen los. »Magie ist

einfacher, als ich dachte.«

D’reen mühte sich, aus dem Schneidersitz hochzukommen.
»Ob es geklappt hat, werden wir morgen ja sehen.«
Die Mädchen sahen sich gegenseitig an.
Es war ein unausgesprochener Pakt.
Die Zaubersprüche des vergangenen Tages waren nur

Kinderkram gewesen. Diesmal ging es ums Ganze.

Diesmal waren sie echte Hexen!

»Das gibt es doch nicht!«, stöhnte Phoebe und schlug entnervt
das Buch der Schatten zu. »Nicht eine Zeile über Solomon
Ford!«

»Wie ist das möglich?«, fragte Piper ihren Ehemann, der sich

mit so etwas in der Regel ganz gut auskannte.

Leo legte den Kopf schräg. »Na ja, vielleicht liegt es daran,

dass Solomon Ford schon vor so langer Zeit vernichtet worden
ist. Es war ja nicht mehr nötig, ihn im Buch zu verzeichnen.«

»Super«, knurrte Piper, »vielleicht sollten sich die Mächte

des Guten mal Gedanken über eine Neuauflage machen.«

»Und wie jemand an Zaubersprüche kommen kann, die

eigentlich nur im Buch der Schatten stehen, bleibt damit auch
ungeklärt«, fügte Phoebe hinzu.

Piper dachte angestrengt nach. »Leo, wie hat uns Solomon

Ford heute im Krankenhaus eigentlich gefunden?«

»Er wird von Magie angezogen«, erklärte der Wächter des

Lichts. »Sobald eine Hexe ihre Kräfte einsetzt, kann er sie
orten. Der Rest ist eine Kleinigkeit.«

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Piper rieb sich die Stirn und schloss die Augen. »Das

bedeutet doch Folgendes: Da wir unsere Kräfte nicht einsetzen
dürfen und zweitklassige Ersatzhexen in der Stadt ihr Unwesen
treiben, wird Ford doch früher oder später mit ihnen
zusammenstoßen, oder?«

Leo nickte unsicher. Er wusste nicht genau, worauf seine

Ehefrau hinauswollte.

Aber Phoebe ahnte, worum es ging.
»Wir müssen also nur die anderen Hexen finden, ihnen

folgen und abwarten, bis sie wieder aktiv werden. Damit haben
wir Solomon Ford praktisch an der Angel.«

Paige nickte. »Der Plan gefällt mir. Statt rumzusitzen und auf

Fords nächste Aktion zu warten, gehen wir in die Offensive.«

»Ohne unsere Kräfte?«, schränkte Piper kritisch ein.
Sie wandte sich an ihren Gatten. »Leo, du musst mit dem Rat

der Ältesten Kontakt aufnehmen. Es muss irgendeine
Möglichkeit geben, Solomon Ford zu besiegen, ohne das
Risiko, unsere Kräfte zu verlieren.«

Leo nickte.
»Ich werde mich darum kümmern. Aber lasst euch auf nichts

ein, bevor ich wieder zurück bin. Ihr seid in großer Gefahr, und
auch wenn meine eigenen Kräfte sehr beschränkt sind, werdet
ihr sie sicher brauchen können.«

Piper gab ihrem Mann einen Kuss. »Wir passen schon auf

uns auf, Liebling. Und jetzt marsch!«

Leo verzog das Gesicht und löste sich in Luft auf.
»Wir sind so was von ausgetrickst«, stöhnte Paige.
»Ich habe auch kein gutes Gefühl bei der Sache«, stimmte

Phoebe zu.

»Jetzt ist aber genug!«, rief Piper zerknirscht. »Wir werden

diese Sache so gut überstehen wie alle bisherigen Angriffe
auch. Und Phoebe, von dir will ich keinen Ton mehr hören.
Früher hast du auch vor keinem Kampf gekniffen, obwohl
deine Kräfte noch nicht sehr entwickelt waren.«

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Da hatte Piper in der Tat Recht. Im Laufe der Jahre hatten

sich die Fähigkeiten der drei jungen Hexen so sehr vermehrt,
dass sie alle Hindernisse bequem nebenbei erledigen konnten.
Börp und Barf waren für sie keine wirkliche Herausforderung
gewesen.

»Eigentlich stimmt das«, erklärte Phoebe. »Bis jetzt haben

wir uns immer zu helfen gewusst, wenn es eng wurde. Warum
sollte es diesmal anders sein? Also, was ist der nächste
Schritt?«

»Wir könnten mit einem Zauber die anderen Hexen ausfindig

machen«, schlug Paige vor und biss sich gleich darauf auf die
Zunge. »Ach so, das geht ja nicht.«

Piper drehte sich in Richtung Dachkammertür. »Kommt mit

runter. Ich habe einen Anruf zu erledigen. Wir machen das jetzt
so, wie wir es immer in den Krimis gesehen haben.«

»Bitte!«, bettelte Brad Nichols in einem Mitleid erregenden
Tonfall. »Bitte, bitte, bitte!«

»Nein!«, blaffte Sandy, und sie konnte es kaum fassen, dass

sie gerade dem begehrtesten Jungen der Schule eine Abfuhr
erteilte. »Und jetzt lass mich endlich in Frieden!«

Sie lief so schnell es ging über den Flur davon.
»Aber ich liebe dich doch!«, jammerte Brad nun aus vollem

Hals.

Die anderen Schüler blieben wie vom Donner gerührt stehen.

Es war ja schon ungewöhnlich genug, dass ein Quarterback
seine Gefühle durch die halbe Schule schrie – aber Brad
Nichols und Sandy Caspar?

Das war ein klarer Fall von ›Der Schöne und das Biest‹.
Nach der ersten Schrecksekunde ging das Gekicher und

Geflüster los. Brad machte sich seinen coolen Ruf, den er über
Jahre aufgebaut hatte, an einem Vormittag zunichte.

Der breitschultrige Junge sackte in sich zusammen, als wäre

ihm gerade sein Lieblingskaninchen gestorben.

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Er hatte ja selber keine Ahnung, was mit ihm los war. Heute

Morgen war er mit so einem komischen Gefühl aufgewacht,
und als er dann Caroline Spencer über den Weg gelaufen war,
hatte er sie kaum wahrgenommen.

Aber dann war er Sandy begegnet. Und plötzlich war ihm

klar geworden, was das für ein Gefühl war – es war Liebe!

Er liebte Sandy Caspar!
In diesem Moment kam Trish O’Neill durch den

Haupteingang der Schule.

Brad sah sie – und sein Herz machte einen Sprung.
Er liebte Trish! Auch!
Es machte ihm keinen Moment lang Sorgen, wie verrückt das

war. Es erschien ihm wie das Natürlichste von der Welt,
plötzlich zwei Mauerblümchen zu verehren.

Er rannte auf Trish zu: »Trish! Trish!«
Sie hatte ihn noch nicht ganz wahrgenommen, da stand er

schon vor ihr. »Hi, Trish!«

Sie wurde tatsächlich rot. »Hi, Brad.«
Mit einer schnellen Bewegung nahm er ihr Gesicht in beide

Hände und presste seinen Mund auf ihren.

Mit Zunge!
Vor allen Schulkameraden!
Oft genug hatte sich Trish diese Szene in ihren Träumen

ausgemalt, aber so ekelhaft hatte sie sich das nicht vorgestellt.
Was dachte sich dieser Typ eigentlich? Wo blieb da die
Romantik?

Sie hatte Mühe, seinen athletischen Körper von sich

wegzustoßen. Als es ihr schließlich gelang, atmete sie schwer:
»Was... was soll das denn?«

»Ich liebe dich!«, verkündete Brad mit einem naiven

Lächeln.

Trish war sich komplett bewusst, dass die gesamte Schule

diesem peinlichen Schauspiel zusah – mit Ausnahme von

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Caroline Spencer, die gerade ihren Spind zuschlug und wütend
davonlief.

Trish war etwas abgebrühter als Sandy. Klar, sie hatte sich

Brads Reaktion auf den Zauberspruch etwas weniger auffällig
erhofft, aber sie war gewillt, das Beste daraus zu machen.

Sie lächelte ihn an. »Okay, Loverboy, dann darfst du mir die

Bücher in die Klasse tragen.«

Brad grinste wie ein Hund, dem man gerade einen Knochen

zwischen die Zähne gesteckt hatte. Er griff nach ihren
Unterrichtsmaterialien. Doch er kam nicht mehr dazu sie
anzufassen.

Denn jetzt erschien D’reen Isaacs auf der Bildfläche.
Und das Drama ging in seinen dritten Akt.
Trish gefror das Lächeln im Gesicht, als sie sah, wie Brads

Kopf sich fast um hundertachtzig Grad drehte, um D’reen im
Auge zu behalten, die zu ihrem Spind dackelte. Dabei sah
D’reen sich permanent um, weil ihr auffiel, wie ruhig und
fassungslos ihre Mitschüler dreinschauten.

Wie von einem unsichtbaren Band gezogen, marschierte

Brad hinter ihr her.

Trishs Augen weiteten sich. Es war schon vorher eine

Katastrophe, aber jetzt schien es noch schlimmer zu kommen.

»D’reen!«, rief Brad entzückt.
Das junge Mädchen drehte sich weg. Die Aufregung war

einfach zu viel für sie. Noch nie hatte Brad Nichols sie
angesprochen.

Noch nie!
Sie versuchte, nicht vor Panik ohnmächtig zu werden.
Und wieder plumpsten die drei Worte aus Brads Mund: »Ich

liebe dich!«

Trish fielen die Bücher aus der Hand auf den

Linoleumboden.

Der Liebeszauber hatte funktioniert – und war doch gewaltig

in die Hose gegangen!

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10

E

S WAR EIN

G

ROßRAUMBÜRO

wie viele andere auch. Es hatte

sogar gewisse Ähnlichkeiten mit den Revieren, die man in
Serien wie ›New York Cops‹ und ›Die Straßen von San
Francisco‹ zu sehen bekam. Überall rannten Beamte hin und
her. Unter ihren Achseln steckten die Dienstwaffen in den
Holstern, und an ihren Gürteln waren die Polizeimarken
festgeklemmt. Telefone klingelten, veraltete PC-Tastaturen
klapperten, und hier und dort wurde ein widerspenstiger
Verdächtiger durch den Raum geschoben.

»Ihr wisst, dass ich euch nicht gerne auf dem Revier sehe«,

murmelte Darryl, damit seine Kollegen ihn nicht hörten.
»Irgendwann wird jemand die berechtigte Frage stellen, was
ich eigentlich immer mit den drei Halliwells zu tun habe, die
ständig in Polizeiberichten auftauchen, aber nie festgenommen
werden.«

Phoebe zwinkerte mit ihren Augen. »Sag doch einfach, wir

sind deine willenlosen Liebessklavinnen, die es auch tagsüber
ohne dich einfach nicht mehr aushalten können.«

Wie auf Kommando seufzten Piper und Paige sehnsüchtig.
»Pst!«, zischte Darryl, als er sah, wie ein Kollege sich zu ihm

umdrehte. »Schluss mit dem Unsinn!«

Piper übernahm jetzt das Ruder. »Okay, wir brauchen deine

Hilfe – wir müssen die anderen Hexen so schnell wie möglich
finden.«

Sie sprach extra leise, um keine Aufmerksamkeit zu erregen.
»Habt ihr für so was nicht einen eurer Zaubersprüche

parat?«, fragte Daryl überrascht.

Paige winkte ab. »Ist momentan nicht möglich.«
»Was hast du denn bisher herausgefunden?«, wollte Phoebe

wissen.

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Darryl deutete auf die andere Seite des Großraumbüros.

»Lasst uns in den Besprechungsraum gehen. Da ist die
Straßenkarte.«

Die drei Hexen folgten dem gut aussehenden Polizisten wie

kleine Entchen ihrer Mama. Bevor Phoebe als Letzte durch die
Tür ging, drehte sie sich noch einmal zu den Beamten um, die
ihr fasziniert nachgesehen hatten. Sie leckte sich lasziv über die
Lippen, zwinkerte ihnen zu, dann schloss sie die Tür hinter sich
zu.

Es machte ihr einen Höllenspaß, sich vorzustellen, was die

Kollegen von Darryl wohl jetzt denken mochten.

Phoebe genoss es, manchmal ein unartiges Mädchen zu sein.

Und da sie nun wieder Single war, konnte sie sich die kleinen
Spielereien auch erlauben.

Im Besprechungsraum standen diverse Tische, die in U-Form

aneinander gerückt worden waren. Extrem unbequeme
Plastikstühle vervollständigten die Einrichtung. Neonröhren
tauchten den Raum in ein fahles Licht.

Dort, wo normalerweise der Revierleiter stand, hing eine

riesige Karte von San Francisco an der Wand. In dieser
steckten hunderte von Fähnchen in den verschiedensten
Farben.

Darryl stellte sich neben die Karte, damit die Schwestern

sehen konnten, worauf er zeigte.

»Hier ist der Pudel geflogen«, begann er, nur um sofort den

Kopf zu schütteln. »Ich kann nicht glauben, dass ich das gerade
tatsächlich gesagt habe.«

Auch Paige und Phoebe konnten sich ein Kichern nicht

verkneifen.

»Da wo die... die beigefarbene Nadel steckt?«, wollte Piper

wissen.

Darryl war ein bisschen verlegen. »Genau. Das Problem ist,

dass wir an so vielen Fällen gleichzeitig arbeiten, dass wir sie
mit verschiedenen Farben unterscheiden müssen. Und langsam

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gehen uns die Farben aus. Nach dem, was ich gehört habe, hat
der Einkauf gerade Stecknadeln in ›mauve‹ und ›verbranntem
Zimt‹ bestellt.«

»Ihr solltet echt auf Computer umstellen«, stellte Phoebe

resolut fest. »Da hätte jeder Beamte eine eigene Stadtkarte auf
seinem PC, und das Problem wäre gelöst.«

»Wem sagst du das«, seufzte Darryl. »Aber ich denke, die

Haushaltsprobleme der Stadt San Francisco sind nicht euer
Hauptanliegen, oder?«

»Eher die magischen Zwischenfälle«, nickte Piper.
Darryl deutete auf eine weitere beigefarbene Nadel. »Hier

sind einer Schülerin ihre Pompoms explodiert – Gott sei Dank,
während sie im Kofferraum des Wagens ihres Vaters lagen. Es
gab keinerlei Hinweise auf Explosivstoffe.«

Dann kam der nächste Fall dran. »Hier hat ein Fisch in einem

Zoogeschäft angefangen zu singen.«

»Unter Wasser?«, fragte Paige fasziniert.
»Nein«, antwortete Darryl, »er kam mit dem Maul aus dem

Wasser. Sonst hätte es ja niemand gehört.«

»Und was hat er gesungen?«, wollte Phoebe wissen.
Darryl war sichtlich genervt. Er mochte Phoebe, aber ihre

sorglose Ader vertrug sich gar nicht mit seiner
Polizistenmentalität. Was schade war, denn sie gefiel ihm
eigentlich sehr gut.

»Ist das relevant?«, fragte er etwas gereizt.
»Man weiß nie, welche Hinweise sich später als

lebenswichtig herausstellen«, verkündete Phoebe mit gespielt
ernsthaftem Tonfall, was ihr einen strafenden Blick von Piper
einbrachte.

»Na gut«, brummte Darryl, »es war ›Yellow Submarine‹ von

den Beatles.«

Gemeinsam gingen sie noch drei, vier weitere Zwischenfälle

durch, die sich in der Zwischenzeit ereignet hatten.

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Als sie fertig waren, deutete Piper auf die Reihe von

beigefarbenen Nadeln auf der Karte. »Also, wenn ich das
richtig sehe, beschränken sich die Streiche auf ein Gebiet um
Salisbury, wo Mr. Wentworth an der Buford High grün
angelaufen ist, bis zu den Palisade Heights, wo der Hund
fliegen lernte.«

»Mit einer Ausnahme«, sagte Paige und deutete auf eine

Nadel weiter oben auf der Karte, »die Flasche Cola, die sich im
Supermarkt plötzlich in Essig verwandelt hat, liegt außerhalb
dieser Zone.«

»Kann das natürliche Ursachen gehabt haben?«, fragte Piper.

»Irgendein Fehler bei der Abfüllung?«

»Das dachten wir zuerst auch«, nickte Darryl, »aber dann hat

sich der Essig im Labor wieder von selbst in Cola
zurückverwandelt. Und das ist chemisch nicht zu erklären.«

Phoebe räusperte sich auffällig.
Piper und Paige drehten sich zu ihr um.
Phoebe setzte den Dackelblick auf, den sie früher nur

gebrauchte, wenn sie mal wieder einen Kratzer in Prues Wagen
gefahren hatte. »Sorry, aber das mit der Cola war ich.«

»Du?«, fragte Paige ungläubig, auch wenn es kein Wunder

war – Phoebe neigte dazu, ihre Kräfte impulsiv zu verwenden.

Die junge Hexe hob entschuldigend die Schultern. »Ich

wollte eine Cola, und diese blöde Zicke hat mir die letzte
Flasche vor der Nase weggeschnappt. Da wollte ich nur, dass
ihr das Gesöff im Hals stecken bleibt.«

Piper schüttelte den Kopf. Es war wirklich kaum zu glauben,

wie verantwortungslos Phoebe manchmal war.

Aber darüber konnte man später noch streiten.
»Damit sind also alle unerklärten magischen Vorkommnisse

zwischen den Heights und Salisbury angesiedelt«, fasste Darryl
zusammen, während er die Nadel für Phoebes Cola-Trick
entfernte. »Kriminalistische Standardverfahren würden den

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oder die Täter nun irgendwo in der Mitte dieses Gebietes
vermuten.«

Phoebe trat an die Karte und sah sie an wie ein Fuchs, der auf

ein Kaninchen starrte. »Nein.«

»Nein, was?«, fragte Paige.
Phoebe deutete auf die breite Reihe an Nadeln. »Das Areal

ähnelt einer Schlange. Es ist kein Kreis. In einem Kreis würde
ich den Übeltäter in der Mitte vermuten, aber auf einer lang
gezogenen Linie sieht mir das eher nach einer Route aus.«

»Gut mitgedacht«, musste Darryl zugeben. »Warum sollte

jemand immer fünfhundert Meter nach links und dann
fünfhundert Meter nach rechts gehen? Viel wahrscheinlicher
ist, dass wir es mit jemandem zu tun haben, der entweder in
den Heights wohnt, und dann in Richtung Osten unterwegs ist,
oder täglich von Salisbury nach Westen muss.«

»Ein Postbote oder so was?«, warf Paige in den Raum.
»Möglich«, murmelte Darryl, aber sein kritischer Blick

machte klar, dass er selber nicht daran glaubte.

Es war Piper, die zwei und zwei zusammenzählte. »Es ist

jemand von der Schule.«

»Wie kommst du darauf?«, wollte Paige wissen.
»Zu viele Fälle haben direkt oder indirekt mit der Buford

High zu tun«, erklärte Piper. »Nicht nur der Lehrer Mr.
Wentworth. Auch die Cheerleaderin mit den explosiven
Pompoms kam von dort.«

Auch Darryl fand das logisch.
»Dann wäre die Strecke zu den Palisade Heights quasi der

Heimweg. Das ergibt Sinn.«

»Bleibt die Frage – Lehrer oder Schüler?«, stellte Phoebe

fest.

»Fliegende Pudel und explodierende Pompoms?«, murmelte

Piper genüsslich. »Ich denke, da können wir geruhsam auf
Teenager setzen – oder kindische Hexen im Zucker-Rausch.«

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Für den Seitenhieb bekam sie von Phoebe einen Knuff in die

Rippen.

»Keine schlechte Theorie«, meinte Darryl. »Aber es ist eben

nur eine Theorie. Vielleicht liegen wir auch ganz falsch, und es
ist ein verliebter Pizzabote.«

»Irgendwo müssen wir ja anfangen«, meinte Piper. »Und

zumindest ist diese Spur wenn schon nicht heiß, dann doch
zumindest nicht eiskalt.«

»Da ist noch ein Problem«, sagte Darryl, während er in

einem Aktenordner blätterte, den er von seinem Schreibtisch
mitgenommen hatte.

»Und das wäre?«, hakte Paige nach.
»Die Buford High hat fast tausendfünfhundert Schüler und

Schülerinnen. Sofern die Verantwortlichen nicht mit Besen und
Kupferkessel herumlaufen, sucht ihr nach einer Nadel im
Heuhaufen.«

Piper seufzte. »Das wird ein hartes Stück Arbeit.«
»Und Solomon Ford hat den klaren Vorteil – er kann seine

Kräfte einsetzen – wir nicht«, fügte Paige hinzu.

»Solomon wer?«, fragte Darryl.
»Das willst du gar nicht wissen«, winkte Piper ab. »Wir

sollten jetzt gehen. Danke für die Hilfe, Darryl.«

»Von mir auch«, sagte Paige.
»Und von mir erst«, schnurrte Phoebe.
Der junge Beamte führte die drei Frauen wieder aus dem

Besprechungsraum zurück in das Großraumbüro.

Er konnte nicht sehen, wie Phoebe, die wieder am Ende der

kleinen Schlange lief, schnell noch den obersten Knopf ihrer
Bluse öffnete, nur um ihn dann vor den Augen der
versammelten Polizistenmannschaft wieder zu schließen.

Als hätte sich im Besprechungsraum weit mehr ereignet als

nur eine Besprechung.

»Ist er dir gefolgt?«, zischte Trish.

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»Ins Mädchenklo?!«, flüsterte Sandy. »Quatsch.«
»Mittlerweile würde ich dem verliebten Trottel alles

zutrauen«, stellte D’reen kategorisch fest.

Die drei Freundinnen saßen wieder im Waschraum der

Buford High. Diesmal wollten sie allerdings keine
Hexensprüche ausprobieren, sondern endlich ihre Ruhe haben.

Den ganzen Vormittag lang war Brad Nichols ihnen wie ein

Hündchen gefolgt. Ständig hatten seine Aufmerksamkeiten
zwischen Trish, Sandy und D’reen gewechselt. Er hatte ihnen
Mittagessen ausgegeben, die Bücher getragen – sogar
schnulzige Liebeslieder gesungen.

Und das vor der gesamten Schule!
Es war ein Desaster!
Und der sentimentale Idiot ließ sich nicht einmal abschütteln.

Wann immer sie glaubten, sie hätten es geschafft, grinste er
plötzlich hinter einer Ecke hervor.

»Ich komme mir vor wie bei ›Bezaubernde Jeanie‹«, sagte

Sandy.

»Wieso?«, wollte D’reen wissen, die nicht viel Fernsehen

guckte.

»Na ja«, kam die Antwort, »bei Jeanie haben die Zaubereien

doch auch immer unvorhergesehene Folgen.«

»Unvorhergesehen ist gut«, knurrte Trish, »katastrophal trifft

es eher. Was ist da bloß schief gegangen?«

Sie fühlte sich für diesen Fehlschlag besonders

verantwortlich. Schließlich hatte sie das Buch auf dem
Trödelmarkt entdeckt.

»Eigentlich nichts«, meinte D’reen. »Wir wollten, dass sich

Brad hoffnungslos in uns verliebt. Und genau das ist passiert.«

»Stimmt«, pflichtete Sandy bei. »Wir hätten uns genauer

überlegen sollen, welche Konsequenzen der Spruch haben
könnte.«

»Ich glaube eher, mit dem Buch stimmt was nicht«,

verkündete Trish. »Ich meine, es kann doch von keiner Hexe

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erwartet werden, dass sie jede mögliche Auswirkung eines
Zaubers in Betracht zieht. Dann kann man die Sache ja gleich
lassen.«

»Wie dem auch sei«, fand D’reen, »wir müssen die

Zaubersprüche auf dem schnellsten Weg wieder rückgängig
machen, sonst kommen wir in Teufels Küche.«

Trish atmete tief durch. »Okay, es ist wahrscheinlich

wirklich das Beste. Kommt heute Abend zu mir, und wir
werden versuchen, die Dinge wieder gerade zu rücken.«

»Heute Abend?«, seufzte Sandy verdächtig laut. »Können

wir das nicht genau so gut morgen machen?«

»Wieso? Hast du was Besseres vor?«, fragte D’reen halb im

Scherz. Sandy hatte praktisch keine anderen Freunde, und
Hobbys gab es ebenfalls nicht.

»Ja, eigentlich schon«, druckste Sandy herum.
Trish verdrehte die Augen. »Lass mich raten – du hast dich

mit Brad verabredet.«

»Er will mit mir ins Kino – in einen romantischen Film!«,

rief Sandy verzweifelt. »Und wann werde ich je wieder die
Chance bekommen, mit einem Quarterback ins Kino zu
gehen?!«

Trish und D’reen sahen sich einen Moment lang an. Sie

konnten die Gefühle ihrer Freundin gut verstehen, aber es war
leider nicht zu ändern.

»Heute Abend ist Schluss mit dem Hokuspokus«, verkündete

D’reen nochmals.

In Sandys Augen glühte der Widerstand. Sie hatte zu oft

davon geträumt, dass Brad ihr im dunklen Saal den Arm um
die Schulter legte, und sie dann ganz sacht mit Popcorn
fütterte. Mit gezuckertem Popcorn...

»Hallo, meine Engel! Seid ihr hier drin!?«, schallte es

plötzlich in den Waschraum.

Es war Brad!

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Und er hatte nicht mal Respekt vor der heiligen Grenze zum

Mädchenklo!

Sandys Schultern sackten zusammen. »Okay«, murmelte sie

resigniert. »Heute Abend bereiten wir dem Spuk ein Ende.«

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11

»

I

CH KANN ES NICHT FASSEN

! Seit einem Jahr habe ich endlich

die Schule hinter mir – und nun soll ich freiwillig wieder
hingehen?«, polterte Phoebe, während sie auf ihrem Broccoli
herumkaute.

»Sprich nicht mit vollen Mund«, meinte Piper und schnitt

eine der Kartoffeln auf ihrem Teller klein.

Sie saßen am großen Tisch in der Küche des Halliwell-

Hauses. Piper hatte wie immer gekocht, und das Essen hätte
drei Sterne verdient, obwohl ihre Schwester und ihre
Halbschwester das nicht zu würdigen wussten.

Phoebe mampfte zu Ende, bevor sie fortfuhr: »Okay, von uns

dreien gehe ich noch am ehesten als Schülerin durch – wenn
ich mich in eins meiner alten Raver-Tops zwänge und die
Cargo-Jeans aus dem Schrank wühle. Aber wir reden hier von
der High School – High School! Für fünfzehn werde ich
allenfalls noch von schmutzigen alten Männern gehalten.«

»Das wird sowieso nicht einfach«, stimmte Paige zu, die

schon beim Nachtisch war. »Wir können ja schlecht in die
Schule marschieren und dem Direktor erzählen, wir würden
gerne ein paar Hexen ausfindig machen, die uns zu einem
durchgeknallten Dämon führen können.«

Piper nickte. »Wir müssen die Gefahr für die Schüler so

gering wie möglich halten. Vielleicht kann Darryl uns ja bei
dem Rektor ankündigen – als Azubis von der
Polizeiakademie?«

Phoebe winkte ab. »Kommt nicht in Frage. Der Rektor

braucht bloß im Revier anzurufen, und dann fliegt die Sache
auf. Und Darryl bekommt einen wahnsinnigen Ärger.«

Paige sah Piper kommentarlos an. Seit wann interessierte

sich Phoebe dafür, ob Darryl Ärger bekam? Piper zog ebenfalls
eine Augenbraue hoch.

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»Was dann?«, fragte Paige.
»Ich lasse mir wieder was einfallen«, verkündete Phoebe.
»So etwas hatte ich schon befürchtet«, murmelte Piper.
Phoebes Pläne waren nicht schlecht, und manchmal

funktionierten sie sogar, aber sie waren auch immer eine
ungeheure Herausforderung – für die Nerven und den Mut.

In diesem Augenblick schimmerte es aus der Richtung des

Wohnzimmers. Fünf Sekunden später kam Leo in die Küche.

»Ach, hier seid ihr«, begrüßte er sie.
Piper schluckte runter, stand auf und gab ihrem Mann einen

Kuss. »Hast du was herausgefunden?«

Leo griff sich einen Apfel von der Küchentheke und biss

herzhaft hinein. »Solomon Ford ist ein noch härterer Knochen,
als ich dachte.«

»Geht das etwas genauer?«, fragte Phoebe.
Leo nickte, kaute aber weiter. »Er kann Hexen nicht nur die

Kräfte rauben – er kann sich diese Kräfte einverleiben: So
kommt er zu immer größerer Macht.«

Paiges Augen wurden groß. »Heißt das, er hat mittlerweile

die Macht von achtzig Hexen?«

Leo schüttelte den Kopf. »Ganz so schlimm ist es nicht.

Viele der Hexen, die er getötet hat, waren sehr schwach. Von
ihren Kräften kann er kaum profitieren. Und bei anderen war er
nicht in der Lage, sie dem Silberstaub auszusetzen, bevor sie
starben. Diese Kräfte fehlen ihm ebenfalls. Was übrig bleibt, ist
allerdings schlimm genug. Ihr habt die Blitze gesehen.«

Die Schwestern nickten.
»Und mit was müssen wir sonst noch rechnen?«, wollte

Paige wissen.

»Begrenzte Teleportation«, zählte Leo auf, »eventuell die

Übertragung seines Geistes in andere Wesen, extreme
Fähigkeit zur körperlichen Regeneration, Beschwörung aller
vier Elemente und so weiter.«

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Piper legte entnervt das Besteck hin. Der Appetit war ihr

vergangen.

»Und gibt es auch noch eine gute Nachricht, oder sollen wir

gleich aufgeben?«

Leo legte ihr sanft die Hand auf die Schulter. »Ich weiß, Ford

ist ein harter Brocken. Und ein Kampf ohne eure Kräfte ist fast
unvorstellbar. Aber ich werde bei euch sein. Keine Angst!«

Piper legte ihre Hand auf die seine und lächelte. »Weiß ich

doch.«

»Warum haben wir uns in der Welt der Magie keine Freunde

gemacht? Dann könnten wir die jetzt anrufen, und sie würden
uns zu Hilfe eilen«, sinnierte Phoebe. »Stellt euch vor, wir
träten Solomon Ford mit einer Streitmacht entgegen, bestehend
aus Buffy, Sabrina, Kolchak, John Strange und Mandrake!«

Paige kniff ihre Schwester leicht in die Wange.
»Hallo? Jemand zu Hause? Diese Figuren sind alle nicht echt

– sie sind erfunden! Und unsere Probleme sind leider sehr
echt.«

»Eine Sache habe ich noch rausfinden können«, unterbrach

Leo die Neckerei.

»Und das wäre?«, fragte Piper.
»Maria, Solomons Frau...«, begann Leo, nur um dann

innezuhalten.

»Was ist mit ihr?«, hakte Phoebe sofort nach.
»Sie ist oben«, beendete der Wächter des Lichts seinen Satz.
»Oben?«, fragte Paige verwirrt. »Inwiefern? Auf dem

Dachboden?«

Leo schüttelte den Kopf und deutete mit dem Zeigefinger gen

Himmel. »Ganz oben.«

»Beim Rat der Ältesten?«, fragte Piper überrascht. »Du hast

sie getroffen?«

»Nicht ganz«, gab Leo zu, »aber man hat mir von ihr erzählt.

Vielleicht wäre es ja gut, mit ihr zu reden. Doch nur, wenn sie

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es selber will, kann ich mit ihr Kontakt aufnehmen. Und bisher
habe ich noch nichts von ihr gehört.«

Phoebe fuchtelte mit einem Stück Broccoli hin und her.

»Also, wenn Maria Ford oben ist und wir mit ihr in Kontakt
treten könnten, dann wäre das eine Chance, mehr über die
Schwachstellen ihres Mannes herauszufinden.«

»Phoebe, spiel nicht mit dem Essen«, sagte Piper.
Gehorsam legte ihre Schwester den Broccoli wieder auf den

Teller.

Aber Recht hatte sie trotzdem.

»Er tut mir Leid!«, sagte Sandy seufzend.

»Leid?«, fragte Trish entgeistert. »Hast du schon vergessen,

wie sehr er uns gestern auf die Nerven gegangen ist?«

Die drei Freundinnen standen an den Spinden in der Buford

High School. Sie blickten immer wieder heimlich zu Brad
Nichols hinüber, der ziemlich allein gelassen neben dem
Wasserspender stand. Ab und an versuchte er, mit einem seiner
bisherigen Kumpel ins Gespräch zu kommen, aber er erntete
dafür nur Hohn und Spott.

Brad Nichols war vorerst bei seinen Kameraden unten durch.

Sich vor der ganzen Schule wegen dreier lahmer Schnecken
zum Trottel zu machen – das musste erst einmal wieder
ausgebügelt werden.

Im Gegensatz zu Sandy hatten Trish und D’reen keinen

Zweifel, dass es Brad gelingen würde. Er hatte immer noch
sein Aussehen, seine Band, seinen Charme. Ein paar Homeruns
bei den nächsten Spielen der Buford Bulls, und alles würde
wieder sein wie vorher.

»Ich bin auf jeden Fall froh, dass wir diese blöde Episode

hinter uns gelassen haben«, verkündete D’reen. »Es gibt Dinge,
bei denen hat Magie nichts zu suchen.«

»Richtig«, stimmte Trish zu.

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Die Mädchen sahen sich an. Eine unausgesprochene Frage

stand im Raum. Klar, die Sache mit dem Liebeszauber war eine
Pleite gewesen – aber ansonsten schien Magie ja ganz prima zu
funktionieren.

»Wir sollten es lassen«, ließ Sandy verlauten.
»Oder uns die Zauberei für Notfälle aufheben«, schränkte

Trish sogleich ein.

Alle drei nickten.
Nur für Notfälle.
Das klang gut.
Das klang vernünftig.
»Was für Notfälle denn?«, wollte D’reen wissen.
Die drei schwiegen.
Das war eine schwierige Frage.
»Sieh an, die neuesten Prinzessinnen der Buford High«, tönte

es plötzlich von hinten.

Die Mädchen zuckten zusammen.
Es war Caroline Spencer, die schnippische Cheerleaderin, die

hinter ihnen aufgetaucht war.

Es hatte in den fünfziger Jahren mal einen Rock’n’Roll-Song

gegeben, der perfekt auf Caroline passte: »Poetry in motion«.

Poesie in Bewegung.
Sie war perfekt. Von den kastanienbraunen Haaren bis zu

den lackierten Zehennägeln, von den strahlend weißen Zähnen
bis zum Bauchnabel-Piercing.

Und was noch schlimmer war: Sie war auch in so ziemlich

jedem Schulfach ein Ass.

Kurz: Ein Mädchen, das man nur hassen konnte.
»Was willst du?«, giftete Trish sofort los.
Wahrscheinlich wollte diese verhinderte Schönheitskönigin

ein paar Albernheiten über die Ereignisse des vergangenen
Tages loswerden.

Aber Caroline Spencer überraschte die drei Nachwuchs-

Hexen.

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»Wir treffen uns heute Nachmittag alle im McNallys. Ich

habe mir gedacht, ihr könntet euch vielleicht auch mal da sehen
lassen.«

Die Reaktionen der Mädchen waren unterschiedlich.
Sandy wurde puterrot, Trish wurde leichenblass, und D’reen

begann gefährlich zu schwanken.

Nach vier, fünf Sekunden stotterte Trish endlich eine

Antwort zusammen: »O... o... okay, wir denken drüber nach.«

»Prima!«, kickste Caroline in ihrem begeisterten Barbie-

Tonfall und schlenderte davon.

Es war schwer vorstellbar, was es für die Mädchen bedeutete,

von Caroline Spencer ins McNallys eingeladen worden zu sein.
Das war so was wie der Oscar. Oder der Heilige Gral. Ein Sieg
bei der Weltmeisterschaft. Der Nobelpreis.

Na gut, vielleicht nicht ganz so dramatisch. Aber für Trish,

Sandy und D’reen bedeutete die Einladung die Erfüllung eines
Traums, der ganz ohne Magie wahr geworden war.

»Gehen wir hin?«, flüsterte D’reen hektisch.
»Was ist denn das für eine Frage?«, fauchte Sandy.

»Natürlich gehen wir hin!«

Trish sah an sich runter. »Ich brauche neue Klamotten.«
Sandy tastete über ihren Mund. »Wenn ich doch bloß schon

die blöde Spange los wäre.«

D’reen seufzte vernehmlich. »Und gerade jetzt passt mir

meine Banana-Republic-Jeans nicht mehr!«

Sie sahen sich an.
Eigentlich war alles klar.
»Wenn das kein Notfall ist, was dann?«, fragte Trish.
»Ein Super-Notfall ist das«, pflichtete D’reen bei.
»Wir brauchen das Buch«, sagte Sandy.
Trish grinste wie ein Honigkuchenpferd. »Da bin ich ja so

froh, dass ich es mitgebracht habe.«

Sie klopfte selbstzufrieden auf ihre ausgewaschene

Schultasche.

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Rektor Seymour Flutie war angenehm überrascht. »Wir
machen mit der Buford High nicht oft positive Schlagzeilen«,
erklärte er, während er mit den Fingern nervös auf seine
Schreibtischplatte klopfte.

Die Jahre inmitten kreischender Teenies waren nicht spurlos

an ihm vorbeigegangen – das Hemd spannte sich gefährlich
über dem Bauch, als hätte er die Haare, die ihm auf dem Kopf
fehlten, kurzerhand mit Schlagsahne gegessen. Seine Augen
waren hinter dicken Brillengläsern versteckt, und Phoebe
konnte sich prima vorstellen, wie oft er der Gegenstand
bissiger Schülerstreiche war.

Sie schenkte ihm ihr schönstes Lächeln, während Piper und

Paige es nur mühsam schafften, die Mundwinkel nach oben zu
ziehen.

»Ich kann Ihnen versprechen, dass der Artikel für unsere

Zeitung Ihre Schule in denkbar gutem Licht erscheinen lassen
wird.«

»Schließlich ist das Lebensgefühl der Jugend von heute

etwas, das direkt vor Ort erforscht werden muss!«, setzte Paige
noch eins drauf.

Flutie strich sich den Schweiß von der Stirn. »Wunderbar,

ganz wunderbar. Wenn ich Sie also richtig verstanden habe,
möchten Sie...«

»... mit meinen beiden Assistentinnen frei auf dem

Schulgelände recherchieren, was Teenager heute so denken
und fühlen«, vollendete Phoebe den Satz. »Es geht um
Zeitgeist – ungefiltert, unkontrolliert.«

»Und Sie sind sicher, dass ich Ihnen keinen Lehrer als Führer

zur Seite stellen soll?«

»Auf keinen Fall!«, rief Phoebe empört. »Dann würden die

Schüler ja nie offen ihre Meinung sagen. Das verstehen Sie
sicher.«

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Flutie nickte hektisch. »Selbstverständlich. Aber es wird

Ihnen helfen, wenn ich Ihre Anwesenheit über das
Lautsprechersystem der Schule bekannt gebe, oder?«

Phoebe und ihre Schwestern sahen sich an.
Schaden konnte es nicht.
Flutie drückte eine Taste auf dem Sprechgerät auf seinem

Schreibtisch. Ein schriller Pfeifton, offensichtlich eine
Rückkopplung, zerriss den jungen Hexen fast die
Trommelfelle.

»Entschuldigung, die Anlage ist nicht gerade die neueste«,

erklärte Flutie mit einem Gesichtsausdruck, als hätte er in eine
Zitrone gebissen.

Dann beugte er sich zum Mikrofon runter: »Achtung, hier

spricht Rektor Flutie. Wir haben heute drei Gäste in unserer
Schule – Miss Phoebe Halliwell und...«

Er sah die beiden anderen Schwestern fragend an.
»Piper Hall... Hollingsworth«, stotterte Piper, die fast ihren

echten Nachnamen gesagt hätte, was Flutie sicher komisch
vorgekommen wäre. Welche Journalistin würde schon mit ihrer
Schwester zusammenarbeiten? Sie bestimmt nicht, dachte
Piper.

»Und Paige Matthews«, stellte sich Paige vor, die nicht mal

lügen musste. Obwohl sie sich mittlerweile als eine echte
Halliwell fühlte und auch so bezeichnete, war ihr
Familienname doch immer noch Matthews.

»... Paige Matthews und Piper Hollingsworth«, fuhr Flutie

fort. »Sie werden sich mit Fragen an einige von euch wenden.
Es geht dabei um einen Artikel für eine große Tageszeitung.
Ich vertraue auf eure uneingeschränkte Mitarbeit. Danke.«

Flutie stellte die Sprechanlage ab.
»Super!«, verkündete Phoebe. »Das wird uns bei der Suche...

ich meine, bei den Recherchen sehr helfen. Vielen Dank,
Rektor Flutie.«

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Der ältliche Mann erhob sich ächzend von seinem Stuhl und

streckte seine verschwitzte Hand aus. »Nennen Sie mich ruhig
Seymour. Und wenn ich sonst noch irgendetwas für Sie tun
kann, lassen Sie es mich wissen.«

»Werden wir machen«, versprach Piper, und sie sahen zu,

dass sie aus dem Büro kamen.

»Ach, Miss Halliwell«, rief Flutie auf einmal, als die

Schwestern es schon fast nach draußen geschafft hatten.

Innerlich fluchte Phoebe. Wenn der Typ jetzt genauer

nachfragte oder gar ihren Chefredakteur anrief, brach das
ganze Lügengebäude in sich zusammen. Es war sowieso ein
kleines Wunder gewesen, dass der Rektor sich von einer
einfachen Visitenkarte der Zeitung so sehr hatte beeindrucken
lassen.

Sie drehte sich noch einmal um und strahlte wie die

aufgehende Sonne. Das half bei den meisten Männern.

»Was liegt an?«
Flutie knetete seine Hände.
»Ich habe... nun, ich bin durchaus mit Ihrer Kolumne

vertraut. Die in der Zeitung meine ich.«

Paige dachte: Klar die Zeitungskolumne – welche denn

sonst?

Piper überlegte: Der Typ liest eine Lebensberater-Kolumne?
Phoebe hoffte: Bitte keine Auskünfte über sein verkorkstes

Liebesleben...

»Und?«, hakte sie mit bewusster Naivität nach.
»Wir haben hier an der Schule die üblichen Probleme –

Gewalt, Drogen, aber auch Teenager-Schwangerschaften und
Selbstmordversuche.« Langsam kam Flutie in Fahrt. »Wenn es
Ihnen nichts ausmachen würde, fände ich es großartig, wenn
Sie heute nach der Schule in der Aula eine Stunde Zeit für die
Schüler hätten. Sie wissen schon – Fragen beantworten, Mut
zusprechen. Ihre eigene Erfolgsgeschichte als Vorbild
sozusagen.«

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Phoebe war zuerst einmal erleichtert, dass Flutie keinen

Verdacht hegte, dass die ganze Artikel-Geschichte erfunden
war. Und dann war sie auch stolz darüber, dass der Rektor sie
ernsthaft als Vorbild für seine Schüler sah.

»Aber klar, Mr. Flutie«, flötete Phoebe. »Mache ich doch

gern.«

Unglaublicherweise machte Flutie das völlig unpassende

›Daumen hoch‹-Zeichen. »Spitze. Ich lasse den Hausmeister
alles vorbereiten.«

Die Halliwells sahen zu, dass sie aus dem Büro kamen.

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12

»

N

ICHT ZU VIEL

,

DAS FÄLLT

doch total auf!«, widersprach

Trish heftig.

»Ach, ja?«, gab D’reen schnippisch zurück. »Und was ist mit

deinen Zweihundert-Dollar-Jeans? Fällt das etwa keinem auf?«

Sie war stinkig. Trish hatte sich per Zauberspruch komplett

neu eingekleidet. Sogar eine Calvin-Klein-Brille hatte sie sich
gegönnt. Und Sandy war ihre Spange los – ihr Gebiss strahlte
wie die polierte Klaviatur eines Konzertflügels.

Und jetzt sollte sie auf bescheiden machen, wo sie endlich

die Chance hatte, ihren doofen Hüftspeck loszuwerden?

Kam ja gar nicht in Frage!
»Zwölf Kilo, mindestens«, forderte sie.
»Acht, und selbst das ist eigentlich schon zu auffällig«, hielt

Trish dagegen, während sie die Hand Besitz ergreifend auf das
Buch legte.

Die drei Mädchen saßen unter dem riesigen Stahl- und

Holzgerüst, aus dem die Tribüne in der Sporthalle
zusammengeschraubt war. Hier trafen sich abends heimlich
Pärchen zum Knutschen, aber tagsüber war es außerhalb der
Sportstunden wie ausgestorben. Hier konnte man ja nicht mal
heimlich rauchen, weil überall Rauchmelder hingen.

Sandy stellte sich ausnahmsweise auf Trishs Seite. »Sie hat

Recht, D’reen. Ihre Klamotten und meine fehlende Spange
kann man ja noch halbwegs erklären – aber zwölf Kilo
Gewichtsverlust während der großen Pause? Was für eine Diät
soll das denn sein?«

D’reen schmollte, kreuzte die Arme vor der Brust und stellte

sich quer. »Zehn Kilo, mein letztes Angebot. Und ich trage
einen Pulli, damit es nicht so sehr auffällt.«

Trish seufzte. Sie konnte es ja verstehen. D’reen war

eigentlich ein ganz gut aussehendes Mädchen. Leider lag

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Übergewicht in ihrer Familie. Da halfen auch keine Pillen. Die
Erwachsenen sprachen gerne davon, dass man sich so
akzeptieren musste, wie man war. Aber die hatten gut reden.
Britney Spears war nicht mit Pickeln Pop-Prinzessin geworden,
und die Jungs von ›Natural‹ hatten weder Segelohren noch
Knollennasen. D’reen hingegen wurde ständig ›Miss Klump‹
gerufen, wie Eddie Murphys Mutter in dem Film über die fette
Familie Klump.

Trish schlug das Buch der Schatten auf. »Okay, zehn Kilo.

Wenn wir es geschickt anstellen, könnten wir damit
durchkommen.«

D’reen strahlte. Und Sandy strahlte mit – samt Scheinwerfer-

Gebiss.

Magie war doch keine so schlechte Sache. Man musste sie

nur richtig einzusetzen wissen. Streiche spielen konnte
schließlich jeder.

Aber heute würden aus den Mauerblümchen Trish, Sandy

und D’reen drei echt scharfe Feger werden.

Caroline Spencer würde sich noch wundern.
Und die anderen erst.

»Ein echt scharfer Feger, hat er gesagt?«, stöhnte Phoebe.

Sie nahm ihrer Schwester den Zettel mit der Telefonnummer

ab, den der gerade grinsend davonschlendernde Bengel Paige
in die Hand gedrückt hatte.

Es war seine Telefonnummer.
Für Phoebe.
Die junge Hexe knüllte das Papier zusammen und warf es in

einen Mülleimer, der auf dem Gang stand.

»Ich weiß nicht, wie du das immer machst«, knurrte Paige.
Bisher waren die ›Ermittlungen‹ ein Fehlschlag. Die meisten

Mädchen fühlten sich von den erwachsenen, gut aussehenden
Halliwell-Frauen provoziert, und die Jungs – na ja, die Jungs
reagierten, wie Jungs eben gerne reagierten.

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Phoebe hatte mittlerweile Einladungen zu Partys und

Bandproben, Football-Spielen und Theateraufführungen sowie
Besäufnissen und Knutschorgien abgelehnt. Dazu ungefähr
zehn Zettel mit Adressen, Handynummern oder
›Längenangaben‹ erhalten. Die zweideutigen Sprüche und
Blicke zählte sie schon gar nicht mehr.

»Ich mache gar nichts«, konstatierte Phoebe. Sie zeigte an

sich herunter. »Aber ich sehe nun mal so aus – und hier gibt es
hunderte von pubertierenden Teenagern. Was erwartest du?«

»Mich würde mal interessieren, wie viele von denen heute

Abend versuchen werden, Bilder von dir im Internet zu
finden«, grinste Piper.

»Schluss jetzt!«, beendete Phoebe die Diskussion über ihre

Anziehungskraft auf das andere Geschlecht. »Wir haben
schließlich eine wichtige Aufgabe zu erledigen!«

»Leider keine, die wirklich von Erfolg gekrönt ist«, seufzte

Paige. »Darryl hatte Recht – die Hexen werden kaum ein T-
Shirt mit der Aufschrift ›Hexenclub‹ tragen. Wie sollen wir sie
bloß erkennen?«

Piper sah sich um. »So geht es nicht. Wenn man Hexen

einfach so erkennen könnte, wären wir ja selbst erledigt. Nein,
wir müssen sie enttarnen.«

»Gut gesprochen, Sherlock«, knurrte Phoebe. »Aber wie

fangen wir das an?«

Paige hielt kurzerhand ein junges Mädchen an, das an ihnen

vorbeigehen wollte.

»Warte mal, Kleine.«
Unmerklich streckte die Schülerin den Rücken durch. »Ich

bin nicht klein!«

»Klar, sicher. Tut mir Leid.« Paige sah ihr tief in die Augen.

»Du hast doch sicher vom Rektor gehört, dass ihr uns bei
unseren Recherchen helfen sollt, oder?«

Die Kleine nickte so heftig, dass ihre Zöpfe wackelten.

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»Gut«, lächelte Paige. »Ist dir hier in letzter Zeit jemand

aufgefallen? Hat sich jemand verändert? Ich meine, so
richtig?«

Das Mädchen dachte einen Moment lang nach. »Ich weiß

nicht...«

»Nichts? Niemand?« Paige wurde langsam ungeduldig.
Die Augen der Schülerin wurden groß. »Doch klar – Nickie

Walker!«

Piper ging vor ihr in die Knie, um ihr direkt in die Augen

sehen zu können. »Ja? Was ist mit Nickie?«

Das Mädchen flüsterte jetzt in einem verschwörerischen

Tonfall: »Die hat sich heimlich tätowieren lassen. Ein Einhorn
auf dem Fußgelenk. Ich hab’s selber gesehen! Und zu Hause
muss sie es immer vor ihren Eltern verstecken.«

Piper sah Paige an. Sie seufzte vernehmlich.
»Danke.«
Als die Kleine außer Hörweite war, knurrte Phoebe: »Ich

glaube, wenn jeder Teenager, der sich heimlich tätowieren
lässt, Hexenkunst praktiziert, haben wir hier eine große
Auswahl.«

Piper sah sich um.
So kamen sie nicht weiter. Es liefen hunderte von Schülern

durch die Gänge, die irgendwie alle gleich aussahen.

»Hallo!«, ertönte es plötzlich von hinten.
Die Halliwells drehten sich um.
Bingo! Ein weiterer Möchtegern-Romeo mit gestylten

Haaren und Designer-Turnschuhen zog Phoebe mit seinen
Blicken aus.

»Können wir dir helfen?«, giftete Piper.
»Du nicht«, säuselte der Typ, während im Hintergrund seine

Freunde kicherten. »Aber deine steile Freundin hier könnte ja
mit mir ins Autokino fahren.«

Der Bengel war allenfalls sechzehn, und wenn er ein Auto

besaß, hatte er es von Papa.

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Phoebe hatte einfach keine Lust mehr auf diesen Macho-

Müll.

Sie ging direkt auf ihn zu, bis ihr Körper fast den seinen

berührte. Sein Atem roch nach Kaugummi.

»Ins Autokino?«, schnurrte die junge Hexe im

zweideutigsten Tonfall, den sie drauf hatte.

»Ja, klar«, tönte der Aufreißer, aber er klang schon etwas

unsicherer und drehte sich immer wieder zu seinen Freunden
um. Er hatte natürlich mit einer empörten Abfuhr gerechnet.

Phoebe fuhr ihm mit dem langen Nagel des rechten

Zeigefingers langsam über die Brust in Richtung Bauchnabel.
Dabei stellte sie sich auf die Zehenspitzen, um ihm etwas in
Ohr flüstern zu können: »Vergiss das Autokino. Komm mit
raus. Wir machen es gleich hinter der Schule. Drei-, vier-,
fünfmal.«

Der Junge wurde auf einmal sichtlich blass. So etwas hatte er

augenscheinlich noch nicht erlebt – und die an ihn gestellten
Anforderungen waren nicht gerade wenig.

»Ich... ich meine«, er drehte sich wieder um, »klar... wenn

Sie... ich meine, wenn du... willst.«

Phoebe lächelte ihn hungrig an. »Und danach kriegen meine

Freundinnen, was von dir übrig bleibt.«

Der Blick des Jungen schwankte jetzt zwischen Piper und

Paige hin und her – die beiden hatten keine Ahnung, was
Phoebe gesagt hatte, und lächelten unverbindlich.

»Was ist?«, hakte Phoebe nach. »Komm schon. Hab dich

nicht so. Du wirst es doch wohl mit uns drei aufnehmen
können, oder?«

Der Möchtegern-Macho stolperte jetzt drei, vier Schritte

zurück, bis er wieder im Kreis seiner Freunde stand. »Ein
andermal gern, aber... aber heute ist schlecht, echt.«

Dann machten sich die Westentaschen-Helden schnellen

Schrittes davon.

»Was hast du denn mit dem gemacht?«, wollte Paige wissen.

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»Ich habe ihm Pipers Telefonnummer angeboten«, grinste

Phoebe.

Es war klasse, eine Frau von Format zu sein!
Piper ging auf den schlechten Scherz ihrer Schwester gar

nicht ein, sondern sah auf ihre Uhr. »Okay, damit wäre wieder
mal nichts erreicht worden. Aber nach der nächsten Stunde ist
Schluss, dann kommt dein Vortrag in der Aula. Unsere letzte
Chance.«

Die Aula war ziemlich groß, trotzdem war sie rappelvoll.
Phoebe war mehr als überrascht, wie massiv offensichtlich ihre
Popularität bei den Teenagern war. Sie hatte gedacht, dass
hauptsächlich frustrierte Hausfrauen zu ihren Leserinnen
gehörten.

Beziehungsprobleme, Zukunftsängste und das Gefühl, allein

zu sein, waren wohl unabhängig vom Alter.

Flutie hatte Phoebe unter dem Applaus der Schüler in die

Halle geführt. Auf der Bühne stand ein Podium mit einem
Mikrofon, doch Phoebe hatte sich sofort entschieden, darauf zu
verzichten. Zum einen wollte sie kein Möbel zwischen sich und
ihren Zuhörern, zum anderen war ihre Stimme laut und klar
genug, um auch bis in die hinterste Ecke zu dringen.

Paige und Piper hatten sich in die erste Reihe gesetzt, wo

Flutie extra ein paar Stühle für sie reserviert hatte.

Nun beobachteten sie das Spektakel.
»Okay, wer von euch hat noch eine Frage?«, rief Phoebe aus

voller Lunge. »Und keine Angst vor Intimitäten – es bleibt ja
alles unter uns!«

Schallendes Gelächter erfüllte die Halle. Die junge Hexe

hatte ihr Publikum voll im Griff.

Ein pickeliger Junge in einem T-Shirt stand auf. »Ich würde

gerne etwas wissen.«

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Angesichts ihrer bisherigen Erfahrung mit den Schülern der

Buford High konnte sich Phoebe einen Scherz nicht
verkneifen. »So lange es nicht meine Telefonnummer ist.«

Wieder Gelächter.
»Nein... nein, gar nicht«, stotterte der Junge. »Ich würde

gerne wissen, ob man selber glücklich sein muss, um anderen
Menschen Ratschläge geben zu können.«

Phoebe nickte ihm freundlich zu.
»Sehr gute Frage. Die Antwort – ein klares Nein. Mein

Leben ist nicht perfekt. Nur dadurch kann ich mich in die
Probleme anderer Menschen hineinversetzen. Und es fällt mir
leichter, anderen Personen Tipps zu geben, als sie selber zu
befolgen.«

Ein Mädchen mit hochtoupierten Haaren meldete sich.
»Ja?«, fragte Phoebe.
»Ich möchte meine Nase korrigieren lassen, aber meine

Eltern sind dagegen. Wie kann ich sie umstimmen?«

Phoebe kniff die Augen zusammen – das Mädchen saß in der

dritten Reihe, und sie war zu weit weg, um etwas über die Nase
sagen zu können.

»Komm doch mal nach vorne«, bat Phoebe.
Das Mädchen stand etwas unsicher auf und schlängelte sich

durch die Stuhlreihen, bis sie direkt unter Phoebe vor der
Bühne stand.

»Wie heißt du?«
»Lisa.«
»Und wie alt bist du?«
»Vierzehn.«
Phoebe konnte beim besten Willen nicht erkennen, was Lisa

an ihrer Nase auszusetzen hatte. Aber ihr kam ein Verdacht.

»Was versprichst du dir von der Operation?«
»Versprechen?« Die Frage schien Lisa ein wenig zu

verwirren. »Na ja, eine schönere Nase eben.«

»Schöner als welche Nase?«, hakte Phoebe nach.

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Lisa sah sich unsicher um. »Ich weiß nicht. Keine konkrete

Nase...«

»Lisa, woher weißt du, dass deine Nase nach einer Operation

verlangt?«, unterbrach Phoebe schnell, um das Mädchen noch
mehr aus dem Takt zu bringen.

»Jerry meint... ich meine, ich denke...«, stammelte Lisa nun.
»Jerry? Wer ist Jerry?« Phoebe kam jetzt richtig in Fahrt. »Ist

Jerry hier im Saal?«

Erst tat sich nichts, dann johlten ein paar Jungs und deuteten

auf einen ihrer Kumpel, der aussah, als würde er am liebsten
im Boden versinken.

»Jerry, steh doch mal auf«, bat Phoebe.
Widerwillig und unter den Begeisterungsrufen seiner

Freunde raffte sich der Junge schließlich auf.

»Du willst also, dass deine Freundin sich die Nase operieren

lässt, ja?«

Jerry stierte peinlich berührt auf den Boden.
Phoebe tat, als würde sie Jerry und Lisa miteinander

vergleichen. Dann schüttelte sie energisch den Kopf. »Ich weiß
nicht recht, aber wenn ich mir die beiden so ansehe, finde ich,
dass Lisa mehr an Jerry aussetzen könnte als umgekehrt.«

Ein paar Schüler lachten, ein paar klatschten.
Phoebe ging jetzt zum Angriff über.
»Jerry, du hast abstehende Ohren, Sommersprossen, ein

Hohlkreuz und geschmacklose Turnschuhe. Danke Lisa auf
Knien für ihre Freundschaft, statt an ihr rumzunörgeln!«

Jetzt brach die Hölle lös. Alle Schüler pfiffen und johlten,

während sich Jerry wieder hinsetzte.

Phoebe beugte sich zu Lisa hinunter und zwinkerte ihr zu.

»Ab und an muss man die Jungs auf Normalmaß stutzen. Girl-
Power! Und jetzt vergiss den Unsinn mit der Nase.«

Lisa lächelte dankbar und begab sich zurück zu ihrem Stuhl.
Phoebe nutzte die Unruhe, um wieder einmal den Blick

durch den Saal schweifen zu lassen, in der Hoffnung, einen

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Hinweis auf die Hexen zu finden, nach denen sie suchten. Es
machte ihr zwar einen Heidenspaß, mit den Schülerinnen und
Schülern zu plaudern, aber das war nicht Sinn und Zweck der
Übung.

Auch Paige und Piper versuchten, möglichst viele Kids im

Auge zu behalten.

Allen drei Hexen war klar, dass sie unter Zeitdruck standen.

Die heimlichen Hexen der Buford High hatten keine Ahnung,
dass sie sich durch die Ausübung ihrer Magie in Lebensgefahr
begaben. Jeder magische Streich, jeder noch so kleine
Zauberspruch konnte Solomon Ford anlocken, und sie mochten
sich nicht vorstellen, was dann passieren würde. Außerdem war
gar nicht auszudenken, wie viele Unschuldige in Gefahr
gerieten, wenn Ford plötzlich in der Schule auftauchte.

Die Zauberhaften mussten schließlich die Unschuldigen

schützen.

Das Problem war nur – sie hatten keine Ahnung, wer die zu

schützenden Unschuldigen sein sollten.

»Okay«, sagte Phoebe, während sie auf ihre Uhr blickte, »wir

haben noch ein paar Minuten. Zeit genug, den Mädels mal den
Kopf zu waschen. Denn auch, wenn ihr es nicht glaubt – die
Hauptaufgabe der Jungs ist nicht, euch hinterherzulaufen.«

Jetzt meldeten sich die Schüler mit Beifall und viel

Getrampel zurück.

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13

P

AIGE HATTE MITTLERWEILE SCHON

einen steifen Nacken. Es

war zwar eine nette Geste von Direktor Flutie gewesen, ihr und
Piper einen Platz in der ersten Reihe zu reservieren – praktisch
war es aber nicht. Denn Piper war ja nicht hier, um ihre
Schwester zu beobachten. Sie wollte stattdessen die Schüler im
Auge behalten, die nun leider alle hinter ihr saßen. Darum
drehte sie sich permanent um, was ihrem Nacken nicht gerade
gut tat.

Es war schon faszinierend, Phoebe auf der Bühne zu erleben.

Wieder einmal wünschte sich Paige, etwas mehr von dem
Nesthäkchen der Halliwells zu haben. Phoebe war in der Lage,
Menschen zu faszinieren und mitzureißen. Selbst die
Verklemmten gingen völlig aus sich heraus. Phoebe schien
sogar die schwierigsten Probleme mit einem Lächeln zu lösen.

Paige hingegen war so unsicher, dass sie manchmal das

Gefühl hatte, selber einen Brief an Phoebes Kolumne schreiben
zu müssen.

Wieder einmal drehte sie den Kopf zur Seite, um einen Blick

auf die Schüler zu erhaschen.

Die Cliquen, die in Blöcken zusammensaßen, waren leicht

auszumachen. Es waren wohl an jeder Schule dieselben – die
Computer-Freaks, die Sportler, die Heavy-Metal-Fans, die
Intellektuellen, die Schlampen und die Barbies.

Es waren die Letztgenannten, die Paiges Aufmerksamkeit auf

sich zogen. Sie steckten die Köpfe zusammen und schnatterten
aufgeregt.

Das war ungewöhnlich. Normalerweise war diese Sorte

Mädchen viel zu cool, um sich beim kindischen Plappern
erwischen zu lassen. Diese Girls tratschten in geschlossenen
Zirkeln.

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Aber etwas schien sie so sehr zu beschäftigen, dass sie vor

den anderen Schülern ihre Fassade fallen ließen.

Immer wieder sahen die Mädchen in eine bestimmte

Richtung.

Paige folgte den Blicken, und nach einer Weile konnte sie

ausmachen, um wen es ging.

In der fünften Reihe saßen drei Mädchen.
Fünfzehn, vielleicht sechzehn Jahre alt.
Man sah ihnen an, dass sie Freundinnen waren.
Beste Freundinnen.
Nicht überragend hübsch, aber nett zurechtgemacht.
Paige konnte sich nicht erklären, was an ihnen so besonders

war, dass auch die Kids um sie herum zu tuscheln schienen.

Die Barbies packten nun, anscheinend auf das Kommando

ihrer brünetten Anführerin, ihre Täschchen zusammen und
machten sich auf den Weg aus dem Saal.

Die drei Mädchen sahen das und erhoben sich nach kurzer

Besprechung ebenfalls.

»Hast du was gesehen?«, fragte Piper plötzlich, und Paige

wurde aus ihrer Konzentration gerissen.

»Ich weiß nicht«, murmelte sie. »Ich checke das mal.«
Sie stand auf.
»Soll ich mitkommen?«, fragte Piper.
»Nein, nicht nötig«, antwortete Paige. »Schau du dich hier

weiter um.«

Sie folgte den Mädchen zum Ausgang am hinteren Ende des

Saals. Leider ging das nicht so schnell, wie sie es sich erhofft
hatte. Kaum hatte sie die Tür der Aula hinter sich geschlossen,
stellte sie fest, dass die Objekte ihrer Neugierde schon außer
Sichtweite waren.

Ratlos blieb Paige einen Moment lang stehen.
Zwei Jungs kamen hinter ihr aus dem Saal.
»Ich war ja nie ein Fan von ihr, aber das hätte ich nicht von

Sandy Casper erwartet. Wow!«, sagte einer.

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»Die sehen alle drei auf einmal ziemlich gut aus«, meinte

auch der andere anerkennend. »Die müssen einen Zaubertrank
haben.«

Sie lachten.
Paige hielt sie mit einer Handbewegung auf. »Moment mal,

Jungs. Macht es euch was aus, mir zu sagen, von wem ihr da
redet?«

Der Größere der beiden kratzte sich am Kopf. »Sandy, Trish

und D’reen. Echt auf keiner Top-Ten-Liste, was die Popularität
an der Buford High angeht, wenn Sie verstehen, was ich meine.
Aber heute – peng!«

»Peng, was?« Paige verstand nicht ganz.
»Na ja«, erklärte der Kleinere, »die sind wie ausgewechselt.

Erst gestern verdrehen sie dem Schulschwarm Brad Nichols
den Kopf, und heute sehen sie aus wie Cinderella in der
Ballnacht. Wie ausgewechselt.«

Damit trollten sich die beiden.
Paige dachte nach.
Das klang verdächtig.
Verdächtig nach einer heißen Spur.
Sie musste mit Piper und Phoebe darüber sprechen!
Glücklicherweise beendete Phoebe in diesem Moment ihre

Fragestunde unter tosendem Applaus, und das Gros der Schüler
strömte aus der Tür.

Nach ein, zwei drängelnden und schiebenden Minuten

versiegte der Strom. Paige konnte die Halle wieder betreten
und lief zu Phoebe und Piper.

»Großartig, ganz großartig«, sagte Flutie und schüttelte

Phoebe mehrere Minuten lang die Hand. »Sie sind ein
wirkliches Vorbild, eine ganz patente Frau.«

Das war Wasser auf Phoebes Mühlen, und sie sah Piper

provozierend an.

Es war tatsächlich ungewöhnlich, dass die flatterhafte

Phoebe der soliden Piper als Vorbild vorgehalten wurde.

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»Mädels«, unterbrach Paige die Szene, »wir sollten uns

langsam auf den Weg machen.«

»Weshalb?«, fragte Piper überrascht, da sie keine Ahnung

hatte, was Paige herausgefunden hatte.

»Wegen... wegen des Redaktionsschlusses«, log Paige

spontan, um Flutie nicht misstrauisch zu stimmen. »Sonst wird
der Chef wieder sauer.«

»Ach, ja!«, rief Phoebe und heuchelte Eile. »Natürlich. Wir

müssen los.«

Sie befreite ihre Hand aus Fluties Griff. Gemeinsam eilten

sie nach draußen, während der Rektor in der Aula zurückblieb.

»Was ist denn los?«, fragte Phoebe, als sie außer Hörweite

waren.

»Hast du was rausbekommen?«, wollte Piper wissen.
Paige nickte. Sie war stolz darauf, vielleicht ein wichtiges

Stück des Rätsels selbst gelöst zu haben. »Drei Mädchen.
Hässliche Entlein. Von heute auf morgen zu Schwänen
geworden. Und zwar wortwörtlich von heute auf morgen.«

Piper und Phoebe sahen sich an.
Okay, das klang viel versprechend.
»Wo sind die Mädchen jetzt?«, wollte Piper wissen.
»Ich habe sie leider aus den Augen verloren«, antwortete

Paige. »Aber ich habe einen Verdacht.«

»Raus damit!«, forderte Phoebe.
»Sie sind direkt nach der populärsten Mädchen-Clique der

Schule aus dem Saal gegangen«, erklärte Paige. »Ich habe das
Gefühl, die haben alle dasselbe Ziel.«

Phoebe dachte einen Moment lang nach.
»Das muss doch herauszufinden sein.«
Sie blickte sich um und erspähte ein paar Meter weiter hinten

im Gang eine Lehrerin. »Entschuldigen Sie, Miss?«

Die korrekt gekleidete Mittvierzigerin kam auf sie zu.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie höflich.

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Phoebe nickte. »Das will ich doch hoffen. Wir haben jetzt

den ganzen Tag recherchiert, was junge Leute so in der Schule
machen. Nun wäre die Frage dran, wo sie nach der Schule
hingehen. Uns interessiert besonders, was den beliebtesten
Schülerinnen so gefällt.«

Die Lehrerin dachte einen Moment lang nach.
»Nun ja, viele Schüler gehen direkt nach Hause oder in

irgendeinen Burger-Laden. Aber die Clique um Caroline
Spencer ist eigentlich immer im McNally’s zu finden, das ist
ein Diner gleich am Parkway.«

»Spitze!«, lobte Phoebe. »Das hilft uns sehr weiter. Vielen

Dank.«

Auch Piper und Paige nickten freundlich. Dann machten sie

sich auf den Weg.

»Ich komme mir vor wie auf einer Schnitzeljagd«, erklärte

Piper. »Wir folgen irgendwelchen Hinweisen, ohne die
geringste Ahnung zu haben, ob das zu etwas führt.«

»Stimmt«, pflichtete Phoebe ihr bei. »Aber wir haben solide

Indizien. Die drei Mädchen verändern sich radikal von heute
auf morgen, zur Überraschung der gesamten Schule. Denk mal
nach – wenn du ein Mauerblümchen wärst und plötzlich Magie
zur Verfügung hättest, was würdest du als Erstes verändern?«

Piper schüttelte den Kopf. »Gar nichts. Erinnerst du dich

nicht mehr? Ich war das Mauerblümchen, ich hatte plötzlich
Magie zur Verfügung und habe dennoch meine Kräfte nicht
missbraucht.«

»Das zählt nicht«, wandte Paige ein, während sie das

Schulgebäude verließen. »Wir waren schon älter als die
Teenager von der Buford High. Und außerdem hatten wir eine
grobe Vorstellung von der Verantwortung, die mit unseren
Kräften zusammenhängt.«

»Was wieder die Frage aufwirft, wieso unsere Konkurrenz

diese Spielregeln nicht kennt«, knurrte Piper. »Ich meine, man

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wird doch nicht Hexe, ohne sich über die Folgen im Klaren zu
sein!«

»Ich glaube, zum Parkway geht es da lang«, bemerkte

Phoebe und deutete nach links die Straße hinunter. Das Thema
›Hexenkräfte und Verantwortung‹ war ihr ein bisschen
unangenehm. Sie hatte es gerade am Anfang auch nicht so
genau genommen.

»Vielleicht bekommen wir ja gleich alle Antworten, die wir

brauchen«, hoffte Paige. »Damit wären wir zumindest
Solomon Ford einen Schritt voraus.«

Piper seufzte mal wieder. »Wenn wir doch bloß unsere

Kräfte gebrauchen könnten.«

Paige und Phoebe sagten nichts, stimmten aber im Geiste zu.
Es ging nicht einmal so sehr darum, dass sie ohne ihre Kräfte

hilflos waren.

Nein, das war es nicht.
Die Wahrheit war komplizierter – und überraschender.
Sie waren gerne Hexen.
Nach all den Jahren, in denen sie mit ihrem Schicksal

gehadert hatten, war es ein Teil von ihnen geworden.

Es war ihre Bestimmung.
Die Halliwell-Frauen waren Hexen.
Und das war gut so.

Trish, Sandy und D’reen kannten das McNally’s natürlich.
Jeder Schüler der Buford High kannte es. Aber sie waren nie
drin gewesen.

Das lag einerseits an den Preisen. Selbst ein einfacher

Hamburger mit Coke kostete hier mehr als fünf Dollar, und das
überstieg die Finanzen der meisten Schüler erheblich. Dadurch
blieben die Kids aus den besseren Häusern unter sich.

Der andere Grund, warum die drei Freundinnen noch nie im

McNally’s gewesen waren, lag am Spießrutenlauf, der damit
verbunden gewesen wäre. Es war ein ungeschriebenes Gesetz,

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dass nur Mitglieder der In-Cliquen sich dort aufhalten durften.
Wenn ein Normalo sich ins McNally’s verirrte, wurde er
dermaßen fertig gemacht, dass ihm der Appetit verging.

Die jungen Nachwuchs-Hexen blieben ein paar Sekunden

lang ehrfürchtig vor dem Eingang des Diners stehen.

Es war schon ein beeindruckender Bau. Der Architekt hatte

sich alle Mühe gegeben, den Stil der Streamline-Ära aus den
vierziger Jahren zu treffen. Lang gezogene, gewellte
Aluminium-Verkleidungen ließen das Flachdach-Café wie
einen silbernen Rennwagen aussehen. Auf dem Dach leuchtete
der Name in knallroten Neonbuchstaben. Die großen
Fensterfronten erlaubten den Blick auf die mit knallrotem
Lackleder bezogenen Sitzbänke, vor denen festgeschraubte
Stahltische standen. Kellnerinnen in blütenweißen Uniformen
und mit Hütchen auf dem Kopf, eilten von Tisch zu Tisch, mit
den größten Burgern auf ihren Tabletts, die es auf der Welt
gab.

Hinter der blank polierten Bar hingen alte Filmplakate von

Humphrey Bogart und Walt Disney.

Es war wie ein kitschiger Traum.
»Sollen wir reingehen?«, fragte Sandy schließlich.
»Was soll denn die Frage?«, zischte Trish. »Natürlich gehen

wir rein!«

D’reen strich sich mit den Händen an den sichtlich schlanker

gewordenen Hüften hinab. Natürlich hatte sie keinen weiten
Pullover angezogen. »Wir sind eingeladen worden. Wir
gehören jetzt dazu.«

»So sieht’s aus«, sagte Trish triumphierend, und ihre Hand

streichelte die Schultasche mit dem Buch der Schatten darin.

Noch einmal tief durchatmen, dann traten sie durch die

Schwingtür in das Innere des McNally’s.

Es war der Hammer. Moderne, aber nicht zu laute Musik

klang aus den Lautsprechern, und im Gegensatz zu anderen
Burger-Läden stank es nicht nach Fett und Reinigungsmitteln,

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sondern es duftete – nach Gewürzen und Kaffee, nach Kuchen
und frisch gepresstem Orangensaft.

Selbst die anwesenden Teenager verhielten sich

entsprechend. Man aß gesittet, lachte verhalten und brüllte
nicht in der Gegend herum.

Das war echt Klasse!
Trish, Sandy und D’reen sahen sich etwas unsicher um.

Einen freien Tisch würden sie kaum bekommen – schließlich
war gerade Schulschluss gewesen, und die reichen Kids
mussten noch über die Ereignisse des Tages tratschen.

In diesem Augenblick entdeckte Caroline Spencer die drei

Freundinnen. Caroline saß mit ihren drei Freundinnen an einem
Tisch für acht. Sie winkte den Mädchen dezent zu.

Unsicher gingen die jungen Hexen auf die Elite der Buford

High zu.

»Ich glaube, ich muss mich übergeben«, fing D’reen an. »Die

Aufregung.«

»Untersteh dich«, zischte Trish. Es kam gar nicht in Frage,

dass sie sich diesen großen Moment kaputt machen lassen
würde. »Wir sind cool, wir sehen gut aus, und wir sind ab
heute beliebt!«

Sandy sah die Reflektion ihres Gesichtes in einem Spiegel

hinter der Bar. Tatsächlich – sie sah gut aus. Um ihre ›neuen‹
Zähne besser zur Geltung zu bringen, hatte sie ihre Haare
etwas aufgeföhnt und dezentes Make-up aufgelegt. Nun
lächelte sie – und es war, als ginge die Sonne auf.

»Hi!«, sagte Trish nun, denn sie waren am Tisch von

Caroline und ihren Freundinnen angekommen.

»Hi!«, antwortete Caroline merkwürdig tonlos. Die anderen

Mädchen hielten sich zurück.

Zum ersten Mal kamen Sandy und D’reen Zweifel. Das

klang nicht nach einer begeisterten Aufnahme in die Clique.

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»Du hast uns eingeladen, hier sind wir«, versuchte Trish, ein

Gespräch in Gang zu setzen. Sie hoffte, dass Caroline ihnen
einen Platz anbieten würde, aber es sah nicht danach aus.

»Das sehe ich«, sagte Caroline eiskalt.
Sie stand auf und baute sich sehr nah vor Trish auf.
Trish war quasi die Wortführerin der drei Freundinnen, und

Caroline war die Anführerin ihrer Clique.

»Was willst du von uns?«, fragte Trish, die langsam ahnte,

dass der Tag nicht auf gemeinsame Hamburger und Diät-Cola
hinauslaufen würde.

»Ich will gar nichts«, zischte Caroline. »Ihr wollt etwas –

nämlich keinen Ärger mit uns. Und den werdet ihr bekommen,
wenn ihr euch nicht bald aus unseren Angelegenheiten
heraushaltet.«

Trish wurde das Gefühl nicht los, dass mit Angelegenheiten

ein gewisser Quarterback der Buford Bulls gemeint war.

Im Nachhinein ärgerte sich die junge Hexe, dass ihr nicht

vorher klar geworden war, dass Caroline sie niemals
akzeptieren würde. Es ging hier nicht um Aussehen oder
Klamotten – es ging um sozialen Status, um ungeschriebene
Gesetze und die Tatsache, dass es ohne ›die da unten‹ keine
›die da oben‹ geben konnte.

»Wir haben euch doch gar nichts getan«, protestierte Sandy,

die so enttäuscht war, dass sie fast zu heulen anfing. »Warum
seid ihr so gemein zu uns?«

Caroline lachte kurz und gehässig. »Gemein? Hört mal zu,

ihr nachgemachten Hupfdohlen. Glaubt ihr allen Ernstes, ein
paar verlorene Pfunde und zweitklassige Designer-Klamotten
machen euch interessant?«

Es war eine verfahrene Situation für Trish, Sandy und

D’reen. Einerseits gab es keinen Grund, sich diese
Beleidigungen noch weiter anzuhören. Andererseits wäre ein
Rückzug an dieser Stelle einer Niederlage gleichgekommen.

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»Brad hat das gestern aber anscheinend ganz anders

gesehen«, rutschte es D’reen heraus, und sie verfluchte sich
sofort für diesen Spruch.

Caroline versteifte sich nur ein wenig. Zugegeben, die Sache

mit Brad hatte ihr zugesetzt, aber wie es schien, war diese
unerfreuliche Episode auch schon wieder vorbei.

Es war ein Patt.
Beide Seiten hatten ihre Karten offen gelegt, alles war gesagt

worden. Nun war die Frage, wie man auseinander ging.

Trish atmete tief ein: »Okay, wie auch immer. Macht ihr euer

Ding, wir machen unser Ding. Wir haben echt Besseres zu tun,
als hier mit euch Zicken zu zanken.«

»Stimmt«, pflichtete Caroline bei. »Du solltest zum Beispiel

dringend deine Klamotten reinigen lassen.«

»Wieso?«, fragte Trish, und in diesem Moment hatte sie den

Bruchteil einer Sekunde zu spät geschaltet.

Sie sah nur, wie die Hand von Caroline nach vorne schnellte

– und in der Hand befand sich ein Becher mit Erdbeer-Shake.
Die zähe Pampe ergoss sich in einem Schwall auf Trishs Bluse.

Auch Carolines Komplizinnen blieben nicht untätig. Sie

schnappten sich die Senf- und Ketschupflaschen, die auf dem
Tisch standen, und eine Sekunde später waren D’reen und
Sandy von oben bis unten gelb und rot beschmiert.

Fassungslose Stille.
Drei, vier Sekunden lang.
Damit hatte niemand gerechnet.
Trish sah sich verwirrt und hilflos um.
Die Kellnerinnen, seit Jahren von Caroline mit üppigen

Trinkgeldern verwöhnt, sahen konsequent weg.

Trishs Finger krallten sich in den Stoff ihrer Schultasche. Sie

fühlte darin den festen Einband des Buches der Schatten.

Das würde Caroline büßen!
Und wie!

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»Wir gehen«, flüsterte Trish leise. Sie drehte sich in

Richtung Ausgang. D’reen tat es ihr gleich, nur Sandy blieb
wie angewurzelt stehen. Das Mädchen war einfach zu
geschockt, um zu reagieren.

Trish packte sie am Arm und zog sie mit sich.
Es war totenstill, als die von Kopf bis Fuß besudelten

Mädchen das Diner verließen. Nur die Jukebox dudelte noch
unbeeindruckt weiter – »Girls just want to have fun« von
Cyndi Lauper. Im Vorbeigehen packte D’reen eine Hand voll
Servietten.

An der frischen Luft stürzten die Tränen wie Wasserfälle aus

Sandys Augen. Sie klappte völlig zusammen. D’reen drückte
ihr und Trish ein paar Servietten in die Hand, um wenigstens
die gröbsten Schmierflecken abzuwischen.

Trish blieb erstaunlich ruhig. Statt sich auf den Heimweg zu

machen, marschierte sie allerdings schnurstracks zum
Parkplatz hinter dem Diner. Die beiden Freundinnen folgten
ihr.

Auf dem Parkplatz war um diese Zeit praktisch nichts los,

der leere Asphalt brannte in der Nachmittagssonne.

»Was machen wir hier?«, wollten D’reen wissen.
Trish bugsierte ihre Freundinnen in eine Ecke neben einem

riesigen Müllcontainer. Sie warfen die Servietten weg und
atmeten tief durch.

Trish griff in ihre Tasche und zog das Buch der Schatten

heraus.

»Es ist euch klar, was das bedeutet?«, fragte sie.
D’reen nickte. Sandy schnäuzte in eine letzte Serviette und

wischte sich die Augen. »Rache«, krächzte sie kaum hörbar.

Trish nickte grimmig. »Die haben keine Ahnung, mit wem

sie sich angelegt haben.«

Sie begann, im Buch der Schatten zu blättern. Es standen

dutzende von Rachesprüchen darin, aber sie erschienen alle zu

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harmlos – oder zu radikal. Schließlich war niemandem damit
gedient, Caroline Spencer an Beulenpest sterben zu lassen.

Schließlich tippte sie auf eine Seite. »Das ist es.«
»Was?«, fragte Sandy, deren Blick von der Heulerei noch

ganz glasig war.

»Dieser Zauberspruch wird Caroline eine Lehre erteilen –

wir verwandeln sie in eine fette, hässliche Schlampe.«

Jetzt wurde D’reen neugierig und warf ebenfalls einen Blick

in das Buch.

Es stand zwar nicht ganz so da, wie es von Trish beschrieben

worden war, aber der Spruch versprach tatsächlich ›Ungestalt
und vielfach Körpermaß‹.

Trish zog Sandy neben sich, sodass sie alle drei den Spruch

ablesen konnten.

»Ziehen wir das durch?«, fragte Trish, um sich noch einmal

eine Bestätigung zu holen.

D’reen und Sandy nickten.
Was jetzt kam, hatte sich Caroline selber zuzuschreiben.

»Im Geiste des Grom’Tap verlangen wir,
Rache für erlangte Schmach,
Ungestalt und vielfach Körpermaß,
für den, der unsere Ehre brach.
Wir rufen dich, du Geist der Nacht.«

Der Spruch hatte noch drei weitere Verse, aber seine Kraft
entfaltete sich fast augenblicklich. Das Buch der Schatten
schien von einem grünen Strahlenkranz umgeben.

Die Mädchen konnten es kaum erwarten, den Zauber zu

vollenden und dann das blöde Gesicht von Caroline zu sehen,
wenn sie fett und hässlich war.

Es war ihnen nicht klar, dass damit jeder Idiot von ihrer

Magie erfahren würde.

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Und dass sie mit dieser Magie vielleicht Dinge

heraufbeschworen, über die sie keinerlei Kontrolle mehr
hatten.

Die letzte Zeile verklang, und langsam ebbte das Leuchten

des Buches wieder ab.

Die Freundinnen sahen sich an.
Mehrere Dinge geschahen fast gleichzeitig.
Zuerst kamen drei junge Frauen atemlos auf den Parkplatz

gerannt. Die Mädchen erkannten sie – es waren diese drei
Reporterinnen von der Zeitung.

Als Nächstes gab es einen graublauen Blitz, und der Asphalt

auf dem Parkplatz schien zu kochen. Aus der dunklen, zähen
Masse wuchs eine Gestalt, die schließlich fast zwei Meter groß
war – samt Hut. Es war ein Mann mit silbernen Augen.

Und schließlich ertönte aus dem Diner ein Ohren

betäubendes Gebrüll. Mit einem Knall brach ein Stück aus der
Rückwand des Gebäudes heraus. Einer der festgeschraubten
Metalltische polterte auf den Parkplatz.

Irgendwie wussten Trish, Sandy und D’reen, dass nun der

Spaß vorbei war.

Jetzt ging es um Leben und Tod.

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14

P

IPER HATTE MANCHMAL

ein ganz bestimmtes Gefühl im

Magen, wenn eine Sache gerade komplett schief lief. Das war
keine magische Kraft, das war schlichtweg weibliche Intuition.

Auf dem Weg zum McNally’s hatte sie dieses Gefühl.
Und zwar stärker als sonst.
Die Zauberhaften hatten fast schon die Tür des Diners

erreicht, als Phoebe aus dem Augenwinkel den Rest eines
grünen Glimmens wahrnahm. »Ich glaube, da spielt sich was
hinter dem Lokal ab«, sagte sie.

Paige warf einen schnellen Blick durch die Fenster in das

Diner. »Da drinnen sind die Mädchen nicht.«

»Schauen wir also mal hinten nach«, entschied Piper.
Sie hatten den Parkplatz kaum erreicht, als die Hölle

ausbrach.

Tatsächlich, in der Ecke neben einem Müllcontainer hockten

drei Teenager. In der Hand hatten sie irgendein altes Buch, das
verdächtig leuchtete.

»Oh, Scheiße«, knurrte Phoebe, die ahnte, was das bedeutete.
Hier war Magie im Spiel!
Und die Quittung kam prompt – aus dem Asphalt wuchs

Solomon Ford, der Hexentöter!

»Heilige Scheiße«, setzte Paige noch eins drauf.
Und zu guter Letzt pfefferte irgendein Monster einen

kompletten Tisch durch die Rückwand des McNally’s.

»Okay, Nerven bewahren«, mahnte Piper. »Wir brauchen

eine Strategie – und zwar ganz fix.«

In diesem Moment platzte ein riesiges Ungetüm aus Fleisch

und Haaren durch die Rückwand des Diners.

»So viel zum Thema ›Nerven bewahren‹«, keuchte Paige.

»Was macht denn King Kong hier?«

Piper versuchte, die Situation etwas genauer zu erfassen.

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Sie hatten die Hexen-Mädchen gefunden, das stand fest. Und

diese hatten Magie benutzt, welche vermutlich das Monster
erschaffen – und Solomon Ford angelockt hatte.

Piper schloss für einen kurzen Moment die Augen. Sie

konzentrierte sich auf Leo – er musste helfen.

Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie, wie die drei

Mädchen kreischten, als sie sich zwischen dem Monster und
Solomon Ford eingekeilt sahen.

Es war offensichtlich, dass die Schülerinnen keine

abgebrühten Profi-Hexen waren. Augenscheinlich hatten sie
sich völlig übernommen.

»Wir müssen die Mädchen hier wegschaffen. Paige, kannst

du das übernehmen?«, fragte Piper.

»Alleine schaffe ich das nicht«, entgegnete Paige. Ihre Kräfte

waren in dieser Hinsicht begrenzt.

Ein blauer Funkenregen kündigte die Ankunft von Pipers

Ehemann an.

»Du bist nicht allein«, verkündete Piper erleichtert.
»Leo, bring zusammen mit Paige die Mädchen in

Sicherheit!«

Leo erfasste die Situation mit einem Blick und nickte

entschlossen.

Doch bis zu den Mädchen waren es gute zwanzig Meter, und

sowohl das Monster als auch Solomon Ford waren näher dran.

Nun war es Phoebe, die die Initiative ergriff. »Ich hoffe mal,

dass ich meine Kräfte nur verliere, wenn ich sie direkt gegen
Ford verwende«, rief sie.

Piper nickte. So hatte sie das auch verstanden.
Phoebe konzentrierte sich, und auf einmal setzte sich der

Müllcontainer, neben dem die Mädchen kauerten, in
Bewegung.

Phoebe warf ihre Arme zur Seite, und es gelang ihr, den

Metallkasten schwungvoll gegen das Monster zu stoßen, das

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vornüber in den Müll kippte. Seine fetten Beine strampelten
hilflos herum.

Jetzt hatten Leo und Paige die Mädchen erreicht. Der

Wächter des Lichts griff Sandy und Trish an den Händen.
Schon wollten die Mädchen schreien, aber die Berührung des
Wächter des Lichts machte sie erstaunlich ruhig.

Paige packte D’reen an der Schulter, und sah den Ehemann

ihrer Halbschwester an. »Nach Hause?«

Leo nickte.
Einen Herzschlag später lösten sich die fünf Gestalten in

einem Funkenregen auf.

Jetzt waren nur noch vier Kontrahenten übrig – Piper,

Phoebe, Solomon Ford und das Monster in dem Container.

»BETET UM GNADE – BETET UM EINEN SCHNELLEN

TOD!«, raunte Ford genüsslich, während er seine
Aufmerksamkeit nun den verbliebenen Halliwells zuwandte.

»Mir gehen gerade die Ideen aus«, knurrte Phoebe. »Wenn

wir unsere Kräfte nicht gegen ihn einsetzen können, was sollen
wir denn dann machen?«

Piper hob die Schultern. »Keine Ahnung. Hauptsache, die

Mädchen sind in Sicherheit.«

Der Container rappelte wieder, als sich das Monster daraus

zu befreien versuchte.

»IHR KÖNNT NICHT EWIG VOR MIR WEGLAUFEN!«,

verkündete Solomon Ford, und aus seinen Händen schossen
wieder Blitze.

Es gelang Piper gerade noch, Phoebe zur Seite zu stoßen.

Beide Hexen landeten hart auf dem Asphalt.

Plötzlich fiel der Müllcontainer zur Seite, und das Monster

rollte heraus. Es war sichtlich wütend. Wild fauchend rappelte
es sich auf die Beine. Dann packte es den Container, hob ihn
über seinen Kopf und schlug ihn krachend auf den Boden des
Parkplatzes.

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Das brachte ihm sogar die Aufmerksamkeit von Solomon

Ford ein, der einen Moment lang von den Hexen abließ.

»Erinnert dich dieses Vieh an irgendwas?«, fragte Phoebe

keuchend.

»Sieht fast so aus wie ein Opfer des Grom’Tap-Fluches«,

ächzte Piper, während sie sich aufrappelte.

Sie hatten die Formel schon mehrfach im Buch der Schatten

gesehen.

Phoebe nickte. »Den Spruch dagegen kennen wir doch,

oder?«

Piper versuchte, sich daran zu erinnern. Es war eigentlich

ganz einfach. Und sie konnten immerhin einen Gegner auf
diese Weise ausschalten.

Solomon wollte sich jetzt wieder den Schwestern zuwenden,

aber das riesige Biest nahm wieder den Container und schlug
ihn mit einer solchen Wucht gegen den Körper des
Hexentöters, dass dieser dreißig Meter weit über den Parkplatz
geschleudert wurde.

»Vergiss die Rückverwandlung«, sagte Phoebe anerkennend,

»wir sollten es als Bodyguard behalten.«

Aber es war ihr natürlich klar, dass das nicht ging.
Und schon begannen die Zauberhaften ihren Spruch

aufzusagen, der die Dinge wieder in Ordnung brachte und das
Monster wieder in einen vergleichsweise harmlosen Teenager
zurückverwandelte.


»Die Macht Grom’Taps sei nun versiegt,
kein Fluch auf deiner Seele liegt,
die alte Gestalt sei dir wiedergegeben,
ohne Erinnerung sei dein weiteres Leben.«

Es blitzte kurz und grell auf. Das Monster schüttelte noch kurz
die Fäuste gen Himmel – dann stürzte es als attraktive brünette
Cheerleaderin auf den Asphalt.

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Ohnmächtig.
»So viel dazu«, erklärte Phoebe zufrieden.
»Machen wir uns davon, bevor Ford wieder auf den Beinen

ist«, riet Piper.

Doch als sich die Schwestern zur Straße wandten, erschien

die Gestalt des Hexentöters in einem kurzen Flackern direkt
vor ihnen.

»IHR KÖNNT EURER GERECHTEN STRAFE NICHT

ENTGEHEN, HEXENBRUT!«, schrie er.

»Ups, die Kräfte der anderen Hexen schloss wohl das

Teleportieren mit ein, das hatte ich ganz vergessen«, gab
Phoebe zu.

Nun wurde es eng – zumal aus dem Loch in der Rückwand

des Diners einige ängstliche Gäste herausschauten.
Unschuldige, deren Leben es unbedingt zu schützen galt.

Phoebe nahm die T-Haltung ein, die sie im Karate-Kurs

gelernt hatte. Wenn nichts mehr half, musste sie eben
versuchen, Solomon Ford mit ein paar wohl platzierten Tritten
so lange aufzuhalten, wie es eben ging.

Es war ihr klar, wie absurd das war.
In diesem Moment schimmerte hinter den Schwestern die

Luft, und Paiges Körper erschien.

Sie verlor keine Zeit, packte Phoebe und Piper an der

Schulter, und entmaterialisierte sofort wieder.

»Hab euch!«, sagte sie noch, bevor Solomon Ford allein auf

dem Parkplatz stand.

Sein Wutschrei war durch die halbe Stadt zu hören.
Dann verschwand auch er.
Zurück blieben ein halb zertrümmertes Diner, eine

bewusstlose Cheerleaderin und ein Müllcontainer, der
allenfalls noch Schrottwert hatte.

Sandy, Trish und D’reen saßen auf dem Sofa im Wohnzimmer
der Halliwells und hatten die Augen geschlossen. Leo stand

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hinter ihnen und machte mit seinen Händen über ihren Köpfen
sachte Kreisbewegungen.

Phoebe, Piper und Paige sahen ihm eine Weile lang dabei zu.
Die Mädchen waren völlig aufgelöst gewesen, als sie nach

den Ereignissen am Diner plötzlich im Haus der Halliwells zu
sich gekommen waren.

Es war ja auch ein bisschen viel – binnen weniger Minuten

hatten sie ein Monster erschaffen, waren in Lebensgefahr
geraten und hatten schließlich eine Reise durch das Raum-Zeit-
Gefüge gemacht.

Das war genug Aufregung gewesen, um selbst bei

gestandenen Männern ein lebenslanges Trauma zu hinterlassen.
Darum hatte sich Leo angeboten, mit seinen Heilkräften für
etwas Seelenruhe zu sorgen. Die Mädchen befanden sich jetzt
in einer leichten Trance, und wenn alles vorbei war, würden sie
sich entspannt und ruhig fühlen.

Piper warf einen Blick auf das Buch, an das sich Trish

geklammert hatte. Sie konnte es kaum fassen – darauf stand
›Buch der Schatten‹!

»Seht euch das mal an«, sagte sie, und zeigte es ihren

Schwestern.

Phoebe und Paige waren nicht minder verblüfft.
»Ich dachte, davon gibt es nur eins«, meinte Paige.
»Der Legende nach ist es auch so«, murmelte Piper.
Sie blätterte in dem schweren Schinken. »Seltsam, es scheint

weniger Seiten zu haben als unseres. Und die Zaubersprüche –
sie sind sehr unsauber geschrieben, manche sind fast
unleserlich.«

Phoebe nahm das Werk in die Hand und warf einen kurzen

Blick hinein. »Also auf dieses Ding würde ich mich nicht
verlassen – bei der Sauklaue des Autors hätte ich Angst,
irgendwas falsch zu verstehen.«

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»Vermutlich ist genau das passiert«, meinte Leo, der nun die

Schülerinnen für ein paar Minuten allein lassen konnte,
während sie schliefen.

»Das erklärt, warum manche der Zaubersprüche nicht richtig

funktioniert haben«, schlussfolgerte Paige.

Phoebe hielt Leo den Band hin. »Dann ist das hier so eine

Art zweitklassige Kopie unseres Buches?«

Leo blätterte das Buch flüchtig durch. »Sieht ganz danach

aus. Wenn es euch nichts ausmacht, frage ich oben mal nach.
Ich bin so schnell es geht wieder da.«

»Erkundige dich gleich nach Fords Ehefrau«, gab ihm Piper

noch mit auf den Weg.

Leo nickte, während er sich bereits auflöste.
»Eine Kopie unseres Buches, wer hätte das gedacht«,

murmelte Paige. Sie sah die drei Mädchen an. »Wie mögen die
wohl daran gekommen sein?«

»Fragen wir sie doch«, meinte Phoebe. Sie klatschte kräftig

in die Hände und löste damit die Trance.

Verwirrt, aber nicht verängstigt sahen sie sich um.
»Wo sind wir?«, fragte Trish.
»Im Hause Halliwell«, erklärte Phoebe. »Ich bin Phoebe, und

das sind meine Schwester Piper und meine Halbschwester
Paige.«

»Schwester und Halbschwester?«, fragte Sandy verwundert.

»Ich dachte, Sie wären bloß Kolleginnen.«

»Und wir dachten, ihr wärt nur Schülerinnen«, hielt Piper

dagegen. »Wie heißt ihr?«

Die Mädchen stellten sich vor.
»Ihr seid Hexen«, bemerkte Phoebe, um das Trio aus der

Reserve zu locken.

»Nein!«, rief D’reen erschrocken.
»Echt nicht!«, beteuerte Sandy gequält.
Nur Trish schwieg. Ihr war klar, dass die Wahrheit kaum zu

leugnen war.

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Phoebe griff sich einen Stuhl und setzte sich absichtlich

falsch herum darauf, sodass die Rückenlehne nun vor ihrem
Oberkörper war. So etwas machten die Polizisten in den Krimis
immer, wenn sie jemanden verhörten.

»Ach, nein? Keine Hexen?«, fragte sie gespielt naiv. »Fassen

wir doch mal zusammen – ein Hexenbuch, drei Mädchen, ein
Monster und ein Hexentöter. Ich würde sagen, eine
vergleichsweise lückenlose Beweiskette. Ihr seid Hexen!«

Nun schienen auch Sandy und D’reen es für besser zu halten,

nichts mehr zu sagen.

»Ihr sitzt ganz schön in der Tinte«, verkündete Piper. »Mal

ganz abgesehen davon, dass mit Magie nicht zu spaßen ist, habt
ihr euch mit Solomon Ford einen Gegner ausgesucht, der es
wirklich ernst meint.«

»Aber wir wollten doch nur...«, begann Sandy zu

protestieren.

»Reich, schön und behebt sein«, winkte Phoebe ab.

»Geschenkt. Wer will das nicht?«

Auch wenn sie es nicht zeigte – sie hatte wirklich Mitleid mit

dem Trio. Wer konnte den Mädchen verdenken, dass sie die
Chance, beachtet zu werden, nutzen wollten?

»Was ist denn jetzt mit Caroline?«, fragte D’reen

schuldbewusst.

»Die wird schon wieder«, winkte Paige ab, die ganz genau

wusste, wer gemeint war. »Wir haben euren Zauber rückgängig
gemacht. Bis auf ein paar Beulen und stinkiger Kleidung wird
sie nichts mehr an dieses Abenteuer erinnern.«

»Ihr habt den Zauber rückgängig gemacht?«, echote Trish.

»Aber wie?«

Die drei Halliwells sahen sich an. Früher oder später mussten

sie es den Schülerinnen sowieso sagen.

Aber Paige würde es nicht tun. Sie knuffte Phoebe, die

ebenfalls heftig den Kopf schüttelte.

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Die jungen Frauen wussten natürlich, dass sie ein paar Leute

ins Vertrauen ziehen mussten. Aber Phoebe hatte eher darauf
gehofft, ihr Geheimnis ihrem Traummann zu verraten, und
nicht drei Halbwüchsigen.

Piper verdrehte die Augen. Es blieb mal wieder an ihr

hängen. »Okay, lange Rede, kurzer Sinn – wir sind auch
Hexen.«

Die Schülerinnen brauchten eine Minute, um diese Neuigkeit

zu verdauen. Normalerweise hätten sie gelacht, aber seit ein
paar Tagen wussten sie, dass es Magie wirklich gab.

»Ihr seid Hexen? Wie wir?«, fragte Trish fasziniert.
Phoebe schüttelte heftig den Kopf. »Nicht wie ihr, das

wollen wir mal gleich festhalten. Wir sind Profis – PROFIS,
kapiert? Geboren und ausgebildet für diesen Job. Wir haben die
Kräfte, die Erfahrung – und das echte Buch der Schatten.«

»Das echte Buch der Schatten?«, wiederholte D’reen. »Aber

was war dann unser Buch?«

»Keine Ahnung«, gab Piper ehrlich zu, »aber wir versuchen

gerade, das herauszufinden.«

»Ich verstehe das alles nicht«, jammerte Sandy.
»Ich versuche es mal mit der Kurzfassung«, sagte Piper. »Ihr

habt ein Buch mit sehr gefährlichen und teilweise scheinbar
falschen Zaubersprüchen in die Hände bekommen. Das ist
schlimm genug. Aber derzeit treibt ein Hexentöter sein
Unwesen, dem ihr als Anfänger ein gefundenes Fressen wärt.
Es ist deshalb extrem wichtig, dass ihr mit der Zauberei
aufhört. Denn nur durch die Zauberei kann er euch finden. Ist
das soweit klar?«

Die Mädchen nickten verschüchtert.
Phoebe lächelte aufmunternd. »Nun macht mal nicht so lange

Gesichter – bisher ist ja noch alles gut gegangen, und solange
ihr hier im Haus seid, kann euch auch nichts passieren.«

Plötzlich fasste sich Sandy entsetzt an den Mund. Zu ihrer

Freude war die Zahnspange immer noch weg.

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Auch D’reen war noch so schlank wie vorher, und Trishs

Brille war immer noch das Designer-Modell.

»Müssen wir unser Aussehen auch wieder rückgängig

machen?«, fragte Sandy deprimiert.

Piper, Phoebe und Paige sahen sich an. Daran hatten sie gar

nicht gedacht.

»Leider«, sagte Piper. »Solange ihr mit den Resultaten eurer

magischen Spielereien rumlauft, seid ihr vor Solomon nicht
sicher. Und vor anderen Dämonen auch nicht – Magie zieht
Magie an.«

Die Mädchen waren sichtlich enttäuscht und blickten

betreten zu Boden.

»Hey, was soll das?«, rief Phoebe aufmunternd. »Ihr tut ja

gerade so, als ob ihr Buckel und Holzbeine gehabt hättet!
Sandy, wie lange brauchst du deine Spange noch? Ein, zwei
Jahre? Dann wirst du wieder aussehen wie jetzt! Und D’reen –
Babyspeck ist völlig normal. Ich habe in deinem Alter nicht
anders ausgesehen. Und wenn dir, Trish, deine Klamotten so
viel wert sind, dann such dir einen Ferienjob – und erarbeite sie
dir! Ist doch alles kein Beinbruch.«

Den Mädchen wurde langsam klar, dass sie auch ohne Magie

die Dinge haben konnten, die sie wollten – nur würde es eben
länger dauern. Das hellte ihre Stimmung sichtlich auf.

»Und ihr seid echt Hexen?«, fragte Sandy nun.
»So echt, wie es nur irgend geht«, bestätigte Paige.
»Wie ist das denn so?«, wollte D’reen wissen.
»Anstrengend«, lachte Phoebe. »Man hat nicht viele

Freunde, schwebt ständig in Lebensgefahr – und weil der Job
nicht bezahlt wird, muss man nebenher arbeiten gehen.«

Das klang ganz anders, als die Mädchen sich das vorgestellt

hatten. »Aber die ganzen Vorteile...«, begann Trish unsicher.

»Vorteile?«, fiel ihr Piper ins Wort. »Welche Vorteile? Wir

riskieren jeden Tag unser Leben, und niemand darf davon
wissen. Jeder unbedachte Schritt kann unser letzter sein.«

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»So habe ich das noch nie gesehen«, gab Sandy kleinlaut zu.
Leo materialisierte im Wohnzimmer. In der Hektik auf dem

Parkplatz hatten die Mädchen gar nicht mitbekommen, was mit
ihnen geschehen war. Jetzt sahen sie zum ersten Mal bewusst,
wie das Teleportieren vor sich ging. Ihre Augen wurden groß.

»Das ist Leo«, erklärte Piper nicht ohne Stolz. »Mein

Ehemann.«

»Ist er auch eine Hexe... oder ein Hexer?«, fragte Trish

sichtlich begeistert.

»Nein«, sagte Leo. »Ich bin ein Wächter des Lichts. Ich helfe

und berate die Zauberhaften.«

Die Mädchen waren mächtig beeindruckt.
Die Halliwell-Hexen machten sich keine Sorgen um ihre

Geheimnisse, die sie an die drei Teenager verrieten. Sie hatten
längst den Entschluss gefasst, die Erinnerungen an diese
Erlebnisse auszulöschen, wenn die ganze Sache ausgestanden
war.

»Und – was hat unser Helfer und Berater herausgefunden?«,

fragte Piper scherzhaft.

Leo hielt ihr das falsche Buch der Schatten hin. »Eine ganze

Menge. Aber wir sollten dafür nach oben gehen.«

Piper nahm das Buch, das so viel Unheil angerichtet hatte.

»Sollen wir die Mädchen mitnehmen?«, fragte sie.

Leo nickte. »Es betrifft sie auch. Und oben ist es sicherer.«
Phoebe deutete Trish, Sandy und D’reen an, mit nach oben

zu kommen. »Wir gehen ins Hexenzimmer. Das wird euch
gefallen.«

Sandy schaute skeptisch die alte Holztreppe hinauf.
»Ist was?«, wollte Paige wissen.
»Na ja«, sagte Sandy, »ich hätte gedacht, Hexen haben ihren

Versammlungsraum im Keller.«

Die jungen Hexen sahen sich an, und schließlich antwortete

Phoebe: »Das ginge auch, aber da unten steht der Sperrmüll

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aus den letzten zwei Jahrhunderten – bis wir uns da
eingerichtet hätten, würden Jahre vergehen.«

121

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15

D

IE

M

ÄDCHEN WAREN

sichtlich beeindruckt. Obwohl sich das

Hexenzimmer auf dem Dachboden des Halliwell-Hauses
befand, entsprach es durchaus den Vorstellungen, die man aus
den Gruselfilmen der letzten dreißig Jahre mitgenommen hatte.

Durch das große Buntglasfenster erstrahlte der Raum in

vielfältigen Farben, insbesondere jetzt, da langsam die Sonne
unterging. Ein paar Antiquitäten von Oma Halliwell standen
herum, darunter eine alte Schneiderpuppe und ein antiker
Kinderwagen. Es war alles ein bisschen staubig, was allerdings
hauptsächlich daran lag, dass Phoebe ihrer Putzverpflichtung
nicht regelmäßig nachgekommen war.

Auf dem Holzboden waren Kreidereste von unzähligen

Pentagrammen und Beschwörungskreisen zu sehen, die für
Hexen unerlässlich waren.

In der Nähe des Fensters stand ein Podest, und auf dem

Podest lag der wertvollste Besitz der Halliwells – das Buch der
Schatten.

Das einzige Buch der Schatten!
Die Mädchen sahen sich fasziniert und neugierig um. D’reen

versuchte, das Buntglasfenster zu öffnen, doch es war zu.
Phoebe erklärte ihr, dass die Hexen des neuen Jahrtausends
nicht mehr auf Besenstielen fliegen mussten und deshalb auch
kein Dachfenster brauchten, das sich öffnen ließ.

Trish und Sandy schauten sich neugierig das Buch der

Schatten an, aber als sie es berühren wollten, stellten sie fest,
dass ein unsichtbares magisches Feld sie daran hinderte.

Die jungen Frauen ließen ihren Gästen ein bisschen Zeit, sich

an die Umgebung zu gewöhnen. Dann deutete Piper auf eine
alte Couch, die mit diversen Kissen ausgestattet war. »Nehmt
euch alle Kissen, und wir setzen uns im Kreis auf den Boden.«

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Nach kurzer Zeit saßen sie zu siebt auf den schweren Dielen,

bunt gemischt. Leo legte das falsche Buch der Schatten in die
Mitte.

»Wo habt ihr das her?«, wollte er wissen.
»Wir haben es auf einem Trödelmarkt in der Stadt gekauft –

letzte Woche«, sagte Trish zerknirscht.

»Du hast es gekauft!«, betonte Sandy.
»Und du hast mir einen Teil des Geldes gegeben!«, keifte

Trish zurück.

»Ganz ruhig!«, rief Phoebe. »Es geht schon lange nicht mehr

um Schuldfragen. Wir wollen bloß verstehen, wie das alles
passieren konnte.«

Paige drehte sich zu Piper. »Unglaublich, was man auf dem

Trödel alles finden kann.«

Sie selbst hatte bisher nicht einmal eine Erstausgabe von

Norman Mailers »Harte Männer tanzen nicht«, ergattern
können. Dabei war das doch ihr Lieblingsbuch.

»Noch was?«, hakte Phoebe nach.
»Na ja«, gab Trish zu, »irgendwie hat mich das Buch

angezogen. Wir hatten ja vorher schon erfolglos versucht zu
zaubern. Ich wusste einfach, dass es mit diesem Buch gelingen
würde.«

»Das ergibt Sinn«, erklärte Leo. »Ein Buch von solcher

magischer Kraft sucht förmlich nach einem Besitzer, der es zu
nutzen versteht. Und weil die Mädchen schon mit Magie
experimentiert hatten, waren sie eine leichte Beute.«

»Dann haben nicht wir das Buch gefunden – sondern das

Buch uns?«, fragte D’reen.

Leo nickte. »Magie hat zwei Pole – einen weißen und einen

schwarzen. Beide haben sehr starke Anziehungskräfte, und wer
einmal in ihrem Bann ist, kommt nur schwer wieder los.«

Piper deutete auf das Buch. »Aber wie kann es ein zweites

Buch der Schatten geben?«

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Leo atmete tief ein. »Der Rat der Ältesten hat für seine

Verhältnisse lange gebraucht, um darauf eine Antwort zu
finden. Vermutlich reicht die Geschichte dieses Bandes fast
tausend Jahre zurück.«

»Wow«, entfuhr es Phoebe. Für sie war es schon bis zum

Ersten des kommenden Monats immer eine endlos lange Zeit.

»Es ist eine Anekdote, auf die die Hexenzunft selber nicht

sehr stolz ist«, fuhr Leo fort. »Der Legende nach ist das Buch
der Schatten –
das echte – vor fast eintausend Jahren einmal
für ein paar Wochen verschwunden.«

»Verschwunden, wie?«, fragte Paige. »Einfach so? Es kann

sich doch nicht in Luft aufgelöst haben!«

»Nein«, sagte Leo kopfschüttelnd. »Es wurde gestohlen. Man

hat den Dieb später gefasst – es war ein Grimling. Auch das
Buch konnte sichergestellt werden.«

»Aber?«, hakte Phoebe nach. Das klang noch nicht wie das

Ende der Geschichte.

Leo nahm das falsche Buch der Schatten in die Hand.

»Dieses Buch bestätigt eine Theorie, die seit damals in
Höllenkreisen kursierte – das Buch der Schatten wäre kopiert
worden.«

Paige nahm ihm das Buch ab und blätterte beiläufig darin

herum. »Aber nicht sehr gut.«

»Genau«, nickte Leo. »Der Dieb hatte wohl nicht genug Zeit,

auf alle Details zu achten.«

»Und seit damals war die Kopie unauffindbar?«, wollte

Phoebe wissen.

Leo legte den Kopf schräg. »Das weiß niemand so genau. Es

gibt dunkle Gerüchte, geflüsterte Anekdoten. Wann immer ein
Hexenmassaker stattfand, gab es jemanden, der das kopierte
Buch der Schatten dafür verantwortlich machte.«

»Ich denke, damit ist ab heute Schluss«, verkündete Piper

resolut. »Wie können wir das Ding unschädlich machen?«

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»Das dürfte glücklicherweise nicht schwer sein. Hol doch

mal das richtige Buch der Schatten«, bat Leo.

Piper stand auf und ging zum Podest. Sie hatte das Buch der

Schatten kaum in die Hand genommen, da begannen beide
Bücher schon aufeinander zu reagieren.

Das Buch der Schatten fing an zu leuchten, in einem

kräftigen Grün. Die Kopie hingegen zitterte und bebte, als habe
sie – Angst!

Je näher Piper kam, desto stärker wurden das Leuchten und

Zittern.

»Wow«, stellte Phoebe beeindruckt fest, »da können sich

aber zwei gar nicht leiden!«

Auch Paige konnte ihren Blick nicht von dem seltsamen

Spektakel reißen.

Pipers Schritte wurden nun etwas schwerer. »Ich komme

kaum noch voran«, keuchte sie. »Hattest du nicht gesagt, es
würde einfach sein?«

Leo hob die Schultern. »Einfach im Sinne von unkompliziert,

nicht im Sinne von leicht.«

Manchmal wünschte sich Piper, Leo wäre etwas konkreter.
Phoebe sprang auf, um ihrer Schwester zu helfen.

Gemeinsam packten sie das Buch und drückten es auf den
Boden, wo die Kopie lag.

Die Fälschung zappelte wie verrückt, und mit einem Mal

rutschte sie einen ganzen Meter nach hinten – auf die Tür zu!

»Paige, wir brauchen einen Bannzauber!«, rief Phoebe.
Paige wusste sofort, was zu tun war. Sie griff in eine kleine

Pappschachtel, die in der Nähe stand, und zog ein Stück Kreide
heraus und malte damit einen Kreis um das falsche Buch der
Schatten.

Trish, Sandy und D’reen sahen fasziniert zu.
Die Kopie konnte nun nicht mehr weg und begann, innerhalb

des Bannkreises wie wild hin und her zu hüpfen.

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»Es spürt die Anwesenheit des Originals«, erklärte Leo, der

so etwas auch noch nicht erlebt hatte.

Piper und Phoebe schoben das echte Buch mühsam vor sich

her, als ob sie es gegen eine unsichtbare Mauer pressten.

Nun waren die Bücher nur noch einen Meter voneinander

entfernt. Das Buch der Schatten strahlte ein sattes Licht aus,
wie ein grüner Scheinwerfer. Einen Moment lang fragte sich
Phoebe, was die Nachbarn wohl dachten, die in diesem
Moment von außen das Licht durch das Buntglasfenster
scheinen sahen. Man hielt die Halliwells sowieso schon für
eigenartig.

Die Kopie lag nun wieder flach auf dem Holzboden und

zitterte leicht. Das Leder, in das die magischen Seiten
eingebunden waren, spannte sich, als ob sich das Buch gegen
den Boden presste.

Es gelang Phoebe und Piper, das Buch der Schatten trotz des

großen Widerstandes über die Fälschung zu legen.

Vier Hände pressten sich auf den prächtigen Einband, aber

ein unsichtbarer Puffer stemmte sich ihnen entgegen.

»Wir brauchen Hilfe!«, knurrte Phoebe.
Leo sagte nichts. Er hatte eine ziemlich genaue Vorstellung

davon, was nötig war, aber darauf mussten die Schwestern
selbst kommen.

»Die Macht der Drei!«, rief Paige plötzlich, und schlug sich

mit der flachen Hand vor die Stirn.

Genau das war es! Die Zauberhaften mussten wie immer

zusammenarbeiten, um ihre ganze Kraft zu entfalten.

Sie sprang auf und stellte sich auf die andere Seite des

Buches, das immer noch wie in einem Gruselfilm in der Luft
schwebte. Dann legte sie ihre Hände zu denen ihrer
Schwestern.

»Tief einatmen und bis drei zählen«, sagte Piper. »Eins, zwei

– drei!«

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Die Zauberhaften gaben ihr Bestes, und mit einem Ruck

pressten sie das Buch der Schatten zu Boden, direkt auf die
Kopie.

Es gab ein kurzes, fauchendes Geräusch, und auf allen Seiten

wölkte schwarzer Staub unter dem Einband hervor. Dann lag
das Buch der Schatten still – direkt auf dem Boden.

Die Kopie darunter existierte nicht mehr.
Phoebe wedelte sich theatralisch den Staub vor der Nase

weg.

»Das Original war nicht bereit, die Existenz der Fälschung

hinzunehmen«, erklärte Leo. »Und da seine magische Kraft
erheblich größer war, gelang es ihm mühelos, die Kopie zu
vernichten.«

»Ich möchte gar nicht wissen, wie schwer sich der Dämon

getan haben muss, der es vor tausend Jahren kopiert hat«,
überlegte Paige.

In der Tat hatten die Halliwell-Hexen keine Ahnung von den

Strapazen, die ein ehrgeiziger Grimling namens Kindelschlag
auf sich genommen hatte, um der dunklen Seite der Macht
einen Vorteil zu verschaffen. Sie wussten nicht, dass er dafür
auch sein Leben gelassen hatte, als ihn die Hexen nach fast
vollendeter Arbeit doch noch gefunden hatten. Und sie
machten sich keine Vorstellung davon, wie viele Dämonen
gestorben waren, um die Existenz des Buches zu schützen.

»Verdammt!«, rief Piper plötzlich lautstark. »Wir haben

gerade Magie benutzt! Was ist mit Solomon Ford?«

Alle Augen wandten sich zu Leo. Der legte den Kopf schräg,

wie so oft.

»Es waren die Bücher, die aufeinander reagiert haben. Genau

genommen habt ihr gar nichts getan. Ich denke, ihr seid
vorläufig sicher.«

Jetzt kamen auch die drei Mädchen wieder zu Wort.

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»Was ist an dem Hexentöter so schlimm?«, wollte Trish

wissen. »Ich meine, ihr habt doch Superkräfte, damit werdet ihr
den doch wohl locker schaffen!«

Piper musste lächeln – es war süß, wie beeindruckt die

Freundinnen von den Hexen waren. »Leider ist das nicht so
einfach. Wir dürfen unsere Kräfte gegen Ford nicht benutzen,
sonst werden wir sie auf immer verlieren.«

»Genau so wie wir gerade«, ergänzte D’reen ein bisschen

missmutig.

»Also nach allem, was ich heute erlebt habe, bin ich ganz

froh, keine Zaubermacht mehr zu haben!«, verkündete Sandy.

Phoebe hob die Hand, als wolle sie etwas sagen, aber dann

verkniff sie es sich doch.

»Was ist?«, hakte Paige nach, die gemerkt hatte, dass ihrer

Schwester etwas auf dem Herzen lag.

»Vergiss es«, winkte Phoebe ab. »Eine Schnapsidee.«
»Was ist eine Schnapsidee?«, wollte nun auch Piper wissen.
Phoebe ging einen Moment lang in sich.
Es war ihr eine Idee gekommen.
Eine Idee, die alle Probleme lösen konnte.
Ein Weg, Solomon Ford zu besiegen, ohne die eigenen

Kräfte für immer zu verlieren.

Aber es war ein gefährlicher Weg.
Und das nicht nur für die Zauberhaften.
Sie warf einen Blick zu Leo, dessen Augen gerade groß

wurden. Er hatte verstanden – und schüttelte entgeistert den
Kopf.

»Was ist jetzt?«, fragte Paige genervt.
Phoebe atmete tief durch und klatschte in die Hände.

»Mädels, geht doch schon mal ins Wohnzimmer und werft den
Fernseher an. Wir kommen gleich nach.«

Trish, Sandy und D’reen standen auf. Sie spürten, dass es

nun um Dinge ging, von denen sie besser nichts wissen sollten.

Sie waren schließlich keine Hexen mehr.

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Die Mädchen trollten sich in Richtung Treppe.
»Wenn ihr Hunger oder Durst habt, bedient euch am

Kühlschrank!«, rief Piper, wie immer besorgt, ihnen nach.

Als Piper, Phoebe, Paige und Leo unter sich waren, nahm

Piper den Gesprächsfaden wieder auf: »Phoebe, du hast in
deinem ganzen Leben noch keinen Satz runtergeschluckt, also
fang nicht heute damit an. Was immer dir eingefallen ist – raus
damit!«

Phoebe blickte wieder zu Leo, der unmerklich den Kopf

schüttelte.

Aber Phoebe hatte ihre Entscheidung getroffen. Es musste

gesagt werden, dann erst konnten sie weitere Schritte planen.

»Wir müssen den Mädchen unsere Kräfte übertragen – und

sie für den Kampf gegen Solomon Ford trainieren!«, sprudelte
es aus ihr heraus.

Drei, vier Sekunden lang herrschte atemlose Stille.
Leo schloss die Augen – genau das hatte er befürchtet.
»Unmöglich!«, keuchte Piper schließlich entsetzt. »Sie sind

doch bloß Schulmädchen!«

»Es sind Unschuldige!«, ergänzte Paige. »Wir müssen

Unschuldige schützen. Das könnte uns unsere Hexenkräfte
kosten – und uns in die Hölle bringen!«

Phoebe hob abwehrend die Hände. »Ich weiß, ich weiß, es ist

nicht der Königsweg. Aber es löst diverse Probleme auf
einmal. Trish, Sandy und D’reen haben den Staub von Ford
nicht eingeatmet – sie können unsere Kräfte einsetzen, ohne sie
zu verlieren!«

»Gegen Solomon Ford?«, fragte Piper. »Der achtzig Hexen

auf dem Gewissen hat – den willst du mit drei Schulmädchen
bekämpfen?«

Phoebe schwieg jetzt. Sie hatte ihren Vorschlag gemacht. Ob

er angenommen wurde, lag nicht in ihrer Hand.

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»Ich weiß nicht«, murmelte Paige. »Soweit ich mich

erinnere, werden Hexen für die Gefährdung Unschuldiger
ziemlich hart bestraft, oder nicht, Leo?«

Leo schüttelte langsam den Kopf. »Ich denke, die Mächte des

Guten hätten in diesem Fall vielleicht ein Einsehen. Schließlich
geht es um die Vernichtung eines gefährlichen Dämons.
Allerdings müssen die Mädchen freiwillig und in Kenntnis der
Gefahr zustimmen.«

Piper konnte es nicht fassen. »Du stimmst diesem Plan zu?«
Leo ahnte, dass er gerade eine Woche auf dem Sofa

gewonnen hatte. »Ich stimme nicht zu. Ich darf diese
Entscheidung nicht beeinflussen, das weißt du. Aber was
Phoebe sagt, macht durchaus Sinn.«

»Die drei gehen ja nicht alleine in den Kampf. Wir können

sie trainieren, und wenn Ford auftaucht, stehen wir ihnen bei,
so gut es geht«, verteidigte Phoebe ihre Idee.

»Ich kann nicht glauben, dass ihr das wirklich in Betracht

zieht. Das geht doch gegen alles, wofür wir stehen«, beharrte
Piper. Sie warf Paige einen Blick zu. »Was meinst du?«

»Ich weiß nicht«, begann Paige. »Ich will doch auch nicht,

dass den Mädchen was passiert. Aber irgendwie hat Phoebe
schon Recht – wenn wir Solomon Ford nicht aufhalten, wird es
früher oder später eine Katastrophe geben!«

»Wir sollten auch nicht vergessen, dass Ford mit dieser

Strategie nicht rechnet – das Überraschungsmoment wäre auf
unserer Seite.«

Piper warf entnervt die Arme in die Luft. »Wie es aussieht,

seid ihr euch ja alle einig!«

Leo legte ihr die Hand auf den Arm. »Liebling, diese

Entscheidung kann nicht ohne dich getroffen werden. Eine für
alle, alle für eine. Es ist kein Mehrheitsvotum, sondern die
Einigkeit der Zauberhaften, die gefragt ist.«

Piper schloss einen Moment lang die Augen. In ihrem Kopf

drehte sich alles. Dieser Plan widersprach allem, was sie für

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gut und richtig hielt. Sie war der Typ Mensch, der jederzeit
bereit war, sich für den anderen zu opfern, und der Gedanke,
dass sich jemand für sie opferte, schien ihr unerträglich.

Andererseits löste ihre Ablehnung das Problem mit Solomon

Ford auch nicht. Es machte keinen Sinn, so zu tun, als hätte
ihre Entscheidung nichts mit dem Hexentöter zu tun. Diese
Dinge hingen zusammen und hatten Konsequenzen.

Die Frage war – hatte ein Nein womöglich schlimmere

Folgen als ein Ja? Wer konnte das sagen? Wer wollte das
entscheiden?

Sie öffnete die Augen wieder.
»Und?«, fragte Paige neugierig.
»Wenn die Mädchen zustimmen, werden wir es probieren!«,

verkündete Piper. »Aber wenn sie im Training versagen, blasen
wir den Plan ab.«

Phoebe und Paige nickten. Es war keine Begeisterung in

ihren Gesichtern zu sehen, schließlich waren sie sich darüber
im Klaren, dass sie gerade drei Unschuldige wissentlich der
Lebensgefahr aussetzten.

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16

»

G

IB HER

!«,

RIEF

S

ANDY

und versuchte, D’reen die

Fernbedienung aus der Hand zu drehen. »Ich will ›Angel‹
gucken!«

»Kommt nicht in Frage!«, wehrte sich D’reen. »›Friends‹ ist

viel lustiger!«

Trish kam aus der Küche – sie kaute auf einer Selleriestange

herum.

»Hört mit dem Quatsch auf. Glaubt ihr, dass echte Hexen

ihre Abende streitend auf dem Sofa verbringen?«

Sie hatte zwar keine Ahnung, wie richtig sie damit lag, aber

ihre Kritik zeigte auch so die gewünschte Wirkung – Sandy
und D’reen beruhigten sich wieder.

»Wir sind ja nicht mehr Hexen«, schmollte Sandy.
Trish setzte sich auf die Rückenlehne der Couch. »Und wir

sollten froh darüber sein. Es ist doch wirklich alles schief
gegangen.«

Das stimmte allerdings.
»Aber immerhin sind wir jetzt mit echten Hexen befreundet«,

sagte D’reen. »Wir sind doch mit ihnen befreundet, oder?«

Auf diese Frage wusste Trish auch keine Antwort. Sie hatten

mit den Halliwells einiges erlebt, aber das war ja kaum
freiwillig gewesen. Es schien ihr unwahrscheinlich, dass die
drei Frauen allen Ernstes mit drei Teenagerinnen befreundet
sein wollten.

»Vielleicht sollten wir gehen«, murmelte sie.
Von der Treppe her waren Geräusche zu hören. Die

Halliwells kamen vom Dachboden herunter.

»Wo ist Leo?«, fragte Trish, die augenscheinlich Gefallen an

dem jungen Wächter des Lichts gefunden hatte.

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»Er muss etwas in Erfahrung bringen«, antwortete Piper mit

seltsam gepresster Stimme. »Etwas, das mit Hexenregeln zu
tun hat.«

»Ich denke, es ist Zeit, dass wir uns auf den Heimweg

machen«, verkündete Trish. »Unsere Eltern machen sich
wahrscheinlich schon Sorgen.«

Auch Sandy und D’reen erhoben sich.
»Moment noch!«, hielt Paige sie zurück. »Wir wollen noch

etwas mit euch besprechen. Geht das?«

Innerlich waren die Mädchen begeistert – sie hatten ja nur

gehen wollen, weil sie dachten, sie würden ihnen zur Last
fallen.

»Klar«, sagte D’reen, und ließ sich wieder auf das Sofa

plumpsen. Sandy und Trish setzten sich daneben.

»Wir haben euch ja von unseren Problemen erzählt«, begann

Phoebe.

»Der Hexentöter«, sagte Trish.
»Solomon Ford«, ergänzte Sandy.
Phoebe nickte. »Und ihr wisst auch, dass wir ihn nicht direkt

bekämpfen können, weil wir sonst unsere Kräfte verlieren.«

Die Mädchen nickten.
»Es ist wichtig, dass ihr jetzt gut zuhört«, übernahm Piper.

»Solomon ist ein extrem gefährlicher Dämon, der in den letzten
Jahrhunderten viele Hexen getötet hat.«

Es war offensichtlich, dass die Nachwuchs-Hexen keine

Ahnung hatten, worauf dieses Gespräch hinauslaufen sollte.
Aber sie nickten noch einmal.

»Wenn wir Solomon Ford nicht stoppen können, geht es

nicht nur uns an den Kragen – sondern vielen Hexen in der
ganzen Welt«, erklärte Paige.

»Aber ohne eure Kräfte habt ihr doch keine Chance!«, rief

Sandy.

»Stimmt«, begann Piper, »hier ist der Knackpunkt. Wir

haben zwar Kräfte, aber wir dürfen sie nicht einsetzen.«

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Sie ließ den Satz einen Moment lang im Raum stehen. Es

war wichtig, dass die Mädchen selbst zwei und zwei
zusammenzählten.

»Wenn ihr also eure Kräfte auf jemanden übertragen würdet,

könnte dann dieser jemand mit euren Kräften gegen Solomon
Ford kämpfen?«, fragte Trish langsam.

Der Groschen fiel.
Mehr als ein Groschen.
Ein ganzes Sparschwein von Kleingeld prasselte auf den

Boden des Hauses.

»Ihr wollt, dass wir für euch kämpfen«, schlussfolgerte

Sandy atemlos. Sie begann zu hyperventilieren.

»Gegen einen Dämon?«, setzte D’reen hinzu.
Die Zauberhaften schluckten. Jetzt war es raus.
»Wir würden euch trainieren und euch natürlich im Kampf

beistehen. So wie bei ›Karate Kid‹!«, erklärte Phoebe.

»Bei ›Karate Kid‹ ging es aber nicht um Leben und Tod«,

zischte Piper, die den Ernst der Lage nicht verheimlichen
wollte.

Die drei Mädchen sahen sich an. Es war eines dieser

Angebote, die man wohl nur einmal im Leben bekam – und
wenn man Mist baute, war es mit dem Leben danach auch
vorbei.

Piper war beruhigt, dass es den Schülerinnen sichtlich

schwer fiel, eine Entscheidung zu treffen. Denn das bedeutete,
dass sie sich der Verantwortung bewusst waren.

Trish und D’reen rangen noch um eine Antwort, als

ausgerechnet die schüchterne Sandy sich zu Wort meldete.
»Mein Dad hat mir mal etwas gesagt, als ich Angst hatte, ins
Sommercamp zu fahren. Er hat gesagt: ›Du musst nicht fahren,
niemand wird dich zwingen oder dir Vorwürfe machen – aber
wenn du jetzt kneifst, bist du ein Feigling. Und du wirst immer
jemand sein, der davonläuft. Es ist eine Entscheidung, die jeder
allein treffen muss. Was willst du sein?‹«

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Seltsame Erziehungsmethoden, fand Piper. Aber sie musste

sich da raushalten – auch ihre Eltern waren nicht unbedingt ein
Vorbild gewesen. Wer weiß, ob sie als Mutter es besser
machen würde? Sie hatte schließlich keine Kinder, mit denen
sie es beweisen konnte.

Sandy sah Trish und D’reen an. »Ich bin kein Feigling. Ich

bin dabei.«

Trish nickte entschlossen. »Vielleicht können wir ja auf die

Art etwas von dem Schaden wieder gutmachen, den wir
angerichtet haben. Ich bin auch dabei.«

D’reen brauchte etwas länger, um sich zu überwinden.

»Meine Mom wird mich umbringen, wenn sie das jemals
herausfindet. Aber ich bin dabei.«

Wieder brachen Piper, Phoebe und Paige nicht in

Begeisterungsstürme aus. Denn es war eine schwer wiegende
Entscheidung, und ob sie richtig war, würde sich noch
herausstellen.

»Okay«, sagte Phoebe schließlich, »dann sind wir uns also

einig. Könnt ihr eure Eltern benachrichtigen und erklären, dass
ihr woanders übernachtet?«

»Wo denn?«, fragte Sandy.
»Na, hier«, erklärte Piper.
Die Mädchen sahen sich aufgeregt an.
Sie würden die Nacht in einem Hexenhaus verbringen!
Wie auf Kommando zogen sie alle drei Handys aus den

Taschen, klappten sie auf und drückten Kurzwahltasten.

Es war ein faszinierendes Schauspiel, drei Schülerinnen

dabei zuzusehen, wie sie ihren Eltern erklärten, dass sie die
Nacht bei der jeweils anderen Freundin verbringen würden –
Sandy bei Trish, Trish bei D’reen und D’reen bei Sandy.

Nach kaum einer Minute war alles erledigt, und die Handys

wanderten zurück in die Taschen.

»Das macht ihr wohl öfter«, stellte Paige fest.
»Ständig«, winkte Sandy ab.

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»Sonst käme man ja zu gar keiner Party mehr«, erklärte

Trish.

Die jungen Frauen sahen sich ein bisschen deprimiert an –

die Mädels waren so sympathisch, dass es schwer fiel, sie der
Gefahr aussetzen zu müssen.

Plötzlich leuchtete ein blauer Funkenregen auf, und Leo

erschien. Die Hexen erhofften sich ein paar Tipps von ihm, wie
sie in dieser Angelegenheit am besten vorgehen sollten.

»Und?«, fragte Piper sofort. »Was hat der Rat der Ältesten

gesagt?«

Leo verzog das Gesicht. »Er ist natürlich nicht begeistert,

versteht aber die Problematik. Es ist auch in seinem Interesse,
dass Solomon Ford das Handwerk gelegt wird. Außerdem habt
ihr mit der Vernichtung des falschen Buches Pluspunkte
gesammelt.«

Die Halliwell-Hexen atmeten auf. Es war gut zu wissen, dass

›die da oben‹ ihnen keine Hindernisse in den Weg legen
würden.

»Eine interessante Frage kam allerdings auf«, fuhr Leo fort.

»Wie wollt ihr die Mädchen trainieren, ohne gleich Solomon
Ford anzulocken?«

Verdammt! Daran hatten die Hexen nicht gedacht. Sobald

eine von ihnen ihre magischen Kräfte demonstrieren würde,
hätte Ford ein leichtes Spiel.

Phoebes Schultern sackten zusammen. »Und was sollen wir

nun machen?«

Leo grinste. »Der Rat der Ältesten hat sich entschlossen,

euch zu helfen.«

»Uns zu helfen?«, fragte Piper ungläubig.
Das war schon sehr ungewöhnlich. Der Rat der Ältesten hielt

sich meist aus irdischen Angelegenheilen heraus, und
manchmal arbeitete er sogar direkt gegen die Hexen – wie bei
dem Versuch, die Heirat von Piper und Leo zu vereiteln.

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»Wie soll denn das gehen?«, wollte Phoebe wissen.

»Schicken sie uns eine Armee aus Lichtwesen, die Ford
ablenkt, bis wir die Mädchen trainiert haben?«

Leo schüttelte den Kopf. »Viel einfacher. Ich habe die

Erlaubnis, euch in eine andere Dimension zu bringen. Eine
Dimension, in der Ford euch nicht aufspüren kann. Dort habt
ihr die Möglichkeit, ausgiebig zu trainieren.«

»So lange kann ich aber nicht wegbleiben«, wandte Trish ein.

»Der Trick mit den Übernachtungen funktioniert maximal zwei
Tage.«

Phoebe winkte ab. »Da braucht ihr euch keine Sorgen zu

machen. In den Dimensionen des Lichts herrschen andere
Gesetze. Wenn wir es richtig anstellen, wird auf der Erde kaum
Zeit vergehen, bis wir zurückkommen.«

»Wow«, murmelte Sandy nur.
Da konnten ihr die beiden anderen nur beipflichten.
Paige klatschte in die Hände. »Gut, damit haben wir

zumindest schon mal einen Plan – und eine Chance, ihn zu
überleben. Was machen wir jetzt?«

Piper gähnte herzhaft. »Erst einmal schlafen. Ich bin

hundemüde.«

Sie sah, wie die Mädchen unsicher auf den Boden starrten.
»Paige schläft bei mir«, verkündete Phoebe. »Zwei von euch

können dann in Paiges Zimmer schlafen. Schlafanzüge
bekommt ihr gestellt.«

»Und die Dritte kann bei mir übernachten«, warf Piper ein.

»Mein Bett ist groß genug.«

Leo berührte sie sacht am Arm. »Und ich?«
Piper sah ihren Mann zuckersüß an.
»Du schläfst auf der Couch«, flötete sie. »Schließlich

wolltest du ja unbedingt mit meinen Schwestern zusammen
gegen mich stimmen.«

Leo seufzte. Er hatte es geahnt.

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E

S WAR NOCH DUNKEL

, und um diese Jahreszeit bedeutete das,

dass es keine fünf Uhr war.

Vorsichtig tapste D’reen die Treppe aus dem ersten Stock

hinunter. Es fiel ihr nicht leicht, sich in dem fremden Haus zu
orientieren, aber sie wollte kein Licht machen.

Es war ihr einfach zu peinlich.
D’reen hatte einen Bärenhunger.
Den hatte sie öfter. Darum sah sie ja auch so aus, wie sie

aussah. Manchmal verfluchte sie sich dafür. Aber ihr war klar,
dass der liebe Gott Eiskrem und Hot Dogs nicht erschaffen
hatte, damit man hungerte.

Außerdem – ab morgen würden sie in einer anderen

Dimension trainieren. Wer konnte da schon wissen, ob es dort
etwas Anständiges zu essen gab?

Zum Glück hatte Sandy, mit der sie das Bett teilte, nichts

gemerkt. Die schlief immer wie ein Murmeltier.

D’reen tastete sich in der Küche zum Kühlschrank vor. Sie

erschrak ein bisschen, weil das Licht dort drin ziemlich hell
war und fast die ganze Küche erleuchtete.

Sie beäugte das Angebot. Es gab viele Zutaten, aus denen

man sicher ein tolles Essen machen konnte – wenn man drei
Stunden Zeit und Pipers Talent hatte. Für sich allein
genommen waren die Lebensmittel unbrauchbar – rohes
Gemüse, verschiedene Sorten kalt gepresstes Öl, gehackte
Kräuter und ein paar Gläser mit Braten- und Geflügelfond.

Erst ganz hinten, auf der untersten Ablage, wurde D’reen

fündig – eine halbe Pizza con tonno!

Sie nahm sich begeistert ein Stück und biss hinein.
Traumhaft! Genau deswegen aß sie so gerne. Der herzhafte

Geschmack, der knusprige Teig, einfach perfekt. Auch kalt.

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»Die hatte ich mir eigentlich für morgen aufheben wollen«,

ertönte plötzlich Paiges Stimme hinter D’reen.

Vor Schreck verschluckte sich das Mädchen, begann zu

husten, und stieß dabei so heftig den Kopf nach vorne, dass sie
am Tiefkühlfach anschlug.

»Auhhh«, jammerte sie gedehnt, als sie endlich wieder den

Mund leer hatte.

Paige lachte leise, um den Rest der Hausbewohner nicht zu

wecken. »Keine Panik, ich reiße dir schon nicht den Kopf ab.
Ich war nur überrascht, dass ich nicht mehr die Einzige bin, die
sich nachts zum Kühlschrank schleicht.«

»Du auch?«, fragte D’reen überrascht.
Paige deutete kritisch auf ihre Hüften. »Was meinst du, wo

ich die herhabe – vom Schlussverkauf? Ich kämpfe seit Jahren
gegen mein Gewicht – und verliere immer wieder.«

Das Mädchen war ernsthaft beeindruckt, dass auch so eine

gut aussehende Hexe Probleme mit der Figur hatte.

»Ich schäme mich manchmal richtig für meine Esserei«,

meinte D’reen.

Paige blickte in den Kühlschrank, und zog sich das zweite

Stück Pizza heraus. »Das ist der Fehler. Essen ist Genuss – den
darf man sich nicht mit Schuldgefühlen vermiesen.«

Sie biss herzhaft in die kalte Pizza.
»Hhhmmm«, machte sie, und verdrehte die Augen.
»Aber ich will nicht dick werden!«, protestierte D’reen. »In

der Schule machen sie sich schon lustig über mich.«

»Der Trick ist die Balance«, sagte Paige kauend, »permanent

Pizza und Cola, und dazu den Hintern nicht hoch bekommen –
das ist ungesund. Ich habe als Hexe viel Bewegung. Zum
Glück! Würde ich alles zusammenrechnen, dann käme ich
bestimmt schon auf dreihundert Kilometer, die ich hinter
Dämonen her- oder vor Dämonen weggelaufen bin.«

D’reen kicherte. So hatte sie das noch gar nicht gesehen.

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»Wenn man um der Figur willen keine so drastischen

Maßnahmen ergreifen will, tut es ein bisschen Sport auch«,
fuhr Paige fort. »Und wenn du mal ein paar Tage von Quark
und Äpfeln gelebt hast, weißt du die Pizza doppelt zu
schätzen.«

»Und das ist alles? Davon werde ich schlank?«, fragte

D’reen ungläubig.

Paige schüttelte den Kopf. »Seien wir ehrlich zueinander –

wir haben nicht die Figur von Supermodels. Es liegt nicht in
unseren Genen. Was auch immer wir tun – der Hintern bleibt
einen Tick zu breit und die Oberarme einen Tick zu schlaff.
Aber du würdest dich wundern, wie viele Jungs lieber
Mädchen im Arm halten, an denen sie sich keine blauen
Flecken holen.«

»Quatsch«, winkte D’reen ungläubig ab. »Die wollen doch

alle nur superschlanke Zicken.«

Paige biss noch einmal von der Pizza ab und sah das

Mädchen streng an. »Denk mal scharf nach – viele der Jungs in
der Schule haben doch sicher Pin-up-Bilder in ihren Spinden
hängen, oder?«

D’reen kicherte. »Stimmt. Sie versuchen immer, das zu

verstecken, aber ich hab’s selber gesehen.«

»Lass mich raten«, fuhr Paige fort, »es sind keine Fotos von

Hungerhühnern wie Kate Moss oder Christina Aguilera,
richtig?«

D’reen dachte einen Moment nach. Danny Beardsley hatte

Anna Nicole Smith in seinem Spind, bei Ricki Gruber war es
Alicia Silverstone – und George Halsey stand total auf
Christina Ricci!

Es stimmte – die meisten Jungs erfreuten sich scheinbar eher

am Anblick von Kurven als von Knochen.

In D’reens Gesicht ging die Sonne auf.

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Auch Paige grinste. Es machte Spaß, einem jungen Mädchen

bei den Pubertätsproblemen zu helfen. Langsam verstand sie,
warum Phoebe ihr Job bei der Zeitung so gefiel.

»Und jetzt runter mit dem Rest der Pizza«, befahl sie

scherzhaft. »Morgen werden die Kalorien sowieso wieder
abtrainiert«.

»Schläfst du?«

Natürlich weckte genau diese Frage Piper auf, und sie

brauchte ein paar Sekunden, um sich zu orientieren.

Es war dunkel, also war es noch Nacht.
Es war eine weibliche Stimme, also war es nicht Leo.
Dann musste es Trish sein.
Das Mädchen hatte bei Papier-Schere-Stein verloren und war

deshalb bei Piper untergekommen.

»Was gibt’s?«, murmelte Piper etwas muffelig.
Sie war zwar die Einzige der Halliwells, die morgens gut aus

dem Bett kam, aber das hieß nicht, dass es ihr auch gefiel.

»Ich kann nicht schlafen«, flüsterte Trish.
Solange du quasselst, kann ich auch nicht schlafen, dachte

Piper, aber ihr war klar, dass das unfair war. Die Mädchen
hatten unglaubliche Dinge erlebt, und ihnen dämmerte, dass
noch viel unglaublichere Dinge auf sie warten würden. Da
waren nervöse Einschlafstörungen mehr als verständlich.

Piper rappelte sich ein bisschen hoch, drückte ihr Kopfkissen

an das hölzerne Kopfteil des Bettes und lehnte sich dagegen.
Ein Blick auf den Radiowecker verriet ihr, dass es kurz nach
vier Uhr war.

Sie sah Trish an. »Du hast noch kein Auge zu getan, oder?«
Trish schüttelte den Kopf. »Ich habe Angst«, verriet sie.
»Ich auch«, gab Piper zu.
»Aber ihr kämpft doch ständig gegen Dämonen«, flüsterte

Trish erstaunt.

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»Wenn man keine Angst mehr hat, ist man auch nicht mehr

vorsichtig«, belehrte Piper sie. »Dann macht man die
schlimmsten Fehler. Angst ist etwas sehr Gesundes. Sie
bewahrt uns vor Dummheiten.«

Trish antwortete nicht.
»Hast du Angst, eine Dummheit zu machen?«, hakte Piper

nach.

Sie war entschlossen, den Mädchen die Chance zu geben,

jederzeit aus diesem Himmelfahrtskommando auszusteigen.

Plötzlich erkannte sie im Mondlicht, wie Trish eine Träne

aus dem Auge lief.

Instinktiv legte Piper den Arm um das Mädchen. »Hey, was

ist denn los?«

Trish schniefte und wischte sich mit dem Ärmel ihres

Pyjamas über die Augen. »Es ist nur... ich meine, ich will euch
ja helfen, Solomon Ford zu besiegen. Aber ich bin doch erst
fünfzehn!«

Piper drückte das Mädchen sanft an sich. »Ich weiß. Und ich

weiß, dass es eine ungeheure Verantwortung ist. Als meine
Schwestern und ich erfahren haben, dass wir Hexen sind,
waren wir auch nicht gerade begeistert.«

»Sandy und D’reen sind normalerweise die Hasenfüße«,

schluchzte Trish. »Und ich muss sie zu allem überreden. Ohne
mich hätten sie nie mit der Zauberei angefangen – und ich war
es doch, die das falsche Buch der Schatten gekauft hat!«

Piper dachte einen Augenblick darüber nach, was die beste

Antwort war. »Trish, unter Freunden sind nie alle gleich –
unter Schwestern auch nicht. Jede hat eine bestimmte Aufgabe,
die sie erfüllen muss. Nimm uns – Phoebe ist die Macherin, sie
traut sich alles zu. Paige hat uns durch ihre Vorsicht schon viel
Ärger erspart. Und meine Aufgabe ist es – na ja, alles zu
organisieren. Ich achte darauf, dass der Halliwell-Haushalt
nicht zusammenbricht. Bei euch ist das ähnlich. Du bist die
Anführerin, du bestimmst das Tempo.«

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»Aber ich habe keine Lust, immer Anführerin zu sein!«,

heulte Trish. »Ich habe auch Angst, ich möchte auch mal
mitgeschleppt werden!«

»Schhhh«, machte Piper und strich Trish über die Haare.

»Ich weiß. Es ist nicht immer einfach. Aber nur du hast diese
Stärke. Die Aufgabe, die uns angetragen wird, ist nicht immer
die, die wir uns aussuchen würden. Auch das war bei uns nicht
anders.«

Sie griff zum Nachttisch, wo eine Kleenex-Box stand. Dann

hielt sie Trish ein Taschentuch unter die Nase.

»Du und ich«, flüsterte Piper, »wir sind die Verantwortlichen

in unseren jeweiligen Cliquen. Wir müssen manchmal für die
anderen mitdenken. Das ist oft anstrengend, und ich habe
selber oft nachts ins Kissen geheult, aber glaub mir – wir wären
nicht glücklich.«

Piper wusste, wovon sie sprach. Als ihre Schwester Prue

noch lebte, war diese immer der Mittelpunkt gewesen, der
Motor der Zauberhaften. Als Puffer zwischen Prue und dem
Nesthäkchen Phoebe hatte sich Piper oft aufgerieben. Seit Prue
nicht mehr da war, fühlte sich Piper in der Rolle als
›Hausmutter‹ erheblich wohler.

Trish schnäuzte sich die Nase. »Ich glaube, du hast Recht.

Wo kämen wir hin, wenn Sandy alle Entscheidungen für uns
treffen würde?«

»Oder Phoebe?«, hielt Piper dagegen.
Sie mussten lachen.
Trish gähnte.
Piper strich ihr sanft über die Wange. »Na also, da kommt

die Müdigkeit ja doch noch angekrochen.«

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18

E

S WAR EIN WUNDERSCHÖNER

Samstagmorgen. Eigentlich zu

schön, um sich dunkle Gedanken zu machen.

Die Halliwells, die drei Freundinnen und Leo hatten

ausgiebig gefrühstückt. Mit Saft, Schwarzbrot und Obst
gestärkt besprachen sie noch einmal ihre Pläne.

»Wir werden in der anderen Dimension so lange trainieren,

bis ihr unsere Kräfte instinktiv einsetzen könnt«, erklärte
Phoebe. »Danach müsst ihr Teamwork erlernen, denn nur als
perfekt eingespieltes Trio habt ihr eine Chance gegen Ford.«

Phoebe war definitiv am besten geeignet, um die Mädchen in

der Kunst der Selbstverteidigung zu unterweisen. Sie hatte
selber Karate gelernt und brachte auch Paige und Piper ein paar
Tricks bei.

»Wenn wir der Meinung sind, dass ihr bereit seid«, fuhr

Piper fort, »und ihr diese Aufgabe immer noch bewältigen
wollt, werden wir uns einen Ort aussuchen, an dem wir
Solomon Ford bekämpfen können, ohne Unschuldige in Gefahr
zu bringen. Dort locken wir ihn dann hin.«

Die drei Mädchen nickten ernst.
»Sollen wir uns eine Thermoskanne Kaffee mitnehmen und

vielleicht ein paar Schnittchen?«, fragte Paige, was allgemeines
Gekicher auslöste.

»Ist nicht nötig«, antwortete Leo. »Ich bin ja auch noch da.

Wenn ihr was braucht, dann betrachtet mich einfach als euren
Pizzaboten.«

Bei der Erwähnung des Wortes Pizza warfen sich Paige und

D’reen einen verschwörerischen Blick zu.

Jetzt erst fiel Piper etwas ganz anderes auf. »In den

Klamotten könnt ihr aber nicht trainieren.«

Die Mädchen sahen sich gegenseitig an.
Es stimmte.

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Sandy trug viel zu enge Jeans, in Trishs Pullover konnte man

eine ganze Armee verstecken und D’reen hatte Sandalen an.

»Ab in die Wäschekammer!«, befahl Piper.
Glücklicherweise hatten die Schwestern säckeweise alte

Klamotten in allen Größen, inklusive der Sachen von Prue. Es
würde sich sicher etwas finden.

Und so war es auch.
Sandy passte prima in die Laufschuhe von Prue und zog dazu

einen Jogging-Anzug an, den Phoebe seit ihrem sechzehnten
Geburtstag nicht mehr getragen hatte. Trish hatte fast die
gleiche Größe wie Piper und konnte sich bei ihr eindecken.
Selbst D’reen war kein Problem, denn Paige hatte noch
genügend Sportklamotten aus der Zeit, als sie noch nicht im
Traum daran gedacht hatte, Sport zu treiben.

Am Schluss waren die Junior-Hexen wie zur Sportstunde

gekleidet.

»Prima«, verkündete Paige zufrieden. »Nun scheinen wir ja

loslegen zu können.«

Alle sieben stellten sich im Kreis auf.
»Paige und ich werden unsere Kräfte verbinden«, erklärte

Leo. »Und da man uns in der Dimension erwartet, wird der
Transfer relativ einfach. Fasst euch an den Händen.«

»Wird das wehtun?«, fragte Sandy.
Phoebe drückte ihr Vertrauen erweckend die Hand. »Nein,

keine Sorge. Das geht so leicht wie eins, zwei...«

Es funkelte um die kleine Gruppe herum. Die Mädchen

schlossen reflexartig eine Sekunde lang die Augen.

Als sie sie wieder öffneten, befanden sie sich in einer

anderen Dimension.

»... drei!«, beendete Phoebe ihren Satz.
Die drei Hexen und die drei Freundinnen schauten sich

überwältigt um.

Es war unglaublich.
»Ist das der Himmel?«, fragte Trish.

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Diese Dimension war wunderschön, sehr ruhig, aber definitiv
seltsam.

Vielleicht lag es bloß daran, dass man es auf der Erde nicht

gewohnt war, in die Unendlichkeit sehen zu können.

Diese Dimension hatte nicht die Wölbung einer Kugel wie

die Erde, sondern die einer Scheibe. Es gab keinerlei Hügel
oder Täler, alles war völlig flach und schien in alle Richtungen
so weiterzugehen, bis in alle Ewigkeit. Es war kein Horizont zu
erkennen. Nur eine gedämpft weiße, völlig ebene Oberfläche.

Paige blickte nach oben. Es gab auch keinen Himmel, den

man als solchen bezeichnen konnte. Keine Wolken oder Vögel,
die es erlaubten, eine Entfernung einzuschätzen. Von der
Ebene, auf der sie standen, war der Himmel nur durch einen
etwas leichteren Grauton zu unterscheiden.

Kein Wind wehte. Es war weder zu warm noch zu kalt. Es

war einfach nur perfekt temperiert.

Diese Welt war zu glatt, zu leer und zu farblos.
Trotzdem strahlte sie Behaglichkeit aus. Die totale Ruhe

übertrug sich auch auf die Besucher.

Phoebe machte vorsichtig ein paar Schritte. Der Boden

federte deutlich nach. Sie hüpfte ein wenig. Der Boden glich
einer Gymnastikmatte in einer Turnhalle.

Es war perfekt für das Training!
»Ich glaube zwar nicht, dass es der Himmel ist, aber... Was

ist das für ein Ort, Leo?«, fragte Piper.

»Es ist genau genommen eine Zwischenwelt«, antwortete ihr

Ehemann. »Es gibt viele davon in der Unendlichkeit der
Dimensionen. Stellt sie euch wie ein leeres Blatt Papier vor.
Noch niemand hat von ihr Besitz ergriffen, sie geformt, ihr
Grenzen gegeben. Alle Möglichkeiten sind noch offen. Das
macht sie auch so sicher – es gibt keinerlei Querverbindungen
zu anderen Dimensionen, magische Kräfte dringen weder
herein noch heraus.«

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Seine Stimme klang merkwürdig flach, denn die

Schallwellen wurden von nichts zurückgeworfen. Ein
irritierender Eindruck, wie Piper fand.

»Und woher weiß der Rat der Ältesten davon?«, fragte Paige.
Leo lächelte milde. »Sie wissen von allen Dimensionen. Und

manchmal kommen sie hierher, um zu meditieren. Es ist ein
Ort des Friedens.«

Phoebe rieb sich die Hände. »Heute nicht. Heute wird

nonverbale Konfliktlösung trainiert.«

Paige schüttete den großen Rucksack aus, den sie sich über

die Schulter gehängt hatte. Diverse Utensilien polterten auf den
Boden – Kegel, Seile, Bälle, Knallfrösche, Augenbinden und
Ähnliches.

»Wofür soll das denn gut sein?«, wollte D’reen wissen.
»Damit«, verkündete Piper, »werdet ihr eure,

beziehungsweise unsere Kräfte trainieren. Wir können ja
schlecht ein paar Dämonen als Sparringspartner einladen.«

Das sahen die Mädchen ein.
»Ich werde mich mal weiter nach einer alternativen Lösung

für das Solomon-Ford-Problem umsehen«, sagte Leo. »Meldet
euch, wenn ihr etwas braucht.«

Er gab Piper einen sanften Kuss, und dann löste er sich auf.
Die junge Hexe räusperte sich und eröffnete das Training.

»Zuerst einmal zeigen wir euch unsere Kräfte und wie sie im
Idealfall funktionieren. Ich kann zum Beispiel die Zeit
manipulieren.«

»Hep!«, rief Phoebe und warf einen Kegel in die Luft. Mit

einer lässigen Bewegung brachte Piper ihn dazu, in der Luft
stehen zu bleiben.

»Ich kann sie anhalten oder so beschleunigen, dass Materie

unter ihrem Druck zerfällt«, fuhr sie fort.

Sie machte eine weitere Handbewegung, und der Kegel

explodierte lautstark.

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Mit überraschten Gesichtern zogen die Mädchen die Köpfe

ein.

Genau darauf hatten es die Zauberhaften angelegt. Sie

mussten den drei Freundinnen einen Heidenrespekt vor der
Macht der Kräfte einflößen, bevor überhaupt daran zu denken
war, diese Kräfte zu übertragen.

»Wenn ich die Zeit in einem Raum anhalte, sind die

Menschen für bestimmte Zeitperioden unbeweglich. Bei
Dämonen ist es unterschiedlich – manchen gelingt es sogar,
diese Zeitbarriere zu durchbrechen. Und auch bei meinen
Schwestern funktioniert sie nicht – leider«, setzte Piper ihren
Vortrag fort.

Prompt streckten Paige und Phoebe ihr die Zunge heraus.
»Meine Kräfte waren früher eher schwach und für viele

Dämonen leicht zu überwinden. Das hat sich geändert. Je älter
ich werde, desto mehr ist meine Zauberkraft nur noch von
meiner Willenskraft abhängig«, schloss Piper ihre
Ausführungen ab.

Trish, D’reen und Sandy waren sichtlich beeindruckt. Sie

hatten sich gerade wieder gefangen, als Phoebe plötzlich mit
voller Geschwindigkeit auf sie zulief – als wolle sie die
Mädchen wie beim Football rammen!

Doch knapp einen Meter vorher stieß sich die junge Hexe

vom Boden ab, überschlug sich elegant in der Luft – und hielt
sich dort!

Sie schwebte über den Freundinnen – wie vorher der Kegel!
»Meine Kräfte haben sich ebenfalls stark verändert«,

erläuterte Phoebe aus luftiger Höhe. »Früher hatte ich nur
Visionen über Ereignisse, die passieren würden.«

Sie sank langsam herunter, bis sie genau zwischen den

Mädchen stand. »Aber das ist noch nicht alles«, grinste sie.

Nun warf Paige einen Kegel hoch, und Phoebe grillte diesen

mit einem beeindruckenden Flammenstrahl, der aus ihren
Händen schoss.

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»Heiß«, murmelte Trish beeindruckt. »Wieso bist du jetzt so

stark?«

Phoebe zuckte mit den Schultern. »Das kommt davon, wenn

man sich mit einem Dämon einlässt. Bleibt lieber bei normalen
Jungs, auch wenn sie langweiliger sein mögen.«

Sie hatte weder Zeit noch Lust, lange über Cole zu reden. Er

hatte ihr ja nicht nur das Herz gebrochen – er hatte sie auch
noch mit einem Dämonenkind geschwängert, das als neuer
Fürst der Hölle eingeplant war. Von ihrem eigenen Kind hatte
Phoebe diese starken, manchmal beängstigenden Kräfte
übernommen.

»Und was kannst du?«, fragte D’reen Paige.
Paige lächelte, löste sich blitzschnell auf und stand so

plötzlich neben D’reen, dass diese erschreckt aufschrie.

»Keine Panik«, lächelte Paige, »das ist sehr praktisch.«
Sie verschwand wieder und erschien im gleichen Moment

zwei Meter entfernt. »Ich bin keine reine Hexe«, führte sie aus.
»Ich bin zur Hälfte eine Wächterin des Lichts. Darum sind
meine Kräfte etwas anders verteilt als bei meinen
Halbschwestern. Ich beherrsche die Teleportation genauso wie
Leo.«

»Eine passive Kraft, genau das Richtige für mich«, seufzte

Sandy. »Ich bin für körperliche Attacken nicht so geeignet.«

»Das ist aber noch nicht alles.« Paige streckte lässig ihren

Arm aus, und einer der Kegel, der bis dahin auf dem Boden
gelegen hatte, materialisierte in ihrer Hand. »Dieser Bestandteil
meiner Fähigkeiten kann auch sehr nützlich sein.«

»Jede von uns hat bestimmte Fähigkeiten, die in der ein oder

anderen Situation hilfreich sind, aber erst wenn wir alle
zusammenhalten, können wir den Gegner besiegen«,
konstatierte Piper. »Die Kräfte sind genau ausbalanciert.«

»Und was ist mit dem Buch der Schatten?«, wollte Trish

wissen.

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»Das Buch der Schatten«, erklärte Phoebe, »ist ein

Katalysator. Es gibt uns die gesamte Macht der Hexenwelt, die
in den dort enthaltenen Zaubersprüchen gebannt ist.«

»Aber auch hier gilt – Einigkeit macht stark«, nahm Piper

den Faden auf. »Wir sind Auserwählte, die Zauberhaften. Nur
zusammen können wir die volle Macht des Buches nutzen.«

»Eine für alle, alle für eine. Wie bei den Musketieren«,

meinte D’reen.

»Ungefähr so«, stimmte Phoebe zu. »Aber was ihr nie

vergessen dürft – Macht ist nichts ohne die Kontrolle darüber.
Ihr müsst eure Gefühle im Griff haben – Angst genauso wie
Hass. Auch wenn meine Kräfte geeignet sind, Häuser zu
vernichten – ich muss in der Lage sein, sie notfalls auf einen
einzelnen Grashalm auszurichten.«

»Ich komme mir vor wie Harry Potter«, zischte Sandy Trish

zu, die prompt anfing zu kichern.

»Hey!«, rief Piper genervt und klatschte in die Hände.

»Konzentriert euch gefälligst.«

»Manchmal«, fuhr Phoebe fort, »ist es allerdings sehr von

Vorteil, sich nicht nur auf seine magischen Kräfte zu
verlassen.«

Sie nickte Paige zu, die einen Ball in hohem Bogen ihrer

Schwester zuwarf. Mit einem beeindruckenden 360-Grad-
Roundkick traf Phoebe den Ball so hart, dass pfeifend die Luft
entwich.

»Ich kann mit Fug und Recht behaupten, auf diese Weise

mehr Dämonen zur Strecke gebracht zu haben, als mit jeder
anderen Methode«, grinste Phoebe und verbeugte sich leicht.

»Das ist ja der Hammer«, rief Trish begeistert. »Das will ich

auch können!«

»Ich auch!«, sagte Sandy.
»Können wir jetzt mit dem Training anfangen?«, quengelte

D’reen.

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Piper hob belehrend den Finger. »Wir fangen an. Und zwar

mit der wichtigsten Fähigkeit, die eine Hexe braucht. Eine
Fähigkeit, ohne die sowohl Zauberei als auch Karate sinnlos
wären.«

»Und das ist?«, fragte Trish gespannt.
»Konzentration!«, verkündete Phoebe. »Hinsetzen! Jetzt wird

meditiert!«

Die Mädchen setzten sich im Schneidersitz auf den Boden.
Das klang ja nicht sehr spannend.
So langsam wurde ihnen bewusst, dass ein Hexenleben mit

ziemlich viel Arbeit verbunden war.

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19

E

S WAR UNMÖGLICH ZU SAGEN

, wie viel Zeit vergangen war.

In dieser Dimension gab es weder Tag noch Nacht, und der
Körper stellte sich darauf ein. Die Halliwells und ihre drei
Schülerinnen verspürten keinen Hunger, keinen Durst und
wurden auch nicht müde.

Alle biologischen Uhren waren abgestellt.
Das Zeitgefühl hatte sich verflüchtigt.
Sie besaßen die Ewigkeit – im wahrsten Sinne des Wortes.
Und sie nutzten diese Ewigkeit.
Zuerst kam das Meditieren. Immer und immer wieder

erklärten die Halliwells, wie man sich auf einen Punkt
konzentrierte, um die Atmung zu beruhigen und den Kreislauf
zu entspannen. Verschiedene Übungen dienten dazu, dieses
Prinzip auch in die Praxis umzusetzen. Trish zum Beispiel
musste versuchen sich auf Piper zu konzentrieren, während alle
auf sie einredeten. Doch sie sollte ausschließlich Piper zuhören.
Danach musste sie es mit Phoebe probieren und am Ende mit
Paige.

Auch das Erinnerungsvermögen wurde geschult. Denn nichts

war schlimmer als eine Hexe, die in der Hitze des Gefechts
einen wichtigen Zauberspruch vergaß. Wieder erschien das
Training härter, als es die Wirklichkeit jemals zu sein
versprach: Sandy musste sich eine willkürliche Zahlen- und
Buchstabenkombination merken und diese rückwärts wieder
aufsagen. Danach rasselten die Halliwell-Hexen ausgedachte
Zaubersprüche herunter, in denen Fehler versteckt waren, die
die Mädchen erkennen mussten. Besonders diese Lektion war
lehrreich, denn sie zeigte nach dem Debakel mit dem falschen
Buch der Schatten genau, wie wichtig es war, auf kleinste
Details zu achten.

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»Nur nicht schlappmachen«, verkündete Piper wieder

einmal, als die Mädchen sich auf den Boden plumpsen ließen.

Körperlich müde waren sie nicht, aber ihre geistige Energie

hatte Grenzen. Und die waren fast erreicht.

»Ich komme mir vor, als könnte ich in drei Stunden das Abi

machen«, stöhnte Trish.

»Mir platzt gleich der Schädel«, knurrte D’reen.
Phoebe klatschte in die Hände. »So muss das sein. Jetzt nicht

lockerlassen, ihr schlagt euch ganz gut.«

Das war noch untertrieben – die Mädchen waren

erschreckend begabt. Sie lernten viel schneller, als es den
Zauberhaften vergönnt gewesen war. Aber die Halliwells
hatten für das Zaubern auch keine Lehrer gehabt.

»Die nächste Übung«, verkündete Paige, »trainiert eure

Fähigkeit, in Stresssituationen blitzschnell eure Kräfte richtig
zu gebrauchen. Das ist wichtiger, als man denkt. Nichts ist
unsinniger, als ein Steinmonster zu treten oder einen Zombie
bewusstlos schlagen zu wollen. Die richtige Kraft muss an der
richtigen Stelle eingesetzt werden.«

Diese Lektion bestand hauptsächlich aus strategischen

Rollenspielen. Piper, Phoebe und Paige stellten eine
Alltagssituation nach... na ja, so wie der Alltag einer Hexe eben
aussah und die Mädchen mussten ad hoc entscheiden, mit
welcher Taktik sie auf die Angriffe reagieren wollten. Dazu
gehörte auch die Überlegung, wer den Angriff führen sollte.

Auch hier zeigten sich die Mädchen sehr lernfähig. Ihre

Interaktion war fast perfekt, und selbst Trish wusste sehr
genau, wann es vernünftig war, Sandy oder D’reen den Vortritt
zu lassen.

Diese Trockenübungen machten Spaß, denn in den

Rollenspielen konnten die Mädchen hemmungslos albern sein.
Trish spielte einen Vampir, indem sie ihre oberen
Schneidezähne über ihre Unterlippe klemmte, was total
bescheuert aussah, und als D’reen einen Voodoo-Zauber

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nachmachte, verfiel sie in einen jamaikanischen Akzent, der
breiter nicht sein konnte.

Danach kamen endlich die Selbstverteidigungsübungen an

die Reihe.

Piper trainierte mit Trish. Das ergab Sinn, denn die Halliwells
hatten entschieden, dass Trish Pipers Kräfte bekommen sollte.

Die Älteste der Halliwell-Hexen hatte nie viel mit

Kampfsport am Hut gehabt. Sie war von zurückhaltender Natur
und hatte so manchem Dämon lieber von hinten eins mit der
Vase übergezogen, als ihn von vorne anzugreifen.

Deshalb war ihre Kampftechnik auch eher passiv – ablenken,

ausweichen, blocken. Sie brachte Trish bei, wie man die
Energie aus den Schlägen des Gegners umleitete, um ihn zu
Fall zu bringen. Außerdem zeigte sie ihr die Punkte, an denen
Menschen wie Dämonen sehr verletzlich waren.

Trish war damit nicht zufrieden. Aus den Augenwinkeln sah

sie, dass Sandy und D’reen wesentlich intensiver und
aggressiver trainierten.

»Wie soll ich einen Dämon besiegen, wenn ich mich

ausschließlich verteidige?«, fragte sie schließlich genervt.

Piper hielt inne.
Das hatte sie befürchtet.
Auch wenn Trish, Sandy und D’reen einige charakterliche

Ähnlichkeiten mit den Halliwells hatten, so waren sie doch
keine Kopien. Sie hatten eigene Vorstellungen davon, wie sie
sich in einem Kampf verhalten sollten. Trish war erheblich
aggressiver als Piper.

Piper stellte sich aufrecht hin und ließ die Arme am Körper

herabhängen. »Greif mich an!«

Trish hatte zuerst keine Ahnung, was damit gemeint war.

Piper hatte keine Abwehrhaltung eingenommen, die Hände
nicht zur Deckung hochgezogen.

»Na los, greif mich an!«, ermutigte sie Piper.

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Nach den ganzen frustrierenden Verteidigungsübungen

wollte sich Trish nicht lange bitten lassen. Sie machte einen
Schritt nach vorn und trat mit dem rechten Bein kräftig zu.

Piper machte einen Ausfallschritt nach hinten, drehte den

linken Arm etwas zur Seite, und als Trishs Kick den Schwung
verlor, packte sie das Fußgelenk, und schob es sacht weg.

Trish verlor augenblicklich die Balance und stürzte auf den

Boden.

»Kraft und Kontrolle, Trish«, mahnte Piper. »In der

Verteidigung liegt das Geheimnis zum Sieg, denn der Gegner
muss den ersten Schritt machen. Und damit den ersten Fehler.«

Trish rappelte sich auf. Sie antwortete nicht. Piper konnte in

ihren Augen sehen, dass sie die Lektion noch nicht gelernt
hatte.

Das Mädchen versuchte es noch einmal. Sie sprang auf Piper

zu und stieß ihre Faust mit einem Kampfschrei nach vorne.
Piper drehte den Oberkörper zur Seite, und der Schlag raste ins
Leere. Stattdessen stand Trish nun so dicht vor Piper, dass die
Hexe lässig eine Hand auf die Schulter des Mädchens legen
konnte, und sanft einen Nerv drückte.

Der Effekt war verblüffend. Trishs Schlagarm fiel plötzlich

nach unten, als hätte man ihn betäubt. Sie stolperte zwei
Schritte zurück und versuchte, den tauben Arm mit der linken
Hand in die Höhe zu hieven.

Umsonst.
»Keine Angst, die Wirkung dieses Druckpunkts lässt in ein

paar Minuten nach«, erläuterte Piper. »Du bist deinem Gegner
erheblich zu nahe gekommen. Ich hätte dich auf zwölf
verschiedene Arten kampfunfähig machen können.«

Jetzt war Trish doch beeindruckt.
Piper aber auch. Sie hatte sich selber nie als große Kämpferin

gesehen, aber bei dem Versuch, ihr Wissen weiterzugeben, fiel
ihr auf, wie viel sie über die Jahre gelernt hatte.

Das meiste von Phoebe.

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»Schlag! Tritt! Tritt! Schlag! Deckung hoch!«, brüllte Phoebe
wie eine Ausbilderin bei der Armee. Sie hielt zwei Kegel in
den Händen, die ihr Schützling auf verschiedene Höhen treffen
musste. Manchmal variierte Phoebe das Programm und schlug
ansatzlos mit einem Kegel nach dem Mädchen, um es aus dem
Rhythmus zu bringen.

Sandy mühte sich redlich. Sie reagierte schnell und präzise,

aber ihre Bewegungen waren zu weich, ihren Schlägen fehlte
die Kraft.

Das lag nicht an Sandys mangelnder Körperkraft. Es gab

niemanden, der für Kampfsport zu schwach war.
Muskelmassen waren eher hinderlich, weil sie die
Geschwindigkeit negativ beeinflussten.

»Stopp!«, rief Phoebe jetzt. »Pause!«
»Mache ich was falsch?«, fragte Sandy geknickt, weil sie

spürte, dass Phoebe frustriert war.

»Nein«, sagte die junge Hexe und zwang sich, ein wenig

nachsichtiger zu sein. »Aber das Problem bei dir ist nicht
mangelndes Talent – es ist mangelnder Mut!«

»Das hätte ich dir auch sagen können«, murmelte Sandy

enttäuscht.

Phoebe deutete mit dem Kegel in der Hand auf den Boden:

»Setz dich.«

Sie nahm neben Sandy Platz. Die anderen Hexen trainierten

einige Meter entfernt und waren kaum zu hören.

»Du bist ein Mädchen«, stellte Phoebe knapp fest.
Darauf wusste Sandy keine Antwort – das war ja wohl

offensichtlich.

»Als Mädchen wirst du von klein auf erzogen, dich

körperlich zurückzuhalten«, fuhr Phoebe fort. »Die meisten
Frauen können keinen Reifen wechseln oder einen Nagel in die
Wand schlagen, doch nicht, weil sie zu schwach sind, sondern
weil sie ihren eigenen Kräften nicht trauen.«

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Sandy dachte darüber nach. So hatte sie das noch gar nicht

gesehen. Aber es stimmte. Zu Hause wurden alle schwereren
Arbeiten automatisch von ihrem Bruder Jerry erledigt. Er war
es auch, der immer die Cola-Kästen nach oben trug. Es wurde
einfach vorausgesetzt, dass Sandy es nicht konnte. Wirklich
versucht hatte sie es jedoch noch nie.

»Aber woher weiß ich denn, wie kräftig ich bin?«, wollte

Sandy wissen.

Phoebe lächelte und tippte dem Mädchen mit dem

Zeigefinger an die Stirn. »Genau das ist der Trick! Du hast da
oben eine Blockade, die dich hindert, all deine Kraft zu nutzen.
Diese Blockade müssen wir lösen, sonst kommen wir nicht
weiter.«

Sie lehnte sich zur Seite und griff nach Paiges Rucksack.

Darin fand sie einen Edding-Stift. Mit den Zähnen zog Phoebe
die Kappe ab und begann, auf die Kegel zu schreiben.

»Was machst du da?«, wollte Sandy wissen.
Phoebe schüttelte den Kopf, während sie weiterschrieb.
Sandy würde schon sehen.
Nach ein paar Sekunden war sie fertig und deutete Sandy an,

wieder aufzustehen. »Weiter geht’s.«

»Und was machen wir jetzt?«, fragte Sandy.
»Das Gleiche wie eben«, verkündete Phoebe, »aber nicht

mehr gegen die Kegel.«

Sandy war jetzt völlig verwirrt, denn schließlich hielt die

Hexe weiterhin die gleichen Kegel in der Hand, die sie schon
seit... na ja, seit einiger Zeit bearbeitete.

Grinsend drehte Phoebe die beiden Plastikkegel.
Auf dem einen stand in großen schwarzen Buchstaben

»SCHWACH«.

Auf dem anderen stand »ÄNGSTLICH«.
»Hier sind deine Gegner«, verkündete Phoebe. »Sie machen

dich klein und hilflos. Sie haben dich voll im Griff. Ihretwegen

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hast du keine Chance gegen Solomon Ford. Was wirst du
dagegen tun?«

Einen Moment lang geschah gar nichts.
Sandy stand nur da.
Aber dann konnte Phoebe sie erkennen – die Veränderung,

die im Innern des jungen Mädchens vor sich ging.

Es war wie ein Feuer.
Ein Feuer, das aus der Seele kam, das Herz erfasste und sich

über die Brust in den Kopf vorarbeitete. Und dort begann das
Feuer, aus Sandys Augen zu strahlen.

Die junge Halliwell-Hexe spürte, wie ihre Schülerin sich

straffte, ihre Augen sich zusammenzogen und ihre Fäuste sich
ballten.

Völlig ansatzlos schlug Sandy zu, hart und gerade. Der Kegel

wurde aus Phoebes Hand gerissen und fiel zehn Meter weiter
hinten auf den Boden.

So viel zum Thema ›schwach‹!
Phoebe hatte kaum Zeit zu reagieren, da trat Sandy auch

schon nach dem Kegel mit der Aufschrift »Ängstlich«.

Die Wucht des Tritts spürte Phoebe bis in die Schulter.
Mann, da war Pfeffer dahinter!
Sandy kam nun voll in Fahrt. Mit immer neuen Schlag- und

Trittkombinationen drosch sie auf den Kegel ein.

Wortlos, konzentriert und ohne jede Zurückhaltung schlug

und trat sich die Schülerin alle Ängste und Komplexe von der
Seele. Es war die Geburt einer neuen Sandy Caspar.

Einer Sandy Caspar, die stolz grinste, als es ihr schließlich

gelang, Phoebe immer öfter die zwei Kegel aus der Hand zu
treten.

»Wie war ich, Coach?«, fragte sie rhetorisch, während sie

wie ein Jojo auf und ab hüpfte.

»Gar nicht schlecht«, murmelte Phoebe.
Nun war es an der Zeit, die neu gewonnene Stärke in die

richtigen Bahnen zu lenken.

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Phoebe ging in die Grundstellung.
»Du wirst es im Leben selten mit bösartigen Kegeln zu tun

bekommen«, erklärte Phoebe.

Sicher war sie da allerdings nicht, wenn sie daran dachte,

was Leo über Dämonen gesagt hatte, die Snoopy ähneln
sollten.

Wie auch immer – es war nun an der Zeit, Sandy

beizubringen, wie man es mit einem echten Gegner aufnahm.
Einem Gegner, der sich wehrte und zurückschlug.

Einem Gegner wie Phoebe...

159

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20

»

A

UTSCH

!«,

RIEF

D’

REEN

, als sie zum wiederholten Male auf

den Boden fiel.

Paige schüttelte den Kopf. Sie war ja selber kein Ass in den

asiatischen Kampfkünsten, aber D’reen war wirklich
untalentiert.

Sie war auf Grund ihres Gewichts einfach zu unbeweglich.

Außerdem war ihre Körpermasse schlecht verteilt – das meiste
Fett saß am Hintern und an den Oberschenkeln.

»Ich kriege das nicht hin«, jaulte D’reen frustriert.
»Unsinn«, sagte Paige kopfschüttelnd und half D’reen wieder

auf die Füße. »Wir müssen nur unsere Strategie ändern.«

Sie war allerdings selbst ein bisschen überfordert, was diese

Strategie betraf. Glücklicherweise würde D’reen ihre Kräfte
bekommen, da konnte sie sich im Zweifelsfall wenigstens noch
schnell aus dem Staub machen. Teleportieren war die ideale
Verteidigung für Schwächlinge.

Paige sah sich D’reens Körperbau noch einmal genau an.

Eigentlich war das Problem nicht so schlimm – man musste nur
die fehlerhafte Beinarbeit des Mädchens berücksichtigen.

»Du musst erheblich mehr mit deinem Oberkörper und

deinen Armen agieren«, stellte sie kategorisch fest. »Deine
Hüfte und deine Beine sind eher als Fundament geeignet.«

»Meinst du so?«, fragte D’reen und machte ein paar

erstaunliche Breakdance-Bewegungen, indem sie ihre
Schulterpartie wie einen Kreisel hin und her warf. Dabei wand
sich ihr Oberkörper wie eine Schlange unter Strom.

»Das ist ja abgefahren«, rief Paige bewundernd. »Wo hast du

das denn her?«

»Mein Bruder T-Jay hat es mir beigebracht«, sagte D’reen.

»Er ist der Champion bei uns im Viertel.«

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»Darauf können wir aufbauen«, meinte Paige. »Deine

Beweglichkeit liegt mehr im Oberkörper. Das ist nicht
schlecht.«

Sie übten eine Weile lang mit der neuen Methode, und

D’reen machte erstaunliche Fortschritte. Im T-Schritt waren
ihre starken Beine wie Festungen – da war auch mit Judo-
Griffen nicht gegen anzukommen. Und ihre flinken Fäuste
konnten ein halbes Dutzend Schläge austeilen, bevor der
Gegner überhaupt Zeit hatte, die Deckung hochzunehmen.

Es machte Spaß, mit D’reen zu trainieren. Sie mochte nicht

die Sportlichste der drei Freundinnen sein, aber sie hatte das
Herz am rechten Fleck, und sie arbeitete hart an sich. Paige sah
viel von sich selbst in ihr.

Es war gut, dass D’reen Freundinnen wie Trish und Sandy

hatte – Mädchen, die ganz anders waren als sie selbst. Dadurch
konnte sie sich weiterentwickeln.

Paige war es nicht anders gegangen, bevor sie eine der

Zauberhaften wurde, hatte sie ein sehr unstetes und unsicheres
Leben geführt. Erst im direkten Kontrast zu ihren
Halbschwestern hatte sie viele ihrer Verhaltensweisen infrage
gestellt und dadurch neue Erkenntnisse gewonnen.

Paige wusste, niemand ist allein.

»Okay«, verkündete Piper laut genug, damit alle es hören
konnten. »Ich denke, wir sind mit der ersten Runde im
Kampftraining durch.«

Die anderen gesellten sich zu ihr. Keiner wusste, wie viel

Zeit vergangen war. Komisch – nicht einmal die Länge der
Übungseinheiten schien als Schätzwert zu funktionieren.
Vielleicht waren es nur ein paar Stunden gewesen, aber es
konnten auch ein paar Wochen sein. Wenn man sich ansah, wie
professionell die drei Schülerinnen mittlerweile kämpften,
kamen sogar Monate infrage.

»Die erste Runde?«, fragte Trish. »Wieso die erste Runde?«

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»Jetzt wird rotiert«, erklärte Piper. »Jede von euch trainiert

mit einer anderen von uns. Danach das Ganze noch einmal.«

Die drei Schülerinnen stöhnten gelangweilt auf. Kampfsport

war ja eine tolle Sache, aber auf die Dauer wurde das ziemlich
nervig.

»Keine Widerrede«, schalt Phoebe. »Das ist nötig, damit ihr

alles Wissen von uns aufnehmen könnt. Jede von uns hat
Schwächen in ihrer Technik – das könnt ihr euch auf keinen
Fall leisten.«

Die Paarungen wurden neu zusammengestellt – Piper

trainierte nun D’reen, Paige übte mit Sandy, und Phoebe
bekam es mit Trish zu tun.

Da die Basis gelegt war, lief die zweite Runde erheblich

glatter, und die Schwestern waren von den Fertigkeiten der drei
Freundinnen sichtbar überrascht. Es dauerte nicht annähernd so
lange wie im ersten Durchgang, um sichtbare Erfolge zu
erzielen.

Danach folgte der letzte Wechsel – Phoebe mit D’reen, Paige

mit Trish, und Piper mit Sandy.

Wieder erwiesen sich die Fortschritte als beeindruckend. Es

gelang den Mädchen immer öfter, ihren Lehrerinnen contra zu
bieten und sie sogar auf den Boden zu werfen. Am Ende war es
nur noch die langjährige Erfahrung, wodurch die Halliwell-
Hexen die Oberhand behielten.

Alle sechs setzten sich schließlich wieder im Kreis

zusammen.

»Und?«, fragte Piper. »Wie fühlt ihr euch jetzt?«
»Stark«, grinste Sandy. Sie glühte regelrecht vor

Begeisterung.

Trish nickte ebenfalls zufrieden. Und D’reen zeigte ›Daumen

hoch‹.

Die Halliwells sahen sich an.
Sie hatten ein kleines Wunder vollbracht. Die Mädchen

waren nun emotional ausbalanciert, mental eingestimmt – und

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konnten jedem Drecksack, der ihnen dumm kam, eins auf die
Birne geben.

Aber das qualifizierte sie noch nicht dazu, gegen Dämonen

zu kämpfen. Noch dazu gegen einen so gefährlichen wie
Solomon Ford.

Dazu brauchten sie das gewisse Extra.
Das magische Extra.
»Ich denke, wir sind so weit«, meinte Phoebe, die als

Kampfsportexpertin am meisten davon verstand. »Jetzt geht es
ans Eingemachte.«

Piper zog das Buch der Schatten aus ihrer Tasche.
Sie fühlte sich gar nicht wohl bei dieser Sache.
In ein paar Minuten – würden es Minuten sein?– sollte jede

der jungen Hexen freiwillig auf ihre Kräfte verzichten.

Erst jetzt wurde Piper bewusst, wie sehr sie sich an ihre

Kräfte gewöhnt hatte. Und in den Gesichtern von Paige und
Phoebe konnte sie die gleichen Gedanken erkennen – und die
Sorgen, die damit verbunden waren.

Ihre Kräfte waren nicht nur ein Teil von ihnen, sondern auch

sie selbst waren ein Teil ihrer Kräfte. In vielerlei Beziehung
definierten sie sich durch das, was sie konnten. Und mit
Sicherheit waren die magischen Kräfte auch nicht ohne Zufall
so verteilt worden.

Was, wenn etwas schief ging? Wenn den Mädchen etwas

passierte? Oder wenn es Solomon Ford gelang, auch den
Mädchen die Kräfte zu rauben? Dann wäre die Magie der
Zauberhaften für immer dahin!

Es war ja nicht so, als wäre das eine neue Erfahrung für die

Halliwells gewesen. Im Laufe der Jahre war es einigen
Dämonen gelungen, ihre Kräfte zeitweise lahm zu legen.

Aber hier ging es darum, freiwillig darauf zu verzichten.
Es war ein bescheuerter Vergleich – aber Piper fühlte sich

wie eine Geschäftsinhaberin, die die von ihr aufgebaute Firma
nach fünfzig Jahren an ihre Nachfolgerin übergeben sollte.

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Aber es machte keinen Sinn, trüben Gedanken

nachzuhängen. Sie hatten sich für diesen Weg entschieden. Es
gab nur noch die Möglichkeit, die Sache ganz abzublasen.

»Was nun passiert, ist für die nächste Zeit nicht umkehrbar«,

sagte Piper und legte ihre Hand auf das Buch der Schatten.
»Deshalb ist es angebracht, noch einmal zu fragen: Seid ihr
euch bewusst, auf was ihr euch einlasst?«

Trish und D’reen nickten, und Sandy sagte: »Wahrscheinlich

werden wir das erst hinterher wirklich begreifen – aber im
Moment bin ich so bereit, wie ich nur sein kann.«

Sie lächelte Phoebe dankbar an, die ihr zuzwinkerte.
»Seid ihr bereit, unsere Kräfte zu übernehmen – und damit

die Verpflichtung, Solomon Ford zu bekämpfen?«, hakte Paige
nach.

Sie machte sich große Sorgen. Was nun kam, war in jeder

Beziehung verantwortungslos, und es ging gegen alles, wofür
die Zauberhaften standen.

Wieder nickten die Mädchen.
Piper schloss kurz die Augen und rief mental nach ihrem

Ehemann. »Vielleicht ist ja ein Wunder geschehen, und die
Sache hat sich erledigt.«

Leo erschien augenblicklich.
»Wie läuft’s?«, fragte er.
Piper blickte in die Runde. »Beängstigend gut. Erinnere mich

daran, dass ich nie wieder die Konkurrenz ausbilde.«

Die Mädchen strahlten vor Stolz.
»Hast du noch was rausgefunden?«, fragte Phoebe.
Leo nickte. »Schon, aber es wird nicht viel nützen. Ich habe

Maria Ford getroffen.«

»Und? Was sagt sie?«
Leo hob die Schultern. »Sie ist entsetzt von dem, was ihr

Mann tut. Aber sie sieht keine Chance, uns zu helfen.«

»Und eine andere Möglichkeit, Solomon Ford zu bekämpfen,

hast du nicht erfahren?«, wollte Paige wissen.

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»Oder eine Möglichkeit, die Wirkung des Staubes zu

neutralisieren?«, hakte Phoebe nach.

Es war offensichtlich, dass die Halliwell-Hexen lieber selber

in den Kampf ziehen wollten, als das Leben der Mädchen zu
gefährden.

Leo schüttelte enttäuscht den Kopf. »Leider nein. Ich fürchte,

euer ursprünglicher Plan ist immer noch unsere beste Chance.
Unsere einzige Chance würde ich sagen.«

Alle schwiegen betreten.
»Kann ich sonst noch was für euch tun?«, fragte Leo.
»Nein«, antwortete Piper. »Oder doch – du kannst dich schon

mal nach einem Ort in San Francisco umsehen, an dem wir uns
Solomon Ford stellen können.«

»Wie soll der beschaffen sein?«
»Unter freiem Himmel«, antwortete Phoebe, »damit sich der

Bastard nicht verkriechen kann. Und der Kampf muss tagsüber
stattfinden – Dämonen hassen das Sonnenlicht.«

»Am besten ein überschaubares, abgeschlossenes Areal«,

ergänzte Piper.

»Und menschenleer«, warf Paige ein.
»Ich werde schon etwas Passendes finden«, erwiderte Leo.
Er machte Anstalten, sich in Luft aufzulösen, als Sandy sich

eine letzte Frage nicht verkneifen konnte: »Wie viel Zeit ist
inzwischen ›draußen‹ vergangen?«

Leo sah sie etwas überrascht an und antwortete prompt: »Die

Menschen leben in Städten auf dem Meeresboden, und jeder
hat ein fliegendes Auto mit Atomantrieb.«

Er ließ die freche Behauptung einen Moment lang in der Luft

stehen, dann verschwand er grinsend.

Heftiges Gelächter entspannte die Runde.
»Und du hast behauptet, dein Mann habe keinen Humor!«,

erinnerte Phoebe.

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»Wie wird er den richtigen Platz ausfindig machen?,« fragte

Trish neugierig. »Wird er über San Francisco fliegen – so wie
ein Geist?«

»Nein«, kicherte Piper. »Er wird vermutlich im Internet

nachsehen. Für viele Dinge braucht man keine Magie.«

Paige lehnte sich zur Seite, um ebenfalls eine Hand auf das

Buch der Schatten zu legen. »Hierfür allerdings schon.«

Alle Beteiligten wurden wieder ernst.
Piper schlug das Buch auf und suchte nach dem richtigen

Eintrag. Die vielen Zeichnungen, die Zaubersprüche, die
seltsam verschnörkelten Schriftzeichen – so viel davon kam ihr
bekannt vor. Eine Menge der dargestellten Kreaturen hatte sie
schon gesehen und bekämpft. Und doch – im gleichen Maße
sah sie Dinge vorbeiziehen, von denen sie noch nie gehört
hatte, und deshalb schwören konnte, dass sie beim letzten Mal
noch nicht im Buch verzeichnet gewesen waren.

Es erinnerte sie daran, dass ihre Mission vermutlich nie zu

Ende sein würde. Die Welt der Magie veränderte sich,
durchlief Zyklen, erfand sich immer wieder neu. Kein Ende,
kein Anfang.

Und darum durften sie auch im Kampf gegen Solomon Ford

nicht versagen!

Die Welt brauchte die Zauberhaften!
Sie fand den gesuchten Zauberspruch ganz am Ende des

Buches, als hätten die Autoren ihn für Notfälle dort versteckt.
Es war ein Spruch, der im Idealfall niemals verwendet werden
sollte.

Keine Hexe gab freiwillig ihre Kräfte auf!
Mit dieser Ausnahme.
Paige nahm derweil ein Stück schwarze Kreide aus dem

Rucksack und zog einen magischen Bannkreis um die kleine
Gruppe. Sie wusste nicht, ob das in dieser Dimension nötig
war, aber man konnte ja nie wissen.

Phoebe zündete eine Kerze an und stellte sie in die Mitte.

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»Hier ist es«, sagte Piper langsamer als nötig, so als wolle sie

den Moment hinauszögern. Das war natürlich Unsinn, denn in
dieser Dimension gab es ja gar keine Zeit. Was sie hier taten,
hatte auf der Erde keine Bedeutung. Sie hätten auch
gemeinsam das Abitur nachmachen können – für den Ablauf
der Ereignisse hätte es keinen Unterschied gemacht.

Piper sah, wie sich Sandy zu Trish beugte und ihr etwas ins

Ohr flüsterte. Trish nickte.

»Was ist? Habt ihr es euch anders überlegt?«, fragte Paige.
Trish schüttelte den Kopf. »Wir würden gerne noch was

sagen, bevor wir anfangen.«

Piper nickte ihr aufmunternd zu.
»Wir wollen uns bedanken«, fing Sandy an.
»Bedanken?«, fragte Phoebe. »Dafür, dass wir euch in

Lebensgefahr bringen?«

»Nein«, sagte D’reen. »Dafür, dass ihr an uns glaubt.«
»Noch nie hat sich jemand so sehr um uns gekümmert«,

ergänzte Trish. »Man hat uns immer wie kleine Mädchen
behandelt – zu Hause, in der Schule, überall.«

»Aber ihr seid anders«, fügte Sandy hinzu. »Ihr habt uns

ernst genommen. Und jetzt vertraut ihr uns sogar eure Kräfte
an.«

»Wir versprechen euch, unser Bestes zu geben«, sagte Trish.

»Wir wollen, dass ihr stolz auf uns seid.«

»Versprochen«, bestätigten Sandy und D’reen.
Die Zauberhaften sahen sich an. Piper konnte deutlich

erkennen, dass Paige das Wasser in die Augen stieg. Und auch
Phoebe schluckte heftig.

Verdammt!
Piper hatte keine Ahnung, was sie nun machen sollte. Sie

wusste, dass sie keine andere Wahl hatte, aber es zerriss ihr das
Herz, diese tapferen Mädchen dem Hexentöter zum Fraß
vorzuwerfen.

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Sie räusperte sich zweimal, um etwas mehr als ein

mitleidiges Krächzen aus dem Hals zu bekommen.

»Ich denke, ich spreche für den gesamten Halliwell-

Haushalt: Wir müssen euch danken. Ihr begebt euch für uns in
große Gefahr, und ihr übernehmt für uns eine große
Verantwortung. Wir werden euch das niemals vergessen.«

Das war der Moment, wo sich die Halliwell-Hexen und die

Schülerinnen in die Arme fielen. Es wurden eine Menge
Tränen vergossen, aber Piper wusste, dass erst damit der Pakt
richtig besiegelt war.

»Aus den drei Musketieren sind sechs Musketiere

geworden«, schniefte Phoebe bei dem Versuch, die Stimmung
wieder etwas aufzulockern.

»Auf die Junior-Hexen!«, ergänzte Paige.
Piper räusperte sich noch einmal. »Okay, dann bringen wir

diesen blöden Zauberspruch jetzt endlich hinter uns!«

Es war ein seltsames Gefühl für Phoebe, Paige und Piper. Ein
Gefühl, das sie seit fünf Jahren nicht mehr gehabt hatten. Fünf
Jahre, die ihnen jetzt wie ein ganzes Leben vorkamen.

Sie spürten, dass sie keine magischen Kräfte mehr besaßen.
Aber was war das überhaupt für ein Gefühl?
Konnte man einen Mangel spüren?
Es war schwer zu beschreiben.
Phoebe empfand eine gewisse Leere. Ein elementarer

Bestandteil ihres Lebens fehlte. Etwas, das sie immer instinktiv
eingesetzt hatte, so wie gehen oder sprechen.

Und wie jemand, dem man die Fähigkeit zu gehen oder zu

sprechen genommen hatte, fühlten sie sich, nämlich behindert.

Sie sah ihre beiden Schwestern an. Deren Gesichtern war zu

entnehmen, dass sie ähnlich empfanden. Piper wirkte so
abwesend, als horche sie in sich hinein, und Paige machte den
Eindruck leichter Panik.

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Vor kaum fünf Sekunden hatten sie den Zauberspruch

beendet, der ihre Kräfte übertragen sollte.

Eigentlich hatten sie ein Feuerwerk erwartet. Magie neigte

dazu, mit Show-Effekten angeberisch umzugehen. Kaum ein
Zauber, der nicht von Lichtblitzen oder Leuchtkugeln begleitet
wurde.

Aber nichts dergleichen war passiert. Die Halliwell-Hexen

hatten den Spruch aufgesagt, und ihre Kräfte waren einfach
verschwunden.

Trotzdem hatten sie keinen Augenblick Zweifel daran, dass

der Transfer stattgefunden hatte. Obwohl sie es nicht genau
sagen konnten, fühlten sie in ihrem Körper die Abwesenheit
der Magie.

Sie waren nicht mehr die Zauberhaften, die Halliwell-Hexen,

sie waren nur noch Piper, Paige und Phoebe.

»War’s das?«, fragte Trish ungläubig und riss die Schwestern

damit aus der Fassungslosigkeit.

»Ich spüre nichts«, verkündete Sandy.
»Ich... weiß nicht«, sagte D’reen gedehnt. Da sie die Kräfte

einer Halb-Wächterin des Lichts in sich aufgenommen hatte,
bemerkte sie zumindest etwas warme Energie, die durch ihren
Körper floss.

»Es hat funktioniert«, sagte Piper tonlos. Sie musste sich

zwingen, überhaupt zu sprechen.

Phoebe stand langsam auf. »So hatte ich mir das nicht

vorgestellt.«

Paige kam ebenfalls auf die Füße. »Es fühlt sich falsch an.

Ich dachte – ich dachte, es würde mehr wie früher sein.«

Piper gesellte sich zu ihren Schwestern. »Wir sind Hexen –

es ist unsere Bestimmung, die Zauberkräfte zu haben. Wie
kann es sich dann normal anfühlen, plötzlich ohne sie
auskommen zu müssen?«

Die Mädchen standen nun auch auf, und ihre

erwartungsvollen Blicke erinnerten die Halliwells daran, dass

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erst die Hälfte des Trainings geschafft war. Sie durften sich
jetzt nicht hängen lassen.

Phoebe schaffte es, sich als Erste aus der Lethargie zu reißen.

Wahrscheinlich deshalb, weil sie körperlich fit war.

»Okay!«, rief sie enthusiastisch und klatschte dabei in die

Hände. »Es gibt viel zu tun, und Solomon Ford wartet nicht auf
uns.«

Sie dachte einen Augenblick nach und korrigierte sich dann.

»Klar, wartet er auf uns, und genau deswegen müssen wir
vorankommen!«

Die drei Freundinnen sahen sich an.
Die Halliwells benamen sich auf einmal äußerst seltsam.
»Wie gehen wir es an?«, fragte Paige.
Piper suchte die restlichen Kegel und Bälle zusammen. »Wir

drehen jetzt den Spieß um. Die Mädels sollen mal
demonstrieren, ob sie bei den Konzentrationsübungen
aufgepasst haben.«

Phoebe arrangierte die Mädchen in eine Reihe. Dann stellten

sich die Zauberhaften in etwa fünf Meter Entfernung auf.

»Denkt dran«, sagte Piper, »ihr werdet vermutlich sehr

erschrecken, wenn sich eure Kräfte zum ersten Mal entfalten.
Das ist uns nicht anders ergangen. Es ist ein seltsames Gefühl.
Aber ihr werdet euch schnell daran gewöhnen.«

»Konzentration!«, rief Phoebe.
Trish, D’reen und Sandy atmeten ruhig ein und aus, so wie

sie es gelernt hatten. Sie versuchten, ihre Gedanken zu
kontrollieren und von allen Sorgen zu befreien.

Aber sie waren trotzdem aufgeregt.
»Gut«, sagte Paige. »Wir fangen mit Trish an. Du weißt, was

deine Kräfte sind – die Manipulation der Zeit und der
Moleküle. Wir fangen mit der lokalen Zeitsperre an. Hier!«

Sie warf einen Ball in die Luft, und es war Trishs Aufgabe,

ihn durch Anhalten der Zeit dort hängen zu lassen.

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Doch Trish war viel zu nervös. Sie schlug mit ihrer

Zauberkraft nur so um sich, und der Ball wurde wie von einer
gigantischen Hand zertrümmert.

Piper lächelte aufmunternd. »Nicht so stark. Konzentrier dich

auf den Ball. Und achte auf die Polarität. Die Zeitsperre ist das
Gegenteil der Beschleunigung. Finde den anderen Pol in dir.«

Paige warf noch einen Ball in die Höhe. Diesmal gelang es

Trish, ihn für einen Moment in der Luft festzuhalten, bevor er
auf den Boden fiel. Trishs Stirn legte sich in Falten, so sehr
versuchte sie, den Ball zu beeinflussen.

»Schon besser«, bestätigte Piper. »Aber du versuchst es zu

sehr. Du darfst nicht verkrampfen. Deine Kräfte können dann
nicht fließen.«

Phoebe wandte sich an ihren Schützling Sandy. »Jetzt bist du

dran, Kleine. Zeig mir, was du drauf hast!«

Paige warf einen Kegel hoch, um Sandy genug Zeit zu

geben, sich zu konzentrieren.

Das war gar nicht nötig. Mit einem Kampfschrei ließ das

Mädchen einen Energiestoß los, der sich gewaschen hatte. Ihr
ganzer Körper schien in Flammen zu stehen, und die Energie
verwandelte den Kegel in Asche, noch bevor er den höchsten
Punkt seiner Flugbahn erreicht hatte. Leise rieselte die Asche
zu Boden.

Entgeistert sahen die Halliwells Sandy an – die noch

nachbrannte. Mit ein paar Schritten waren sie bei dem
Mädchen und klopften die paar Flämmchen aus, die an dem
Sweatshirt hochzüngelten.

Dann kippte Sandy ohnmächtig nach hinten.
Glücklicherweise konnte Phoebe den schlaffen Körper der

Schülerin gerade noch abfangen, bevor er auf den Boden
krachte.

»Was war das denn?«, fragte Piper.

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»Sie hat sehr viel Frust in sich angestaut«, erklärte Phoebe.

»Und da meine... ihre Kraft auch von ihrer Wut gesteuert wird,
ist sie etwas über das Ziel hinausgeschossen.«

»Das müssen wir in den Griff kriegen«, murmelte Paige und

zeigte auf ein paar Spitzen ihrer langen Haare, die von
Ausläufern des Flammenstrahls versengt worden waren.

Phoebe tätschelte Sandy leicht die Wangen. Schon nach

kurzer Zeit schlug das Mädchen wieder die Augen auf.

»Wie war ich?«, fragte sie unsicher.
»Umwerfend«, grinste Phoebe. »Aber

verbesserungswürdig.«

Sie blieb neben Sandy hocken, während sich ihre Schwestern

um D’reen kümmerten.

Paige stellte sich neben das Mädchen, legte ihr die Hand auf

die Schulter. »Deine Kräfte sind längst nicht so extrem, du
wirst das schon schaffen.«

Piper zeigte D’reen einen Ball. »Ich möchte, dass du ihn

fängst, okay?«

D’reen nickte unsicher. Es war ihr nicht klar, was diese

Aufgabe mit ihren neuen Kräften zu tun hatte, bis Piper den
Ball warf – in die andere Richtung, weit weg von D’reen.

Das Mädchen war viel zu überrascht, um zu reagieren.
Der Ball fiel zu Boden und rollte davon.
Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass man erwartet hatte, dass sie

sich an den Landeplatz des Balls teleportierte, um ihn zu
fangen.

»Ich... ich wusste nicht...«, stammelte D’reen.
»Ist schon in Ordnung«, sagte Paige leise. »Diese Übung

verlangt Konzentration und Überwindung – schließlich
verwandelst du deinen Körper in reine Geist-Energie.«

Sie deutete auf den Ball, der nun ruhig auf dem Boden lag.

»Fangen wir einfacher an – hol den Ball her.«

D’reen wollte gerade losstapfen, als Paige sie zurückhielt.

»Nicht zu Fuß. Mit dem Kopf.«

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D’reen schaute betreten zu Boden. »Ich bin wohl zu blöd, um

eine Hexe zu sein.«

Jetzt lachten Paige und Piper und zwar lauthals.
»So etwas habe ich ja noch nie gehört«, sagte Piper. »Nun

mach dich nicht verrückt, und versuch es einfach.«

D’reen sah sich den Ball an, der etwa zwanzig Meter entfernt

lag.

»Stell dir an seiner Stelle einen leeren Fleck vor – und

visualisiere den Ball dann in deiner Hand«, flüsterte Paige ihr
ins Ohr. »Kein Druck, keine Verkrampfung.«

D’reen atmete geräuschvoll ein, sah den Ball an und schloss

die Augen.

Einen Herzschlag später hatte sie das Plastikspielzeug in der

Hand!

Sie konnte es kaum fassen.
Es hatte funktioniert!
Sie hatte gezaubert!
Trish kam begeistert angelaufen und drückte ihre Freundin.

Selbst Sandy rappelte sich auf, um D’reen zu gratulieren.

Die Zauberhaften sahen der überschwänglichen Freude

wohlwollend zu. Die Mädchen hatten es verdient – jede von
ihnen hatte bereits die Fähigkeit bewiesen, Magie zu nutzen.
Nun mussten sie nur noch lernen, diese zu kontrollieren.

Allerdings war das ein großes ›nur noch‹.

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21

P

IPER WARF EINEN WEITEREN

B

ALL

in die Luft.

Trish konzentrierte sich darauf, ihn zu zerstören, doch

plötzlich löste sich das blöde Ding in Luft auf!

Trish sah sich verwirrt um, bis sie D’reen entdeckte, die

hinter ihr stand und grinsend den Ball in den Fingern hielt.

»Reingelegt«, johlte sie, und streckte Trish die Zunge heraus.
Doch dann ging der Ball in ihrer Hand in Flammen auf, und

sie musste ihn fallen lassen, damit sie sich nicht verbrannte.

»Wer hat hier wen reingelegt?«, kam es von Sandy, die ganz

in der Nähe stand.

»Na, warte!«, rief D’reen und rannte hinter Sandy her, die

ganz schnell Fersengeld gab.

Doch sie kam nicht weit – statt sich auf einen Spurt

einzulassen, den sie eh nicht gewinnen würde, löste sich
D’reen kurzerhand direkt vor ihrer verdutzten Freundin auf.

»Das ist unfair!«, schrie Sandy empört, aber sichtlich

begeistert.

Trish, die den beiden zugesehen hatte, wedelte ein bisschen

mit den Händen. Sie wollte augenscheinlich ihre Freundinnen
erstarren lassen, um die Oberhand zu gewinnen.

Aber es klappte nicht.
Sie versuchte es noch einmal.
Wieder nichts.
Suchend sah sie sich nach Piper um, die hinter ihr stand und

sie kritisch anschaute.

Trish dachte nach, dann fiel es ihr wieder ein. »Die Kräfte

wirken nicht bei anderen Hexen.«

»Genau«, bestätigte Piper und lächelte nun wieder.
Die letzten Übungen waren prima gelaufen, und die

Halliwells hatten sich entschlossen, den Mädchen etwas

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Freiraum zu geben. Schließlich war es wichtig, spielerisch den
Umgang mit den Kräften zu erlernen.

Und tatsächlich – mittlerweile gingen Sandy, Trish und

D’reen mit ihren Fähigkeiten um, als hätten sie sie schon
immer gehabt.

Während die Mädchen sich noch austobten, sahen sich die

Hexen gegenseitig an.

»Es ist so weit, oder?«, fragte Paige.
Piper nickte. »Wir haben getan, was wir konnten. Jetzt liegt

es ganz allein an den dreien.«

Phoebe runzelte die Stirn. »Sie sind gut.«
»Verdammt gut«, bestätigte Paige. »Ich wünschte, mir hätte

jemand in einer fremden Dimension den Umgang mit meinen
Fähigkeiten beigebracht.«

Da konnten Piper und Phoebe nur zustimmen.
Gut genug erinnerten sie sich an ihre ersten Versuche – und

an ihre ersten Misserfolge.

Die Halliwells hatten ihr Bestes gegeben, um die Mädchen

vorzubereiten. Aber früher oder später mussten sie sich
Solomon Ford stellen. Sie konnten nicht für immer hier
bleiben, das war keine Alternative.

»Rufst du Leo, damit er uns abholt?«, fragte Phoebe.
Piper nickte. Sie schloss kurz die Augen.
Doch nach ein paar Sekunden war Leo immer noch nicht da.
Das war ungewöhnlich. Normalerweise reagierte er prompt.
Piper rief in ihrem Kopf noch einmal das Bild ihres Mannes

herbei.

Nichts.
»Was ist?«, fragte Phoebe.
»Ich weiß nicht«, antwortete Piper. »Ich kann ihn scheinbar

nicht erreichen. Er muss sehr beschäftigt sein.«

Sie traute sich nicht, die wahrscheinlichere Ursache

auszusprechen, nämlich dass Leo vielleicht etwas zugestoßen
war, und er deshalb keinen Kontakt aufnehmen konnte.

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»Ohne ihn kommen wir hier aber nicht wieder weg«,

bemerkte Paige.

»Das weiß ich auch«, sagte Piper nervös.
Phoebe sah sich um. »Einen Teppich, Internetzugang,

Kabelfernsehen – und schon könnte man es sich hier gemütlich
machen. Es gibt Schlimmeres.«

Für diesen blöden Scherz bekam sie von Piper den

patentierten ›Blick des Todes‹.

»Ist was?«, fragte Trish, die sich mit Sandy und D’reen nun

zu den Schwestern gesellte.

»Nein, kein Problem«, sagte Piper unsicher. »Wie es

aussieht, steckt mein Mann in einem ›magischen Funkloch‹.«

Trish sah Piper schräg an. »Hat deine Fähigkeit, ihn zu rufen,

etwas mit Magie zu tun?«

Piper verstand die Frage nicht. Bevor sie aber nachhaken

konnte, schloss Trish die Augen.

Im nächsten Moment tauchte Leo auf!
Der Wächter des Lichts schaute ziemlich überrascht, denn er

hatte gemerkt, dass der Ruf, der ihn hergebracht hatte, nicht
von seiner Frau kam.

Piper war ziemlich verstört. Sie wäre gar nicht

draufgekommen, dass ihre geistige Verbindung zu Leo auf
etwas anderem aufbaute als auf ihren Gefühlen zueinander.

Nun musste sie feststellen, dass es eher ein magisches denn

ein romantisches Band war, das sie zusammenhielt.

Das traf sie ziemlich hart. Es bedeutete außerdem, dass Trish

jetzt mehr Kontrolle über Leo hatte als Piper.

»Geht doch«, sagte Trish selbstbewusst.
Leo, der mittlerweile durchschaute, was passiert war, nahm

die Sache gelassen. Er küsste Piper. »Hallo, Liebling.
Scheinbar hat bei euch ja alles geklappt.«

»Wir sind fertig«, verkündete Phoebe. »Du kannst uns

wieder nach Hause bringen.«

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Paige sammelte derweil die Überreste des Trainings ein – die

Bälle, die Kegel und die Kerze. Alles, was sie zurückließen,
war ein bisschen Asche und ein schwarzer Kreidekreis auf der
Erde. Auch in fremden Dimensionen war es ihrer Meinung
nach nicht die feine Art, Abfall zu hinterlassen.

Sandy drehte sich noch einmal im Kreis. »Können wir

hierher zurückkommen, wenn ich mal tanzen lernen will oder
für die große Mathe-Prüfung büffeln muss?«

Auch Phoebe musste zugeben, dass diese Dimension richtig

cool war. Man konnte ohne Störung nach Belieben trainieren,
bis man sich fit fühlte. Und in der realen Welt blieb solange die
Zeit stehen. Wenn sie das schon gewusst hätte, als sie versucht
hatte, den Führerschein zu machen...

Die Halliwells, die Mädchen und Leo stellten sich wieder in

einem Kreis auf.

»Wusstest du, dass unsere mentale Verbindung nicht Liebe,

sondern profane Zauberei ist?«, flüsterte Piper ihrem Ehemann
zu.

»Klar«, murmelte Leo. »Aber deswegen lieben wir uns doch

nicht weniger, oder?«

So war Leo – immer die richtige Antwort parat.
In einem Funkenregen verließen sie die Dimension, die sie

als Hexen-Trainingslager benutzt hatten.

Die Dimension, in der aus drei gewöhnlichen Mädchen

Junior-Hexen geworden waren.

Und aus drei erfahrenen Hexen wieder ganz gewöhnliche

junge Frauen.

Es war hell draußen, als die sieben Personen im Halliwell-Haus
materialisierten. Es war auf den ersten Blick nicht festzustellen,
ob es noch Samstag war oder schon der folgende Sonntag –
oder vielleicht drei Monate später. Letztere Möglichkeit hätte
allerdings sicher Ärger mit den Eltern der Mädchen bedeutet.

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»Keine Unterwasserstädte und Atomautos, soweit ich das

beurteilen kann«, stellte Trish nach einem kurzen Rundblick
fest und warf Leo einen spöttischen Blick zu.

Piper konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Sie war sich

klar darüber, dass Trish in Leo verknallt war. Aber sie machte
sich keine Sorgen, dass diese Backfisch-Liebe ein Problem
darstellte.

Phoebe warf einen schnellen Blick auf den Radiowecker, der

in der Diele stand. »Unglaublich, Leute – wir waren ungefähr
eine halbe Stunde unterwegs!«

Das war ja ein Knaller!
Rein gefühlsmäßig hatten die Hexen ihre drei Schützlinge

mindestens zwei Wochen lang gedrillt!

»Dann habe ich ja nicht mal eine Episode ›Sex and the City‹

verpasst«, freute sich Sandy.

»Das darfst du gucken?«, wunderte sich Paige.
»Was ist denn dabei?«, fragten die Mädchen

übereinstimmend.

Die Halliwells sahen sich an. Piper ergriff schließlich das

Wort: »Da seid mal froh, dass wir nicht wirklich eure großen
Schwestern sind. Dann gäbe es diesen Schweinkram nicht vor
eurem achtzehnten Geburtstag.«

Die Mädchen lachten, und Phoebe zwinkerte Sandy

verschwörerisch zu – alles halb so wild.

»Was machen wir als Nächstes?«, fragte D’reen. »Rufen wir

jetzt Solomon Ford?«

Das war eine gute Frage. Es gab ja keinen wirklichen

Zeitplan. Und so gefährlich, wie der Kampf war, sollten sie
vielleicht vorher noch ein bisschen entspannen.

»Verlegen wir das doch auf morgen«, schlug Paige vor.

»Machen wir uns heute noch einen tollen Abend.«

Allgemeines Nicken.
»Was ist mit dem passenden Ort für die Konfrontation?«,

fragte Piper ihren Ehemann.

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»Ich denke, da habe ich genau das Richtige«, erklärte Leo.
»Und das wäre?«
»Das Stadion der San Francisco Seahawks.«
»Das Football-Stadion?«, fragte Paige erstaunt.
Leo nickte. »Es ist ideal – derzeit ist keine Saison, also ist

dort am Wochenende nichts los. Es ist nach außen abgeschirmt
und nach oben offen. Die Übersicht ist perfekt, und Verstecke
gibt es auch keine.«

Die Halliwells mussten diese Idee erst einmal verdauen. Aber

je mehr sie darüber nachdachten, desto mehr Sinn ergab es.

»Ein magisches Duell im Football-Stadion – wow!«,

kreischte D’reen.

»So viel Action hatte die blöde Caroline Spencer garantiert

noch nie auf dem Spielfeld!«, setzte Sandy hinzu.

Als sie sahen, wie begeistert die Mädchen waren, fügten sich

auch die Halliwells in ihr Schicksal.

»Wir sollten allerdings sicherstellen, dass auch keine

Reinigungstrupps oder Besucher sich in das Stadion verirren«,
gab Phoebe zu bedenken.

»Und wie machen wir das?«, fragte Paige.
Phoebe lächelte schelmisch. »Ich kenne da einen Polizisten,

der mir bestimmt gerne einen Gefallen tut.«

Piper verdrehte die Augen. Phoebe konnte es einfach nicht

lassen. Sie wandte sich zu Leo. »Was hältst du von einem
romantischen Abendessen bei Kerzenlicht?«

Der Wächter des Lichts lächelte. »Gerne. Und heute wird

nicht gekocht – wir gehen aus.«

Paige knirschte ein bisschen mit den Zähnen. Damit fielen

Phoebe und Piper heute Abend aus. Sie musste wohl allein
etwas unternehmen.

In diesem Augenblick bemerkte sie, dass die drei Junior-

Hexen etwas verloren ausschauten. »Keine Lust, heute Abend
bei euren Eltern zu verbringen?«, fragte sie.

Unisono schüttelten die Mädchen den Kopf.

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»Was haltet ihr dann von einem Einkaufsbummel?«, fragte

Paige unschuldig. »Auf Kosten des Hauses!«

Die Reaktion war eindeutig – mit großem Geschrei fielen

Trish, Sandy und D’reen Paige um den Hals.

Der Abend war gerettet!
»Aber denkt dran«, mahnte Piper und damit bezog sie sich

auf alle Anwesenden weiblichen Geschlechts, »keine Magie!
Auch nicht aus Spaß, durch Zufall oder zur
Selbstverteidigung!«

Das war allen klar.

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22

»

W

IR SOLLTEN DAS VIEL ÖFTER MACHEN

«, sagte Leo und sah

seine Frau durch den Schein der blutroten Kerze an.

»Wir sollten viele Dinge öfter machen«, erwiderte Piper

halblaut und vor Zufriedenheit strahlend.

Sie saßen im ›Angelo’s‹, einem kleinen Restaurant am

Fisherman’s Warf in der Hafengegend von San Francisco.
Gerade hatten sie eine Platte mit beeindruckenden
Meeresfrüchten verputzt und dazu die zweite Flasche Rotwein
entkorkt.

Normalerweise ging Piper nicht gerne auswärts essen. Als

prämierte Küchenchefin war sie viel zu kritisch, was die Arbeit
anderer Gourmets anging.

Aber im ›Angelo’s‹ arbeitete der Chef persönlich, Angelo

Sarcletti, und der hatte bei ihr gelernt, als sie noch das Quake
leitete.

Das Quake. Das war lang her. Mittlerweile war sie Besitzerin

eines angesagten Nachtklubs. Und zum Glück lief das P3 auch
mal ein paar Tage ohne sie.

»Woran denkst du?«, fragte Leo.
»An früher«, antwortete sie ehrlich. »An das Quake, an Prue

– und die Zeit, als du dich als Handwerker in unser Haus
gemogelt hast – und in mein Leben.«

Piper und Leo hatten einen langen und komplizierten Weg

zurückgelegt, um sich zu finden.

»Wir haben viel erlebt – und wir werden noch viel erleben«,

sagte Leo aufrichtig und legte seine Hand auf ihre. »Piper, du
darfst dir nicht so viel Sorgen machen. Ihr habt so viele
gefährliche Gegner überstanden – sogar einen, der sich in eure
Herzen eingeschlichen hatte.«

»In Phoebes Herz«, korrigierte Piper. »Ich konnte Cole nie

leiden. Und Prue auch nicht. Von Paige ganz zu schweigen.«

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Das stimmte. Der smarte Staatsanwalt hatte Charme und

gutes Aussehen im Überfluss gehabt, aber seine dunkle Seite
war immer zu spüren gewesen – zumindest für Hexen. Aber
Phoebe war völlig blind vor Liebe gewesen. Sie hatte nicht mal
von ihm lassen können, als klar wurde, dass er der neue
Herrscher der Hölle werden wollte. Die daraus entstandenen
Konflikte hätten die Zauberhaften fast für immer auseinander
gerissen.

Piper atmete tief durch. Leo hatte Recht, wie fast immer.

Solomon Ford mochte achtzig Hexen auf dem Gewissen haben,
aber die Zauberhaften hatten schon hunderte von Dämonen
besiegt.

Sie drückte zärtlich die Hand ihres Mannes. »Habe ich dir

heute eigentlich schon gesagt, dass du die Liebe meines Lebens
bist?«

Leo lächelte. »Zum Aperitif, nach der Hauptspeise – und vor

drei Minuten, als wir die zweite Flasche aufgemacht haben.«

»Ich sage es dir trotzdem nicht oft genug.«
Leo strahlte, als wäre der Begriff Wächter des Lichts

wörtlich zu nehmen. »Du bist mein Leben, Piper. Und was
immer geschieht – ich werde an deiner Seite sein.«

Piper schob die Kerze beiseite, beugte sich über den Tisch

und küsste ihren Mann lang und zärtlich. Normalerweise zeigte
nur Phoebe in der Öffentlichkeit so viel Intimität, aber heute
Abend war es Piper egal.

Manuela schniefte und wischte sich eine Träne aus dem
Augenwinkel.

Piper und Leo waren ein so schönes Paar!
Die italienische Kellnerin hatte die beiden den ganzen Abend

lang bedient. Eigentlich war es schon längst Zeit, den Tisch
abzuräumen und das Dessert vorzuschlagen.

Aber es sah ganz danach aus, als ob Piper und Leo ihr

eigenes Dessert wären.

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Mamma mia, musste Liebe schön sein. Manuela selbst

konnte das nicht beurteilen. Seit sie sich von diesem Trottel
Franco getrennt hatte, lief bei ihr in Sachen Liebe nichts mehr.

Deshalb gefiel es ihr, dem Glück anderer Leute zuzusehen.
Angelo kam aus der Küche und wischte sich die Hände an

der Schürze ab. »Was ist, Manuela? Nix Dessert, nix
Cappuccini?«

Er wollte sie in Richtung Tisch drängen, weil er dachte, dass

sie trödelte.

Manuela nahm das Handtuch, das immer über ihrem Arm

lag, und zog dem fetten Angelo damit eins über. »Siehst du
nicht – Amore?!«, zischte sie. »Kannst du doch nicht stören!«

Jetzt sah auch Angelo das Geturtel von Leo und Piper.

»Ahhh, kleine Piper und nette Ehemann. Molto bello«, seufzte
er und machte dabei theatralische Gesten.

Der Koch und die Kellnerin sahen dem Pärchen eine Weile

lang zu.

»Man könnte neidisch werden«, hauchte Manuela.
Zu ihrer Überraschung nahm Angelo ihre Hand und küsste

sie sanft. »Bella, nicht neidisch. Du bist Grazie vom
›Angelo’s‹, auch wenn keine andere Mann sehen – Angelo
sehen immer!«

Manuela sah den dicken dummen Trottel an.
Er war einfach süß.
Und eigentlich gar nicht so dick.
Oder so dumm.
Oder so trottelig...

»Dieser Verkäufer ist ein Trottel«, verkündete Paige halblaut,
als sie Sandy in dem hautengen Top sah.

Sie stand mit den Mädchen in einem hippen Mode-Laden in

einem der größten Einkaufszentren von San Francisco.

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Auch Trish war nicht überzeugt. D’reen blickte eher

neidisch. Für die schlanke Figur von Sandy hätte sie einiges
gegeben.

Sandy stand vor dem großen Spiegel und betrachtete sich

kritisch. Sie fühlte sich ein bisschen wie eine Wurst in der
Pelle. Sobald sie sich bewegte, warfen die hautengen
Klamotten überall Fältchen.

Paige stellte sich hinter sie und zog mit der linken Hand an

Sandys Schulter, während sie mit der rechten zwischen die
Schulterblätter drückte. »Rücken durch, gerade stehen!«

Sandy merkte, wie unangenehm es ihr war, sich in diesem

Outfit zu strecken. Aber sie konnte nicht genau sagen, woran
das lag.

Paige schüttelte wieder den Kopf. »Du hast einen sehr

schlanken Körper und knochige Schultern. Aber weil deine
Oberweite das noch nicht ausgleicht, siehst du in diesem Teil
aus wie eine zu schnell gewachsene Zwölfjährige!«

Trish nickte zustimmend mit dem Kopf. »Jetzt noch Zöpfe

und man lässt dich wieder auf das Kinderkarussell!«

»Wunderbar!«, rief auf einmal der Verkäufer, der mit einem

Arm voll ebenso knapper Hemdchen wieder aufgetaucht war.
»Das betont die knospende Weiblichkeit!«

Paige brauchte nicht genau hinzusehen, um zu wissen, was

der Typ unter knospender Weiblichkeit verstand.

Sie schüttelte energisch den Kopf. »Nein, das bringt nichts –

wir wollen unsere Freundin nicht an Mädchenhändler
verhökern.«

Der Verkäufer machte ein beleidigtes Gesicht und trollte sich

kommentarlos davon.

»Ich gebe auf«, stöhnte Sandy. »Mir steht einfach nichts.«
»Du musst gerade reden«, maulte D’reen.
Paige seufzte. Sie hatte ganz vergessen, wie schwierig es

war, als Teenager Klamotten kaufen zu gehen. Jetzt wusste sie,
wie sich Mütter fühlten.

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»Keine Panik«, sagte sie resolut. »Wir werden etwas finden.«
Sie sah sich um, und schließlich blieb ihr Blick auf einem

Ständer in der Ecke hängen. »Da!«, rief sie.

Es waren weiße Sommerblusen mit Spitzenbesätzen. Die

Farben waren bis auf einen leichten Gelbstich gedeckt,
während die Spitzen rot und blau gemustert waren. Es sah
abgefahren aus – und total uncool.

Sandy hielt die Bluse hoch. »Na, ich weiß nicht...«
»Anprobieren!«, forderte Paige.
»Anprobieren! Anprobieren! Anprobieren!«, riefen auch

D’reen und Trish, bis Sandy entnervt klein beigab.

Paige griff schnell noch eine Jeans vom Stapel und warf sie

dem Mädchen hinterher. »Und zieh endlich mal eine Hose an,
die dir keinen Blutstau verursacht.«

Sandy verschwand in der Umkleidekabine.
Puh, dachte Paige, das ist schwerer als der Kampf gegen eine

Horde Wassergeister. Einkaufen für Trish war einfach gewesen
– das Mädchen hatte einen klaren Geschmack und eine deutlich
definierte Figur. Auch D’reen war mittlerweile versorgt – bei
ihr limitierte die Figur ganz klar, was sie tragen konnte.
Trotzdem war Paige zufrieden – eine schwarze Bundfaltenhose
und ein graues Männerhemd ließen das Mädchen wirklich
abgefahren aussehen.

Sandy hingegen war sehr schmal und machte den Fehler, das

auch noch zu betonen. Als Vorbild dienten ihr wahrscheinlich
die dünnen Hühner aus den TV-Serien und Musikvideos, die
mit siebzehn satte drei Kilo zugenommen hatten – an Silikon.
Diese Kombination aus ultramager und vollbusig war absolut
unnatürlich und verführte zu einem völlig falschen
Kleidungsstil.

Jetzt kam Sandy aus der Kabine. Sie sah unsicher aus, weil

sie sich selber noch nicht im Spiegel gesehen hatte.

Das sollte sich nun aber ändern!
D’reen klappte das Kinn runter.

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Trish machte nur tonlos ›wow‹.
Und Paige klatschte begeistert in die Hände. »You go, girl!«
Sandy stellte sich vor den Spiegel.
Es war wirklich wie Tag und Nacht.
Die lockere Jeans ließ ihre Figur insgesamt besser

proportioniert erscheinen, und die weiße Bluse kontrastierte
wunderschön mit ihrer gesunden Hautfarbe und den
weizenblonden Haaren. Es gab ihr einen Touch von Hippie-
Girl.

»Ich meine... das ist... ich finde... super!«, stammelte sie nur.
Paige war außerordentlich mit sich zufrieden. Phoebe mochte

sicher die Königin sein, wenn es darum ging, sich selber sexy
einzukleiden, aber was den Kleidungsstil anderer Leute betraf,
war sie unschlagbar.

Paige hatte den Nagel auf den Kopf getroffen!
»Dann ab zur Kasse!«, verkündete sie und schnappte sich im

Vorbeigehen noch ein braunes Lederband, das eigentlich als
Schnürsenkel für Sommerschuhe gedacht war. »Wickel das um
dein linkes Handgelenk.«

Sandy sah das Lederband an, während sie zur Kasse gingen.

»Aber links trage ich meine Uhr!«, erwiderte sie.

»Nicht mehr«, erklärte Paige. »Ab heute fragst du jedes Mal,

wenn du die Uhrzeit wissen willst, einen Jungen danach.«

Die drei Freundinnen sahen sich gegenseitig an. Auf die Idee

waren sie ja noch nie gekommen!

Paige grinste, während sie ihre Kreditkarte zückte. Diesen

Trick hatte sie in der Tat von Phoebe. Er funktionierte perfekt.
Wenn der Junge nett reagierte, konnte man ein Gespräch
anfangen. Wenn er sich als Langeweiler entpuppte, bedankte
man sich artig für die Uhrzeit und verschwand. Es gab keine
Möglichkeit, sich zu blamieren.

Beladen mit mehreren Tüten verließen sie das Geschäft, und

sahen sich in dem riesigen Einkaufszentrum um.

»Was jetzt?«, fragte Trish.

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Paige tendierte zu einem Kinobesuch, aber als sie D’reens

Gesichtsausdruck sah, änderte sie ihre Meinung. »Auf zu den
Fresstempeln«, bestimmte sie. »Jetzt wird gemampft, bis der
Magen um Hilfe schreit. Und danach gehen wir ins Kino!«

Die Mädchen johlten wieder begeistert.
»Und du«, sagte Paige, während sie Sandy ihre Tüten

abnahm, »findest jetzt mal die Uhrzeit raus.«

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23

»

Z

EHN

U

HR

«,

BRÜLLTE

D

ARRYL

entnervt gegen den Lärm der

Musik an.

»Das ist doch noch total früh«, schrie Phoebe, lachte und

nahm noch einen Schluck von ihrem Cocktail, der mit
Früchten, Strohhalmen und anderen Garnierungen beladen war.

Sie standen im ›Lunar Madness‹, einer angesagten Disco im

Kneipenbezirk von San Francisco.

»Es ist mir nicht klar, warum wir uns ausgerechnet hier

treffen mussten«, grantelte Darryl schon wieder. »Aus diesem
Alter bin ich definitiv raus.«

Phoebe grinste schief.
Das hatte sie schon geahnt. Darryl war nicht gerade ein

Partylöwe. Sie konnte es sogar bis zu einem gewissen Grad
verstehen – er ging schwer auf Mitte dreißig zu, und als
Polizist hatte er einen stressigen Schicht-Job.

Sie bemerkte aber wohlwollend, dass er zumindest nicht in

Jackett und Hemd gekommen war. Stattdessen trug er ein
enges schwarzes T-Shirt mit V-Ausschnitt und eine
ausgewaschene Jeans.

Das bestätigte ihren Verdacht – Darryl war wirklich gut in

Form. Sein Bizeps setzte die Armbündchen seines Shirts
mächtig unter Druck, und wenn er den Kopf zurücklegte, um
von seinem Bier zu trinken, konnte man den Waschbrettbauch
spannen sehen.

Phoebe bekam Hunger – aber nicht aufs Essen.
Es war ja nicht so, dass nur Phoebe schöne Aussichten hatte.
Sie hatte sich keine große Mühe gegeben, ihre Vorzüge zu

verstecken. Zwar trug sie in der Hoffnung auf ein paar Runden
auf dem Tanzparkett flache Schuhe, aber der Rest ihres Outfits
ließen jeden Mann wahnsinnig werden. Der schwarze Minirock
ging zwar fast bis ans Knie, aber die untere Hälfte davon war

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aus durchsichtiger Spitze. Dazu trug sie ein orangefarbenes
Bikini-Oberteil, über das sie eines dieser neumodischen
Jäckchen gezogen hatte, die nur aus zwei Ärmeln bestanden,
die auf dem Rücken durch ein silbernes Kettchen verbunden
waren.

Ihre Haare hatte sie über den Ohren nach hinten gegelt und

vorne lässig in die Stirn gekämmt.

Wenn sie sich mit dem Rücken an die hohe Theke lehnte,

gab es keinen Mann, der nicht einen Blick riskierte.

Weil es gerade passte, rempelte in diesem Moment ein

Schrank Darryl von hinten an, und drängelte sich zwischen das
Paar. Er grinste Phoebe schmierig an. »Hallo, Engelchen, aus
welchem Himmel bist du denn gefallen?«

Es amüsierte Phoebe, dass der blöde Typ nicht mal so sehr

daneben lag – bis vor ein paar Stunden war sie schließlich in
einer Dimension gewesen, die man durchaus als Himmel
bezeichnen konnte. Das war aber auch schon alles, was sie an
dieser Situation erheiternd fand.

»Danke, ich bin versorgt«, sagte sie knapp und deutete mit

dem Drink in der Hand auf Darryl.

Der Schrank drehte sich kaum um. Obwohl Darryl sehr

muskulös war, wirkte er wie ein Schuljunge gegen diesen
Typen.

»Ich denke, wir kippen jetzt mal ein, zwei Bierchen – und

dann sehen wir weiter«, verkündete der Typ ungerührt.

Darryl seufzte und stellte sein Bier auf die Theke, um sich

dem unvermeidlichen Konflikt zu stellen. Aber Phoebe machte
eine unauffällige Handbewegung, damit er sich zurückhielt. Sie
stellte ihr Glas ebenfalls ab.

Die junge Hexe hielt dem Schrank die Hand hin. »Wenn wir

trinken wollen, sollten wir uns einander vorgestellt haben – ich
bin Pepper.«

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Darryl konnte sich einen Lacher nicht verkneifen. Ein selten

bescheuerter Name – noch dazu aus der Fernsehserie ›Mit
Make-up und Pistolen‹.

Der Schrank ergriff etwas verwirrt die angebotene Hand.

»Ich bin Clay.«

Weiter kam er nicht. Phoebe zog seinen Arm hoch, dann mit

Schwung runter, drehte ihn zur Seite, und verknickte das
Handgelenk. Der brennende Schmerz ließ den Koloss
aufbrüllen. Er drehte sich mit der Bewegung, um aus dem Griff
herauszukommen.

Damit stand er in Angesicht zu Angesicht vor Darryl.
Der junge Polizist hatte keine Lust, sich auf eine physische

Konfrontation einzulassen, und zog lässig seine Polizeimarke
aus der Innenseite seines Gürtels. Diese hielt er dem Typ direkt
vor die Nase. »Darryl Morris, SFPD. Ich bin sicher, Sie wollten
sich gerade bei der jungen Dame entschuldigen und gehen.«

Phoebe grinste. Darryl hatte sie gerade ›Dame‹ genannt. Das

passierte ihr auch nicht jeden Tag. Sie verstärkte den Druck auf
das Handgelenk ihres Gegners, und dieser jaulte auf.

»’tschuldigung«, keuchte er mit schmerzverzerrtem Gesicht.
Endlich kamen auch die Rausschmeißer der Disco

angelaufen und geleiteten den Aufreißer nach draußen.

Phoebe nahm triumphierend ihren Drink von der Theke und

hielt ihn Darryl hin. »Auf Teamwork!«

Darryl klickte seine Bierflasche dagegen. »Auf Teamwork!«
Er hatte diverse Ideen, was Phoebe damit meinen konnte –

und keine war dabei, die nicht auf Ärger hinauslief.

»Also, weswegen hast du mich hierher bestellt?«, fragte er

noch einmal.

Es gefiel ihr, wie leicht Darryl auf den vertraulicheren

Gesprächston umstieg.

»Wir brauchen deine Hilfe«, sagte sie und gab sich Mühe,

nicht zu laut zu sprechen.

»Was?«, fragte Darryl nach.

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Es hatte funktioniert. Er lehnte sich näher an sie, damit sie

ihren Satz wiederholen konnte.

Sie beugte ihren Kopf so weit vor, dass ihre Lippen sein

Ohrläppchen berührten, als sie sagte: »Ich brauche deine Hilfe,
Darryl.«

Darryl zog den Kopf zurück und sah ihr in die Augen.
Er war verwirrt. Schließlich kannte er Phoebe seit fünf

Jahren – damals hatte sein Partner Andy eine Affäre mit Prue
Halliwell angefangen. Phoebe war praktisch das Nesthäkchen
der Familie gewesen.

Er wollte sich gar nicht vorstellen, dass sie ihn gerade

anbaggerte. Er hoffte inständig, dass sie nur seine Hilfe als
Polizist brauchte.

»Was liegt an?«, fragte er und klammerte sich an sein Bier.
Phoebe schaltete wieder einen Gang zurück. Es war eine

Kunst, einen Mann zu angeln. Man warf den Köder aus, zog
ihn dann aber wieder zurück.

»Wir müssen morgen einen schweren Kampf ausfechten«,

erklärte sie. »Und wir wollen sichergehen, dass keine
Unschuldigen in der Nähe sind, die in Gefahr kommen
könnten.«

Sie erwähnte weder Solomon Ford noch die Tatsache, dass

drei Schulmädchen den Kampf für die Zauberhaften
übernehmen mussten. Es wäre zu kompliziert gewesen, das in
dieser Umgebung zu erklären – und so unsexy.

»Zeit und Ort?«, fragte Darryl, der froh war, nun wieder

einen etwas sachlicheren Tonfall anschlagen zu können.

»Der ganze Nachmittag – im Seahawks-Stadion«, erklärte

Phoebe bewusst lässig und drehte schnell ihren Blick weg,
während sie einen großen Schluck von ihrem Cocktail nahm.

Darryl verschluckte sich fast an seinem Bier. »Das

STADION?!«, fragte er entgeistert. »Ihr braucht das gesamte
Stadion? Seit wann sind euch regennasse Seitenstraßen in
dunklen Neumond-Nächten nicht mehr gut genug?«

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Phoebe sah in schmollend an. »Hey, wir versuchen bloß,

unsere Chancen ein bisschen zu verbessern und die
Öffentlichkeit da rauszuhalten. Du solltest dich freuen!«

Darryl strich sich über das Kinn. »Na ja, es ist keine Saison.

Die paar Handwerker und Hausmeister könnte ich fern halten,
indem ich vom Revier aus anrufe und wegen einer
Bombendrohung das Gelände sperren lasse.«

Phoebe nickte und sah den jungen Polizisten dankbar an –

sehr dankbar.

»Dafür hättest du auch anrufen können«, bemerkte Darryl.
»Stimmt.« Phoebe lutschte provokant an einer

Orangenscheibe, die sie aus ihrem Glas gefischt hatte.

»Schmeckt’s?«, fragte Darryl, der wieder das Gefühl hatte,

dass die junge Hexe seinen Hormon-Haushalt durcheinander
brachte.

Und zwar erfolgreich.
»Probier mal«, antwortete Phoebe und drückte ihm einen

Kuss auf die Lippen.

Darryl bekam erheblich mehr als nur Fruchtsaft ab.
Es schmeckte nach Orangen, ein bisschen Alkohol – und

ganz stark nach Phoebe.

Und der Polizist ließ alle Vorsicht fahren und küsste die

Hexe mit großer Leidenschaft zurück.

Sie legte ihren freien linken Arm auf seine Schulter und

spürte unter dem Stoff des T-Shirts, wie sich seine Muskeln
bewegten.

Zehn, zwölf Sekunden – eine halbe süße Ewigkeit.
Als sich ihre Gesichter endlich wieder voneinander

entfernten, grinste Phoebe glücklich.

Mann, Darryl küsste verboten gut!
Darryl hingegen sah aus, als habe er nicht in eine Orange,

sondern in eine Zitrone gebissen.

Er hatte gerade eine Hexe geküsst!

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So etwas hatte sein Partner auch getan und dafür mit seinem

Leben bezahlt. Die Halliwells bedeuteten Ärger – immer und
ohne Ausnahme. Es war verrückt, unverantwortlich und
vermutlich sogar lebensgefährlich.

Aber der Kuss war ein Hammer gewesen!
Und Darryl zweifelte keine Sekunde daran, dass Phoebe jede

Dummheit wert war.

Die seltsame Situation wurde in diesem Moment auch noch

peinlich, weil ein paar Teenager, die um das Paar herum an der
Bar standen, beeindruckt Beifall klatschten.

»Ich muss hier raus«, knurrte Darryl, der es nicht mochte,

wenn ihm die Kontrolle über eine Situation entglitt.

»Da komme ich mit«, sagte Phoebe und stellte ihren Drink

ab.

»Du weißt doch gar nicht, wo ich hin will«, wandte Darryl

ein.

Die junge Hexe strahlte ihn an. »Mach mir ein Angebot.«
Irgendwie hatte der Polizist das Gefühl, gerade ein solches

bekommen zu haben...

Der Tag der Entscheidung war da.

Und es war ein Sonntag.
Es erschien Piper ein bisschen seltsam, dass sie ihren

vielleicht schwersten Kampf gegen die Mächte des Bösen
ausgerechnet an dem Tag ausfechten würden, an dem Gott der
Bibel zufolge geruht hatte.

Wenn das mal kein schlechtes Omen war...
Die Halliwells, Leo und die drei Junior-Hexen saßen wieder

am Frühstückstisch.

Das letzte gemeinsame Frühstück war erst vierundzwanzig

Stunden her, und doch war eine Menge passiert. Es war, als
säßen heute andere Menschen am Tisch, veränderte Menschen.

Zuerst wusste niemand so recht, ob es angebracht war, in

dieser Situation zu plaudern.

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Es war Paige, die schließlich das Eis brach und sich an ihre

Schwestern wandte. »Wir haben uns gestern den neuen Keanu-
Reeves-Film angeschaut. Den solltet ihr euch unbedingt
nächste Woche auch ansehen.«

Sie bezog sich bewusst auf die Zukunft. Es war ihre Art, der

Hoffnung Ausdruck zu geben, dass alles gut gehen würde.

»Ich frage mal Darryl, ob er Lust hat«, erklärte Phoebe,

völlig bewusst, was sie damit auslöste.

»Darryl?«, fragte Piper. »Du willst mit Darryl ins Kino?«
»Wieso nicht?«, hielt Phoebe dagegen. »Meinst du, er ist zu

alt für mich?«

»Du warst doch gestern mit ihm weg und bist ziemlich spät

zurückgekommen«, bemerkte Paige.

»Das war dienstlich«, verteidigte sich Phoebe, aber jeder

konnte sehen, dass sie log.

Trish und Sandy kicherten, während D’reen schwer

beeindruckt schien.

»Das ist nicht komisch«, erklärte Piper kategorisch. »Phoebe,

Darryl ist unser Kontakt bei der Polizei. Es wäre nicht sehr
praktisch, wenn du uns diesen Kontakt mit deiner Flirterei
kaputtmachst.«

Phoebe zwinkerte mit den Augen. »Keine Angst, ich werde

Darryl schon nicht ›kaputtmachen‹.«

Sie streckte ihrer Schwester die Zunge raus.
D’reen spuckte vor Lachen fast ihr Croissant wieder aus.
Piper war über diese Entwicklung gar nicht glücklich, aber

sie würde mal wieder Verständnis aufbringen müssen.
Schließlich war sie als verheiratete Frau aus Dating-Spielen
inzwischen rausgeflogen.

Das brachte die Erinnerung an den gestrigen Abend wieder

hoch, und sie suchte unter dem Tisch nach Leos Hand. »Was
habt ihr denn noch so gemacht, außer Kino?«, fragte sie die
Mädchen, um das Thema zu wechseln.

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»Wir waren in einem TexMex-Restaurant«, erzählte Trish

begeistert. »Und danach haben wir ein Mörder-Eis gegessen!«

»Und shoppen waren wir auch«, ergänzte D’reen. »Paige hat

wirklich einen supertollen Geschmack!«

Den Mädchen war die Freude über den gestrigen Abend

anzumerken.

»Sandy hat was mächtig Schickes gefunden«, bemerkte

Paige beiläufig.

»Echt wahr?«, hakte Phoebe nach.
Sandy verdrehte die Augen. »Ein Traum. Ich kann es immer

noch nicht fassen.«

»Warum trägst du es dann nicht?«, wollte Piper wissen.
»Zum Kampf gegen Solomon Ford?«, fragte Sandy. »Ich bin

zwar lebensmüde, aber so lebensmüde doch auch nicht. Im
Stadion hole ich mir doch bloß Grasflecken.«

Auch Sandy dachte also an die Zeit nach dem Kampf – das

war sehr gut. Fatalismus wäre fehl am Platze gewesen.

Es war schon komisch, dass die Hexen nicht nur Ort und Zeit

ihres Kampfes im Voraus kannten, sondern sich auch
entsprechend kleiden konnten. Denn üblicherweise kamen die
Attacken des Bösen unerwartet und unpassend. Phoebe, Paige
und Piper hatten Dämonen schon in allen möglichen Outfits,
von High Heels bis Bikini, bekämpft.

»Ich sehe, du trägst auch deine Uhr nicht mehr«, murmelte

Phoebe scheinbar nebenher.

Sandy wurde knallrot, und ihre Freundinnen lachten.
Die Halliwells sahen sich verstohlen an. Es war kaum zu

fassen, wie viel Energie und Lebensfreude die Junior-Hexen in
ihr Leben gebracht hatten.

Es gab keinen Zweifel mehr. Sie würden Solomon Ford

besiegen. Weil sie ihn besiegen mussten. Für das Gedenken an
achtzig tote Hexen, für sie selbst und für die Zukunft der drei
Mädchen.

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N

IEMAND SPRACH AUF DEM

W

EG

zum Seahawks-Stadion. Sie

hatten zwei Wagen genommen, und die Fahrt dauerte nur eine
Viertelstunde.

Darryl hatte Phoebe versprochen, dass ab 14.00 Uhr kein

Mensch mehr auf dem Gelände sein würde.

Und so war es auch.
Die gigantischen Parkplätze waren verwaist, nur ein paar alte

Prospekte und zerknüllte Pappbecher wurden vom Wind über
den Asphalt geweht.

Piper und Phoebe steuerten ihre Wagen so nah wie möglich

an das Haupttor des Stadions.

Als sie ausstiegen, warf Paige einen kritischen Blick zum

Himmel. Wolken waren aufgezogen, die immer wieder die
Sonne verdeckten. Aber es war nicht Regen, den sie fürchtete.
Sie hoffte auf die Sonne, denn die Kräfte des Bösen waren in
direktem Licht verletzlicher. Na ja, bis auf Sonnendämonen aus
Guatemala, aber die waren nun wirklich eine Ausnahme.

Sie hatte gehofft, dass strahlender Sonnenschein ihnen gegen

Solomon Ford zur Seite stehen würde. Doch danach sah es
momentan nicht aus.

Die Mädchen hatten sich genau wie die Zauberhaften wieder

in Trainingszeug und Turnschuhe geworfen. Sie würden viel
Power brauchen, um Solomon Ford zu besiegen.

Das große Eisentor, welches den Haupteingang zum Stadion

versperrte, war nicht verschlossen. Auch dafür hatte Darryl
gesorgt, obwohl es nicht nötig gewesen wäre. Leo und D’reen
hätten die kleine Gruppe auch direkt in das Stadion
teleportieren können, denn es machte nun nichts mehr aus,
wenn Solomon Ford die Hexenkräfte ortete. Mit einem
metallenen Quietschen zog Phoebe das Tor auf. Es folgte ein
längerer Durchgang aus Beton, der in die riesige ›Wanne‹

196

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führte, wie es im Fan-Jargon hieß. Rechts und links gab es
Aufgänge zu den Zuschauertribünen, und nach vorne stand
eine hüfthohe Absperrung, die den Zugang zum Spielfeld
blockierte.

Die Halliwell-Schwestern und die drei Mädchen sahen

einander an.

Alles wie besprochen.
Trish, Sandy und D’reen begaben sich zum Rasen, der

momentan etwas länger als üblich stand, weil er in den
Saisonpausen nicht geschnitten wurde.

Die drei Halliwell-Hexen, die momentan keine Hexen waren,

begaben sich auf die Zuschauertribüne. Sie wollten nicht direkt
ins Blickfeld des Hexentöters geraten, um das
Überraschungsmoment auf ihrer Seite zu haben.

Sandy, Trish und D’reen verteilten sich auf dem Spielfeld.

Sandy nahm die Nordseite, Trish die Südseite und D’reen die
Mitte.

Auch das war abgesprochen. Denn es war zu erwarten, dass

Solomon Ford sich zuerst auf die Person im Mittelfeld
konzentrieren würde, und D’reen war immerhin diejenige, die
sich schnell aus der Gefahrenzone teleportieren konnte.

Leo blieb am Spielfeldrand stehen. Er durfte als Wächter des

Lichts nicht aktiv eingreifen, und das hatte ihn noch nie so
geschmerzt wie heute. Er wollte seiner Frau beistehen, wollte
sie beschützen.

Es war frustrierend.
Eine Minute lang schlossen die drei Schülerinnen jetzt die

Augen.

Sie meditierten.
Es war ein letztes Atemholen vor dem Kampf. Der Versuch,

alle mentalen Energien zu sammeln, den Geist völlig frei zu
machen.

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Es war erstaunlich, wie sehr das Training der Halliwells

Wirkung zeigte – die Schülerinnen hatten nicht mal einen
erhöhten Puls.

Sie wussten, was auf sie zukam.
Und sie waren bereit.
Sandy hob die Arme.
Ein Flammenstrahl schoss aus ihren Händen in den Himmel

wie eine Leuchtrakete. Sie achtete aber darauf, dass dieses
Signal nicht zu hell war, um die umliegende Nachbarschaft
nicht unnötig aufmerksam zu machen.

Nach dem, was sie von Solomon Ford wussten, müsste dieser

kleine Showeffekt schon reichen.

Zehn, zwanzig Sekunden lang geschah nichts.
Dann verfärbte sich der Rasen.
Es schien, als glitte ein unsichtbarer, gigantischer Pinsel über

den Platz, der das satte Grün in ein fahles Gelbbraun
verwandelte.

Das Gras verdorrte in einer Geschwindigkeit, die

beängstigend war.

Dann brach der Boden in der Mitte des Feldes auf!
D’reen schaffte es gerade noch, zehn Meter nach hinten zu

teleportieren, als sich Solomon Fords Körper aus dem Erdreich
nach oben schob.

Er war da!
Mit Hut, langem staubigen Cape – und diesen irritierend

silbernen Augen.

Er drehte sich langsam und wortlos im Kreis.
Es war unmöglich zu sagen, was er dachte, als er sich den

drei Schülerinnen der Buford High gegenübersah.

Schließlich sprach er: »ICH BIN GEKOMMEN, UM

ABZURECHNEN! DIESER TAG WIRD MIT DEM BLUT
VON HEXEN BEENDET!«

Piper, Phoebe und Paige kauerten hinter den Stuhlreihen aus

Plastik auf der Tribüne und beobachteten das Spektakel.

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Kein Zweifel – Solomon Ford wusste, wie man sich einen

beeindruckenden Auftritt verschaffte.

Es blieb dem Hexentöter natürlich nicht verborgen, dass er

drei Mädchen gegenüberstand, die nicht seine ursprünglich
erwählten Opfer waren.

»IHR SEID DIE BRUT DES TEUFELS – ABER NICHT

DIE BRUT, DIE ICH SUCHE!«

Trish nahm jetzt allen Mut zusammen. »Wir sind die Hexen,

die sich dir entgegenstellen. Wen immer du suchst, du wirst ihn
nur bekommen, indem du uns besiegst!«

Solomon Ford schien einen Moment lang nachzudenken und

senkte seinen Kopf. Dann, ohne sich zu bewegen, schoss sein
Arm vor und deutete in Richtung der Tribünen.

»DORT SIND DIE, DIE ICH WILL!«
So viel zum Überraschungsmoment, dachte Phoebe.
Sandy nahm jetzt die T-Stellung ein, die sie im

Kampfsporttraining gelernt hatte. Die anderen taten es ihr
gleich.

Ein seltsamer Zufall – alle vier Gestalten auf dem Spielfeld

griffen sich an die Gürtel.

Solomon holte aus einem Säckchen eine Hand voll

Silberstaub.

Er plante, die Junior-Hexen auf dieselbe Art auszuschalten

wie die Halliwells.

Aber die drei Mädchen waren auf dieses Manöver

vorbereitet. Jede von ihnen zog eine kleine Atemmaske aus
Zellulose heraus und streifte sie über den Kopf.

Die drei Mädchen sahen jetzt wie Ärztinnen in einem OP

aus. Aber wenn Leo Recht hatte, war damit schon viel
gewonnen.

Ford sah, was die Junior-Hexen machten, und war sichtlich

überrascht. Er warf den Silberstaub nicht in die Luft, sondern
ließ ihn durch seine Finger auf den Boden rieseln.

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»IHR WERDET EINEN QUALVOLLEN TOD STERBEN,

WENN ICH EUCH EURE SEELEN ENTREISSE!«, schrie er.

Leo hatte das Gefühl, dass der Hexentöter nur Show machte.

Sie hatten ihn verwirrt und in die Defensive gedrängt. Das war
gut.

Nun begann D’reen, auf Ford zuzurennen. Erst langsam,

dann immer schneller.

Es war wichtig, den Hexentöter unter Druck zu setzen, ihn

keine Strategie entwickeln zu lassen.

Ford drehte sich zu dem Mädchen, das in scheinbar

selbstmörderischer Absicht auf ihn zukam. Er hob seine Hände,
und kleine Lichtblitze flammten an seinen Fingern auf. Es war
klar, was er vorhatte.

In dem Moment, in dem die Strahlen mit großer Wucht aus

seinen Händen schossen, löste sich D’reens Körper in Luft auf.

Fords Angriff ging ins Leere!
Dafür materialisierte D’reen direkt hinter ihm und trat mit

voller Wucht in seinen Rücken.

Ford stolperte zwei Schritte nach vorne. D’reen verschwand

sofort wieder, um Sandy eine freie Schussbahn zu liefern.

Die junge blonde Hexe legte alles, was sie hatte, in den

Energiestrahl.

Solomon wurde voll getroffen!
Er stürzte schreiend auf den verdorrten Rasen.
Nun war Trish dran! Sie konzentrierte sich und versuchte, die

Moleküle in und um Ford so zu beschleunigen, dass es ihn
zerreißen würde.

Aber inzwischen hatte sich der Hexentöter gefangen. Mit

einem Knall verschwand er und tauchte hinter Trish wieder
auf. Er packte mit dem einen Arm ihren Kopf und mit dem
anderen umschlang er ihren Oberkörper.

Leo hatte die Schwestern gewarnt, dass Solomon vielleicht

ebenfalls die Kunst des Teleportierens beherrschte.

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»DEIN TOD WIRD SCHNELL SEIN – ABER DEIN LEID

IN DER HÖLLE ENDLOS!«

Er wollte dem Mädchen das Genick brechen!
Auf der Tribüne sprang Phoebe auf, um Trish zu Hilfe zu

eilen – auch wenn klar war, dass sie es niemals schnell genug
auf das Spielfeld schaffen würde.

Piper hielt sie zurück. »Wir müssen den Mädchen

vertrauen!«

Phoebe war verzweifelt, und sie hoffte, dass Piper die Junior-

Hexen nicht überschätzte.

Ford begann, Trishs Kopf nach rechts zu drehen. Weil sie ihn

nicht sehen konnte, war es ihr unmöglich, ihre Kräfte gegen ihn
einzusetzen.

Doch das Teamwork der drei Freundinnen funktionierte.
In einem hellen Funkenregen erschien D’reen vor Ford und

Trish, mit Sandy an der Hand.

Blitzschnell ließ D’reen Sandy los, packte Trish – und

teleportierte das Mädchen direkt aus Fords Würgegriff heraus!

Die Arme des Hexentöters klappten vor seiner Brust

zusammen, weil er ins Leere griff.

Sandy lächelte ihn durch die Atemmaske kalt an. »Hi! Ich

bin Sandy. Und das ist mein Zauber.«

Mit diesem Satz schoss sie einen schwarzen Flammenstrahl

ab, der alles übertraf, was sie im Training zu Stande gebracht
hatte.

Selbst Phoebe war nicht sicher, ob sie zu so etwas in der

Lage war.

Ford wurde von der Gewalt des Einschlags total überrascht.

Sein Körper überschlug sich und schlitterte wie von einer
Kanonenkugel getroffen über den Rasen, bis er sogar die rechte
Torstange durchschlug.

Er rappelte sich mühsam wieder auf. Seine Kleidung war

teilweise zerfetzt, und sein Hut war verschwunden. Man konnte
sehen, dass von seinen struppigen Haaren nur noch ein paar

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Strähnen übrig waren. Seine Kopfhaut war von Narben und
Wunden überzogen – zweifellos Erinnerungen an andere
Hexen, die sich tapfer gegen ihn gewehrt hatten.

Ford drehte sich im Kreis. Wo waren die Hexen hin?
»IHR KÖNNT KÄMPFEN, ABER IHR KÖNNT NICHT

SIEGEN!«

»Das werden wir ja sehen!«, rief D’reen, die nun wieder

hinter ihm erschienen war.

Ford drehte sich um und bekam direkt einen Tritt von ihr

verpasst. Die Sekunde, die er dadurch strauchelte, nutzte Trish,
um ihn von der anderen Seite zu attackieren. Sie rammte ihm
ihren rechten Ellbogen ins Genick.

Der Hexentöter sank auf die Knie.
Jetzt war Sandy dran. Aus fünf Metern Entfernung kam sie

angesprungen und schlug einen bemerkenswerten Salto.

Drei Meter über Ford blieb sie in der Luft hängen und zielte

mit ihrer Fußspitze genau auf seinen Schädel. Dann entspannte
sie sich und schoss wie ein Pfeil auf ihn hinunter.

Doch sie traf ihn nicht.
Bei Ford meldeten sich jetzt die Überlebensinstinkte.
Er hatte diese kleinen Schlampen unterschätzt, aber den

Fehler würde er nicht noch einmal machen!

Aus seinem Körper heraus entwickelte sich eine magische

Druckwelle, die das Stadion erschütterte.

Die Mädchen wurden wie von einer unsichtbaren Faust zur

Seite gefegt. Sandy, die sich noch in der Luft befand, wurde
fast vier Meter weit weggeschleudert.

Die Halliwell-Hexen mussten hilflos zusehen, wie sich das

Blatt gegen ihre Schützlinge wendete.

Es hatte so gut angefangen, aber es hatte nicht ausgereicht,

um Ford den Garaus zu machen.

Die Mädchen kamen vergleichsweise schnell wieder auf die

Beine und umkreisten ihren Gegner.

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»ES WIRD MIR EINE FREUDE SEIN, EURE SEELEN ZU

FRESSEN!«, verkündete er.

Wieder löste sich seine Gestalt auf.
Die Mädchen sahen sich um.
»Wo ist er hin?«, fragte Trish nervös.
»Da!«, rief Sandy und deutete auf die dunkle Gestalt, die am

anderen Ende des Spielfeldrands auftauchte.

»Nein, da!«, schrie D’reen und zeigte mit dem Finger auf

Solomon, der neben den zerborstenen Torstangen stand.

Es waren zwei!
Und dann drei!
Wie in einem schlechten Computerspiel erschienen immer

mehr Gegner – und alle sahen sehr real aus!

Innerlich fluchte Phoebe. Der Mistkerl konnte sich

duplizieren, oder klonen, oder was auch immer. Darauf waren
sie nicht eingestellt.

Den Junior-Hexen war klar, dass nun alle Pläne Makulatur

waren. Jetzt mussten sie improvisieren.

»Zusammen – mit dem Rücken aneinander!«, rief Trish, und

sofort kamen D’reen und Sandy angelaufen. Sie stellten sich
Rücken an Rücken und deckten sich damit gegenseitig. In ihren
Augen stand Furcht, aber auch Entschlossenheit.

»Was machen wir jetzt?«, fragte D’reen.
»Es sind zu viele!«, rief Sandy.
In der Tat – mittlerweile standen an die zwanzig Solomon

Fords auf dem Rasen!

»NUN IST DIE STUNDE DES JÜNGSTEN GERICHTS

GEKOMMEN!«, riefen alle Hexentöter wie mit einer Stimme.

Sandy schoss einen ihrer magischen Strahlen auf den Ford

ab, der ihr am nächsten stand.

Ohne Folgen durchlief ihr Höllenfeuer den Dämon.
»Es sind keine Kopien – nur Trugbilder!«, knurrte sie.

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Trish nickte. Das war gut. Sie hatten es also nicht mit

zwanzig Fords zu tun, sondern immer noch mit einem – und
neunzehn Projektionen.

»Wir müssen den Richtigen ausfindig machen.«
»Ich habe eine Idee«, verkündete Sandy. »D’reen – kannst du

Trish für drei Sekunden auf die Tribüne bringen?«

D’reen nickte. »Klar.«
»Passt genau auf«, flüsterte Sandy. »Sobald ich hier mein

Ding durchziehe, solltet ihr den echten Solomon Ford erkennen
können. Dann müssen wir ihn so schnell wie möglich
ausschalten!«

D’reen packte Trish bei der Hand.
»Bist du sicher, dass du das schaffst?«, fragte Trish, die sich

große Sorgen um ihre Freundin machte.

»Nein«, knurrte Sandy, »aber ich bin kein Feigling. Los!«
D’reen konzentrierte sich, und einen Herzschlag später

standen sie und Trish auf der Tribüne.

Es war ein gruseliger und Furcht erregender Anblick von hier

oben.

Zwanzig Solomon Fords – und eine fünfzehnjährige

Schülerin der Buford High mitten unter ihnen.

Die geklonten Hexentöter schoben sich langsam auf das

Mädchen zu.

Sandy tat das, was in dieser Situation niemand erwartet hätte

– sie setzte sich hin!

Im Schneidersitz nahm sie Platz, obwohl die ersten Solomon

Fords sie fast schon erreicht hatten!

Die Halliwells, Leo, Trish und D’reen hielten den Atem an.
Was hatte Sandy bloß vor?
Die blonde Hexe mit den starken Kräften schloss die Augen.

Sie versuchte sich das, was sie vorhatte, bildlich ins Gehirn zu
rufen.

Es musste funktionieren! Es musste funktionieren, weil es

vielleicht die letzte Chance war!

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Mehrere Solomon Fords standen nun direkt um sie herum

und bildeten einen Kreis.

Sandy war es egal.
Sie schlug heftig mit beiden Handflächen auf den verdorrten

Boden.

Ein brennender Kreis loderte auf, getragen von einer

mächtigen Schockwelle, und vibrierte um sie herum.

Immer größer werdend, kam das Hexenfeuer den Solomon-

Ford-Projektionen entgegen. Es sah aus, als würden sie bei
lebendigem Leib verbrennen. Doch die Trugbilder würden
keinen Schaden nehmen, das wusste Sandy. Wie Schatten
hatten sie keine Substanz und flackerten nur kurz auf, als die
Flammen sie berührten.

Dem echten Ford würde es anders ergehen.
Doch der Feuerkreis würde auch ihn zwangsläufig erreichen.
Als die Flammen an seinen sehr realen Körper stießen,

züngelten sie an ihm hoch und fraßen sich in seine
zerfledderten Beinkleider.

Damit hatte Sandy den echten Hexentöter entlarvt!
Auch Solomon Ford merkte, dass sein Trick versagt hatte.

Die neunzehn Doppelgänger erloschen wie Kerzen, die man
ausgeblasen hatte. Er war wieder allein.

Mit einem wütenden Schrei stürzte er auf Sandy zu, die noch

völlig ausgepumpt war von dem magischen Schauspiel.

»Bring mich wieder runter!«, rief Trish und krallte sich an

ihre Freundin D’reen.

Kaum eine Sekunde später standen die Mädchen wieder auf

dem Spielfeld.

Es war Zeit, das Spiel zu beenden!
Ford sprang auf Sandy zu, als wollte er das am Boden

hockende Mädchen mit seinem Körpergewicht erschlagen.

Trishs Hand stieß vor, und Ford blieb in der Luft hängen!
Sie hatte gehofft, ihn damit völlig bewegungsunfähig zu

machen, aber auch hier zeigte sich die Macht des Hexentöters:

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Er zappelte und fluchte und versuchte sich strampelnd aus der
Starre zu befreien.

Trish merkte, dass sie ihn nicht lange halten konnte. Zudem

würde Ford früher oder später wieder genügend Kraft haben,
um zu verschwinden.

»Jetzt alle zusammen!«, schrie sie.
D’reen konzentrierte sich. Es gab eine Fähigkeit, die sie noch

nicht eingesetzt hatte. Die Fähigkeit, Dinge von einem Ort zum
anderen zu bewegen. Es würde interessant sein zu sehen, ob es
funktionierte.

Tatsächlich gelang es ihr, Solomon Ford in der Zeitsperre zu

kontrollieren und an einen anderen Ort zu teleportieren. Sie
wiederholte das mehrmals. Der Hexentöter hing wie eine
Fliege im Netz einer Spinne. Ständig materialisierte sie ihn hin
und her, ohne dass er sich bewegen konnte.

Das hielt ihn zwar auf, aber es vernichtete ihn nicht. Und die

Kräfte der Mädchen ließen langsam nach.

Sandy rappelte sich wieder auf. Sie war noch ein bisschen

wackelig. Aber als sie erkannte, dass ihre Freundinnen
Solomon Ford im Griff hatten, fasste sie neuen Mut.

Nun ging es um alles. Vor ihrem geistigen Auge sah sie noch

einmal die Trainingsstunden in der fremden weißen
Dimension. Sie sah wieder die Worte auf den Kegeln –
»Ängstlich« und »Schwach«.

»Nie wieder!«, schrie sie aus vollem Hals, und es war, als

käme das Höllenfeuer diesmal direkt aus ihrer Seele.

»AAAARRRRRGGGHHH!!!«, schrie Solomon Ford,

während sein Körper in den magischen Flammen gebraten
wurde.

Piper, Page und Phoebe blieben fast die Herzen stehen. Und

auch Leo klammerte sich so nervös an die Absperrung, dass
seine Knöchel weiß hervortraten.

In einem lauten Knall zerplatzte der Körper des Hexentöters.
Die Reste von Sandys Strahlen liefen ins Leere.

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D’reens Zugriff verlor sich, weil nun nichts mehr zum

Festhalten da war.

Und auch Trishs Konzentration brach zusammen, denn das

Ziel der Konzentration existierte nicht mehr.

Solomon Ford, der Hexentöter, war Vergangenheit!
Drei fünfzehnjährige Mädchen aus der Buford High School

in San Francisco hatten ihn besiegt.

207

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25

S

IE HATTEN DAFÜR GEARBEITET

, darauf gehofft, dafür gebetet

und ihr Leben dafür aufs Spiel gesetzt.

Trotzdem waren weder Trish, Sandy und D’reen noch die

Halliwells in der Lage, ihren Triumph in diesem Moment
wirklich zu begreifen.

Phoebe, Paige und Piper standen auf und wollten die Treppe

zum Spielfeld hinabsteigen.

Leo kletterte über die Absperrung und lief auf die Mädchen

zu.

»War’s das?«, fragte D’reen erschöpft und zog die

Atemmaske ab. »Bitte sagt mir, dass es das war.«

Trish warf ihre Atemmaske ebenfalls weg, beugte sich vorne

über, stützte die Hände auf die Knie und keuchte. »Das will ich
hoffen – noch eine Runde hätte ich nicht durchgestanden!«

»UND SO HATTE ICH ES AUCH GEPLANT!«, ertönte in

diesem Moment die Stimme von Solomon Ford.

Die Halliwells blieben wie vom Donner gerührt stehen, und

auch Leo hielt inne.

Trish und D’reen sahen sich verzweifelt um.
Wie war das möglich?
Wo kam die Stimme her?
Die Antwort war schlimmer als alles, was sie sich vorstellen

konnten.

Die Stimme kam von Sandy!
Und als Trish und D’reen ihre Freundin ansahen, blickten sie

in silberne Pupillen!

Selbst von der Tribüne aus war zu erkennen, was passiert war

– die silbernen Augen von Sandy reflektierten im Sonnenlicht.

»Oh, mein Gott!«, flüsterte Phoebe. »Sandy!«
»Wir müssen zu ihr«, zischte Paige und rannte los.

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Es dauerte ein paar Sekunden, bis sich alle Teilnehmer des

magischen Showdowns auf dem Spielfeld wieder fanden. Auch
Leo war da.

»Was soll das?«, schrie Trish und Tränen liefen ihr aus den

Augen. »Warum tust du das?«

»MENSCHEN – SO LEICHT ZU TÄUSCHEN«, knurrte der

Hexenjäger im Körper des jungen Mädchens. »Ihr konntet
meinen Körper vernichten – aber nun habe ich einen, an dem
euch viel liegt.«

D’reen schüttelte den Kopf.
Unmöglich!
Sie konnten unmöglich gegen ihre beste Freundin kämpfen –

ganz gleich, wie viele Dämonen in ihr steckten.

Solomon machte eine aggressive Handbewegung, und die

beiden verbliebenen Junior-Hexen wurden nach hinten auf den
Boden geworfen.

»Nicht!«, rief Piper. »Du willst uns – dann sollst du uns

haben. Aber lass die Mädchen gehen!«

Es war eine reine Verzweiflungstat, und alle wussten es.

Solomon Ford hatte keinerlei Grund, irgendeine von ihnen am
Leben zu lassen. Mit Dämonen konnte man nicht verhandeln.

»IHR WERDET ALLE STERBEN!«, schrie Solomon.
Phoebe sah zu Trish und D’reen, aber diese schüttelten nur

mit dem Kopf – sie waren auch viel zu ausgepumpt, um noch
irgendwelchen Widerstand leisten zu können.

War es das?
Das Ende der Zauberhaften – und das Ende der Junior-

Hexen?

Instinktiv nahmen die Halliwells ihre Verteidigungsstellung

ein. Auch wenn sie keine Kräfte hatten, würden sie bis zum
letzten Atemzug kämpfen.

Solomon lachte dröhnend.
Bis er das Licht sah.
Es kam von oben – strahlend und rein.

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Wie ein weißes Tuch senkte es sich auf das Stadion herab.
Es war von einem überirdischen Funkeln begleitet.
»AHHHH!«, schrie Solomon und verdeckte die Augen vor

dem übernatürlichen Licht.

Nun zog sich der strahlende Teppich zusammen wie ein

Knäuel. Er drehte sich, rotierte scheinbar um mehrere Achsen
gleichzeitig und riss dann auseinander bis er eine menschliche
Gestalt annahm.

Die Gestalt einer Frau!
Niemand im Seahawks-Stadion brauchte einen akademischen

Grad, um zu wissen, um wen es sich handelte.

Es war Maria Ford, die Frau des Hexentöters!
Sie trat langsam auf ihren Mann zu, dessen schwarze Seele

sich im Körper eines jungen Mädchens versteckte.

»Solomon«, sagte sie leise und ohne Wut. »Es ist Zeit. Lass

ab von deinem Hass, der nur Unglück gebracht hat.«

»NEIN!«, schrie Solomon, während er in die Knie sackte.

»DAS IST EIN TRICK.«

Aber seine Reaktion bewies, dass der Hexentöter es besser

wusste.

Maria streckte die Hand aus. »Komm mit mir, bitte. Du hast

es wegen mir getan, aber du hast dich nie gefragt, ob ich es so
gewollt hätte.«

Aus den silbernen Augen flossen glasklare Tränen. »ARER,

ARER ICH... SO VIEL SCHMERZ.«

»Ich weiß«, sagte die Erscheinung, »ich weiß. Aber das ist

nun vorbei. Wir werden zusammen sein – für immer.«

»MEINE SEELE IST VERLOREN«, schluchzte Solomon,

und seine Stimme hatte nun nichts mehr von der Wucht und
der Wut, die bisher zu hören gewesen war. »ICH WERDE
KEINEN PLATZ IM PARADIES FINDEN.«

»Auch das weiß ich«, erklärte Maria liebevoll. »Aber wo

immer du sein wirst – ich werde ebenfalls dort sein. Und wir
werden gemeinsam unser eigenes Paradies haben.«

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Solomon stand wieder auf und streckte seiner Frau die Arme

entgegen.

Ein Wunder geschah – die Seele des Hexentöters löste sich

aus dem Körper der Junior-Hexe. Als fahler Schemen trieb sie
auf Maria zu.

Zum ersten Mal war Solomons Gesicht nicht von Hass

zerfressen. Es war erfüllt von ängstlicher Erwartung.

Die Hände seiner Erscheinung berührten die Hände seiner

Frau, und beide Gestalten lösten sich langsam auf.

Solomon sah sich nicht mehr um. Es wäre ihm vermutlich zu

schwer gefallen, in die Gesichter derer zu blicken, die er gerade
noch hatte töten wollen. Er hätte um Vergebung bitten müssen.
Vergebung, die wohl in dieser Welt für ihn nicht mehr zu
finden war.

Dann war Solomon Ford weg – endgültig und für immer.
Die Halliwells, Trish, D’reen und Leo sahen sich an und

blickten dann zu Sandy, die gerade ohnmächtig
zusammenbrach.

Leo war als Erster an ihrer Seite. Er legte seine Hand auf ihre

Stirn und gab Entwarnung: »Sie ist nur erschöpft. Das haben
wir gleich.«

Die sanfte Energie des Wächters des Lichts brachte Sandy

weder ins Leben zurück. Sie schlug die Augen auf. »Bitte sagt
mir, dass wir es geschafft haben.«

Die Halliwells sahen sich im Stadion um. Es sah aus wie

nach einer Schlacht – aber es war ruhig.

»Scheint so«, murmelte Phoebe. Dann rang sie sich ein

Lächeln ab. »Heilige Scheiße – ihr habt’s geschafft!«

Nun begannen auch die anderen, verhalten zu jubeln. Sie

fielen sich in die Arme. Trish und Paige fingen sofort wieder
an zu heulen. Leo strich D’reen über die Stirn, um sie auch
wieder ein bisschen aufzubauen.

Nachdem alle Beteiligten zwei, drei Minuten durchgeatmet

hatten, schlug Phoebe den Abmarsch vor. »Wir sollten

211

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zusehen, dass wir heim zum Buch der Schatten kommen. Ich
hätte jetzt ganz gerne meine Kräfte zurück.«

Piper und Paige nickten zustimmend.
»Die könnt ihr haben«, erklärte Trish und lachte befreit auf.

»Ich möchte sie keine Sekunde länger haben als nötig.«

Ausgelaugt, dreckig und übermüdet machten sich die sieben

auf den Weg zum Stadionausgang.

Dieser war versperrt.
Von einem Monster.
Einem Monster, das ungefähr sechs Meter groß war und

vermutlich an die fünf Tonnen wog.

Die Tatsache, dass dieses Biest eine gewisse Ähnlichkeit mit

den beiden dämonischen Schlägern hatte, die sie und ihre
Schwestern vor einigen Tagen besiegt hatten, weckte in Phoebe
einen ganz bösen Verdacht.

»Habt ihr gedacht, es würde so einfach werden?«, knurrte die

Gestalt mit fauligem Atem. »Ich bin Gru’Aar, der Erzeuger
von Börp und Barf. Und nun werdet ihr für den Tod meiner
Prinzen bezahlen – mit eurem Leben!«

Piper warf entnervt die Arme in die Luft. »Ich gebe auf!«
Gru’Aar legte überrascht den Kopf schräg. »Was?«
Die junge Hexe war völlig von der Rolle. »Ich habe die

Schnauze voll! Echt! Wir haben uns jetzt tagelang den Arsch
aufgerissen und eine fast schon unmögliche Aufgabe
gemeistert – und jetzt DAS?!«

Sie drehte sich zu ihren Schwestern. »Warum muss das

immer uns passieren?«

Paige und Phoebe hatten auch keine Antwort parat.

212

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26

E

S WÄRE JA AUCH ZU SCHÖN GEWESEN

. Scheinbar war es

Hexen nicht vergönnt, mal ein sauberes Happy End zu
bekommen, ganz ohne die üblichen bösen Überraschungen.

Aber in der Welt der Magie hatte jedes Abenteuer eine letzte

gemeine Wendung in der Hinterhand.

Und die stand gerade vor den Halliwells – unübersehbar.
Gru’Aar stank noch mehr als seine Sprösslinge.
Im Kopf ging Phoebe die Möglichkeiten durch, die ihnen

blieben. Die drei Junior-Hexen waren völlig mit ihren Kräften
am Ende. Ihnen war ein weiterer Kampf nicht zuzumuten. Die
Halliwells waren ohne ihre Zauberkraft der schieren Brutalität
Gru’Aars ebenfalls nicht gewachsen.

Es sah nicht gut aus.
»Geordneter Rückzug?«, knurrte Phoebe.
Piper nickte. »Wir haben wohl keine andere Wahl.«
Sie deutete Leo und D’reen an, die anderen an den Händen

zu nehmen.

In diesem Moment verwandelten sich die Wolken über dem

Stadion in einen grau-schwarzen Wirbel. Es war ein Sturm, der
sich unglaublich schnell zusammenbraute.

Schon begann es zu donnern und zu blitzen.
Leo schloss kurz die Augen, dann schüttelte er den Kopf.

»Keine Chance, das Stadion ist magisch verriegelt. Wir sitzen
in der Falle.«

Gru’Aar lachte dreckig. »Ich habe eure Kämpfe mit Solomon

Ford genau beobachtet! Ich kenne eure Tricks!«

»Zurück aufs Spielfeld«, zischte Paige, »wir müssen uns neu

formieren.«

Zu siebt liefen sie wieder an den Ort, an dem sie noch kurz

zuvor den Hexentöter besiegt hatten.

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Piper erinnerte sich an den alten Spruch: Immer wenn du

denkst, es kann nicht mehr schlimmer kommen – kommt es
schlimmer.

Es war ihr jedoch unmöglich zu sagen, wie man das

überbieten konnte.

Gru’Aar stapfte jetzt auf sie zu. Während Börp und Barf

noch Keulen gebraucht hatten, um den Boden erzittern zu
lassen, reichte bei ihrem Vater schon das Aufsetzen des Fußes.

»Das ist kein Dämon, das ist ein Brontosaurus«, knurrte

Phoebe.

»Weißt du was über den?«, flüsterte Piper ihrem Ehemann

zu.

Leo schüttelte den Kopf. »Der Anführer der Lorar verlässt

normalerweise seine Dimension nicht. Ich habe keine Ahnung,
wie man ihn bekämpfen könnte.«

»Verteilt euch!«, rief Paige, denn Gru’Aar war nun schon

ziemlich nahe gekommen, und als Gruppe wären sie ein
leichtes Ziel gewesen.

Der monströse Dämon brauchte keine Waffe und auch keine

Zauberkräfte. Seine Größe machte ihn praktisch unbezwingbar,
und es war klar, dass er mit seinen Pranken jede der jungen
Frauen leicht zerquetschen konnte.

Die Halliwells, Leo und die drei Mädchen verteilten sich.

Trish und Piper versuchten, in einem großen Bogen hinter
Gru’Aar zu kommen.

»Hier rüber!«, schrie Phoebe, um die Aufmerksamkeit des

Dämons auf sich zu lenken. Sie winkte mit den Armen.

Wie erwartet war Gru’Aar nicht gerade intelligent. Er stapfte

knurrend und grunzend auf die jüngste Halliwell-Hexe zu,
seine Arme grabschten nach ihr wie Schaufelbagger.

»Nach allem, was ich gehört habe, waren deine Söhne echte

Versager!«, schrie nun Leo aus voller Kehle.

Mit einem wütenden Schrei drehte sich Gru’Aar um und

schnappte nach dem Wächter des Lichts.

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Glücklicherweise funktionierten Leos Kräfte wenigstens

noch innerhalb der magischen Barriere. Der Dämon packte ins
Leere – ein paar bläuliche Funken kitzelten seine speckige
Handfläche.

Leo erschien neben seiner Frau. »Wir haben nicht viel Zeit.

Irgendwann wird er herausfinden, wer von uns zu schwach ist,
um ihm zu entkommen.«

Piper nickte. Sie brauchten eine Strategie. Irgendwas.
In diesem Moment ertönte ein Schrei.
Trish!
Gru’Aar hatte sie gepackt!
Wie King Kong hielt er das junge Mädchen hoch, das nun

viel zu erschöpft und verängstigt war, um seine Kräfte
einzusetzen.

Phoebe rannte von hinten auf Gru’Aar zu. Es war ihr egal, ob

sie Kräfte hatte oder nicht, sie würde Trish nicht einfach so
sterben lassen!

Vor der linken Ferse des Dämons ging sie in die Knie. Sie

verfluchte sich, keine hochhackigen Schuhe angezogen zu
haben, dann hätte sie jetzt eine andere Möglichkeit gehabt,
Gru’Aar abzulenken. Aber in Ermangelung anderer Waffen
musste sie wohl in den sauren Apfel beißen.

Oder besser gesagt – in die saure Wade!
So fest sie konnte, schlug sie ihre Zähne in die Achillessehne

des Dämons!

Gru’Aar schrie vor Schmerz auf und trat nach hinten aus. In

einem gewaltigen Bogen wurde Phoebe über das Spielfeld
geschleudert und schlug hart auf. Nur knapp entging sie einer
Ohnmacht.

Aber ihre unorthodoxe Attacke hatte gewirkt. Der

überraschte Gru’Aar ließ Trish fallen. Noch bevor sie den
Boden erreichte, stand Leo bereit, um sie aus der Gefahrenzone
zu bringen.

215

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Das wird nichts, dachte Piper. Früher oder später würde

Gru’Aar sie aufreiben, und dann war das Spiel aus.

In diesem Augenblick ertönte eine grauenvolle Kakophonie

aus den Stadion-Lautsprechern! Musik, Fanfaren und Jubel wie
aus dreitausend Zuschauerkehlen.

Dazu flackerte die große Anzeigentafel auf. Wirre Zahlen-

und Buchstabenkombinationen wurden klein, dann wieder
groß, tausende von Glühbirnchen zeigten ein gigantisches
Feuerwerk.

»Huh?«, grunzte Gru’Aar, der so etwas offensichtlich noch

nie gesehen hatte. Wie ein Kind auf dem Weihnachtsmarkt
stolperte er auf die Anzeige zu.

Die Halliwells, Leo und die drei Mädchen rotteten sich

wieder zusammen.

»Wer hat diesen Radau bestellt?«, fragte Paige.
»Keine Ahnung«, antwortete Piper. »Aber im Moment ist das

eine große Hilfe. Gru’Aar ist abgelenkt.«

»Wir brauchen einen Plan«, erklärte Phoebe.
Die Halliwells sahen die Mädchen an. Aber von denen war

nichts zu erwarten. Sie atmeten schwer, waren kreidebleich und
zitterten am ganzen Körper.

Plötzlich schlug sich Trish vor die Stirn. »Ich habe eine

Idee!«

»Was?«, fragte Piper.
Statt zu antworten, rannte Trish zu der Stelle, an der

Solomon Ford aufgetaucht war. Sie ging auf die Knie, als ob
sie etwas suchte.

Und sie fand es.
Mit einer Hand voll Erde kam sie zu den anderen zurück –

Erde, in der sich eine Menge Silberstaub befand – Silberstaub,
mit dem Solomon Ford den Hexen ihre Kräfte entreißen wollte.

»Was sollen wir damit?«, wollte D’reen wissen.

216

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»Wir haben zwar das Buch der Schatten nicht, um euch eure

Kräfte wiederzugeben«, keuchte Trish, »aber vielleicht geht es
ja hiermit!«

Die Halliwells brauchten eine Sekunde, bis der Groschen

fiel.

Natürlich!
Es war eine total irre Idee, aber grundsätzlich nicht falsch.
Das Prinzip, mit dem Solomon Ford den Hexen ihre Kräfte

rauben wollte, konnten sie schließlich auch für sich selbst
anwenden.

Piper sah sich das Pulver an. »Wer weiß, ob es bei uns

überhaupt wirkt.«

In diesem Moment zerschlug Gru’Aar mit seinen fleischigen

Fäusten die Anzeigetafel. Splitter und Funken regneten auf den
Platz.

»Andererseits: Versuch macht klug«, setzte Paige hinzu.
Trish warf den Staub in die Luft. Er rieselte sehr langsam zu

Boden, und es kostete sie, Sandy und D’reen einige
Überwindung, dieses komische Zeug absichtlich einzuatmen.
Doch es musste sein.

Als sie sicher waren, dass der Silberstaub in ihre Körper

eingedrungen war, stellten sie sich vor die Halliwell-
Schwestern hin.

»Ihr solltet euch beeilen«, mahnte Leo, denn er sah, dass

Gru’Aar sich nicht mehr von den Lautsprechern und der
zerborstenen Anzeigentafel ablenken ließ.

Die Mädchen der Buford High bauten sich jeweils vor der

Hexe auf, von der sie ihre Kräfte hatten.

»Oder wollt ihr untereinander tauschen?«, fragte Sandy

plötzlich.

Die Halliwells sahen sich an.
Daran hatten sie gar nicht gedacht.
Schließlich konnten die Mädchen bei jeder von ihnen ihre

Kräfte anwenden, und das hieß, Phoebe könnte Paiges

217

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Teleportationskräfte bekommen und Piper die Macht,
Feuerstrahlen abzuschießen!

Doch es dauerte nur eine Sekunde, bis die Zauberhaften ihre

Entscheidung getroffen hatten und unisono die Köpfe
schüttelten.

»Alles wie gehabt«, verkündete Piper.
Gru’Aar kam nun auf die Gruppe zugerannt, und bei seiner

Schrittweite blieben ihnen nur noch drei oder vier Sekunden.

»Los!«, schrie Trish, und die Mädchen nutzten zum letzten

Mal ihre magischen Fähigkeiten.

Sandy feuerte einen dürren magischen Strahl auf Phoebe,

Trish beschleunigte die Materie rund um Piper, und D’reen
versuchte, Paige zu teleportieren.

Aller Zauber blieb ohne Wirkung – als wären die Kräfte

verschluckt worden.

Die Halliwells sahen sich an.
Sie spürten es.
Und wie sie es spürten! Sie waren wieder ganz die Alten!
Und im Gegensatz zu den Mädchen überhaupt nicht müde!
»Leo, bring die Girls aus der Schusslinie«, knurrte Phoebe

genüsslich grinsend.

Sogar Paige schlug sich mit der rechten Faust in die hohle

linke Hand. »Jetzt gibt’s Dresche.«

Piper stellte sich in Angriffsstellung auf, während Leo die

drei Mädchen zur Tribüne brachte.

Gru’Aar blieb stehen.
Er spürte, dass sich etwas verändert hatte.
Der süße Duft der Todesangst, der eben noch durch das

Stadion gewabert war, war verschwunden.

Diese verfluchten Halliwell-Hexen sahen gar nicht mehr so

aus, als ob sie ihn fürchteten.

»Ich werde euch zermalmen«, hechelte er wenig

überzeugend und hob die mächtigen Fäuste.

218

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»Probier’s doch«, höhnte Phoebe und machte ein paar

bescheuerte Handbewegungen, die sie in »Crouching Tiger,
Hidden Dragon« gesehen hatte.

Gru’Aar sprang nach vorn, und seine mächtige Faust sauste

auf Paige hinab.

Damit hatte er sich genau die falsche Schwester ausgesucht.

Paige blinzelte nur kurz, und dann verschwand sie, bevor auch
nur ein einziger Schatten auf sie fallen konnte.

Hinter dem Dämon tauchte sie wieder auf und streckte

seinem riesigen Hintern die Zunge raus: »Ätsch!«

Gru’Aar drehte sich wutschnaubend um.
Sein nächster Fehler.
Nun setzte Piper ihre Kräfte ein. Es kostete einige Mühe,

weil das Monstrum so schwer war, aber es gelang ihr, Gru’Aar
so in Schwingung zu versetzen, dass sein massiger Leib
langsam vom Boden abhob. Sie begann, ihn wie einen Kreisel
zu drehen.

Er kreischte.
»Schwein am Spieß«, knurrte Piper zufrieden.
Es war gut, seine Kräfte wieder einsetzen zu können. Gut,

nicht mehr hilflos zusehen zu müssen, wie andere kämpften.

»Medium oder gut durch?«, fragte Phoebe.
»Knusprig«, zischte Piper.
Phoebe hob die Arme, und ein mächtiger Flammenstrahl

schoss aus ihrem Körper, der Gru’Aar völlig einhüllte. Er sah
nun aus wie ein sich drehender, brennender Fußball.

Paige gesellte sich wieder zu ihren Schwestern. Sie

beobachteten das Schauspiel genau so fasziniert wie Leo und
die Mädchen, die auf der Tribüne standen.

Der Dämon war nun fast völlig verkokelt, und sein Körper

knackte und knisterte.

»Ich glaube, den haben wir geschafft«, erklärte Piper und

wollte ihre Kräfte wieder lockern.

»Darf ich den Abschluss machen?«, fragte Paige.

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»Bitteschön«, sagte Phoebe.
Paige konzentrierte sich, und Gru’Aar verschwand.
Piper blickte sich um. »Wo ist er denn hin?«
Paige grinste und zeigte mit dem Finger nach oben.
Es war gar nicht so leicht, den Punkt am Himmel

auszumachen.

Aber dann wurde es leichter – denn er kam näher.
Sehr schnell näher!
Aus tausend Metern Höhe stürzte der kokelnde Körper des

Riesendämons auf das Stadion zu.

»Wir sollten ein bisschen beiseite gehen«, empfahl Paige.
Die Hexen machten das Spielfeld frei.
Gru’Aars Aufschlag war sehenswert, und Phoebe ärgerte sich

fast, keine Videokamera dabeizuhaben. Diesmal erzitterte nicht
nur der Boden, auch die Tribünen gerieten ins Wanken. Die
zehntausend Plastikstühle klapperten erbärmlich, und Reste der
Anzeigentafel krachten auf den Boden.

Der Krater, den Gru’Aars lebloser Körper mitten in das

Spielfeld schlug, war beachtlich.

Phoebe klatschte in die Hände. »Ich weiß nicht, was ihr

denkt, aber es geht doch nichts darüber, eine Hexe zu sein.«

Auch Paige und Piper grinsten glücklich. Es war in der Tat

ein tolles Gefühl, wieder im Vollbesitz der magischen Kräfte
zu sein.

»Gehen wir zu den anderen«, schlug Paige vor.
»Hast du schon jemals vorher etwas so Großes so weit

wegteleportiert?«, fragte Piper.

Paige schüttelte den Kopf. »Noch nie. Da haben sich in den

letzten Tagen wohl einige Energien angestaut.«

Die Schülerinnen fielen den Schwestern begeistert um den

Hals, als man sich auf halbem Weg traf.

»Ihr wart Spitze!«, kreischte Sandy. »Das war ein echter

Hammer!«

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»Nicht so gut wie ihr«, gab Piper das Kompliment zurück.

»Ich denke, wir haben uns wirklich einen Hamburger
verdient.«

»Ab nach Hause«, verkündete Leo. »Bevor noch mehr

Überraschungen auftauchen.«

Die Halliwell-Hexen und die Mädchen von der Buford High

konnten nur zustimmen. Für den heutigen Tag hatten sie
wirklich genug.

Doch ein Detail war noch ungeklärt.
»Wer hat jetzt eigentlich die Anzeigetafel und die

Lautsprecher angestellt?«, fragte Paige.

»Ich!«, kam es plötzlich von der Sprecherkabine, die ganz

oben an den Tribünen aufgebaut war. Aus der Tür trat eine
bekannte Gestalt – Darryl Morris.

»Darryl!«, rief Phoebe eine Spur zu begeistert und rannte

ihm entgegen.

Es war dem Polizeibeamten sichtlich unangenehm, dass die

junge Hexe vor allen anderen Leuten in seine Arme fiel.

Phoebe hatte da weniger Komplexe. Sie küsste ihn so heftig,

dass er fast nach hinten umkippte.

»Du hast dir Sorgen um mich gemacht«, keuchte sie außer

Atem, als sie endlich von ihm abließ.

»Ich habe mir Sorgen um euch gemacht«, korrigierte Darryl,

aber ein Blick in seine Augen verriet, dass es nicht die ganze
Wahrheit war. »Und als dieses... dieses Ding auf euch
zustampfte, fiel mir nichts Besseres ein, um es abzulenken.«

»Das war super«, lobte Phoebe und sah ihm tief in die

Augen. »Ich werde mich so was von bedanken – später.«

In ihrem Blick lag ein ganz und gar unanständiges

Versprechen.

»Fällt euch was auf?«, fragte Piper, die nun dazustieß.
»Was?«, gab Paige zurück.

221

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»Es waren nicht nur unsere Kräfte, die uns geholfen haben,

heute zu gewinnen. Es war Teamwork. Jede hat für die andere
mitgedacht – und für die andere alles riskiert.«

Allgemeine Zustimmung.
Die Gruppe machte sich auf den Weg zu den Wagen, die vor

dem Stadion geparkt waren. Bevor sie das Spielfeld aus dem
Blick verloren, drehte sich Paige noch einmal um.

Der Körper von Gru’Aar hatte sich aufgelöst, wie es tote

Dämonen meistens zu tun pflegten. Ansonsten sah das Stadion
der Seahawks aus wie nach einem Atomkrieg.

»Was wird man wohl denken, wenn man den Platz morgen

so findet?«, fragte Paige.

Darryl, der einen Arm um Phoebes Schulter gelegt hatte,

drehte den Kopf nach hinten. »Ich hatte das Gebiet doch wegen
eines Bombenalarms räumen lassen. Wie es aussieht, ist der
Sprengsatz leider explodiert.«

Phoebe rümpfte die Nase. »Muss eine Stinkbombe gewesen

sein.«

Alle lachten.
Das war glücklicherweise nicht mehr ihr Problem.
Und für die Versicherung musste jemand anders aufkommen.

222

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Epilog

»

H

AT SICH WAS VERÄNDERT

?«, fragte Trish, als sie nach

D’reen und Sandy das Hauptgebäude der Buford High betrat.

Auch Sandy und D’reen überlegten. Die drei Freundinnen

gingen festen Schrittes zu ihren Spinden.

Sie konnten es nicht in Worte fassen.
Trish begann, ihre Bücher für den Schultag zu sortieren.
Sandy warf einen Blick in den kleinen Spiegel, den sie auf

die Innentür geklebt hatte. Sie trug heute das Outfit, das sie
zusammen mit Paige gekauft hatte. Es sah klasse aus. Sie
inspizierte auch ihre Zahnspange – noch maximal ein Jahr,
dann war das Ding fällig. Und bis dahin würde sie auch noch
durchhalten.

D’reen holte einen Apfel aus ihrer Tasche und biss hinein.

Ihr fiel auf, dass der Unterschied zu einem Schokoriegel gar
nicht so groß war. Der Apfel war lediglich gesünder – und man
konnte ihn essen, ohne ein schlechtes Gewissen zu bekommen.

Trish sah sich unauffällig um. »Ich weiß jetzt, was anders

ist.«

Sandy und D’reen hielten inne. Sie hatten schon die ganze

Zeit das Gefühl gehabt, dass sich etwas verändert hatte. Etwas,
das nur schwer zu beschreiben war.

»Was ist es?«, wollte Sandy wissen.
»Niemand beachtet uns«, stellte Trish fest.
Im Spiegel checkte Sandy ebenfalls den Flur ab.
Es stimmte.
Normalerweise gab es immer Tussen, die über die drei

lahmen Enten kicherten, oder Jungs, die Fratzen zogen.

Heute war das anders.
Trish, Sandy und D’reen waren ein Teil der Schule, wie alle

anderen Jungs und Mädchen auch.

»Woran mag das liegen?«, flüsterte D’reen.

223

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»Wir haben uns verändert«, stellte Trish fest. »Seht uns doch

mal an.«

Tatsächlich – wenn man es nur sehen wollte, sah man es

auch: Die Mädchen waren selbstbewusster, entspannter und
gingen mit erhobenen Köpfen.

Sie hatten das, was man Ausstrahlung nannte.
Sandy klappte ihre Schultasche zu. »Ich hätte nie gedacht,

dass nur ein Wochenende so eine Wirkung haben könnte.«

»Ich auch nicht«, pflichtete Trish bei. »Es ist aber genug

passiert in den letzten achtundvierzig Stunden.«

Sandy und D’reen nickten.
Das stimmte.
Sie hatten mit dieser Reporterin Phoebe und ihren beiden

Assistentinnen total viel unternommen. Die drei hatten mal
sehen wollen, wie moderne Teenager ihr Wochenende
verbringen. Sie waren zusammen nach Carmel ans Meer
gefahren und in die Westernstadt Alamo. Ein paar Discos
hatten sie besucht, und das Shopping war auf Kosten von
Phoebes Zeitung gegangen.

Es war voll der Hammer gewesen!
Die drei Mädchen wunderten sich bloß, warum ihre Muskeln

so schmerzten und warum sich immer wieder ein paar blaue
Flecken an den unmöglichsten Stellen bildeten.

»Ich habe gehört, der alte Wentworth ist wieder gesund«,

sagte D’reen. »So viel also zu der Hoffnung, dass der Test
ausfällt.«

Sandy stöhnte. »Oh, Mann, ich habe überhaupt nicht geübt.«
Trish legte ihr den Arm um die Schulter. »Ich aber. Wir

gehen das Zeug in der Pause noch einmal durch.«

In diesem Augenblick kam Caroline Spencer vorbei. Als sie

sah, wie entspannt die drei Freundinnen waren, fühlte sie sich
bemüßigt, zu tratschen: »Habt ihr es noch nicht gehört?«

»Was?«, fragte Trish, die kein Interesse mehr an Carolines

aufgeblasener Gesellschaft hatte.

224

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»Das Seahawks-Stadion!«, brabbelte Caroline aufgeregt. »Es

ist gestern bei einer Bombenexplosion beschädigt worden! Es
sollen arabische Terroristen gewesen sein!«

Trish, Sandy und D’reen sahen sich an.
Verdammt! Da hatten sie anscheinend wirklich was verpasst.

Aber es war kaum vorstellbar, dass sie hier in San Francisco
mehr Spaß gehabt hätten als am Strand in Carmel.

»Mein Dad gehört zur Untersuchungskommission des

Vorfalls«, erklärte Caroline stolz. »Deshalb kann ich mir die
Sache heute Nachmittag vor Ort ansehen.«

»Prima«, sagte Trish gleichgültig. Auch Sandy und D’reen

schienen nur mäßig interessiert.

Caroline wurde klar, dass sie hier keinen Blumentopf

gewinnen konnte, und sie schlenderte davon.

Aber sie drehte sich noch einmal um. »Wenn ihr wollt, könnt

ihr ja auch mal vorbeischauen.«

Trish nickte.
»Hat uns Caroline Spencer gerade gefragt, ob wir was mit ihr

unternehmen wollen?«, fragte Sandy spöttisch.

»Sieht so aus«, antwortete D’reen und warf die Apfelkitsche

in den Mülleimer.

»Wir sollten uns auf den Weg in die Klasse machen«,

bemerkte Trish. »Wie spät ist es?«

In einem ersten Reflex wollte Sandy auf ihre Armbanduhr

blicken – aber da war ja nur das Lederband, das sie am
Samstag gekauft hatte.

Es war reiner Zufall, dass Brad Nichols in diesem Moment

durch den Gang geschlurft kam. Sein intensiver Blick ging wie
immer ins Leere, als ob er über die Probleme der ganzen Welt
nachdachte.

»Brad«, sagte Sandy mit fester Stimme.
»Hmm?«, kam die lustlose Antwort.
»Wie spät ist es?«

225

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Brad zog eine kleine silberne Taschenuhr heraus, die er an

seinem Gürtel befestigt hatte. »Drei Minuten nach acht.«

Er sah Sandy an – und lächelte!
»Coole Uhr«, sagte das Mädchen.
»Cooles Outfit«, antwortete Brad.
Trish zog D’reen in Richtung Klassenzimmer.
Wenn alles gut lief, brauchten sie auf Sandy nicht zu warten.

»Ich hoffe, die drei kommen klar«, sagte Paige – zum
zweihundertsten Mal.

Phoebe ließ entnervt das Buttermesser fallen, mit dem sie

gerade ihr Brot schmierte. »Wenn ich das noch einmal höre,
werde ich zur Mörderin!«

Piper hatte mehr Verständnis. »Ich vermisse die Mädels ja

auch, aber du weißt genau, dass wir ihnen die Erinnerungen
nehmen mussten. Wir können uns keine drei Freundinnen
leisten, die in ständiger Gefahr schweben, weil irgendwelche
Dämonen sie als Druckmittel gegen uns einsetzen könnten.«

Paige seufzte. »Du hast ja Recht – ich weiß ja, dass du Recht

hast.«

»Ich bin sicher, die drei haben alles im Griff«, beruhigte

Phoebe. »Sie haben viel von uns gelernt.«

»Als ob das was Gutes wäre«, murmelte Leo zwischen zwei

Bissen, was ihm einen freundlichen Rippenstoß von Piper
einbrachte.

»Ich glaube, wir haben alle viel gelernt«, bemerkte Paige.
Ihre Halbschwestern nickten.
Das stimmte. Zum ersten Mal hatten sie freiwillig auf ihre

Kräfte verzichtet. Zum ersten Mal hatten sie erlebt, wie es war,
hilflos zusehen zu müssen, während andere für sie kämpften.

Die Erkenntnis, die sie daraus gezogen hatten, war eindeutig

– es war gut eine Hexe zu sein und es war gut, eine der
Zauberhaften zu sein. Noch vor ein paar Jahren hätten sie alles
dafür getan, diese Verantwortung abzugeben. Nun war das

226

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Gegenteil der Fall. Es war ihre Bestimmung, und sie waren
froh darüber.

»Die Mädchen waren aber ziemlich gut im Umgang mit

unseren Kräften«, sagte Piper und biss in ein Brötchen. »Da
habe ich wirklich gestaunt.«

Phoebe nickte. »Den Silberstaub zu verwenden, um uns die

Kräfte wiederzugeben – das war schlichtweg genial. Und die
Sache mit dem expandierenden Feuerkreis werde ich mir
merken. Da wäre ich in tausend Jahren nicht draufgekommen.«

»Wir können das ja in der ›Trainingsdimension‹ mal

ausprobieren«, schlug Paige vor.

Leo schüttelte den Kopf. »Geht nicht.«
»Wieso?«, wollte Piper wissen.
»Die Dimension ist nicht mehr leer«, erklärte der Wächter

des Lichts. »Der Rat der Ältesten hat entschieden, Maria und
Solomon dorthin in die Verbannung zu schicken.«

Die Schwestern sahen sich an.
»Eine seltsame Entscheidung«, meinte Piper.
Schließlich war Solomon über Jahrhunderte ein gefährlicher

Hexentöter gewesen.

»Der Rat der Ältesten ist nicht auf Rache oder Bestrafung

aus«, erklärte Leo. »Solomon hat erkannt, was auf sein Konto
geht. Und darum muss er den Rest der Ewigkeit in einer leeren
Welt verbringen, ohne Kontakt zu anderen Wesen.«

»Bis auf Maria«, ergänzte Paige.
Leo nickte. »Wenn ihre Liebe stark genug ist, werden sie

einander gute Gesellschaft leisten.«

Phoebe seufzte. Das war irgendwie romantisch – auf eine

ziemlich kranke und bizarre Art.

Piper bemerkte den verklärten Blick ihrer Schwester. »Hallo!

Erde an Phoebe!«

Phoebe riss sich zusammen. »Was ist?«
»Du bist nicht ganz hier, oder?«, neckte Paige.
Phoebe streckte ihr die Zunge raus.

227

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»Ist das was Ernstes zwischen dir und Darryl?«, fragte Piper.
Phoebe goss sich noch etwas Kaffee nach.
Die Frage hatte sie sich auch gestellt.
»Ich weiß es nicht«, antwortete sie ehrlich.
Paige sah Piper an.
Das waren beruhigende Nachrichten. Das klang ganz nach

der ›alten‹ Phoebe – der Phoebe, die immer erst die Männer
›antestete‹, bevor sie sich Gedanken über ernsthafte Gefühle
machte. Nicht die Phoebe, die von einem Dämon namens Cole
fast in den Wahnsinn getrieben worden war.

Es schien, als ob die junge Hexe wieder zur Vernunft

gekommen war.

Das bestätigte auch Phoebes nächster Satz: »Auf jeden Fall

küsst er unglaublich gut.«

Paige grinste. »Details, Madame, ich will Details!«
»Au, ja, darüber würde ich auch gerne mehr wissen«,

kicherte Piper.

»Hallo?!«, fragte Leo mit gespielter Empörung. »Wächter

des Lichts und Ehemann ist anwesend!«

Piper sah ihn mitleidig an. »Niemand küsst so gut wie du,

Schnuckelchen.«

Mit diesen Worten setzte sie ihm einen dicken Schmatzer auf

den Mund.

»Was liegt heute bei euch an?«, fragte Paige.
»Ich muss dringend ins P3«, sagte Piper. »Ich fürchte, unsere

Band für heute Abend hat abgesagt. Und der neue Barmann
mixt so viel Wodka in die Cocktails, dass keiner mehr als einen
schafft.«

»Und ich werde mir mal einen Stapel der Leserbriefe

vornehmen, die meine Zeitung geschickt hat«, erklärte Phoebe.
»Schließlich braucht San Francisco ja meinen Rat.«

Es herrschte also wieder Alltag im Haus der Halliwells.

228

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Darryl hatte wirklich Glück gehabt bei der Verteilung der
Schreibtische im Großraumbüro des Reviers. Er hatte einen
Fensterblick. Der ging zwar nur zur Straße, aber wenigstens
fühlte er sich hier nicht so eingekeilt.

Schon seit zehn Minuten starrte er in das trübe Wetter hinaus.

Zweimal schon hatte sein Telefon geklingelt, und er war nicht
drangegangen.

Wie oft hatte er sich mit Andy Trudeau wegen der Beziehung

zu Prue Halliwell gestritten? Eine Affäre mit einer Hexe war
einfach keine gute Idee, was ja auch durch die Tatsache
bewiesen wurde, dass Andy mittlerweile auf dem Friedhof lag.

Darryl hielt sich eigentlich für einen rationalen und

vernünftigen Menschen. Er wusste, wie schwer es war, als
Polizist eine Beziehung zu führen, die nicht darauf hinauslief,
dass die Frau jeden Abend fürchten musste, dass ihr Mann von
einem verrückten Spinner eine Kugel verpasst bekam.

Und das galt nur für Beziehungen mit ›normalen‹ Frauen!
Es war kaum vorstellbar, wie kompliziert eine Affäre mit

einer Hexe war. Während sie sich sorgte, dass er von einem
Zuhälter zusammengeschlagen wurde, musste er befürchten,
dass die Frau seiner Träume gerade von einem Vampir
ausgesaugt wurde.

Oder Schlimmeres!
Darryl seufzte und nahm noch einen Schluck von dem kalten

Kaffee.

Das hatte doch alles keinen Sinn!
Diese Beziehungskiste war Wahnsinn – Wahnsinn, der zum

Scheitern verurteilt war. Und er hatte keine Lust auf
Gefühlschaos, das keinerlei Aussicht auf ein Happy End hatte.

Die Sache mit Phoebe Halliwell musste ein Ende haben. Er

war überzeugt, dass sie es sowieso nicht ernst meinte. Er
kannte die Story von Cole, diesem Schmierlappen, der ihm als
Staatsanwalt mehrfach in die Quere gekommen war.

Was hatte sie an dem bloß gefunden?

229

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Nein, er war definitiv nicht der Richtige für sie, und sie war

definitiv nicht die Richtige für ihn.

Es war klar, dass er sich irgendwie aus dieser Sackgasse

herausmanövrieren musste.

Schließlich war er ein erwachsener Mann. Und Phoebe war

nicht die erste Frau, mit der er Schluss gemacht hatte. So
schwer war das nicht, man musste nur standfest bleiben.

Genau!
Das Telefon klingelte.
Darryl hob ab.
»Rate mal?!«, kam es schnurrend aus dem Hörer.
Darryl konnte nicht anders.
Er lächelte.
»Hi, Süße.«

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