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Die verstoßene 

Herzogstochter 

von Günther Herbst 

scanned by : horseman 

kleser: Larentia 

Version 1.0 

»Horrido!« 

Der Ruf der Jagdhelfer und das heisere Bellen der 

Hunde schallten durch den taufrischen Forst. Von der 
wilden Meute gehetzt, brach ein Rudel Hirsche aus dem 
Unterholz und rannte auf die Lichtung, wo die berittenen 
Jäger Lauerstellung bezogen hatten.
 

Herzog Adalbert und seine Jagdgenossen hoben ihre 

Bogen. Die Pfeile lagen auf den Sehnen, warteten nur 

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darauf, losgeschnellt zu werden. Aber noch war es nicht 
soweit. Noch warteten die Männer, um das Rotwild näher 
herankommen zu lassen.
 

Auch Otmar von Lützen hatte seinen Bogen in Anschlag 

gebracht. Das Augenmerk des Freigrafen richtete sich 
jedoch nicht auf die Hirsche, denn er jagte ein viel edleres 
Wild. Sein Pfeil war für einen Menschen bestimmt. Für 
Herzog Adalbert... 

 

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Wohlweislich hielt sich Otmar von Lützen ganz im Hintergrund. 
Nicht so weit entfernt von den anderen, um die Gefahr eines 
Fehlschusses heraufzubeschwören. Aber doch weit genug weg, um 
nicht der Aufmerksamkeit der Jagdgenossen ausgesetzt zu sein. Alles 
andere war eine Frage der Kaltblütigkeit und der Sicherheit des 
Auges. 

Blind vor Angst stob das Hirschrudel heran, witterte jetzt die 

wartenden Jäger und nahm eine schnelle Richtungsänderung vor. 
Noch näher würde das Rotwild also nicht kommen. Der Augenblick, 
in dem geschossen werden mußte, war gekommen. 

Herzog Adalbert war einer der ersten, die ihren Pfeil von der Sehne 

schnellen ließen. Ob er getroffen hatte, wußte Otmar von Lützen 
nicht. Und es war ihm auch von Herzen gleichgültig. Ihm ging es 
jetzt nur darum, daß er traf. 

Mit einem schnellen Blick in alle Richtungen prüfte er noch 

einmal, ob niemand auf ihn achtete. Beruhigt stellte er fest, daß er 
sich in dieser Hinsicht keine Sorgen zu machen brauchte. Das 
Jagdfieber hatte alle Männer gepackt. Sie hatten nur Augen für die 
Hirsche, kümmerten sich um nichts anderes. 

Ein triumphierendes Lächeln huschte über die dünnen Lippen des 

Freigrafen. Die Gelegenheit, auf die er schon so lange wartete, fiel 
ihm regelrecht in den Schoß. 

Jetzt galt es! 
Otmar von Lützen nahm Maß und spannte den Bogen mit der 

ganzen Kraft seiner starken Arme. Dann ließ er das Pfeilende los. 

Das hölzerne Geschoß mit der tödlichen Eisenspitze jagte 

zielsicher durch die Luft. 

Und es traf! 
Ganz deutlich sah Otmar von Lützen, wie der Herzog im Sattel 

seines Pferdes zusammenzuckte. Er sah, wie Adalbert schwankte und 
hilflose Bewegungen mit den Armen machte. Der Bogen entglitt 
seiner kraftlos gewordenen Hand, fiel auf den taufeuchten 
Wiesenboden. 

Der Freigraf wartete nicht ab, bis der Herzog vom Rücken seines 

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Reittiers stürzte. Zu dem Zeitpunkt, in dem das schreckliche 
Geschehen offensichtlich wurde, mußte er sich in einer Position 
befinden, die nicht den Schatten des leisesten Verdachts aufkommen 
ließ. 

Schnell gab der Freigraf seinem Pferd die Hacken zu spüren. Der 

Fuchs setzte sich sofort in Bewegung, brachte seinen Reiter auf eine 
Höhe mit mehreren anderen Jägern. Währenddessen hatte von Lützen 
auch nicht versäumt, einen zweiten Pfeil aus dem Köcher zu ziehen 
und auf die Bogensehne zu legen. Wenn ihn jemand fragte, konnte er 
treuherzig sagen, daß er noch gar nicht geschossen hatte, weil ihm 
kein sicheres Ziel vor die Pfeilspitze gekommen war. 

Jetzt endlich entstand Unruhe in der Jagdgesellschaft. Einige 

Männer hatten gemerkt, daß etwas Unvorhergesehenes geschehen 
war. 

»Um Gottes willen, der Herzog!« wurde eine schrille, entsetzte 

Stimme laut. 

»Der Herzog? Was ist mit dem Herzog?« 
»Er scheint... tot zu sein!« 
Tot! 
Otmar von Lützen hatte einige Mühe, seinen Triumph nicht 

sichtbar werden zu lassen. Er zwang Bestürzung in sein Gesicht, gab 
sich genauso verstört wie die anderen. 

»Was ... ist los? Herzog Adalbert tot? Aber das ist doch völlig 

unmöglich!« 

Alle Jagdgenossen lenkten ihre Pferde jetzt dorthin, wo sie den 

Herzog wußten. Freigraf Otmar von Lützen  war einer derjenigen, die 
sich besonders beeilten. 

Ja, da war Adalbert. In verkrümmter Haltung lag er im Gras, die 

Beine angezogen, die Arme weit von sich gestreckt, mit dem Gesicht 
nach unten. Aus seinem Rücken ragte das Ende eines Pfeils. Rings 
um die Einschußstelle färbte sich sein mit Goldfäden durchwirktes 
Wams rot. Er bewegte sich nicht, lag vollkommen reglos da. 

Mehrere Männer sprangen aus den Sätteln, beugten sich über den 

am Boden Liegenden. 

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Auch Otmar von Lützen schwang sich vom Rücken seines Pferdes 

und trat eilig herbei. 

»Allmächtiger«, sagte er kopfschüttelnd. »Wie konnte das denn 

nur passieren?« 

Freigraf Baldur von Torstein, der unmittelbar neben ihm stand, 

blickte kurz hoch. 

»Meuchelmord!« stieß er hervor. »Irgendein gemeiner Hundsfott 

hat den Herzog ermordet!« 

Otmar von Lützen zuckte zurück, als habe ihn ein wuchtiger 

Hammerschlag getroffen. 

»Meuchelmord?« wiederholte er entsetzt. »Glaubt Ihr das wirklich, 

Freigraf?« 

»Natürlich!« 
»Aber warum? Wer sollte danach streben, unserem geliebten 

Landesherrn das Leben zu rauben?« 

Der bullige Mann zog die Mundwinkel schief. »Jemand, der sich 

selbst gerne zum Landesherrn aufschwingen möchte!« 

Otmar von Lützen spürte, wie ihm das Blut aus dem  Gesicht wich. 

Ahnte Torstein etwas? Oder schlimmer noch  - hatte er etwas 
gesehen? Der bullige Mann hatte den Nagel genau auf den Kopf 
getroffen. Nachfolger des Herzogs zu werden  - eben dies war von 
Lützens Ziel. Nur aus diesem Grunde hatte er seinen Pfeil gegen 
Adalbert gerichtet. 

Baldur von Torstein schob das Kinn vor. »Ihr seid verstört, Lützen! 

Bin ich der Wahrheit auf der Spur?« 

Diesen unverblümten Worten konnte Otmar von Lützen nur eins 

entgegensetzen: Empörung. Er hob den Bogen, den er noch immer in 
der Hand hielt, und umfaßte den Pfeil mit den Fingern der anderen 
Hand. 

»Darf ich Euren Worten entnehmen, daß Ihr mich beschuldigt, den 

Herzog getötet zu haben?« fragte er drohend. 

Unwillkürlich trat der andere einen Schritt zurück. »Senkt den 

Bogen, Lützen! Seid Ihr des Teufels?« 

»Ich verlange eine Antwort! Und Ihr tut gut daran, Euch diese 

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Antwort recht zu überlegen!« 

»Es lag mir fern, Euch einem bösen Verdacht auszusetzen«, sagte 

Baldur von Torstein mit knirschenden Zähnen. »Meine Gedanken 
ergingen sich lediglich in grüblerischen Bahnen.« 

Er hat also nichts gesehen! begriff Otmar von Lützen. Und sofort 

nutzte er die günstige Gelegenheit, seinerseits zum Angriff 
überzugehen. Wenn es darum ging, für den kinderlosen Adalbert 
einen  Nachfolger auf dem Herzogthron zu bestimmen, dann war 
Freigraf Baldur von Torstein sein schärfster Rivale. Es konnte also 
nur von Vorteil sein, wenn er den anderen ins Zwielicht setzte. 

Er ließ den Bogen nicht sinken und maß den bulligen Mann mit 

finsteren Blicken. 

»Könntet Ihr nicht derjenige gewesen sein, der seinen Pfeil gegen 

den Herzog richtete?« sagte er argwöhnisch. 

Nun war es an Baldur von Torstein, seiner Empörung freien Lauf 

zu lassen. Seine Miene verdüsterte sich, und auf der Stirn erschien 
eine tief eingekerbte Falte. 

»Ihr wagt es allen Ernstes, mir zu unterstellen...« 
»Hört auf mit dem fruchtlosen Gezänk, Ihr Herren«, sagte Freigraf 

Ulf von dem Walde, der dem Streit der beiden Jagdgenossen 
zugehört hatte. »Keine Sekunde zweifele ich daran, daß der Herzog 
Opfer eines bedauerlichen Unfalls wurde.« 

»Eines Unfalls?« echote von Lützen. 
Ulf von dem Walde nickte. »Ein Pfeil, der tatsächlich dem Wilde 

galt, verflog sich und traf unglücklich den Herzog. Ich bin überzeugt 
davon, daß niemand bewußt nach dem Leben unseres Herrn 
trachtete.« 

Jetzt ließ Otmar von Lützen langsam den Bogen sinken. 
»In der Tat«, sagte er, »so könnte es gewesen sein.« Er wandte sich 

an seinen Rivalen. »Verzeiht, Torstein. Gewiß wollte ich Euch nicht 
zu nahe treten, aber ...« 

»Nichts für ungut«, gab auch der bullige Freigraf klein bei. »Es 

war wohl der Schmerz über den Verlust unseres geliebten Herrn, der 
uns Unbedachtes über die Lippen kommen ließ.« 

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Der Streit war beigelegt, und kein Verdacht mehr lastete auf Otmar 

von Lützen. Dennoch fiel wenig später ein gallebitterer Tropfen in 
den Freudenbecher des Freigrafen. 

»Der Herzog lebt!« gellte plötzlich eine Stimme auf. »Seht doch, 

seine Augenlider bewegen sich!« 

Otmar von Lützen fiel es ungeheuer schwer, die Enttäuschung aus 

seinem Gesicht zu verbannen. 

Schweratmend lag Herzog Adalbert in den Linnenkissen seines 
Fürstenbettes. In Rücken und Brust tobte ein rasender Schmerz, der 
so grausam war, daß er immer wieder dem Rand der Ohnmacht 
entgegentaumelte. Die Salben des Arztes hatten kaum für Linderung 
sorgen können. 

Der Herzog wußte, daß sein Lebensfaden bald abreißen würde. Der 

Pfeil, der ihn durchbohrt hatte, war sein Schicksal. Es hatte keinen 
Zweck, sich irgendwelche falschen Hoffnungen zu machen. 

Aber noch war er nicht bereit, von der Bühne des Lebens 

abzutreten. Bevor er ging, gab es noch etwas zu tun. Etwas, das er 
schon längst hätte tun sollen, wenn sein Herz nicht so verhärtet 
gewesen wäre.  Jetzt aber, angesichts des nahenden Todes, fühlte er 
die Bereitschaft zum Verzeihen tief in sich. 

Es kostete ihn einige Mühe, die Augen zu öffnen und den Kopf 

leicht anzuheben. Wie durch einen Schleier nahm er die Personen 
wahr, die mit sorgenvollen Gesichtern sein Bett umstanden. Da 
waren Pankratius, der Arzt, und sein Leibdiener Erich. Und da war 
auch Leander, sein getreuer Hausmeier. 

Der Arzt hatte ein feuchtes Tuch in der Hand und wollte ihm damit 

über die Stirn fahren. Aber Adalbert wehrte ihn mit einer unwilligen 
Fingerbewegung ab. 

»Leander«, flüsterte er. 
Der im opferbereiten Dienst ergraute Hausmeier beugte sich sofort 

zu ihm nieder. 

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»Herr?« 
»Schicke alle anderen hinaus«, sagte der Herzog mit schwacher 

Stimme. »Ich möchte mit dir allein reden.« 

Es bedurfte keiner weiteren Aufforderung. Ohne Widerspruch zu 

erheben, verließen alle das Schlafgemach. Nur der Hausmeier blieb. 
Er schob ein weiteres Kissen unter den Kopf des Sterbenden, um ihm 
das Sprechen etwas zu erleichtern. 

»Leander, was wird werden, wenn ich nicht mehr unter den 

Lebenden weile?« begann der Herzog das Gespräch. 

»Aber, aber«, erwiderte der Hausmeier begütigend. »Ihr werdet 

nicht sterben! Ihr werdet Euch erholen und bald schon ...« 

»Machen wir uns nichts vor! Ich weiß recht gut, wie  es um mich 

steht, und ich verlange von dir, daß du offen und ehrlich zu mir bist.« 

»Ja, Herr«, nickte der alte Mann bedrückt. 
»Also?« 
»Wenn Ihr ... nicht mehr seid, werden die Freigrafen des Landes 

um Eure Nachfolge streiten«, sagte Leander. »Ich fürchte, es wird 
sehr unfriedlich zugehen. Männer wie Baldur von Torstein und 
Otmar von Lützen sind nicht wählerisch, wenn es darum geht, ihre 
Pläne zu verwirklichen.« 

»Ja«, bestätigte der Herzog, »du sprichst das aus, was auch ich 

denke. Und deshalb ...« 

Er unterbrach sich. Das Sprechen fiel ihm schwer. Jedes Wort, das 

er von sich gab, verstärkte das höllische Stechen in seiner Brust. Es 
war erforderlich, eine kleine Ruhepause einzulegen. 

Dem treuen Leander entging das nicht. »Soll ich Pankratius 

herbeiholen, Herr?« 

»Nein, nein, es geht schon wieder«, wehrte der Herzog ab. Er 

zwang sich dazu, die Schwäche zu überwinden, die in seinem Körper 
tobte wie ein böses Tier. 

»Leander?« 
»Ja, Herr?« 
»Erinnerst du dich an Veronica?« 
»Veronica?« Der alte Mann tat so, als ob er den Namen niemals in 

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seinem Leben gehört hatte. 

Adalbert lächelte. »Keine Bange, Leander. Es war nicht meine 

Absicht, dich einer Prüfung zu unterziehen. Sehr wohl weiß ich, daß 
ich dir vor gut zwanzig Jahren befahl, Veronica zu vergessen. Diesen 
Befehl hebe ich jetzt auf.« 

Deutlich war dem alten Mann anzumerken, wie gerne er diese 

befreienden Worte hörte. 

»Und ob ich mich an Eure Gemahlin erinnerte!« sagte er aus 

tiefstem Herzen. »Vergebt mir, Herr, aber trotz Eurer Weisung habe 
ich sie stets im Angedenken gehalten!« 

»Du hast es mir all die Jahre übel genommen, daß ich sie damals 

verstieß, nicht wahr? Sie und das Kind!« 

»Es steht mir nicht zu, Euch etwas übel zu nehmen, Herr, aber ...« 
»Du warst immer der Überzeugung, daß ich ihr bitteres Unrecht 

zufügte, stimmt's?« 

»Dies kann und will ich nicht leugnen«, gestand Leander. »Nie 

konnte ich Eure Auffassung teilen, daß Euch die Herzogin untreu 
war und das Kind tatsächlich von einem anderen Mann stammte. Es 
war Euer Kind, Herr!« 

»Ich hatte meine Gründe, Gegenteiliges zu glauben«, sagte 

Adalbert leise. 

»Falsche Gründe, wenn Ihr mir erlaubt, dies so frei heraus zu 

sagen«, erwiderte der Hausmeier. 

»Mag sein, mag sein«, murmelte der Herzog. »Im Laufe der Jahre 

geriet meine damalige feste Überzeugung mehr und mehr ins 
Wanken. Ich gestehe, daß ich jedoch zu stolz war, meinen 
Meinungswandel offen zuzugeben. Jetzt aber... Leander, ich möchte 
wieder gutmachen, was ich vielleicht vorschnell an Unrechtem tat.« 

»Das ehrt Euch, denn es ist niemals zu spät, Reue zu zeigen«, sagte 

der alte Mann weise. 

»Weißt du, was aus Veronica und der kleinen Berthild geworden 

ist?« fragte der Herzog. 

Leander machte ein bekümmertes Gesicht. »Gerne würde ich Euch 

eine Antwort geben, die Ihr hören wollt. Aber ich kann es nicht. Mir 

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ist nicht bekannt, wohin sich Eure Gemahlin damals mit dem Kinde 
wandte.« 

»Aber sicher gibt es jemanden, der Bescheid weiß.« 
Der Hausmeier schüttelte den Kopf. »Ich fürchte nicht. Ihr gabt 

den Befehl, Eure Gemahlin zu vergessen. Und Ihr drohtet jedem 
schwere Strafe an, der sich um Mutter und Kind kümmern würde. 
Soweit ich weiß, wagte niemand, Eurem Befehl zuwiderzuhandeln.« 

Das Stechen in Adalberts Brust wurde heftiger. Und dieses Stechen 

kam gewiß nicht nur von der Pfeilwunde, sondern auch aus seinem 
kummervollen Herzen. 

»Veronica und Berthild müssen gefunden werden«, flüsterte er 

eindringlich. »Vor allem Berthild! Ich habe sie dazu ausersehen, mir 
auf den Herzogthron zu folgen. Wenn sie von meinem Blute ist, 
gebührt ihr die  Herrschaftswürde. Und außerdem wäre dadurch dem 
Streit der Freigrafen um meine Nachfolge die Nahrung entzogen.« 

»Dies wäre eine vortreffliche Lösung«, pflichtete ihm der 

Hausmeier bei. »Aber ich weiß wirklich nicht...« 

»Tu alles, was in deiner Macht steht«, befahl der Herzog. »Laß 

Anschläge im ganzen Land anbringen. Laß Herolde in alle 
Richtungen ausschwärmen. Versprich demjenigen, der einen 
Hinweis auf den Verbleib Berthilds geben kann, die Erhebung in den 
Adelsstand. Wirst du dies alles tun, mein getreuer Leander?« 

»Ich werde es tun«, versprach der Hausmeier feierlich. »So wahr 

mir Gott helfe.« 

Erleichtert ließ sich der Herzog in die Kissen zurücksinken. Wenig 

später war er tief und fest eingeschlafen. 

Lautlos verließ der alte Mann das Schlafgemach, um die 

Weisungen seines Herrn in die Tat umzusetzen. 

»Ja, ja, ja«, stöhnte die Schwarze Sitta leidenschaftlich. »Mehr, 
mehr, mehr!« 

Sie lag auf dem Rücken, das weiche Blätterlager unter sich. Ihre 

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geschlossenen Augenlider zitterten, die Lippen waren lustvoll 
geöffnet. Mit beiden Händen krallte sie sich in den nackten Rücken 
des Mannes über ihr. Daß ihre Fingernägel dort blutige Spuren 
hinterließen, machte ihr nicht das geringste aus. Eher war das 
Gegenteil der Fall. Das Blut verstärkte ihren Sinnesrausch nur noch. 

»Ich liebe dich, Sitta«, keuchte Rollf der Schinder. »Oh, wie ich 

dich liebe!« 

Und er tat sein Bestes, um diese seine Liebe zu beweisen. Die 

Kraft seiner Lenden schien unerschöpflich zu sein. Sitta geriet von 
einer Verzückung in die andere. 

»Sitta, Rollf!« 
Wie aus einer anderen Welt drang die Stimme an ihre Ohren. 

Bewußt nahm sie gar nicht wahr, daß jemand ihren Namen gerufen 
hatte. Sie hörte nur die Stimme ihres Blutes, und alles andere war ihr 
im Augenblick vollkommen gleichgültig. 

Anders jedoch ihr Liebhaber. Rollf der Schinder fuhr zusammen, 

als habe man einen Zuber Jauche über ihm ausgeleert. Mit einem 
bösen Knurren ließ er von dem Mädchen ab und sprang auf die Füße. 
Hastig griff er nach seinem Rock und schlang ihn sich um die 
Hüften. 

»Sohn eines alten Schweins!« fuhr er den Mann an, der grinsend 

im Höhleneingang stand. »Was fällt dir ein, hier so schamlos 
hereinzuplatzen?« 

»Halte die Luft an, Schinder«, sagte der Mann und reckte seine 

breiten Schultern. »Ich komme und gehe, wann ich will. Und du bist 
der letzte, der mich daran hindert. Und nun verschwinde! Ich habe 
mit Sitta zu reden.« 

Einen Augenblick lang sah es so aus, als ob Rollf der Schinder 

diese unverblümte Zurechtweisung nicht tatenlos hinnehmen würde. 
Er hob die rechte Hand und ballte die Faust. Dann aber ließ er die 
Hand wieder sinken, murmelte etwas Unverständliches vor sich hin 
und verließ mit bösem Gesicht die Höhle. Er hatte den Mut, sich 
offen gegen den Bandenführer aufzulehnen, doch nicht aufgebracht, 
wohl wissend, daß ihm das schlecht bekommen wäre. 

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Geringschätzig lächelnd blickte ihm Hanns der Bär nach. Er war 

dreißig Jahre älter als der Schinder. Aber das änderte nichts an der 
Tatsache, daß er es noch immer mit jedem einzelnen seiner Leute 
aufnehmen konnte. 

»Mußtest du ihn so vor den Kopf stoßen, Ohm?« sagte die 

Schwarze Sitta vorwurfsvoll. 

Sie hatte sich aufgerichtet, dachte aber nicht daran, ihre Blößen zu 

bedecken. Fast herausfordernd reckte sie Hanns dem Bär ihre vollen 
Brüste entgegen. 

»Rollf der Schinder ist ein Dummkopf«, sagte der Bandenführer 

und zuckte mit den Schultern. 

»Aber er ist ein vortrefflicher Liebhaber«, erwiderte das Mädchen 

und lächelte katzenhaft. 

Wie zufällig fuhr sie mit den Handflächen über die  Spitzen ihrer 

Brüste. Es war eine Bewegung, die selbst den keuschsten Mönch 
zum Schwanken gebracht hätte. 

Hanns der Bär lachte polternd. »Du bist ein Luder, Sitta!« 
»Und du bist ein Mann! Und von deinem Blut fließt kein Tropfen 

in meinen Adern.« 

»Wohl wahr«, nickte der Bandenführer. »Bisher hielt ich dich stets 

für die leibliche Tochter des Teufels. Nun aber sieht es so aus, als 
stammst du aus herzoglichem Geblüt!« 

Die Schwarze Sitta zog die geschwungenen Augenbrauen in die 

Höhe. »Was sagst du da?« 

Hanns der Bär kam näher und setzte sich neben der jungen Frau 

auf das Lager aus trockenen Blättern. Prüfend blickte er ihr in das 
hübsche Gesicht. 

»Ja«, sagte er. »Wenn ich dich so ganz genau anschaue ... Du 

siehst ihm in der Tat ähnlich!« 

»Wem sehe ich ähnlich, zum Teufel?« 
»Dem Herzog!« 
»Du meinst... Herzog Adalbert?« 
»Nämlichem«, nickte der Bandenführer. »Vieles spricht dafür, daß 

du wirklich seine Tochter bist.« 

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Die Schwarze Sitta lachte silberhell auf. »Du mußt verrückt 

geworden sein, Ohm! Erstens weiß jedermann im Lande, daß der 
Herzog keine Kinder hat...« 

»So hieß es bisher. Nun aber wissen wir es anders. Adalberts 

damalige Ehe ist nicht kinderlos geblieben. Er hatte eine Tochter  - 
dich, du kleines Luder!« 

Sitta wußte nicht mehr, was sie sagen sollte. Und wie immer bei 

solchen Gelegenheiten nahm sie Zuflucht zu Beschimpfungen, die 
sich aus ihrem hübschen Munde weitaus garstiger anhörten als aus 
dem zahnlosen Maul eines Sauhirten. 

Hanns der Bär ließ sie schimpfen. Ja, er hatte sogar seine Freude 

an ihrem Gezeter, bewies dies doch, daß sie ganz nach seiner Art 
geschlagen war, auch wenn er sie seinerzeit nur an Vaters Stelle als 
die seine angenommen hatte. Erst als ihr langsam die Luft wegblieb, 
bequemte er sich zu einer Erklärung. Er erzählte von dem 
herzoglichen Herold, der seinem Gewährsmann begegnet war, 
erzählte ihr von dem Aufruf Adalberts und allem, was damit in 
Zusammenhang stand. 

Die Schwarze Sitta konnte es noch nicht fassen. 
»Langsam, langsam«, sagte sie und bemühte sich dabei 

krampfhaft, ihre Aufregung zu unterdrücken. »Damals also jagte der 
Herzog sein Weib und ihr Neugeborenes davon. Schön und gut! Wie 
aber kommst du auf den Gedanken, daß ausgerechnet ich jenes Kind 
war, das die Herzogin auf ihren Armen trug?« 

»Der Zeitpunkt stimmt«, antwortete Hanns der Bär und zupfte an 

seinem struppigen Bart. »Es ist etwa zwanzig Jahre her, als ich dich 
damals im Walde fand  - einen greinenden Säugling, halb erfroren 
und von allen verlassen.« 

»Und die Herzogin?« 
»Was weiß ich? Sie könnte dich im Wald ausgesetzt haben und 

ihres Weges gegangen sein. Sie könnte den Wölfen oder einem 
Bären zum Opfer gefallen oder in die Hände von Wegelagerern 
geraten sein. Ich war damals nicht der einzige Räuber im Lande.« 

Sekundenlang sagte die Schwarze Sitta kein einziges Wort. Dann 

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sprang sie plötzlich auf und tanzte in ihrer ganzen Nacktheit 
jauchzend in der Höhle umher. 

»So stimmt es also  - ich bin des Herzogs Töchterlein! Und nun 

sucht mich mein geliebter Vater, um mich auf den Thron zu setzen!« 

Mit blitzenden Augen sah sie den Bandenführer an. »Worauf 

warten wir noch, Ohm? Auf zum Schloß!« 

Hanns der Bär grinste breit. »Du hast es verdammt eilig, was?« 
»Wer an meiner Stelle würde nicht...« 
»Wir sollten nichts überstürzen«, bremste Hanns der Bär ihren 

wilden Eifer. »Noch ist keinesfalls gewiß, daß du wirklich die 
Gesuchte bist!« 

»Aber du sagtest doch ...« 
»Ich sagte, daß du es sein könntest, mein Kind! Je länger ich 

jedoch darüber nachdenke, desto größer werden meine Zweifel.« 

»Wieso, zur Hölle?« 
»Ich komme langsam in die Jahre, wo einem das Gedächtnis schon 

mal einen Streich spielt«, sagte der Bandenführer. »Aber mögen die 
Erinnerungen auch verschüttet sein, gänzlich verloren sind sie 
dennoch nicht.« 

»Du sprichst in Rätseln, Ohm«, stieß das Mädchen hervor. »Oder 

du bist ein alter Narr, der nicht mehr ganz richtig im Kopfe ist.« 

Niemand außer ihr konnte es wagen, so mit Hanns dem Bär zu 

sprechen. Jedem seiner Männer hätte er zumindest das Nasenbein 
gebrochen, wenn sie ihm so unbotmäßig gekommen wären. Bei Sitta 
jedoch drückte er wie stets beide Augen zu. 

»Ich erinnere mich jetzt deutlich«, sagte er. »Du warst in jenen 

Tagen nicht das einzige Findelkind. Da war der Köhler 
Gislevert...»»Ein Junge namens Gislevert kann schlechterdings nicht 
die Tochter des Herzogs sein, oder?« 

»Laß mich gefälligst aussprechen«, erwiderte der Bandenführer, 

jetzt doch etwas verärgert ob der ständigen Unterbrechungen durch 
seine Ziehtochter. »Nicht Gislevert war das Findelkind. Vielmehr 
war er es, der das Kind bei sich aufnahm. Das Kind und die Mutter!« 

Die Schwarze Sitta wurde blaß. »Die ... Herzogin?« 

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»Das weiß ich nicht. Gislevert hat nie darüber gesprochen, wer die 

Frau war. So ich mich erinnere, ist sie auch alsbald gestorben.« 

»Und das Kind? Es war ein Mädchen, nicht wahr?« 
»Ja, es war ein Mädchen. Es wuchs bei Gislevert auf und 

entwickelte sich gar prächtig.« 

Die Schwarze Sitta war noch blasser geworden. »Diese kleine 

Köhlerschlampe will mir den Herzogsthron wegnehmen. Das lasse 
ich nicht zu! Wir müssen es verhindern, Ohm!« 

»Und wie machen wir das?« fragte der Bandenführer. »Wenn nicht 

du, sondern sie die richtige ist...« 

»Wir töten sie«, zischte Sitta entschlossen. »Sie und diesen Köhler! 

Eine Tote kann sich nicht als des Herzogs Tochter ausgeben, selbst 
wenn sie es tatsächlich ist. Und wenn die Nebenbuhlerin nicht mehr 
lebt, ist der Weg frei - für mich!« 

»Das wird gar nicht so einfach sein«, wandte Hanns der Bär ein. 
»Warum nicht?« funkelte ihn das Mädchen an. »Mir scheint fast, 

du willst überhaupt nicht, daß ich Herzogin werde! Du willst, daß ich 
weiterhin mit dir und deinen Wegelagerern hier im Wald lebe. Und 
auch deine Gründe sind mir vollkommen klar, Ohm. Einen besseren 
Lockvogel als mich wirst du so leicht nicht finden, stimmt's?« 

»Törichtes Kind«,  sagte der Bandenführer. »Wie könnte ich nicht 

wünschen, daß du den Herzogthron besteigst? Glaubst du, ich habe 
große Freude daran, bis an mein Lebensende ein Räuber zu sein  - 
ständig auf der Flucht vor den Häschern? Die Stellung eines 
Hausmeiers auf dem Schloß würde mir viel besser gefallen.« 

»So, so, Hausmeier möchtest du also werden! Und was tust du, 

wenn ich statt deiner einen anderen zum Verwalter meines 
herzoglichen Besitzes mache?« 

»Dann bringe ich dich um!« 
Die Schwarze Sitta blinzelte, lächelte dann etwas gequält. »Du 

weißt selbst, daß ich dich niemals hintergehen würde, Ohm. Wenn du 
mich nicht als Säugling zu dir genommen hättest, wäre ich längst 
nicht mehr unter den Lebenden.« 

Der Bandenführer nickte. »Du tätest gut daran, dies niemals zu 

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vergessen!« 

»Kommen wir zurück auf diese Köhlerschlampe«, sagte das 

Mädchen. »Warum hast du Bedenken, sie aus dem Wege zu 
räumen?« 

»Es ist gewiß nicht mein weiches Herz, falls du das denkst. Die 

Schwierigkeit liegt ganz woanders.« 

»Und zwar?« 
Hanns der Bär seufzte. »Gislevert, der Köhler, lebt nicht mehr in 

unserer Gegend. Vor ein paar Jahren gab er seinen Meiler auf, nahm 
Frau und Kinder und zog auf und davon.« 

»Und du hast keine Ahnung, wo er abgeblieben ist?« 
»Nicht die geringste.« 
»Das ist dumm«, sagte  die Schwarze Sitta finster. Dann hellte sich 

ihr Gesicht auf. »Oder auch nicht! Wenn die Köhlerschlampe nicht 
mehr im Lande ist, kann sie nicht als meine Rivalin um den Thron 
auftreten, richtig?« 

»Das Land ist groß, aber die Kunde vom Aufruf des Herzogs wird 

sich verbreiten wie ein Lauffeuer. Ich zweifele nicht daran, daß 
Gislevert davon erfahren wird, wo auch immer er jetzt lebt.« 

Das hübsche Gesicht der Schwarzen Sitta verzog sich zu einer 

Grimasse. 

»Dann müssen wir ihn finden, hörst du?« sagte sie schrill. »Ihn und 

seine verdammte Ziehtochter!« 

Hanns der Bär nickte bedächtig. 

Roland hob verwundert die Augenbrauen, als Pierre unvermutet sein 
Pferd beschleunigte und mit ein paar Galoppsprüngen an ihm 
vorbeizog. 

»He, was ist los?« rief er den dicklichen Knappen an. »Hast du die 

Gewalt über deine Mähre verloren?« 

Es paßte überhaupt nicht zu Pierre, daß er sich beeilte. Er hatte es 

lieber gemütlich und ließ es in allen Lebenslagen gemächlich 

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angehen. Und daß er unterwegs die Spitze übernahm, kam so gut wie 
gar nicht vor. Vornan mochten Gefahren lauern, und diesen ging er 
sorgsam aus dem Wege, wenn es sich nur irgendwie einrichten ließ. 

Der Knappe wandte den Kopf. »Einem so famosen Reiter wie mir 

geht kein Pferd durch«, stellte er fest. »Aber ich spüre die Nähe eines 
Wirtshauses, und deshalb ...« 

»... beeilst du dich, damit dir um Gottes willen keiner etwas 

wegfrißt«, warf der Knappe Louis lachend ein. 

»Ritter Roland, warum schlagen wir uns eigentlich mit dem 

nutzlosen Kerl herum? Er denkt nur ans Essen und Schlafen und ist 
sonst zu nichts zu gebrauchen.« 

Der Ritter mit dem Löwenherzen schmunzelte. »Immerhin können 

wir in seiner Gesellschaft nicht verhungern. Und das ist ja auch 
schon etwas wert.« 

Der dickliche Knappe hatte in der Tat die Gabe, Eßbares mit 

unfehlbarer Sicherheit aufzuspüren. In dieser Beziehung hatte er die 
Witterung eines guten Jagdhundes. Auch diesmal war dies wieder 
der Fall. Roland sah das Wirtshaus noch gar nicht, von dem Pierre 
gesprochen hatte. Aber er bezweifelte nicht, daß es binnen kürzester 
Zeit tatsächlich am Straßenrand auftauchen würde. 

Er konnte nicht sagen, daß ihm das Wirtshaus unwillkommen war. 

Ein äußerst scharfer und anstrengender Ritt lag hinter ihm und seinen 
beiden Gefährten, und er hatte einen rechtschaffenen Hunger 
entwickelt. Außerdem blickte auch er einem weichen Nachtlager mit 
großem Behagen entgegen. Zwar hatte König Artus zu äußerster Eile 
gedrängt, als  er ihm den Auftrag gab, zum Schloß Herzog Adalberts 
zu reiten. Die kommende Nacht jedoch durfte sicherlich noch der 
Muße und der Entspannung dienen. Wenn sich der Verdacht des 
Herrn von Camelot, daß man einen Mordanschlag auf den Herzog 
unternommen hatte,  als wahr herausstellte, würde er in den nächsten 
Tagen sicherlich alle Hände voll zu tun haben und kaum zu viel 
Schlaf kommen. 

Es war so, wie Pierre gesagt hatte. Rechter Hand schälten sich aus 

dem Zwielicht der Abenddämmerung die verschwommenen Umrisse 

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eines einsamen Gebäudes hervor, die Kate eines Einsiedlers oder 
tatsächlich eine Herberge. 

Wenig später zügelten die drei Männer ihre Pferde vor dem Haus. 

Ja, es war eine Herberge, eine von jener Sorte, bei der der Gast nicht 
allzu viel Leibesvergnügen erwarten durfte. Das Gebäude bestand 
rundherum aus Holz und war mit gepreßten Strohschindeln bedeckt. 
Es sah ärmlich aus, wirkte aber ungemein sauber. Und der gepflegte 
kleine Gemüsegarten war gewiß auch mit viel Liebe angelegt 
worden. 

Roland und seine Begleiter waren noch nicht aus den Sätteln 

gestiegen, da wurden sie bereits willkommen geheißen. Ein 
grauköpfiger Mann mit stark gebeugtem Rücken trat aus dem Haus 
und begrüßte die Ankömmlinge mit freundlichen Worten. 

Aber es war nicht der alte Mann, der sofort Rolands ganze 

Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Diese Aufmerksamkeit zog das 
Mädchen auf sich, das in diesem Augenblick nach draußen kam. Was 
für das Haus galt, galt auch für die Kleidung der jungen Frau: 
ärmlich, aber sauber. Aber so wie auf einem Misthaufen auch eine 
herrliche Rose blühen konnte, so steckte in dieser unscheinbaren 
Kleidung ein gar prächtiges Geschöpf. Wonnevolle Rundungen an 
den richtigen Stellen, Beine so lang, daß man glaubte, sie würden gar 
nicht mehr aufhören, und dazu ein engelhaftes Gesicht, das von 
wallendem, rehbraunen Haar umschmeichelt wurde. Roland kannte 
sich aus mit dem schönen Geschlecht. Aber selbst unter 
hochgestellten höfischen Damen war ihm selten ein solches Fräulein 
begegnet. 

Auch Louis und Pierre starrten die junge Frau an und bekamen 

Stielaugen dabei. Die Blicke waren dem Mädchen sichtlich peinlich. 
Der artige Knicks, den sie jetzt machte, wurde begleitet von einem 
verlegenen Lächeln. 

»Bringt die Pferde in den Stall«, sagte Roland, um seine Knappen 

auf andere Gedanken zu bringen. »Ihr habt doch eine Unterkunft für 
unsere Reittiere?« vergewisserte er sich anschließend 'bei dem 
grauköpfigen Alten. 

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»Gewiß doch, Herr Ritter«, bestätigte der Herbergswirt. »Hier 

entlang, bitte schön!« 

Der Alte zeigte den Knappen den  Weg und führte sie mit den 

Pferden ums Haus herum. Roland hatte unterdessen das Vergnügen, 
von dem Mädchen in die Gaststube geleitet zu werden. 

»Wie heißt du, schönes Kind?« fragte der Ritter mit dem 

Löwenherzen lächelnd. 

»Hilda«, sagte die junge Frau.  »Und meine Eltern sind Gislevert 

und Maria.« 

»Freut mich, euch kennenzulernen. Ich bin sicher, wir werden uns 

wohlfühlen bei euch.« 

»Das hoffe ich auch, Herr Ritter«, sagte das Mädchen artig. 

»Meine Mutter ist eine vorzügliche Köchin, und auch unsere Betten 
gaben noch nie Anlaß zur Klage.« 

Roland wußte etwas, das zu seinem Wohlbefinden noch mehr 

beitragen konnte. Aber es war wohl verfrüht, schon jetzt davon zu 
reden. 

Baldur von Torstein hieb mit der Faust auf den Tisch, so kräftig, daß 
Schüsseln und Becher hüpften. 

Seine Frau, die sich vor Schreck fast an einem Hühnerschenkel 

verschluckte, blickte ihn fassungslos an. 

»Bist du toll geworden, Mann?« 
»Keineswegs«, sagte der Freigraf und lachte dröhnend. »Ich 

hab's!« 

»Was hast du?« 
»Die Lösung«, sagte von Torstein. Und als er das Unverständnis in 

den Augen seiner Gemahlin sah, fuhr er fort: »Ich weiß jetzt, wie ich 
die Herrschaft über das Land antreten kann, ohne mich vorher mit 
Lützen auseinandersetzen zu müssen.« 

»Ich kann mir schon denken, wie du das machen willst«, erwiderte 

Emilia von Torstein spöttisch. »Du schickst ein paar Meuchelmörder 

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los und läßt deinen Rivalen umbringen.« 

»So eine Schurkerei traust du mir zu, Weib?« 
»Unbedingt!« 
»Hüte deine Zunge. Ich bin nicht bereit, weitere 

Ehrabschneidungen aus deinem Munde hinzunehmen!« 

Achselzuckend wandte sich Emilia von Torstein wieder ihrem 

Huhn zu. 

In Sekundenschnelle hatte der Freigraf seinen momentanen Ärger 

wieder vergessen. Nicht zuletzt auch deshalb, weil das, was er 
vorhatte, kaum weniger schurkisch war als ein Meuchelmord. 

»Wie alt ist unsere Tochter Martha?« wollte er von seiner Frau 

wissen. 

»Dreiundzwanzig Jahre natürlich!« 
»Nein! Sie ist erst zwanzig Jahre alt!« 
Emilia schüttelte heftig den Kopf. »Mann, ich werde doch wohl 

wissen, wann ich meine Tochter geboren habe!« 

Der Freigraf grinste. »Du hast sie gar nicht geboren!« 
»Wie? Ich habe sie nicht...« 
»Wir sind nicht die leiblichen Eltern unserer Tochter Martha. Das 

können wir auch gar nicht sein, denn Martha ist ein Findelkind!« 

Emilia von Torstein lachte. »Du bist wirklich toll! Jetzt zweifele 

ich nicht mehr daran.« 

»Ganz im Gegenteil«, sagte der Freigraf. »Selten war ich so klar 

bei Verstand wie in diesem Augenblick.« Er beugte sich vor und 
stützte den Kopf auf die Hände. »Du hast den Herold des Herzogs 
gehört?« 

»Natürlich. Adalbert sucht Frau und Kind, die er damals ...« Emilia 

von Torstein stutzte. Der Funke des Verstehens blinkte in ihren 
Augen auf. »Du willst doch nicht etwa behaupten ...« 

»Doch, genau das will ich«, sagte Baldur. »Im Grunde genommen 

ist alles ganz einfach. Damals, als Adalbert seine Gemahlin Veronica 
und ihren Wechselbalg mit Schimpf und Schande davonjagte, war 
ich noch ein kleiner Ritter ohne eigenen Herrschaftsbereich.« 

»Wem sagst du das?« warf  seine Frau ein. »Martha und ich hatten 

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kaum genug zu beißen, während du ...« 

»Unterbrich mich nicht!« sagte der Freiherr scharf. »Jedenfalls war 

ich damals noch ein fahrender Ritter, dem eines Tages die 
unglückliche Veronica in die Arme lief. Gütig wie ich schon damals 
war, nahm ich Mutter und Kind in meine Obhut und ...« 

»Aber das ist doch lächerlich, Mann! Damals hattest du bereits 

mich und Martha!« 

Der Freigraf machte eine unwirsche Handbewegung. »Wer weiß 

das schon? Erst Jahre später kam ich in das Land des Herzogs. Mit 
dir und Martha, gewiß. Aber wer vermag heute zu sagen, daß Martha 
deine Tochter und nicht ein angenommenes Findelkind war?« 

»Und was ist aus Veronica geworden?« 
»Sie ist gestorben  - an gebrochenem Herzen! Und da ich das Kind 

nicht allein versorgen konnte, nahm ich dich zum Weibe. So einfach 
ist das!« 

Wieder schüttelte Emilia von Torstein den Kopf. »Es ist, wie ich 

schon sagte: lächerlich! Du glaubst doch nicht ernsthaft, daß der 
Herzog ein Wort dieser abenteuerlichen Geschichte für bare Münze 
nimmt?« 

»Ich bin anderer Meinung. Wie es scheint, zerfließt Adalbert vor 

innerer Reue. Er wird überglücklich sein, wenn ich ihm seine 
verstoßene Tochter ans Sterbebett bringe.« 

»Und warum hast du das nicht längst getan?« 
Der Freigraf lachte. »Wie konnte ich? Weiß nicht jedermann, daß 

Adalbert befohlen hatte, seine ungetreue Gemahlin und den 
Wechselbalg ein für allemal zu vergessen? Ich wäre ein schlechter 
Getreuer meines Herrn gewesen, wenn ich seinen Befehl mißachtet 
hätte.« 

Emilia von Torstein machte ein ausgesprochen unglückliches 

Gesicht. Und das ärgerte ihren Gemahl. 

»Was jammerst du?« fuhr er sie an. »Möchtest du nicht die Mutter 

- die Ziehmutter  - der neuen Herzogin werden? Wenn Martha auf 
dem Thron sitzt, beherrschen wir das Land, denn sie wird nur das 
tun, was ich ihr sage.« 

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»Daran gibt es keinen Zweifel, aber...« 
»Aber?« 
»Der Herzog wird dir nicht glauben», wiederholte Emilia. »Du hast 

keinerlei Beweise für deine Behauptungen. Schließlich könnte ja 
jeder kommen und ...« 

»Ich bin  nicht jeder! Ich bin der Freigraf von Torstein, und mein 

Wort hat Gewicht. Und was die Beweise angeht...« Baldur lächelte 
listig. »Es werden sich sicherlich unter meinen Getreuen ein paar 
finden lassen, die die Wahrheit bezeugen können.« 

»Und Martha? Unsere Tochter hat ihren eigenen Kopf. Ich bin mir 

nicht sicher, ob sie sich auf diesen Handel einlassen wird.« 

Der Freigraf lachte. »Seit wann haben Findelkinder ihren eigenen 

Kopf? Sag mir das, Weib!« 

Emilia von Torstein seufzte nur noch ergeben. 

Die schöne Hilda hatte nicht übertrieben: ihre Mutter war wirklich 
eine ganz ausgezeichnete Köchin. Was die brave Frau aus den 
einfachsten Zutaten hingezaubert hatte, grenzte schon ans 
Wunderbare. Selbst Louis, der ein ausgesprochener Feinschmecker 
war, hatte an ihrer Kochkunst nichts auszusetzen. 

»Du bist die geborene Köchin, gute Frau«, lobte er. 
Die Frau des Herbergswirts, die den Knappen an Leibesumfang bei 

weitem übertraf, lächelte erfreut. 

»Ihr werdet es nicht glauben, Herr«, sagte sie, »aber eigentlich bin 

ich gar keine richtige Köchin. Die meiste Zeit meines Lebens 
verbrachte ich im Wald, und es gab niemanden außer Mann und 
Kind, den ich zu beköstigen hatte.« 

»Im Wald?« wunderte sich Roland. 
»Bevor wir hier aufmachten, verdiente mein Mann unser Brot als 

Köhler. Als sein Rücken schlimmer und schlimmer wurde, mußten 
wir uns nach etwas anderem umsehen. Das Wirtshaus hat zwar nur 
selten Gäste, denn es liegt doch sehr abgelegen. Aber wir verhungern 

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nicht, und das ist die Hauptsache.« 

Roland  beschloß im stillen, den braven Leuten mehr zu zahlen, als 

sie 

in ihrer Bescheidenheit wahrscheinlich verlangen würden. 

Vielleicht würde es ausreichen, ein schönes Stück Leinen zu kaufen, 
um der Haustochter einen hübschen neuen Kittel zu arbeiten. 

Apropos Haustochter. Die schöne Hilda machte sich sehr rar, ließ 

sich kaum in der Gaststube blicken. Das betrübte den Ritter mit dem 
Löwenherzen ungemein. Krampfhaft überlegte er, wie er es anstellen 
konnte, das Mädchen aus ihrem Hinterstübchen hervorzulocken, 
ohne dabei plump und aufdringlich zu wirken. Sein Freund Volker 
vom Hohentwiel hätte sicherlich einen eleganten Weg gefunden. 
Aber Volker, der in allen Landen bekannte Minnesänger und Ritter, 
begleitete ihn diesmal nicht. Der Freund hatte eine Einladung  zu 
einem großen Sängerwettstreit im Frankenland bekommen. Und 
dieser Einladung war er selbstredend gefolgt. 

Während Roland noch grübelte und seine Gedanken dabei vom 

guten Landwein anspornen ließ, war es draußen vollends dunkel 
geworden. Die abendliche Kühle drang durch die Holzwände und 
kündete an, daß der nächste Winter nicht mehr fern war. Gislevert, 
der Wirt, sorgte jedoch für Abhilfe, indem er die Holzscheite im 
Kamin entzündete. Bald schon breitete sich wohlige Wärme in der 
Stube aus. 

Die Anstrengungen des langen Ritts und auch die herbe Schwere 

des Weins brachten es mit sich, daß Roland langsam ermüdete. 
Seinen beiden Knappen erging es nicht anders. Pierre war bereits am 
Tisch eingedöst und gab recht störende Pfeiftöne von sich. Auch 
Louis, der sonst ein Bündel von Energie und Tatkraft war, bekam 
mehr und mehr Mühe, die Augen offenzuhalten. 

Der alte Gislevert erwies sich als aufmerksamer Herbergsvater. 

»Soll ich den Herren das Nachtlager richten lassen?« erkundigte er 
sich mit einer leichten Verbeugung. 

Roland zögerte mit der Antwort. Wenn er jetzt zustimmte, 

schwanden alle Hoffnungen, das Lager mit der schönen Hilda teilen 
zu können, unwiderruflich dahin. 

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Dann aber wurde er einer Antwort fürs erste enthoben. Draußen 

vor der Tür wurde es plötzlich laut. Hufgetrappel, das Wiehern eines 
Pferdes und Stimmengewirr klangen auf. 

»Oh«, sagte Gislevert, »mich deucht, wir haben heute einen 

ausgesprochenen Glückstag. Die ganze Woche ließ sich kein einziger 
Gast blicken. Und heute herrscht ein Andrang, der alles wieder 
wettmacht.« 

Er eilte zur Tür, um die Ankömmlinge, bei denen es sich um eine 

größere Gruppe zu handeln schien, in Empfang zu nehmen. Seine 
Frau Maria machte sich unterdessen eifrig hinter dem Tresen zu 
schaffen. 

Pierre war durch den Lärm mittlerweile wieder wach geworden, 

und auch Louis' Augen hatten ihren schläfrigen Ausdruck verloren. 
Der schlanke, drahtige Knappe wurde auf einmal putzmunter. 

»He, Pierre, was meinst du«, sagte er. »Ob unter den Leuten, die da 

kommen, vielleicht ein paar sind,  die wir für ein kleines Würfelspiel 
begeistern können?« 

Louis war sofort Feuer und Flamme. Neben Essen und Schlafen 

gehörte das Würfeln zu seinen Lieblingsbeschäftigungen. Vor allem 
dann, wenn er die Möglichkeit sah, arglosen Gemütern das Geld aus 
der Rocktasche zu ziehen. 

»Meine Kasse könnte eine Aufbesserung vertragen«, meinte er mit 

einem verdeckten Seitenblick auf Roland. »Bei dem kargen Lohn, 
den manche Ritter ihren Knappen zahlen ...« 

Roland lächelte nur ob dieser Anspielung. Er war gewiß kein 

reicher Mann. Aber wenn es darum ging, für das Wohl der Seinen zu 
sorgen, stellte er sich ganz bestimmt nicht knauserig an. Ein Mann 
wie Pierre allerdings, der jeden überflüssigen Denar gegen einen 
saftigen Schinken oder eine Hammelkeule eintauschte, wäre selbst in 
den Diensten eines Königs nicht zu Geld und Gut gekommen. 

Kurz darauf kamen die Ankömmlinge in die Wirtsstube herein. Es 

waren sechs, sieben, acht Männer. Nein, sieben Männer und eine 
Frau. Das Mädchen, jung und katzenhaft hübsch, war genau wie die 
Männer gekleidet und fiel deshalb erst beim zweiten Blick auf, 

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obwohl ihre fraulichen Linien eigentlich gar nicht zu übersehen 
waren. 

Roland konnte wirklich nicht sagen, daß ihm die späten Besucher 

sonderlich gefielen. Ganz gewiß handelte es sich nicht um 
Herrschaften des vornehmen Standes. Das genaue Gegenteil war der 
Fall. Diese Menschen entstammten der untersten Schicht. Es war ein 
wüster Haufen recht verkommener Individuen, zerlumpt gekleidet, 
ungewaschen und mit wild wucherndem Haupt- und Barthaar. Keine 
Frage, mit solchen Leuten hatte kein anständiger Mensch gerne 
etwas zu tun. 

Pierre und Louis waren zur gleichen Auffassung gekommen. Die 

Art und Weise, in der sie sich und ihren Herrn ansahen, sagte mehr 
als viele Worte. 

Auch die Ankömmlinge tauschten wortlose Blicke. Sie hatten ganz 

offenbar nicht erwartet, andere Gäste vorzufinden, waren von der 
Anwesenheit des Ritters und seiner beiden Knappen sichtlich 
überrascht. Grußlos setzten sie sich nach kurzem Zögern an einen 
großen Rundtisch und taten so, als seien Roland und die Seinen gar 
nicht in der Stube. 

Gislevert und seine Frau Maria waren alles andere als glücklich 

über den Besuch der wüsten Truppe. Beide ahnten wohl, daß Leute 
dieses Schlages statt mit barer Münze lieber mit frechen Reden und 
unverhohlenen Drohungen zu bezahlen pflegten. 

Anfänglich tuschelten die sechs Männer und das Mädchen nur leise 

miteinander. Roland konnte nicht verstehen, was sie sagten, obwohl 
er die Ohren mächtig spitzte. Laut wurden sie erst, als es darum ging, 
ihre Wünsche bei Gislevert anzumelden. Mit barscher Stimme 
verlangten sie Met und Fleisch. 

Mit unglücklicher Miene stand der Wirt an ihrem Tisch. 
»Mit Met kann ich dienen«, sagte er, »aber Fleisch ist nicht 

vorhanden. Zum Halten von Haustieren reicht es bei uns leider 
nicht.« 

Einer der Kerle lachte wiehernd. »Warum schlachtest du nicht 

deine Alte, Wirt? Sie ist fett genug, um uns allen zu einer guten 

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Portion Speck zu verhelfen!« 

Während die anderen in sein Gelächter einfielen, verfinsterte sich 

Gisleverts Miene noch mehr. Seine Frau wischte fahrig mit einem 
Lappen über den Tresen. 

»Grütze mit Kohl und feinen Kräutern kann ich anbieten«, sagte 

Gislevert beherrscht. 

»Behalte deinen Fraß«, wurde er angeherrscht. »Uns steht nicht der 

Sinn danach, vergiftet zu werden. Bringe uns nur den Met, aber ein 
bißchen plötzlich, ja?« 

Jetzt wurde der Wirt ärgerlich. Er stemmte die Arme in die Hüften 

und sagte: »Ich finde es gar nicht geziemend, mit einem alten Freund 
so rüde umzugehen, Hanns!« 

Der Mann, den er angesprochen hatte, ein älterer Bursche schon, 

der aber noch ungemein stark und kräftig wirkte, blickte hoch und 
kniff ein Auge zu. 

»Wir kennen uns?« 
»Gewiß doch«, sagte der Wirt. »Vor Jahren warst du öfter als 

einmal Gast in meinem Haus!« 

Der kräftige Mann musterte ihn scharf, lachte dann plötzlich. »Ich 

will verdammt sein - Gislevert, der Köhler!« 

»Eben dieser, ja.« 
Der mit Hanns Angesprochene wandte sich an seine Leute. 

»Begegnet  dem Wirt von nun an mit gebührender Freundlichkeit, 
Diebsgesindel! Er ist ein alter Freund von mir, verstanden?« 

»Verstanden«, antworteten die anderen im Chor und grinsten. 
»Ich wußte gar nicht, daß du dich zum Schankwirt gemausert hast, 

Gislevert«, sagte der Kräftige. »Ernährte das Köhlerhandwerk seinen 
Mann nicht mehr?« 

»Der Rücken war's«, erwiderte der alte Mann. »Wenn man 

langsam in die Jahre kommt...« 

»Verstehe, verstehe«, nickte Hanns. »Als Wirt mußt du nicht die 

ganze Arbeit alleine machen. Deine Familie kann dir helfen, deine 
Frau und auch deine Tochter. Die Kleine ist doch noch bei dir?« 

Irrte sich Roland, oder war tatsächlich ein lauernder Unterton in 

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die Stimme des Mannes getreten? 

Gislevert schien es nicht bemerkt zu haben. Er nickte, war 

offensichtlich froh, daß die wüsten Gäste ihn nicht mehr wie einen 
niederen Leibeigenen behandelten. 

»Hilda ist erwachsen geworden«, sagte er. »Und sie ist mir eine 

große Hilfe.« 

Der kräftige Mann lächelte wie ein Raubtier. »Wie schön! Ich 

hoffe, ich werde noch das Vergnügen haben, deine Tochter begrüßen 
zu können, oder?« 

Gislevert nickte. »Ich hole sie gleich. Sie wird euch den Met 

bringen.« 

Der Wirt wandte sich vom Tisch ab und verschwand durch eine 

Tür in den rückwärtigen Räumen des Hauses. 

»Ritter Roland?« sagte Louis im Flüsterton. 
»Ja?« Der Ritter mit dem Löwenherzen wandte sich ihm zu. 
»Ich glaube, ich weiß, wer dieser Mann ist, den Gislevert mit 

Hanns ansprach.« 

»So?« 
»Man nennt ihn Hanns den Bär! Er gilt als einer der gefährlichsten 

und mörderischsten Räuber in den deutschen Landen!« 

Roland hatte den Namen noch nie gehört, aber das wollte nicht viel 

besagen. Er kannte sich in Räuberkreisen nicht so aus, ganz im 
Gegensatz zu Louis, der einst selbst ein Räuber gewesen war, bevor 
er dem wüsten Leben abschwor und als Knappe in Rolands Dienste 
trat. 

Der Ritter mit dem Löwenherzen verzog das Gesicht. »Es gefällt 

mir gar nicht, mit Mördern und Dieben unter einem Dach wohnen zu 
müssen. Und noch etwas will mir überhaupt nicht gefallen.« 

»Ja, Ritter Roland?« 
»Ich habe das Gefühl, daß dieser Hanns dem Wirt eine kleine 

Posse vorgespielt hat!« 

»Eine ... Posse?« 
»Er tat so, als habe er Gislevert erst später erkannt. In Wirklichkeit 

wußte er aber von Anfang an, wen er vor sich hatte!« 

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»Diesen Eindruck hatte ich allerdings auch«, sagte der Knappe. 

»Aber warum sollte Hanns der Bär so etwas tun?« 

»Ich weiß es nicht«, gab Roland schulterzuckend zurück. »Aber 

vielleicht werden wir es bald erfahren.« 

Das sollte er in der Tat... 

Die meisten Burgen lagen auf einer Bergeshöhe, um es möglichen 
Feinden schwer, wenn nicht gar unmöglich zu machen, bei einem 
Sturmangriff erfolgreich zu sein. Das Schloß des Herzogs hingegen 
war mitten in einem kleinen Tal errichtet worden, frei zugänglich 
von allen Seiten. Zwar gab  es nur zwei Wege, die in dieses Tal 
führten. Von einem sicheren Schutz konnte jedoch wahrlich nicht 
gesprochen werden. Im Grunde genommen war das Schloß beinahe 
eine Herausforderung. Dennoch hatte es nie jemand gewagt, ein 
feindliches Heer heranzuführen. Das sprach für die Stärke und die 
Macht des herzoglichen Geschlechts, von dem das Land länger als 
ein volles Jahrhundert uneingeschränkt regiert wurde. 

Derartige Gedanken gingen Baldur von Torstein durch den Kopf, 

als er mit seiner Tochter und mehreren  seiner Getreuen in das 
Schloßtal einritt. Sein unbändiger Wunsch, selbst auf dem Schloß zu 
residieren und die Macht des Herzogs ausüben zu können, wurde 
immer stärker. Und wenn alles gutging, würde er vielleicht bald in 
der Lage sein, sich diesen Wunsch zu erfüllen. 

Es dauerte nicht mehr lange, dann schoben sich die Trutzmauern 

von Adalberts Herrschaftssitz ins Blickfeld der Ankömmlinge. 

Baldur von Torstein sah seine Tochter von der Seite an. Martha ritt 

neben ihm, und sie saß wie ein erbärmliches Häuflein Elend im 
Sattel ihres Pferdes. Es war offenkundig, wie sehr sie die Rolle 
haßte, die zu spielen er ihr aufgezwungen hatte. 

»Mache gefälligst ein heiteres Gesicht«, fuhr er sie an. »Eine 

Herzogin freut sich, wenn sie nach langen Jahren ihr angestammtes 
Geburtshaus wiedersieht!« 

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Martha wandte ihm den Kopf zu. Ihr knochiges Gesicht, das eine 

gewisse Pferdeähnlichkeit nicht verbergen konnte, wirkte 
unglücklich. 

»Muß es denn wirklich geschehen, Herr Vater? Warum darf ich 

nicht damit zufrieden sein, die Tochter eines Freigrafen zu sein? Und 
wenn ich eines Tages einen Mann aus höherem Geblüt heirate ...« 

»Welcher Mann aus höherem Geblüt sollte dich heiraten? Du bist 

häßlich wie die Nacht! Allenfalls als Herzogin wird jemand um deine 
Hand anhalten, begreife das endlich!« 

Martha begann herzzerreißend zu schluchzen, aber das berührte 

den Freigrafen nicht. Wenn er sich selbst gegenüber ganz offen war, 
dann empfand er keine Liebe für seine Tochter. Martha war ein 
reizloses, dummes und dabei auch noch widerspenstiges Pferd. Ihre 
ganze Sorge war, daß hoffentlich bald ein Edelmann kam und sie zur 
Frau nahm. Bisher war jedoch noch keiner gekommen, was Baldur 
nicht im geringsten wunderte. Mit einem plumpen Geschöpf wie 
Martha das Bett teilen zu müssen, war gewiß kein erbaulicher 
Gedanke. Seine Tochter spürte dies wohl selbst und hatte nur deshalb 
auf den Herzoginnenköder angebissen. Ansonsten hätte sie sich trotz 
Androhung arger Bestrafung glatt geweigert, sich seinen Wünschen 
zu fügen. 

»Unterlasse das Weinen«, befahl er. »Eine Herzogin ist zu stolz, 

um Tränen zu vergießen!« 

Krampfhaft bemühte sich Martha, mit dem Schluchzen aufzuhören. 

Es gelang ihr mehr schlecht als recht. 

Dem Freigrafen entging nicht, daß seine Getreuen kaum ihr 

Lachen verbeißen konnten. Und das machte ihn zornig. Immerhin 
war Martha seine Tochter. 

»Was gibt es zu grinsen?« schnauzte er seine Männer an. 

»Antworte, Gottlob!« 

Gottlob zu Ditzen, ein Ritter, der länger als ein Dutzend Jahre in 

Baldurs Diensten stand, wurde verlegen. 

»Ich bitte um Vergebung, Herr Freigraf. Wir ... äh ...« 
Der Getreue sprach nicht weiter, wußte nicht so recht, was er sagen 

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sollte. Baldur von Torstein drängte auch nicht weiter, ließ es dabei 
bewenden. Immerhin brauchte er seine Männer, vor allem Gottlob 
und den alten Knappen Markus, der es trotz seiner langen Dienstzeit 
nie bis zum Ritterschlag gebracht hatte. Gottlob und Markus waren 
die beiden, die beim Herzog bezeugen sollten, daß er die verstoßene 
Gemahlin Adalberts und ihr Kind damals in seine  Obhut genommen 
hatte. Es war also nicht klug, die beiden jetzt zu verstimmen. 

Wenig später hatten der Freigraf und seine Begleitung das 

Schloßtor erreicht. Sie wurden sofort eingelassen, denn Baldur von 
Torstein war ein oft gesehener Gast im Hofe des Herzogs und galt als 
treuer und zuverlässiger Vasall. 

Wie gewohnt war alsbald der alte Leander zur Stelle. Der 

Hausmeier kümmerte sich um nahezu alles und war auch für 
Begrüßung und Empfang von Gästen zuständig. Er sorgte dafür, daß 
die Pferde der Ankömmlinge versorgt wurden und bat sie dann in die 
altehrwürdige Schloßhalle. Erst dort fragte er nach dem Begehr des 
Freigrafen und gab auch gleich eine Antwort auf seine Frage. 

»Gewiß seid Ihr gekommen, um Euch nach dem Befinden unseres 

geliebten Herrn zu erkundigen.« 

»Dies war in der Tat meine vordringlichste Absicht«, erklärte 

Baldur von Torstein und stellte dabei eine gefaßte Trauermiene zur 
Schau, die er hoffentlich durch eine gute Nachricht erhellen konnte. 

»Leider kann ich Euch nur einen betrüblichen Bescheid geben«, 

antwortete der Hausmeier. »Unserem Herrn geht es schlecht, sehr 
schlecht. Nur eins hält ihn überhaupt noch aufrecht: die Hoffnung, 
seine Tochter nach all den Jahren wieder in die Arme schließen zu 
können.« 

Baldur von Torstein lächelte. »Dieser Wunsch des Herzogs kann 

sofort in Erfüllung gehen!« 

Leander runzelte die Stirn, blickte ihn fragend an. »Ihr wißt, wo 

sich Berthild aufhält, Freigraf?« 

»Sie ist hier!« 
»Hier?« 
Baldur von Torstein machte eine weit ausholende Armbewegung 

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und zeigte auf seine Tochter. 

»Dort steht sie, Hausmeier!« 
Martha machte einen albernen Hofknicks, der so schwerfällig 

aussah, daß der Freigraf sich ihrer schämte. Der Hausmeier achtete 
jedoch gar nicht darauf. Dazu war er viel zu verblüfft. 

»Ich ... verstehe  nicht«, erwiderte er. »Ich sehe dort nur Eure 

Tochter Martha!« 

Lächelnd schüttelte der Freigraf den Kopf. »Nach all den Jahren 

darf ich endlich die Wahrheit bekennen: Martha ist nicht meine 
Tochter. Sie ist das einzige Kind des Herzogs!« 

Die Verblüffung des Hausmeiers wuchs. »Bedaure, Freigraf, ich 

kann Euch leider nicht folgen. Würdet Ihr mir erklären ...« 

»Gewiß, mein lieber Leander, gewiß. Es trug sich zu vor zwanzig 

Jahren. Damals war ich noch ein fahrender Ritter, der in Begleitung 
seiner treuen Knappen Gottlob und Markus ...«, Baldur nickte den 
beiden zu, »... durch die Lande zog. Eines kalten Wintertages  - die 
Luft klirrte vor Frost  - übernachtete ich mit meinen Gefährten in 
einer armseligen Bauernkate. Und dort traf ich sie  - eine junge, 
bleiche Frau, deren einst strahlende Schönheit der Gram zerstört 
hatte. Sie war krank, todkrank. Die Hustenanfälle, die sie quälten wie 
ein böses Tier, verrieten es auch dem Unkundigen. Sie wußte, daß sie 
sterben mußte und war froh, noch einmal Gelegenheit zu finden, mit 
einem Mann von Stande sprechen zu können. Nun, was soll ich noch 
viele Worte machen? Die junge Frau vertraute sich mir an, offenbarte 
mir, daß sie Veronica hieß und die verstoßene Gemahlin des Herzogs 
war. Und dann bat sie mich flehentlich, für ihr Kind zu sorgen, für 
die kleine Berthild, die nun ohne Vater und Mutter dastehen würde. 
Ich versprach es ihr, denn es war mir unmöglich, einer Sterbenden 
den letzten sehnlichen Wunsch abzuschlagen. Ich nahm die kleine 
Berthild zu mir und sorgte für sie. Da  mir Veronica das zusätzliche 
Versprechen abgenommen hatte, niemandem zu verraten, wer das 
Kind wirklich war, da sie Verfolgungen von Seiten des Herzogs 
fürchtete, nannte ich die Kleine Martha und gab sie fortan als mein 
eigenes Fleisch und Blut aus. Nun aber, da unser Herr bereit ist zu 

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verzeihen, brauche ich nicht länger zu schweigen. Jetzt endlich kann 
die ganze Wahrheit ans Tageslicht!« 

Baldur von Torstein war mit sich selbst zufrieden. In seinen Augen 

hatte die ganze Lügengeschichte sehr echt und überzeugend 
geklungen, wenn er auch nicht leugnen konnte, daß sie genauso von 
einem fahrenden Sänger hätte stammen können. Aber was half's? 
Das Leben schrieb oft viel abenteuerlichere Geschichten, als sie sich 
ein Verseschmied ausdenken konnte. Erwartungsvoll blickte er den 
Hausmeier des Herzogs an. Ob der alte Leander seine Worte für bare 
Münze nahm? 

Zunächst sah es ganz und gar nicht danach aus. Tiefe Zweifel 

drückten sich im Mienenspiel des herzoglichen Vertrauten aus. 

»Mit Verlaub, Freigraf«, sagte er langsam, »es steht mir nicht zu, 

die Aufrichtigkeit Eurer Rede in Zweifel zu ziehen. Aber ob unser 
geliebter Herr sie glauben wird ...« 

Der Freigraf nickte. »Ich kann Eure Zweifel verstehen, aber auch 

leicht zerstreuen, mein lieber Leander. Der lebende Beweis steht vor 
Euch  - meine Getreuen Gottlob und Markus! Sie waren dabei, als 
sich Veronica mir in ihrer Sterbestunde anvertraute. Damals 
verpflichtete ich sie zu ewigem Schweigen. Nun aber können sie 
ruhigen Gewissens sagen, was sie seinerzeit hörten und sahen.« 

»So ist es«, bestätigte Gottlob von Ditzen. »Bei meinem Leben, 

des Freigrafen Worte sind nichts als die reine Wahrheit!« 

»Die reine Wahrheit«, wiederholte der Knappe Markus und 

lächelte dabei dümmlich. 

Aber noch immer war der Hausmeier keineswegs überzeugt. Ein 

mißtrauischer Blick umfing die Gestalt Marthas. 

»Mit Verlaub gesagt, Freigraf, ich kann keinerlei Ähnlichkeit mit 

dem Herzog feststellen.« 

»Eine Tochter muß nicht immer auf den Vater kommen, mein 

lieber Leander!« 

»Auch der Herzogin sieht Ihre Toch ... sieht das Mädchen 

mitnichten ähnlich. Ich habe Veronica gekannt, müßt Ihr wissen, 
Freigraf. Und ich habe auch Berthild gekannt!« 

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Baldur von Torstein lächelte. »Wie alt war das Kind damals? Ein 

paar Tage, ein paar Wochen? Ich bitte Euch, Leander! Meint Ihr 
nicht, daß zwanzig Jahre einen Menschen von Grund auf verändern? 
Und wenn Ihr mich fragt 

- ich sehe die herzogliche 

Familienähnlichkeit durchaus. Die Stirn, die Nasenpartie ... Seht 
Euch Berthild ganz genau an!« 

Der Hausmeier tat dies. Martha ließ die Musterung verlegen über 

sich ergehen, stand da wie ein Pferd, das verkauft werden sollte. In 
der Tat hatte sie nichts von ihrem angeblichen Vater. Aber der 
Freigraf baute darauf, daß Adalbert in seinem Verlangen nach der 
Tochter zwischen Einbildung und Wirklichkeit keinen Unterschied 
erkennen würde, zumal sein klarer Blick durch seine körperliche 
Verfassung ohnehin getrübt sein mußte. 

»Warum lassen wir unseren geliebten Herrn nicht selbst alle 

offenen Fragen beantworten?« sagte Baldur lächelnd. »Gehen wir zu 
ihm und geben wir ihm Gelegenheit, die Stimme des Blutes sprechen 
zu lassen.« 

Der Hausmeier machte eine verneinende Kopfbewegung. 
»Zum derzeitigen Augenblick dürfte dies nicht möglich sein«, gab 

er zur Antwort. »Der Herzog befindet sich gegenwärtig in den 
Fängen des Wundfiebers und ist nicht ansprechbar. Sein Arzt 
Pankratius hofft jedoch zuversichtlich, daß das Fieber in ein, zwei 
Tagen abklingen wird. Wenn Ihr solange als Gäste auf dem Schloß 
verweilen wollt...« 

»Gewiß«, sagte der Freigraf. »Es liegt mir fern, unseren Herrn 

anzusprechen, wenn er nicht ganz Herr seiner Sinne ist. Glaubt Ihr, 
ich möchte mich um das Vergnügen bringen, das Glück in seinen 
Augen strahlen zu sehen?« 

Der alte Leander ging auf diese honigsüßen Worte nicht weiter ein. 
»Auch aus einem anderen Grund würde es sich gut treffen, wenn 

Ihr noch ein paar Tage wartet. Bis dahin dürfte auch die Anna wieder 
zurück sein.« 

»Die ... Anna?« 
»Die Anne war damals die Amme der kleinen Berthild. Sie wird 

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auf Anhieb sagen können,  ob Eure ... ähem... Ziehtochter die richtige 
ist. Anna erinnert sich nämlich an ein unverwechselbares Merkmal, 
das sie bei dem Säugling damals feststellte.« 

Baldur von Torstein hörte sofort alle Kirchenglocken läuten. 
»Ihr kennt dieses Merkmal, mein lieber Leander?« erkundigte er 

sich wie nebenbei. 

»Ich kenne es nicht«, bekam er zur Antwort. »Nur Anna kennt es. 

Und der Herzog selbst natürlich.« 

»Natürlich«, murmelte der Freigraf, »natürlich.« 
Verdammt sei die Amme, damit hatte er nicht gerechnet. 

Selbstverständlich würde das Weib sofort feststellen, daß Martha auf 
gar keinen Fall des Herzogs Tochter war. Und wenn das geschah, fiel 
sein ganzer schöner Plan ins Wasser. Schlimmer noch, der Herzog 
würde den Betrugsversuch erkennen und daraufhin sicherlich 
hochpeinliche Maßnahmen in Erwägung ziehen. 

Das mußte unter allen Umständen vermieden werden! 
Aber wie? fragte sich Baldur von Torstein fieberhaft. 
Sehr schnell kam ihm ein Gedanke. Wenn es ihm gelang, die 

Amme in seine Gewalt zu bekommen, bevor sie zum Schloß 
zurückkehren konnte ... Sicherlich würde sie bereit sein, ihm das 
unverwechselbare Merkmal vorab preiszugeben  - gegen guten Lohn 
oder aber unter Zwang! Es gab Mittel und Wege... 

»Ich kann Euch gar nicht sagen, wie froh ich bin, daß es diese 

Anna gibt, mein lieber Leander«, sagte er mit scheinheiliger 
Zufriedenheit. »Sie wird der Wahrheit zum Siege verhelfen.« 

»Das wird sie«, nickte der Hausmeier. 
Anschließend sorgte er dafür, daß die Gäste eine ihnen geziemende 

Unterkunft bekamen. Und dann hieß es warten... 

Roland fühlte sich immer unwohler. Die verstohlenen Blicke, die die 
Räuber zu ihm und seinen beiden Gefährten hinüberwarfen, 
entgingen ihm ebensowenig wie ihr verschwörerisches Getuschel. 

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Die Kerle und das schwarzhaarige Mädchen in ihrer Mitte hatten 
etwas vor, da gab es für ihn gar keine Frage. 

Seine Müdigkeit war längst verflogen, hatte äußerster 

Wachsamkeit Platz gemacht. Und was für ihn galt, galt auch für 
Louis und Pierre. Alle drei rechneten durchaus damit, daß die Räuber 
einen Überfall auf sie beabsichtigten. Schließlich war dies das 
Geschäft von Räubern. Und Roland und seine Knappen mochten in 
den Augen der wüsten Gesellen als ganz besonders lohnenswerte 
Opfer erscheinen, von deren Ausraubung sie sich einiges 
versprachen. 

Es dauerte  nicht lange, dann erschien die Wirtstochter in der 

Gaststube. Sie trug ein großes Tablett mit Metbechern und brachte es 
zum Tisch der Räuber hinüber. 

Die sieben Männer und das schwarzhaarige Mädchen starrten ihr 

wie gebannt entgegen. 

Gebannt von ihrer 

Schönheit? Roland bezweifelte das. 

Insbesondere die Schwarzhaarige ließ ihn stutzig werden. Er hatte 
den Eindruck, daß es verzehrender Haß war, der in ihren Augen 
brannte. Einen Reim auf das seltsame Verhalten konnte er sich al-
lerdings beim besten Willen nicht machen. 

Hilda stellte die Becher auf den Tisch, schob jedem der Männer 

und auch dem Mädchen einen Becher hin. Sie tat es etwas hastig, so 
daß einer der Becher überschwappte. 

Sofort wurde sie von der Schwarzhaarigen giftig angekeift: »Was 

fällt dir ein, du kleine Schlampe? Kannst du nicht aufpassen, 
verdammtes Luder?« 

Roland schwoll der Kamm. Am liebsten wäre er aufgestanden und 

hätte dem dreisten jungen Weib Manieren beigebracht. Aber er 
konnte sich die Mühe sparen, denn die Schwarzhaarige wurde aus 
den eigenen Reihen zurechtgewiesen. 

»Mäßige dich, Sitta«, sagte Hanns der Bär nicht ohne Schärfe. 

»Unsere kleine Freundin hat den Met sicherlich nicht mit Fleiß 
verschüttet. Habe ich recht, Berthild?« 

»Bestimmt nicht«, sagte die Wirtstochter. »Außerdem heiße ich 

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Hilda, nicht Berthild. Ihr wißt das doch, Herr Hanns.« 

»Wirklich?« 
Der kräftige Mann sah zuerst das Mädchen, dann ihren Vater, der 

hinter den Tresen zurückgekehrt war, durchdringend an. Gislevert 
biß sich auf die Lippen und schaute vor  sich auf die Bohlen des 
Fußbodens. 

Roland wurde nicht recht schlau aus dem Ganzen. Hilda oder 

Berthild  - sie klangen verwandt, diese Namen, aber man konnte sie 
doch kaum verwechseln. Und doch hatte der Räuber genau dies 
getan, wider besseres Wissen offenbar und zum erkennbaren Mißfal-
len des ehemaligen Köhlers. Irgend etwas ging hier vor, das einem 
Uneingeweihten wie Roland verschlossen bleiben mußte. 

Die Wirtstochter zog sich wieder zurück und verschwand in den 

rückwärtigen Räumen. Die Räuber tranken ihren Met, steckten die 
Köpfe zusammen und flüsterten miteinander. Dabei huschten immer 
wieder verstohlene Blicke zum Tisch Rolands hinüber. 

Zu seinem Mißvergnügen verstand der Ritter mit dem 

Löwenherzen kein Wort von dem, was die Kerle und das freche 
Weibsbild redeten. Und auch als sie Gislevert zu sich riefen und leise 
mit ihm sprachen, blieb Roland der Inhalt der Unterhaltung 
verborgen. 

Als der Wirt den Tisch der Räuber wieder verließ, bestellte Roland 

noch drei Krüge Wein. Gislevert brachte sie und wollte gleich wieder 
gehen. Aber der Ritter mit dem Löwenherzen hielt ihn am Rockzipfel 
fest. 

»Was wollten die Männer von dir?« erkundigte er sich leise. 
Der Wirt schien verlegen. 
»Nichts weiter«, sagte er nach längerem Zögern. »Wir sprachen 

nur über die alten Zeiten.« 

»Über nichts sonst?« 
»N ... nein.« 
Er sagte nicht die Wahrheit, das war ganz offensichtlich für 

Roland. Aber natürlich konnte er den alten Mann nicht zwingen, 
mehr zu sagen, als er wollte. 

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»Haben der Herr Ritter noch einen Wunsch?« fragte Gislevert 

ehrerbietig dienernd. 

»Nein!« erwiderte Roland barsch. 
»Er lügt, nicht wahr?« meinte Louis, nachdem der Wirt wieder 

zum Tresen hinübergegangen war. »Aber warum?« 

Leider konnte ihm der Ritter mit dem Löwenherzen darauf keine 

Antwort geben. 

Es dauerte nicht mehr lange, dann wurde der Wirt wieder an den 

Tisch der Räuber gerufen. Etwas überraschend für Roland zückte der 
Anführer der wüsten Gesellen einen Brustbeutel, entnahm ihm 
mehrere Münzen und bezahlte Gislevert damit. Dann erhoben sich 
die Räuber von ihren Schemeln und verließen die Gaststube. Wenig 
später wurde hörbar, daß sie sich vom Schankhaus entfernten. 

Noch einmal versuchte Roland, etwas über das geheimnisvolle 

Getuschel in Erfahrung zu bringen. Aber Gislevert stellte sich 
weiterhin stur, gab nur ausweichende Antworten. Dabei wurde es 
allerdings immer offensichtlicher, daß er etwas verbarg. 

Nun, sollte er, sagte sich Roland schließlich. Er hatte anderes zu 

tun, als sich um die Geheimnisse von Schankwirten und 
Räuberbanden zu kümmern. Und da auch die schöne Hilda nicht 
mehr zum Vorschein kam, gab es eigentlich keinen Grund, noch 
länger in der Schankstube zu verweilen und den Schlaf 
hinauszuzögern. 

»Begeben wir uns zur Nachtruhe«, sagte er zu seinen beiden 

Knappen. 

Louis und Pierre hatten nichts dagegen. 

»Neue Nachrichten, Herr!« Otmar von Lützen, der gerade dabei war, 
die dringend nötige Erneuerung einer schadhaft gewordenen Stelle 
der Burgmauer zu überwachen, war sofort voll bei der Sache. Für 
seinen Vertrauensmann vom Hof  des Herzogs ließ er alles andere 
sofort stehen und liegen. »Ja, Meininger? Ich höre! Unser geliebter 

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Herr ist doch nicht etwa ... gestorben?« 

»Nein«, sagte sein Vertrauter beinahe betrübt, »mit einer solch 

erfreulichen Meldung kann ich leider nicht dienen. Es geht dem 
Herzog nicht gut, aber er lebt noch.« 

Der Freigraf nickte mürrisch, ließ sich durch diese Mitteilung aber 

nicht weiter verbittern. Zu oft hatte er sich schon darüber geärgert, 
daß er seinen Pfeil nicht einen Zoll mehr nach rechts plaziert hatte. 

»Was sonst gibt es an Neuigkeiten?« erkundigte er sich. 
»Baldur von Torstein ist zum Schloß gekommen«, teilte der treue 

Meininger mit. 

»Ah, sicher ist der Kerl da, um den Speichel des Sterbenden zu 

lecken«, vermutete Otmar von Lützen. 

»Es sieht danach aus, als ob er Ärgeres im Schilde führt, Herr! Er 

hat nämlich seine Tochter Martha mitgebracht und behauptet, daß es 
sich bei dem Mädchen tatsächlich um des Herzogs Kind handelt.« 

»Waaaaas?« 
»Es ist wahr, Herr!« 
»Dieser Schurke, dieser Lump, dieser Betrüger, dieser ...« Dem 

Freigrafen fehlten die Worte. »Und der Herzog ist auf diese dreiste 
Lüge eingegangen?« 

»Noch nicht«, berichtete Meininger. »Gegenwärtig erlaubt es der 

Zustand des Herzogs nicht, ihn mit irgend jemandem sprechen zu 
lassen.« 

»Das ist gut«, sagte Otmar von Lützen ein bißchen erleichtert. 

»Wenn ich mir vorstelle, daß diese dumme Pute Martha auf dem 
herzoglichen Thron sitzt... Hast du mir sonst noch etwas zu 
berichten?« 

»Nichts Wesentliches. Es sind zwar mehrere Personen ins Schloß 

gekommen, die sich als verstoßene Tochter des Herzogs ausgaben. 
Aber sie konnten samt und sonders als Erbschleicher entlarvt und 
gebührend bestraft werden.« 

Der Freigraf nickte. »So kehre zum Hof zurück. Und wenn sich 

etwas Neues ergibt...« 

»... werde ich Euch unverzüglich ins Bild setzen.« 

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Der Getreue machte eine Verbeugung und entfernte sich dann. 
Grüblerisch blickte ihm Otmar von Lützen nach. Noch tief in 

Gedanken versunken wandte er sich schließlich wieder der 
Erneuerung der Burgmauer zu, die trotz  der abendlichen Dunkelheit 
eifrig fortgesetzt wurde. Der helle Schein eines lodernen Feuers 
erlaubte es den Männern, auch zur vorgerückten Stunde 
weiterzuarbeiten. 

Eine Weile später hatte Otmar von Lützen Gelegenheit, mit einem 

anderen seiner Vertrauten zu sprechen, die er ausgesandt hatte, um 
Erkundigungen einzuziehen. Und was er diesmal erfuhr, war schon 
mehr nach seinem Geschmack. 

»Wir haben uns unter dem Volk umgehört«, berichtete sein 

Gewährsmann. »Zwei junge Frauen, die in jener Zeit elternlos 
aufgefunden wurden, kämen vielleicht als Tochter des Herzogs in 
Frage. Bei der einen handelt es sich um eine Räuberbraut, die man 
die Schwarze Sitta nennt.« 

Der Freigraf verzog das Gesicht. »Eine Mörderin auf dem 

Herzogsthron  - unser Land geht großen Tagen entgegen. Und die 
andere?« 

»Wurde von einem Köhler namens Gislevert in Obhut genommen! 

Wo sich die Weiber allerdings heute aufhalten ...« Der Gewährsmann 
zuckte die Achseln. 

Am besten wäre es, wenn sie in der Hölle braten! dachte der 

Freigraf hoffnungsvoll. 

Aber verlassen wollte er sich darauf lieber nicht. 

Eine knappe Stunde etwa mochte vergangen sein, seit Roland 
eingeschlafen war, da schreckte er schon wieder hoch. Irgend etwas 
hatte ihn geweckt. 

Ein Geräusch? Ein Schrei? 
Roland war sich nicht sicher. In jedem Fall aber hatte es sich um 

etwas Verdächtiges gehandelt. 

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Er setzte sich auf dem Lager auf, lauschte angestrengt. 
Da war es wieder... huschende Schrittgeräusche, unterdrückte 

Männerstimmen. 

Roland zögerte keine Sekunde, sprang sofort aus dem Bett. Da die 

Stube nicht geheizt war, hatte er den größten Teil seiner Kleidung 
anbehalten. Deshalb war er jetzt sofort bereit, nach draußen zu eilen. 

Bevor er dies tat, hämmerte er an die Wand des Nebenraums, in 

dem seine beiden Knappen Unterkunft gefunden hatten. 

»Louis, Pierre!« rief er halblaut. 
»Ja, Ritter Roland«, bekam er sofort zur Antwort. »Wir sind bereits 

wach.« 

Der Ritter mit dem Löwenherzen lächelte flüchtig. Louis war ein 

Mann, auf den man sich verlassen konnte. 

Einen besseren Knappen hätte er sich gar nicht wünschen können. 
Er huschte zur Tür, nicht ohne vorher nach seinem Schwert zu 

greifen. Ein Ritter ohne Schwert war nur ein halber Ritter. 
Geräuschlos öffnete er, lauschte wieder. 

Die Gästezimmer lagen im ersten Stock des Holzhauses, während 

die Wirtsleute und ihre Tochter unten wohnten. Und dort unten ging 
etwas vor. Ein Poltern wurde laut, dann der Schrei einer Frau. 

Das genügte, um Roland zu äußerster Eile zu veranlassen. Er flog 

die Treppenstufen förmlich  hinunter. Beinahe wäre er dabei gestürzt, 
denn im Haus war es so finster wie in einer tiefen Höhle. Mit einiger 
Mühe schaffte er es, den Fall abzuwenden. 

Wieder hörte er den Schrei... 
Er kam von rechts, da war er sich ganz sicher. Mit der 

Schwertspitze tastete er sich an der Wand entlang, fand eine Tür. 
Sofort stieß er die Tür auf. 

Ein kühler Luftzug schlug ihm entgegen. Das Fenster des Raums 

stand offen. Und im Rahmen dieses Fensters ... 

Schattenhafte Gestalten, die sich gegen den etwas helleren 

Hintergrund der Mondnacht abhoben. 

Gestalten, die zweifellos in ein Handgemenge verwickelt waren! 
Roland sprang in die Stube hinein, sein Schwert kampfbereit in der 

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Faust. 

»Halt!« rief er. 
Ein zerquetschter Fluch wurde laut. Dann kam es zu hastigen 

Bewegungen, die darauf hindeuteten, daß die Flucht durch das 
Fenster geplatzt war. 

Dazu wollte es der Ritter mit dem Löwenherzen nicht kommen 

lassen. Er stürmte auf das Fenster los. 

Jetzt konnte er etwas mehr sehen. Bei den Gestalten handelte es 

sich um drei Männer und eine Frau. Und die Frau war niemand 
anders als die schöne Hilda. 

Roland brauchte sich nicht lange zu fragen, wer die Männer waren. 

Sie gehörten zu der Räuberbande, deren unliebsame Bekanntschaft er 
am Abend gemacht hatte. Ganz offenbar hatten sich die Kerle nur 
zum Schein vom Wirtshaus entfernt, um dann später 
zurückzukommen. Wahrscheinlich weil sie abwarten wollten, daß 
alles im Haus eingeschlafen war. 

Und warum waren sie zurückgekommen? Um die Wirtstochter zu 

entführen! So sah es jedenfalls aus. 

Roland schätzte sich glücklich, daß er gerade noch im rechten 

Augenblick auf der Bildfläche erschienen war. Eine Minute später 
und er hätte nichts mehr ausrichten können. So jedoch ... 

Er wollte nicht das Risiko eingehen, das Mädchen mit dem 

Schwert zu verletzen. Deshalb ließ er die Waffe gedankenschnell 
fallen und stürzte sich mit bloßen Händen auf das Räuberpack. 

Er bekam den ersten Mann zu packen, riß ihn mit 

unwiderstehlicher Kraft von dem Mädchen weg. 

Der Kerl wehrte sich, versuchte, Roland seine geballte  Faust ins 

Gesicht zu schlagen. Aber Roland verstand es, nicht nur mit dem 
Schwert umzugehen. Auch im Kampf ohne Waffen war er bestens 
bewandert. Der Räuber bekam es zu spüren. Blitzschnell nahm er 
den Kopf zur Seite, so daß der Hieb seines Widersachers  ins Leere 
ging. Dann schlug er seinerseits zu. Er traf den Burschen seitlich am 
Kopf. Und die Wirkung seines Schlags war umwerfend  - im 
wahrsten Sinne des Wortes. Der Mann kippte zur Seite und blieb 

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reglos liegen. 

Die beiden anderen schafften es in diesem  Augenblick, durch das 

Fenster nach draußen zu gelangen. 

Mit ihrem Opfer! 
Roland bewies, daß man ihn nicht umsonst den Ritter mit dem 

Löwenherzen nannte. Er hatte nicht nur den Mut des edlen 
Wüstentiers, sondern auch dessen unvergleichliche Kampfkraft. Mit 
einem mächtigen Sprung setzte er den beiden Entführern nach. Mit 
federnden Knien kam er auf dem festgetretenen Erdboden vor dem 
Haus auf. Die Kerle hatten sich noch nicht weiter als zwei, drei 
Körperlängen von ihm entfernt. 

Diese Entfernung hatte Roland im Nu überbrückt. Ehe es sich die 

beiden Räuber versahen, krallten sich seine Hände in ihr struppiges 
und wahrscheinlich verlaustes Haar. Dann hämmerte er die beiden 
Köpfe mit einer ruckartigen Bewegung gegeneinander. Es gab ein 
dumpfes Geräusch und einen tiefen Stöhnlaut, der aus einem 
einzigen Mund zu kommen schien. Die beiden Körper wurden 
schlaff in Rolands Händen. Er ließ sie fallen wie zwei Säcke Hafer. 

Auch das Mädchen sank zu Boden. 
Roland war sofort neben ihr und ging in die Knie. 
»Bist du verletzt, mein Kind?« 
Die schöne Hilda seufzte. »Nein, ich ... glaube nicht.« 
Erleichtert atmete der Ritter mit dem Löwenherzen auf. Es war 

wohl nur Mattigkeit gewesen, die die junge Frau von den Beinen 
gebracht hatte. 

Ihm blieb jetzt nicht die Zeit, sich weiter um das Mädchen zu 

kümmern. Die drei Kerle, die er niedergeschlagen hatte, waren nicht 
die einzigen Gegner. Aus dem Haus hörte er Kampfgeräusche. 
Offenbar schlugen sich dort Pierre und Louis mit anderen Angehö-
rigen der Räuberbande herum. 

Und auch hier draußen vor dem Haus trieben sich noch zwei von 

ihnen herum. Sie kamen näher, dunkle Schatten, die fast mit der 
Wand des Hauses verschmolzen. 

»Schinder, bist du das?« drang eine Stimme voller Argwohn auf 

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Roland ein. 

Roland sprang hoch wie ein Pfeil, der von der Bogensehne 

schnellte. Mit drei, vier langen Sätzen hatte er die beiden 
Tunichtgute erreicht. 

»Das ... ist nicht der Schinder! Das ist ...« 
Weiter kam der Mann nicht. Roland ließ seine rechte Faust nach 

vorne fliegen und traf das Gesicht des Kerls mit der Gewalt eines 
Schmiedehammers. Der Kopf des Getroffenen flog zurück, als habe 
ihn ein Ochse getreten. Er kam nicht einmal mehr dazu, einen 
Wehlaut auszustoßen, so schnell versank er in der abgrundtiefen 
Schwärze einer lang anhaltenden Ohnmacht. 

Der zweite Räuber war gewitzter, machte eine blitzschnelle 

Bewegung. Im Licht des Mondes sah der Ritter mit dem 
Löwenherzen eine Messerklinge blinken. 

Mit einem Knurrlaut sprang ihn der Kerl an. Im letzten Augenblick 

gelang es Roland, dem hinterhältigen Stoß mit dem Messer 
auszuweichen. 

Der Räuber geriet ins Straucheln, schaffte es aber, sein 

Gleichgewicht zu bewahren. Er fuhr herum, wollte sogleich wieder 
mit der Klinge auf Roland los. 

Diesmal jedoch war der Ritter mit dem Löwenherzen vorbereitet. 

Er fing den zustoßenden Arm ab und riß ihn nach oben. Dann machte 
er eine halbe Körperdrehung, die der Angreifer wohl oder übel 
mitmachen mußte. Seinem Arm bekam das allerdings gar nicht. Der 
Mann stieß einen markerschütternden Schrei aus, als der Arm aus 
dem Schultergelenk sprang. Roland konnte es sich sparen, diesen 
Räuber niederzuschlagen. Er war ganz bestimmt kein 
ernstzunehmender Gegner mehr. 

Tatendurstig blickte sich Roland nach dem nächsten Kerl um. Aber 

er sah keinen mehr. Dafür wurde plötzlich Hufgetrappel laut, das 
sich schnell entfernte. Offenbar suchte der Rest der Räuberbande 
sein Heil in der Flucht. 

Dann hörte Roland die Stimme Louis'. Der Knappe war 

üblicherweise kein Mann, der sich so leicht aus der Fassung bringen 

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ließ. Jetzt jedoch schwang in seiner Stimme das helle Entsetzen mit. 

»Ritter Roland, kommt schnell! Es ist etwas gar Schreckliches 

geschehen!« 

Roland bekam ein drückendes Gefühl in der Gegend, wo der 

Magen saß. Er hatte eine ganz bestimmte, düstere Ahnung. 

Und nachdem er ins Haus geeilt war und die Kammer des 

Schankwirts und seiner Frau betrat, sah er seine Ahnungen bestätigt. 

»Wir sind zu spät gekommen«, sagte Pierre, der eine brennende 

Fackel in der Hand hielt. »Zwar konnten wir die Kerle und das junge 
Teufelsweib verjagen, aber das Entsetzliche war bereits 
geschehen...« 

Roland wandte den Blick ab. 
Er konnte den Anblick Gisleverts und Marias, die blutend dalagen, 

nicht länger ertragen. 

Der Knappe Markus fühlte sich alles andere als wohl in seiner Haut. 
Sein Herr verlangte verdammt viel von ihm. 

Zuerst die verrückte Sache mit der falschen Zeugenaussage, Und 

nun auch noch das Unternehmen gegen die ehemalige Amme Anna 
Ochsenschwanz. Beide Angelegenheiten gingen ihm gegen den 
Strich und waren auch sicherlich nicht mit der ritterlichen Ehre in 
Einklang zu bringen. Aber was sollte er machen? Trotz seines 
fortgeschrittenen Alters hatte er die Hoffnung, eines Tages doch 
noch selbst in den Ritterstand erhoben zu werden, nicht aufgegeben. 
Und wenn ihm einer zum Ritterschlag verhelfen konnte, dann nur 
Freigraf Baldur von Torstein. Dies war für Markus Grund genug, 
allen Befehlen seines Herrn widerspruchslos Folge zu leisten, auch 
wenn er sie in seinem Innersten zutiefst ablehnte. 

Auf Geheiß des Freigrafen hatte er das herzogliche Schloß sofort 

wieder verlassen, nachdem es von Torstein gelungen war, unauffällig 
den derzeitigen Aufenthaltsort der Anna Ochsenschwanz 
festzustellen. Er hatte ein paar Männer um sich geschart, die dem 

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Freigrafen treu ergeben waren, und sich auf den Weg nach Mühlbach 
gemacht. In diesem kleinen Dorf hausten Verwandte der ehemaligen 
Amme, halbfreie Bauern, denen sie gelegentlich einen Besuch 
abstattete. 

Es war tiefe Nacht, als Markus und seine Helfershelfer Mühlbach 

erreichten. Wie die meisten Ansiedlungen dieser Art lagen die 
einzelnen Gehöfte und Katen weit auseinandergezogen und 
gruppierten sich lose um die Kirche als zentralen Mittelpunkt. Um 
diese Zeit lagen sämtliche Anwesen wie tot da. Mensch und Tier 
schliefen, nachdem sie einen anstrengenden Tag voll harter Arbeit 
und Mühsal hinter sich gebracht hatten. 

Das richtige Haus zu finden, bereitete den Männern keine Mühe. 

Es entsprach genau der Beschreibung, die Markus bekommen hatte  - 
ein Gehöft ganz am Rande des Dorfes, dessen hervorstechendes 
Merkmal eine überdurchschnittlich große Scheune war. 

Die vier Männer trafen sorgfältige Sicherheitsvorkehrungen. Gut 

hundert Klafter von ihrem Ziel entfernt stiegen sie von ihren 
Reittieren und  leinten sie an einer kleinen Baumgruppe in 
unmittelbarer Nähe des Dorfbaches an. Um nicht erkannt zu werden, 
banden sie sich graue Tücher vor das Gesicht. Markus' Begleiter 
schienen Spaß an der Maskerade zu haben. Sie lachten und machten 
sich über ihr Aussehen lustig. Der Knappe selbst hingegen fühlte sich 
ganz und gar nicht heiter gestimmt. Mehr und mehr kam er sich vor 
wie ein gemeiner Wegelagerer. Am liebsten hätte er das 
Unternehmen abgeblasen, bevor es richtig begann. Aber natürlich tat 
er dies nicht. Das Wohlwollen des Freigrafen, das er sich unter 
keinen Umständen verscherzen wollte, gab letzten Endes den 
Ausschlag. Er verdrängte seine Gewissensbisse und tat, was getan 
werden mußte. 

Auf Schusters Rappen näherten sich die Vertrauten Baldur von 

Torsteins dem abgelegenen Gehöft. Die Gebäude lagen in völliger 
Dunkelheit. Nirgendwo brannte ein Licht. Allein der fahle Schein des 
fast runden Mondes ließ die Szenerie nicht stockfinster erscheinen. 

Aber es war nicht totenstill auf dem Gehöft. Als die Männer noch 

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fast zehn Klafter entfernt waren, schlug ein Hund an. Sein heiseres, 
wütendes Bellen hallte über den Hof und hätte einen Toten wieder 
lebendig machen können. 

»Verdammter Köter«, knurrte Markus. »Wir müssen ihn 

schnellstens zum Schweigen bringen.« 

Einer seiner Leute zückte einen Hirschfänger. »Das werden wir 

gleich haben!« 

Der Mann huschte davon und wurde von der Dunkelheit 

verschluckt. Markus und die anderen rückten unterdessen weiter 
gegen das Gehöft vor, langsam und vorsichtig, jederzeit darauf 
gefaßt, irgend jemandem in die Arme zu laufen. 

Weiter kläffte der Hund, laut und durchdringend. Nicht mehr lange 

allerdings. Sein Bellen brach urplötzlich ab, wich einem heiseren 
Gurgeln. Danach war Stille. 

Markus und die beiden anderen Männer erreichten den Hof. Der 

vierte, der den Hund erledigt hatte, gesellte sich wieder zu ihnen. Er 
blutete an der rechten Hand und schüttelte wütend den verletzten 
Arm. 

»Hoffentlich hat keiner gehört...« 
Den Rest des Satzes konnte sich Markus sparen. Eine dunkle 

Gestalt trat aus dem Haus, blickte sich,, suchend nach allen Seiten 
um und sah die Getreuen des Freigrafen sofort. 

Aber Markus war wachsam. 
»Packt ihn!« zischte er. 
Seine Begleiter verloren keine Zeit. 
In Sekundenschnelle waren sie bei dem Gehöftsbewohner. Vier 

starke Hände hielten seine Arme fest. Der Mann, der den Hund 
beseitigt hatte, setzte ihm den Hirschfänger an die Kehle. 

»Ein lautes Wort, und du bist tot!«  
»Ja«, kam die angstvoll gehauchte Antwort. 
Jetzt wurde offenbar, daß die vier Männer eine Frau  in ihre Gewalt 

gebracht hatten, eine Frau, die aus der ersten Blüte heraus war, aber 
noch längst nicht zu den Alten gehörte. 

Anna Ochsenschwanz? fragte sich Markus hoffnungsvoll. Das 

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würde vieles erleichtern... 

»Wer bist du?« fragte er halblaut. 
»Amalia ... Ochsenschwanz.« 
Nicht die Amme also, stellte der Knappe leicht enttäuscht fest. 

Eine Schwester vielleicht oder sonst irgendeine Verwandte. 

»Wo finden wir Anna?« wollte er wissen. 
Die Frau zitterte, hatte die Augen weit aufgerissen. Die maskierten 

Männer erfüllten sie mit offenkundigem Entsetzen. 

»An ... na?« wiederholte sie stockend. »Was wollt Ihr von ...« 
»Antworte, sonst...« 
Der Mann mit dem Hirschfänger preßte die Klinge etwas stärker 

gegen den Hals der Frau und rief dadurch ein furchtsames Stöhnen 
hervor. 

»Anna ist... da!« Mit dem Kopf deutete die Frau auf ein Fenster, 

das durch vorgeschobene Holzladen gesichert wurde. 

»Dort schläft sie?« 
»Ja!« 
»Allein?« 
Ein krampfhaftes Nicken war die Antwort der verängstigten Frau. 

Daß sie ihre Verwandte dadurch ans Messer geliefert hatte, wurde ihr 
anscheinend im Augenblick noch gar nicht so richtig bewußt. Sie tat 
Markus beinahe leid. 

»Was machen wir mit ihr?« fragte der Mann mit dem Hirschfänger 

im Flüsterton. 

Markus überlegte. Amalia Ochsenschwanz laufenlassen? Das kam 

nicht in Frage, denn die Frau würde zweifellos Alarm schlagen, 
wenn sie sich wieder ein bißchen gefaßt hatte. Sie umbringen? Das 
widerstrebte ihm, aber wenn es keine andere Möglichkeit gab... 

Da kam ihm ein anderer Gedanke. 
»Wir nehmen sie mit«, entschied er. 
»Mitnehmen?« Der Mann mit dem Hirschfänger war von dem 

Gedanken gar nicht sonderlich angetan. »Aber wir können doch 
nicht...« 

»Ich erkläre es dir später«, sagte Markus kurz und knapp. 

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Im Beisein von Amalia Ochsenschwanz  konnte und wollte er seine 

Überlegungen nicht offen ausbreiten. Dabei lagen diese eigentlich 
auf der Hand. Wenn nur Anna Ochsenschwanz verschleppt wurde, 
bestand durchaus die Möglichkeit, daß gescheite Köpfe einen 
Zusammenhang zwischen der Entführung und dem Wissen der 
Amme und des Herzogs Tochter sahen. Wenn jedoch noch eine 
zweite Frau verschwand, mochte es sich um die Tat von Räubern 
handeln, die sich ein paar Bettgenossinnen beschaffen wollten. Dies 
wäre nicht das erste Mal gewesen, daß dergleichen geschah. 

Während einer der Männer der Frau einen Stoffetzen in den Mund 

würgte und sie festhielt, näherten sich Markus und die beiden 
anderen dem Fenster, hinter dem Anna Ochsenschwanz' Stube lag. 
Die ehemalige Amme schien ebenso wie alle anderen 
Gehöftbewohner tief und fest zu schlafen. Offenbar hatte der 
Zwischenfall mit dem Hund nur die eine Frau hochschrecken lassen. 

Mit Hilfe des Hirschfängers war der Holzladen schnell und auch 

fast geräuschlos geöffnet. Der Vorhang aus rohem Tuch wurde 
zurückgeschlagen, und dann war der Weg in die Kammer frei. 

Ja, da war jemand. Im schwachen Licht des Mondscheins 

zeichneten sich die Umrisse einer schlafenden Gestalt auf dem Lager 
ab. Jetzt kam Bewegung in die Schlafende. Anscheinend hatte sie 
doch etwas gehört und war nun im Begriff, aufzuwachen. 

Der Mann mit dem Hirschfänger erkannte diese Gefahr sofort. 

Ohne daß Markus eine Anweisung geben mußte, war er neben dem 
Lager. Die Frau fuhr hoch. 

Und spürte im nächsten Augenblick den kalten Stahl der Klinge an 

ihrem Hals! 

Markus huschte herbei. »Anna Ochsenschwanz?« 
Die Frau, etwa so alt wie ihre Verwandte und noch sehr 

ansehnlich, war sprachlos vor Angst und Entsetzen. Erst auf Markus' 
erneute Frage brachte sie ein gequetschtes Ja hervor. 

Der Knappe machte keine langen Umstände. Auch diese 

Angehörige der Sippe Ochsenschwanz wurde geknebelt. Sie zu 
binden, erwies sich als überflüssig. Ihre Furcht war viel zu groß, um 

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sich zu wehren oder gar einen Fluchtversuch zu unternehmen. Wi-
derstandslos ließ sie sich von ihrem Lager hochzerren und durch das 
Fenster nach draußen bringen, wo ihre Verwandte bereits wartete. 

Noch immer regte sich nichts im Gehöft. Keiner der übrigen 

Bewohner ahnte, was geschehen war. 

Wenig später waren die vier Männer mit ihren beiden Gefangenen 

in der Dunkelheit verschwunden. 

Fassungslos blickte die schöne Hilda auf ihre reglos daliegenden 
Eltern. Sie war so geschockt, daß sie noch nicht einmal Tränen 
vergießen konnte. 

»Warum nur?« fragte sie immer wieder mit fast tonloser Stimme. 

»Warum nur haben diese Menschen das getan?« 

Diese Frage konnte ihr Roland auch nicht beantworten. Es war 

offenkundig, daß Gislevert und seine Frau Maria im Schlaf 
überrascht und umgebracht worden waren. Die beiden hatten keine 
Gelegenheit gehabt, sich zu wehren, so schnell war der Tod 
gekommen. Es handelte sich ohne Frage um einen vorsätzlichen, 
genau geplanten Meuchelmord. Die Gründe, aus denen Hanns der 
Bär und seine Bande das Wirtsehepaar getötet hatten, lagen im 
verborgenen. 

Aber der Ritter mit dem Löwenherzen war fest entschlossen, Licht 

in das Dunkel zu bringen. Er verließ das Sterbezimmer, eilte wieder 
nach draußen. Eine Handvoll Räuber hatte er vorhin 
niedergeschlagen, bevor er durch die Alarmrufe aus dem Haus von 
den Kerlen abgelenkt worden war. Es mußte doch mit dem Teufel 
zugehen, wenn nicht mindestens noch einer des mörderischen 
Gesindels in seine Hände fallen würde. 

Wild blickte er sich nach allen Seiten um. Bei allen Erzengeln, wo 

waren die Schurken geblieben? Vor wenigen Minuten noch hatten sie 
bewußtlos auf dem Boden gelegen. Jetzt jedoch konnte er keinen 
einzigen mehr von ihnen ausmachen. 

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Dann sah er jenseits des Weges Bewegung. Mehrere Gestalten, nur 

höchst undeutlich zu erkennen, entfernten sich vom Schankhaus. 

Roland lief bereits. Sein Schwert war ihm vorhin entfallen, und er 

hatte bisher keine Gelegenheit gehabt, die Waffe wieder an sich zu 
nehmen. Aber das kümmerte ihn jetzt überhaupt nicht. Sein Zorn war 
so groß, daß er es auch mit einem Dutzend Räubern gleichzeitig 
aufgenommen hätte - mit blanken Fäusten. 

Mit großen Sätzen jagte er den Flüchtenden nach. Und es war ihm 

dabei auch völlig gleichgültig, ob sie sofort oder erst später auf ihn 
aufmerksam wurden. 

Rasch verkürzte er den Abstand, überraschend rasch sogar. Jetzt 

konnte er auch erkennen, wieso er so schnell näherkam. Drei Männer 
waren es, die das Weite suchten. Aber nur zwei von ihnen waren des 
Gehens mächtig. Der dritte hatte offensichtlich das Bewußtsein noch 
nicht wiedererlangt und wurde von den anderen beiden getragen. 

Es war sicherlich keine reine Freundestreue, die die Kerle zu ihrem 

Hilfsdienst veranlaßt hatte. Natürlich fürchteten sie, daß ein 
Zurückgelassener mehr ausplaudern würde, als für die anderen gut 
war. 

Ein solcher Gedankengang traf den Nagel auf den Kopf, denn er 

deckte sich voll und ganz mit Rolands eigenen Überlegungen. 

Inzwischen hatten die flüchtenden Räuber gemerkt, daß sich 

jemand an ihre Fersen geheftet hatte. Im Mondlicht war zu erkennen, 
daß sie die Köpfe zurückdrehten und dann ihre Fluchtanstrengungen 
verstärkten. 

Aber der Ritter mit dem Löwenherzen ließ sich nicht abhängen. 

Näher und näher kam er heran. 

Das merkten die Räuber nun auch. Fast ruckartig machten sie halt. 

Sie ließen ihren Spießgesellen zu Boden fallen und fuhren herum. 
Messer blitzten auf. 

Roland verhielt seinen Schritt. Er fürchtete diese beiden Männer 

nicht, aber er hatte auch nicht vor, sich leichtfertig in Gefahr zu 
begeben. 

»Kommt nur her, Herr Ritter!« stieß der eine hervor. »Einmal habt 

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Ihr uns überrascht. Ein zweites Mal wird Euch das nicht gelingen!« 

Langsam, ganz langsam jetzt, ging Roland auf die Räuber zu. 

Diese beiden und der eine, der bewegungslos auf dem Boden lag, 
waren die letzten, die noch nicht geflohen waren. Einen von ihnen 
mußte er haben, wenigstens einen. 

Geduckt wie große Katzen standen die zwei Meuchelmörder da, 

das Messer stoßbereit in der erhobenen Faust. Aber Roland ließ sich 
dadurch in keiner Weise beeindrucken. Furchtlos schritt er auf die 
üblen Gesellen zu. 

Die Räuber spürten diese Furchtlosigkeit. Und sie erinnerten sich 

wohl daran, wie übel der Ritter ihnen vorhin mitgespielt hatte. Sie 
bekamen es mit der Angst zu tun, wollten sich lieber doch nicht 
erneut auf ein Handgemenge mit diesem mächtigen Kämpfer 
einlassen. Deshalb versuchten sie, sich des Gegners auf eine andere 
Weise zu erwehren. 

Sie verständigten sich mit ein paar geknurrten Lauten. Dann bogen 

sie gleichzeitig den Arm zurück, ließen ihn dann wieder nach vorne 
schnellen. Die beiden Messer lösten sich aus ihren Fingern, jagten 
wie silberne Blitze auf Roland los. 

Der Ritter mit dem Löwenherzen sah die Messer im Mondlicht 

kommen. Sie waren zu schnell, um rechtzeitig zur Seite zu springen. 
Roland schaffte es noch gerade, Kopf und Oberkörper zur Seite zu 
reißen. 

Das eine Messer zischte haarscharf an seinem Ohr vorbei, so dicht, 

daß er den Luftzug spürte. Dem zweiten Geschoß jedoch konnte er 
nicht mehr ausweichen. Es traf seine Schulter, eine Handbreit über 
dem Herzen. 

Roland trug nicht wie gewohnt sein Kettenhemd, da er dieses 

abgelegt hatte, als er sich zur Nachtruhe begab. Dies zeitigte jetzt 
böse Folgen. Sein Oberkörper war ungeschützt. Ungehindert drang 
die Klinge in seine Schulter ein. 

Ein mörderischer Schmerz durchzuckte den Ritter. Ihm war, als 

würde sich glühendes, flüssiges Eisen in seiner Brust ausbreiten. Er 
strauchelte, wäre beinahe zu Boden gestürzt. 

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Die beiden Räuber stießen einen Triumphschrei aus. Sie sahen sich 

bereits als Sieger. 

Aber sie hatten ihre Rechnung ohne den Wirt gemacht. Roland 

achtete nicht weiter auf den schneidenden Schmerz, der in seiner 
Schulter tobte. Und auch die augenblickliche Schwäche, die ihn 
überkommen hatte, überwand er in Sekundenschnelle. Aufrecht und 
entschlossen ging er weiter auf die üblen Gesellen zu. Ja, er 
beschleunigte seine Schritte sogar noch, war den Kerlen jetzt zum 
Greifen nahe. 

Höllische Angst überkam die Räuber. Ein Mann, dem ein Messer 

tief in der Brust steckte und der dennoch ungebrochen weiterschritt, 
einen solchen Mann hatten sie noch nie erlebt.  Er kam ihnen vor wie 
eine Gestalt, die nicht von dieser Welt stammte. 

Sie drehten sich auf dem Absatz um und rannten davon, als sei ein 

böser Geist hinter ihnen her. Schnell waren sie so weit entfernt, daß 
nur noch ihre hastenden Schritte von ihrer Gegenwart kündeten. 
Dann verklangen auch diese. 

Roland ließ sie laufen. Er hatte sein Ziel erreicht, denn der 

Bewußtlose war von seinen Spießgesellen zurückgelassen worden. 
Diesen Mann hatte er sicher. 

Jetzt spürte er den Schmerz in der Schulter wieder sehr deutlich. 

Am liebsten hätte er sich das Messer aus der Wunde gerissen. Aber 
das tat er nicht, wohl wissend, daß dies eine starke Blutung nach sich 
ziehen würde. 

Er biß die Zähne zusammen, bemühte sich, nicht auf die Pein zu 

achten. Er trat an den Mann heran, der auf dem Boden lag. Lebte der 
Geselle überhaupt noch, oder war er am Ende gar längst tot? 

Ja, er lebte noch. Als sich Roland zu ihm hinunterbeugte, fühlte er 

das Schlagen des Herzens. Lange würde es wohl nicht mehr dauern, 
bis er die Augen wieder aufschlagen konnte. 

Roland packte den Burschen unter Achseln und Knien und zerrte 

ihn hoch. Unwillkürlich stöhnte er auf, denn die Anstrengung bekam 
der Wunde ganz und gar nicht. Für eine Sekunde wurde ihm sogar 
regelrecht schwarz vor den Augen. Aber auch das  ging wieder 

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vorbei. Es gelang ihm, den Bewußtlosen auf den Rücken zu nehmen. 
Dann machte er sich auf den Rückweg zum Haus. 

Louis kam ihm entgegen. Der Knappe stieß einen Entsetzensschrei 

aus, als er das Messer in der Schulter seines Herrn sah. 

»Ritter Roland, seid Ihr ...« 
»Halb so wild«, preßte Roland hervor. »Wenn du mir nur diesen 

Kerl abnehmen würdest...« 

Der Knappe griff sofort zu und packte sich den Räuber auf seinen 

eigenen Rücken. Gegen den Recken Roland wirkte sein sehniger, 
schlanker Körper beinahe schmächtig. Aber das sah natürlich nur auf 
den ersten Blick so aus. Tatsächlich war auch Louis ein Mann, der 
über die Stärke und Geschmeidigkeit eines Raubtiers verfügte. 

Wachsam blickte sich der Knappe nach allen Seiten um. 
»Keine Bange«, sagte Roland, »die Halunken haben alle das Weite 

gesucht. Und ich glaube, wir brauchen nicht damit zu rechnen, daß 
sie wiederkommen.« 

Gemeinsam gingen die beiden Männer zurück ins Haus. Pierre 

verschluckte sich fast, als er das Messer sah, das mittlerweile 
förmlich im Blut zu schwimmen schien. Auch das Mädchen erschrak 
zutiefst, vergaß im Augenblick sogar den Schmerz über den 
schrecklichen Verlust der Eltern. 

»Um Gottes willen, Herr Ritter. Ihr ... Ihr verblutet ja!« 
Dann zeigte sie, daß sie ein sehr gescheites und geschicktes 

Frauenzimmer war. Schnell hatte sie eine Schüssel Wasser und ein 
weißes, weiches Leinentuch geholt. Dann machte sie sich daran, den 
Ritter zu verarzten. 

Sie wurde blaß, als sie das Messer aus der Schulter zog. 
»Tut... es sehr weh?« 
»Überhaupt nicht«, erwiderte Roland lächelnd. »Wenn so zarte 

Hände zu Werke gehen ...« 

Das entsprach nicht so ganz der Wahrheit. In Wirklichkeit 

schmerzte seine Schulter höllisch. Aber er wäre lieber gestorben, 
bevor er das offen zugegeben hätte. 

Die Schmerzen wurden sogar noch schlimmer, als das Mädchen 

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die Wunde auswusch und ein bläuliches Pulver drauf streute. Aber 
das Pulver, bei dem es sich um Doppelsalz handeln mußte, tat 
unverzüglich seine Wirkung. Der Blutfraß kam fast zum Stillstand, 
so daß Hilda die Wunde gar prächtig verbinden konnte. In wenigen 
Minuten nur hatte sie die Arbeit getan. 

»Ist es so besser, Ritter?« 
»Viel, viel besser! Ich spüre fast gar nichts mehr!« antwortete 

Roland. 

Und in der Tat war eine spürbare Linderung eingetreten. Der 

stechende Schmerz war gewichen. Gegenwärtig spürte Roland nur 
noch einen dumpfen Druck und ein leichtes Ziehen. Er fühlte sich 
wieder so weit hergestellt, daß er sich um die wesentlichen Dinge 
kümmern konnte. 

Und dazu gehörte jetzt in erster Linie der gefangene Räuber. Noch 

immer war der Kerl, ein Bursche mit groben Gesichtszügen und wild 
wucherndem Bartwuchs, ohne Bewußtsein. Roland wollte aber auch 
nicht ausschließen, daß der Mann nur so tat, als sei er ohnmächtig, 
und in Wirklichkeit auf eine günstige Gelegenheit zur Flucht lauerte. 
Das wäre ihm allerdings nie gelungen, denn Louis paßte auf, als habe 
er seinen eigenen Augapfel zu bewachen. 

Roland hatte wenig Neigung, bis in alle Ewigkeit auf das 

Erwachen des Halunken zu warten. Er sorgte für Nachhilfe, indem er 
die Waschschüssel nahm und über dem Kerl ausschüttete. 

Das half sofort. Prustend und spuckend fuhr der Räuber hoch. 

Keine Frage, er hatte tatsächlich nur eine Posse vorgeführt. 

Das Messer hatte Rolands linke Schulter verletzt. Sein rechter Arm 

war deshalb in keiner Weise beeinträchtigt. Hart griff er zu und 
packte den Räuber an der Halskrause. 

»Ich habe ein paar Fragen an dich, Bürschchen!« sagte er mit 

drohender Stimme. 

Der Räuber zuckte mit den Augenlidern, machte aber den Mund 

noch nicht auf. 

»Warum habt ihr den Schankwirt und seine Frau umgebracht?« 

wollte Roland wissen. »Und warum wolltet ihr die Tochter des 

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Hauses gewaltsam verschleppen?« 

»Ich ... wir ...« 
»Ja?« 
»Ich ... weiß nicht.« 
»So, so, du weißt es nicht! Nun, wir wollen doch mal sehen...« 

Roland knautschte den schmutzigen Stoffetzen, der sich um den Hals 
des Mannes schlang, so zusammen, daß dem Kerl die Luft wegblieb. 
Er lief rot an und bekam ganz große, entsetzte Augen. 

»Aufhören«, ächzte er halb erstickt. 
Roland lockerte seinen Griff ein bißchen. »Nun?« 
»Glaubt mir, Herr Ritter«, quetschte der üble Geselle hervor, »ich 

weiß wirklich nicht genau, warum wir diesen Überfall unternommen 
haben. Wir hatten es nicht auf Beute abgesehen, das ist gewiß. Es 
ging irgendwie um ...«, er warf einen schnellen Blick auf Hilda, 
»...das Mädchen. Sitta sah in ihr eine Rivalin, die beseitigt werden 
sollte. Und ihre Eltern sollten ebenfalls sterben, um sie zum 
Schweigen zu bringen.« 

»Sitta«, sagte Roland, »ist das die schwarzhaarige Frau, die mit 

euch am Tische saß?« 

»Die Schwarze Sitta, ja. Sie ist die Ziehtochter von Hanns dem 

Bär, unserem Anführer.« 

»Rivalin«, wiederholte Roland sinnend. Er sah die Wirtstochter an. 

»Bist du dieser Schwarzen Sitta jemals in die Quere gekommen, 
mein Kind?« 

»Niemals«, antwortete das Mädchen mit den rehbraunen Haaren. 

»Ich habe das Weib nie in meinem Leben gesehen!« 

»Dann verstehe ich nicht...« 
»Ich verstehe es auch nicht«, sagte Hilda mit funkelnden Augen. 

»Bestimmt lügt dieser Schweinesohn!« 

»Nein, nein«, versicherte der Räuber. »Hanns der Bär hat uns 

weitgehend im Ungewissen gelassen. Das schwöre ich beim Leben 
meiner Mutter!« 

»Du lügst«, sagte Hilda wieder. »Und du bist einer von jenen, die 

meine Eltern auf dem Gewissen haben.« Während sie das sagte, griff 

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sie nach dem Messer, das sie aus Rolands Schulterwunde gezogen 
hatte. 

Der Anblick des Messers und die damit verbundene Todesahnung 

verlieh dem Räuber ungeahnte Kräfte. Mit einem mächtigen Ruck riß 
er sich los und rannte zur Tür. Aber er erreichte sie nicht. Pierre 
strafte seine Bequemlichkeit Lügen und streckte blitzschnell ein Bein 
aus. Der flüchtende Halunke stolperte darüber und schlug lang hin. 

Auf die Füße kam er nicht wieder, denn im nächsten Augenblick 

war Louis über ihm. Damit war die Flucht des Kerls ein für allemal 
beendet. 

Der Knappe Markus wußte, daß höchste Eile geboten war. Der 
Freigraf erwartete ihn noch in dieser Nacht auf dem herzoglichen 
Schloß zurück. Und natürlich erwartete er auch, die Nachricht zu 
bekommen, auf die es ihm ankam. Markus blieb also nicht viel 
Spielraum. Anna Ochsenschwanz mußte ihr Geheimnis preisgeben. 
Unverzüglich ! 

Nur wenige Meilen von dem Dorf Mühlbach entfernt  - Markus und 

seine Begleitung durchquerten gerade ein zwischen zwei Hügeln 
eingebettetes Waldstück  - gab er auf einer kleinen, von Büschen und 
Bäumen geschützten Lichtung den Befehl zum Anhalten. 

Die Männer kletterten aus den Sätteln und hoben auch die Frauen 

von den Pferden.  Anna und Amalia Ochsenschwanz waren noch 
immer völlig verstört. Verständlicherweise gewiß, denn ihre 
Entführer hatten die Gesichtstücher noch immer vorgebunden und 
waren während des Rittes eine Antwort auf die angstvollen Fragen 
ihrer Opfer schuldig geblieben. Nicht ohne Grund rechneten die 
unglücklichen Frauen mit dem Schlimmsten, wenn sie auch sicher 
von falschen Beweggründen ausgingen, die sie den Männern im 
stillen unterstellten. 

Die Nacht war kühl, unangenehm kühl. Da zu dieser Stunde und an 

dieser Stelle kaum Lauscher zu befürchten waren, entzündeten die 

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Männer ein Feuer. Brennholz dazu fanden sie in Hülle und Fülle. 
Schnell schlugen die Flammen hoch, sorgten für Licht und Wärme. 

Markus ließ die Verwandte der Amme ein Stück zur Seite führen 

und von einem seiner Helfershelfer bewachen. Dann wandte er sich 
Anna Ochsenschwanz zu. 

Angst loderte in den Augen der Frau hoch. Ihre Mundwinkel 

zuckten krampfhaft. 

»Du brauchst keine Angst vor uns zu haben«, sagte der Knappe 

freundlich. »Es liegt nicht in unserer Absicht, deine Frauenehre zu 
beflecken, wie du wohl fürchtest.« 

Die Frau sagte nichts, blickte ihn nur an. Ihre Angst hatte sie aber 

keineswegs verloren. 

»Ich will nur eine Auskunft von dir«, fuhr Markus fort. »Das ist 

schon alles.« 

»Was ... was für eine Auskunft?« Die Stimme Anna 

Ochsenschwanz' klang belegt und stockend. 

»Der Name Berthild ist dir vertraut?« kam Markus ohne weitere 

Umschweife zur Sache. 

»Berthild?« 
»Des Herzogs Tochter, ja!« 
»Ich ... ja, ich kannte sie. Damals, als sie noch ein unschuldiges 

kleines Kind war. Ich habe sie an meiner Brust gesäugt!« 

Markus nahm diese Antwort als ein gutes Zeichen. Immerhin, sie 

leugnete nicht, die Amme der Herzogstochter gewesen zu sein. 

»Gut«, sagte er, »sehr gut. Wenn du dich so klar erinnerst, dann 

wirst du auch noch wissen, daß die kleine Berthild ein 
unverwechselbares Körpermerkmal besaß. Was war das für ein 
Merkmal?« 

Erst jetzt schien der Frau klar zu werden, auf was er eigentlich 

hinaus wollte. Ein Schatten huschte über ihr Gesicht. 

»Ich ... ich weiß nicht, wovon Ihr sprecht, Herr«, antwortete sie 

unsicher. 

Es war offensichtlich, daß sie log. Nur zu genau wußte sie, was er 

meinte. 

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Markus behielt seine Freundlichkeit bei. »Machen wir uns nichts 

vor, Anna Ochsenschwanz. Ich weiß alles! Und ich kann mir auch 
vorstellen, daß man dir am Hof des Herzogs befohlen hat, tiefstes 
Stillschweigen zu bewahren. Aber ich mache dir ein heiliges Ver-
sprechen: niemand wird jemals erfahren, daß du mir dein Geheimnis 
anvertraut hast. Du sagst mir jetzt, welches Merkmal die kleine 
Berthild hat. Gleich anschließend bringen wir dich und deine 
Verwandte zurück nach Mühlbach, und niemand wird wissen, daß 
wir uns überhaupt getroffen haben. Nun, ist das ein guter 
Vorschlag?« 

Die Frau zögerte, schüttelte dann den Kopf. 
»Nein«, sagte sie beinahe flüsternd, »ich darf es nicht sagen. Ich 

habe es geschworen! Und wenn ich meinen Eid breche, falle ich der 
ewigen Verdammnis anheim.« 

Noch einmal versuchte es der Knappe im Guten. »Dein Eid in 

hohen Ehren, Anna. Aber meinst du nicht, daß das hier eine 
Sinnesänderung wert sei?« 

Mit diesen Worten holte er einen kleinen Beutel hervor und 

schwenkte ihn hin und her. Das silberhelle Klingeln von 
Geldmünzen wurde hörbar. 

»Nun, Anna? Dieser Beutel gehört sofort dir, wenn du ...« 
»Nein! Ich verkaufe meine Seele nicht für alle Goldmünzen dieser 

Welt. Zu teuer müßte ich dafür in der jenseitigen Welt bezahlen!« 

Die freundliche Miene des Knappen war auf einmal wie 

weggewischt. 

»Nun«, sagte er, »wenn du die Freuden der diesseitigen Welt für 

gering erachtest... Wir wollen sehen, ob du auch ihre Schrecken nicht 
fürchtest!« 

Er gab den beiden Helfershelfern, die das Gespräch aufmerksam 

verfolgt hatten, einen Wink. 

»Reißt ihr die Kleider vom Leib!« 
Diesen Befehl brauchte er nicht zweimal zu geben. Die beiden 

Männer gehorchten sofort. Und ihr glucksendes Lachen verriet, daß 
sie es nur zu gern taten. Sie packten die Frau und legten Hand an sie. 

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Langsam, beinahe genüßlich fetzten sie der Frau die Kleidungsstücke 
vom Körper. Bald stand Anna Ochsenschwanz völlig nackt da. Ihr 
Wimmern und Flehen hatte die Männer nicht rühren können. 

Markus war erstaunt, welch prallen, gut erhaltenen Leib sie noch 

hatte. Ihre schweren, vollen Brüste hingen nur leicht nach unten, was 
um so erstaunlicher war, als sie ja früher fremder Frauen Kinder 
gestillt hatte. 

Die nächtliche Kälte ließ sie zittern. Ihr Körper überzog sich vom 

Kopf bis zu den Füßen mit einer Gänsehaut. 

Es gefiel dem Knappen gar nicht, was er jetzt tun mußte. Aber 

dann dachte er an den ersehnten Ritterschlag und hörte nicht auf die 
mahnende Stimme seines Gewissens. 

»Nun, willst du nicht lieber doch sprechen, Anna 

Ochsenschwanz?« 

Stumm schüttelte die Frau den Kopf. »Ich ... darf es nicht. Bei 

meiner Seele, habt Erbarmen, Herr!« 

Sie dauerte ihn zutiefst, aber er konnte und durfte ihr kein 

Erbarmen gewähren. Er beugte sich zum Feuer nieder und nahm 
einen brennenden Ast zur Hand, dessen dickes Ende noch nicht von 
den Flammen beleckt wurde. 

»Mir scheint, du frierst, Anna«, sagte er heiser. »Möchtest du dich 

etwas wärmen?« 

Ruckartig stieß er den Ast nach vorne und hielt ihn so, daß die 

züngelnden Flammen nur noch wenige Zoll vom Körper der Frau 
entfernt waren. 

Entsetzt schrie Anna Ochsenschwanz auf und versuchte 

zurückzuspringen. Aber das gelang ihr nicht. Die Helfer des 
Knappen hatten sie an den Armen gepackt und hielten sie 
unerbittlich fest. 

»Bitte, Herr«, flehte sie, »tut alles mit mir, nur das nicht. Tötet 

mich lieber!« 

»Du hast die Wahl«, antwortete Markus mit bemüht kalter Stimme. 

»Du brauchst mir nur zu sagen, was ich wissen will.« 

Einen Augenblick lang sah es so aus, als ob sie tatsächlich 

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sprechen würde. Aber das tat sie dann doch nicht. Sie preßte die 
Lippen fest aufeinander und schwieg. 

Der Knappe wollte die Flammen noch näher an ihren nackten 

Körper heranbringen, merkte aber, daß er dies nicht konnte. Er war 
nicht zum Folterknecht geboren, konnte seine inneren Skrupel nicht 
überwinden, auch wenn der Verstand ihm sagte, daß dies unbedingt 
erforderlich war. Er brachte es einfach nicht fertig, die unglückliche 
Frau, die jetzt mit entsagungsvoller Miene und geschlossenen Augen 
da stand, noch mehr zu quälen. 

Die beiden Helfershelfer merkten, was in ihm vorging. 
»Mangelt es dir an Entschlossenheit, Markus?« sagte der eine und 

lachte höhnisch. »Der Freigraf wird nicht entzückt von deiner lauen 
Feigheit sein!« 

Markus biß sich auf die Lippen, so fest, daß ein Blutstropfen 

hervortrat. 

Dieser Narr! 
Er hatte seinen Namen genannt und damit die ganze Maskerade 

hinfällig gemacht. Und er hatte auch den Freigrafen erwähnt. Die 
Amme wußte also jetzt Bescheid, wem sie dieses schreckliche 
nächtliche Erlebnis zu verdanken hatte. 

»Nun, Markus?« gab der Bursche noch immer keine Ruhe. »Wenn 

du dich nicht traust... Gib mir die Fackel! Ich werde keinen 
Augenblick zögern, den Wünschen unseres Herrn gefällig zu sein!« 
Verlangend streckte er die Hand aus. 

Der Knappe wußte, daß er keine Wahl hatte. Dem angestrebten 

Ziel so nahe zu sein und dann doch keinen Erfolg zu erzielen, das 
würde ihm Baldur von Torstein niemals verzeihen. Den ersehnten 
Ritterschlag konnte er für alle Zeiten vergessen. Mehr noch, der 
Freigraf würde ihn auch noch zusätzlich für seine Unbotmäßigkeit 
streng bestrafen. Mit einer müden Geste überreichte er dem 
Helfershelfer die lodernde Fackel. 

Wieder lachte der andere und packte den brennenden Ast mit fester 

Hand. Dann wandte er sich der zitternden Frau zu. 

»So«, sagte er heiter, »nun wollen wir doch mal sehen, ob du 

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deinen Schnabel nicht doch aufsperren wirst!« 

Anna Ochsenschwanz schrie gellend auf, begann dann 

herzzerreißend zu schluchzen. 

»Wartet«, stieß sie hervor, »ich... will sprechen!« Die Fackel wich 

zurück. »Das Erkennungszeichen der Herzogstochter ist...« Erneut 
stockte die Frau. 

»Sprich!« 
»Ein kleines Muttermal an der Innenseite ... des rechten 

Oberschenkels.« 

Fast lautlos hatte die Amme gesprochen. Wahrscheinlich stellte sie 

sich in Gedanken vor, wie unvergleichlich furchtbarer das 
Höllenfeuer im Vergleich zu den Flammen des Astes brennen würde. 

Der Helfershelfer sonnte sich in den Strahlen seines Triumphs. 

»Hast du gesehen, Markus? So muß man das machen!« 

Der Knappe goß Wasser in den Wein. »Du Narr«, raunte er ihm zu. 

»Jetzt kann sich die Amme leicht ausrechnen, in wessen Auftrag wir 
handeln. Du hast den Freigrafen erwähnt und mich mit meinem 
Namen angesprochen. Wozu wohl haben wir unser Gesicht 
verhüllt?« 

»Oh, Hölle und tausend Teufel«, stieß der andere hervor. »Das 

hatte ich nicht bedacht. Was tun wir nun?« 

Diesmal gab es keinen Ausweg, wußte Markus. Diesmal durfte  er 

die Stimme seines Gewissens nicht beachten. 

»Es gibt nur eine einzige Möglichkeit«, sagte er mit Grabesstimme. 
Der andere begriff sofort. »Du meinst...« 
»Weißt du eine andere Lösung?« 
»Nein!« 
Der Helfershelfer ließ den brennenden Ast fallen und griff wieder 

nach seinem Hirschfänger. 

Gellend schrie Anna Ochsenschwanz auf. 

»Was machen wir mit ihm?« fragte der Knappe Louis, während er 

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den Räuber mit starker Hand festhielt. »Er ist ein Mörder und hätte 
es verdient, auf dem schnellsten Weg in die Hölle  befördert zu 
werden!« 

»Gnade!« schrie der Kerl mit dem wüsten Bart. »Ich bereue, was 

ich tat und...« 

»Schweig!« donnerte Roland. »Deine Reue ist genauso verlogen 

wie all das, was du uns erzählt hast.« 

Wieder beteuerte der Räuber leidenschaftlich, daß er die Wahrheit 

gesagt habe und wirklich nicht genau wisse, weshalb die Wirtsleute 
und ihre Tochter sterben sollten. Fast war Roland geneigt, ihm zu 
glauben. Und den anderen ging es nicht anders. 

Aber was sollte mit dem Halunken geschehen? 
Alle Anwesenden blickten auf Hilda, die das Messer nach wie vor 

in der Hand hielt. Sie starrte den Mann an wie ein Racheengel, der 
zur Erde herabgestiegen war. Plötzlich jedoch ließ sie das Messer 
sinken. 

»Er ist ein böser Mensch«, stellte sie mit leiser Stimme fest. »Und 

er ist mitschuldig am Tod meiner geliebten Eltern. Aber ich bin kein 
Richter. Mögen andere entscheiden, was aus ihm wird!« 

Sie ließ das Messer fallen, schlug die Hände vors Gesicht und 

begann lautlos zu weinen. Der Gedanke an das schreckliche 
Schicksal Gisleverts und Marias gab ihren Tränen neue Nahrung. 

Roland trat auf sie zu und legte ihr begütigend den gesunden Arm 

um die Schultern. Er sagte nichts, denn in einer solchen Situation gab 
es nicht viel zu sagen. Der tiefe Schmerz, den das Mädchen empfand, 
ließ sich durch Worte nicht lindern. 

Bald beruhigte sich die junge Frau wieder etwas. Sie wischte sich 

die Tränen aus den Augen und zwang sich sogar zu einem flüchtigen 
Lächeln, das sie schöner erscheinen ließ denn je. 

»Wer ist der oberste Gerichtsherr  dieser Gegend?« erkundigte sich 

Roland. 

»Herzog Adalbert«, erwiderte Hilda. »Aber er hat die 

Gerichtsbarkeit in dieser Gegend dem Freigrafen Otmar von Lützen 
übertragen.« 

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»Gut«, nickte Roland. »Dann werden wir diesen Halunken dem 

Freigrafen übergeben. Wie weit liegt sein Sitz von hier entfernt?« 

»Die Lützenburg ist etwa in einem halben Tagesritt zu erreichen.« 
Nun erhob sich die Frage, wie der Rest der Nacht verbracht werden 

sollte. Sich wieder aufs Lager begeben und weiterschlafen? Dazu 
war niemand aufgelegt, insbesondere das Mädchen Hilda nicht. 
Unter einem Dach mit ihren ermordeten Eltern ... 

»Vielleicht sollten wir gleich zur Lützenburg aufbrechen«, schlug 

Roland vor. »Die Morgendämmerung ist ohnehin nicht mehr fern.« 

Sein Vorschlag fand allgemeine Zustimmung. Auch Hilda hatte 

nichts dagegen. Allein konnte sie das Schankhaus ihrer Eltern nicht 
weiterführen. Was nun aus ihr werden würde, wußte sie noch nicht. 
Vielleicht konnte sie auf der Lützenburg eine Anstellung finden. Das 
hoffte sie jedenfalls. 

Vor dem Aufbruch gab es noch eine traurige Pflicht zu erfüllen. 

Gislevert und Maria mußten beerdigt werden. Louis und Pierre 
übernahmen die Aufgabe, hinter dem Haus ein Grab auszuheben, in 
das die beiden Toten dann hinabgelassen wurden. Ein einfaches 
Holzkreuz, aus Baumästen zusammengefügt, schmückte die letzte 
Ruhestätte der Unglücklichen. 

Stumm nahm Hilda Abschied von ihren Eltern, ungestört von 

Roland und den Knappen. Dann war sie zum Aufbruch bereit. 

Baldur von Torstein schlich auf leisen Sohlen durch das herzogliche 
Schloß. Er wurde dabei das Gefühl nicht los, daß dieses Tun stark 
unter seiner Würde war. Aber er konnte darauf jetzt keine 
Rücksichten nehmen. Der Zweck heiligte bekanntlich die Mittel, und 
wenn er sein angestrebtes Ziel erreichen wollte, dann blieb ihm jetzt 
gar keine andere Möglichkeit. 

Noch war alles ruhig im Schloß. Lange würde es allerdings nicht 

mehr dauern, bis der erste Hahn krähte, und bis dahin mußte er alles 
erledigt haben. 

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Von niemandem gesehen, kam er in dem Schloßflügel an, der den 

Frauen vorbehalten war. Als er an einer Tür vorbeischlich, hörte er 
dahinter keuchende Geräusche und ein glucksendes Lachen. Ein 
Lächeln huschte über seine Züge. Wie es schien, war er nicht das 
einzige männliche Wesen, das sich in fremde Gefilde begeben hatte. 

Er ging weiter, stand dann vor dem Raum, in dem er seine Tochter 

wußte. Prüfend blickte er sich noch einmal nach allen Seiten um. 
Befriedigt stellte er fest, daß nichts zu sehen und auch nichts zu 
hören war. Dann klopfte er an die Tür, die von innen verschlossen 
war. 

Er bekam keine Antwort. Martha hatte ihn offenbar nicht gehört, 

schlief weiter. Wahrscheinlich träumte sie von einem Mann, der 
endlich gekommen war, um ihrer Jungfräulichkeit ein Ende zu 
setzen. 

Wieder klopfte er, lauter als zuvor. 
Und wieder nahm seine Tochter keine Notiz davon. Langsam 

wurde er wütend. Diese Gans! Wußte sie denn nicht, daß sie ihre 
Zukunft verschlief? Und die seine auch! 

Er mußte das Risiko eingehen, daß auch in den benachbarten 

Räumen jemand aufmerksam wurde. Aber das ließ sich nicht ändern. 
Er mußte hinein zu Martha, unbedingt! 

Er ballte eine Faust und hämmerte gegen die Tür. Das Geräusch 

erschien ihm so laut wie ein Donnerschlag. 

»Martha, hörst du nicht?« 
Mehrere Sekunden vergingen, dann kam die ängstliche Stimme 

seiner Tochter: »Vater, seid Ihr das?« 

»Was dachtest du denn, alberne Gans  - ein Verehrer vielleicht? Da 

kannst du verdammt lange warten. Los, mach endlich auf!« 

»Aber...« 
»Mach auf, sage ich!« 
Er stand wie auf glühenden Kohlen. Hoffentlich öffnete die 

dumme Pute bald! 

Das tat sie schließlich. Der Freigraf drängte sich durch die Tür, 

machte sie hinter sich wieder zu. 

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Verwundert starrte ihn seine Tochter an, mit einem 

Gesichtsausdruck, der ihn dazu reizte, ihr eine Maulschelle zu 
versetzen. Dümmlich war gar kein Ausdruck. Sie hatte ein 
Nachtgewand an, das ihr vom Hals bis zu den Fußsohlen reichte. Es 
war genauso formlos wie der plumpe Körper, den es verhüllte. 

Baldur von Torstein trat an den Tisch, auf dem eine brennende 

Fackel stand, und zog sich einen Schemel heran. Martha nahm 
unterdessen auf der Kante des Bettes Platz. 

»Um diese Zeit?« fragte sie. »Was wollt Ihr jetzt von mir, Herr 

Vater?« 

»Mein Getreuer Markus hat herausgefunden, welches 

unverwechselbare Körpermal die Tochter des Herzogs aufwies!« 

»Ach ja«, erwiderte Martha. Deutlich war ihr anzumerken, daß sie 

über diese Nachricht gar nicht glücklich war. Im stillen hatte sie 
wohl immer noch gehofft, daß ihr Vater seinen Plan fallen lassen 
würde. 

Aber da irrte sie sich gewaltig. 
Mehr denn je war der Freigraf gewillt, sie auf den Herzogsthron zu 

setzen. Und jetzt, da er den Schlüssel zum Erfolg kannte, sollte ihn 
keine Macht der Welt mehr daran hindern, sein Ziel zu erreichen. 

»Berthild besaß ein kleines Muttermal am rechten Oberschenkel. 

Und zwar an der Innenseite.« 

»Ich habe dort kein Muttermal«, erwiderte Martha. Sie schien 

erleichtert zu sein. 

Ihr Vater lächelte grimmig. »Noch nicht, Martha, noch nicht. Aber 

was nicht ist, kann ja noch werden ...« 

Er zog seinen Siegelring vom Finger und betrachtete ihn im Schein 

der Fackel. Befriedigt nickte er. Ja, die Gemme würde durchaus ihren 
Zweck erfüllen. 

Martha sah ihn fragend an. Das Unwohlsein stand ihr in großen 

Buchstaben im Gesicht geschrieben. 

»Was... wollt ihr mit dem Ring, Herr Vater?« 
»Die gravierte Platte eignet sich nicht nur zum Siegeln«, sagte der 

Freigraf langsam. 

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»Son ... dern?« 
»Zieh dein Gewand hoch«, verlangte Baldur von Torstein. 
»Ich soll...« Entsetzen zeichnete sich im Gesicht des dicklichen 

Mädchens ab. »Niemals!« 

Der Zorn übermannte den Freigrafen. »Was glaubst du, will ich 

tun, alberner Fratz? Dir Gewalt antun vielleicht? Ich bin dein Vater, 
vergiß das nicht! Also hoch mit dem Fetzen. So weit, bis der 
Oberschenkel frei ist!« 

Zögernd und zitternd kam Martha der Aufforderung nach. Ihr Bein 

war alles andere als ansehnlich. Die Fesseln waren zu breit, die 
Waden zu schwammig, die Knie zu eckig und die Schenkel zu fett. 
Ihr Vater konnte sich keinen Mann vorstellen, der an diesem 
Mädchen großen Gefallen finden würde. Es sei denn, sie war 
Herzogin! Dann sah auch ein Mann von Stande über vieles, über 
alles andere hinweg. 

»Und nun, Herr Vater?« 
Baldur von Torstein seufzte. Sie war so dumm, daß sie noch immer 

nicht begriffen hatte, auf was er hinaus wollte. Und vielleicht war es 
sogar besser, ihr vorher gar nichts zu sagen. Sie würde noch früh 
genug merken, was er vorhatte. 

»Mach die Augen zu, Martha«, sagte er geradezu freundlich. 
»Warum?« 
»Tu es!« 
Martha war es gewohnt, zu gehorchen. Zuerst leistete  sie meistens 

Widerstand, dann aber gab sie stets klein bei. Auch diesmal war es 
so. Sie schloß die Augen. 

»Mißbraucht mein Vertrauen nicht, Herr Vater«, sagte sie mit 

leiser Stimme. 

»Natürlich nicht, mein Kind. Ich will ja nur dein Bestes!« 
Baldur von Torstein nahm den Ring mit spitzen Fingern und hielt 

ihn über die züngelnde Flamme der Kerze. Das Metall der 
Gravierplatte erhitzte sich sofort. Auch das Gold des Rings selbst 
wurde sehr schnell heiß, so heiß, daß der Freigraf die Hand am 
liebsten rasch wieder zurückgezogen hätte. Aber er beherrschte sich. 

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Was er von seiner Tochter verlangte, mußte er auch selbst erdulden 
können. 

Dann erschien ihm die Platte heiß genug. Er beugte sich über den 

Oberschenkel Marthas ... 

Ihr furchtbarer Schrei drang nicht nach draußen. Baldur von 

Torstein war umsichtig genug gewesen, seiner Tochter mit der freien 
Hand den Mund zuzuhalten. 

Hanns der Bär war so wütend wie selten in seinem Leben. Der Zorn, 
der in ihm wühlte, hatte mehrere Gründe. Einmal konnte er sich 
selbst nicht verzeihen, daß er und alle seine Leute vor einem einzigen 
Mann das Hasenpanier ergriffen hatten, auch wenn er zugeben 
mußte, niemals einem so unvergleichlichen Kämpfer begegnet zu 
sein. Zum zweiten war er wütend auf seine Ziehtochter. Und ganz 
besonders auf zwei seiner Männer! 

Nach der Flucht aus dem Schankhaus hatte sich die ganze Bande 

mehrere Meilen entfernt an einem vorher verabredeten Ort im Wald 
wieder zusammengefunden. Alle bis auf einen. Der Stromer Karl 
fehlte, weil er von seinen Freunden im Stich gelassen worden war, 
vom Schinder und vom Roten Joseph. 

»Ihr blutigen Narren«, beschimpfte er die beiden. »Wie konntet ihr 

ihn nur zurücklassen?« 

»Das fragst du?« empörte sich der Schinder. »Bist du nicht selbst 

gelaufen wie eine Maus, die den Bussard über sich kreisen sieht?« 

»Ich habe aber niemanden in die Hände des Gegners fallen lassen 

wie ihr den Stromer Karl!« 

»Na und? Der Stromer war ohnehin zu nichts zu gebrauchen. Er 

war ein Feigling.« 

»Um so schlimmer«, sagte Hanns der Bär. »Wenn sich der Ritter 

ihn richtig zur Brust nimmt...« 

»Pha«, machte der Schinder, »was will der Stromer schon 

ausplaudern? Warum wir das Schankhaus heimgesucht haben? Das 

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weiß er ebensowenig wie wir alle. Oder hast du es ihm etwa gesagt?« 

»Nein. Und das war wohl auch gut so!« 
Der Bandenführer ging nicht näher auf dieses Thema ein. Er wollte 

nicht, daß seine Leute weitere Fragen stellten, die er ihnen doch nicht 
beantworten würde. Der Überfall auf das Schankhaus ging nur ihn 
und Sitta etwas an. 

Sitta! 
Auch mit seiner Ziehtochter hatte er noch ein Hühnchen zu rupfen. 

Er wandte sich dem schwarzhaarigen Mädchen zu. 

»Nun«, sagte er so leise, daß es die anderen nicht hören konnten, 

»wie fühlen sich deine Finger an - noch klebrig vor Blut?« 

Die Schwarze Sitta zuckte die Achseln. »Solange es nicht mein 

eigenes Blut ist, kümmert mich das wenig.« 

»Du bist ein mörderisches Luder!« 
»Das habe ich von dir gelernt, Ohm!« 
»Es war nicht nötig, den Köhler und seine Frau zu töten«, sagte 

Hanns der Bär. »Sie wollten gar nicht, daß ihr Findelkind den 
Herzogsthron besteigt!« 

»Das haben sie gesagt. Aber ob es stimmt...« 
»Ich bin davon überzeugt. Zeit ihres Lebens haben sie Hilda als ihr 

Kind angesehen. Das junge Frauenzimmer wußte nicht einmal, daß 
Gislevert und seine Frau nicht ihre richtigen Eltern waren. Sie hatte 
nicht die geringste Ahnung, daß sie vielleicht des Herzogs Tochter 
ist.« 

»Und jetzt, da die Alten tot sind, wird sie es auch gewiß nie 

erfahren«, sagte die Schwarze Sitta befriedigt. »Dafür habe ich 
gesorgt. Willst du mir deshalb einen Vorwurf machen, Ohm?« 

Hanns der Bär wußte, daß es keinen Zweck hatte, mit Sitta zu 

streiten. Seine Ziehtochter hatte ihren eigenen Kopf und verstand es 
immer wieder, sich gegen ihn durchzusetzen. Und nicht nur gegen 
ihn, sondern auch gegen andere. Im Grunde genommen war das 
sogar gut. Sitta hatte durchaus das Zeug, sich am Hof des Herzogs 
durchzusetzen und in die Rolle der Fürstentochter zu schlüpfen, 
selbst wenn sie es gar nicht war. Und wenn sie erst einmal zu Amt 

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und Würden gekommen war, dann brauchte auch er sich keine 
Sorgen zu machen. Das hoffte er jedenfalls. In jedem Fall mußte er 
aufpassen, daß sie ihn nicht eines Tages fallen ließ wie einen heißen 
Topf. Ein Verrat war ihr jederzeit zuzutrauen. Selbst ein Verrat an 
ihm. 

»Was tun wir jetzt, Ohm?« fragte sie. »Müssen wir uns noch länger 

mit diesem Gesindel herumschlagen?« Unwillig ließ sie ihre Augen 
von einem der Räuber zum anderen wandern. »Ich kann ihren 
Anblick nicht länger ertragen. Sie sind grob und unflätig. Und sie 
stinken!« 

Hanns der Bär verzog den Mund. »Bisher hast du dich in ihrer 

Gesellschaft recht wohl gefühlt, oder? Und hast du nicht noch 
gestern den Schinder als einen vorzüglichen Liebhaber gelobt?« 

»Das ist vorbei, Ohm! Von nun an werde ich mich nur noch 

Männern vom Stande hingeben.« 

Hanns der Bär lachte leise. »Du sitzt schon auf dem Thron, wie?« 
»Wenn wir uns nicht bald zum Schloß des Herzogs begeben, werde 

ich ihn nie besteigen können. Worauf warten wir noch? Dieser 
Wechselbalg eines Köhlers kann mir nicht mehr gefährlich werden. 
Folglich ...« 

Ihr Ziehvater nickte langsam. »Wir reiten zum Schloß  - noch 

heute!« 

»Und was ist mit dem Schinder und den anderen?« 
Hanns der Bär lachte. »Was kümmert uns dieses Gesindel?« 
Die Schwarze Sitta erwiderte sein Lachen. »So gefällst du mir, 

Ohm. Wer weiß, vielleicht mache ich dich wirklich zu meinem 
Hausmeier!« 

Die Sonne strebte ihrem Zenit entgegen, als Roland und seine 
Begleiter die Burg des Freigrafen von Lützen erreichten. 

Der Burgherr war sofort bereit, den Ritter mit dem Löwenherzen 

zu empfangen. Roland konnte nicht sagen, daß ihm Otmar von 

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Lützen sonderlich gefiel. Der Graf war ein irgendwie finster 
wirkender Mann. Sein stechender Blick und die harten Linien um 
Mund und Nase machten einen abweisenden Eindruck, auch wenn er 
sich jetzt Mühe gab, freundlich und höflich zu sein. 

Vielleicht war Roland aber auch nur voreingenommen. Von König 

Artus wußte er, daß von Lützen einer der Teilnehmer der 
Jagdgesellschaft gewesen war, bei der ein Pfeil Herzog Adalbert an 
den Rand des Grabes gebracht hatte. Ob es sich bei diesem fatalen 
Pfeilschuß um ein Mißgeschick oder den Versuch eines 
Meuchelmordes gehandelt hatte, sollte Roland im Auftrag des Herrn 
von Camelot herausfinden. Der  Aufenthalt auf der Lützenburg kam 
ihm deshalb sehr recht. 

»Was führt Euch zu mir, Ritter Roland?« erkundigte er sich, 

während er den Gast mit einem Willkommenstrunk bewirtete. 

»Zwei Dinge sind es, die mich bewegten, Euch aufzusuchen«, 

erwiderte Roland. »Zum einen habe ich einen gemeinen Räuber und 
Mörder hergebracht, den ich Eurer Gerichtsbarkeit unterstelle.« 

»Ich sah, wie Ihr den Kerl meinen Getreuen übergabt. Was hat er 

verbrochen?« 

»Er war an der Ermordung eines Schankwirts namens Gislevert 

und seiner Frau Maria beteiligt.« 

Der Freigraf blinzelte. »Sagtet Ihr Gislevert?« 
»Ja, das sagte ich. Ihr kennt den Mann?« 
»Ein Köhler namens Gislevert ist mir bekannt«, sagte der Graf. 
»Dann handelt es sich offenbar um denselben Mann. Der 

Schankwirt arbeitete früher als Köhler.« 

»Wie der Zufall so spielt«, meinte Otmar von Lützen sinnend. 

»Sagt, Ritter Roland, nannte dieser Gislevert nicht eine Ziehtochter 
sein eigen?« 

»Ziehtochter?« wiederholte der Ritter mit dem Löwenherzen. »Ich 

weiß nur, daß die beiden eine Tochter mit Namen Hilda besaßen, und 
er hielt das Mädchen für sein leibliches Kind.« 

Der Graf beugte sich vor, sah Roland mit seinen stechenden Augen 

eigentümlich an. 

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»Dieses Mädchen, diese Hilda«, sagte er. »Ist sie ebenfalls 

ermordet worden?« 

»Zum Glück nicht! In letzter Minute gelang es mir, sie den 

Räubern zu entreißen und ihr Leben zu retten.« 

»So, so.« 
Täuschte sich Roland, oder nahm der Freigraf diese Nachricht mit 

Mißfallen auf? Fast schien es so, als hätte er es lieber gesehen, wenn 
auch des Schankwirts Tochter bei dem mörderischen Überfall 
umgekommen wäre. 

»Wo ist das Mädchen jetzt?« erkundigte sich Otmar von Lützen. 
»Hier.« 
»Hier auf meiner Burg?« 
»Ja«, nickte Roland. »Die junge Frau hat ihre Eltern verloren und 

steht nun ganz allein auf der Welt. Ich habe sie hergebracht, weil ich 
dachte, daß Ihr als ihr Landesherr vielleicht etwas für sie tun 
könntet.« 

Otmar von Lützen lächelte. Aber es war kein heiteres, freundliches 

Lächeln. 

»Gewiß, Herr Ritter«, sagte er, »ich betrachte es als meine 

vornehmste Pflicht, den Kindern meines Landes beizustehen, wenn 
sie unverschuldet in Not geraten sind. Ich werde mich des jungen 
Frauenzimmers sofort annehmen.« 

Er stand auf und betätigte einen Bronzegong, der an der Wand des 

Empfangsgemachs hing. Sofort erschien einer seiner Diener. 

»Herr Freigraf haben gerufen?« 
»Unser Gast, der edle Ritter Roland, ist in Begleitung eines 

Mädchens gekommen. Auch dieses Mädchen ist unser Gast. Bringe 
es unverzüglich zu mir.« 

Der Diener machte  eine Verbeugung, die fast bis auf den Boden 

reichte, und entfernte sich wieder. 

»Ihr spracht von zwei Gründen, die Euch zu mir führten«, sagte 

Otmar von Lützen. »Darf ich auch den zweiten erfahren?« 

Roland beschloß, stracks auf sein Ziel loszugehen. Wenn  der 

Freigraf etwas wußte... Vielleicht verriet er sich. 

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»Eigentlich bin ich ins Land gekommen, um einem Freund meines 

Herrn die besten Wünsche zu übermitteln«, sagte er. 

»Ach ja? Und wer ist Euer Herr?« 
»Ich bin ein Paladin König Artus'! Und der Freund, den ich 

aufsuchen sollte, ist Herzog Adalbert. Nun aber hörte ich, daß der 
Herzog im Sterben liegt.« 

»Wohl wahr«, erwiderte Otmar von Lützen seufzend. »Ein 

verirrter Pfeil bei der Jagd ...« 

»Man sagt, daß der Pfeil tatsächlich gar nicht irre geleitet, sondern 

mit Bedacht auf den Herzog gerichtet wurde.« 

»Sagt man das?« 
»Man sagt sogar noch mehr! Es könnte Eure Hand gewesen sein, 

die den mörderischen Pfeil auf die Reise schickte!« 

Jedwede Freundlichkeit war jetzt aus dem Gesicht des Freigrafen 

gewichen. Finster war seine Miene geworden, finster und drohend. 
»Wollt Ihr damit die Behauptung aufstellen, daß ich versucht habe, 
den Herzog umzubringen?« 

Abwehrend hob Roland die Hände. »Gott bewahre! Ich gebe nur 

weiter, was man erzählt. Ihr haltet das,  was dem Herzog zugestoßen 
ist, also für einen Unglücksfall?« 

»Das habe ich nicht gesagt«, erwiderte der Freigraf nicht mehr 

ganz so finster. »Auch ich schließe die Möglichkeit eines 
Mordanschlages nicht aus.« 

»Habt Ihr einen Verdacht?« fragte Roland begierig. 
Otmar von Lützen wiegte den Kopf hin und her. »Man soll nicht 

leichtfertig Beschuldigungen aussprechen, aber...« 

»Aber?« 
»Ich könnte mir vorstellen, daß Freigraf Baldur von Torstein seine 

Hand im Spiel hat«, sagte von Lützen im Verschwörerton. 

»Baldur von Torstein!« 
»Ja.« 
»Habt Ihr Anhaltspunkte für Euren Verdacht?« 
Von Lützen schüttelte den Kopf. »Wenn ich Beweise hätte, wäre 

es kein Verdacht, sondern Gewißheit.« 

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»Da habt Ihr wohl recht«, sagte Roland. »Aber wie dem auch sei, 

ich werde alle Anstrengungen unternehmen, um die Wahrheit 
herauszufinden. Das bin ich König Artus schuldig!« 

Otmar von Lützen wollte noch etwas sagen, kam aber nicht mehr 

dazu. Der Diener, den er vorhin weggeschickt hatte, kehrte zurück  - 
mit Hilda. Das Mädchen war blaß und man sah ihr an, daß sie in den 
letzten Stunden viel geweint hatte. Auch der Kittel, den sie trug, gab 
nicht viel her. Dennoch war sie so schön wie der junge Morgen. 

Das schien auch der Freigraf zu finden. Er starrte sie mit großen 

Augen an, war sichtlich beeindruckt von ihrer äußeren Erscheinung. 
Aber da war noch ein Ausdruck in seiner Miene, ein Ausdruck, den 
Roland nicht deuten konnte. 

»Tritt näher, mein Kind«, sagte Otmar von Lützen und machte eine 

einladende Handbewegung. 

Hilda kam der Aufforderung nach. 
»Du bist die Tochter des Köhlers Gislevert?« 
Stumm nickte das Mädchen und blickte den Grafen unsicher an. 

Sichtlich fühlte sie sich in der Gegenwart des hohen Herrn unwohl. 
Roland nickte ihr aufmunternd zu. 

»Die leibliche Tochter?« 
»Ich ... ich verstehe nicht.« 
»Nun«, sagte Otmar von Lützen lächelnd, »es gibt leibliche Kinder 

und Kinder, die jemand an Kindes Statt annimmt.« 

»Gewiß bin ich ein leibliches Kind meiner Eltern«, erwiderte das 

Mädchen. »Mit Verlaub gefragt, Herr, wie kommt Ihr darauf ...« 

»Schon gut, mein Kind«, unterbrach sie von Lützen. »Offenbar hat 

man mich falsch unterrichtet. Ich wollte dir nur sagen, daß ich das 
wiedergutmachen werde, was diese Verbrecher deinen Eltern 
angetan haben. Fühle dich auf der Lützenburg ganz wie zu Hause. 
Bist du gut untergebracht worden?« 

»Man wollte mir im Gesindehaus ...« 
»Nichts da«, sagte der Freigraf. »Mit dem Gesinde sollst du nichts 

zu schaffen haben. Du bist mein Gast, und ich werde dafür sorgen, 
daß du einen eigenen Raum hier im Herrenhaus bekommst. Es soll 

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dir an nichts fehlen!« 

»Danke, Herr, vielen, vielen Dank!« Hilda konnte ihr Glück kaum 

fassen. 

Und auch Roland war einigermaßen erstaunt. Welche 

Veranlassung hatte der Freigraf, die einfache Tochter eines 
Schankwirts wie eine Dame von Stand zu behandeln? Das Mädchen 
war gekommen, um eine einfache Stellung anzunehmen. Und nun 
sah sie sich als Gast des Burgherrn. 

Roland wurde das dunkle Gefühl nicht los, daß Otmar von Lützen 

irgend etwas im Schilde führte. Noch hatte er keine Ahnung, was der 
Freigraf vorhatte. Aber er hoffte zuversichtlich, es bald 
herauszufinden. 

Herzog Adalbert erwachte. 

Schreckliche Alpträume lagen hinter ihm. Er spürte die Hitze 

seines Körpers und wußte, daß vor allem das Fieber diese Alpträume 
hervorgerufen hatte. Für den Augenblick jedoch war sein Kopf 
halbwegs klar. 

Er blickte hoch und sah den treuen Arzt Pankratius neben seinem 

Lager stehen. Der Arzt hatte sofort erkannt, daß es seinem 
Schutzbefohlenen auf einmal besser ging. Seine sorgenvolle Miene 
hellte sich auf. 

»Dem Himmel sei Dank, Herr Herzog«, sagte er erleichtert. »Ich 

hatte schon befürchtet, daß Euch das Fieber nie wieder aus seinen 
Klauen freigeben würde.« 

Adalbert rang sich ein Lächeln ab. »Noch lebe ich, Pankratius. 

Gevatter Tod hat Mühe, einen alten Kämpfer wie mich in seine 
Gewalt zu bekommen.« 

Schon diese wenigen Worte hatten ihn ungemein angestrengt. Er 

fühlte, wie die Schwäche ihn wieder zu übermannen drohte. 
Gewaltsam kämpfte er dagegen an. Er brauchte seine ganze Kraft, 
um den Kopf ein bißchen anzuheben. 

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»Pankratius ...« 
»Schont Euch, Herr Herzog«, sagte der Arzt mahnend. »Sprecht 

nicht zu viel. Wenn Ihr Euch überanstrengt ...»Matt schüttelte 
Adalbert den Kopf. »Wer weiß, wieviel Zeit mir noch bleibt. Diese 
Zeit muß ich nutzen. Hole mir Leander!« 

»Aber...« 
»Kein >Aber<, Pankratius. Ich weiß, daß du es gut mit mir meinst. 

Dennoch befehle ich dir jetzt, Leander zu holen.« 

»Wie Ihr wünscht, Herr Herzog.« 
Pankratius erhob sich von seinem Schemel und verließ das 

Krankengemach. Dabei murmelte er irgend etwas Unverständliches 
vor sich hin. Es dauerte nicht lange, dann kehrte er zurück. Der 
grauköpfige Hausmeier folgte ihm auf dem Fuße. 

Leander kniete neben dem Lager nieder, während sich der Arzt 

etwas im Hintergrund hielt. 

»Ihr habt nach mir geschickt, Herr?« 
»Ja, Leander«, erwiderte der Herzog mit schwacher Stimme. »Sag 

mir eins: Ist die Suche nach meiner Tochter schon von Erfolg 
gekrönt worden?« 

»Ich weiß nicht, Herr«, sagte der Hausmeier zögernd. »Mehrere 

Weibsbilder waren bereits hier und behaupteten, Eure Tochter zu 
sein. Ihre Dummheit war noch größer als ihre Dreistigkeit. Wir 
konnten sie samt und sonders als Betrügerinnen entlarven.« 

»Also noch nichts«, gab der Herzog tief enttäuscht zurück. 
»Allerdings ist da noch jemand, der sich als Eure Tochter ausgibt«, 

sagte der Hausmeier langsam. »Jemand, der als Eure Tochter 
ausgegeben wird, genauer gesagt!« 

Dem Herzog war die eigenartige Betonung seines Getreuen nicht 

entgangen. 

»Noch ... eine Betrügerin?« fragte er. 
»Ich würde mir nicht anmaßen, den Freigrafen Baldur von Torstein 

rundheraus als Betrüger zu bezeichnen.« 

»Torstein?« wunderte sich der Herzog. »Was hat der Freigraf 

damit zu tun? Hat er das Mädchen hergebracht?« 

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»Ja.« 
»Das verblüfft mich«, sagte Adalbert. »Torstein hatte immer 

Gelüste, eines Tages selbst Herzog zu werden, und nach meinem 
Tode wäre er ein ernsthafter Anwärter. Daß er sich diese Möglichkeit 
nun selbst verbauen soll...« 

»Ich glaube nicht, daß er das tut«, erwiderte Leander. »Das 

Mädchen, das er hergebracht hat, steht ganz unter seinem Einfluß. 
Kein Wunder, lebt das junge Frauenzimmer doch schon sein ganzes 
Leben unter seiner Fuchtel.« 

»Du sprichst in Rätseln, Leander!« 
»Verzeiht, Herr, aber ich wollte Euch schonend vorbereiten. Das 

Mädchen, von dem ich spreche, ist Euch nämlich wohlbekannt. Es 
hört auf den Namen Martha!« 

»Martha?« echote der Herzog. »Heißt nicht Torsteins eigene 

Tochter ebenfalls Martha?« 

»Es handelt sich um ein und dasselbe Frauenzimmer!« 
»Du meinst...« 
Der Hausmeier nickte. »Der Freigraf behauptet, daß Martha nicht 

seine eigene Tochter ist, sondern daß er sie damals an Kindes Statt 
angenommen hat  - aus der Hand Eurer Gemahlin Veronica!« Er 
berichtete in allen Einzelheiten, was ihm Baldur von Torstein erzählt 
hatte. 

Adalbert konnte es nicht fassen. »Das ist doch...« Ihm fehlten die 

Worte. Er spürte, wie ihm das Blut in den Kopf stieg, und die 
Schwäche in seinem Körper immer größer wurde. 

Der Arzt trat eilig herbei. »Ich sagte doch, daß Ihr Euch nicht 

aufregen sollt, Herr Herzog! Jede Anstrengung verschlechtert Euer 
Befinden und ...« 

»Nein«, sagte Adalbert, »ich will den Betrug Torsteins sofort 

entlarven! Holt ihn her. Und meine angebliche Tochter ebenfalls!« 

Noch einmal versuchte Pankratius, seinen Herrn von diesem 

Vorhaben abzubringen, konnte den Herzog jedoch nicht umstimmen. 
Leander ging, um Baldur und Martha von Torstein herbeizuholen. 

Der Freigraf und das Mädchen kamen. 

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Baldur von Torstein gab sich überschwänglich. »Herzog«, sagte  er 

schon an der Tür, »ich kann Euch gar nicht sagen, wie ich mich 
freue, Euch wieder munter zu sehen.« 

Er eilte ans Bett Adalberts und griff nach der kraftlosen Hand 

seines Herrn. »Ich habe zu Gott gebetet, daß er Eure Genesung fügen 
möge. Und wie es aussieht, war mein Flehen nicht umsonst!« 

Adalbert war von seiner Überschwänglichkeit ganz und gar nicht 

angetan. Zu deutlich spürte er, daß Torstein unaufrichtig war, daß er 
ihm den Tod lieber morgen als übermorgen wünschte. Natürlich erst, 
nachdem das herzogliche Geblüt Marthas bestätigt worden war, 
verstand sich. Das aber würde gewiß nicht geschehen. Adalbert hatte 
keinerlei Zweifel daran, daß diese Martha keineswegs über das 
Muttermal verfügte, das allein sie als seine Tochter ausweisen 
konnte. 

»Leander berichtete mir, daß Ihr glaubt, Eure Tochter sei in 

Wirklichkeit meine Tochter, Torstein«, sagte er. 

»Ja, Herzog, so ist es«, bestätigte der Freigraf. »All die Jahre 

mußte ich die Wahrheit verschweigen. Nun aber, da Ihr ...« 

»Schon gut, mein lieber Torstein, schon gut. Ich könnte glücklich 

von dieser Welt abtreten, wenn sich Eure Worte als wahr erweisen 
würden. Martha soll nähertreten.« 

Torstein lächelte. »Vielleicht sollten wir uns schon alle daran 

gewöhnen, sie Berthild zu nennen. Dies ist schließlich ihr  richtiger 
Name!« 

Er wandte sich an das Mädchen. »Komm her, Berthild, und 

begrüße deinen Vater!« 

Adalbert spürte, wie sein Blut in Wallung geriet. Die Dreistigkeit 

des Freigrafen kannte keine Grenzen! Was glaubte der Kerl, wen er 
vor sich hatte? Einen alten Mann, dem er Sonnenschein vorgaukeln 
konnte, obwohl es in Wirklichkeit regnete? Gewiß, er war schwach 
und dem Tode nahe. Aber seine Sinne waren noch nicht verwirrt. 
Und seine Augen verrichteten ebenfalls noch ihre Dienste. 

Das Mädchen trat ganz nahe ans Bett, ein dickliches junges 

Frauenzimmer, das einfältig und verlegen dastand und den Herzog 

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nicht im mindesten an den Säugling erinnerte, den er damals  - 
wahrscheinlich im falschen Glauben  - verstoßen hatte. Nein, diese 
Martha war nie und nimmer seine Tochter Berthild! 

»Guten Tag, ... mein Vater«, sagte das Mädchen und drehte dabei 

fahrig die Hände hin und her. 

Adalbert ersparte sich eine Antwort auf diese neuerliche 

Dreistigkeit, die allerdings sicherlich nicht von dem Mädchen selbst, 
sondern von Torstein ausging. 

»Geht alle hinaus«, sagte er zu von Torstein, Leander und dem 

Arzt. »Ich möchte mit dem Mädchen allein sein.« 

Ohne Widerspruch zu erheben verließen die Männer das 

herzogliche Schlafgemach. Nur das junge Frauenzimmer blieb. Das 
Unbehagen stand ihr im Gesicht geschrieben. Deutlich war ihr 
anzumerken, daß sie am liebsten auch hinausgegangen wäre. 

»Zieh dein Kleid hoch«, sagte der Herzog. »So weit, daß ich deine 

Oberschenkel sehen kann.« 

Das Mädchen sagte nichts, wurde nur rot im Gesicht. Sie bückte 

sich, packte den Saum ihres Kleides und zog es bis zur Hüfte hoch. 

Ja, da war ein Muttermal  - am rechten Schenkel. Berthild jedoch 

hatte ihr Mal am linken Bein gehabt. 

»Leander!« 
Auf den Ruf seines Herrn betrat der Hausmeier unverzüglich das 

Schlafgemach. 

»Laß Baldur von Torstein ergreifen und ins tiefste Verlies 

sperren«, befahl Adalbert. 

Deutlich war Leander anzumerken, daß er selten eine Anweisung 

seines Herrn so gerne entgegengenommen hatte wie diese. 

Es war wieder Abend geworden. 

Roland, noch immer Gast des Freigrafen Otmar von Lützen, hatte 

sich tagsüber mit einer ganzen Reihe von Getreuen seines Gastgebers 
unterhalten. Obgleich er sich die größte Mühe gegeben hatte, die 

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Männer unauffällig auszufragen, war nichts dabei herausgekommen. 
Es gab keinen Hinweis darauf, daß der Freigraf den bewußten Pfeil 
auf den Herzog abgeschossen hatte. 

Ein paar andere Erkenntnisse hatte Roland jedoch gewonnen. 

Zunächst einmal war offenkundig, daß Otmar von Lützen mit Macht 
nach dem Thron des Herzogs strebte und sogar gute Aussichten 
hatte, im Falle von Adalberts Ableben von den anderen Freigrafen 
des Landes zum neuen Herzog ausgerufen zu werden. Ein Hemmnis 
stand seinen hoffnungsvollen Plänen jedoch im Wege: ein Mädchen 
namens Berthild, Tochter des Herzogs, von diesem jedoch vor 
zwanzig Jahren im zarten Kindesalter verstoßen. Diese verstoßene 
Tochter wollte Adalbert jetzt wiederhaben und zu seiner 
Nachfolgerin machen. Das Dumme war nur, daß anscheinend 
niemand wußte, wo sich diese Tochter jetzt aufhielt und ob sie 
überhaupt noch lebte. 

Oder doch? 
Berthild, Berthild ... 
Irgendwo hatte Roland diesen Namen in jüngster Zeit gehört. Aber 

er konnte sich gegenwärtig beim besten Willen nicht erinnern, bei 
welcher Gelegenheit das gewesen war. 

Und dann hatte er es plötzlich doch. Hanns, der Anführer der 

Räuberbande, hatte die Schankwirtstochter Hilda so angesprochen! 
Warum? Etwa weil sie die Tochter des Herzogs war? Nein, das war 
lächerlich! 

So sehr war Roland aber doch nicht von der Lächerlichkeit dieses 

Gedankens überzeugt. Ihm fiel ein, daß Otmar von Lützen dem 
Mädchen eigenartige Fragen gestellt hatte. Er hatte von leiblichen 
und angenommenen Kindern gesprochen und sie dabei ganz seltsam 
angesehen. Wenn nun Hilda tatsächlich nicht das leibliche Kind des 
Schankwirts, sondern ein Findelkind war? Dann lag es vielleicht 
doch im Bereich des Möglichen ... 

Roland beschloß, nicht lange nachzugrübeln, sondern sich mit 

Hilda ins Benehmen zu setzen. 

Wie vom Freigrafen zugesagt, hatte sie im herrschaftlichen Teil 

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der Lützenburg einen eigenen Raum bekommen. Diesen Raum 
suchte Roland jetzt auf. 

Er klopfte kurz an, wollte dann die Tür gleich öffnen. Aber das 

ging nicht, da sie augenscheinlich abgeschlossen war. 

»Hilda«, rief er halblaut. 
»Ja?« Die Antwort des Mädchens klang recht kläglich. »Seid Ihr 

das, Ritter Roland?« 

»Ich bin es. Laß mich ein, ich muß mit dir reden.« 
»Das kann ich nicht«, sagte das Mädchen. »Man hat mich 

eingeschlossen. Und auf mein Rufen hat bisher niemand gehört.« 

Der Ritter mit dem Löwenherzen zog die Stirn kraus. 

Eingeschlossen? Behandelte man so einen Gast? Sein Verdacht, daß 
der Freigraf Böses plante, verdichtete sich. 

»Holt mich hier raus, Ritter Roland«, ließ sich Hilda wieder 

vernehmen. »Ich ... habe Angst.« 

»Fürchte dich nicht, mein Kind«, sagte Roland beruhigend. 

»Niemand wird dir etwas zuleide tun.« 

Er überlegte, was er nun tun sollte? Die Tür aufbrechen, das 

Mädchen herausholen und dann schnellstens die Burg verlassen? Der 
Gedanke hatte fraglos einiges für sich. Bevor er jedoch daran gehen 
konnte, ihn zu verwirklichen, hörte er Schritte auf dem Gang. 
Schwere Schritte von mindestens drei Männern. 

Sein Gefühl sagte ihm, daß es besser war, wenn er von diesen 

Männern nicht gesehen wurde. 

»Warte auf mich, Hilda«, raunte er durch die Tür. »Ich komme 

wieder.« 

Dann huschte er auf leisen Sohlen davon, bog um die nächste Ecke 

des Gangs. Dort blieb er abwartend stehen. 

Die Schrittgeräusche kamen näher, hörten dann auf. Ein Schlüssel 

wurde ins Schloß gesteckt und knirschend herumgedreht. Im 
nächsten Augenblick schon hörte er den erschreckten Aufschrei einer 
Frau. 

Hilda! 
Wenn er sich nicht gewaltig irrte, hatten die Männer die Kammer 

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seiner Schutzbefohlenen aufgeschlossen und ... 

Es hielt ihn nicht länger auf seinem Lauscherposten. Entschlossen 

bog er wieder um die Ecke. 

Ja, er hatte sich nicht getäuscht. Das Ziel der Männer war Hildas 

Raum gewesen. Einer der gräflichen Getreuen stand noch draußen 
auf dem Gang, während die anderen den Raum des Mädchens 
betreten hatten. Und aus diesem Raum kamen Laute, die Roland in 
höchste Alarmstimmung versetzten. 

Der Mann, der draußen wartete, sah ihn jetzt. Bevor er jedoch 

irgend etwas unternehmen konnte, war Roland bereits an Ort und 
Stelle. 

Er hätte sich diese Frage sparen können. Ein Blick in den Raum 

sagte alles. Zwei Getreue des Freigrafen hatten Hilda gepackt und 
waren gerade im Begriff, sie gewaltsam nach draußen zu zerren. 
Schreien konnte das Mädchen nicht mehr, weil man ihr den Mund 
zugebunden hatte. Nur ein paar halberstickte Töne kamen unter dem 
Tuch hervor. 

Roland legte die rechte Hand auf den Knauf seines Schwerts und 

spannte alle Muskeln. 

»Laßt sie sofort los«, sagte er ganz ruhig. 
Die gräflichen Getreuen dachten gar nicht daran. Der Mann im 

Gang langte nach seinem Schwert und riß es aus der Scheide. Die 
anderen beiden taten es ihm nach. Sie gaben Hilda einen rohen Stoß, 
der das Mädchen zu Boden stürzen ließ. Im nächsten Augenblick 
hatten sie ihre Klingen gleichfalls in der Hand. 

Keiner der Männer sagte ein Wort, aber in ihren Gesichtern 

spiegelte sich kalte Entschlossenheit wider. 

Roland wußte, daß es ums Ganze ging. Er hatte gesehen, daß die 

Getreuen des Grafen dem Mädchen Böses antun wollten. Und mit 
diesem Wissen würden sie ihn nicht davonkommen lassen. 

Blitzschnell zückte auch er sein Schwert. Die gräflichen Getreuen 

konnten kommen. 

Und das taten sie dann auch. Wie ein Mann drangen sie auf den 

Ritter mit dem Löwenherzen ein. 

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Schon war der erste heran. Er führte einen wuchtigen Hieb, der 

Roland glatt in zwei Stücke gehauen hätte. 

Wenn er durchgekommen wäre ... 
Das aber war nicht der Fall. Roland blockte den Schlag mit seiner 

Klinge ab. Funken stoben, als sich das Metall aneinander wetzte. Im 
gleichen Augenblick machte Roland aus der 
Verteidigungsmaßnahme eine Angriffsattacke. Während der Gegner 
seine Waffe zurückzog, um  - zu einem neuen Schlag auszuholen, 
führte er mit derselben Bewegung einen Stoß zur Brust des Gegners. 

Der Stoß traf voll. Hätte der Gegner kein Kettenhemd getragen, 

wäre er durchbohrt worden. So drang die Schwertspitze nur 
daumenbreit in seine Brust ein. Aber das genügte, um ihn außer 
Gefecht zu setzen. Aufstöhnend ließ er seine Waffe fallen  - und 
preßte mit schmerzverzerrtem Gesicht beide Hände gegen die 
blutende Wunde. 

Die anderen beiden Gegner waren unterdessen nicht untätig 

geblieben. Nur mit einem schnellen Sprung rückwärts konnte sich 
der Ritter mit dem Löwenherzen ihrer wütenden Doppelattacke 
entziehen. Dabei wandte er eine List an, tat so, als sei er ins 
Straucheln geraten und würde den Boden unter den Füßen verlieren. 

Das machte die Gegner unvorsichtig. Der eine lachte 

triumphierend auf und holte weit aus, um dem vermeintlich 
handlungsunfähigen Widersacher den Garaus zu machen. Aber 
Roland war keineswegs handlungsunfähig. Er fand seinen festen 
Stand sofort wieder und führte einen mächtigen Hieb gegen den 
überraschten Gegner. Dieser kam nicht mehr dazu, eine Abwehr zu 
versuchen. Mit einem gurgelnden Aufschrei brach er zusammen. 

Rechtzeitig war Roland wieder bereit, den  Angriff des dritten 

Gräflichen zu parieren. Dieser Mann, durch das Schicksal seiner 
Kampfesgenossen gewarnt, war vorsichtiger als die beiden anderen. 
Beherrscht führte er seine Angriffsschläge und gab sich die größte 
Mühe, bei der Verteidigung keine Blöße zu zeigen. 

Aber einem Schwertkämpfer wie Roland war er nicht gewachsen. 

Der Ritter mit dem Löwenherzen deckte ihn mit einer ganzen Serie 

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von Hieben ein, die so schnell aufeinander folgten, daß der Getreue 
von Lützens sehr bald die Übersicht verlor. Er konnte nicht 
vermeiden, seitlich am Unterarm getroffen zu werden. Damit hatte er 
keine Abwehrmöglichkeiten mehr. Es wäre Roland jetzt ein Leichtes 
gewesen, ihn zu entleiben. Aber der Ritter mit dem Löwenherzen 
gierte nicht nach anderer Männer Blut. Er begnügte sich damit, dem 
Gräflichen mit der flachen Seite des Schwerts einen Hieb zu 
versetzen, der den Mann augenblicklich ins Land der Träume 
versetzte. 

Der ganze Kampf hatte nur Sekunden gedauert. Aber er war alles 

andere als geräuschlos abgegangen. Es war zu fürchten, daß längst 
andere Burgbewohner aufmerksam geworden waren. Jeden 
Augenblick konnten neue Gegner auf der Bildfläche erscheinen. 

Roland kümmerte sich nicht weiter um den Mann, den er an der 

Brust verletzt hatte. Seine ganze Sorge galt jetzt der schönen Hilda. 

Das Mädchen hatte sich inzwischen von dem Mundtuch befreit und 

den Kampf von der Tür aus mit großen Augen verfolgt. 

»Komm«, sagte Roland drängend, »wir müssen hier weg!« 
Und als die junge Frau nicht sofort begriff, nahm er mit der Linken 

ihre Hand und zog sie mit sich den Gang hinunter. 

Seine Großzügigkeit, dem verletzten Mann das Leben zu lassen, 

rächte sich jetzt. In seinem Rücken begann der Gräfliche ein 
Geschrei, das nur deshalb nicht die ganze Burg alarmieren konnte, 
weil seine Brustwunde die Lautstärke begrenzte. Aber sein Rufen 
hatte dennoch den gewünschten Erfolg. 

Als Roland mit Hilda den Treppenabgang erreichte, der hinunter 

zur großen Halle führte, sah er den Weg versperrt. Sieben, acht 
Männer standen da. Und an ihrer Spitze stand Freigraf Otmar von 
Lützen. 

»Wie edel«, sagte der Burgherr spöttisch, »der Ritter rettet die 

bedrohte Jungfrau und setzt sein eigenes Leben dabei aufs Spiel. 
Aber tut er das wirklich? Seid vernünftig, Ritter Roland. Gegen 
meinen Willen werdet Ihr die Lützenburg niemals verlassen können. 
Darum übergebt mir das Mädchen, und ich vergesse, daß Ihr meine 

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Gastfreundschaft mißbraucht habt, und lasse Euch mit Euren 
Knappen ziehen!« 

Entsetzt stöhnte Hilda an Rolands Seite auf. Das Mädchen hatte 

jetzt wohl endgültig erfaßt, daß es um sie ging, wenn sie auch nicht 
verstand, aus welchem Grunde. 

Roland überlegte fieberhaft. In einem hatte der Freigraf zweifellos 

recht: diese Anzahl von Gegnern konnte er unmöglich bezwingen. 
Und auch der Hinweis auf seine beiden Knappen traf genau ins 
Schwarze. Wenn es sein mußte, würde von Lützen Louis und Pierre 
rücksichtslos als Geiseln gegen ihn einsetzen. 

»Nun, wie habt Ihr Euch entschieden?« wollte von Lützen wissen. 
»Mir scheint, mir bleibt nichts anderes übrig, als mich der 

Übermacht zu beugen«, sagte Roland scheinbar zerknirscht. 

»Sehr klug von Euch«, erwiderte der Freigraf spöttisch. 
»Und ich habe Euer Wort, daß meine Knappen und ich unbehelligt 

unserer Wege gehen können?« 

»Das habt Ihr!« 
Roland traute ihm nicht von einem Mundwinkel bis zum anderen. 

Aber diese Gedanken behielt er lieber für sich. 

»Bleib hier stehen«, raunte er dem Mädchen an seiner Seite zu. 

»Ich bin gleich wieder bei dir.« 

Und laut sagte er zu den Männern, die am Fuße der Treppe auf ihn 

warteten: »So sei es denn - ich ergebe mich!« 

»Kommt herunter«, befahl Otmar von Lützen. 
Roland nickte und setzte sich langsam in Bewegung. Fuß vor Fuß 

setzend, schritt er die Treppenstufen hinunter. 

»Werft Euer Schwert weg«, sagte der Freigraf streng, als Roland 

etwa die halbe Treppe bewältigt hatte. 

Roland blieb stehen. »Mein Schwert? Natürlich!« 
Aber der Ritter mit dem Löwenherzen dachte gar nicht daran, sich 

von seiner Klinge zu trennen. Wuchtig stieß er sich von der Stufe, 
auf der er gerade stand, ab. Wie ein Pfeil flog er durch die Luft  - 
geradewegs auf Otmar von Lützen zu. 

Der Freigraf war von dieser Tat des Ritters genauso überrascht wie 

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seine Getreuen. Bevor er richtig erfaßt hatte, was geschah, war es 
bereits zu spät. 

Roland prallte gegen ihn und riß ihn mit sich zu Boden. Hart 

schlugen beide Männer auf den Steinplatten der Halle auf. Roland 
war im Gegensatz zu von Lützen darauf vorbereitet. Deshalb hatte er 
sich viel rascher wieder in der Gewalt als der Freigraf. Bevor einer 
der umstehenden Männer etwas unternehmen konnte, hatte er Otmar 
von Lützen die Klinge seines Schwerts an die Kehle gesetzt. 

»Haltet Eure Getreuen zurück«, zischte er. »Sonst seid Ihr ein toter 

Mann!« 

Jetzt war sich der Freigraf bewußt, wie es um ihn stand. Aber er 

wollte es noch nicht wahr haben. 

»Ihr wagt es nicht...« 
»Und ob ich es wage!« fiel ihm Roland ins Wort. »Sagt selbst, was 

habe ich zu verlieren?« 

Otmar von Lützen begriff, daß er es lernst meinte. »Bleibt, wo ihr 

seid«, wies er seine Männer keuchend an. »Tut nichts, bevor ich es 
sage.« 

»Wie Ihr befehlt, Herr Freigraf«, sagte einer seiner Getreuen. 
Mit finsteren Blicken sahen die Männer den Ritter mit dem 

Löwenherzen an. Keiner jedoch hob eine Hand gegen ihn. 

Ohne die Übersicht zu verlieren, stellte sich Roland wieder auf die 

Füße und zog auch von Lützen mit hoch. Dabei verlor seine Klinge 
nicht für einen Herzschlag den Kontakt mit der Kehle des 
Burgherren. 

»Hilda«, rief er zur Treppe hoch. »Komm zu mir!« Und an den 

Freigrafen gewandt, fuhr er fort: »Oder sollte ich sie eher Berthild 
rufen?« 

»Berthild?« wiederholte von Lützen gedehnt. »Ich habe keine 

Ahnung, wovon Ihr sprecht, Ritter!« 

»Lügt nicht«, sagte Roland scharf. »Ihr haltet das Mädchen für die 

Tochter des Herzogs und wolltet sie beseitigen, damit sie Euch nicht 
den Weg zum Herzogsthron versperrt, nicht wahr?« 

Verstockt schwieg der Freigraf. 

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»Redet!« verlangte der Ritter mit dem Löwenherzen. 
Aber erst als er seine Aufforderung untermauerte, indem er die 

Klinge etwas kräftiger gegen den Hals des Freigrafen preßte, 
bequemte sich dieser zu einer Antwort. 

»Ja«, sagte er. Und er sagte es so leise, daß es nicht einmal die 

Männer verstehen konnten, die fünf Ellen von ihm entfernt standen. 
Roland aber genügte dieses kleinlaute Geständnis. Die Vermutungen, 
die er schon die ganze Zeit über gehabt hatte, bestätigten sich. 

Inzwischen war die junge Frau an seiner Seite. Sie wußte noch 

immer nicht so recht, was eigentlich geschah, blickte ihn nur verwirrt 
und angstvoll an. 

Anders Otmar von Lützen. Sein Blick war voller Zorn, ja voller 

Haß. Wenn der Freigraf jetzt gekonnt hätte, wie er wollte ... 

Zum Glück konnte er das nicht. Der Mann, der bestimmte, was 

geschah, war Roland. 

»Und nun holt meine Knappen«, befahl er. 
Diesmal brauchte er seinen Befehl nicht einmal zu wiederholen. 

Die Furcht saß dem Freigrafen an der Kehle  - im wahrsten Sinne des 
Wortes sozusagen. 

Es dauerte nicht lange, dann waren Louis und Pierre ebenfalls zur 

Stelle. Die beiden stellten keine  langen Fragen. Der Ernst der 
Situation war ihnen sofort klar, und für Erklärungen war auch später 
noch Zeit. 

»Und jetzt noch unsere Pferde«, sagte Roland. »Und ein geöffnetes 

Tor natürlich!« 

Jetzt regte sich doch ein gewisser Widerstand unter den Getreuen 

des Freigrafen. Die Männer erkannten, daß sie so gut wie frei waren, 
wenn sie einmal das Burggelände verlassen hatten. Die Männer 
flüsterten miteinander und warfen sich vieldeutige Blicke zu. Fraglos 
überlegten sie, ob sie nicht noch einen Versuch unternehmen sollten, 
ihren Herrn aus Rolands Händen zu befreien. 

Roland blieb ganz ruhig, lächelte sogar. »Es wäre sein Tod, und ihr 

hättet ihn verschuldet. Darum solltet ihr euch reiflich überlegen, was 
ihr tut!« 

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»Nichts werdet ihr tun«, sagte der Freigraf mit krächzender 

Stimme. 

Das gab den Ausschlag. 
Unbehindert konnten Roland, die beiden Knappen und das 

Mädchen die Lützenburg verlassen. Otmar von Lützen nahmen sie 
mit. 

Zu ihrer Sicherheit. Und um ihn zur Rechenschaft ziehen zu lassen. 

Herzog Adalbert begann langsam, sich wie neugeboren zu fühlen. 
Wie es aussah, würde es ihm wider Erwarten doch noch gelingen, 
Gevatter Tod von der Schippe zu springen. Das Fieber war merklich 
zurückgegangen, und er spürte die Schwäche in seinen Gliedern 
lange nicht mehr so stark wie noch am gestrigen Tage. Pankratius 
war guten Mutes, daß er sehr bald endgültig über dem Berg sein 
würde. 

So fühlte sich der Herzog auch stark genug, wieder einmal eine 

junge Frau zu examinieren, die sich für seine Tochter ausgab. 
Leander führte das Mädchen und ihren Begleiter herein. 

Die junge Frau war hübsch, sehr hübsch sogar. Sie hatte ein 

Gesicht, das an eine wilde Raubkatze denken ließ, und ihr prächtig 
gewachsener Körper erinnerte den Herzog an jene Tage, in denen er 
selbst jung gewesen war. 

Der Mann an ihrer Seite war ein gewöhnlicher Bursche. 

Grobschlächtige Züge, kräftige Gestalt, aber wohl schon aus seinen 
besten Jahren heraus. Er gefiel Adalbert ganz und gar nicht. Aber das 
spielte natürlich keine Rolle. Es ging nur darum, herauszufinden, ob 
dieses Mädchen seine Tochter war oder nicht. 

Er winkte die beiden heran, und sie traten an sein Lager, das 

Mädchen zuerst, hinter ihr der Mann. 

»Wer seid ihr?« fragte der Herzog. 
»Man nennt mich Sitta«, sagte das Mädchen. »Und das  ...«, sie 

zeigte auf den Grobschlächtigen, »... ist mein Ohm Hanns. Er ist der 

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Mann, der mich vor zwanzig Jahren im Wald fand und zu sich in 
seine... Köhlerhütte nahm.« 

Im Wald gefunden! 
Adalbert spürte einen Stich in der Herzgegend. Er war gewiß nicht 

davon überzeugt, daß dieses schwarzhaarige Mädchen Berthild war. 
Aber wenn es  der Wahrheit entsprach ... Wieder machte er sich 
Vorwürfe für das, was er seiner Gemahlin Veronica damals angetan 
hatte. Ihr und dem Kind. 

»So, so«, sagte er, »du behauptest also, daß du in Wirklichkeit 

meine Tochter bist.« 

Die Schwarzhaarige schüttelte den Kopf. »Wie kann ich dies 

behaupten, Herr? Ich war damals nicht alt genug, um meine Eltern zu 
kennen. In jedem Fall aber bin ich ein Findelkind. Ob das Eure, 
Herr...« Sie zuckte die Achseln. 

Nicht ungeschickt, wenn sie eine Schwindlerin war, dachte der 

Herzog. Sie behauptete nichts, konnte also auch nicht als vorsätzliche 
Lügnerin entlarvt und dafür bestraft werden. 

Der Herzog musterte sie scharf, versuchte eine Familienähnlichkeit 

festzustellen. Auch Veronica hatte langes, schwarzes Haar gehabt 
und diesen stolzen Ausdruck im Gesicht getragen. Sollte er 
tatsächlich Berthild vor sich haben? 

»Geht hinaus«, sagte er zu den anwesenden Männern. »Nur Sitta 

bleibt hier.« 

Als er  mit dem Mädchen allein war, forderte er sie auf, ihre Beine 

zu zeigen. Verwundert sah sie ihn an. 

»Aber Herr Herzog ...« 
Adalbert lächelte. »Du hast eine blühende Phantasie, mein Kind. 

Ich wollte eigentlich nur feststellen, ob du an deinem linken 
Oberschenkel ein Muttermal hast. Denn hast du dieses nicht, kannst 
du nicht meine Tochter sein.« 

Jäh blitzte es in den nachtdunklen Augen des Mädchens auf. »Ja, 

Herr, ich habe ein solches Muttermal!« 

Dann zeigte sie ihren linken Oberschenkel. 
Herzog Adalbert hielt die Luft an. Ja, da war das Mal, genau wie er 

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es in Erinnerung hatte. Dieses Mädchen war... Veronicas Tochter, da 
gab es gar keinen Zweifel. 

»Berthild«, flüsterte er. 
Das Mädchen stand da wie eine Statue, völlig bewegungslos und 

wie im Traum versunken. 

»Dann ... stimmt es also«, sagte sie langsam. »Ich bin wirklich 

Eure Tochter!« 

»Ja, Berthild, das bist du.« Herzog Adalbert war ganz eigenartig 

zumute. Da stand sie nun vor ihm, die junge Frau, die er krampfhaft 
gesucht hatte, weil er Versäumtes an ihr gutmachen wollte, weil er 
zutiefst bereute, was er damals in seinem Zorn getan hatte. Nun aber? 
Er fühlte nichts für dieses Mädchen. Es war ihm fremd, unsagbar 
fremd. Sie sah Veronica ähnlich, gewiß, ihm jedoch nicht. Sollte sein 
damaliger Verdacht, daß ihn seine Frau mit einem fahrenden Ritter 
betrogen und ihm die Frucht dieses Betrugs untergeschoben hatte, 
doch begründet gewesen sein? 

Seine Überlegungen wurden unterbrochen. Draußen auf dem Flur 

erhob sich plötzlich Getöse. Laute Stimmen und unverwechselbare 
Kampfgeräusche drangen an Adalberts Ohr. 

Und nicht nur das. Urplötzlich sprang die Tür des Schlafgemachs 

auf, als habe ein Pferd dagegen getreten. Hanns, der Begleiter 
Berthilds schoß regelrecht in den Raum hinein, mit dem Rücken 
zuerst. Er hielt ein langes, gefährlich aussehendes Messer in der 
Hand, mit dem er ohne Zweifel auf irgend jemanden losgegangen 
war. 

Und auch dieser jemand erschien jetzt im Blickfeld des Herzogs: 

ein junger Ritter, groß und stark und kühn. Sein Schwert steckte in 
der Scheide. Wie es aussah, kämpfte er mit den bloßen Fäusten 
gegen den grobschlächtigen Köhler. 

Berthild schlug erschrocken die Hand vor den Mund, als sie den 

Ritter sah. Ihr hübsches Katzengesicht verzog sich zu einer beinahe 
häßlichen Grimasse. 

Hanns hatte seine Gleichgewichtsstörungen jetzt überwunden. Mit 

dem Messer in der Hand stürzte er sich auf den Ritter, führte einen 

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mächtigen Stoß gegen dessen Körper. 

Aber der Ritter war wachsam. Er entging dem Messer mit einer 

pfeilschnellen Drehung, schlug dann seinerseits mit der Faust zu. Er 
traf Hanns seitlich am Kopf. 

Der Schlag war so mächtig gewesen, daß Hanns ins Torkeln geriet 

und ganz glasige Augen bekam. Da schlug der Ritter erneut zu. 
Hanns konnte diesen zweiten Hieb nicht mehr wegstecken. Wie vom 
Blitz getroffen, stürzte er zu Boden. Das Messer entfiel seiner Hand. 

Jetzt kamen auch Leander und Pankratius in den Raum. Und mit 

ihnen ein junges, schönes Mädchen mit haselnußbraunen Augen. Die 
beiden Männer wirkten irgendwie hilflos, wie von den Ereignissen 
überwältigt. 

Herzog Adalbert hatte seine Verwunderung ebenfalls noch nicht 

überwunden. Er wollte etwas sagen, kam aber gar nicht dazu. Der 
Ritter trat mit langsamen Schritten auf Berthild zu. 

»Teuflische Mörderin«, sagte er grollend, »habe ich dich endlich!« 
Berthild tat etwas Überraschendes. Mit haßverzerrtem Gesicht 

bückte sie sich hastig nach dem Messer, das ihrem grobschlächtigen 
Begleiter entfallen war. Und dann ging sie mit dem Messer auf den 
Ritter los. 

Der Ritter fing ihren Stoß ab, wollte dann ihren Arm festhalten. 

Aber das schwarzhaarige Mädchen kämpfte wie eine Katze. Sie riß 
sich mit einer heftigen Bewegung los und stieß sich dabei wider 
Willen das Messer in die eigene Brust. Entseelt sank sie zu Boden. 

Herzog Adalbert hatte eine Tochter gewonnen und gleich 

anschließend wieder verloren. 

Es überraschte Herzog Adalbert selbst ein wenig, wie schnell er den 
Schmerz über den Tod Berthilds überwand. Ein Schmerz im 
eigentlichen Sinne war es eigentlich auch gar nicht, denn er hatte 
keine Liebe für die Tochter seiner Frau empfunden. Wie damals vor 
zwanzig Jahren war er wieder davon überzeugt, daß Veronica ihn 

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doch  betrogen hatte und Berthild mitnichten von seinem Fleisch und 
Blute war. Wie konnte sie das auch sein  - eine Räuberin und 
Mörderin? Im Grunde genommen war er dem Ritter Roland, dem 
Abgesandten seines alten Freundes Artus, sogar dankbar dafür, daß 
alles so gekommen war. Die Vorstellung, daß eine Frau mit 
blutbefleckten Händen auf den Herzogsthron gekommen wäre, 
entsetzte ihn zutiefst. 

Da war das Mädchen Hilda, das der Ritter Roland 

irrtümlicherweise für Berthild gehalten hatte, schon eher nach seinem 
Geschmack. Wenn sie seine Tochter gewesen wäre ... 

Adalbert lächelte. Wer wollte ihn eigentlich daran hindern, Hilda 

als sein Kind anzusehen? Schließlich war er der Herzog. Und was ein 
Herzog sagte, das geschah auch ... 

ENDE 

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Das rothaarige 

Luder

 

wollte alle Männer töten. - Zur Säule erstarrt, stand Ritter Roland 
ihr gegenüber. Er glaubte, seinen Augen nicht zu trauen. So 
ein  wütendes Riesenweib hatte er in seinem Leben noch nicht 
gesehen.  - Breitbeinig hatte sie sich vor Ritter Roland 
aufgebaut. Als sie das  Schwert wie ein Turnierkämpfer 
schwang, wanderten Rolands  Augen von den mächtigen 
Ausbuchtungen des Brustpanzers zu den 

gigantischen 

Oberarmen. Das Spiel der durchtrainierten Muskeln 
faszinierte ihn...

 

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