Die verstoßene
Herzogstochter
von Günther Herbst
scanned by : horseman
kleser: Larentia
Version 1.0
»Horrido!«
Der Ruf der Jagdhelfer und das heisere Bellen der
Hunde schallten durch den taufrischen Forst. Von der
wilden Meute gehetzt, brach ein Rudel Hirsche aus dem
Unterholz und rannte auf die Lichtung, wo die berittenen
Jäger Lauerstellung bezogen hatten.
Herzog Adalbert und seine Jagdgenossen hoben ihre
Bogen. Die Pfeile lagen auf den Sehnen, warteten nur
darauf, losgeschnellt zu werden. Aber noch war es nicht
soweit. Noch warteten die Männer, um das Rotwild näher
herankommen zu lassen.
Auch Otmar von Lützen hatte seinen Bogen in Anschlag
gebracht. Das Augenmerk des Freigrafen richtete sich
jedoch nicht auf die Hirsche, denn er jagte ein viel edleres
Wild. Sein Pfeil war für einen Menschen bestimmt. Für
Herzog Adalbert...
Wohlweislich hielt sich Otmar von Lützen ganz im Hintergrund.
Nicht so weit entfernt von den anderen, um die Gefahr eines
Fehlschusses heraufzubeschwören. Aber doch weit genug weg, um
nicht der Aufmerksamkeit der Jagdgenossen ausgesetzt zu sein. Alles
andere war eine Frage der Kaltblütigkeit und der Sicherheit des
Auges.
Blind vor Angst stob das Hirschrudel heran, witterte jetzt die
wartenden Jäger und nahm eine schnelle Richtungsänderung vor.
Noch näher würde das Rotwild also nicht kommen. Der Augenblick,
in dem geschossen werden mußte, war gekommen.
Herzog Adalbert war einer der ersten, die ihren Pfeil von der Sehne
schnellen ließen. Ob er getroffen hatte, wußte Otmar von Lützen
nicht. Und es war ihm auch von Herzen gleichgültig. Ihm ging es
jetzt nur darum, daß er traf.
Mit einem schnellen Blick in alle Richtungen prüfte er noch
einmal, ob niemand auf ihn achtete. Beruhigt stellte er fest, daß er
sich in dieser Hinsicht keine Sorgen zu machen brauchte. Das
Jagdfieber hatte alle Männer gepackt. Sie hatten nur Augen für die
Hirsche, kümmerten sich um nichts anderes.
Ein triumphierendes Lächeln huschte über die dünnen Lippen des
Freigrafen. Die Gelegenheit, auf die er schon so lange wartete, fiel
ihm regelrecht in den Schoß.
Jetzt galt es!
Otmar von Lützen nahm Maß und spannte den Bogen mit der
ganzen Kraft seiner starken Arme. Dann ließ er das Pfeilende los.
Das hölzerne Geschoß mit der tödlichen Eisenspitze jagte
zielsicher durch die Luft.
Und es traf!
Ganz deutlich sah Otmar von Lützen, wie der Herzog im Sattel
seines Pferdes zusammenzuckte. Er sah, wie Adalbert schwankte und
hilflose Bewegungen mit den Armen machte. Der Bogen entglitt
seiner kraftlos gewordenen Hand, fiel auf den taufeuchten
Wiesenboden.
Der Freigraf wartete nicht ab, bis der Herzog vom Rücken seines
Reittiers stürzte. Zu dem Zeitpunkt, in dem das schreckliche
Geschehen offensichtlich wurde, mußte er sich in einer Position
befinden, die nicht den Schatten des leisesten Verdachts aufkommen
ließ.
Schnell gab der Freigraf seinem Pferd die Hacken zu spüren. Der
Fuchs setzte sich sofort in Bewegung, brachte seinen Reiter auf eine
Höhe mit mehreren anderen Jägern. Währenddessen hatte von Lützen
auch nicht versäumt, einen zweiten Pfeil aus dem Köcher zu ziehen
und auf die Bogensehne zu legen. Wenn ihn jemand fragte, konnte er
treuherzig sagen, daß er noch gar nicht geschossen hatte, weil ihm
kein sicheres Ziel vor die Pfeilspitze gekommen war.
Jetzt endlich entstand Unruhe in der Jagdgesellschaft. Einige
Männer hatten gemerkt, daß etwas Unvorhergesehenes geschehen
war.
»Um Gottes willen, der Herzog!« wurde eine schrille, entsetzte
Stimme laut.
»Der Herzog? Was ist mit dem Herzog?«
»Er scheint... tot zu sein!«
Tot!
Otmar von Lützen hatte einige Mühe, seinen Triumph nicht
sichtbar werden zu lassen. Er zwang Bestürzung in sein Gesicht, gab
sich genauso verstört wie die anderen.
»Was ... ist los? Herzog Adalbert tot? Aber das ist doch völlig
unmöglich!«
Alle Jagdgenossen lenkten ihre Pferde jetzt dorthin, wo sie den
Herzog wußten. Freigraf Otmar von Lützen war einer derjenigen, die
sich besonders beeilten.
Ja, da war Adalbert. In verkrümmter Haltung lag er im Gras, die
Beine angezogen, die Arme weit von sich gestreckt, mit dem Gesicht
nach unten. Aus seinem Rücken ragte das Ende eines Pfeils. Rings
um die Einschußstelle färbte sich sein mit Goldfäden durchwirktes
Wams rot. Er bewegte sich nicht, lag vollkommen reglos da.
Mehrere Männer sprangen aus den Sätteln, beugten sich über den
am Boden Liegenden.
Auch Otmar von Lützen schwang sich vom Rücken seines Pferdes
und trat eilig herbei.
»Allmächtiger«, sagte er kopfschüttelnd. »Wie konnte das denn
nur passieren?«
Freigraf Baldur von Torstein, der unmittelbar neben ihm stand,
blickte kurz hoch.
»Meuchelmord!« stieß er hervor. »Irgendein gemeiner Hundsfott
hat den Herzog ermordet!«
Otmar von Lützen zuckte zurück, als habe ihn ein wuchtiger
Hammerschlag getroffen.
»Meuchelmord?« wiederholte er entsetzt. »Glaubt Ihr das wirklich,
Freigraf?«
»Natürlich!«
»Aber warum? Wer sollte danach streben, unserem geliebten
Landesherrn das Leben zu rauben?«
Der bullige Mann zog die Mundwinkel schief. »Jemand, der sich
selbst gerne zum Landesherrn aufschwingen möchte!«
Otmar von Lützen spürte, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich.
Ahnte Torstein etwas? Oder schlimmer noch - hatte er etwas
gesehen? Der bullige Mann hatte den Nagel genau auf den Kopf
getroffen. Nachfolger des Herzogs zu werden - eben dies war von
Lützens Ziel. Nur aus diesem Grunde hatte er seinen Pfeil gegen
Adalbert gerichtet.
Baldur von Torstein schob das Kinn vor. »Ihr seid verstört, Lützen!
Bin ich der Wahrheit auf der Spur?«
Diesen unverblümten Worten konnte Otmar von Lützen nur eins
entgegensetzen: Empörung. Er hob den Bogen, den er noch immer in
der Hand hielt, und umfaßte den Pfeil mit den Fingern der anderen
Hand.
»Darf ich Euren Worten entnehmen, daß Ihr mich beschuldigt, den
Herzog getötet zu haben?« fragte er drohend.
Unwillkürlich trat der andere einen Schritt zurück. »Senkt den
Bogen, Lützen! Seid Ihr des Teufels?«
»Ich verlange eine Antwort! Und Ihr tut gut daran, Euch diese
Antwort recht zu überlegen!«
»Es lag mir fern, Euch einem bösen Verdacht auszusetzen«, sagte
Baldur von Torstein mit knirschenden Zähnen. »Meine Gedanken
ergingen sich lediglich in grüblerischen Bahnen.«
Er hat also nichts gesehen! begriff Otmar von Lützen. Und sofort
nutzte er die günstige Gelegenheit, seinerseits zum Angriff
überzugehen. Wenn es darum ging, für den kinderlosen Adalbert
einen Nachfolger auf dem Herzogthron zu bestimmen, dann war
Freigraf Baldur von Torstein sein schärfster Rivale. Es konnte also
nur von Vorteil sein, wenn er den anderen ins Zwielicht setzte.
Er ließ den Bogen nicht sinken und maß den bulligen Mann mit
finsteren Blicken.
»Könntet Ihr nicht derjenige gewesen sein, der seinen Pfeil gegen
den Herzog richtete?« sagte er argwöhnisch.
Nun war es an Baldur von Torstein, seiner Empörung freien Lauf
zu lassen. Seine Miene verdüsterte sich, und auf der Stirn erschien
eine tief eingekerbte Falte.
»Ihr wagt es allen Ernstes, mir zu unterstellen...«
»Hört auf mit dem fruchtlosen Gezänk, Ihr Herren«, sagte Freigraf
Ulf von dem Walde, der dem Streit der beiden Jagdgenossen
zugehört hatte. »Keine Sekunde zweifele ich daran, daß der Herzog
Opfer eines bedauerlichen Unfalls wurde.«
»Eines Unfalls?« echote von Lützen.
Ulf von dem Walde nickte. »Ein Pfeil, der tatsächlich dem Wilde
galt, verflog sich und traf unglücklich den Herzog. Ich bin überzeugt
davon, daß niemand bewußt nach dem Leben unseres Herrn
trachtete.«
Jetzt ließ Otmar von Lützen langsam den Bogen sinken.
»In der Tat«, sagte er, »so könnte es gewesen sein.« Er wandte sich
an seinen Rivalen. »Verzeiht, Torstein. Gewiß wollte ich Euch nicht
zu nahe treten, aber ...«
»Nichts für ungut«, gab auch der bullige Freigraf klein bei. »Es
war wohl der Schmerz über den Verlust unseres geliebten Herrn, der
uns Unbedachtes über die Lippen kommen ließ.«
Der Streit war beigelegt, und kein Verdacht mehr lastete auf Otmar
von Lützen. Dennoch fiel wenig später ein gallebitterer Tropfen in
den Freudenbecher des Freigrafen.
»Der Herzog lebt!« gellte plötzlich eine Stimme auf. »Seht doch,
seine Augenlider bewegen sich!«
Otmar von Lützen fiel es ungeheuer schwer, die Enttäuschung aus
seinem Gesicht zu verbannen.
*
Schweratmend lag Herzog Adalbert in den Linnenkissen seines
Fürstenbettes. In Rücken und Brust tobte ein rasender Schmerz, der
so grausam war, daß er immer wieder dem Rand der Ohnmacht
entgegentaumelte. Die Salben des Arztes hatten kaum für Linderung
sorgen können.
Der Herzog wußte, daß sein Lebensfaden bald abreißen würde. Der
Pfeil, der ihn durchbohrt hatte, war sein Schicksal. Es hatte keinen
Zweck, sich irgendwelche falschen Hoffnungen zu machen.
Aber noch war er nicht bereit, von der Bühne des Lebens
abzutreten. Bevor er ging, gab es noch etwas zu tun. Etwas, das er
schon längst hätte tun sollen, wenn sein Herz nicht so verhärtet
gewesen wäre. Jetzt aber, angesichts des nahenden Todes, fühlte er
die Bereitschaft zum Verzeihen tief in sich.
Es kostete ihn einige Mühe, die Augen zu öffnen und den Kopf
leicht anzuheben. Wie durch einen Schleier nahm er die Personen
wahr, die mit sorgenvollen Gesichtern sein Bett umstanden. Da
waren Pankratius, der Arzt, und sein Leibdiener Erich. Und da war
auch Leander, sein getreuer Hausmeier.
Der Arzt hatte ein feuchtes Tuch in der Hand und wollte ihm damit
über die Stirn fahren. Aber Adalbert wehrte ihn mit einer unwilligen
Fingerbewegung ab.
»Leander«, flüsterte er.
Der im opferbereiten Dienst ergraute Hausmeier beugte sich sofort
zu ihm nieder.
»Herr?«
»Schicke alle anderen hinaus«, sagte der Herzog mit schwacher
Stimme. »Ich möchte mit dir allein reden.«
Es bedurfte keiner weiteren Aufforderung. Ohne Widerspruch zu
erheben, verließen alle das Schlafgemach. Nur der Hausmeier blieb.
Er schob ein weiteres Kissen unter den Kopf des Sterbenden, um ihm
das Sprechen etwas zu erleichtern.
»Leander, was wird werden, wenn ich nicht mehr unter den
Lebenden weile?« begann der Herzog das Gespräch.
»Aber, aber«, erwiderte der Hausmeier begütigend. »Ihr werdet
nicht sterben! Ihr werdet Euch erholen und bald schon ...«
»Machen wir uns nichts vor! Ich weiß recht gut, wie es um mich
steht, und ich verlange von dir, daß du offen und ehrlich zu mir bist.«
»Ja, Herr«, nickte der alte Mann bedrückt.
»Also?«
»Wenn Ihr ... nicht mehr seid, werden die Freigrafen des Landes
um Eure Nachfolge streiten«, sagte Leander. »Ich fürchte, es wird
sehr unfriedlich zugehen. Männer wie Baldur von Torstein und
Otmar von Lützen sind nicht wählerisch, wenn es darum geht, ihre
Pläne zu verwirklichen.«
»Ja«, bestätigte der Herzog, »du sprichst das aus, was auch ich
denke. Und deshalb ...«
Er unterbrach sich. Das Sprechen fiel ihm schwer. Jedes Wort, das
er von sich gab, verstärkte das höllische Stechen in seiner Brust. Es
war erforderlich, eine kleine Ruhepause einzulegen.
Dem treuen Leander entging das nicht. »Soll ich Pankratius
herbeiholen, Herr?«
»Nein, nein, es geht schon wieder«, wehrte der Herzog ab. Er
zwang sich dazu, die Schwäche zu überwinden, die in seinem Körper
tobte wie ein böses Tier.
»Leander?«
»Ja, Herr?«
»Erinnerst du dich an Veronica?«
»Veronica?« Der alte Mann tat so, als ob er den Namen niemals in
seinem Leben gehört hatte.
Adalbert lächelte. »Keine Bange, Leander. Es war nicht meine
Absicht, dich einer Prüfung zu unterziehen. Sehr wohl weiß ich, daß
ich dir vor gut zwanzig Jahren befahl, Veronica zu vergessen. Diesen
Befehl hebe ich jetzt auf.«
Deutlich war dem alten Mann anzumerken, wie gerne er diese
befreienden Worte hörte.
»Und ob ich mich an Eure Gemahlin erinnerte!« sagte er aus
tiefstem Herzen. »Vergebt mir, Herr, aber trotz Eurer Weisung habe
ich sie stets im Angedenken gehalten!«
»Du hast es mir all die Jahre übel genommen, daß ich sie damals
verstieß, nicht wahr? Sie und das Kind!«
»Es steht mir nicht zu, Euch etwas übel zu nehmen, Herr, aber ...«
»Du warst immer der Überzeugung, daß ich ihr bitteres Unrecht
zufügte, stimmt's?«
»Dies kann und will ich nicht leugnen«, gestand Leander. »Nie
konnte ich Eure Auffassung teilen, daß Euch die Herzogin untreu
war und das Kind tatsächlich von einem anderen Mann stammte. Es
war Euer Kind, Herr!«
»Ich hatte meine Gründe, Gegenteiliges zu glauben«, sagte
Adalbert leise.
»Falsche Gründe, wenn Ihr mir erlaubt, dies so frei heraus zu
sagen«, erwiderte der Hausmeier.
»Mag sein, mag sein«, murmelte der Herzog. »Im Laufe der Jahre
geriet meine damalige feste Überzeugung mehr und mehr ins
Wanken. Ich gestehe, daß ich jedoch zu stolz war, meinen
Meinungswandel offen zuzugeben. Jetzt aber... Leander, ich möchte
wieder gutmachen, was ich vielleicht vorschnell an Unrechtem tat.«
»Das ehrt Euch, denn es ist niemals zu spät, Reue zu zeigen«, sagte
der alte Mann weise.
»Weißt du, was aus Veronica und der kleinen Berthild geworden
ist?« fragte der Herzog.
Leander machte ein bekümmertes Gesicht. »Gerne würde ich Euch
eine Antwort geben, die Ihr hören wollt. Aber ich kann es nicht. Mir
ist nicht bekannt, wohin sich Eure Gemahlin damals mit dem Kinde
wandte.«
»Aber sicher gibt es jemanden, der Bescheid weiß.«
Der Hausmeier schüttelte den Kopf. »Ich fürchte nicht. Ihr gabt
den Befehl, Eure Gemahlin zu vergessen. Und Ihr drohtet jedem
schwere Strafe an, der sich um Mutter und Kind kümmern würde.
Soweit ich weiß, wagte niemand, Eurem Befehl zuwiderzuhandeln.«
Das Stechen in Adalberts Brust wurde heftiger. Und dieses Stechen
kam gewiß nicht nur von der Pfeilwunde, sondern auch aus seinem
kummervollen Herzen.
»Veronica und Berthild müssen gefunden werden«, flüsterte er
eindringlich. »Vor allem Berthild! Ich habe sie dazu ausersehen, mir
auf den Herzogthron zu folgen. Wenn sie von meinem Blute ist,
gebührt ihr die Herrschaftswürde. Und außerdem wäre dadurch dem
Streit der Freigrafen um meine Nachfolge die Nahrung entzogen.«
»Dies wäre eine vortreffliche Lösung«, pflichtete ihm der
Hausmeier bei. »Aber ich weiß wirklich nicht...«
»Tu alles, was in deiner Macht steht«, befahl der Herzog. »Laß
Anschläge im ganzen Land anbringen. Laß Herolde in alle
Richtungen ausschwärmen. Versprich demjenigen, der einen
Hinweis auf den Verbleib Berthilds geben kann, die Erhebung in den
Adelsstand. Wirst du dies alles tun, mein getreuer Leander?«
»Ich werde es tun«, versprach der Hausmeier feierlich. »So wahr
mir Gott helfe.«
Erleichtert ließ sich der Herzog in die Kissen zurücksinken. Wenig
später war er tief und fest eingeschlafen.
Lautlos verließ der alte Mann das Schlafgemach, um die
Weisungen seines Herrn in die Tat umzusetzen.
*
»Ja, ja, ja«, stöhnte die Schwarze Sitta leidenschaftlich. »Mehr,
mehr, mehr!«
Sie lag auf dem Rücken, das weiche Blätterlager unter sich. Ihre
geschlossenen Augenlider zitterten, die Lippen waren lustvoll
geöffnet. Mit beiden Händen krallte sie sich in den nackten Rücken
des Mannes über ihr. Daß ihre Fingernägel dort blutige Spuren
hinterließen, machte ihr nicht das geringste aus. Eher war das
Gegenteil der Fall. Das Blut verstärkte ihren Sinnesrausch nur noch.
»Ich liebe dich, Sitta«, keuchte Rollf der Schinder. »Oh, wie ich
dich liebe!«
Und er tat sein Bestes, um diese seine Liebe zu beweisen. Die
Kraft seiner Lenden schien unerschöpflich zu sein. Sitta geriet von
einer Verzückung in die andere.
»Sitta, Rollf!«
Wie aus einer anderen Welt drang die Stimme an ihre Ohren.
Bewußt nahm sie gar nicht wahr, daß jemand ihren Namen gerufen
hatte. Sie hörte nur die Stimme ihres Blutes, und alles andere war ihr
im Augenblick vollkommen gleichgültig.
Anders jedoch ihr Liebhaber. Rollf der Schinder fuhr zusammen,
als habe man einen Zuber Jauche über ihm ausgeleert. Mit einem
bösen Knurren ließ er von dem Mädchen ab und sprang auf die Füße.
Hastig griff er nach seinem Rock und schlang ihn sich um die
Hüften.
»Sohn eines alten Schweins!« fuhr er den Mann an, der grinsend
im Höhleneingang stand. »Was fällt dir ein, hier so schamlos
hereinzuplatzen?«
»Halte die Luft an, Schinder«, sagte der Mann und reckte seine
breiten Schultern. »Ich komme und gehe, wann ich will. Und du bist
der letzte, der mich daran hindert. Und nun verschwinde! Ich habe
mit Sitta zu reden.«
Einen Augenblick lang sah es so aus, als ob Rollf der Schinder
diese unverblümte Zurechtweisung nicht tatenlos hinnehmen würde.
Er hob die rechte Hand und ballte die Faust. Dann aber ließ er die
Hand wieder sinken, murmelte etwas Unverständliches vor sich hin
und verließ mit bösem Gesicht die Höhle. Er hatte den Mut, sich
offen gegen den Bandenführer aufzulehnen, doch nicht aufgebracht,
wohl wissend, daß ihm das schlecht bekommen wäre.
Geringschätzig lächelnd blickte ihm Hanns der Bär nach. Er war
dreißig Jahre älter als der Schinder. Aber das änderte nichts an der
Tatsache, daß er es noch immer mit jedem einzelnen seiner Leute
aufnehmen konnte.
»Mußtest du ihn so vor den Kopf stoßen, Ohm?« sagte die
Schwarze Sitta vorwurfsvoll.
Sie hatte sich aufgerichtet, dachte aber nicht daran, ihre Blößen zu
bedecken. Fast herausfordernd reckte sie Hanns dem Bär ihre vollen
Brüste entgegen.
»Rollf der Schinder ist ein Dummkopf«, sagte der Bandenführer
und zuckte mit den Schultern.
»Aber er ist ein vortrefflicher Liebhaber«, erwiderte das Mädchen
und lächelte katzenhaft.
Wie zufällig fuhr sie mit den Handflächen über die Spitzen ihrer
Brüste. Es war eine Bewegung, die selbst den keuschsten Mönch
zum Schwanken gebracht hätte.
Hanns der Bär lachte polternd. »Du bist ein Luder, Sitta!«
»Und du bist ein Mann! Und von deinem Blut fließt kein Tropfen
in meinen Adern.«
»Wohl wahr«, nickte der Bandenführer. »Bisher hielt ich dich stets
für die leibliche Tochter des Teufels. Nun aber sieht es so aus, als
stammst du aus herzoglichem Geblüt!«
Die Schwarze Sitta zog die geschwungenen Augenbrauen in die
Höhe. »Was sagst du da?«
Hanns der Bär kam näher und setzte sich neben der jungen Frau
auf das Lager aus trockenen Blättern. Prüfend blickte er ihr in das
hübsche Gesicht.
»Ja«, sagte er. »Wenn ich dich so ganz genau anschaue ... Du
siehst ihm in der Tat ähnlich!«
»Wem sehe ich ähnlich, zum Teufel?«
»Dem Herzog!«
»Du meinst... Herzog Adalbert?«
»Nämlichem«, nickte der Bandenführer. »Vieles spricht dafür, daß
du wirklich seine Tochter bist.«
Die Schwarze Sitta lachte silberhell auf. »Du mußt verrückt
geworden sein, Ohm! Erstens weiß jedermann im Lande, daß der
Herzog keine Kinder hat...«
»So hieß es bisher. Nun aber wissen wir es anders. Adalberts
damalige Ehe ist nicht kinderlos geblieben. Er hatte eine Tochter -
dich, du kleines Luder!«
Sitta wußte nicht mehr, was sie sagen sollte. Und wie immer bei
solchen Gelegenheiten nahm sie Zuflucht zu Beschimpfungen, die
sich aus ihrem hübschen Munde weitaus garstiger anhörten als aus
dem zahnlosen Maul eines Sauhirten.
Hanns der Bär ließ sie schimpfen. Ja, er hatte sogar seine Freude
an ihrem Gezeter, bewies dies doch, daß sie ganz nach seiner Art
geschlagen war, auch wenn er sie seinerzeit nur an Vaters Stelle als
die seine angenommen hatte. Erst als ihr langsam die Luft wegblieb,
bequemte er sich zu einer Erklärung. Er erzählte von dem
herzoglichen Herold, der seinem Gewährsmann begegnet war,
erzählte ihr von dem Aufruf Adalberts und allem, was damit in
Zusammenhang stand.
Die Schwarze Sitta konnte es noch nicht fassen.
»Langsam, langsam«, sagte sie und bemühte sich dabei
krampfhaft, ihre Aufregung zu unterdrücken. »Damals also jagte der
Herzog sein Weib und ihr Neugeborenes davon. Schön und gut! Wie
aber kommst du auf den Gedanken, daß ausgerechnet ich jenes Kind
war, das die Herzogin auf ihren Armen trug?«
»Der Zeitpunkt stimmt«, antwortete Hanns der Bär und zupfte an
seinem struppigen Bart. »Es ist etwa zwanzig Jahre her, als ich dich
damals im Walde fand - einen greinenden Säugling, halb erfroren
und von allen verlassen.«
»Und die Herzogin?«
»Was weiß ich? Sie könnte dich im Wald ausgesetzt haben und
ihres Weges gegangen sein. Sie könnte den Wölfen oder einem
Bären zum Opfer gefallen oder in die Hände von Wegelagerern
geraten sein. Ich war damals nicht der einzige Räuber im Lande.«
Sekundenlang sagte die Schwarze Sitta kein einziges Wort. Dann
sprang sie plötzlich auf und tanzte in ihrer ganzen Nacktheit
jauchzend in der Höhle umher.
»So stimmt es also - ich bin des Herzogs Töchterlein! Und nun
sucht mich mein geliebter Vater, um mich auf den Thron zu setzen!«
Mit blitzenden Augen sah sie den Bandenführer an. »Worauf
warten wir noch, Ohm? Auf zum Schloß!«
Hanns der Bär grinste breit. »Du hast es verdammt eilig, was?«
»Wer an meiner Stelle würde nicht...«
»Wir sollten nichts überstürzen«, bremste Hanns der Bär ihren
wilden Eifer. »Noch ist keinesfalls gewiß, daß du wirklich die
Gesuchte bist!«
»Aber du sagtest doch ...«
»Ich sagte, daß du es sein könntest, mein Kind! Je länger ich
jedoch darüber nachdenke, desto größer werden meine Zweifel.«
»Wieso, zur Hölle?«
»Ich komme langsam in die Jahre, wo einem das Gedächtnis schon
mal einen Streich spielt«, sagte der Bandenführer. »Aber mögen die
Erinnerungen auch verschüttet sein, gänzlich verloren sind sie
dennoch nicht.«
»Du sprichst in Rätseln, Ohm«, stieß das Mädchen hervor. »Oder
du bist ein alter Narr, der nicht mehr ganz richtig im Kopfe ist.«
Niemand außer ihr konnte es wagen, so mit Hanns dem Bär zu
sprechen. Jedem seiner Männer hätte er zumindest das Nasenbein
gebrochen, wenn sie ihm so unbotmäßig gekommen wären. Bei Sitta
jedoch drückte er wie stets beide Augen zu.
»Ich erinnere mich jetzt deutlich«, sagte er. »Du warst in jenen
Tagen nicht das einzige Findelkind. Da war der Köhler
Gislevert...»»Ein Junge namens Gislevert kann schlechterdings nicht
die Tochter des Herzogs sein, oder?«
»Laß mich gefälligst aussprechen«, erwiderte der Bandenführer,
jetzt doch etwas verärgert ob der ständigen Unterbrechungen durch
seine Ziehtochter. »Nicht Gislevert war das Findelkind. Vielmehr
war er es, der das Kind bei sich aufnahm. Das Kind und die Mutter!«
Die Schwarze Sitta wurde blaß. »Die ... Herzogin?«
»Das weiß ich nicht. Gislevert hat nie darüber gesprochen, wer die
Frau war. So ich mich erinnere, ist sie auch alsbald gestorben.«
»Und das Kind? Es war ein Mädchen, nicht wahr?«
»Ja, es war ein Mädchen. Es wuchs bei Gislevert auf und
entwickelte sich gar prächtig.«
Die Schwarze Sitta war noch blasser geworden. »Diese kleine
Köhlerschlampe will mir den Herzogsthron wegnehmen. Das lasse
ich nicht zu! Wir müssen es verhindern, Ohm!«
»Und wie machen wir das?« fragte der Bandenführer. »Wenn nicht
du, sondern sie die richtige ist...«
»Wir töten sie«, zischte Sitta entschlossen. »Sie und diesen Köhler!
Eine Tote kann sich nicht als des Herzogs Tochter ausgeben, selbst
wenn sie es tatsächlich ist. Und wenn die Nebenbuhlerin nicht mehr
lebt, ist der Weg frei - für mich!«
»Das wird gar nicht so einfach sein«, wandte Hanns der Bär ein.
»Warum nicht?« funkelte ihn das Mädchen an. »Mir scheint fast,
du willst überhaupt nicht, daß ich Herzogin werde! Du willst, daß ich
weiterhin mit dir und deinen Wegelagerern hier im Wald lebe. Und
auch deine Gründe sind mir vollkommen klar, Ohm. Einen besseren
Lockvogel als mich wirst du so leicht nicht finden, stimmt's?«
»Törichtes Kind«, sagte der Bandenführer. »Wie könnte ich nicht
wünschen, daß du den Herzogthron besteigst? Glaubst du, ich habe
große Freude daran, bis an mein Lebensende ein Räuber zu sein -
ständig auf der Flucht vor den Häschern? Die Stellung eines
Hausmeiers auf dem Schloß würde mir viel besser gefallen.«
»So, so, Hausmeier möchtest du also werden! Und was tust du,
wenn ich statt deiner einen anderen zum Verwalter meines
herzoglichen Besitzes mache?«
»Dann bringe ich dich um!«
Die Schwarze Sitta blinzelte, lächelte dann etwas gequält. »Du
weißt selbst, daß ich dich niemals hintergehen würde, Ohm. Wenn du
mich nicht als Säugling zu dir genommen hättest, wäre ich längst
nicht mehr unter den Lebenden.«
Der Bandenführer nickte. »Du tätest gut daran, dies niemals zu
vergessen!«
»Kommen wir zurück auf diese Köhlerschlampe«, sagte das
Mädchen. »Warum hast du Bedenken, sie aus dem Wege zu
räumen?«
»Es ist gewiß nicht mein weiches Herz, falls du das denkst. Die
Schwierigkeit liegt ganz woanders.«
»Und zwar?«
Hanns der Bär seufzte. »Gislevert, der Köhler, lebt nicht mehr in
unserer Gegend. Vor ein paar Jahren gab er seinen Meiler auf, nahm
Frau und Kinder und zog auf und davon.«
»Und du hast keine Ahnung, wo er abgeblieben ist?«
»Nicht die geringste.«
»Das ist dumm«, sagte die Schwarze Sitta finster. Dann hellte sich
ihr Gesicht auf. »Oder auch nicht! Wenn die Köhlerschlampe nicht
mehr im Lande ist, kann sie nicht als meine Rivalin um den Thron
auftreten, richtig?«
»Das Land ist groß, aber die Kunde vom Aufruf des Herzogs wird
sich verbreiten wie ein Lauffeuer. Ich zweifele nicht daran, daß
Gislevert davon erfahren wird, wo auch immer er jetzt lebt.«
Das hübsche Gesicht der Schwarzen Sitta verzog sich zu einer
Grimasse.
»Dann müssen wir ihn finden, hörst du?« sagte sie schrill. »Ihn und
seine verdammte Ziehtochter!«
Hanns der Bär nickte bedächtig.
*
Roland hob verwundert die Augenbrauen, als Pierre unvermutet sein
Pferd beschleunigte und mit ein paar Galoppsprüngen an ihm
vorbeizog.
»He, was ist los?« rief er den dicklichen Knappen an. »Hast du die
Gewalt über deine Mähre verloren?«
Es paßte überhaupt nicht zu Pierre, daß er sich beeilte. Er hatte es
lieber gemütlich und ließ es in allen Lebenslagen gemächlich
angehen. Und daß er unterwegs die Spitze übernahm, kam so gut wie
gar nicht vor. Vornan mochten Gefahren lauern, und diesen ging er
sorgsam aus dem Wege, wenn es sich nur irgendwie einrichten ließ.
Der Knappe wandte den Kopf. »Einem so famosen Reiter wie mir
geht kein Pferd durch«, stellte er fest. »Aber ich spüre die Nähe eines
Wirtshauses, und deshalb ...«
»... beeilst du dich, damit dir um Gottes willen keiner etwas
wegfrißt«, warf der Knappe Louis lachend ein.
»Ritter Roland, warum schlagen wir uns eigentlich mit dem
nutzlosen Kerl herum? Er denkt nur ans Essen und Schlafen und ist
sonst zu nichts zu gebrauchen.«
Der Ritter mit dem Löwenherzen schmunzelte. »Immerhin können
wir in seiner Gesellschaft nicht verhungern. Und das ist ja auch
schon etwas wert.«
Der dickliche Knappe hatte in der Tat die Gabe, Eßbares mit
unfehlbarer Sicherheit aufzuspüren. In dieser Beziehung hatte er die
Witterung eines guten Jagdhundes. Auch diesmal war dies wieder
der Fall. Roland sah das Wirtshaus noch gar nicht, von dem Pierre
gesprochen hatte. Aber er bezweifelte nicht, daß es binnen kürzester
Zeit tatsächlich am Straßenrand auftauchen würde.
Er konnte nicht sagen, daß ihm das Wirtshaus unwillkommen war.
Ein äußerst scharfer und anstrengender Ritt lag hinter ihm und seinen
beiden Gefährten, und er hatte einen rechtschaffenen Hunger
entwickelt. Außerdem blickte auch er einem weichen Nachtlager mit
großem Behagen entgegen. Zwar hatte König Artus zu äußerster Eile
gedrängt, als er ihm den Auftrag gab, zum Schloß Herzog Adalberts
zu reiten. Die kommende Nacht jedoch durfte sicherlich noch der
Muße und der Entspannung dienen. Wenn sich der Verdacht des
Herrn von Camelot, daß man einen Mordanschlag auf den Herzog
unternommen hatte, als wahr herausstellte, würde er in den nächsten
Tagen sicherlich alle Hände voll zu tun haben und kaum zu viel
Schlaf kommen.
Es war so, wie Pierre gesagt hatte. Rechter Hand schälten sich aus
dem Zwielicht der Abenddämmerung die verschwommenen Umrisse
eines einsamen Gebäudes hervor, die Kate eines Einsiedlers oder
tatsächlich eine Herberge.
Wenig später zügelten die drei Männer ihre Pferde vor dem Haus.
Ja, es war eine Herberge, eine von jener Sorte, bei der der Gast nicht
allzu viel Leibesvergnügen erwarten durfte. Das Gebäude bestand
rundherum aus Holz und war mit gepreßten Strohschindeln bedeckt.
Es sah ärmlich aus, wirkte aber ungemein sauber. Und der gepflegte
kleine Gemüsegarten war gewiß auch mit viel Liebe angelegt
worden.
Roland und seine Begleiter waren noch nicht aus den Sätteln
gestiegen, da wurden sie bereits willkommen geheißen. Ein
grauköpfiger Mann mit stark gebeugtem Rücken trat aus dem Haus
und begrüßte die Ankömmlinge mit freundlichen Worten.
Aber es war nicht der alte Mann, der sofort Rolands ganze
Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Diese Aufmerksamkeit zog das
Mädchen auf sich, das in diesem Augenblick nach draußen kam. Was
für das Haus galt, galt auch für die Kleidung der jungen Frau:
ärmlich, aber sauber. Aber so wie auf einem Misthaufen auch eine
herrliche Rose blühen konnte, so steckte in dieser unscheinbaren
Kleidung ein gar prächtiges Geschöpf. Wonnevolle Rundungen an
den richtigen Stellen, Beine so lang, daß man glaubte, sie würden gar
nicht mehr aufhören, und dazu ein engelhaftes Gesicht, das von
wallendem, rehbraunen Haar umschmeichelt wurde. Roland kannte
sich aus mit dem schönen Geschlecht. Aber selbst unter
hochgestellten höfischen Damen war ihm selten ein solches Fräulein
begegnet.
Auch Louis und Pierre starrten die junge Frau an und bekamen
Stielaugen dabei. Die Blicke waren dem Mädchen sichtlich peinlich.
Der artige Knicks, den sie jetzt machte, wurde begleitet von einem
verlegenen Lächeln.
»Bringt die Pferde in den Stall«, sagte Roland, um seine Knappen
auf andere Gedanken zu bringen. »Ihr habt doch eine Unterkunft für
unsere Reittiere?« vergewisserte er sich anschließend 'bei dem
grauköpfigen Alten.
»Gewiß doch, Herr Ritter«, bestätigte der Herbergswirt. »Hier
entlang, bitte schön!«
Der Alte zeigte den Knappen den Weg und führte sie mit den
Pferden ums Haus herum. Roland hatte unterdessen das Vergnügen,
von dem Mädchen in die Gaststube geleitet zu werden.
»Wie heißt du, schönes Kind?« fragte der Ritter mit dem
Löwenherzen lächelnd.
»Hilda«, sagte die junge Frau. »Und meine Eltern sind Gislevert
und Maria.«
»Freut mich, euch kennenzulernen. Ich bin sicher, wir werden uns
wohlfühlen bei euch.«
»Das hoffe ich auch, Herr Ritter«, sagte das Mädchen artig.
»Meine Mutter ist eine vorzügliche Köchin, und auch unsere Betten
gaben noch nie Anlaß zur Klage.«
Roland wußte etwas, das zu seinem Wohlbefinden noch mehr
beitragen konnte. Aber es war wohl verfrüht, schon jetzt davon zu
reden.
*
Baldur von Torstein hieb mit der Faust auf den Tisch, so kräftig, daß
Schüsseln und Becher hüpften.
Seine Frau, die sich vor Schreck fast an einem Hühnerschenkel
verschluckte, blickte ihn fassungslos an.
»Bist du toll geworden, Mann?«
»Keineswegs«, sagte der Freigraf und lachte dröhnend. »Ich
hab's!«
»Was hast du?«
»Die Lösung«, sagte von Torstein. Und als er das Unverständnis in
den Augen seiner Gemahlin sah, fuhr er fort: »Ich weiß jetzt, wie ich
die Herrschaft über das Land antreten kann, ohne mich vorher mit
Lützen auseinandersetzen zu müssen.«
»Ich kann mir schon denken, wie du das machen willst«, erwiderte
Emilia von Torstein spöttisch. »Du schickst ein paar Meuchelmörder
los und läßt deinen Rivalen umbringen.«
»So eine Schurkerei traust du mir zu, Weib?«
»Unbedingt!«
»Hüte deine Zunge. Ich bin nicht bereit, weitere
Ehrabschneidungen aus deinem Munde hinzunehmen!«
Achselzuckend wandte sich Emilia von Torstein wieder ihrem
Huhn zu.
In Sekundenschnelle hatte der Freigraf seinen momentanen Ärger
wieder vergessen. Nicht zuletzt auch deshalb, weil das, was er
vorhatte, kaum weniger schurkisch war als ein Meuchelmord.
»Wie alt ist unsere Tochter Martha?« wollte er von seiner Frau
wissen.
»Dreiundzwanzig Jahre natürlich!«
»Nein! Sie ist erst zwanzig Jahre alt!«
Emilia schüttelte heftig den Kopf. »Mann, ich werde doch wohl
wissen, wann ich meine Tochter geboren habe!«
Der Freigraf grinste. »Du hast sie gar nicht geboren!«
»Wie? Ich habe sie nicht...«
»Wir sind nicht die leiblichen Eltern unserer Tochter Martha. Das
können wir auch gar nicht sein, denn Martha ist ein Findelkind!«
Emilia von Torstein lachte. »Du bist wirklich toll! Jetzt zweifele
ich nicht mehr daran.«
»Ganz im Gegenteil«, sagte der Freigraf. »Selten war ich so klar
bei Verstand wie in diesem Augenblick.« Er beugte sich vor und
stützte den Kopf auf die Hände. »Du hast den Herold des Herzogs
gehört?«
»Natürlich. Adalbert sucht Frau und Kind, die er damals ...« Emilia
von Torstein stutzte. Der Funke des Verstehens blinkte in ihren
Augen auf. »Du willst doch nicht etwa behaupten ...«
»Doch, genau das will ich«, sagte Baldur. »Im Grunde genommen
ist alles ganz einfach. Damals, als Adalbert seine Gemahlin Veronica
und ihren Wechselbalg mit Schimpf und Schande davonjagte, war
ich noch ein kleiner Ritter ohne eigenen Herrschaftsbereich.«
»Wem sagst du das?« warf seine Frau ein. »Martha und ich hatten
kaum genug zu beißen, während du ...«
»Unterbrich mich nicht!« sagte der Freiherr scharf. »Jedenfalls war
ich damals noch ein fahrender Ritter, dem eines Tages die
unglückliche Veronica in die Arme lief. Gütig wie ich schon damals
war, nahm ich Mutter und Kind in meine Obhut und ...«
»Aber das ist doch lächerlich, Mann! Damals hattest du bereits
mich und Martha!«
Der Freigraf machte eine unwirsche Handbewegung. »Wer weiß
das schon? Erst Jahre später kam ich in das Land des Herzogs. Mit
dir und Martha, gewiß. Aber wer vermag heute zu sagen, daß Martha
deine Tochter und nicht ein angenommenes Findelkind war?«
»Und was ist aus Veronica geworden?«
»Sie ist gestorben - an gebrochenem Herzen! Und da ich das Kind
nicht allein versorgen konnte, nahm ich dich zum Weibe. So einfach
ist das!«
Wieder schüttelte Emilia von Torstein den Kopf. »Es ist, wie ich
schon sagte: lächerlich! Du glaubst doch nicht ernsthaft, daß der
Herzog ein Wort dieser abenteuerlichen Geschichte für bare Münze
nimmt?«
»Ich bin anderer Meinung. Wie es scheint, zerfließt Adalbert vor
innerer Reue. Er wird überglücklich sein, wenn ich ihm seine
verstoßene Tochter ans Sterbebett bringe.«
»Und warum hast du das nicht längst getan?«
Der Freigraf lachte. »Wie konnte ich? Weiß nicht jedermann, daß
Adalbert befohlen hatte, seine ungetreue Gemahlin und den
Wechselbalg ein für allemal zu vergessen? Ich wäre ein schlechter
Getreuer meines Herrn gewesen, wenn ich seinen Befehl mißachtet
hätte.«
Emilia von Torstein machte ein ausgesprochen unglückliches
Gesicht. Und das ärgerte ihren Gemahl.
»Was jammerst du?« fuhr er sie an. »Möchtest du nicht die Mutter
- die Ziehmutter - der neuen Herzogin werden? Wenn Martha auf
dem Thron sitzt, beherrschen wir das Land, denn sie wird nur das
tun, was ich ihr sage.«
»Daran gibt es keinen Zweifel, aber...«
»Aber?«
»Der Herzog wird dir nicht glauben», wiederholte Emilia. »Du hast
keinerlei Beweise für deine Behauptungen. Schließlich könnte ja
jeder kommen und ...«
»Ich bin nicht jeder! Ich bin der Freigraf von Torstein, und mein
Wort hat Gewicht. Und was die Beweise angeht...« Baldur lächelte
listig. »Es werden sich sicherlich unter meinen Getreuen ein paar
finden lassen, die die Wahrheit bezeugen können.«
»Und Martha? Unsere Tochter hat ihren eigenen Kopf. Ich bin mir
nicht sicher, ob sie sich auf diesen Handel einlassen wird.«
Der Freigraf lachte. »Seit wann haben Findelkinder ihren eigenen
Kopf? Sag mir das, Weib!«
Emilia von Torstein seufzte nur noch ergeben.
*
Die schöne Hilda hatte nicht übertrieben: ihre Mutter war wirklich
eine ganz ausgezeichnete Köchin. Was die brave Frau aus den
einfachsten Zutaten hingezaubert hatte, grenzte schon ans
Wunderbare. Selbst Louis, der ein ausgesprochener Feinschmecker
war, hatte an ihrer Kochkunst nichts auszusetzen.
»Du bist die geborene Köchin, gute Frau«, lobte er.
Die Frau des Herbergswirts, die den Knappen an Leibesumfang bei
weitem übertraf, lächelte erfreut.
»Ihr werdet es nicht glauben, Herr«, sagte sie, »aber eigentlich bin
ich gar keine richtige Köchin. Die meiste Zeit meines Lebens
verbrachte ich im Wald, und es gab niemanden außer Mann und
Kind, den ich zu beköstigen hatte.«
»Im Wald?« wunderte sich Roland.
»Bevor wir hier aufmachten, verdiente mein Mann unser Brot als
Köhler. Als sein Rücken schlimmer und schlimmer wurde, mußten
wir uns nach etwas anderem umsehen. Das Wirtshaus hat zwar nur
selten Gäste, denn es liegt doch sehr abgelegen. Aber wir verhungern
nicht, und das ist die Hauptsache.«
Roland beschloß im stillen, den braven Leuten mehr zu zahlen, als
sie
in ihrer Bescheidenheit wahrscheinlich verlangen würden.
Vielleicht würde es ausreichen, ein schönes Stück Leinen zu kaufen,
um der Haustochter einen hübschen neuen Kittel zu arbeiten.
Apropos Haustochter. Die schöne Hilda machte sich sehr rar, ließ
sich kaum in der Gaststube blicken. Das betrübte den Ritter mit dem
Löwenherzen ungemein. Krampfhaft überlegte er, wie er es anstellen
konnte, das Mädchen aus ihrem Hinterstübchen hervorzulocken,
ohne dabei plump und aufdringlich zu wirken. Sein Freund Volker
vom Hohentwiel hätte sicherlich einen eleganten Weg gefunden.
Aber Volker, der in allen Landen bekannte Minnesänger und Ritter,
begleitete ihn diesmal nicht. Der Freund hatte eine Einladung zu
einem großen Sängerwettstreit im Frankenland bekommen. Und
dieser Einladung war er selbstredend gefolgt.
Während Roland noch grübelte und seine Gedanken dabei vom
guten Landwein anspornen ließ, war es draußen vollends dunkel
geworden. Die abendliche Kühle drang durch die Holzwände und
kündete an, daß der nächste Winter nicht mehr fern war. Gislevert,
der Wirt, sorgte jedoch für Abhilfe, indem er die Holzscheite im
Kamin entzündete. Bald schon breitete sich wohlige Wärme in der
Stube aus.
Die Anstrengungen des langen Ritts und auch die herbe Schwere
des Weins brachten es mit sich, daß Roland langsam ermüdete.
Seinen beiden Knappen erging es nicht anders. Pierre war bereits am
Tisch eingedöst und gab recht störende Pfeiftöne von sich. Auch
Louis, der sonst ein Bündel von Energie und Tatkraft war, bekam
mehr und mehr Mühe, die Augen offenzuhalten.
Der alte Gislevert erwies sich als aufmerksamer Herbergsvater.
»Soll ich den Herren das Nachtlager richten lassen?« erkundigte er
sich mit einer leichten Verbeugung.
Roland zögerte mit der Antwort. Wenn er jetzt zustimmte,
schwanden alle Hoffnungen, das Lager mit der schönen Hilda teilen
zu können, unwiderruflich dahin.
Dann aber wurde er einer Antwort fürs erste enthoben. Draußen
vor der Tür wurde es plötzlich laut. Hufgetrappel, das Wiehern eines
Pferdes und Stimmengewirr klangen auf.
»Oh«, sagte Gislevert, »mich deucht, wir haben heute einen
ausgesprochenen Glückstag. Die ganze Woche ließ sich kein einziger
Gast blicken. Und heute herrscht ein Andrang, der alles wieder
wettmacht.«
Er eilte zur Tür, um die Ankömmlinge, bei denen es sich um eine
größere Gruppe zu handeln schien, in Empfang zu nehmen. Seine
Frau Maria machte sich unterdessen eifrig hinter dem Tresen zu
schaffen.
Pierre war durch den Lärm mittlerweile wieder wach geworden,
und auch Louis' Augen hatten ihren schläfrigen Ausdruck verloren.
Der schlanke, drahtige Knappe wurde auf einmal putzmunter.
»He, Pierre, was meinst du«, sagte er. »Ob unter den Leuten, die da
kommen, vielleicht ein paar sind, die wir für ein kleines Würfelspiel
begeistern können?«
Louis war sofort Feuer und Flamme. Neben Essen und Schlafen
gehörte das Würfeln zu seinen Lieblingsbeschäftigungen. Vor allem
dann, wenn er die Möglichkeit sah, arglosen Gemütern das Geld aus
der Rocktasche zu ziehen.
»Meine Kasse könnte eine Aufbesserung vertragen«, meinte er mit
einem verdeckten Seitenblick auf Roland. »Bei dem kargen Lohn,
den manche Ritter ihren Knappen zahlen ...«
Roland lächelte nur ob dieser Anspielung. Er war gewiß kein
reicher Mann. Aber wenn es darum ging, für das Wohl der Seinen zu
sorgen, stellte er sich ganz bestimmt nicht knauserig an. Ein Mann
wie Pierre allerdings, der jeden überflüssigen Denar gegen einen
saftigen Schinken oder eine Hammelkeule eintauschte, wäre selbst in
den Diensten eines Königs nicht zu Geld und Gut gekommen.
Kurz darauf kamen die Ankömmlinge in die Wirtsstube herein. Es
waren sechs, sieben, acht Männer. Nein, sieben Männer und eine
Frau. Das Mädchen, jung und katzenhaft hübsch, war genau wie die
Männer gekleidet und fiel deshalb erst beim zweiten Blick auf,
obwohl ihre fraulichen Linien eigentlich gar nicht zu übersehen
waren.
Roland konnte wirklich nicht sagen, daß ihm die späten Besucher
sonderlich gefielen. Ganz gewiß handelte es sich nicht um
Herrschaften des vornehmen Standes. Das genaue Gegenteil war der
Fall. Diese Menschen entstammten der untersten Schicht. Es war ein
wüster Haufen recht verkommener Individuen, zerlumpt gekleidet,
ungewaschen und mit wild wucherndem Haupt- und Barthaar. Keine
Frage, mit solchen Leuten hatte kein anständiger Mensch gerne
etwas zu tun.
Pierre und Louis waren zur gleichen Auffassung gekommen. Die
Art und Weise, in der sie sich und ihren Herrn ansahen, sagte mehr
als viele Worte.
Auch die Ankömmlinge tauschten wortlose Blicke. Sie hatten ganz
offenbar nicht erwartet, andere Gäste vorzufinden, waren von der
Anwesenheit des Ritters und seiner beiden Knappen sichtlich
überrascht. Grußlos setzten sie sich nach kurzem Zögern an einen
großen Rundtisch und taten so, als seien Roland und die Seinen gar
nicht in der Stube.
Gislevert und seine Frau Maria waren alles andere als glücklich
über den Besuch der wüsten Truppe. Beide ahnten wohl, daß Leute
dieses Schlages statt mit barer Münze lieber mit frechen Reden und
unverhohlenen Drohungen zu bezahlen pflegten.
Anfänglich tuschelten die sechs Männer und das Mädchen nur leise
miteinander. Roland konnte nicht verstehen, was sie sagten, obwohl
er die Ohren mächtig spitzte. Laut wurden sie erst, als es darum ging,
ihre Wünsche bei Gislevert anzumelden. Mit barscher Stimme
verlangten sie Met und Fleisch.
Mit unglücklicher Miene stand der Wirt an ihrem Tisch.
»Mit Met kann ich dienen«, sagte er, »aber Fleisch ist nicht
vorhanden. Zum Halten von Haustieren reicht es bei uns leider
nicht.«
Einer der Kerle lachte wiehernd. »Warum schlachtest du nicht
deine Alte, Wirt? Sie ist fett genug, um uns allen zu einer guten
Portion Speck zu verhelfen!«
Während die anderen in sein Gelächter einfielen, verfinsterte sich
Gisleverts Miene noch mehr. Seine Frau wischte fahrig mit einem
Lappen über den Tresen.
»Grütze mit Kohl und feinen Kräutern kann ich anbieten«, sagte
Gislevert beherrscht.
»Behalte deinen Fraß«, wurde er angeherrscht. »Uns steht nicht der
Sinn danach, vergiftet zu werden. Bringe uns nur den Met, aber ein
bißchen plötzlich, ja?«
Jetzt wurde der Wirt ärgerlich. Er stemmte die Arme in die Hüften
und sagte: »Ich finde es gar nicht geziemend, mit einem alten Freund
so rüde umzugehen, Hanns!«
Der Mann, den er angesprochen hatte, ein älterer Bursche schon,
der aber noch ungemein stark und kräftig wirkte, blickte hoch und
kniff ein Auge zu.
»Wir kennen uns?«
»Gewiß doch«, sagte der Wirt. »Vor Jahren warst du öfter als
einmal Gast in meinem Haus!«
Der kräftige Mann musterte ihn scharf, lachte dann plötzlich. »Ich
will verdammt sein - Gislevert, der Köhler!«
»Eben dieser, ja.«
Der mit Hanns Angesprochene wandte sich an seine Leute.
»Begegnet dem Wirt von nun an mit gebührender Freundlichkeit,
Diebsgesindel! Er ist ein alter Freund von mir, verstanden?«
»Verstanden«, antworteten die anderen im Chor und grinsten.
»Ich wußte gar nicht, daß du dich zum Schankwirt gemausert hast,
Gislevert«, sagte der Kräftige. »Ernährte das Köhlerhandwerk seinen
Mann nicht mehr?«
»Der Rücken war's«, erwiderte der alte Mann. »Wenn man
langsam in die Jahre kommt...«
»Verstehe, verstehe«, nickte Hanns. »Als Wirt mußt du nicht die
ganze Arbeit alleine machen. Deine Familie kann dir helfen, deine
Frau und auch deine Tochter. Die Kleine ist doch noch bei dir?«
Irrte sich Roland, oder war tatsächlich ein lauernder Unterton in
die Stimme des Mannes getreten?
Gislevert schien es nicht bemerkt zu haben. Er nickte, war
offensichtlich froh, daß die wüsten Gäste ihn nicht mehr wie einen
niederen Leibeigenen behandelten.
»Hilda ist erwachsen geworden«, sagte er. »Und sie ist mir eine
große Hilfe.«
Der kräftige Mann lächelte wie ein Raubtier. »Wie schön! Ich
hoffe, ich werde noch das Vergnügen haben, deine Tochter begrüßen
zu können, oder?«
Gislevert nickte. »Ich hole sie gleich. Sie wird euch den Met
bringen.«
Der Wirt wandte sich vom Tisch ab und verschwand durch eine
Tür in den rückwärtigen Räumen des Hauses.
»Ritter Roland?« sagte Louis im Flüsterton.
»Ja?« Der Ritter mit dem Löwenherzen wandte sich ihm zu.
»Ich glaube, ich weiß, wer dieser Mann ist, den Gislevert mit
Hanns ansprach.«
»So?«
»Man nennt ihn Hanns den Bär! Er gilt als einer der gefährlichsten
und mörderischsten Räuber in den deutschen Landen!«
Roland hatte den Namen noch nie gehört, aber das wollte nicht viel
besagen. Er kannte sich in Räuberkreisen nicht so aus, ganz im
Gegensatz zu Louis, der einst selbst ein Räuber gewesen war, bevor
er dem wüsten Leben abschwor und als Knappe in Rolands Dienste
trat.
Der Ritter mit dem Löwenherzen verzog das Gesicht. »Es gefällt
mir gar nicht, mit Mördern und Dieben unter einem Dach wohnen zu
müssen. Und noch etwas will mir überhaupt nicht gefallen.«
»Ja, Ritter Roland?«
»Ich habe das Gefühl, daß dieser Hanns dem Wirt eine kleine
Posse vorgespielt hat!«
»Eine ... Posse?«
»Er tat so, als habe er Gislevert erst später erkannt. In Wirklichkeit
wußte er aber von Anfang an, wen er vor sich hatte!«
»Diesen Eindruck hatte ich allerdings auch«, sagte der Knappe.
»Aber warum sollte Hanns der Bär so etwas tun?«
»Ich weiß es nicht«, gab Roland schulterzuckend zurück. »Aber
vielleicht werden wir es bald erfahren.«
Das sollte er in der Tat...
*
Die meisten Burgen lagen auf einer Bergeshöhe, um es möglichen
Feinden schwer, wenn nicht gar unmöglich zu machen, bei einem
Sturmangriff erfolgreich zu sein. Das Schloß des Herzogs hingegen
war mitten in einem kleinen Tal errichtet worden, frei zugänglich
von allen Seiten. Zwar gab es nur zwei Wege, die in dieses Tal
führten. Von einem sicheren Schutz konnte jedoch wahrlich nicht
gesprochen werden. Im Grunde genommen war das Schloß beinahe
eine Herausforderung. Dennoch hatte es nie jemand gewagt, ein
feindliches Heer heranzuführen. Das sprach für die Stärke und die
Macht des herzoglichen Geschlechts, von dem das Land länger als
ein volles Jahrhundert uneingeschränkt regiert wurde.
Derartige Gedanken gingen Baldur von Torstein durch den Kopf,
als er mit seiner Tochter und mehreren seiner Getreuen in das
Schloßtal einritt. Sein unbändiger Wunsch, selbst auf dem Schloß zu
residieren und die Macht des Herzogs ausüben zu können, wurde
immer stärker. Und wenn alles gutging, würde er vielleicht bald in
der Lage sein, sich diesen Wunsch zu erfüllen.
Es dauerte nicht mehr lange, dann schoben sich die Trutzmauern
von Adalberts Herrschaftssitz ins Blickfeld der Ankömmlinge.
Baldur von Torstein sah seine Tochter von der Seite an. Martha ritt
neben ihm, und sie saß wie ein erbärmliches Häuflein Elend im
Sattel ihres Pferdes. Es war offenkundig, wie sehr sie die Rolle
haßte, die zu spielen er ihr aufgezwungen hatte.
»Mache gefälligst ein heiteres Gesicht«, fuhr er sie an. »Eine
Herzogin freut sich, wenn sie nach langen Jahren ihr angestammtes
Geburtshaus wiedersieht!«
Martha wandte ihm den Kopf zu. Ihr knochiges Gesicht, das eine
gewisse Pferdeähnlichkeit nicht verbergen konnte, wirkte
unglücklich.
»Muß es denn wirklich geschehen, Herr Vater? Warum darf ich
nicht damit zufrieden sein, die Tochter eines Freigrafen zu sein? Und
wenn ich eines Tages einen Mann aus höherem Geblüt heirate ...«
»Welcher Mann aus höherem Geblüt sollte dich heiraten? Du bist
häßlich wie die Nacht! Allenfalls als Herzogin wird jemand um deine
Hand anhalten, begreife das endlich!«
Martha begann herzzerreißend zu schluchzen, aber das berührte
den Freigrafen nicht. Wenn er sich selbst gegenüber ganz offen war,
dann empfand er keine Liebe für seine Tochter. Martha war ein
reizloses, dummes und dabei auch noch widerspenstiges Pferd. Ihre
ganze Sorge war, daß hoffentlich bald ein Edelmann kam und sie zur
Frau nahm. Bisher war jedoch noch keiner gekommen, was Baldur
nicht im geringsten wunderte. Mit einem plumpen Geschöpf wie
Martha das Bett teilen zu müssen, war gewiß kein erbaulicher
Gedanke. Seine Tochter spürte dies wohl selbst und hatte nur deshalb
auf den Herzoginnenköder angebissen. Ansonsten hätte sie sich trotz
Androhung arger Bestrafung glatt geweigert, sich seinen Wünschen
zu fügen.
»Unterlasse das Weinen«, befahl er. »Eine Herzogin ist zu stolz,
um Tränen zu vergießen!«
Krampfhaft bemühte sich Martha, mit dem Schluchzen aufzuhören.
Es gelang ihr mehr schlecht als recht.
Dem Freigrafen entging nicht, daß seine Getreuen kaum ihr
Lachen verbeißen konnten. Und das machte ihn zornig. Immerhin
war Martha seine Tochter.
»Was gibt es zu grinsen?« schnauzte er seine Männer an.
»Antworte, Gottlob!«
Gottlob zu Ditzen, ein Ritter, der länger als ein Dutzend Jahre in
Baldurs Diensten stand, wurde verlegen.
»Ich bitte um Vergebung, Herr Freigraf. Wir ... äh ...«
Der Getreue sprach nicht weiter, wußte nicht so recht, was er sagen
sollte. Baldur von Torstein drängte auch nicht weiter, ließ es dabei
bewenden. Immerhin brauchte er seine Männer, vor allem Gottlob
und den alten Knappen Markus, der es trotz seiner langen Dienstzeit
nie bis zum Ritterschlag gebracht hatte. Gottlob und Markus waren
die beiden, die beim Herzog bezeugen sollten, daß er die verstoßene
Gemahlin Adalberts und ihr Kind damals in seine Obhut genommen
hatte. Es war also nicht klug, die beiden jetzt zu verstimmen.
Wenig später hatten der Freigraf und seine Begleitung das
Schloßtor erreicht. Sie wurden sofort eingelassen, denn Baldur von
Torstein war ein oft gesehener Gast im Hofe des Herzogs und galt als
treuer und zuverlässiger Vasall.
Wie gewohnt war alsbald der alte Leander zur Stelle. Der
Hausmeier kümmerte sich um nahezu alles und war auch für
Begrüßung und Empfang von Gästen zuständig. Er sorgte dafür, daß
die Pferde der Ankömmlinge versorgt wurden und bat sie dann in die
altehrwürdige Schloßhalle. Erst dort fragte er nach dem Begehr des
Freigrafen und gab auch gleich eine Antwort auf seine Frage.
»Gewiß seid Ihr gekommen, um Euch nach dem Befinden unseres
geliebten Herrn zu erkundigen.«
»Dies war in der Tat meine vordringlichste Absicht«, erklärte
Baldur von Torstein und stellte dabei eine gefaßte Trauermiene zur
Schau, die er hoffentlich durch eine gute Nachricht erhellen konnte.
»Leider kann ich Euch nur einen betrüblichen Bescheid geben«,
antwortete der Hausmeier. »Unserem Herrn geht es schlecht, sehr
schlecht. Nur eins hält ihn überhaupt noch aufrecht: die Hoffnung,
seine Tochter nach all den Jahren wieder in die Arme schließen zu
können.«
Baldur von Torstein lächelte. »Dieser Wunsch des Herzogs kann
sofort in Erfüllung gehen!«
Leander runzelte die Stirn, blickte ihn fragend an. »Ihr wißt, wo
sich Berthild aufhält, Freigraf?«
»Sie ist hier!«
»Hier?«
Baldur von Torstein machte eine weit ausholende Armbewegung
und zeigte auf seine Tochter.
»Dort steht sie, Hausmeier!«
Martha machte einen albernen Hofknicks, der so schwerfällig
aussah, daß der Freigraf sich ihrer schämte. Der Hausmeier achtete
jedoch gar nicht darauf. Dazu war er viel zu verblüfft.
»Ich ... verstehe nicht«, erwiderte er. »Ich sehe dort nur Eure
Tochter Martha!«
Lächelnd schüttelte der Freigraf den Kopf. »Nach all den Jahren
darf ich endlich die Wahrheit bekennen: Martha ist nicht meine
Tochter. Sie ist das einzige Kind des Herzogs!«
Die Verblüffung des Hausmeiers wuchs. »Bedaure, Freigraf, ich
kann Euch leider nicht folgen. Würdet Ihr mir erklären ...«
»Gewiß, mein lieber Leander, gewiß. Es trug sich zu vor zwanzig
Jahren. Damals war ich noch ein fahrender Ritter, der in Begleitung
seiner treuen Knappen Gottlob und Markus ...«, Baldur nickte den
beiden zu, »... durch die Lande zog. Eines kalten Wintertages - die
Luft klirrte vor Frost - übernachtete ich mit meinen Gefährten in
einer armseligen Bauernkate. Und dort traf ich sie - eine junge,
bleiche Frau, deren einst strahlende Schönheit der Gram zerstört
hatte. Sie war krank, todkrank. Die Hustenanfälle, die sie quälten wie
ein böses Tier, verrieten es auch dem Unkundigen. Sie wußte, daß sie
sterben mußte und war froh, noch einmal Gelegenheit zu finden, mit
einem Mann von Stande sprechen zu können. Nun, was soll ich noch
viele Worte machen? Die junge Frau vertraute sich mir an, offenbarte
mir, daß sie Veronica hieß und die verstoßene Gemahlin des Herzogs
war. Und dann bat sie mich flehentlich, für ihr Kind zu sorgen, für
die kleine Berthild, die nun ohne Vater und Mutter dastehen würde.
Ich versprach es ihr, denn es war mir unmöglich, einer Sterbenden
den letzten sehnlichen Wunsch abzuschlagen. Ich nahm die kleine
Berthild zu mir und sorgte für sie. Da mir Veronica das zusätzliche
Versprechen abgenommen hatte, niemandem zu verraten, wer das
Kind wirklich war, da sie Verfolgungen von Seiten des Herzogs
fürchtete, nannte ich die Kleine Martha und gab sie fortan als mein
eigenes Fleisch und Blut aus. Nun aber, da unser Herr bereit ist zu
verzeihen, brauche ich nicht länger zu schweigen. Jetzt endlich kann
die ganze Wahrheit ans Tageslicht!«
Baldur von Torstein war mit sich selbst zufrieden. In seinen Augen
hatte die ganze Lügengeschichte sehr echt und überzeugend
geklungen, wenn er auch nicht leugnen konnte, daß sie genauso von
einem fahrenden Sänger hätte stammen können. Aber was half's?
Das Leben schrieb oft viel abenteuerlichere Geschichten, als sie sich
ein Verseschmied ausdenken konnte. Erwartungsvoll blickte er den
Hausmeier des Herzogs an. Ob der alte Leander seine Worte für bare
Münze nahm?
Zunächst sah es ganz und gar nicht danach aus. Tiefe Zweifel
drückten sich im Mienenspiel des herzoglichen Vertrauten aus.
»Mit Verlaub, Freigraf«, sagte er langsam, »es steht mir nicht zu,
die Aufrichtigkeit Eurer Rede in Zweifel zu ziehen. Aber ob unser
geliebter Herr sie glauben wird ...«
Der Freigraf nickte. »Ich kann Eure Zweifel verstehen, aber auch
leicht zerstreuen, mein lieber Leander. Der lebende Beweis steht vor
Euch - meine Getreuen Gottlob und Markus! Sie waren dabei, als
sich Veronica mir in ihrer Sterbestunde anvertraute. Damals
verpflichtete ich sie zu ewigem Schweigen. Nun aber können sie
ruhigen Gewissens sagen, was sie seinerzeit hörten und sahen.«
»So ist es«, bestätigte Gottlob von Ditzen. »Bei meinem Leben,
des Freigrafen Worte sind nichts als die reine Wahrheit!«
»Die reine Wahrheit«, wiederholte der Knappe Markus und
lächelte dabei dümmlich.
Aber noch immer war der Hausmeier keineswegs überzeugt. Ein
mißtrauischer Blick umfing die Gestalt Marthas.
»Mit Verlaub gesagt, Freigraf, ich kann keinerlei Ähnlichkeit mit
dem Herzog feststellen.«
»Eine Tochter muß nicht immer auf den Vater kommen, mein
lieber Leander!«
»Auch der Herzogin sieht Ihre Toch ... sieht das Mädchen
mitnichten ähnlich. Ich habe Veronica gekannt, müßt Ihr wissen,
Freigraf. Und ich habe auch Berthild gekannt!«
Baldur von Torstein lächelte. »Wie alt war das Kind damals? Ein
paar Tage, ein paar Wochen? Ich bitte Euch, Leander! Meint Ihr
nicht, daß zwanzig Jahre einen Menschen von Grund auf verändern?
Und wenn Ihr mich fragt
- ich sehe die herzogliche
Familienähnlichkeit durchaus. Die Stirn, die Nasenpartie ... Seht
Euch Berthild ganz genau an!«
Der Hausmeier tat dies. Martha ließ die Musterung verlegen über
sich ergehen, stand da wie ein Pferd, das verkauft werden sollte. In
der Tat hatte sie nichts von ihrem angeblichen Vater. Aber der
Freigraf baute darauf, daß Adalbert in seinem Verlangen nach der
Tochter zwischen Einbildung und Wirklichkeit keinen Unterschied
erkennen würde, zumal sein klarer Blick durch seine körperliche
Verfassung ohnehin getrübt sein mußte.
»Warum lassen wir unseren geliebten Herrn nicht selbst alle
offenen Fragen beantworten?« sagte Baldur lächelnd. »Gehen wir zu
ihm und geben wir ihm Gelegenheit, die Stimme des Blutes sprechen
zu lassen.«
Der Hausmeier machte eine verneinende Kopfbewegung.
»Zum derzeitigen Augenblick dürfte dies nicht möglich sein«, gab
er zur Antwort. »Der Herzog befindet sich gegenwärtig in den
Fängen des Wundfiebers und ist nicht ansprechbar. Sein Arzt
Pankratius hofft jedoch zuversichtlich, daß das Fieber in ein, zwei
Tagen abklingen wird. Wenn Ihr solange als Gäste auf dem Schloß
verweilen wollt...«
»Gewiß«, sagte der Freigraf. »Es liegt mir fern, unseren Herrn
anzusprechen, wenn er nicht ganz Herr seiner Sinne ist. Glaubt Ihr,
ich möchte mich um das Vergnügen bringen, das Glück in seinen
Augen strahlen zu sehen?«
Der alte Leander ging auf diese honigsüßen Worte nicht weiter ein.
»Auch aus einem anderen Grund würde es sich gut treffen, wenn
Ihr noch ein paar Tage wartet. Bis dahin dürfte auch die Anna wieder
zurück sein.«
»Die ... Anna?«
»Die Anne war damals die Amme der kleinen Berthild. Sie wird
auf Anhieb sagen können, ob Eure ... ähem... Ziehtochter die richtige
ist. Anna erinnert sich nämlich an ein unverwechselbares Merkmal,
das sie bei dem Säugling damals feststellte.«
Baldur von Torstein hörte sofort alle Kirchenglocken läuten.
»Ihr kennt dieses Merkmal, mein lieber Leander?« erkundigte er
sich wie nebenbei.
»Ich kenne es nicht«, bekam er zur Antwort. »Nur Anna kennt es.
Und der Herzog selbst natürlich.«
»Natürlich«, murmelte der Freigraf, »natürlich.«
Verdammt sei die Amme, damit hatte er nicht gerechnet.
Selbstverständlich würde das Weib sofort feststellen, daß Martha auf
gar keinen Fall des Herzogs Tochter war. Und wenn das geschah, fiel
sein ganzer schöner Plan ins Wasser. Schlimmer noch, der Herzog
würde den Betrugsversuch erkennen und daraufhin sicherlich
hochpeinliche Maßnahmen in Erwägung ziehen.
Das mußte unter allen Umständen vermieden werden!
Aber wie? fragte sich Baldur von Torstein fieberhaft.
Sehr schnell kam ihm ein Gedanke. Wenn es ihm gelang, die
Amme in seine Gewalt zu bekommen, bevor sie zum Schloß
zurückkehren konnte ... Sicherlich würde sie bereit sein, ihm das
unverwechselbare Merkmal vorab preiszugeben - gegen guten Lohn
oder aber unter Zwang! Es gab Mittel und Wege...
»Ich kann Euch gar nicht sagen, wie froh ich bin, daß es diese
Anna gibt, mein lieber Leander«, sagte er mit scheinheiliger
Zufriedenheit. »Sie wird der Wahrheit zum Siege verhelfen.«
»Das wird sie«, nickte der Hausmeier.
Anschließend sorgte er dafür, daß die Gäste eine ihnen geziemende
Unterkunft bekamen. Und dann hieß es warten...
*
Roland fühlte sich immer unwohler. Die verstohlenen Blicke, die die
Räuber zu ihm und seinen beiden Gefährten hinüberwarfen,
entgingen ihm ebensowenig wie ihr verschwörerisches Getuschel.
Die Kerle und das schwarzhaarige Mädchen in ihrer Mitte hatten
etwas vor, da gab es für ihn gar keine Frage.
Seine Müdigkeit war längst verflogen, hatte äußerster
Wachsamkeit Platz gemacht. Und was für ihn galt, galt auch für
Louis und Pierre. Alle drei rechneten durchaus damit, daß die Räuber
einen Überfall auf sie beabsichtigten. Schließlich war dies das
Geschäft von Räubern. Und Roland und seine Knappen mochten in
den Augen der wüsten Gesellen als ganz besonders lohnenswerte
Opfer erscheinen, von deren Ausraubung sie sich einiges
versprachen.
Es dauerte nicht lange, dann erschien die Wirtstochter in der
Gaststube. Sie trug ein großes Tablett mit Metbechern und brachte es
zum Tisch der Räuber hinüber.
Die sieben Männer und das schwarzhaarige Mädchen starrten ihr
wie gebannt entgegen.
Gebannt von ihrer
Schönheit? Roland bezweifelte das.
Insbesondere die Schwarzhaarige ließ ihn stutzig werden. Er hatte
den Eindruck, daß es verzehrender Haß war, der in ihren Augen
brannte. Einen Reim auf das seltsame Verhalten konnte er sich al-
lerdings beim besten Willen nicht machen.
Hilda stellte die Becher auf den Tisch, schob jedem der Männer
und auch dem Mädchen einen Becher hin. Sie tat es etwas hastig, so
daß einer der Becher überschwappte.
Sofort wurde sie von der Schwarzhaarigen giftig angekeift: »Was
fällt dir ein, du kleine Schlampe? Kannst du nicht aufpassen,
verdammtes Luder?«
Roland schwoll der Kamm. Am liebsten wäre er aufgestanden und
hätte dem dreisten jungen Weib Manieren beigebracht. Aber er
konnte sich die Mühe sparen, denn die Schwarzhaarige wurde aus
den eigenen Reihen zurechtgewiesen.
»Mäßige dich, Sitta«, sagte Hanns der Bär nicht ohne Schärfe.
»Unsere kleine Freundin hat den Met sicherlich nicht mit Fleiß
verschüttet. Habe ich recht, Berthild?«
»Bestimmt nicht«, sagte die Wirtstochter. »Außerdem heiße ich
Hilda, nicht Berthild. Ihr wißt das doch, Herr Hanns.«
»Wirklich?«
Der kräftige Mann sah zuerst das Mädchen, dann ihren Vater, der
hinter den Tresen zurückgekehrt war, durchdringend an. Gislevert
biß sich auf die Lippen und schaute vor sich auf die Bohlen des
Fußbodens.
Roland wurde nicht recht schlau aus dem Ganzen. Hilda oder
Berthild - sie klangen verwandt, diese Namen, aber man konnte sie
doch kaum verwechseln. Und doch hatte der Räuber genau dies
getan, wider besseres Wissen offenbar und zum erkennbaren Mißfal-
len des ehemaligen Köhlers. Irgend etwas ging hier vor, das einem
Uneingeweihten wie Roland verschlossen bleiben mußte.
Die Wirtstochter zog sich wieder zurück und verschwand in den
rückwärtigen Räumen. Die Räuber tranken ihren Met, steckten die
Köpfe zusammen und flüsterten miteinander. Dabei huschten immer
wieder verstohlene Blicke zum Tisch Rolands hinüber.
Zu seinem Mißvergnügen verstand der Ritter mit dem
Löwenherzen kein Wort von dem, was die Kerle und das freche
Weibsbild redeten. Und auch als sie Gislevert zu sich riefen und leise
mit ihm sprachen, blieb Roland der Inhalt der Unterhaltung
verborgen.
Als der Wirt den Tisch der Räuber wieder verließ, bestellte Roland
noch drei Krüge Wein. Gislevert brachte sie und wollte gleich wieder
gehen. Aber der Ritter mit dem Löwenherzen hielt ihn am Rockzipfel
fest.
»Was wollten die Männer von dir?« erkundigte er sich leise.
Der Wirt schien verlegen.
»Nichts weiter«, sagte er nach längerem Zögern. »Wir sprachen
nur über die alten Zeiten.«
»Über nichts sonst?«
»N ... nein.«
Er sagte nicht die Wahrheit, das war ganz offensichtlich für
Roland. Aber natürlich konnte er den alten Mann nicht zwingen,
mehr zu sagen, als er wollte.
»Haben der Herr Ritter noch einen Wunsch?« fragte Gislevert
ehrerbietig dienernd.
»Nein!« erwiderte Roland barsch.
»Er lügt, nicht wahr?« meinte Louis, nachdem der Wirt wieder
zum Tresen hinübergegangen war. »Aber warum?«
Leider konnte ihm der Ritter mit dem Löwenherzen darauf keine
Antwort geben.
Es dauerte nicht mehr lange, dann wurde der Wirt wieder an den
Tisch der Räuber gerufen. Etwas überraschend für Roland zückte der
Anführer der wüsten Gesellen einen Brustbeutel, entnahm ihm
mehrere Münzen und bezahlte Gislevert damit. Dann erhoben sich
die Räuber von ihren Schemeln und verließen die Gaststube. Wenig
später wurde hörbar, daß sie sich vom Schankhaus entfernten.
Noch einmal versuchte Roland, etwas über das geheimnisvolle
Getuschel in Erfahrung zu bringen. Aber Gislevert stellte sich
weiterhin stur, gab nur ausweichende Antworten. Dabei wurde es
allerdings immer offensichtlicher, daß er etwas verbarg.
Nun, sollte er, sagte sich Roland schließlich. Er hatte anderes zu
tun, als sich um die Geheimnisse von Schankwirten und
Räuberbanden zu kümmern. Und da auch die schöne Hilda nicht
mehr zum Vorschein kam, gab es eigentlich keinen Grund, noch
länger in der Schankstube zu verweilen und den Schlaf
hinauszuzögern.
»Begeben wir uns zur Nachtruhe«, sagte er zu seinen beiden
Knappen.
Louis und Pierre hatten nichts dagegen.
*
»Neue Nachrichten, Herr!« Otmar von Lützen, der gerade dabei war,
die dringend nötige Erneuerung einer schadhaft gewordenen Stelle
der Burgmauer zu überwachen, war sofort voll bei der Sache. Für
seinen Vertrauensmann vom Hof des Herzogs ließ er alles andere
sofort stehen und liegen. »Ja, Meininger? Ich höre! Unser geliebter
Herr ist doch nicht etwa ... gestorben?«
»Nein«, sagte sein Vertrauter beinahe betrübt, »mit einer solch
erfreulichen Meldung kann ich leider nicht dienen. Es geht dem
Herzog nicht gut, aber er lebt noch.«
Der Freigraf nickte mürrisch, ließ sich durch diese Mitteilung aber
nicht weiter verbittern. Zu oft hatte er sich schon darüber geärgert,
daß er seinen Pfeil nicht einen Zoll mehr nach rechts plaziert hatte.
»Was sonst gibt es an Neuigkeiten?« erkundigte er sich.
»Baldur von Torstein ist zum Schloß gekommen«, teilte der treue
Meininger mit.
»Ah, sicher ist der Kerl da, um den Speichel des Sterbenden zu
lecken«, vermutete Otmar von Lützen.
»Es sieht danach aus, als ob er Ärgeres im Schilde führt, Herr! Er
hat nämlich seine Tochter Martha mitgebracht und behauptet, daß es
sich bei dem Mädchen tatsächlich um des Herzogs Kind handelt.«
»Waaaaas?«
»Es ist wahr, Herr!«
»Dieser Schurke, dieser Lump, dieser Betrüger, dieser ...« Dem
Freigrafen fehlten die Worte. »Und der Herzog ist auf diese dreiste
Lüge eingegangen?«
»Noch nicht«, berichtete Meininger. »Gegenwärtig erlaubt es der
Zustand des Herzogs nicht, ihn mit irgend jemandem sprechen zu
lassen.«
»Das ist gut«, sagte Otmar von Lützen ein bißchen erleichtert.
»Wenn ich mir vorstelle, daß diese dumme Pute Martha auf dem
herzoglichen Thron sitzt... Hast du mir sonst noch etwas zu
berichten?«
»Nichts Wesentliches. Es sind zwar mehrere Personen ins Schloß
gekommen, die sich als verstoßene Tochter des Herzogs ausgaben.
Aber sie konnten samt und sonders als Erbschleicher entlarvt und
gebührend bestraft werden.«
Der Freigraf nickte. »So kehre zum Hof zurück. Und wenn sich
etwas Neues ergibt...«
»... werde ich Euch unverzüglich ins Bild setzen.«
Der Getreue machte eine Verbeugung und entfernte sich dann.
Grüblerisch blickte ihm Otmar von Lützen nach. Noch tief in
Gedanken versunken wandte er sich schließlich wieder der
Erneuerung der Burgmauer zu, die trotz der abendlichen Dunkelheit
eifrig fortgesetzt wurde. Der helle Schein eines lodernen Feuers
erlaubte es den Männern, auch zur vorgerückten Stunde
weiterzuarbeiten.
Eine Weile später hatte Otmar von Lützen Gelegenheit, mit einem
anderen seiner Vertrauten zu sprechen, die er ausgesandt hatte, um
Erkundigungen einzuziehen. Und was er diesmal erfuhr, war schon
mehr nach seinem Geschmack.
»Wir haben uns unter dem Volk umgehört«, berichtete sein
Gewährsmann. »Zwei junge Frauen, die in jener Zeit elternlos
aufgefunden wurden, kämen vielleicht als Tochter des Herzogs in
Frage. Bei der einen handelt es sich um eine Räuberbraut, die man
die Schwarze Sitta nennt.«
Der Freigraf verzog das Gesicht. »Eine Mörderin auf dem
Herzogsthron - unser Land geht großen Tagen entgegen. Und die
andere?«
»Wurde von einem Köhler namens Gislevert in Obhut genommen!
Wo sich die Weiber allerdings heute aufhalten ...« Der Gewährsmann
zuckte die Achseln.
Am besten wäre es, wenn sie in der Hölle braten! dachte der
Freigraf hoffnungsvoll.
Aber verlassen wollte er sich darauf lieber nicht.
*
Eine knappe Stunde etwa mochte vergangen sein, seit Roland
eingeschlafen war, da schreckte er schon wieder hoch. Irgend etwas
hatte ihn geweckt.
Ein Geräusch? Ein Schrei?
Roland war sich nicht sicher. In jedem Fall aber hatte es sich um
etwas Verdächtiges gehandelt.
Er setzte sich auf dem Lager auf, lauschte angestrengt.
Da war es wieder... huschende Schrittgeräusche, unterdrückte
Männerstimmen.
Roland zögerte keine Sekunde, sprang sofort aus dem Bett. Da die
Stube nicht geheizt war, hatte er den größten Teil seiner Kleidung
anbehalten. Deshalb war er jetzt sofort bereit, nach draußen zu eilen.
Bevor er dies tat, hämmerte er an die Wand des Nebenraums, in
dem seine beiden Knappen Unterkunft gefunden hatten.
»Louis, Pierre!« rief er halblaut.
»Ja, Ritter Roland«, bekam er sofort zur Antwort. »Wir sind bereits
wach.«
Der Ritter mit dem Löwenherzen lächelte flüchtig. Louis war ein
Mann, auf den man sich verlassen konnte.
Einen besseren Knappen hätte er sich gar nicht wünschen können.
Er huschte zur Tür, nicht ohne vorher nach seinem Schwert zu
greifen. Ein Ritter ohne Schwert war nur ein halber Ritter.
Geräuschlos öffnete er, lauschte wieder.
Die Gästezimmer lagen im ersten Stock des Holzhauses, während
die Wirtsleute und ihre Tochter unten wohnten. Und dort unten ging
etwas vor. Ein Poltern wurde laut, dann der Schrei einer Frau.
Das genügte, um Roland zu äußerster Eile zu veranlassen. Er flog
die Treppenstufen förmlich hinunter. Beinahe wäre er dabei gestürzt,
denn im Haus war es so finster wie in einer tiefen Höhle. Mit einiger
Mühe schaffte er es, den Fall abzuwenden.
Wieder hörte er den Schrei...
Er kam von rechts, da war er sich ganz sicher. Mit der
Schwertspitze tastete er sich an der Wand entlang, fand eine Tür.
Sofort stieß er die Tür auf.
Ein kühler Luftzug schlug ihm entgegen. Das Fenster des Raums
stand offen. Und im Rahmen dieses Fensters ...
Schattenhafte Gestalten, die sich gegen den etwas helleren
Hintergrund der Mondnacht abhoben.
Gestalten, die zweifellos in ein Handgemenge verwickelt waren!
Roland sprang in die Stube hinein, sein Schwert kampfbereit in der
Faust.
»Halt!« rief er.
Ein zerquetschter Fluch wurde laut. Dann kam es zu hastigen
Bewegungen, die darauf hindeuteten, daß die Flucht durch das
Fenster geplatzt war.
Dazu wollte es der Ritter mit dem Löwenherzen nicht kommen
lassen. Er stürmte auf das Fenster los.
Jetzt konnte er etwas mehr sehen. Bei den Gestalten handelte es
sich um drei Männer und eine Frau. Und die Frau war niemand
anders als die schöne Hilda.
Roland brauchte sich nicht lange zu fragen, wer die Männer waren.
Sie gehörten zu der Räuberbande, deren unliebsame Bekanntschaft er
am Abend gemacht hatte. Ganz offenbar hatten sich die Kerle nur
zum Schein vom Wirtshaus entfernt, um dann später
zurückzukommen. Wahrscheinlich weil sie abwarten wollten, daß
alles im Haus eingeschlafen war.
Und warum waren sie zurückgekommen? Um die Wirtstochter zu
entführen! So sah es jedenfalls aus.
Roland schätzte sich glücklich, daß er gerade noch im rechten
Augenblick auf der Bildfläche erschienen war. Eine Minute später
und er hätte nichts mehr ausrichten können. So jedoch ...
Er wollte nicht das Risiko eingehen, das Mädchen mit dem
Schwert zu verletzen. Deshalb ließ er die Waffe gedankenschnell
fallen und stürzte sich mit bloßen Händen auf das Räuberpack.
Er bekam den ersten Mann zu packen, riß ihn mit
unwiderstehlicher Kraft von dem Mädchen weg.
Der Kerl wehrte sich, versuchte, Roland seine geballte Faust ins
Gesicht zu schlagen. Aber Roland verstand es, nicht nur mit dem
Schwert umzugehen. Auch im Kampf ohne Waffen war er bestens
bewandert. Der Räuber bekam es zu spüren. Blitzschnell nahm er
den Kopf zur Seite, so daß der Hieb seines Widersachers ins Leere
ging. Dann schlug er seinerseits zu. Er traf den Burschen seitlich am
Kopf. Und die Wirkung seines Schlags war umwerfend - im
wahrsten Sinne des Wortes. Der Mann kippte zur Seite und blieb
reglos liegen.
Die beiden anderen schafften es in diesem Augenblick, durch das
Fenster nach draußen zu gelangen.
Mit ihrem Opfer!
Roland bewies, daß man ihn nicht umsonst den Ritter mit dem
Löwenherzen nannte. Er hatte nicht nur den Mut des edlen
Wüstentiers, sondern auch dessen unvergleichliche Kampfkraft. Mit
einem mächtigen Sprung setzte er den beiden Entführern nach. Mit
federnden Knien kam er auf dem festgetretenen Erdboden vor dem
Haus auf. Die Kerle hatten sich noch nicht weiter als zwei, drei
Körperlängen von ihm entfernt.
Diese Entfernung hatte Roland im Nu überbrückt. Ehe es sich die
beiden Räuber versahen, krallten sich seine Hände in ihr struppiges
und wahrscheinlich verlaustes Haar. Dann hämmerte er die beiden
Köpfe mit einer ruckartigen Bewegung gegeneinander. Es gab ein
dumpfes Geräusch und einen tiefen Stöhnlaut, der aus einem
einzigen Mund zu kommen schien. Die beiden Körper wurden
schlaff in Rolands Händen. Er ließ sie fallen wie zwei Säcke Hafer.
Auch das Mädchen sank zu Boden.
Roland war sofort neben ihr und ging in die Knie.
»Bist du verletzt, mein Kind?«
Die schöne Hilda seufzte. »Nein, ich ... glaube nicht.«
Erleichtert atmete der Ritter mit dem Löwenherzen auf. Es war
wohl nur Mattigkeit gewesen, die die junge Frau von den Beinen
gebracht hatte.
Ihm blieb jetzt nicht die Zeit, sich weiter um das Mädchen zu
kümmern. Die drei Kerle, die er niedergeschlagen hatte, waren nicht
die einzigen Gegner. Aus dem Haus hörte er Kampfgeräusche.
Offenbar schlugen sich dort Pierre und Louis mit anderen Angehö-
rigen der Räuberbande herum.
Und auch hier draußen vor dem Haus trieben sich noch zwei von
ihnen herum. Sie kamen näher, dunkle Schatten, die fast mit der
Wand des Hauses verschmolzen.
»Schinder, bist du das?« drang eine Stimme voller Argwohn auf
Roland ein.
Roland sprang hoch wie ein Pfeil, der von der Bogensehne
schnellte. Mit drei, vier langen Sätzen hatte er die beiden
Tunichtgute erreicht.
»Das ... ist nicht der Schinder! Das ist ...«
Weiter kam der Mann nicht. Roland ließ seine rechte Faust nach
vorne fliegen und traf das Gesicht des Kerls mit der Gewalt eines
Schmiedehammers. Der Kopf des Getroffenen flog zurück, als habe
ihn ein Ochse getreten. Er kam nicht einmal mehr dazu, einen
Wehlaut auszustoßen, so schnell versank er in der abgrundtiefen
Schwärze einer lang anhaltenden Ohnmacht.
Der zweite Räuber war gewitzter, machte eine blitzschnelle
Bewegung. Im Licht des Mondes sah der Ritter mit dem
Löwenherzen eine Messerklinge blinken.
Mit einem Knurrlaut sprang ihn der Kerl an. Im letzten Augenblick
gelang es Roland, dem hinterhältigen Stoß mit dem Messer
auszuweichen.
Der Räuber geriet ins Straucheln, schaffte es aber, sein
Gleichgewicht zu bewahren. Er fuhr herum, wollte sogleich wieder
mit der Klinge auf Roland los.
Diesmal jedoch war der Ritter mit dem Löwenherzen vorbereitet.
Er fing den zustoßenden Arm ab und riß ihn nach oben. Dann machte
er eine halbe Körperdrehung, die der Angreifer wohl oder übel
mitmachen mußte. Seinem Arm bekam das allerdings gar nicht. Der
Mann stieß einen markerschütternden Schrei aus, als der Arm aus
dem Schultergelenk sprang. Roland konnte es sich sparen, diesen
Räuber niederzuschlagen. Er war ganz bestimmt kein
ernstzunehmender Gegner mehr.
Tatendurstig blickte sich Roland nach dem nächsten Kerl um. Aber
er sah keinen mehr. Dafür wurde plötzlich Hufgetrappel laut, das
sich schnell entfernte. Offenbar suchte der Rest der Räuberbande
sein Heil in der Flucht.
Dann hörte Roland die Stimme Louis'. Der Knappe war
üblicherweise kein Mann, der sich so leicht aus der Fassung bringen
ließ. Jetzt jedoch schwang in seiner Stimme das helle Entsetzen mit.
»Ritter Roland, kommt schnell! Es ist etwas gar Schreckliches
geschehen!«
Roland bekam ein drückendes Gefühl in der Gegend, wo der
Magen saß. Er hatte eine ganz bestimmte, düstere Ahnung.
Und nachdem er ins Haus geeilt war und die Kammer des
Schankwirts und seiner Frau betrat, sah er seine Ahnungen bestätigt.
»Wir sind zu spät gekommen«, sagte Pierre, der eine brennende
Fackel in der Hand hielt. »Zwar konnten wir die Kerle und das junge
Teufelsweib verjagen, aber das Entsetzliche war bereits
geschehen...«
Roland wandte den Blick ab.
Er konnte den Anblick Gisleverts und Marias, die blutend dalagen,
nicht länger ertragen.
*
Der Knappe Markus fühlte sich alles andere als wohl in seiner Haut.
Sein Herr verlangte verdammt viel von ihm.
Zuerst die verrückte Sache mit der falschen Zeugenaussage, Und
nun auch noch das Unternehmen gegen die ehemalige Amme Anna
Ochsenschwanz. Beide Angelegenheiten gingen ihm gegen den
Strich und waren auch sicherlich nicht mit der ritterlichen Ehre in
Einklang zu bringen. Aber was sollte er machen? Trotz seines
fortgeschrittenen Alters hatte er die Hoffnung, eines Tages doch
noch selbst in den Ritterstand erhoben zu werden, nicht aufgegeben.
Und wenn ihm einer zum Ritterschlag verhelfen konnte, dann nur
Freigraf Baldur von Torstein. Dies war für Markus Grund genug,
allen Befehlen seines Herrn widerspruchslos Folge zu leisten, auch
wenn er sie in seinem Innersten zutiefst ablehnte.
Auf Geheiß des Freigrafen hatte er das herzogliche Schloß sofort
wieder verlassen, nachdem es von Torstein gelungen war, unauffällig
den derzeitigen Aufenthaltsort der Anna Ochsenschwanz
festzustellen. Er hatte ein paar Männer um sich geschart, die dem
Freigrafen treu ergeben waren, und sich auf den Weg nach Mühlbach
gemacht. In diesem kleinen Dorf hausten Verwandte der ehemaligen
Amme, halbfreie Bauern, denen sie gelegentlich einen Besuch
abstattete.
Es war tiefe Nacht, als Markus und seine Helfershelfer Mühlbach
erreichten. Wie die meisten Ansiedlungen dieser Art lagen die
einzelnen Gehöfte und Katen weit auseinandergezogen und
gruppierten sich lose um die Kirche als zentralen Mittelpunkt. Um
diese Zeit lagen sämtliche Anwesen wie tot da. Mensch und Tier
schliefen, nachdem sie einen anstrengenden Tag voll harter Arbeit
und Mühsal hinter sich gebracht hatten.
Das richtige Haus zu finden, bereitete den Männern keine Mühe.
Es entsprach genau der Beschreibung, die Markus bekommen hatte -
ein Gehöft ganz am Rande des Dorfes, dessen hervorstechendes
Merkmal eine überdurchschnittlich große Scheune war.
Die vier Männer trafen sorgfältige Sicherheitsvorkehrungen. Gut
hundert Klafter von ihrem Ziel entfernt stiegen sie von ihren
Reittieren und leinten sie an einer kleinen Baumgruppe in
unmittelbarer Nähe des Dorfbaches an. Um nicht erkannt zu werden,
banden sie sich graue Tücher vor das Gesicht. Markus' Begleiter
schienen Spaß an der Maskerade zu haben. Sie lachten und machten
sich über ihr Aussehen lustig. Der Knappe selbst hingegen fühlte sich
ganz und gar nicht heiter gestimmt. Mehr und mehr kam er sich vor
wie ein gemeiner Wegelagerer. Am liebsten hätte er das
Unternehmen abgeblasen, bevor es richtig begann. Aber natürlich tat
er dies nicht. Das Wohlwollen des Freigrafen, das er sich unter
keinen Umständen verscherzen wollte, gab letzten Endes den
Ausschlag. Er verdrängte seine Gewissensbisse und tat, was getan
werden mußte.
Auf Schusters Rappen näherten sich die Vertrauten Baldur von
Torsteins dem abgelegenen Gehöft. Die Gebäude lagen in völliger
Dunkelheit. Nirgendwo brannte ein Licht. Allein der fahle Schein des
fast runden Mondes ließ die Szenerie nicht stockfinster erscheinen.
Aber es war nicht totenstill auf dem Gehöft. Als die Männer noch
fast zehn Klafter entfernt waren, schlug ein Hund an. Sein heiseres,
wütendes Bellen hallte über den Hof und hätte einen Toten wieder
lebendig machen können.
»Verdammter Köter«, knurrte Markus. »Wir müssen ihn
schnellstens zum Schweigen bringen.«
Einer seiner Leute zückte einen Hirschfänger. »Das werden wir
gleich haben!«
Der Mann huschte davon und wurde von der Dunkelheit
verschluckt. Markus und die anderen rückten unterdessen weiter
gegen das Gehöft vor, langsam und vorsichtig, jederzeit darauf
gefaßt, irgend jemandem in die Arme zu laufen.
Weiter kläffte der Hund, laut und durchdringend. Nicht mehr lange
allerdings. Sein Bellen brach urplötzlich ab, wich einem heiseren
Gurgeln. Danach war Stille.
Markus und die beiden anderen Männer erreichten den Hof. Der
vierte, der den Hund erledigt hatte, gesellte sich wieder zu ihnen. Er
blutete an der rechten Hand und schüttelte wütend den verletzten
Arm.
»Hoffentlich hat keiner gehört...«
Den Rest des Satzes konnte sich Markus sparen. Eine dunkle
Gestalt trat aus dem Haus, blickte sich,, suchend nach allen Seiten
um und sah die Getreuen des Freigrafen sofort.
Aber Markus war wachsam.
»Packt ihn!« zischte er.
Seine Begleiter verloren keine Zeit.
In Sekundenschnelle waren sie bei dem Gehöftsbewohner. Vier
starke Hände hielten seine Arme fest. Der Mann, der den Hund
beseitigt hatte, setzte ihm den Hirschfänger an die Kehle.
»Ein lautes Wort, und du bist tot!«
»Ja«, kam die angstvoll gehauchte Antwort.
Jetzt wurde offenbar, daß die vier Männer eine Frau in ihre Gewalt
gebracht hatten, eine Frau, die aus der ersten Blüte heraus war, aber
noch längst nicht zu den Alten gehörte.
Anna Ochsenschwanz? fragte sich Markus hoffnungsvoll. Das
würde vieles erleichtern...
»Wer bist du?« fragte er halblaut.
»Amalia ... Ochsenschwanz.«
Nicht die Amme also, stellte der Knappe leicht enttäuscht fest.
Eine Schwester vielleicht oder sonst irgendeine Verwandte.
»Wo finden wir Anna?« wollte er wissen.
Die Frau zitterte, hatte die Augen weit aufgerissen. Die maskierten
Männer erfüllten sie mit offenkundigem Entsetzen.
»An ... na?« wiederholte sie stockend. »Was wollt Ihr von ...«
»Antworte, sonst...«
Der Mann mit dem Hirschfänger preßte die Klinge etwas stärker
gegen den Hals der Frau und rief dadurch ein furchtsames Stöhnen
hervor.
»Anna ist... da!« Mit dem Kopf deutete die Frau auf ein Fenster,
das durch vorgeschobene Holzladen gesichert wurde.
»Dort schläft sie?«
»Ja!«
»Allein?«
Ein krampfhaftes Nicken war die Antwort der verängstigten Frau.
Daß sie ihre Verwandte dadurch ans Messer geliefert hatte, wurde ihr
anscheinend im Augenblick noch gar nicht so richtig bewußt. Sie tat
Markus beinahe leid.
»Was machen wir mit ihr?« fragte der Mann mit dem Hirschfänger
im Flüsterton.
Markus überlegte. Amalia Ochsenschwanz laufenlassen? Das kam
nicht in Frage, denn die Frau würde zweifellos Alarm schlagen,
wenn sie sich wieder ein bißchen gefaßt hatte. Sie umbringen? Das
widerstrebte ihm, aber wenn es keine andere Möglichkeit gab...
Da kam ihm ein anderer Gedanke.
»Wir nehmen sie mit«, entschied er.
»Mitnehmen?« Der Mann mit dem Hirschfänger war von dem
Gedanken gar nicht sonderlich angetan. »Aber wir können doch
nicht...«
»Ich erkläre es dir später«, sagte Markus kurz und knapp.
Im Beisein von Amalia Ochsenschwanz konnte und wollte er seine
Überlegungen nicht offen ausbreiten. Dabei lagen diese eigentlich
auf der Hand. Wenn nur Anna Ochsenschwanz verschleppt wurde,
bestand durchaus die Möglichkeit, daß gescheite Köpfe einen
Zusammenhang zwischen der Entführung und dem Wissen der
Amme und des Herzogs Tochter sahen. Wenn jedoch noch eine
zweite Frau verschwand, mochte es sich um die Tat von Räubern
handeln, die sich ein paar Bettgenossinnen beschaffen wollten. Dies
wäre nicht das erste Mal gewesen, daß dergleichen geschah.
Während einer der Männer der Frau einen Stoffetzen in den Mund
würgte und sie festhielt, näherten sich Markus und die beiden
anderen dem Fenster, hinter dem Anna Ochsenschwanz' Stube lag.
Die ehemalige Amme schien ebenso wie alle anderen
Gehöftbewohner tief und fest zu schlafen. Offenbar hatte der
Zwischenfall mit dem Hund nur die eine Frau hochschrecken lassen.
Mit Hilfe des Hirschfängers war der Holzladen schnell und auch
fast geräuschlos geöffnet. Der Vorhang aus rohem Tuch wurde
zurückgeschlagen, und dann war der Weg in die Kammer frei.
Ja, da war jemand. Im schwachen Licht des Mondscheins
zeichneten sich die Umrisse einer schlafenden Gestalt auf dem Lager
ab. Jetzt kam Bewegung in die Schlafende. Anscheinend hatte sie
doch etwas gehört und war nun im Begriff, aufzuwachen.
Der Mann mit dem Hirschfänger erkannte diese Gefahr sofort.
Ohne daß Markus eine Anweisung geben mußte, war er neben dem
Lager. Die Frau fuhr hoch.
Und spürte im nächsten Augenblick den kalten Stahl der Klinge an
ihrem Hals!
Markus huschte herbei. »Anna Ochsenschwanz?«
Die Frau, etwa so alt wie ihre Verwandte und noch sehr
ansehnlich, war sprachlos vor Angst und Entsetzen. Erst auf Markus'
erneute Frage brachte sie ein gequetschtes Ja hervor.
Der Knappe machte keine langen Umstände. Auch diese
Angehörige der Sippe Ochsenschwanz wurde geknebelt. Sie zu
binden, erwies sich als überflüssig. Ihre Furcht war viel zu groß, um
sich zu wehren oder gar einen Fluchtversuch zu unternehmen. Wi-
derstandslos ließ sie sich von ihrem Lager hochzerren und durch das
Fenster nach draußen bringen, wo ihre Verwandte bereits wartete.
Noch immer regte sich nichts im Gehöft. Keiner der übrigen
Bewohner ahnte, was geschehen war.
Wenig später waren die vier Männer mit ihren beiden Gefangenen
in der Dunkelheit verschwunden.
*
Fassungslos blickte die schöne Hilda auf ihre reglos daliegenden
Eltern. Sie war so geschockt, daß sie noch nicht einmal Tränen
vergießen konnte.
»Warum nur?« fragte sie immer wieder mit fast tonloser Stimme.
»Warum nur haben diese Menschen das getan?«
Diese Frage konnte ihr Roland auch nicht beantworten. Es war
offenkundig, daß Gislevert und seine Frau Maria im Schlaf
überrascht und umgebracht worden waren. Die beiden hatten keine
Gelegenheit gehabt, sich zu wehren, so schnell war der Tod
gekommen. Es handelte sich ohne Frage um einen vorsätzlichen,
genau geplanten Meuchelmord. Die Gründe, aus denen Hanns der
Bär und seine Bande das Wirtsehepaar getötet hatten, lagen im
verborgenen.
Aber der Ritter mit dem Löwenherzen war fest entschlossen, Licht
in das Dunkel zu bringen. Er verließ das Sterbezimmer, eilte wieder
nach draußen. Eine Handvoll Räuber hatte er vorhin
niedergeschlagen, bevor er durch die Alarmrufe aus dem Haus von
den Kerlen abgelenkt worden war. Es mußte doch mit dem Teufel
zugehen, wenn nicht mindestens noch einer des mörderischen
Gesindels in seine Hände fallen würde.
Wild blickte er sich nach allen Seiten um. Bei allen Erzengeln, wo
waren die Schurken geblieben? Vor wenigen Minuten noch hatten sie
bewußtlos auf dem Boden gelegen. Jetzt jedoch konnte er keinen
einzigen mehr von ihnen ausmachen.
Dann sah er jenseits des Weges Bewegung. Mehrere Gestalten, nur
höchst undeutlich zu erkennen, entfernten sich vom Schankhaus.
Roland lief bereits. Sein Schwert war ihm vorhin entfallen, und er
hatte bisher keine Gelegenheit gehabt, die Waffe wieder an sich zu
nehmen. Aber das kümmerte ihn jetzt überhaupt nicht. Sein Zorn war
so groß, daß er es auch mit einem Dutzend Räubern gleichzeitig
aufgenommen hätte - mit blanken Fäusten.
Mit großen Sätzen jagte er den Flüchtenden nach. Und es war ihm
dabei auch völlig gleichgültig, ob sie sofort oder erst später auf ihn
aufmerksam wurden.
Rasch verkürzte er den Abstand, überraschend rasch sogar. Jetzt
konnte er auch erkennen, wieso er so schnell näherkam. Drei Männer
waren es, die das Weite suchten. Aber nur zwei von ihnen waren des
Gehens mächtig. Der dritte hatte offensichtlich das Bewußtsein noch
nicht wiedererlangt und wurde von den anderen beiden getragen.
Es war sicherlich keine reine Freundestreue, die die Kerle zu ihrem
Hilfsdienst veranlaßt hatte. Natürlich fürchteten sie, daß ein
Zurückgelassener mehr ausplaudern würde, als für die anderen gut
war.
Ein solcher Gedankengang traf den Nagel auf den Kopf, denn er
deckte sich voll und ganz mit Rolands eigenen Überlegungen.
Inzwischen hatten die flüchtenden Räuber gemerkt, daß sich
jemand an ihre Fersen geheftet hatte. Im Mondlicht war zu erkennen,
daß sie die Köpfe zurückdrehten und dann ihre Fluchtanstrengungen
verstärkten.
Aber der Ritter mit dem Löwenherzen ließ sich nicht abhängen.
Näher und näher kam er heran.
Das merkten die Räuber nun auch. Fast ruckartig machten sie halt.
Sie ließen ihren Spießgesellen zu Boden fallen und fuhren herum.
Messer blitzten auf.
Roland verhielt seinen Schritt. Er fürchtete diese beiden Männer
nicht, aber er hatte auch nicht vor, sich leichtfertig in Gefahr zu
begeben.
»Kommt nur her, Herr Ritter!« stieß der eine hervor. »Einmal habt
Ihr uns überrascht. Ein zweites Mal wird Euch das nicht gelingen!«
Langsam, ganz langsam jetzt, ging Roland auf die Räuber zu.
Diese beiden und der eine, der bewegungslos auf dem Boden lag,
waren die letzten, die noch nicht geflohen waren. Einen von ihnen
mußte er haben, wenigstens einen.
Geduckt wie große Katzen standen die zwei Meuchelmörder da,
das Messer stoßbereit in der erhobenen Faust. Aber Roland ließ sich
dadurch in keiner Weise beeindrucken. Furchtlos schritt er auf die
üblen Gesellen zu.
Die Räuber spürten diese Furchtlosigkeit. Und sie erinnerten sich
wohl daran, wie übel der Ritter ihnen vorhin mitgespielt hatte. Sie
bekamen es mit der Angst zu tun, wollten sich lieber doch nicht
erneut auf ein Handgemenge mit diesem mächtigen Kämpfer
einlassen. Deshalb versuchten sie, sich des Gegners auf eine andere
Weise zu erwehren.
Sie verständigten sich mit ein paar geknurrten Lauten. Dann bogen
sie gleichzeitig den Arm zurück, ließen ihn dann wieder nach vorne
schnellen. Die beiden Messer lösten sich aus ihren Fingern, jagten
wie silberne Blitze auf Roland los.
Der Ritter mit dem Löwenherzen sah die Messer im Mondlicht
kommen. Sie waren zu schnell, um rechtzeitig zur Seite zu springen.
Roland schaffte es noch gerade, Kopf und Oberkörper zur Seite zu
reißen.
Das eine Messer zischte haarscharf an seinem Ohr vorbei, so dicht,
daß er den Luftzug spürte. Dem zweiten Geschoß jedoch konnte er
nicht mehr ausweichen. Es traf seine Schulter, eine Handbreit über
dem Herzen.
Roland trug nicht wie gewohnt sein Kettenhemd, da er dieses
abgelegt hatte, als er sich zur Nachtruhe begab. Dies zeitigte jetzt
böse Folgen. Sein Oberkörper war ungeschützt. Ungehindert drang
die Klinge in seine Schulter ein.
Ein mörderischer Schmerz durchzuckte den Ritter. Ihm war, als
würde sich glühendes, flüssiges Eisen in seiner Brust ausbreiten. Er
strauchelte, wäre beinahe zu Boden gestürzt.
Die beiden Räuber stießen einen Triumphschrei aus. Sie sahen sich
bereits als Sieger.
Aber sie hatten ihre Rechnung ohne den Wirt gemacht. Roland
achtete nicht weiter auf den schneidenden Schmerz, der in seiner
Schulter tobte. Und auch die augenblickliche Schwäche, die ihn
überkommen hatte, überwand er in Sekundenschnelle. Aufrecht und
entschlossen ging er weiter auf die üblen Gesellen zu. Ja, er
beschleunigte seine Schritte sogar noch, war den Kerlen jetzt zum
Greifen nahe.
Höllische Angst überkam die Räuber. Ein Mann, dem ein Messer
tief in der Brust steckte und der dennoch ungebrochen weiterschritt,
einen solchen Mann hatten sie noch nie erlebt. Er kam ihnen vor wie
eine Gestalt, die nicht von dieser Welt stammte.
Sie drehten sich auf dem Absatz um und rannten davon, als sei ein
böser Geist hinter ihnen her. Schnell waren sie so weit entfernt, daß
nur noch ihre hastenden Schritte von ihrer Gegenwart kündeten.
Dann verklangen auch diese.
Roland ließ sie laufen. Er hatte sein Ziel erreicht, denn der
Bewußtlose war von seinen Spießgesellen zurückgelassen worden.
Diesen Mann hatte er sicher.
Jetzt spürte er den Schmerz in der Schulter wieder sehr deutlich.
Am liebsten hätte er sich das Messer aus der Wunde gerissen. Aber
das tat er nicht, wohl wissend, daß dies eine starke Blutung nach sich
ziehen würde.
Er biß die Zähne zusammen, bemühte sich, nicht auf die Pein zu
achten. Er trat an den Mann heran, der auf dem Boden lag. Lebte der
Geselle überhaupt noch, oder war er am Ende gar längst tot?
Ja, er lebte noch. Als sich Roland zu ihm hinunterbeugte, fühlte er
das Schlagen des Herzens. Lange würde es wohl nicht mehr dauern,
bis er die Augen wieder aufschlagen konnte.
Roland packte den Burschen unter Achseln und Knien und zerrte
ihn hoch. Unwillkürlich stöhnte er auf, denn die Anstrengung bekam
der Wunde ganz und gar nicht. Für eine Sekunde wurde ihm sogar
regelrecht schwarz vor den Augen. Aber auch das ging wieder
vorbei. Es gelang ihm, den Bewußtlosen auf den Rücken zu nehmen.
Dann machte er sich auf den Rückweg zum Haus.
Louis kam ihm entgegen. Der Knappe stieß einen Entsetzensschrei
aus, als er das Messer in der Schulter seines Herrn sah.
»Ritter Roland, seid Ihr ...«
»Halb so wild«, preßte Roland hervor. »Wenn du mir nur diesen
Kerl abnehmen würdest...«
Der Knappe griff sofort zu und packte sich den Räuber auf seinen
eigenen Rücken. Gegen den Recken Roland wirkte sein sehniger,
schlanker Körper beinahe schmächtig. Aber das sah natürlich nur auf
den ersten Blick so aus. Tatsächlich war auch Louis ein Mann, der
über die Stärke und Geschmeidigkeit eines Raubtiers verfügte.
Wachsam blickte sich der Knappe nach allen Seiten um.
»Keine Bange«, sagte Roland, »die Halunken haben alle das Weite
gesucht. Und ich glaube, wir brauchen nicht damit zu rechnen, daß
sie wiederkommen.«
Gemeinsam gingen die beiden Männer zurück ins Haus. Pierre
verschluckte sich fast, als er das Messer sah, das mittlerweile
förmlich im Blut zu schwimmen schien. Auch das Mädchen erschrak
zutiefst, vergaß im Augenblick sogar den Schmerz über den
schrecklichen Verlust der Eltern.
»Um Gottes willen, Herr Ritter. Ihr ... Ihr verblutet ja!«
Dann zeigte sie, daß sie ein sehr gescheites und geschicktes
Frauenzimmer war. Schnell hatte sie eine Schüssel Wasser und ein
weißes, weiches Leinentuch geholt. Dann machte sie sich daran, den
Ritter zu verarzten.
Sie wurde blaß, als sie das Messer aus der Schulter zog.
»Tut... es sehr weh?«
»Überhaupt nicht«, erwiderte Roland lächelnd. »Wenn so zarte
Hände zu Werke gehen ...«
Das entsprach nicht so ganz der Wahrheit. In Wirklichkeit
schmerzte seine Schulter höllisch. Aber er wäre lieber gestorben,
bevor er das offen zugegeben hätte.
Die Schmerzen wurden sogar noch schlimmer, als das Mädchen
die Wunde auswusch und ein bläuliches Pulver drauf streute. Aber
das Pulver, bei dem es sich um Doppelsalz handeln mußte, tat
unverzüglich seine Wirkung. Der Blutfraß kam fast zum Stillstand,
so daß Hilda die Wunde gar prächtig verbinden konnte. In wenigen
Minuten nur hatte sie die Arbeit getan.
»Ist es so besser, Ritter?«
»Viel, viel besser! Ich spüre fast gar nichts mehr!« antwortete
Roland.
Und in der Tat war eine spürbare Linderung eingetreten. Der
stechende Schmerz war gewichen. Gegenwärtig spürte Roland nur
noch einen dumpfen Druck und ein leichtes Ziehen. Er fühlte sich
wieder so weit hergestellt, daß er sich um die wesentlichen Dinge
kümmern konnte.
Und dazu gehörte jetzt in erster Linie der gefangene Räuber. Noch
immer war der Kerl, ein Bursche mit groben Gesichtszügen und wild
wucherndem Bartwuchs, ohne Bewußtsein. Roland wollte aber auch
nicht ausschließen, daß der Mann nur so tat, als sei er ohnmächtig,
und in Wirklichkeit auf eine günstige Gelegenheit zur Flucht lauerte.
Das wäre ihm allerdings nie gelungen, denn Louis paßte auf, als habe
er seinen eigenen Augapfel zu bewachen.
Roland hatte wenig Neigung, bis in alle Ewigkeit auf das
Erwachen des Halunken zu warten. Er sorgte für Nachhilfe, indem er
die Waschschüssel nahm und über dem Kerl ausschüttete.
Das half sofort. Prustend und spuckend fuhr der Räuber hoch.
Keine Frage, er hatte tatsächlich nur eine Posse vorgeführt.
Das Messer hatte Rolands linke Schulter verletzt. Sein rechter Arm
war deshalb in keiner Weise beeinträchtigt. Hart griff er zu und
packte den Räuber an der Halskrause.
»Ich habe ein paar Fragen an dich, Bürschchen!« sagte er mit
drohender Stimme.
Der Räuber zuckte mit den Augenlidern, machte aber den Mund
noch nicht auf.
»Warum habt ihr den Schankwirt und seine Frau umgebracht?«
wollte Roland wissen. »Und warum wolltet ihr die Tochter des
Hauses gewaltsam verschleppen?«
»Ich ... wir ...«
»Ja?«
»Ich ... weiß nicht.«
»So, so, du weißt es nicht! Nun, wir wollen doch mal sehen...«
Roland knautschte den schmutzigen Stoffetzen, der sich um den Hals
des Mannes schlang, so zusammen, daß dem Kerl die Luft wegblieb.
Er lief rot an und bekam ganz große, entsetzte Augen.
»Aufhören«, ächzte er halb erstickt.
Roland lockerte seinen Griff ein bißchen. »Nun?«
»Glaubt mir, Herr Ritter«, quetschte der üble Geselle hervor, »ich
weiß wirklich nicht genau, warum wir diesen Überfall unternommen
haben. Wir hatten es nicht auf Beute abgesehen, das ist gewiß. Es
ging irgendwie um ...«, er warf einen schnellen Blick auf Hilda,
»...das Mädchen. Sitta sah in ihr eine Rivalin, die beseitigt werden
sollte. Und ihre Eltern sollten ebenfalls sterben, um sie zum
Schweigen zu bringen.«
»Sitta«, sagte Roland, »ist das die schwarzhaarige Frau, die mit
euch am Tische saß?«
»Die Schwarze Sitta, ja. Sie ist die Ziehtochter von Hanns dem
Bär, unserem Anführer.«
»Rivalin«, wiederholte Roland sinnend. Er sah die Wirtstochter an.
»Bist du dieser Schwarzen Sitta jemals in die Quere gekommen,
mein Kind?«
»Niemals«, antwortete das Mädchen mit den rehbraunen Haaren.
»Ich habe das Weib nie in meinem Leben gesehen!«
»Dann verstehe ich nicht...«
»Ich verstehe es auch nicht«, sagte Hilda mit funkelnden Augen.
»Bestimmt lügt dieser Schweinesohn!«
»Nein, nein«, versicherte der Räuber. »Hanns der Bär hat uns
weitgehend im Ungewissen gelassen. Das schwöre ich beim Leben
meiner Mutter!«
»Du lügst«, sagte Hilda wieder. »Und du bist einer von jenen, die
meine Eltern auf dem Gewissen haben.« Während sie das sagte, griff
sie nach dem Messer, das sie aus Rolands Schulterwunde gezogen
hatte.
Der Anblick des Messers und die damit verbundene Todesahnung
verlieh dem Räuber ungeahnte Kräfte. Mit einem mächtigen Ruck riß
er sich los und rannte zur Tür. Aber er erreichte sie nicht. Pierre
strafte seine Bequemlichkeit Lügen und streckte blitzschnell ein Bein
aus. Der flüchtende Halunke stolperte darüber und schlug lang hin.
Auf die Füße kam er nicht wieder, denn im nächsten Augenblick
war Louis über ihm. Damit war die Flucht des Kerls ein für allemal
beendet.
*
Der Knappe Markus wußte, daß höchste Eile geboten war. Der
Freigraf erwartete ihn noch in dieser Nacht auf dem herzoglichen
Schloß zurück. Und natürlich erwartete er auch, die Nachricht zu
bekommen, auf die es ihm ankam. Markus blieb also nicht viel
Spielraum. Anna Ochsenschwanz mußte ihr Geheimnis preisgeben.
Unverzüglich !
Nur wenige Meilen von dem Dorf Mühlbach entfernt - Markus und
seine Begleitung durchquerten gerade ein zwischen zwei Hügeln
eingebettetes Waldstück - gab er auf einer kleinen, von Büschen und
Bäumen geschützten Lichtung den Befehl zum Anhalten.
Die Männer kletterten aus den Sätteln und hoben auch die Frauen
von den Pferden. Anna und Amalia Ochsenschwanz waren noch
immer völlig verstört. Verständlicherweise gewiß, denn ihre
Entführer hatten die Gesichtstücher noch immer vorgebunden und
waren während des Rittes eine Antwort auf die angstvollen Fragen
ihrer Opfer schuldig geblieben. Nicht ohne Grund rechneten die
unglücklichen Frauen mit dem Schlimmsten, wenn sie auch sicher
von falschen Beweggründen ausgingen, die sie den Männern im
stillen unterstellten.
Die Nacht war kühl, unangenehm kühl. Da zu dieser Stunde und an
dieser Stelle kaum Lauscher zu befürchten waren, entzündeten die
Männer ein Feuer. Brennholz dazu fanden sie in Hülle und Fülle.
Schnell schlugen die Flammen hoch, sorgten für Licht und Wärme.
Markus ließ die Verwandte der Amme ein Stück zur Seite führen
und von einem seiner Helfershelfer bewachen. Dann wandte er sich
Anna Ochsenschwanz zu.
Angst loderte in den Augen der Frau hoch. Ihre Mundwinkel
zuckten krampfhaft.
»Du brauchst keine Angst vor uns zu haben«, sagte der Knappe
freundlich. »Es liegt nicht in unserer Absicht, deine Frauenehre zu
beflecken, wie du wohl fürchtest.«
Die Frau sagte nichts, blickte ihn nur an. Ihre Angst hatte sie aber
keineswegs verloren.
»Ich will nur eine Auskunft von dir«, fuhr Markus fort. »Das ist
schon alles.«
»Was ... was für eine Auskunft?« Die Stimme Anna
Ochsenschwanz' klang belegt und stockend.
»Der Name Berthild ist dir vertraut?« kam Markus ohne weitere
Umschweife zur Sache.
»Berthild?«
»Des Herzogs Tochter, ja!«
»Ich ... ja, ich kannte sie. Damals, als sie noch ein unschuldiges
kleines Kind war. Ich habe sie an meiner Brust gesäugt!«
Markus nahm diese Antwort als ein gutes Zeichen. Immerhin, sie
leugnete nicht, die Amme der Herzogstochter gewesen zu sein.
»Gut«, sagte er, »sehr gut. Wenn du dich so klar erinnerst, dann
wirst du auch noch wissen, daß die kleine Berthild ein
unverwechselbares Körpermerkmal besaß. Was war das für ein
Merkmal?«
Erst jetzt schien der Frau klar zu werden, auf was er eigentlich
hinaus wollte. Ein Schatten huschte über ihr Gesicht.
»Ich ... ich weiß nicht, wovon Ihr sprecht, Herr«, antwortete sie
unsicher.
Es war offensichtlich, daß sie log. Nur zu genau wußte sie, was er
meinte.
Markus behielt seine Freundlichkeit bei. »Machen wir uns nichts
vor, Anna Ochsenschwanz. Ich weiß alles! Und ich kann mir auch
vorstellen, daß man dir am Hof des Herzogs befohlen hat, tiefstes
Stillschweigen zu bewahren. Aber ich mache dir ein heiliges Ver-
sprechen: niemand wird jemals erfahren, daß du mir dein Geheimnis
anvertraut hast. Du sagst mir jetzt, welches Merkmal die kleine
Berthild hat. Gleich anschließend bringen wir dich und deine
Verwandte zurück nach Mühlbach, und niemand wird wissen, daß
wir uns überhaupt getroffen haben. Nun, ist das ein guter
Vorschlag?«
Die Frau zögerte, schüttelte dann den Kopf.
»Nein«, sagte sie beinahe flüsternd, »ich darf es nicht sagen. Ich
habe es geschworen! Und wenn ich meinen Eid breche, falle ich der
ewigen Verdammnis anheim.«
Noch einmal versuchte es der Knappe im Guten. »Dein Eid in
hohen Ehren, Anna. Aber meinst du nicht, daß das hier eine
Sinnesänderung wert sei?«
Mit diesen Worten holte er einen kleinen Beutel hervor und
schwenkte ihn hin und her. Das silberhelle Klingeln von
Geldmünzen wurde hörbar.
»Nun, Anna? Dieser Beutel gehört sofort dir, wenn du ...«
»Nein! Ich verkaufe meine Seele nicht für alle Goldmünzen dieser
Welt. Zu teuer müßte ich dafür in der jenseitigen Welt bezahlen!«
Die freundliche Miene des Knappen war auf einmal wie
weggewischt.
»Nun«, sagte er, »wenn du die Freuden der diesseitigen Welt für
gering erachtest... Wir wollen sehen, ob du auch ihre Schrecken nicht
fürchtest!«
Er gab den beiden Helfershelfern, die das Gespräch aufmerksam
verfolgt hatten, einen Wink.
»Reißt ihr die Kleider vom Leib!«
Diesen Befehl brauchte er nicht zweimal zu geben. Die beiden
Männer gehorchten sofort. Und ihr glucksendes Lachen verriet, daß
sie es nur zu gern taten. Sie packten die Frau und legten Hand an sie.
Langsam, beinahe genüßlich fetzten sie der Frau die Kleidungsstücke
vom Körper. Bald stand Anna Ochsenschwanz völlig nackt da. Ihr
Wimmern und Flehen hatte die Männer nicht rühren können.
Markus war erstaunt, welch prallen, gut erhaltenen Leib sie noch
hatte. Ihre schweren, vollen Brüste hingen nur leicht nach unten, was
um so erstaunlicher war, als sie ja früher fremder Frauen Kinder
gestillt hatte.
Die nächtliche Kälte ließ sie zittern. Ihr Körper überzog sich vom
Kopf bis zu den Füßen mit einer Gänsehaut.
Es gefiel dem Knappen gar nicht, was er jetzt tun mußte. Aber
dann dachte er an den ersehnten Ritterschlag und hörte nicht auf die
mahnende Stimme seines Gewissens.
»Nun, willst du nicht lieber doch sprechen, Anna
Ochsenschwanz?«
Stumm schüttelte die Frau den Kopf. »Ich ... darf es nicht. Bei
meiner Seele, habt Erbarmen, Herr!«
Sie dauerte ihn zutiefst, aber er konnte und durfte ihr kein
Erbarmen gewähren. Er beugte sich zum Feuer nieder und nahm
einen brennenden Ast zur Hand, dessen dickes Ende noch nicht von
den Flammen beleckt wurde.
»Mir scheint, du frierst, Anna«, sagte er heiser. »Möchtest du dich
etwas wärmen?«
Ruckartig stieß er den Ast nach vorne und hielt ihn so, daß die
züngelnden Flammen nur noch wenige Zoll vom Körper der Frau
entfernt waren.
Entsetzt schrie Anna Ochsenschwanz auf und versuchte
zurückzuspringen. Aber das gelang ihr nicht. Die Helfer des
Knappen hatten sie an den Armen gepackt und hielten sie
unerbittlich fest.
»Bitte, Herr«, flehte sie, »tut alles mit mir, nur das nicht. Tötet
mich lieber!«
»Du hast die Wahl«, antwortete Markus mit bemüht kalter Stimme.
»Du brauchst mir nur zu sagen, was ich wissen will.«
Einen Augenblick lang sah es so aus, als ob sie tatsächlich
sprechen würde. Aber das tat sie dann doch nicht. Sie preßte die
Lippen fest aufeinander und schwieg.
Der Knappe wollte die Flammen noch näher an ihren nackten
Körper heranbringen, merkte aber, daß er dies nicht konnte. Er war
nicht zum Folterknecht geboren, konnte seine inneren Skrupel nicht
überwinden, auch wenn der Verstand ihm sagte, daß dies unbedingt
erforderlich war. Er brachte es einfach nicht fertig, die unglückliche
Frau, die jetzt mit entsagungsvoller Miene und geschlossenen Augen
da stand, noch mehr zu quälen.
Die beiden Helfershelfer merkten, was in ihm vorging.
»Mangelt es dir an Entschlossenheit, Markus?« sagte der eine und
lachte höhnisch. »Der Freigraf wird nicht entzückt von deiner lauen
Feigheit sein!«
Markus biß sich auf die Lippen, so fest, daß ein Blutstropfen
hervortrat.
Dieser Narr!
Er hatte seinen Namen genannt und damit die ganze Maskerade
hinfällig gemacht. Und er hatte auch den Freigrafen erwähnt. Die
Amme wußte also jetzt Bescheid, wem sie dieses schreckliche
nächtliche Erlebnis zu verdanken hatte.
»Nun, Markus?« gab der Bursche noch immer keine Ruhe. »Wenn
du dich nicht traust... Gib mir die Fackel! Ich werde keinen
Augenblick zögern, den Wünschen unseres Herrn gefällig zu sein!«
Verlangend streckte er die Hand aus.
Der Knappe wußte, daß er keine Wahl hatte. Dem angestrebten
Ziel so nahe zu sein und dann doch keinen Erfolg zu erzielen, das
würde ihm Baldur von Torstein niemals verzeihen. Den ersehnten
Ritterschlag konnte er für alle Zeiten vergessen. Mehr noch, der
Freigraf würde ihn auch noch zusätzlich für seine Unbotmäßigkeit
streng bestrafen. Mit einer müden Geste überreichte er dem
Helfershelfer die lodernde Fackel.
Wieder lachte der andere und packte den brennenden Ast mit fester
Hand. Dann wandte er sich der zitternden Frau zu.
»So«, sagte er heiter, »nun wollen wir doch mal sehen, ob du
deinen Schnabel nicht doch aufsperren wirst!«
Anna Ochsenschwanz schrie gellend auf, begann dann
herzzerreißend zu schluchzen.
»Wartet«, stieß sie hervor, »ich... will sprechen!« Die Fackel wich
zurück. »Das Erkennungszeichen der Herzogstochter ist...« Erneut
stockte die Frau.
»Sprich!«
»Ein kleines Muttermal an der Innenseite ... des rechten
Oberschenkels.«
Fast lautlos hatte die Amme gesprochen. Wahrscheinlich stellte sie
sich in Gedanken vor, wie unvergleichlich furchtbarer das
Höllenfeuer im Vergleich zu den Flammen des Astes brennen würde.
Der Helfershelfer sonnte sich in den Strahlen seines Triumphs.
»Hast du gesehen, Markus? So muß man das machen!«
Der Knappe goß Wasser in den Wein. »Du Narr«, raunte er ihm zu.
»Jetzt kann sich die Amme leicht ausrechnen, in wessen Auftrag wir
handeln. Du hast den Freigrafen erwähnt und mich mit meinem
Namen angesprochen. Wozu wohl haben wir unser Gesicht
verhüllt?«
»Oh, Hölle und tausend Teufel«, stieß der andere hervor. »Das
hatte ich nicht bedacht. Was tun wir nun?«
Diesmal gab es keinen Ausweg, wußte Markus. Diesmal durfte er
die Stimme seines Gewissens nicht beachten.
»Es gibt nur eine einzige Möglichkeit«, sagte er mit Grabesstimme.
Der andere begriff sofort. »Du meinst...«
»Weißt du eine andere Lösung?«
»Nein!«
Der Helfershelfer ließ den brennenden Ast fallen und griff wieder
nach seinem Hirschfänger.
Gellend schrie Anna Ochsenschwanz auf.
*
»Was machen wir mit ihm?« fragte der Knappe Louis, während er
den Räuber mit starker Hand festhielt. »Er ist ein Mörder und hätte
es verdient, auf dem schnellsten Weg in die Hölle befördert zu
werden!«
»Gnade!« schrie der Kerl mit dem wüsten Bart. »Ich bereue, was
ich tat und...«
»Schweig!« donnerte Roland. »Deine Reue ist genauso verlogen
wie all das, was du uns erzählt hast.«
Wieder beteuerte der Räuber leidenschaftlich, daß er die Wahrheit
gesagt habe und wirklich nicht genau wisse, weshalb die Wirtsleute
und ihre Tochter sterben sollten. Fast war Roland geneigt, ihm zu
glauben. Und den anderen ging es nicht anders.
Aber was sollte mit dem Halunken geschehen?
Alle Anwesenden blickten auf Hilda, die das Messer nach wie vor
in der Hand hielt. Sie starrte den Mann an wie ein Racheengel, der
zur Erde herabgestiegen war. Plötzlich jedoch ließ sie das Messer
sinken.
»Er ist ein böser Mensch«, stellte sie mit leiser Stimme fest. »Und
er ist mitschuldig am Tod meiner geliebten Eltern. Aber ich bin kein
Richter. Mögen andere entscheiden, was aus ihm wird!«
Sie ließ das Messer fallen, schlug die Hände vors Gesicht und
begann lautlos zu weinen. Der Gedanke an das schreckliche
Schicksal Gisleverts und Marias gab ihren Tränen neue Nahrung.
Roland trat auf sie zu und legte ihr begütigend den gesunden Arm
um die Schultern. Er sagte nichts, denn in einer solchen Situation gab
es nicht viel zu sagen. Der tiefe Schmerz, den das Mädchen empfand,
ließ sich durch Worte nicht lindern.
Bald beruhigte sich die junge Frau wieder etwas. Sie wischte sich
die Tränen aus den Augen und zwang sich sogar zu einem flüchtigen
Lächeln, das sie schöner erscheinen ließ denn je.
»Wer ist der oberste Gerichtsherr dieser Gegend?« erkundigte sich
Roland.
»Herzog Adalbert«, erwiderte Hilda. »Aber er hat die
Gerichtsbarkeit in dieser Gegend dem Freigrafen Otmar von Lützen
übertragen.«
»Gut«, nickte Roland. »Dann werden wir diesen Halunken dem
Freigrafen übergeben. Wie weit liegt sein Sitz von hier entfernt?«
»Die Lützenburg ist etwa in einem halben Tagesritt zu erreichen.«
Nun erhob sich die Frage, wie der Rest der Nacht verbracht werden
sollte. Sich wieder aufs Lager begeben und weiterschlafen? Dazu
war niemand aufgelegt, insbesondere das Mädchen Hilda nicht.
Unter einem Dach mit ihren ermordeten Eltern ...
»Vielleicht sollten wir gleich zur Lützenburg aufbrechen«, schlug
Roland vor. »Die Morgendämmerung ist ohnehin nicht mehr fern.«
Sein Vorschlag fand allgemeine Zustimmung. Auch Hilda hatte
nichts dagegen. Allein konnte sie das Schankhaus ihrer Eltern nicht
weiterführen. Was nun aus ihr werden würde, wußte sie noch nicht.
Vielleicht konnte sie auf der Lützenburg eine Anstellung finden. Das
hoffte sie jedenfalls.
Vor dem Aufbruch gab es noch eine traurige Pflicht zu erfüllen.
Gislevert und Maria mußten beerdigt werden. Louis und Pierre
übernahmen die Aufgabe, hinter dem Haus ein Grab auszuheben, in
das die beiden Toten dann hinabgelassen wurden. Ein einfaches
Holzkreuz, aus Baumästen zusammengefügt, schmückte die letzte
Ruhestätte der Unglücklichen.
Stumm nahm Hilda Abschied von ihren Eltern, ungestört von
Roland und den Knappen. Dann war sie zum Aufbruch bereit.
*
Baldur von Torstein schlich auf leisen Sohlen durch das herzogliche
Schloß. Er wurde dabei das Gefühl nicht los, daß dieses Tun stark
unter seiner Würde war. Aber er konnte darauf jetzt keine
Rücksichten nehmen. Der Zweck heiligte bekanntlich die Mittel, und
wenn er sein angestrebtes Ziel erreichen wollte, dann blieb ihm jetzt
gar keine andere Möglichkeit.
Noch war alles ruhig im Schloß. Lange würde es allerdings nicht
mehr dauern, bis der erste Hahn krähte, und bis dahin mußte er alles
erledigt haben.
Von niemandem gesehen, kam er in dem Schloßflügel an, der den
Frauen vorbehalten war. Als er an einer Tür vorbeischlich, hörte er
dahinter keuchende Geräusche und ein glucksendes Lachen. Ein
Lächeln huschte über seine Züge. Wie es schien, war er nicht das
einzige männliche Wesen, das sich in fremde Gefilde begeben hatte.
Er ging weiter, stand dann vor dem Raum, in dem er seine Tochter
wußte. Prüfend blickte er sich noch einmal nach allen Seiten um.
Befriedigt stellte er fest, daß nichts zu sehen und auch nichts zu
hören war. Dann klopfte er an die Tür, die von innen verschlossen
war.
Er bekam keine Antwort. Martha hatte ihn offenbar nicht gehört,
schlief weiter. Wahrscheinlich träumte sie von einem Mann, der
endlich gekommen war, um ihrer Jungfräulichkeit ein Ende zu
setzen.
Wieder klopfte er, lauter als zuvor.
Und wieder nahm seine Tochter keine Notiz davon. Langsam
wurde er wütend. Diese Gans! Wußte sie denn nicht, daß sie ihre
Zukunft verschlief? Und die seine auch!
Er mußte das Risiko eingehen, daß auch in den benachbarten
Räumen jemand aufmerksam wurde. Aber das ließ sich nicht ändern.
Er mußte hinein zu Martha, unbedingt!
Er ballte eine Faust und hämmerte gegen die Tür. Das Geräusch
erschien ihm so laut wie ein Donnerschlag.
»Martha, hörst du nicht?«
Mehrere Sekunden vergingen, dann kam die ängstliche Stimme
seiner Tochter: »Vater, seid Ihr das?«
»Was dachtest du denn, alberne Gans - ein Verehrer vielleicht? Da
kannst du verdammt lange warten. Los, mach endlich auf!«
»Aber...«
»Mach auf, sage ich!«
Er stand wie auf glühenden Kohlen. Hoffentlich öffnete die
dumme Pute bald!
Das tat sie schließlich. Der Freigraf drängte sich durch die Tür,
machte sie hinter sich wieder zu.
Verwundert starrte ihn seine Tochter an, mit einem
Gesichtsausdruck, der ihn dazu reizte, ihr eine Maulschelle zu
versetzen. Dümmlich war gar kein Ausdruck. Sie hatte ein
Nachtgewand an, das ihr vom Hals bis zu den Fußsohlen reichte. Es
war genauso formlos wie der plumpe Körper, den es verhüllte.
Baldur von Torstein trat an den Tisch, auf dem eine brennende
Fackel stand, und zog sich einen Schemel heran. Martha nahm
unterdessen auf der Kante des Bettes Platz.
»Um diese Zeit?« fragte sie. »Was wollt Ihr jetzt von mir, Herr
Vater?«
»Mein Getreuer Markus hat herausgefunden, welches
unverwechselbare Körpermal die Tochter des Herzogs aufwies!«
»Ach ja«, erwiderte Martha. Deutlich war ihr anzumerken, daß sie
über diese Nachricht gar nicht glücklich war. Im stillen hatte sie
wohl immer noch gehofft, daß ihr Vater seinen Plan fallen lassen
würde.
Aber da irrte sie sich gewaltig.
Mehr denn je war der Freigraf gewillt, sie auf den Herzogsthron zu
setzen. Und jetzt, da er den Schlüssel zum Erfolg kannte, sollte ihn
keine Macht der Welt mehr daran hindern, sein Ziel zu erreichen.
»Berthild besaß ein kleines Muttermal am rechten Oberschenkel.
Und zwar an der Innenseite.«
»Ich habe dort kein Muttermal«, erwiderte Martha. Sie schien
erleichtert zu sein.
Ihr Vater lächelte grimmig. »Noch nicht, Martha, noch nicht. Aber
was nicht ist, kann ja noch werden ...«
Er zog seinen Siegelring vom Finger und betrachtete ihn im Schein
der Fackel. Befriedigt nickte er. Ja, die Gemme würde durchaus ihren
Zweck erfüllen.
Martha sah ihn fragend an. Das Unwohlsein stand ihr in großen
Buchstaben im Gesicht geschrieben.
»Was... wollt ihr mit dem Ring, Herr Vater?«
»Die gravierte Platte eignet sich nicht nur zum Siegeln«, sagte der
Freigraf langsam.
»Son ... dern?«
»Zieh dein Gewand hoch«, verlangte Baldur von Torstein.
»Ich soll...« Entsetzen zeichnete sich im Gesicht des dicklichen
Mädchens ab. »Niemals!«
Der Zorn übermannte den Freigrafen. »Was glaubst du, will ich
tun, alberner Fratz? Dir Gewalt antun vielleicht? Ich bin dein Vater,
vergiß das nicht! Also hoch mit dem Fetzen. So weit, bis der
Oberschenkel frei ist!«
Zögernd und zitternd kam Martha der Aufforderung nach. Ihr Bein
war alles andere als ansehnlich. Die Fesseln waren zu breit, die
Waden zu schwammig, die Knie zu eckig und die Schenkel zu fett.
Ihr Vater konnte sich keinen Mann vorstellen, der an diesem
Mädchen großen Gefallen finden würde. Es sei denn, sie war
Herzogin! Dann sah auch ein Mann von Stande über vieles, über
alles andere hinweg.
»Und nun, Herr Vater?«
Baldur von Torstein seufzte. Sie war so dumm, daß sie noch immer
nicht begriffen hatte, auf was er hinaus wollte. Und vielleicht war es
sogar besser, ihr vorher gar nichts zu sagen. Sie würde noch früh
genug merken, was er vorhatte.
»Mach die Augen zu, Martha«, sagte er geradezu freundlich.
»Warum?«
»Tu es!«
Martha war es gewohnt, zu gehorchen. Zuerst leistete sie meistens
Widerstand, dann aber gab sie stets klein bei. Auch diesmal war es
so. Sie schloß die Augen.
»Mißbraucht mein Vertrauen nicht, Herr Vater«, sagte sie mit
leiser Stimme.
»Natürlich nicht, mein Kind. Ich will ja nur dein Bestes!«
Baldur von Torstein nahm den Ring mit spitzen Fingern und hielt
ihn über die züngelnde Flamme der Kerze. Das Metall der
Gravierplatte erhitzte sich sofort. Auch das Gold des Rings selbst
wurde sehr schnell heiß, so heiß, daß der Freigraf die Hand am
liebsten rasch wieder zurückgezogen hätte. Aber er beherrschte sich.
Was er von seiner Tochter verlangte, mußte er auch selbst erdulden
können.
Dann erschien ihm die Platte heiß genug. Er beugte sich über den
Oberschenkel Marthas ...
Ihr furchtbarer Schrei drang nicht nach draußen. Baldur von
Torstein war umsichtig genug gewesen, seiner Tochter mit der freien
Hand den Mund zuzuhalten.
*
Hanns der Bär war so wütend wie selten in seinem Leben. Der Zorn,
der in ihm wühlte, hatte mehrere Gründe. Einmal konnte er sich
selbst nicht verzeihen, daß er und alle seine Leute vor einem einzigen
Mann das Hasenpanier ergriffen hatten, auch wenn er zugeben
mußte, niemals einem so unvergleichlichen Kämpfer begegnet zu
sein. Zum zweiten war er wütend auf seine Ziehtochter. Und ganz
besonders auf zwei seiner Männer!
Nach der Flucht aus dem Schankhaus hatte sich die ganze Bande
mehrere Meilen entfernt an einem vorher verabredeten Ort im Wald
wieder zusammengefunden. Alle bis auf einen. Der Stromer Karl
fehlte, weil er von seinen Freunden im Stich gelassen worden war,
vom Schinder und vom Roten Joseph.
»Ihr blutigen Narren«, beschimpfte er die beiden. »Wie konntet ihr
ihn nur zurücklassen?«
»Das fragst du?« empörte sich der Schinder. »Bist du nicht selbst
gelaufen wie eine Maus, die den Bussard über sich kreisen sieht?«
»Ich habe aber niemanden in die Hände des Gegners fallen lassen
wie ihr den Stromer Karl!«
»Na und? Der Stromer war ohnehin zu nichts zu gebrauchen. Er
war ein Feigling.«
»Um so schlimmer«, sagte Hanns der Bär. »Wenn sich der Ritter
ihn richtig zur Brust nimmt...«
»Pha«, machte der Schinder, »was will der Stromer schon
ausplaudern? Warum wir das Schankhaus heimgesucht haben? Das
weiß er ebensowenig wie wir alle. Oder hast du es ihm etwa gesagt?«
»Nein. Und das war wohl auch gut so!«
Der Bandenführer ging nicht näher auf dieses Thema ein. Er wollte
nicht, daß seine Leute weitere Fragen stellten, die er ihnen doch nicht
beantworten würde. Der Überfall auf das Schankhaus ging nur ihn
und Sitta etwas an.
Sitta!
Auch mit seiner Ziehtochter hatte er noch ein Hühnchen zu rupfen.
Er wandte sich dem schwarzhaarigen Mädchen zu.
»Nun«, sagte er so leise, daß es die anderen nicht hören konnten,
»wie fühlen sich deine Finger an - noch klebrig vor Blut?«
Die Schwarze Sitta zuckte die Achseln. »Solange es nicht mein
eigenes Blut ist, kümmert mich das wenig.«
»Du bist ein mörderisches Luder!«
»Das habe ich von dir gelernt, Ohm!«
»Es war nicht nötig, den Köhler und seine Frau zu töten«, sagte
Hanns der Bär. »Sie wollten gar nicht, daß ihr Findelkind den
Herzogsthron besteigt!«
»Das haben sie gesagt. Aber ob es stimmt...«
»Ich bin davon überzeugt. Zeit ihres Lebens haben sie Hilda als ihr
Kind angesehen. Das junge Frauenzimmer wußte nicht einmal, daß
Gislevert und seine Frau nicht ihre richtigen Eltern waren. Sie hatte
nicht die geringste Ahnung, daß sie vielleicht des Herzogs Tochter
ist.«
»Und jetzt, da die Alten tot sind, wird sie es auch gewiß nie
erfahren«, sagte die Schwarze Sitta befriedigt. »Dafür habe ich
gesorgt. Willst du mir deshalb einen Vorwurf machen, Ohm?«
Hanns der Bär wußte, daß es keinen Zweck hatte, mit Sitta zu
streiten. Seine Ziehtochter hatte ihren eigenen Kopf und verstand es
immer wieder, sich gegen ihn durchzusetzen. Und nicht nur gegen
ihn, sondern auch gegen andere. Im Grunde genommen war das
sogar gut. Sitta hatte durchaus das Zeug, sich am Hof des Herzogs
durchzusetzen und in die Rolle der Fürstentochter zu schlüpfen,
selbst wenn sie es gar nicht war. Und wenn sie erst einmal zu Amt
und Würden gekommen war, dann brauchte auch er sich keine
Sorgen zu machen. Das hoffte er jedenfalls. In jedem Fall mußte er
aufpassen, daß sie ihn nicht eines Tages fallen ließ wie einen heißen
Topf. Ein Verrat war ihr jederzeit zuzutrauen. Selbst ein Verrat an
ihm.
»Was tun wir jetzt, Ohm?« fragte sie. »Müssen wir uns noch länger
mit diesem Gesindel herumschlagen?« Unwillig ließ sie ihre Augen
von einem der Räuber zum anderen wandern. »Ich kann ihren
Anblick nicht länger ertragen. Sie sind grob und unflätig. Und sie
stinken!«
Hanns der Bär verzog den Mund. »Bisher hast du dich in ihrer
Gesellschaft recht wohl gefühlt, oder? Und hast du nicht noch
gestern den Schinder als einen vorzüglichen Liebhaber gelobt?«
»Das ist vorbei, Ohm! Von nun an werde ich mich nur noch
Männern vom Stande hingeben.«
Hanns der Bär lachte leise. »Du sitzt schon auf dem Thron, wie?«
»Wenn wir uns nicht bald zum Schloß des Herzogs begeben, werde
ich ihn nie besteigen können. Worauf warten wir noch? Dieser
Wechselbalg eines Köhlers kann mir nicht mehr gefährlich werden.
Folglich ...«
Ihr Ziehvater nickte langsam. »Wir reiten zum Schloß - noch
heute!«
»Und was ist mit dem Schinder und den anderen?«
Hanns der Bär lachte. »Was kümmert uns dieses Gesindel?«
Die Schwarze Sitta erwiderte sein Lachen. »So gefällst du mir,
Ohm. Wer weiß, vielleicht mache ich dich wirklich zu meinem
Hausmeier!«
*
Die Sonne strebte ihrem Zenit entgegen, als Roland und seine
Begleiter die Burg des Freigrafen von Lützen erreichten.
Der Burgherr war sofort bereit, den Ritter mit dem Löwenherzen
zu empfangen. Roland konnte nicht sagen, daß ihm Otmar von
Lützen sonderlich gefiel. Der Graf war ein irgendwie finster
wirkender Mann. Sein stechender Blick und die harten Linien um
Mund und Nase machten einen abweisenden Eindruck, auch wenn er
sich jetzt Mühe gab, freundlich und höflich zu sein.
Vielleicht war Roland aber auch nur voreingenommen. Von König
Artus wußte er, daß von Lützen einer der Teilnehmer der
Jagdgesellschaft gewesen war, bei der ein Pfeil Herzog Adalbert an
den Rand des Grabes gebracht hatte. Ob es sich bei diesem fatalen
Pfeilschuß um ein Mißgeschick oder den Versuch eines
Meuchelmordes gehandelt hatte, sollte Roland im Auftrag des Herrn
von Camelot herausfinden. Der Aufenthalt auf der Lützenburg kam
ihm deshalb sehr recht.
»Was führt Euch zu mir, Ritter Roland?« erkundigte er sich,
während er den Gast mit einem Willkommenstrunk bewirtete.
»Zwei Dinge sind es, die mich bewegten, Euch aufzusuchen«,
erwiderte Roland. »Zum einen habe ich einen gemeinen Räuber und
Mörder hergebracht, den ich Eurer Gerichtsbarkeit unterstelle.«
»Ich sah, wie Ihr den Kerl meinen Getreuen übergabt. Was hat er
verbrochen?«
»Er war an der Ermordung eines Schankwirts namens Gislevert
und seiner Frau Maria beteiligt.«
Der Freigraf blinzelte. »Sagtet Ihr Gislevert?«
»Ja, das sagte ich. Ihr kennt den Mann?«
»Ein Köhler namens Gislevert ist mir bekannt«, sagte der Graf.
»Dann handelt es sich offenbar um denselben Mann. Der
Schankwirt arbeitete früher als Köhler.«
»Wie der Zufall so spielt«, meinte Otmar von Lützen sinnend.
»Sagt, Ritter Roland, nannte dieser Gislevert nicht eine Ziehtochter
sein eigen?«
»Ziehtochter?« wiederholte der Ritter mit dem Löwenherzen. »Ich
weiß nur, daß die beiden eine Tochter mit Namen Hilda besaßen, und
er hielt das Mädchen für sein leibliches Kind.«
Der Graf beugte sich vor, sah Roland mit seinen stechenden Augen
eigentümlich an.
»Dieses Mädchen, diese Hilda«, sagte er. »Ist sie ebenfalls
ermordet worden?«
»Zum Glück nicht! In letzter Minute gelang es mir, sie den
Räubern zu entreißen und ihr Leben zu retten.«
»So, so.«
Täuschte sich Roland, oder nahm der Freigraf diese Nachricht mit
Mißfallen auf? Fast schien es so, als hätte er es lieber gesehen, wenn
auch des Schankwirts Tochter bei dem mörderischen Überfall
umgekommen wäre.
»Wo ist das Mädchen jetzt?« erkundigte sich Otmar von Lützen.
»Hier.«
»Hier auf meiner Burg?«
»Ja«, nickte Roland. »Die junge Frau hat ihre Eltern verloren und
steht nun ganz allein auf der Welt. Ich habe sie hergebracht, weil ich
dachte, daß Ihr als ihr Landesherr vielleicht etwas für sie tun
könntet.«
Otmar von Lützen lächelte. Aber es war kein heiteres, freundliches
Lächeln.
»Gewiß, Herr Ritter«, sagte er, »ich betrachte es als meine
vornehmste Pflicht, den Kindern meines Landes beizustehen, wenn
sie unverschuldet in Not geraten sind. Ich werde mich des jungen
Frauenzimmers sofort annehmen.«
Er stand auf und betätigte einen Bronzegong, der an der Wand des
Empfangsgemachs hing. Sofort erschien einer seiner Diener.
»Herr Freigraf haben gerufen?«
»Unser Gast, der edle Ritter Roland, ist in Begleitung eines
Mädchens gekommen. Auch dieses Mädchen ist unser Gast. Bringe
es unverzüglich zu mir.«
Der Diener machte eine Verbeugung, die fast bis auf den Boden
reichte, und entfernte sich wieder.
»Ihr spracht von zwei Gründen, die Euch zu mir führten«, sagte
Otmar von Lützen. »Darf ich auch den zweiten erfahren?«
Roland beschloß, stracks auf sein Ziel loszugehen. Wenn der
Freigraf etwas wußte... Vielleicht verriet er sich.
»Eigentlich bin ich ins Land gekommen, um einem Freund meines
Herrn die besten Wünsche zu übermitteln«, sagte er.
»Ach ja? Und wer ist Euer Herr?«
»Ich bin ein Paladin König Artus'! Und der Freund, den ich
aufsuchen sollte, ist Herzog Adalbert. Nun aber hörte ich, daß der
Herzog im Sterben liegt.«
»Wohl wahr«, erwiderte Otmar von Lützen seufzend. »Ein
verirrter Pfeil bei der Jagd ...«
»Man sagt, daß der Pfeil tatsächlich gar nicht irre geleitet, sondern
mit Bedacht auf den Herzog gerichtet wurde.«
»Sagt man das?«
»Man sagt sogar noch mehr! Es könnte Eure Hand gewesen sein,
die den mörderischen Pfeil auf die Reise schickte!«
Jedwede Freundlichkeit war jetzt aus dem Gesicht des Freigrafen
gewichen. Finster war seine Miene geworden, finster und drohend.
»Wollt Ihr damit die Behauptung aufstellen, daß ich versucht habe,
den Herzog umzubringen?«
Abwehrend hob Roland die Hände. »Gott bewahre! Ich gebe nur
weiter, was man erzählt. Ihr haltet das, was dem Herzog zugestoßen
ist, also für einen Unglücksfall?«
»Das habe ich nicht gesagt«, erwiderte der Freigraf nicht mehr
ganz so finster. »Auch ich schließe die Möglichkeit eines
Mordanschlages nicht aus.«
»Habt Ihr einen Verdacht?« fragte Roland begierig.
Otmar von Lützen wiegte den Kopf hin und her. »Man soll nicht
leichtfertig Beschuldigungen aussprechen, aber...«
»Aber?«
»Ich könnte mir vorstellen, daß Freigraf Baldur von Torstein seine
Hand im Spiel hat«, sagte von Lützen im Verschwörerton.
»Baldur von Torstein!«
»Ja.«
»Habt Ihr Anhaltspunkte für Euren Verdacht?«
Von Lützen schüttelte den Kopf. »Wenn ich Beweise hätte, wäre
es kein Verdacht, sondern Gewißheit.«
»Da habt Ihr wohl recht«, sagte Roland. »Aber wie dem auch sei,
ich werde alle Anstrengungen unternehmen, um die Wahrheit
herauszufinden. Das bin ich König Artus schuldig!«
Otmar von Lützen wollte noch etwas sagen, kam aber nicht mehr
dazu. Der Diener, den er vorhin weggeschickt hatte, kehrte zurück -
mit Hilda. Das Mädchen war blaß und man sah ihr an, daß sie in den
letzten Stunden viel geweint hatte. Auch der Kittel, den sie trug, gab
nicht viel her. Dennoch war sie so schön wie der junge Morgen.
Das schien auch der Freigraf zu finden. Er starrte sie mit großen
Augen an, war sichtlich beeindruckt von ihrer äußeren Erscheinung.
Aber da war noch ein Ausdruck in seiner Miene, ein Ausdruck, den
Roland nicht deuten konnte.
»Tritt näher, mein Kind«, sagte Otmar von Lützen und machte eine
einladende Handbewegung.
Hilda kam der Aufforderung nach.
»Du bist die Tochter des Köhlers Gislevert?«
Stumm nickte das Mädchen und blickte den Grafen unsicher an.
Sichtlich fühlte sie sich in der Gegenwart des hohen Herrn unwohl.
Roland nickte ihr aufmunternd zu.
»Die leibliche Tochter?«
»Ich ... ich verstehe nicht.«
»Nun«, sagte Otmar von Lützen lächelnd, »es gibt leibliche Kinder
und Kinder, die jemand an Kindes Statt annimmt.«
»Gewiß bin ich ein leibliches Kind meiner Eltern«, erwiderte das
Mädchen. »Mit Verlaub gefragt, Herr, wie kommt Ihr darauf ...«
»Schon gut, mein Kind«, unterbrach sie von Lützen. »Offenbar hat
man mich falsch unterrichtet. Ich wollte dir nur sagen, daß ich das
wiedergutmachen werde, was diese Verbrecher deinen Eltern
angetan haben. Fühle dich auf der Lützenburg ganz wie zu Hause.
Bist du gut untergebracht worden?«
»Man wollte mir im Gesindehaus ...«
»Nichts da«, sagte der Freigraf. »Mit dem Gesinde sollst du nichts
zu schaffen haben. Du bist mein Gast, und ich werde dafür sorgen,
daß du einen eigenen Raum hier im Herrenhaus bekommst. Es soll
dir an nichts fehlen!«
»Danke, Herr, vielen, vielen Dank!« Hilda konnte ihr Glück kaum
fassen.
Und auch Roland war einigermaßen erstaunt. Welche
Veranlassung hatte der Freigraf, die einfache Tochter eines
Schankwirts wie eine Dame von Stand zu behandeln? Das Mädchen
war gekommen, um eine einfache Stellung anzunehmen. Und nun
sah sie sich als Gast des Burgherrn.
Roland wurde das dunkle Gefühl nicht los, daß Otmar von Lützen
irgend etwas im Schilde führte. Noch hatte er keine Ahnung, was der
Freigraf vorhatte. Aber er hoffte zuversichtlich, es bald
herauszufinden.
*
Herzog Adalbert erwachte.
Schreckliche Alpträume lagen hinter ihm. Er spürte die Hitze
seines Körpers und wußte, daß vor allem das Fieber diese Alpträume
hervorgerufen hatte. Für den Augenblick jedoch war sein Kopf
halbwegs klar.
Er blickte hoch und sah den treuen Arzt Pankratius neben seinem
Lager stehen. Der Arzt hatte sofort erkannt, daß es seinem
Schutzbefohlenen auf einmal besser ging. Seine sorgenvolle Miene
hellte sich auf.
»Dem Himmel sei Dank, Herr Herzog«, sagte er erleichtert. »Ich
hatte schon befürchtet, daß Euch das Fieber nie wieder aus seinen
Klauen freigeben würde.«
Adalbert rang sich ein Lächeln ab. »Noch lebe ich, Pankratius.
Gevatter Tod hat Mühe, einen alten Kämpfer wie mich in seine
Gewalt zu bekommen.«
Schon diese wenigen Worte hatten ihn ungemein angestrengt. Er
fühlte, wie die Schwäche ihn wieder zu übermannen drohte.
Gewaltsam kämpfte er dagegen an. Er brauchte seine ganze Kraft,
um den Kopf ein bißchen anzuheben.
»Pankratius ...«
»Schont Euch, Herr Herzog«, sagte der Arzt mahnend. »Sprecht
nicht zu viel. Wenn Ihr Euch überanstrengt ...»Matt schüttelte
Adalbert den Kopf. »Wer weiß, wieviel Zeit mir noch bleibt. Diese
Zeit muß ich nutzen. Hole mir Leander!«
»Aber...«
»Kein >Aber<, Pankratius. Ich weiß, daß du es gut mit mir meinst.
Dennoch befehle ich dir jetzt, Leander zu holen.«
»Wie Ihr wünscht, Herr Herzog.«
Pankratius erhob sich von seinem Schemel und verließ das
Krankengemach. Dabei murmelte er irgend etwas Unverständliches
vor sich hin. Es dauerte nicht lange, dann kehrte er zurück. Der
grauköpfige Hausmeier folgte ihm auf dem Fuße.
Leander kniete neben dem Lager nieder, während sich der Arzt
etwas im Hintergrund hielt.
»Ihr habt nach mir geschickt, Herr?«
»Ja, Leander«, erwiderte der Herzog mit schwacher Stimme. »Sag
mir eins: Ist die Suche nach meiner Tochter schon von Erfolg
gekrönt worden?«
»Ich weiß nicht, Herr«, sagte der Hausmeier zögernd. »Mehrere
Weibsbilder waren bereits hier und behaupteten, Eure Tochter zu
sein. Ihre Dummheit war noch größer als ihre Dreistigkeit. Wir
konnten sie samt und sonders als Betrügerinnen entlarven.«
»Also noch nichts«, gab der Herzog tief enttäuscht zurück.
»Allerdings ist da noch jemand, der sich als Eure Tochter ausgibt«,
sagte der Hausmeier langsam. »Jemand, der als Eure Tochter
ausgegeben wird, genauer gesagt!«
Dem Herzog war die eigenartige Betonung seines Getreuen nicht
entgangen.
»Noch ... eine Betrügerin?« fragte er.
»Ich würde mir nicht anmaßen, den Freigrafen Baldur von Torstein
rundheraus als Betrüger zu bezeichnen.«
»Torstein?« wunderte sich der Herzog. »Was hat der Freigraf
damit zu tun? Hat er das Mädchen hergebracht?«
»Ja.«
»Das verblüfft mich«, sagte Adalbert. »Torstein hatte immer
Gelüste, eines Tages selbst Herzog zu werden, und nach meinem
Tode wäre er ein ernsthafter Anwärter. Daß er sich diese Möglichkeit
nun selbst verbauen soll...«
»Ich glaube nicht, daß er das tut«, erwiderte Leander. »Das
Mädchen, das er hergebracht hat, steht ganz unter seinem Einfluß.
Kein Wunder, lebt das junge Frauenzimmer doch schon sein ganzes
Leben unter seiner Fuchtel.«
»Du sprichst in Rätseln, Leander!«
»Verzeiht, Herr, aber ich wollte Euch schonend vorbereiten. Das
Mädchen, von dem ich spreche, ist Euch nämlich wohlbekannt. Es
hört auf den Namen Martha!«
»Martha?« echote der Herzog. »Heißt nicht Torsteins eigene
Tochter ebenfalls Martha?«
»Es handelt sich um ein und dasselbe Frauenzimmer!«
»Du meinst...«
Der Hausmeier nickte. »Der Freigraf behauptet, daß Martha nicht
seine eigene Tochter ist, sondern daß er sie damals an Kindes Statt
angenommen hat - aus der Hand Eurer Gemahlin Veronica!« Er
berichtete in allen Einzelheiten, was ihm Baldur von Torstein erzählt
hatte.
Adalbert konnte es nicht fassen. »Das ist doch...« Ihm fehlten die
Worte. Er spürte, wie ihm das Blut in den Kopf stieg, und die
Schwäche in seinem Körper immer größer wurde.
Der Arzt trat eilig herbei. »Ich sagte doch, daß Ihr Euch nicht
aufregen sollt, Herr Herzog! Jede Anstrengung verschlechtert Euer
Befinden und ...«
»Nein«, sagte Adalbert, »ich will den Betrug Torsteins sofort
entlarven! Holt ihn her. Und meine angebliche Tochter ebenfalls!«
Noch einmal versuchte Pankratius, seinen Herrn von diesem
Vorhaben abzubringen, konnte den Herzog jedoch nicht umstimmen.
Leander ging, um Baldur und Martha von Torstein herbeizuholen.
Der Freigraf und das Mädchen kamen.
Baldur von Torstein gab sich überschwänglich. »Herzog«, sagte er
schon an der Tür, »ich kann Euch gar nicht sagen, wie ich mich
freue, Euch wieder munter zu sehen.«
Er eilte ans Bett Adalberts und griff nach der kraftlosen Hand
seines Herrn. »Ich habe zu Gott gebetet, daß er Eure Genesung fügen
möge. Und wie es aussieht, war mein Flehen nicht umsonst!«
Adalbert war von seiner Überschwänglichkeit ganz und gar nicht
angetan. Zu deutlich spürte er, daß Torstein unaufrichtig war, daß er
ihm den Tod lieber morgen als übermorgen wünschte. Natürlich erst,
nachdem das herzogliche Geblüt Marthas bestätigt worden war,
verstand sich. Das aber würde gewiß nicht geschehen. Adalbert hatte
keinerlei Zweifel daran, daß diese Martha keineswegs über das
Muttermal verfügte, das allein sie als seine Tochter ausweisen
konnte.
»Leander berichtete mir, daß Ihr glaubt, Eure Tochter sei in
Wirklichkeit meine Tochter, Torstein«, sagte er.
»Ja, Herzog, so ist es«, bestätigte der Freigraf. »All die Jahre
mußte ich die Wahrheit verschweigen. Nun aber, da Ihr ...«
»Schon gut, mein lieber Torstein, schon gut. Ich könnte glücklich
von dieser Welt abtreten, wenn sich Eure Worte als wahr erweisen
würden. Martha soll nähertreten.«
Torstein lächelte. »Vielleicht sollten wir uns schon alle daran
gewöhnen, sie Berthild zu nennen. Dies ist schließlich ihr richtiger
Name!«
Er wandte sich an das Mädchen. »Komm her, Berthild, und
begrüße deinen Vater!«
Adalbert spürte, wie sein Blut in Wallung geriet. Die Dreistigkeit
des Freigrafen kannte keine Grenzen! Was glaubte der Kerl, wen er
vor sich hatte? Einen alten Mann, dem er Sonnenschein vorgaukeln
konnte, obwohl es in Wirklichkeit regnete? Gewiß, er war schwach
und dem Tode nahe. Aber seine Sinne waren noch nicht verwirrt.
Und seine Augen verrichteten ebenfalls noch ihre Dienste.
Das Mädchen trat ganz nahe ans Bett, ein dickliches junges
Frauenzimmer, das einfältig und verlegen dastand und den Herzog
nicht im mindesten an den Säugling erinnerte, den er damals -
wahrscheinlich im falschen Glauben - verstoßen hatte. Nein, diese
Martha war nie und nimmer seine Tochter Berthild!
»Guten Tag, ... mein Vater«, sagte das Mädchen und drehte dabei
fahrig die Hände hin und her.
Adalbert ersparte sich eine Antwort auf diese neuerliche
Dreistigkeit, die allerdings sicherlich nicht von dem Mädchen selbst,
sondern von Torstein ausging.
»Geht alle hinaus«, sagte er zu von Torstein, Leander und dem
Arzt. »Ich möchte mit dem Mädchen allein sein.«
Ohne Widerspruch zu erheben verließen die Männer das
herzogliche Schlafgemach. Nur das junge Frauenzimmer blieb. Das
Unbehagen stand ihr im Gesicht geschrieben. Deutlich war ihr
anzumerken, daß sie am liebsten auch hinausgegangen wäre.
»Zieh dein Kleid hoch«, sagte der Herzog. »So weit, daß ich deine
Oberschenkel sehen kann.«
Das Mädchen sagte nichts, wurde nur rot im Gesicht. Sie bückte
sich, packte den Saum ihres Kleides und zog es bis zur Hüfte hoch.
Ja, da war ein Muttermal - am rechten Schenkel. Berthild jedoch
hatte ihr Mal am linken Bein gehabt.
»Leander!«
Auf den Ruf seines Herrn betrat der Hausmeier unverzüglich das
Schlafgemach.
»Laß Baldur von Torstein ergreifen und ins tiefste Verlies
sperren«, befahl Adalbert.
Deutlich war Leander anzumerken, daß er selten eine Anweisung
seines Herrn so gerne entgegengenommen hatte wie diese.
*
Es war wieder Abend geworden.
Roland, noch immer Gast des Freigrafen Otmar von Lützen, hatte
sich tagsüber mit einer ganzen Reihe von Getreuen seines Gastgebers
unterhalten. Obgleich er sich die größte Mühe gegeben hatte, die
Männer unauffällig auszufragen, war nichts dabei herausgekommen.
Es gab keinen Hinweis darauf, daß der Freigraf den bewußten Pfeil
auf den Herzog abgeschossen hatte.
Ein paar andere Erkenntnisse hatte Roland jedoch gewonnen.
Zunächst einmal war offenkundig, daß Otmar von Lützen mit Macht
nach dem Thron des Herzogs strebte und sogar gute Aussichten
hatte, im Falle von Adalberts Ableben von den anderen Freigrafen
des Landes zum neuen Herzog ausgerufen zu werden. Ein Hemmnis
stand seinen hoffnungsvollen Plänen jedoch im Wege: ein Mädchen
namens Berthild, Tochter des Herzogs, von diesem jedoch vor
zwanzig Jahren im zarten Kindesalter verstoßen. Diese verstoßene
Tochter wollte Adalbert jetzt wiederhaben und zu seiner
Nachfolgerin machen. Das Dumme war nur, daß anscheinend
niemand wußte, wo sich diese Tochter jetzt aufhielt und ob sie
überhaupt noch lebte.
Oder doch?
Berthild, Berthild ...
Irgendwo hatte Roland diesen Namen in jüngster Zeit gehört. Aber
er konnte sich gegenwärtig beim besten Willen nicht erinnern, bei
welcher Gelegenheit das gewesen war.
Und dann hatte er es plötzlich doch. Hanns, der Anführer der
Räuberbande, hatte die Schankwirtstochter Hilda so angesprochen!
Warum? Etwa weil sie die Tochter des Herzogs war? Nein, das war
lächerlich!
So sehr war Roland aber doch nicht von der Lächerlichkeit dieses
Gedankens überzeugt. Ihm fiel ein, daß Otmar von Lützen dem
Mädchen eigenartige Fragen gestellt hatte. Er hatte von leiblichen
und angenommenen Kindern gesprochen und sie dabei ganz seltsam
angesehen. Wenn nun Hilda tatsächlich nicht das leibliche Kind des
Schankwirts, sondern ein Findelkind war? Dann lag es vielleicht
doch im Bereich des Möglichen ...
Roland beschloß, nicht lange nachzugrübeln, sondern sich mit
Hilda ins Benehmen zu setzen.
Wie vom Freigrafen zugesagt, hatte sie im herrschaftlichen Teil
der Lützenburg einen eigenen Raum bekommen. Diesen Raum
suchte Roland jetzt auf.
Er klopfte kurz an, wollte dann die Tür gleich öffnen. Aber das
ging nicht, da sie augenscheinlich abgeschlossen war.
»Hilda«, rief er halblaut.
»Ja?« Die Antwort des Mädchens klang recht kläglich. »Seid Ihr
das, Ritter Roland?«
»Ich bin es. Laß mich ein, ich muß mit dir reden.«
»Das kann ich nicht«, sagte das Mädchen. »Man hat mich
eingeschlossen. Und auf mein Rufen hat bisher niemand gehört.«
Der Ritter mit dem Löwenherzen zog die Stirn kraus.
Eingeschlossen? Behandelte man so einen Gast? Sein Verdacht, daß
der Freigraf Böses plante, verdichtete sich.
»Holt mich hier raus, Ritter Roland«, ließ sich Hilda wieder
vernehmen. »Ich ... habe Angst.«
»Fürchte dich nicht, mein Kind«, sagte Roland beruhigend.
»Niemand wird dir etwas zuleide tun.«
Er überlegte, was er nun tun sollte? Die Tür aufbrechen, das
Mädchen herausholen und dann schnellstens die Burg verlassen? Der
Gedanke hatte fraglos einiges für sich. Bevor er jedoch daran gehen
konnte, ihn zu verwirklichen, hörte er Schritte auf dem Gang.
Schwere Schritte von mindestens drei Männern.
Sein Gefühl sagte ihm, daß es besser war, wenn er von diesen
Männern nicht gesehen wurde.
»Warte auf mich, Hilda«, raunte er durch die Tür. »Ich komme
wieder.«
Dann huschte er auf leisen Sohlen davon, bog um die nächste Ecke
des Gangs. Dort blieb er abwartend stehen.
Die Schrittgeräusche kamen näher, hörten dann auf. Ein Schlüssel
wurde ins Schloß gesteckt und knirschend herumgedreht. Im
nächsten Augenblick schon hörte er den erschreckten Aufschrei einer
Frau.
Hilda!
Wenn er sich nicht gewaltig irrte, hatten die Männer die Kammer
seiner Schutzbefohlenen aufgeschlossen und ...
Es hielt ihn nicht länger auf seinem Lauscherposten. Entschlossen
bog er wieder um die Ecke.
Ja, er hatte sich nicht getäuscht. Das Ziel der Männer war Hildas
Raum gewesen. Einer der gräflichen Getreuen stand noch draußen
auf dem Gang, während die anderen den Raum des Mädchens
betreten hatten. Und aus diesem Raum kamen Laute, die Roland in
höchste Alarmstimmung versetzten.
Der Mann, der draußen wartete, sah ihn jetzt. Bevor er jedoch
irgend etwas unternehmen konnte, war Roland bereits an Ort und
Stelle.
Er hätte sich diese Frage sparen können. Ein Blick in den Raum
sagte alles. Zwei Getreue des Freigrafen hatten Hilda gepackt und
waren gerade im Begriff, sie gewaltsam nach draußen zu zerren.
Schreien konnte das Mädchen nicht mehr, weil man ihr den Mund
zugebunden hatte. Nur ein paar halberstickte Töne kamen unter dem
Tuch hervor.
Roland legte die rechte Hand auf den Knauf seines Schwerts und
spannte alle Muskeln.
»Laßt sie sofort los«, sagte er ganz ruhig.
Die gräflichen Getreuen dachten gar nicht daran. Der Mann im
Gang langte nach seinem Schwert und riß es aus der Scheide. Die
anderen beiden taten es ihm nach. Sie gaben Hilda einen rohen Stoß,
der das Mädchen zu Boden stürzen ließ. Im nächsten Augenblick
hatten sie ihre Klingen gleichfalls in der Hand.
Keiner der Männer sagte ein Wort, aber in ihren Gesichtern
spiegelte sich kalte Entschlossenheit wider.
Roland wußte, daß es ums Ganze ging. Er hatte gesehen, daß die
Getreuen des Grafen dem Mädchen Böses antun wollten. Und mit
diesem Wissen würden sie ihn nicht davonkommen lassen.
Blitzschnell zückte auch er sein Schwert. Die gräflichen Getreuen
konnten kommen.
Und das taten sie dann auch. Wie ein Mann drangen sie auf den
Ritter mit dem Löwenherzen ein.
Schon war der erste heran. Er führte einen wuchtigen Hieb, der
Roland glatt in zwei Stücke gehauen hätte.
Wenn er durchgekommen wäre ...
Das aber war nicht der Fall. Roland blockte den Schlag mit seiner
Klinge ab. Funken stoben, als sich das Metall aneinander wetzte. Im
gleichen Augenblick machte Roland aus der
Verteidigungsmaßnahme eine Angriffsattacke. Während der Gegner
seine Waffe zurückzog, um - zu einem neuen Schlag auszuholen,
führte er mit derselben Bewegung einen Stoß zur Brust des Gegners.
Der Stoß traf voll. Hätte der Gegner kein Kettenhemd getragen,
wäre er durchbohrt worden. So drang die Schwertspitze nur
daumenbreit in seine Brust ein. Aber das genügte, um ihn außer
Gefecht zu setzen. Aufstöhnend ließ er seine Waffe fallen - und
preßte mit schmerzverzerrtem Gesicht beide Hände gegen die
blutende Wunde.
Die anderen beiden Gegner waren unterdessen nicht untätig
geblieben. Nur mit einem schnellen Sprung rückwärts konnte sich
der Ritter mit dem Löwenherzen ihrer wütenden Doppelattacke
entziehen. Dabei wandte er eine List an, tat so, als sei er ins
Straucheln geraten und würde den Boden unter den Füßen verlieren.
Das machte die Gegner unvorsichtig. Der eine lachte
triumphierend auf und holte weit aus, um dem vermeintlich
handlungsunfähigen Widersacher den Garaus zu machen. Aber
Roland war keineswegs handlungsunfähig. Er fand seinen festen
Stand sofort wieder und führte einen mächtigen Hieb gegen den
überraschten Gegner. Dieser kam nicht mehr dazu, eine Abwehr zu
versuchen. Mit einem gurgelnden Aufschrei brach er zusammen.
Rechtzeitig war Roland wieder bereit, den Angriff des dritten
Gräflichen zu parieren. Dieser Mann, durch das Schicksal seiner
Kampfesgenossen gewarnt, war vorsichtiger als die beiden anderen.
Beherrscht führte er seine Angriffsschläge und gab sich die größte
Mühe, bei der Verteidigung keine Blöße zu zeigen.
Aber einem Schwertkämpfer wie Roland war er nicht gewachsen.
Der Ritter mit dem Löwenherzen deckte ihn mit einer ganzen Serie
von Hieben ein, die so schnell aufeinander folgten, daß der Getreue
von Lützens sehr bald die Übersicht verlor. Er konnte nicht
vermeiden, seitlich am Unterarm getroffen zu werden. Damit hatte er
keine Abwehrmöglichkeiten mehr. Es wäre Roland jetzt ein Leichtes
gewesen, ihn zu entleiben. Aber der Ritter mit dem Löwenherzen
gierte nicht nach anderer Männer Blut. Er begnügte sich damit, dem
Gräflichen mit der flachen Seite des Schwerts einen Hieb zu
versetzen, der den Mann augenblicklich ins Land der Träume
versetzte.
Der ganze Kampf hatte nur Sekunden gedauert. Aber er war alles
andere als geräuschlos abgegangen. Es war zu fürchten, daß längst
andere Burgbewohner aufmerksam geworden waren. Jeden
Augenblick konnten neue Gegner auf der Bildfläche erscheinen.
Roland kümmerte sich nicht weiter um den Mann, den er an der
Brust verletzt hatte. Seine ganze Sorge galt jetzt der schönen Hilda.
Das Mädchen hatte sich inzwischen von dem Mundtuch befreit und
den Kampf von der Tür aus mit großen Augen verfolgt.
»Komm«, sagte Roland drängend, »wir müssen hier weg!«
Und als die junge Frau nicht sofort begriff, nahm er mit der Linken
ihre Hand und zog sie mit sich den Gang hinunter.
Seine Großzügigkeit, dem verletzten Mann das Leben zu lassen,
rächte sich jetzt. In seinem Rücken begann der Gräfliche ein
Geschrei, das nur deshalb nicht die ganze Burg alarmieren konnte,
weil seine Brustwunde die Lautstärke begrenzte. Aber sein Rufen
hatte dennoch den gewünschten Erfolg.
Als Roland mit Hilda den Treppenabgang erreichte, der hinunter
zur großen Halle führte, sah er den Weg versperrt. Sieben, acht
Männer standen da. Und an ihrer Spitze stand Freigraf Otmar von
Lützen.
»Wie edel«, sagte der Burgherr spöttisch, »der Ritter rettet die
bedrohte Jungfrau und setzt sein eigenes Leben dabei aufs Spiel.
Aber tut er das wirklich? Seid vernünftig, Ritter Roland. Gegen
meinen Willen werdet Ihr die Lützenburg niemals verlassen können.
Darum übergebt mir das Mädchen, und ich vergesse, daß Ihr meine
Gastfreundschaft mißbraucht habt, und lasse Euch mit Euren
Knappen ziehen!«
Entsetzt stöhnte Hilda an Rolands Seite auf. Das Mädchen hatte
jetzt wohl endgültig erfaßt, daß es um sie ging, wenn sie auch nicht
verstand, aus welchem Grunde.
Roland überlegte fieberhaft. In einem hatte der Freigraf zweifellos
recht: diese Anzahl von Gegnern konnte er unmöglich bezwingen.
Und auch der Hinweis auf seine beiden Knappen traf genau ins
Schwarze. Wenn es sein mußte, würde von Lützen Louis und Pierre
rücksichtslos als Geiseln gegen ihn einsetzen.
»Nun, wie habt Ihr Euch entschieden?« wollte von Lützen wissen.
»Mir scheint, mir bleibt nichts anderes übrig, als mich der
Übermacht zu beugen«, sagte Roland scheinbar zerknirscht.
»Sehr klug von Euch«, erwiderte der Freigraf spöttisch.
»Und ich habe Euer Wort, daß meine Knappen und ich unbehelligt
unserer Wege gehen können?«
»Das habt Ihr!«
Roland traute ihm nicht von einem Mundwinkel bis zum anderen.
Aber diese Gedanken behielt er lieber für sich.
»Bleib hier stehen«, raunte er dem Mädchen an seiner Seite zu.
»Ich bin gleich wieder bei dir.«
Und laut sagte er zu den Männern, die am Fuße der Treppe auf ihn
warteten: »So sei es denn - ich ergebe mich!«
»Kommt herunter«, befahl Otmar von Lützen.
Roland nickte und setzte sich langsam in Bewegung. Fuß vor Fuß
setzend, schritt er die Treppenstufen hinunter.
»Werft Euer Schwert weg«, sagte der Freigraf streng, als Roland
etwa die halbe Treppe bewältigt hatte.
Roland blieb stehen. »Mein Schwert? Natürlich!«
Aber der Ritter mit dem Löwenherzen dachte gar nicht daran, sich
von seiner Klinge zu trennen. Wuchtig stieß er sich von der Stufe,
auf der er gerade stand, ab. Wie ein Pfeil flog er durch die Luft -
geradewegs auf Otmar von Lützen zu.
Der Freigraf war von dieser Tat des Ritters genauso überrascht wie
seine Getreuen. Bevor er richtig erfaßt hatte, was geschah, war es
bereits zu spät.
Roland prallte gegen ihn und riß ihn mit sich zu Boden. Hart
schlugen beide Männer auf den Steinplatten der Halle auf. Roland
war im Gegensatz zu von Lützen darauf vorbereitet. Deshalb hatte er
sich viel rascher wieder in der Gewalt als der Freigraf. Bevor einer
der umstehenden Männer etwas unternehmen konnte, hatte er Otmar
von Lützen die Klinge seines Schwerts an die Kehle gesetzt.
»Haltet Eure Getreuen zurück«, zischte er. »Sonst seid Ihr ein toter
Mann!«
Jetzt war sich der Freigraf bewußt, wie es um ihn stand. Aber er
wollte es noch nicht wahr haben.
»Ihr wagt es nicht...«
»Und ob ich es wage!« fiel ihm Roland ins Wort. »Sagt selbst, was
habe ich zu verlieren?«
Otmar von Lützen begriff, daß er es lernst meinte. »Bleibt, wo ihr
seid«, wies er seine Männer keuchend an. »Tut nichts, bevor ich es
sage.«
»Wie Ihr befehlt, Herr Freigraf«, sagte einer seiner Getreuen.
Mit finsteren Blicken sahen die Männer den Ritter mit dem
Löwenherzen an. Keiner jedoch hob eine Hand gegen ihn.
Ohne die Übersicht zu verlieren, stellte sich Roland wieder auf die
Füße und zog auch von Lützen mit hoch. Dabei verlor seine Klinge
nicht für einen Herzschlag den Kontakt mit der Kehle des
Burgherren.
»Hilda«, rief er zur Treppe hoch. »Komm zu mir!« Und an den
Freigrafen gewandt, fuhr er fort: »Oder sollte ich sie eher Berthild
rufen?«
»Berthild?« wiederholte von Lützen gedehnt. »Ich habe keine
Ahnung, wovon Ihr sprecht, Ritter!«
»Lügt nicht«, sagte Roland scharf. »Ihr haltet das Mädchen für die
Tochter des Herzogs und wolltet sie beseitigen, damit sie Euch nicht
den Weg zum Herzogsthron versperrt, nicht wahr?«
Verstockt schwieg der Freigraf.
»Redet!« verlangte der Ritter mit dem Löwenherzen.
Aber erst als er seine Aufforderung untermauerte, indem er die
Klinge etwas kräftiger gegen den Hals des Freigrafen preßte,
bequemte sich dieser zu einer Antwort.
»Ja«, sagte er. Und er sagte es so leise, daß es nicht einmal die
Männer verstehen konnten, die fünf Ellen von ihm entfernt standen.
Roland aber genügte dieses kleinlaute Geständnis. Die Vermutungen,
die er schon die ganze Zeit über gehabt hatte, bestätigten sich.
Inzwischen war die junge Frau an seiner Seite. Sie wußte noch
immer nicht so recht, was eigentlich geschah, blickte ihn nur verwirrt
und angstvoll an.
Anders Otmar von Lützen. Sein Blick war voller Zorn, ja voller
Haß. Wenn der Freigraf jetzt gekonnt hätte, wie er wollte ...
Zum Glück konnte er das nicht. Der Mann, der bestimmte, was
geschah, war Roland.
»Und nun holt meine Knappen«, befahl er.
Diesmal brauchte er seinen Befehl nicht einmal zu wiederholen.
Die Furcht saß dem Freigrafen an der Kehle - im wahrsten Sinne des
Wortes sozusagen.
Es dauerte nicht lange, dann waren Louis und Pierre ebenfalls zur
Stelle. Die beiden stellten keine langen Fragen. Der Ernst der
Situation war ihnen sofort klar, und für Erklärungen war auch später
noch Zeit.
»Und jetzt noch unsere Pferde«, sagte Roland. »Und ein geöffnetes
Tor natürlich!«
Jetzt regte sich doch ein gewisser Widerstand unter den Getreuen
des Freigrafen. Die Männer erkannten, daß sie so gut wie frei waren,
wenn sie einmal das Burggelände verlassen hatten. Die Männer
flüsterten miteinander und warfen sich vieldeutige Blicke zu. Fraglos
überlegten sie, ob sie nicht noch einen Versuch unternehmen sollten,
ihren Herrn aus Rolands Händen zu befreien.
Roland blieb ganz ruhig, lächelte sogar. »Es wäre sein Tod, und ihr
hättet ihn verschuldet. Darum solltet ihr euch reiflich überlegen, was
ihr tut!«
»Nichts werdet ihr tun«, sagte der Freigraf mit krächzender
Stimme.
Das gab den Ausschlag.
Unbehindert konnten Roland, die beiden Knappen und das
Mädchen die Lützenburg verlassen. Otmar von Lützen nahmen sie
mit.
Zu ihrer Sicherheit. Und um ihn zur Rechenschaft ziehen zu lassen.
*
Herzog Adalbert begann langsam, sich wie neugeboren zu fühlen.
Wie es aussah, würde es ihm wider Erwarten doch noch gelingen,
Gevatter Tod von der Schippe zu springen. Das Fieber war merklich
zurückgegangen, und er spürte die Schwäche in seinen Gliedern
lange nicht mehr so stark wie noch am gestrigen Tage. Pankratius
war guten Mutes, daß er sehr bald endgültig über dem Berg sein
würde.
So fühlte sich der Herzog auch stark genug, wieder einmal eine
junge Frau zu examinieren, die sich für seine Tochter ausgab.
Leander führte das Mädchen und ihren Begleiter herein.
Die junge Frau war hübsch, sehr hübsch sogar. Sie hatte ein
Gesicht, das an eine wilde Raubkatze denken ließ, und ihr prächtig
gewachsener Körper erinnerte den Herzog an jene Tage, in denen er
selbst jung gewesen war.
Der Mann an ihrer Seite war ein gewöhnlicher Bursche.
Grobschlächtige Züge, kräftige Gestalt, aber wohl schon aus seinen
besten Jahren heraus. Er gefiel Adalbert ganz und gar nicht. Aber das
spielte natürlich keine Rolle. Es ging nur darum, herauszufinden, ob
dieses Mädchen seine Tochter war oder nicht.
Er winkte die beiden heran, und sie traten an sein Lager, das
Mädchen zuerst, hinter ihr der Mann.
»Wer seid ihr?« fragte der Herzog.
»Man nennt mich Sitta«, sagte das Mädchen. »Und das ...«, sie
zeigte auf den Grobschlächtigen, »... ist mein Ohm Hanns. Er ist der
Mann, der mich vor zwanzig Jahren im Wald fand und zu sich in
seine... Köhlerhütte nahm.«
Im Wald gefunden!
Adalbert spürte einen Stich in der Herzgegend. Er war gewiß nicht
davon überzeugt, daß dieses schwarzhaarige Mädchen Berthild war.
Aber wenn es der Wahrheit entsprach ... Wieder machte er sich
Vorwürfe für das, was er seiner Gemahlin Veronica damals angetan
hatte. Ihr und dem Kind.
»So, so«, sagte er, »du behauptest also, daß du in Wirklichkeit
meine Tochter bist.«
Die Schwarzhaarige schüttelte den Kopf. »Wie kann ich dies
behaupten, Herr? Ich war damals nicht alt genug, um meine Eltern zu
kennen. In jedem Fall aber bin ich ein Findelkind. Ob das Eure,
Herr...« Sie zuckte die Achseln.
Nicht ungeschickt, wenn sie eine Schwindlerin war, dachte der
Herzog. Sie behauptete nichts, konnte also auch nicht als vorsätzliche
Lügnerin entlarvt und dafür bestraft werden.
Der Herzog musterte sie scharf, versuchte eine Familienähnlichkeit
festzustellen. Auch Veronica hatte langes, schwarzes Haar gehabt
und diesen stolzen Ausdruck im Gesicht getragen. Sollte er
tatsächlich Berthild vor sich haben?
»Geht hinaus«, sagte er zu den anwesenden Männern. »Nur Sitta
bleibt hier.«
Als er mit dem Mädchen allein war, forderte er sie auf, ihre Beine
zu zeigen. Verwundert sah sie ihn an.
»Aber Herr Herzog ...«
Adalbert lächelte. »Du hast eine blühende Phantasie, mein Kind.
Ich wollte eigentlich nur feststellen, ob du an deinem linken
Oberschenkel ein Muttermal hast. Denn hast du dieses nicht, kannst
du nicht meine Tochter sein.«
Jäh blitzte es in den nachtdunklen Augen des Mädchens auf. »Ja,
Herr, ich habe ein solches Muttermal!«
Dann zeigte sie ihren linken Oberschenkel.
Herzog Adalbert hielt die Luft an. Ja, da war das Mal, genau wie er
es in Erinnerung hatte. Dieses Mädchen war... Veronicas Tochter, da
gab es gar keinen Zweifel.
»Berthild«, flüsterte er.
Das Mädchen stand da wie eine Statue, völlig bewegungslos und
wie im Traum versunken.
»Dann ... stimmt es also«, sagte sie langsam. »Ich bin wirklich
Eure Tochter!«
»Ja, Berthild, das bist du.« Herzog Adalbert war ganz eigenartig
zumute. Da stand sie nun vor ihm, die junge Frau, die er krampfhaft
gesucht hatte, weil er Versäumtes an ihr gutmachen wollte, weil er
zutiefst bereute, was er damals in seinem Zorn getan hatte. Nun aber?
Er fühlte nichts für dieses Mädchen. Es war ihm fremd, unsagbar
fremd. Sie sah Veronica ähnlich, gewiß, ihm jedoch nicht. Sollte sein
damaliger Verdacht, daß ihn seine Frau mit einem fahrenden Ritter
betrogen und ihm die Frucht dieses Betrugs untergeschoben hatte,
doch begründet gewesen sein?
Seine Überlegungen wurden unterbrochen. Draußen auf dem Flur
erhob sich plötzlich Getöse. Laute Stimmen und unverwechselbare
Kampfgeräusche drangen an Adalberts Ohr.
Und nicht nur das. Urplötzlich sprang die Tür des Schlafgemachs
auf, als habe ein Pferd dagegen getreten. Hanns, der Begleiter
Berthilds schoß regelrecht in den Raum hinein, mit dem Rücken
zuerst. Er hielt ein langes, gefährlich aussehendes Messer in der
Hand, mit dem er ohne Zweifel auf irgend jemanden losgegangen
war.
Und auch dieser jemand erschien jetzt im Blickfeld des Herzogs:
ein junger Ritter, groß und stark und kühn. Sein Schwert steckte in
der Scheide. Wie es aussah, kämpfte er mit den bloßen Fäusten
gegen den grobschlächtigen Köhler.
Berthild schlug erschrocken die Hand vor den Mund, als sie den
Ritter sah. Ihr hübsches Katzengesicht verzog sich zu einer beinahe
häßlichen Grimasse.
Hanns hatte seine Gleichgewichtsstörungen jetzt überwunden. Mit
dem Messer in der Hand stürzte er sich auf den Ritter, führte einen
mächtigen Stoß gegen dessen Körper.
Aber der Ritter war wachsam. Er entging dem Messer mit einer
pfeilschnellen Drehung, schlug dann seinerseits mit der Faust zu. Er
traf Hanns seitlich am Kopf.
Der Schlag war so mächtig gewesen, daß Hanns ins Torkeln geriet
und ganz glasige Augen bekam. Da schlug der Ritter erneut zu.
Hanns konnte diesen zweiten Hieb nicht mehr wegstecken. Wie vom
Blitz getroffen, stürzte er zu Boden. Das Messer entfiel seiner Hand.
Jetzt kamen auch Leander und Pankratius in den Raum. Und mit
ihnen ein junges, schönes Mädchen mit haselnußbraunen Augen. Die
beiden Männer wirkten irgendwie hilflos, wie von den Ereignissen
überwältigt.
Herzog Adalbert hatte seine Verwunderung ebenfalls noch nicht
überwunden. Er wollte etwas sagen, kam aber gar nicht dazu. Der
Ritter trat mit langsamen Schritten auf Berthild zu.
»Teuflische Mörderin«, sagte er grollend, »habe ich dich endlich!«
Berthild tat etwas Überraschendes. Mit haßverzerrtem Gesicht
bückte sie sich hastig nach dem Messer, das ihrem grobschlächtigen
Begleiter entfallen war. Und dann ging sie mit dem Messer auf den
Ritter los.
Der Ritter fing ihren Stoß ab, wollte dann ihren Arm festhalten.
Aber das schwarzhaarige Mädchen kämpfte wie eine Katze. Sie riß
sich mit einer heftigen Bewegung los und stieß sich dabei wider
Willen das Messer in die eigene Brust. Entseelt sank sie zu Boden.
Herzog Adalbert hatte eine Tochter gewonnen und gleich
anschließend wieder verloren.
*
Es überraschte Herzog Adalbert selbst ein wenig, wie schnell er den
Schmerz über den Tod Berthilds überwand. Ein Schmerz im
eigentlichen Sinne war es eigentlich auch gar nicht, denn er hatte
keine Liebe für die Tochter seiner Frau empfunden. Wie damals vor
zwanzig Jahren war er wieder davon überzeugt, daß Veronica ihn
doch betrogen hatte und Berthild mitnichten von seinem Fleisch und
Blute war. Wie konnte sie das auch sein - eine Räuberin und
Mörderin? Im Grunde genommen war er dem Ritter Roland, dem
Abgesandten seines alten Freundes Artus, sogar dankbar dafür, daß
alles so gekommen war. Die Vorstellung, daß eine Frau mit
blutbefleckten Händen auf den Herzogsthron gekommen wäre,
entsetzte ihn zutiefst.
Da war das Mädchen Hilda, das der Ritter Roland
irrtümlicherweise für Berthild gehalten hatte, schon eher nach seinem
Geschmack. Wenn sie seine Tochter gewesen wäre ...
Adalbert lächelte. Wer wollte ihn eigentlich daran hindern, Hilda
als sein Kind anzusehen? Schließlich war er der Herzog. Und was ein
Herzog sagte, das geschah auch ...
ENDE
Das rothaarige
Luder
wollte alle Männer töten. - Zur Säule erstarrt, stand Ritter Roland
ihr gegenüber. Er glaubte, seinen Augen nicht zu trauen. So
ein wütendes Riesenweib hatte er in seinem Leben noch nicht
gesehen. - Breitbeinig hatte sie sich vor Ritter Roland
aufgebaut. Als sie das Schwert wie ein Turnierkämpfer
schwang, wanderten Rolands Augen von den mächtigen
Ausbuchtungen des Brustpanzers zu den
gigantischen
Oberarmen. Das Spiel der durchtrainierten Muskeln
faszinierte ihn...
Liebe Leser, wenn die derben Ausdrücke jener Zeit Sie nicht
stören und Sie einen mit viel Spannung gewürzten Abenteuer-
Roman lesen wollen, dann holen Sie sich den Ritter-Roland-
Band 13! Ein Knüller, der Sie für nur 1,60 DM prickelnd
unterhalten wird.