Nachwort
Nachwort
denschafl und die Wahrheit zur Figur verwandeln konnte, ein Meister der sdiarfen und treffsidieren Sprache. Geist und Leben, also Atem und Ort des menschlichen Daseins, und die Verwandlung des Indi-viduums zum eigentlichen Menschen sind Prinzip, Problem und Aufgabe seines dichterischen Wollens gewesen, das er nicht nur gesellschaflskritisch und belehrend, ver-letzend und verwandelnd, sondern audi begliickend, ja selbst unterhaltend — denn er war kein Snob unter den Unsterblichen - verwirklichte. Seinem Publikum ruft er zu: „Ganze Freiheit ist jenem gelassen, der unten zu-sieht - zuhort. Freiheit wozu? Zu seiner eigenen, schaf-fend verwandelnden Krafl, die das Werk oben nicht verstellt, sondern flieBend macht aus allen Miindungen, die hundert Zufalle versperren.“
Das Drama Von morgens bis mitternachts ist ein „Stiick in zwei Teilen", ein Stationendrama zwischen „der kleinen Stadt W. und der grofien Stadt B.“, will heifien: zwischen Weimar und Berlin, eine balladeske Revue, die vom Stil des mittelalterlichen Osterspiels und des spateren Bankelgesangs genausoviel profitiert, wie sie das episdie Theater Brechts vorbereitet. Die einzelnen Figuren des Spiels fungieren ais Typen, dereń Psychologie abstrahiert ist. Natiirlich geht es auch hier wie in allen iibrigen Dramen Georg Kaisers um die Moglichkeit der „Erneuerung des Menschen", um den Sprung in den Sinn des Lebens, diesmal versucht ais Testreihe des Geldes. In dem Interview Wie ein Tbeater-stiick entsteht teilt Georg Kaiser mit, die Idee zu diesem Drama sei ihm auf einer Italienreise gekommen. Bereits in Rom habe er mit der Niedersdirift begonnen. Der Ansatz ist die Frage nadi der existentiellen Kaufkraft des Geldes. Kann man mit Geld die Essenz des Lebens einhandeln? Das Zeitalter des Kapitalismus wird in eine Kugel zusammengesdimolzen und in die Kegelbahn eines einzigen Tages geworfen. Fur die geplante Testreihe wird das Geld aus seiner alltaglichen Bahn genommen. Um es ciner aufiergewdhnlidien Bewahrungsprobe zu unterziehen, wird es von den fiebrigen Handen des bie-deren Kassierers einer Kleinstadtbank untersdilagen.
Der priifende Bitek, falit also nicht von oben her, von den Thronsesseln des Kapitals, auf die Rollbahn des Goldes, sondern dringt von unten, aus dem Handlangerwinkei eines Finanzangestellten, zu den Biindeln der Geld-scheine. Das Geld wird beim Wort genommen. Seine metaphysische Anmafiung soli entlarvt werden. Ist es ein Gott oder ein Teufel? Fiat es absoluten oder nur relativen Wert? Kann es halten, was man sich von ihm verspridit, namlidi die Eroberung der Welt, das volle Leben, die Erfiillung der Existenz, die Antwort auf den totalen Lebensansprudi?
Auf dem Hintergrund dieses Fragenkomplexes wird ein Kassierer pldtzlidi vom biirokratisdien Kondukteur des Geldtransfers zum bravourosen Tester der Geldsub-stanz. Er wird kein Apologet oder Reformator der Fi-nanzideologie, kein Soziologe oder Wirtsdiaflswissen-schafller im Bankwesen. Er fiihrt vielmehr mit seiner aufgestorten Seele das Geld in Versuchung. Und das Geld lafit sich von ihm versuchen. Das Ergebnis ist eine heillose Nutation sowohl der Lebensadise des Menschen wie der Achse des Finanzkosmos. Es kommt zu einem Pyrrhussieg beider Kontrahenten. Der Kassierer stirbt fiir die Entlarvung des Geldes und das Geld kann seine brutale Nacktheit nach der erfolgten Demaskierung nicht mehr verdecken. Beides bildet die Conclusio der feindlichen Pramissen des Spiels. Der Kassierer erweist sich ais Bruder des Fischers aus der Balladę Goethes, ais einer, der tagtaglich von Berufs wegen an der Grenze des flutenden Elements arbeitet, ais einer, der der ele-mentaren Verfiihrung mit jedem Handgriff, den er tut, ausgeliefert sein kann. Und es kommt ja tatsachlich der Tag, an dem das UnterbewuSte explodiert, weil der
Funke der Wirklichkeit in das Pulverfafi der Wahrheit gesprungen ist. Der Kassierer, bislang unbeteiligter Die-ner des Geldes, sdiwingt sidi in den Sattel der Herrsthaft uber das Geld. Er wagt den bprung in den Goldflufi, den er aber tragisch durchsdiwimmt.
Nicht funftausend romantische Taler wie in der Oper Lortzings steckt der defraudierende Kassierer in seine
Tasche, sondern „fiinfzig Mille Papier - zehn Mille