Norbert Einstein Der Geburtstag


Norbert Einstein

Der Geburtstag

Die Dinge erhalten nicht alle ihren Sinn dadurch, dass man einen Querschnitt legt durch ihre Substanz. Manchmal enthüllen sie ihr Wesen gleichsam von aussen nach innen. Deshalb ist es nicht ver­wunderlich, dass oft die merkwürdigsten Kategorien für den Sinn der Dinge bestimmend sind.

Es ist sonderbar, dass im Leben des Menschen ein Tag besonders hervorgehoben wird. Denn dieses Leben erhält gerade dadurch seinen tiefsten Sinn, dass es in keinem Augenblick aufhört, Leben zu sein. Die Verknüpftheit mit der sozialen Viel­heit, die Aufgaben und Erleb­nisse jedes Tages, neue Erscheinungen und Pflichten und alle jene gar nicht deutbaren Augenblicke, die das Leben zu einem fluktuie­renden machen, bedingen eben seine Unübersehbarkeit. Deshalb ist es zunächst merkwürdig, dass der Mensch die Tendenz trägt, diesen Fluss aufzuhalten und gleichsam durch ein Atemholen wieder den neuen Mut zu haben, sich im Laufe der Geschehnisse zu bewegen. Der klarste Ausdruck dieses Atem­holens ist wohl der Schlaf. Aber auch die Gedenktage jeglicher Art geben jenem Gefühl Ausdruck, das sich gern, wenn auch nur für kurze Zeit, aus dem Leben hinaus­bewegt, sich nicht mehr in Verbindung setzt mit dem unentwirrbaren und untentrinnbaren Knäuel der Ergeignisse. Der Geburtstag ist hierfür ein ganz besonders leuchtendes Beispiel. Er ist eine Glorifi­zierung des eigenen Ichs. Die meisten übrigen Gedenktage gelten ir­gendwelchen Zusammenhängen zwischen uns und der Vielheit. Man feiert Geschäftsjubiläen, historische Gedenktage, silberne Hochzei­ten, Hochzeitstage: allen ist zwar enger oder loser das eigene Ich ein­bezogen. In allen steht in materiel­len oder ideellen Verbindungen das eigene Ich im Zusammenhang mit etwas Ausserindividuellem. Man feiert die Zugehörigkeit zu einem Staat, die Wiederkehr eines kultu­rell belangvollen Ergeignisses, man feiert den Tag, an dem sich zum soundsovielten Male die Wiederkehr unserer Hochzeit jährt: wenn auch diese Gedenktage im höchsten Masse bedeutsam für unsere Entwicklung sein mögen, gelten sie doch nicht uns allein. Der Ge­burtstag ist vielleicht der einzige Gedenktag, der das eigene Leben wie in einem Brennpunkt der Welt sieht. Deshalb enthält der Ge­burtstag den Kern für die Überschätzung der eigenen Menschlich­keit. Er ist das egozentrischste Fest. Die Welt scheint jubeln zu müs­sen, weil wir da sind. Nicht irgendeine menschliche Leistung, eine Tat, eine Begebenheit, ein Anlass wird gefei­ert; es wird ein Fest gefei­ert, weil wir sind. Es ist ein tiefes Anzeichen für die unbe­wusste Ge­staltung der Dinge, dass dies beim Geburtstag gar nicht gefühlt wird.

Der Gefeierte fühlt nicht seine merkwürdige Stellung, weil er weiß, dass auch der Geburtstag der anderen geleiert wird. Und wir erleben hier ein merkwürdiges Beispiel dafür, dass durch die soziale Zusammenführung von Menschen ein Ereignis abgeschwächt wird und ein Gefühl nicht mehr seinen graduell höchsten Punkt erreicht, weil ein Ereignis (wenn auch nicht zeitlich) mit anderen geteilt wird. Das ist soziologisch gar nicht unbedeutsam, dass es Ereignisse gibt, die da durch nicht an den Wurzelpunkt ihrer Wesenheit führen, weil sie vie­len gemeinsam sind; während bei der Gestaltung der meisten Dinge sie erst dadurch ihre bestimmende Haltung bekommen, dass sie im Le­ben der sozialen Vielheit erscheinen.

Die egozentrische Form veranlasst manche Menschen, sich des Ge­burtstags nicht zu freuen. Der Geburtstag enthält eine immanente Tragik. Allerdings nur wenige Menschen weichen ihm aus, weil sie durch diese Hypostasierung des eigenen Ichs die Verpflichtung füh­len, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen. Das Mit-sich-selbst-Auseinandersetzen ist im Leben eine sehr seltene Begebenheit. Dass sich jeder Mensch im Roman mit sich selbst bewusst auseinander­setzt, ändert nichts an der Richtigkeit, dass die Gesteigertheit des Le­bens in jedem Augenblick diese prinzipielle Beschäftigung mit der ei­genen Seele beinahe ausschliesst. Die prinzi­pielle Betrachtung des Geburtstages aber zwingt zu dieser Ausei­nandersetzung. Jetzt ist das Leben an einem Punkt, an dem es nicht mehr nur ein Glied einer grösseren Gemeinsamkeit ist, sondern es wird gleichsam herausge­schält aus grösseren Zusammenhängen und um seiner selbst willen zu einem Mittelpunkt gemacht. Der Mensch aber ist so sehr Produkt ei­ner Gemeinsamkeitssphäre geworden (auch da, wo er es gar nicht fühlt), dass das Herauslösen aus der Gemeinsamkeit sozusagen mit einem Schmerz verbunden ist. Die Scheu vor dem Geburtstag wird man viel­leicht gerade bei wertvollen Menschen finden, weil sie die Diskrepanz zwischen dem eigenen Ich und der Gesellschaft immer am stärksten erleben. Während für den seelisch minderwertigen Menschen das Leben in seinem So-Sein immer die bestim­mendste Note erhält. Die Scheu vor dem Geburtstag führt geradezu zu einer schweren Konsequenz: Es ist gar nicht erstaunlich, dass wir ab und zu hören, dass ein Mensch seinem Leben oft in einem besonders feierli­chen und schönen Moment ein Ende bereitet hat. Dies liegt zweifel­los daran, dass die besondere Emporhebung des eigenen Ichs in der Gestalt einer Feier zu einer strengeren Prüfung des Gegens­tandes die­ser Feier zwingt. Ist es der eigene Mensch, dem diese Feier gilt, so zwingt die Gruppierung der Menschen um das eigene Ich zu einer Prüfung der Wert­sphäre. Wenn diese Wertsphäre als zu leicht befun­den wird, dann ist es nicht erstaunlich (wenn ein Menschentum hem­mungslos ist), dass nun gleichsam auch die Verbindung mit der Um­welt abgeschnitten wird. Denn der Tod ist nicht nur ein Auslöschen der eigenen Persönlichkeit, sondern auch in ganz besonderer Verbin­dung ihrer Beziehung zu einem Ausser-lch. — Die Zusammenhänge dieser Erwägungen mit dem Geburtstag liegen nicht allzu fern. Denn er zwingt in seiner ganzen Organisation zu einem strengen Mass der ei­genen Kräfte. Der ganze Tag in seiner besonderen Anlage veranlasst eine Rückführung des Seins auf das eigene Individuum. Dass diese Zurückführung aller Kräfte auf das eigene Leben vielfach eine bezwin­gende Stimmung erzeugt hat und erzeugen musste, wird unbewusst durch das Geburtstaggeschenk dokumentiert. Das Geburtstagge­schenk hat freilich nicht die freieste Form des Geschenkes. Die schönste Form des Geschenkes ist die, die sich ohne äusseren Anlass, sondern lediglich aus dem Hingezogenfühlen zu einer Seele, gleich­sam in materiellem Ausdruck, sich äussert. Aber das Geburtstagge­schenk hat eine ganz besondere Bedeutung. Man will durch das Ge­schenk besagen, dass das Leben des gefeierten Menschen wertvoll ist. Zu dem blossen Sein des Menschen will man etwas hinzufügen, was nun dieses Sein in besonderer Weise verschönt. Das Geburtstagge­schenk ist gleichzeitig eine Vorbeugung dagegen, dass dem Geburts­tagkind das eigene Leben als zu gering erscheinen möchte (negativ gewendet), und weiterhin der Ausdruck einer Wertempfindung, den man für dieses Leben hegt. Es ist in seiner unbewussten Bedeutung ei­ne ganz besonders feine Form einer Wechselbezie­hung zum Men­schen. Es dokumentiert an einem Tage die lange und vielfäl­tige Be­ziehung zahlreicher Tage. Es fasst gleichzeitig an einem periodisch wieder­kehren­den Termin alle Beziehungen zusammen, die uns mit ei­nem Menschen verbinden. Das Geburtstaggeschenk ist in diesem Zu­sammenhang gleichsam eine Apotheose des Gefühls, das dem mehr oder weniger unsagbaren Grade seiner Intensität mit Worten keinen Ausdruck geben kann oder geben will. Deshalb bedeutet das Ge­burtstaggeschenk eine besondere Weihe für den gefei­erten Men­schen, weil es die Beziehung und Feierlichkeit des Tages verlängern will. Dadurch, dass das Geschenk noch da ist, auch wenn der Ge­burtstag vorüber ist, strahlt von dem Geburtstage her in das neue Le­bensjahr der visuelle Ausdruck einer Zusammengehörigkeit mit an­deren Menschen. Das Geburtstag­geschenk weist deshalb über sich hinaus und bedeutet einen Punkt, von dem aus sich das Leben wie in einer neuen Wertschätzung erweisen will. Das konventio­nelle Geburtstaggeschenk enthält freilich alle die eben gezeichneten Momente nicht. Es bedeutet vielleicht gerade die Umkeh­rung dieser Beziehun­gen, so wie die Gegensätze in den Dingen überhaupt sehr nahe auf­einander wohnen. Es gibt menschliche Beziehungen, deren Dürftig­keit sich nur durch die schwache Erin­nerung an den Geburtstag aus­drückt. Am Geburtstag des betreffenden Menschen erinnert man sich plötzlich daran, dass man in irgendwelcher Weise mit ihm ver­knüpft ist. Man sagt seine Wünsche und unterstreicht sie gewissermassen durch die Überreichung oder Übersendung eines Geschenks. Diese konventionelle Form der Gratula­tion widerspricht dem Wesen des Geburtstags und dem des Geschenks. Denn es ist das Wesen des Geburtstags, dass sich das Jahr in einem Punkte seines Verlaufs be­sonders in seinen Wechselfällen und seinem Gehalt dokumentiert. Die Liebe, die wir an diesem Tage empfangen, ist wie in einer einma­ligen Geste die Wiederkehr des ganzen Jahres. Und von den Hem­mungs­momenten, die der Geburtstag erweckt, können uns eben die Menschen befreien, die uns im ganzen Jahr etwas sind. Deshalb bil­den in unbewusstem Zusammen­hang die konventionellen Gratulan­ten eine Gefährdung dieser nun innerlich gewonnenen Beziehung zum Geburtstag. Sie weisen eben wieder darauf hin, dass das Leben in seiner Nutzlosigkeit und aus ganz unberechenbaren Gesetzen uns mit Menschen in Beziehung setzt, deren Zusammengehörigkeit eine tiefe­re Bedeutung mangelt, und gerade diese Erwägung vermag uns am Tage der Bilanz zu verstimmen. — Das Geschenk der konventionel­len Gratulanten enthält aber gerade wieder die Versöhnung mit die­ser lästigen Gratulation. Denn ganz abge­sehen von dem Grunde, aus dem das Geschenk überreicht wird, ganz abge­sehen davon, ob nun eine besonders reine Beziehung zu einem Menschen durch dieses Ge­schenk bezeugt wird, hat das Geschenk nicht nur einen relativen, sondern einen absolu­ten Wert. Diese Absolutheit kommt zu unserem Sein hinzu, und aus der Erwägung der Absolutheit kann uns dieses Geschenk wiederum versöhnen. Diese Versöhnung trifft freilich nicht den Menschen, und der uns beschenkende Mensch ist uns nun dadurch nicht mehr, dass er schenkt, aber das Geschenk an sich hat dadurch eine Bedeutung, dass es nun gar nicht mehr sein Geschenk, sondern unser Eigentum geworden ist. So sehr das innerlich bedingte Geschenk, auch nachdem es uns gehört, immer noch gleichsam auch dem anderen gehört, der es uns zum Geschenk machte, so gehört das innerlich nicht bedingte Geschenk uns allein. Es ist gleichsam in un­seren alleinigen Besitz übergegangen.

Der Geburtstag enthält in nahem Beisammenwohnen eine unge­heure Freude und eine Skepsis gegen das eigene Leben. Es ist deshalb auch von innen her gemäss, dass man am Geburtstag mit den Men­schen zusammen zu sein wünscht, denen man sich besonders nahe fühlt. Denn mehr als alle Erwägungen prinzi­pieller Art, neben aller geistigen Bilanz, hat das aktive und heisse Leben, das in jedem Au­genblick gewissermassen symbolisch seine ewigen Werte enthält, die Fähigkeit, uns unser Sein besonders nahe zu bringen. Die Menschen, die mit uns am Geburtstag zusammen sind, haben deshalb eine be­sondere Bedeutung: sie haben nicht nur den Tag zu verschönen, ihre Aufgabe ist nicht nur eine einma­lige und aktuelle, sondern sie sind gleichsam symbolisch Zeugen dafür, dass unser Leben einen Sinn ha­be. Und aus ihrem Nahesein fliesst eine unmittelbare Verbindung in unser Zentrum, von dem aus in objektiven und subjektiven Zusam­menhängen unser Leben seine zwar wechselvolle, aber dennoch über­haupt erkennbare Bedeutung erhält.

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