(DER SPIEGEL 43 2002 Was ist ein 'Was' ) Gespräch mit Bickerton

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Was ist ein 'Was'?

Von Bredow, Rafaela und Grolle, Johann

Linguist Derek Bickerton über die Entstehung der Sprache durch den

Überlebenskampf in der Savanne, die Gedanken von Kühen und die

Bedeutung der Grammatik für die Intelligenz

SPIEGEL: Herr Professor Bickerton, wenn man Ihnen plötzlich Ihr Sprachvermögen

rauben würde, wären Sie damit auch eines Teils Ihres Menschseins beraubt?

Bickerton: Absolut, ohne Frage. Wenn uns irgendeine Katastrophe das antun würde,

dann würde die Gesellschaft fast binnen Minuten kollabieren. Es würde nichts mehr

gelten - keine Gesetze, keine Vereinbarungen, es gäbe keinerlei Verständnis mehr

untereinander.

SPIEGEL: Ist die Sprache demnach noch wichtiger für uns als unsere anderen Sinne?

Bickerton: In gewissem Sinne schon: Sie können ein Mensch bleiben, auch wenn Sie

nicht mehr sehen können. Selbst wer taub und blind zugleich ist, kann noch sprechen

lernen.

SPIEGEL: Bedeutet das, dass ein Kleinkind, während es das Sprechen lernt, eigentlich

erst Schritt für Schritt zum Menschen wird?

Bickerton: Nein, so würde ich das nicht formulieren. Denn ein großer Teil unseres

Sprachsinns ist ja schon von Geburt an vorhanden. Fast könnte man sagen: Wir lernen

die Sprache nicht, sondern wir lassen sie in uns wachsen.

SPIEGEL: Wie geht denn dieser Prozess des "Wachsens" vor sich?

Bickerton: Nun, zunächst schnappt ein Kind ein paar Wörter auf, und zwar Wörter, die

sehr eng verbunden sind mit dem Hier und Jetzt. In diesem Stadium - etwa im Alter

von ein bis anderthalb Jahren - verhält sich das Baby wie ein Schimpanse: Seine

Gedanken drehen sich nur um das, was es will. Auch wenn Sie einem Schimpansen

oder einem Bonobo versuchen, eine Zeichensprache beizubringen, so wird er

ausschließlich über das reden, was er will.

Dann aber beginnen Kinder ein Interesse daran zu entwickeln, Objekte zu benennen.

Sie haben Spaß daran zu zeigen, dass sie wissen, wie die Dinge heißen. Diese Art der

Neugier ist ein großer Unterschied zwischen Mensch und Schimpanse.

Schließlich, etwa im Alter zwischen 18 und 24 Monaten, beginnen Kinder, Wörter

zusammenzufügen, und zwar zunächst nur paarweise. Sie sagen also: "Mama

Socken", aber das kann vielerlei heißen. "Mama,

zieh mir die Socken an" zum Beispiel oder "Das sind Mamas Socken" oder "Guck mal

die Socken da, Mama".

SPIEGEL: Grammatik kennen Kinder also bis zu diesem Zeitpunkt noch überhaupt

nicht?

Bickerton: Nein. Erst im Alter von ungefähr zwei Jahren passiert dann etwas ganz

Außergewöhnliches: Die Sprachentwicklung des Kindes beschleunigt sich abrupt.

Plötzlich - das kann binnen weniger Monate oder gar Wochen passieren - werden die

Sätze länger und länger. Dieser Übergang vollzieht sich so rasch, dass die Kinder

unmöglich in so kurzer Zeit so viel lernen können.

SPIEGEL: Woher sollten sie es denn sonst haben?

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21.10.2002

DER SPIEGEL 43/2002 - Was ist ein 'Was'?

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Bickerton: Ich bin überzeugt davon, dass in unserem Hirn bereits so etwas wie eine

Blaupause grammatischer Strukturen vorhanden ist. Aber wir sind nicht fähig, sie zu

nutzen, bis unsere Denkkraft, die Zahl unserer Nervenzellen also, dafür ausreicht. Das

Kinderhirn wächst in diesem Stadium rapide, vor allem bilden sich mit enormer

Geschwindigkeit synaptische Verbindungen, kreuz und quer in allen Hirnregionen.

SPIEGEL: Und Grammatik zu verstehen ist so viel schwieriger als bloße Wörter?

Bickerton: Allerdings. In dem Stadium, von dem wir jetzt sprechen, fügen Kinder

ihren Zwei-Wort-Gebilden ein drittes und viertes hinzu. Und das bedeutet, dass sie

zum Beispiel auch die Eigenschaften von Pronomen, Präpositionen oder Artikeln

begreifen müssen.

SPIEGEL: Und was ist daran so schwierig?

Bickerton: Nehmen Sie Ihre Frage: Was ist das "Was" darin? Was bedeutet "darin"?

Ein "Was" ist nichts, ein bloßes Bindeglied, und dennoch entscheidend zum Verständnis

von Sätzen. Linguisten zeichnen Bäume, um die Struktur von Sätzen darzustellen. Und

ich sage Ihnen: Diese Bäume bilden die Realität ab. Und die Art, wie Wörter zu diesen

Bäumen zusammengefügt werden, das geschieht alles hier drin (zeigt auf seine Stirn).

SPIEGEL: Glauben Sie, dass sich in der Art, wie ein Kind Schritt um Schritt erst Wörter

und dann schließlich auch grammatische Strukturen begreift, die Evolution der

Sprache gleichsam nachvollzieht?

Bickerton: Ja, in einem groben Sinne durchaus. Ich gehe davon aus, dass unsere

Vorfahren zunächst nur Wörter ausstoßen konnten, aber keinerlei Sätze. Und dabei

blieb es vermutlich sehr lange, vielleicht zwei Millionen Jahre lang. Grammatikalisch

strukturierte Sprache, wie wir sie heute kennen, entstand erst viel später,

wahrscheinlich vor rund 100 000 Jahren.

SPIEGEL: Selbst Schimpansen scheinen eine ganz rudimentäre Form von Sprache ...

Bickerton: ... eine Protosprache, wie ich das nenne. Das ist etwas völlig anderes als

unsere Form der Sprache ...

SPIEGEL: ... nun gut, also sie scheinen eine Protosprache lernen zu können.

Bickerton: Ja, man kann ihnen beibringen, einzelne Wörter zu gebrauchen. Sie können

sogar zwei oder drei Wörter aneinander hängen, so wie das ein Kleinkind tut. Der

Unterschied besteht nur darin, dass sie keinen Schritt weiterkommen.

SPIEGEL: Wenn sie Wörter gebrauchen können, warum tun es Schimpansen dann

normalerweise nicht?

Bickerton: Das ist ein interessanter Punkt. Entscheidend dafür, Protosprache zu

benutzen, ist zweierlei. Zum einen braucht man die Möglichkeit, sie auszudrücken ...

SPIEGEL: ... das können Schimpansen ja mit Hilfe ihrer Hände.

Bickerton: Genau. Einige glauben sogar, die menschliche Sprache habe überhaupt mit

einer Art von Gebärdensprache begonnen. Deshalb werden Sie nun fragen: Was ist die

zweite Voraussetzung? Und dies ist die Motivation. Wir müssen uns also fragen: Worin

unterschied sich die Umwelt unserer Vorfahren von derjenigen heutiger Affen?

Irgendetwas in dieser Umwelt muss die Entwicklung der Sprache vorangetrieben

haben. Irgendeinen Faktor X muss es ge-

geben haben, der symbolische Kommunikation zu einem entscheidenden Vorteil im

Überlebenskampf machte.

SPIEGEL: Und was war Ihrer Meinung nach dieser rätselhafte Faktor X?

Bickerton: Ich glaube, dass es die veränderte Ökologie war, die den Ausschlag gab.

Heutige Menschenaffen leben allesamt im Wald. Unsere Vorfahren hingegen lebten in

tropischen Steppen, in offenem Grasland, in dem es allenfalls entlang den Flüssen ein

paar Galeriewälder gab.

SPIEGEL: Aber im Wald lässt sich doch ebenso gut plaudern wie auf der Wiese?

Bickerton: Zwei Dinge müssen sich damals für den Urmenschen grundlegend

verändert haben. Zunächst einmal war die Nahrung auf einer viel größeren Fläche

verstreut. Ein Affe im Wald kann sich von Früchten und Nüssen ernähren und vielleicht

dann und wann noch einen kleineren Affen jagen. In der Savanne hingegen ist Futter

nur weit verstreut zu finden, und zudem variiert das Nahrungsangebot erheblich mit

der Jahreszeit. Der zweite, vielleicht noch wichtigere Unterschied sind die Feinde: Vor

knapp zwei Millionen Jahren, als der Homo erectus lebte, gab es acht verschiedene

Gattungen von Raubtieren - große wolfartige Bestien, mächtige Säbelzahntiger und

eine Fülle weiterer wilder Tiere -, die inzwischen allesamt ausgestorben sind. Das

Leben in der Savanne muss also extrem gefährlich gewesen sein.

SPIEGEL: Aber noch mal: Wozu da Sprache? Schimpfwörter werden die Räuber kaum

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in die Flucht geschlagen haben.

Bickerton: Ich stelle mir das so vor: Um Raubtiere zu verscheuchen, brauchte es

Gruppen von sicher 30 oder 40 Individuen. Um aber Futter zu finden, wird es nötig

gewesen sein, diese aufzuteilen in Trupps von vielleicht acht oder zehn. Nur, wenn die

auf ihren Streifzügen etwas gefunden hatten und dann zurückkamen: Wie sollten sie

den anderen sagen, wohin sie gehen sollten? Dazu gab es nur einen Weg: Sie mussten

irgendeine Form der symbolischen Kommunikation finden.

SPIEGEL: Der Mensch fand also zur Sprache wie die Biene zum Schwänzeltanz?

Bickerton: Ja, ganz genau. Das ist doch hochinteressant: Die einzigen Wesen im

Tierreich, die ein System symbolischer Kommunikation entwickelt haben, sind die

Bienen. Und die sind, genau wie es unsere Vorfahren gewesen sein müssen,

weiträumige Sammler von Futter.

SPIEGEL: Ein Tanz wäre auch für den Menschen eine nette Alternative zum Stammeln

von Wörtern gewesen ...

Bickerton: ... aber Laute waren wahrscheinlich schon sehr früh überlegen, zum

Beispiel, weil es möglich war, Geräusche zu imitieren. Stellen Sie sich vor, ein

Urmensch findet einen Mammutkadaver und kehrt zu den Seinen zurück. Dann könnte

er "Ööööchchch" gesagt haben und so gemacht haben ... (deutet Stoßzähne an).

SPIEGEL: Aha, das erste Wort der Menschheit lautete also "Ööööchchch" und

bedeutete "Mammut"?

Bickerton: Warum nicht? Jedenfalls hieß es sicher nicht "hallo" oder "tschüs", wie man

es annehmen müsste, wenn die Fortentwicklung der sozialen Intelligenz die Triebfeder

der Sprachentwicklung gewesen wäre.

SPIEGEL: Warum aber dauerte es noch zwei Millionen Jahre vom "Ööööchchch" bis

zum ersten echten Satz?

Bickerton: Ja, das ist verblüffend - zumal es erstaunlich wenig bedarf, um eine

Sprache mit Syntax zu erzeugen. Das Wesentliche, was man benötigt, ist eine so

genannte Argumentstruktur. Um einen Satz zu bilden, muss man wissen wer der

Handelnde ist, wem die Handlung widerfährt, was das Ziel der Handlung ist und so

weiter. Es gibt acht oder zehn thematische Rollen - über die genaue Zahl streiten sich

die Linguisten -, die ein Begriff innerhalb eines Satzes spielen kann. Diese

Argumentstruktur muss das Hirn begreifen.

SPIEGEL: Wurde der Mensch, als er den Schritt zu dieser Grundstruktur getan hatte,

plötzlich intelligenter?

Bickerton: Mir behagt der Begriff "Intelligenz" nicht. Was soll das sein? Es gibt viele

Arten von Intelligenz.

SPIEGEL: Also fragen wir so: Half die Grammatik dem Menschen, bessere Werkzeuge

oder Geräte zu bauen?

Bickerton: Die Antwort darauf lautet eindeutig: ja. Es ist ja eine von vielen

Paläoanthropologen beharrlich ignorierte Tatsache, dass sich die Werkzeuge des

Menschen zweieinhalb Millionen Jahre lang praktisch überhaupt nicht verändert haben.

Nehmen Sie den Faustkeil - ein wunderschönes, zweifellos nützliches Gerät: Es wurde,

ohne jegliche Modifikation eine Million Jahre lang benutzt. Stellen Sie sich vor, General

Motors präsentiert ein neues Auto und erklärt dazu: "Dieser Wagen ist so perfekt,

dass ihn noch Ihre Urururenkel in einer Million Jahren fahren werden." Für uns klänge

das absurd. Ich gehe sogar so weit zu sagen: Wer so denkt, denkt nicht menschlich.

Er ist noch sehr weit davon entfernt, menschlich zu sein.

SPIEGEL: Und all das änderte sich mit der Grammatik; die Syntax machte den

Menschen erst zum Menschen?

Bickerton: Davon gehe ich aus. Sicher ist: Vor rund 100 000 Jahren hat sich ein

abrupter Wandel vollzogen. Plötzlich beginnt der Mensch, raffinierte Werkzeuge zu

bauen, Schmuck herzustellen, Handel zu treiben - all das zu tun, was wir heute Kultur

nennen. Was kann der Auslöser gewesen sein? Die Syntax! Denn wenn Sie etwas

planen, irgendetwas auch nur halbwegs Kompliziertes, dann brauchen Sie "Wenns"

und "Weils", das heißt, Sie brauchen verschachtelte Sätze. Ohne diese verharren Sie

im Hier und Jetzt.

SPIEGEL: Das heißt, vor kaum 100 000 Jahren erlernte der Mensch überhaupt erst das

Denken?

Bickerton: So würde ich es nicht gerade formulieren. Aber jedenfalls lernte er,

kompliziertere Gedankengänge zu denken. Nehmen Sie zum Beispiel den Widerhaken,

sei es für Harpunen oder für Pfeile. Der Widerhaken war eine wesentliche

Fortentwicklung des alten Speers. Aber dazu musste irgendjemand begreifen, dass

Speere zwar ins Fleisch der Opfer eindringen, aber nicht dort stecken bleiben; dass ein

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getroffenes Tier sich nur zu schütteln braucht, um einen Speer wieder loszuwerden;

dass, wenn der Speer stecken bliebe, das Opfer mehr bluten würde und Kraft verlöre.

Wahrscheinlich hat sich der Erfinder des Widerhakens, jenes prähistorische Genie,

dann kleine Samen angesehen, die mit winzigen Häkchen an der Haut oder an den

Kleidern klebten. Und dann hat er überlegt: "Was wäre, wenn ich meinen Speer auch

mit solchen Haken versehen würde?" - Glauben Sie mir: Da steckt eine Menge

Grammatik in der Entwicklung des Widerhakens. Da geht nicht einfach irgendeine

Lampe im Hirn an und - plopp - ist die Idee da.

SPIEGEL: Wenn nicht der Widerhaken, dann aber die Grammatik, die war irgendwann

plötzlich - plopp - da?

Bickerton: Ganz plötzlich passierte das natürlich auch nicht, aber es geschah innerhalb

verhältnismäßig kurzer Zeit. Den Ausschlag gab dabei die wachsende Zahl

überflüssiger Neuronen - ein Gedanke, der übrigens nicht von mir, sondern von

meinem Kollegen, dem Hirnforscher Bill Calvin, stammt.

SPIEGEL: Wie sollen wir uns das vorstellen?

Bickerton: Nun, das Hirn ist ein sehr unruhiger Ort. Da arbeiten Millionen von

Neuronen gleichzeitig an den unterschiedlichsten und oft gegensätzlichen Dingen. Und

welche setzen sich am Ende durch? Diejenigen, die uns daran erinnern, dass wir seit

einem Jahr keinen Brief mehr an Tante Edith geschickt haben? Oder diejenigen, die

sich einfach hinlegen wollen und ausruhen? Es sind die, die am lautesten schreien. Und

am intensivsten ist ein Signal dann, wenn es von vielen Neuronen gleichzeitig

ausgesandt wird. Deshalb versucht nun also jedes Neuron, seine Nachbarn davon zu

überzeugen, sein Lied mitzusingen. Und gleichzeitig versucht es, die anderen daran zu

hindern, ihr Lied zu singen. Das Ganze gleicht einem unentwegten, heftigen Kampf im

Hirn.

SPIEGEL: Und was sagt das nun über die Grammatik aus?

Bickerton: Dieser Kampf führt uns zum wesentlichen Unterschied zwischen Tier und

Mensch: Stellen Sie sich irgendein Tier vor, sagen wir eine Kuh. Bei ihr überwiegt stets

der Einfluss äußerer Reize, auf die sie nur reagiert. Eine Kuh denkt nicht: "Gott, was

war das für ein hübscher Bulle, den ich letzte Woche gesehen habe." Sie döst vielmehr

friedlich vor sich hin. Dann spürt sie, wie eine Fliege auf ihrem Fell landet - und sie

wird ihren Schwanz bewegen, um diese Fliege loszuwerden. Das und nichts anderes ist

"Leben" für eine Kuh. Wenn in ihrem Hirn so etwas wie ein Gedanke von innen nach

außen zu dringen versucht, dann werden die anderen Neuronen das sofort

unterbinden: "Hey, sei ruhig. Das hat nichts mit dem wirklichen Leben zu tun. Das

stört uns bei unserer Arbeit."

SPIEGEL: Und beim Menschen ist das anders?

Bickerton: Ganz genau. Damit innere Nachrichten durch den allgemeinen Lärm der

Neuronen dringen können, müssen sie sich gegen das geschäftige Treiben im Hirn

durchsetzen können, und sie müssen über lange Zeit hin - eine knappe Sekunde lang

dauert es, einen Satz zu bilden, und das ist für das Gehirn eine sehr lange Zeit - stabil

sein. Schon die kleinste Abweichung kann verheerend sein. Denken Sie nur an den

Unterschied zwischen "Kaninchensuppen" und "Kaninchen spucken" - eine winzige

Lautdifferenz, aber ein völlig anderer Sinn. Um das zu schaffen - zuverlässige und

durchsetzungsfähige innere Signale bilden zu können -, bedurfte es einer sehr großen

Zahl dafür verfügbarer Neuronen. Deshalb musste erst das Gehirn wachsen, bis der

Mensch den ersten Satz formulieren konnte.

SPIEGEL: Half uns die Sprache nur, unsere Gedanken anderen mitzuteilen, oder

machte sie es überhaupt erst möglich, sie zu denken?

Bickerton: Oh, wenn Sie komplexere Gedanken meinen, dann bin ich überzeugt

davon, dass sie ohne Sprache nicht möglich sind. Natürlich können auch Tiere

"denken", wenn damit "geistige Operationen vollführen" gemeint ist. Eine Fledermaus

muss enorm viel rechnen, um eine Motte fangen zu können, und sie übertrifft uns

Menschen dabei um ein Vielfaches. Würden wir das versuchen, die Motte wäre längst

weg.

Aber die Syntax ist es, die uns jene geistigen Operationen vollbringen lässt, die uns

vor allen anderen Spezies auszeichnen. Sie erlaubt uns, einen endlosen Strom ständig

neuer Überlegungen anzustellen. Dank ihrer treiben wir Philosophie, erkunden wir das

Universum, oder wir ziehen uns Ringe durch die Nase und färben unsere Haare blau.

SPIEGEL: Auch dazu bedarf es Sprache? Warum sollte man ohne Sprache zum Beispiel

nicht malen können?

Bickerton: Nun, auch Schimpansen können malen. Einer ist sogar so berühmt

geworden, dass sich seine Gemälde gut verkauften. Aber was Schimpansen nicht

können, ist, repräsentativ zu malen. Sie malen wie ein zweijähriges Kind. Sie

bewegen einen Stift oder Pinsel, als wollten sie sagen: Oh, das gibt ein lustiges

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Ergebnis.

Mit drei Jahren aber malen Kinder plötzlich etwas, das aussieht wie ein Gesicht, wie

Blumen oder ein Haus. Und das kann kein Schimpanse. Denn der kennt die Idee des

Symbolismus nicht. So wie das Wort "Katze" eine Bedeutung hat, kann auch ein

rundes Ding mit spitzen Ohren und ein paar Schnurrbarthaaren etwas bedeuten.

SPIEGEL: Zu diesem Symbolismus muss doch auch der Urmensch vor fast zwei

Millionen Jahren schon fähig gewesen sein, als er die Protosprache erlernte. Konnte

demnach schon der Homo erectus malen?

Bickerton: Das wissen wir nicht, aber es wäre sehr faszinierend, es zu wissen.

Dasselbe gilt übrigens für eine Fülle anderer geistiger Fähigkeiten des Menschen.

Nehmen Sie zum Beispiel die Fähigkeit, einen wiedererkennbaren Rhythmus zu

klopfen - das kann kein Tier.

SPIEGEL: Auch dazu muss man Grammatik beherrschen?

Bickerton: Wir wissen es nicht, aber es könnte durchaus sein. Auch über die

Ähnlichkeiten von Mathematik und Sprache ist spekuliert worden. Tatsache ist, dass

sich jegliche höheren kulturellen Leistungen erst vor frühestens 100 000 Jahren

nachweisen lassen, zu dem Zeitpunkt also, als der Mensch die Sprachfähigkeit

erlangte. Deshalb vermute ich: Wenn wir von Intelligenz reden, dann reden wir im

Grunde von Spin-offs einer einzigen Entdeckung: der Sprache. Wenn Sie einmal

sprechen können, dann sind Sie auch in der Lage zu musizieren, Mathematik zu

treiben, repräsentativ zu malen und eine Fülle anderer Dinge zu machen.

SPIEGEL: Glauben Sie, dass die menschliche Art, erst Wörter und dann daraus

grammatikalische Sätze zu bilden, die einzig mögliche Form der Sprache ist?

Bickerton: Ich wäre erstaunt, wenn eine Sprache, die eine Spezies auf einem fernen

Planeten mit völlig anderen biologischen Grundlagen und unter gänzlich anderen

Umweltbedingungen entwickeln würde, der unseren ähnlich wäre. Vielleicht würden

wir nicht einmal merken, dass es sich um eine Sprache handelt.

SPIEGEL: Und würden diese Aliens dann auch gänzlich anders denken als wir?

Bickerton: Das hielte ich für gut möglich.

SPIEGEL: Wie sieht es dann hier auf Erden aus? Denken auch die Chinesen oder die

Navajo-Indianer anders als wir?

Bickerton: Nein. Denn die menschlichen Sprachen sind weit weniger unterschiedlich,

als es den Anschein hat. Sicher, sie haben ein unglaublich unterschiedliches Vokabular.

Aber wenn man ihre Struktur tiefer analysiert, dann merkt man, dass alle

Unterschiede eher oberflächlicher Art sind. Die Ähnlichkeiten sind viel frappierender

als die Unterschiede.

SPIEGEL: Heißt das, die Komplexität einer Sprache hat nichts mit der Komplexität der

Welt zu tun, die sie beschreibt?

Bickerton: Absolut nichts. Wenn Sie die Sprache einer Hochkultur, sagen wir

Griechisch oder Chinesisch, mit derjenigen eines völlig isoliert lebenden, steinzeitlich

lebenden Stammes vergleichen, dann werden Sie keinen wesentlichen

Komplexitätsunterschied feststellen.

SPIEGEL: Herr Professor Bickerton, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Derek Bickerton

untersuchte mehrere Jahre lang die wundersame Sprache von Einwanderern in

Hawaii. Während sich die aus vielen Herkunftsländern stammenden Eltern nur

mühsam mit einem kruden Pidgin-Dialekt untereinander verständigen konnten, haben

deren Kinder eine neue gemeinsame Sprache aus dem babylonischen Sprachgewirr

geschaffen. Für den 76-jährigen Linguisten von der University of Hawaii waren die

Feldstudien der Anstoß, nach dem Ursprung der Sprache zu forschen. Für seine viel

beachtete Theorie zur Sprachentstehung greift der renommierte Buchautor auch auf

die Erkenntnisse der modernen Hirnforschung zurück.

Das Gespräch führten die Redakteure Rafaela von Bredow und Johann Grolle. * Szene

aus der BBC-Serie "Erben der Saurier".

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