Auf der Sonnenseite des Lebens


Jane Arbor

Auf der Sonnenseite des Lebens

Fasziniert ist die reizvolle Engländerin Alice von Marokko: von der märchenhaften Landschaft, den Sitten und Gebräuchen. Aber ganz besonders erregend findet sie den geheimnisvollen Karim Ihn Charles, den Besitzer des Kinderheims, in dem sie ihre Freundin vertritt. Er führt sie in seine wohlhabende Familie ein, zeigt ihr seine ausgedehnten Ländereien und verwöhnt sie sehr. Aber er wagt nie, ihr mit einem Kuß oder einer zärtlichen Berührung zu nahe zu treten. Spürt er denn nicht, wie sehr sich Alice danach sehnt? Um sich abzulenken, flirtet sie mit dem gutaussehenden Arzt Yves. Doch als er ihr einen Heiratsantrag macht, gesteht sie ihm, daß sie nur Freundschaft für ihn empfindet. Dann rückt der Tag ihrer Abreise

nach England immer näher. Hat sie Karim an ihre Rivalin Elaine verloren? Alice ist entschlossen, um ihn zu kämpfe, und gibt ihm einen heißen Abschiedskuß. Kann er ihr nun noch länger widerstehen?

1. KAPITEL

Die schmale Straße schlängelte sich in Serpentinen die Ausläufer des Atlasgebirges hoch. Den Busfahrer schienen jedoch weder die Haarnadelkurven zu stören noch das Geröhre des Motors, das sich für Alices Ohren geradezu beängstigend anhörte. Sie war die einzige Europäerin im Bus, wurde aber von den restlichen Insassen, ausnahmslos Araber, nicht sonderlich beachtet. Sie waren offensichtlich an diese halsbrecherische Tour gewöhnt, unterhielten sich lebhaft und nahmen das Gerüttel des Fahrzeugs mit Gleichmut hin.

Alice sah aus dem Fenster. Nach der langen Fahrt durch eine heiße, fast ausgedörrte Ebene bot die Landschaft hier ein reizvolles Panorama. Es gab an den Hängen Plantagen mit blühenden Bäumen und Sträuchern, und majestätisch erhob sich hier und da eine Dattelpalme.

Welch eine erregend fremdartige Welt, dachte Alice. Bald würde sie Tasenir, das Ziel ihrer Reise nach Marokko, erreicht haben. Dort befand sich ein Erholungsgebiet für marokkanische Kinder, das einem Orden englischer Nonnen unterstand. Die Leiterin, Debbie Martin, war Alices Schulkameradin gewesen und hatte sie als Vertretung für die Zeit ihres dreimonatigen Heimaturlaubs vorgeschlagen.

Alice, die ein Jahr lang einen ähnlichen Posten bekleidet hatte - sie fungierte als rechte Hand der Vorsteherin eines Studentenwohnheims an einer neu gegründeten englischen Universität - hatte ohne lange Überlegung zugesagt. Es waren jetzt sowieso Semesterferien, und wenn sie auch in Tasenir arbeiten mußte, so würde sie doch wertvolle berufliche Erfahrungen sammeln und zudem ein fremdes Land kennenlernen können.

Allerdings wurde Alice während der ganzen Reise das Gefühl nicht los, sich blindlings in ein Abenteuer gestürzt zu haben. Ihre Freundin Debbie pflegte nämlich nur im Telegrammstil zu schreiben. Ortsnamen fehlten ganz, sachliche Angaben über ihre neue Aufgabe waren auch nicht gerade Debbies Stärke. Alice wußte nur, daß die Kinder je nach Gesundheitszustand verschieden lange blieben, daß sie eine Köchin und ein paar junge marokkanische Mädchen als Helferinnen haben würde, daß sie sich bei Schwierigkeiten an Schwester Bernardine wenden konnte - vermutlich eine der Nonnen vom Stammsitz in Tetuán - und schließlich, daß sie dem Besitzer des Grund und Bodens, auf dem das Heim stand, nicht auf die Füße treten sollte. Dessen Namen erwähnte Debbie jedoch nicht. Sie schrieb lediglich:

Frag mich nicht, was den Mann kratzt, denn ich weiß es auch nicht! Jedenfalls kann er mich nicht leiden. Manche meinen, er sei ein Frauenhasser schlechthin, ich finde, er ist zumindest ein ungeselliger Muffel. Geh ihm also lieber aus dem Weg, Alice. Seltsamerweise hat er übrigens eine ganz reizende Mutter. Aber keine Frau, keine Frauen!

Alice überlegte, warum es wohl zwischen Debbie und diesem Mann Spannungen gegeben hatte. War er wirklich so ungehobelt, wie sie schrieb? Wenn sie doch wenigstens seinen Namen wüßte! Wie sollte sie nur ...

In diesem Augenblick platzte mit lautem Knall ein Vorderreifen. Der Bus geriet ins Schleudern, drehte sich fast um die eigene Achse, kippte schließlich und fiel seitlich gegen eine Felswand.

Menschen schrien durcheinander. Roter Staub nahm einem die Sicht und den Atem. Erst als er sich langsam wieder senkte, bekam Alice einen Überblick: Die Busfenster waren größtenteils zerbrochen, messerscharfe Glasscherben staken noch in den Rahmen. Dennoch zwängten sich manche Leute hindurch, denn die Tür des hinteren Notausgangs hatte sich verklemmt.

Alice gelang es mit Unterstützung eines Leidensgenossen, samt ihrer Reisetasche vorn beim Fahrersitz aus dem Bus zu klettern. Ihre Stirn schmerzte. Sie tastete sie mit den Fingern ab. Wahrscheinlich handelte es sich um eine Schnittwunde wie am Arm, denn sie blutete.

Alice setzte sich auf einen Felsbrocken, zog einen Spiegel aus ihrer Tasche und tupfte beide Wunden mit sauberen Papiertaschentüchern ab. Dann blickte sie sich um.

Der Bus lehnte so schief an der Felswand, daß das Gepäck auf seinem Dach jeden Augenblick herunterrutschen konnte. Alle Fahrgäste befanden sich inzwischen im Freien. Sie verglichen ihre Verletzungen, beschimpften den Fahrer, und manche warfen sogar Alice finstere Blicke zu, als ob sie an dem Unfall schuld sei. Einige der Männer unternahmen den halbherzigen Versuch, den Bus wieder aufzurichten, gaben aber nach ein paar Bemerkungen des Fahrers schnell wieder auf. Alice entnahm seinen Gesten, daß er keinen Ersatz für den geplatzten Reifen bei sich hatte und ihn auch nicht flicken konnte.

Man beriet sich lautstark. Einer der Männer erbot sich offensichtlich, Hilfe zu holen, verließ die Gruppe und begann, die Straße entlangzugehen. Die meisten Fahrgäste hockten einfach auf der Erde, einige saßen wie Alice auf Felsbrocken.

Ein Kind fing an zu weinen. Seine Mutter versuchte mit einem schmutzigen Lumpen, das Blut aus einem Riß an seiner Wange zu stillen. Bei dieser Bewegung erinnerte Alice sich, in einem Fach im Bus einen Verbandskasten gesehen zu haben.

Sie ging zu dem Fahrer hinüber. Aller Augen verfolgten sie. Sie nahm aus ihrer Tasche einen Briefumschlag und malte mit ihrem Lippenstift ein dickes rotes Kreuz darauf. Anschließend zeigte sie erst auf das Kind, dann auf den Bus. Der Fahrer begriff sofort und holte Alice den Verbandskasten heraus.

Sie nahm ihn mit zu den beiden hin, suchte einen passenden Verband für die aufgerissene Wange hervor und legte ihn mit Hilfe der Mutter dem Kind an. Zuerst heulte der Kleine abwehrend auf. Doch bald beruhigte er sich, und es dauerte nicht lange, bis sich ein Patient nach dem anderen bei Alice einstellte. Schnitte, Hautabschürfungen, Quetschungen, ein ausgekugelter Arm, ein gebrochenes Handgelenk - sie hatte ausreichend zu tun.

Während Alice noch Erste Hilfe leistete, kam der Mann, der Hilfe holen sollte, auf dem Trittbrett eines Autos fahrend zurück. Ein weiterer Wagen folgte. Die Leute wurden gezählt, auf die Wagen verteilt, und dann fuhr der eine in Richtung Tasenir, der andere, in dem die Verletzten untergebracht waren, wendete und fuhr zurück. Nach Tetuán ins Krankenhaus, wie Alice hoffte.

Nachdem eine weitere Gruppe sich zu Fuß nach Tasenir aufgemacht hatte, blieben außer einer Frau und zwei Männern nur noch Alice und der Fahrer zurück. Dieser machte ihr durch Zeichensprache verständlich, jetzt wäre bald ein Hilfstrupp auf dem Weg, der den Bus wieder flottmachen würde. Alice nickte lächelnd und nahm dankbar eine Apfelsine an.

Kurz darauf erschien ein dritter Wagen, ein großes, offenes Fahrzeug, das die Steigung des Berges ohne Schwierigkeit nahm. Am Steuer saß ein hochgewachsener junger Marokkaner mit einem roten Fes auf dem Kopf und der landesüblichen braunen Dschellaba bekleidet, einem' hemdartigen langen Übergewand mit weiten Ärmeln.

Der Mann hielt seinen Wagen an und stieg aus. Er war mindestens einen Meter achtzig groß. Seine dunklen Augen betrachteten prüfend das Bild des Unglücks vor sich. Anschließend sprach er mit dem Fahrer, wobei er stirnrunzelnd einen Blick in Alices Richtung warf.

Darauf inspizierte er ausgiebig den zusammengebrochenen Bus. Erst dann kam er zu ihr herüber und stellte ohne Gruß die Frage:

„Französin? Engländerin?"

Sie schluckte die Apfelsinenscheibe herunter und fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund, ehe sie antwortete: „Engländerin."

„Und was machen Sie hier?" fragte er weiter in völlig akzentfreiem Englisch. „Wohin wollen Sie?"

Da Alice das Gefühl hatte, er könne doch wohl mit eigenen Augen sehen, daß sie gerade dabei war, eine Apfelsine zu essen, beantwortete sie nur seine zweite Frage.

„Ich will nach Tasenir."

„Wohin in Tasenir?"

„In das Kinderheim." Sie verbuchte trotz Staub, Schweiß, Blut und zerrissener Hose etwas Würde auszustrahlen, als sie fortfuhr: „Ich bin die Stellvertreterin von Miss Martin, der Leiterin, die in Urlaub ist."

„Stellvertretende Leiterin? Sie?" Er musterte sie von oben bis unten. Ihr Versuch, ihm Respekt einzuflößen, war also offensichtlich gescheitert. „Warum sind Sie dann mit dem gewöhnlichen Bus gefahren? Vom Heim aus hätte man jemanden schicken können, um Sie abzuholen."

„Gestern vielleicht", stimmte sie zu. „Aber auf dem Flughafen in London gab es Verzögerungen, und ich bin leider achtzehn Stunden zu spät gekommen."

„Das Heim ist telefonisch erreichbar", stellte der Marokkaner nüchtern fest. „Sie hätten anrufen und ein Taxi nehmen können. Auch wenn Miss Martin nicht da ist, ist irgend jemand zur Aufsicht da."

Woher er wohl wußte, daß Debbie schon abgereist ist? fragte Alice sich, sagte aber laut statt dessen: „Das hätte ich tun können. Aber als ich auf dem Platz in der Stadtmitte stand, kam zufällig der Bus nach Tasenir. Da bin ich einfach eingestiegen."

„Was Sie nicht sagen! Sie haben doch wohl Gepäck bei sich?"

Sie zeigte auf ihre Segeltuchtasche und dann auf ihren Koffer, der oben im Gepäckhalter des Busses hing.

„Diese beiden Sachen. Ich habe gehört, daß Hilfe unterwegs ist, frage mich aber langsam, wann die hier sein wird, damit ich nach Tasenir weiterkomme."

Der Unbekannte hatte sich bei ihren letzten Worten schon halb von ihr abgewendet. Im Fortgehen sagte er noch beiläufig über die Schulter: „Das dürfte kein Problem sein. Ich nehme Sie natürlich mit. Welches war noch Ihr Koffer?"

Sie zeigte noch einmal darauf. Während er ging, ihn zu holen, wünschte sie, sie hätte nicht allzu deutlich die Anhal-terin gespielt. Außerdem erschien es ihr zweifelhaft, ob es klug war, die Hilfe eines Fremden anzunehmen. Doch dann fielen ihr noch rechtzeitig ihre Leidensgefährten ein, und sie ging ihm schnell nach: „Und die anderen?"

„Die selbstverständlich auch. Es ist Platz genug für alle." Er drehte sich um und blickte sie unter halbgeschlossenen Lidern von oben herab an. „Ich will Sie nicht entführen", setzte er beißend hinzu. „Falls Sie das befürchten, kann der Busfahrer ein Wort für mich einlegen. Hakim Ibn Raud kennt mich zufällig."

Alice wurde feuerrot. Zu dumm, daß er ihre mißtrauischen Gedanken erraten hatte!

Er forderte sie und die anderen auf, samt ihren Gepäckstücken einzusteigen, und dann ging es los.

Alice war verwirrt Auf der einen Seite sein hervorragendes, akzentfreies Englisch, auf der anderen seine Kleidung und sein Aussehen - das rabenschwarze Haar unter dem Fes, die dunklen Augen, die Adlernase, die so ganz und gar arabisch wirkte. Der Mann war ihr ein Rätsel. Er sprach zu dem Busfahrer wie zu einem alten Kumpel, fuhr aber einen luxuriösen Wagen. Dann die Verbeugungen, mit denen die anderen Fahrgäste ihn begrüßt hatten. Offensichtlich kannten ihn alle. Wenn sie vielleicht seinen Namen herausbekommen könnte ...

Als ob er erneut ihre Gedanken gelesen hätte, sagte er plötzlich: „Wir haben uns noch gar nicht bekannt gemacht. Wie heißen Sie?"

„Ireland", sagte sie. „Alice Ireland."

„Miss Alice Ireland?"

„Ja".

Er nickte. „Mein Name ist Charles. Karim Ibn Charles."

„Charles?" wiederholte sie entgeistert. Das klang doch ganz und gar englisch!

„Jawohl, Charles." Ohne zu erklären, wie das mit Karim Ibn zusammenpaßte, warf er ihr einen schnellen, prüfenden Blick zu. „Sie machen den Eindruck, als ob Sie noch nie von mir gehört hätten."

„Das habe ich allerdings auch nicht."

Er musterte sie erneut. „Ach, nun kommen Sie schon!" drängte er. „Falls es aber stimmen sollte: Wieviel wissen Sie von Miss Martin?"

„Ich weiß eine Menge von ihr und kenne sie gut. Wir sind zu Hause in England Nachbarn und waren auf derselben Schule."

„Dann hätte ich besser frageft^sollen: Wieviel wissen Sie von ihren Lebensumständen in Tasenir?"

„Leider lange nicht so viel, wie ich es mir als ihre Stellvertreterin wünschen könnte. Debbie - ich meine Miss Martin - ist ein bißchen schreibfaul."

„Offensichtlich", bemerkte er trocken. „Dann hat sie also nicht zufällig erwähnt, daß sie so eine Art Mieterin von mir ist?"

Alice sah etwas dümmlich drein. „Sie meinen, Sie sind der Grundbesitzer?"

„Das geht wohl daraus hervor, nicht wahr? Wir sind übrigens gleich in Tasenir. An der nächsten Ecke können Sie schon das Minarett der Moschee sehen. Das ganze Land hier gehört, nebenbei bemerkt, mir. Und ein guter Teil des Dorfes auch."

„Ach nein, wirklich?" Alice war nicht ganz bei der Sache. Es kostete sie einige Mühe, aus ihrer Vorstellung das Bild eines rosigen, dicklichen Gutsherrntyps mittleren Alters zu entfernen und dafür das eines ansehnlichen jungen Mannes mit olivfarbener Haut einzusetzen. Wie alt er wohl sein mochte? Sie warf einen verstohlenen Blick auf ihn. Schätzungsweise dreißig. Sieben Jahre älter als sie. Er war also der Besitzer, dem sie nicht auf die Füße treten sollte! Hatte sie das bisher vermeiden können?

Plötzlich schoß ihr ein ganz anderer Gedanke durch den Kopf. Sie begriff auf einmal Debbies Bemerkung keine Frauen! Als Mohammedaner stand ihm ja mehr als eine zu, war es nicht so? Vier, wenn sie sich recht erinnerte.

Laut sagte sie: „Ich wußte natürlich, daß der Grund und Boden nicht dem Heim gehört. Aber ich kannte Ihren Namen nicht."

„Auch nicht meinen Ruf?"

Alice schwieg verlegen. Sie warf einen Blick auf ihn. Zu ihrem Erstaunen umspielte ein schwaches Lächeln seine Mundwinkel.

„Entschuldigung. Die Frage war unfair. Man muß auch Vorurteilen ein gewisses Lebensrecht zugestehen", sagte er, wechselte dann aber sogleich das Thema. „Ich wohne hier natürlich auch. Wenn wir unsere Reisegefährten abgesetzt haben, nehme ich Sie mit zu meinem Haus."

Sie protestierte. „Ach nein, bitte nicht. Lieber gleich ins Heim. Ich bin schon so spät dran ..."

„... daß eine Stunde mehr auch nichts ausmacht", beendete er für sie den Satz. „Sie müssen sich frisch machen, und der Schnitt an Ihrer Stirn hat einen Verband nötig." Mit einem Anflug von Sarkasmus fügte er hinzu: „Ich hätte vielleicht lieber sagen sollen: zu dem Haus meiner verwitweten Mutter. Damit Sie nicht wieder Hintergedanken haben!"

Als sie in die kleine Stadt einfuhren, machte er sie auf die wichtigsten Bauten aufmerksam. „Der Sitz des Forstaufsehers, das Krankenhaus - kein ärztliches Personal, nur zwei Schwestern und ein halbes Dutzend Betten, der Medan - der Marktplatz, und da hinten ..." Er zeigte eine schattige Allee entlang. „... Ihr Heim. Dort drüben ist das Hotel. Ihnen wird aufgefallen sein, daß der Ort keinen rein marokkanischen Charakter hat. Die Franzosen haben vor der Unabhängigkeit einen Luftkurort aus ihm gemacht. Im Winter kann man in größerer Höhe Ski fahren. Einige von den Franzosen, die sich Sommerhäuschen gebaut haben, sind noch hier ansässig. Ich nehme stark an, Sie werden ein paar von ihnen kennenlernen."

Alice war neugierig, wie sein Zuhause aussehen würde. War es auch ein Sommerhäuschen oder vielleicht eine Villa?

Das Gebäude, das sie dann erblickte, übertraf alles, was sie bisher gesehen hatte.

Es lag hinter einer hohen Sandsteinmauer mit einem schmiedeeisernen, reichverzierten Tor. Alices Gastgeber stellte es vor: „Das Dar El Faradis. Sie können es mit Haus des Paradieses übersetzen ..."

Er ließ den Wagen draußen stehen, und sie gingen zu Fuß den von Fächerpalmen gesäumten Weg entlang bis zu einem mit Fliesen ausgelegten Vorhof, in dessen Mitte ein steinerner Springbrunnen sprudelte. Um ihn herum wuchsen blühende Ziersträucher.

Es war dort angenehm kühl und ruhig. Ein Dach aus Bambus hielt die Sonne ab, und die einzigen Geräusche waren das Zirpen der Zikaden und das Plätschern des Wassers.

Der Raum, in den Alice anschließend geführt wurde, wirkte mit all seinen Teppichen, Wandbehängen, Polstern und Sitzkissen wie das Empfangszimmer in einem Palast. Überall leuchtende Farben, blinkendes Silber, funkelndes Glas.

„In diesem Flügel liegt das Zimmer meiner Mutter", erklärte Alices Führer und klatschte zweimal in die Hände, eine Gestej die geradewegs den Märchen aus Tausendundeiner Nacht zu entstammen schien.

Ein junger Maure erschien und verbeugte sich. „Seiyid Karim?"

Nachdem er seine Anweisungen erhalten hatte, kam wenige Minuten später eine Frau herein. Sie war hochgewachsen, genau wie ihr Sohn. Sie ähnelten einander sehr stark. Das blaue morgenländische Gewand, das ihr bis auf die Füße reichte, stand ihr ausgezeichnet. Sie trug einen flachen Korb mit geschnittenen Blumen, den sie absetzte, als ihr Sohn ihr Alice vorstellte.

„Miss Alice Ireland. Meine Mutter Seiyida Charles." Dann trat er zu ihr und erzählte ihr etwas auf arabisch, bis sie ihn unterbrach: „Wir sollten doch lieber Englisch sprechen, Karim."

Sie streckte Alice die Hand entgegen. „Sie haben Schlimmes erlebt, Kind. Wie gut, daß Karim gerade zur rechten Zeit zur Stelle gewesen ist! Ihr armer Kopf! Und Ihr Arm! Er darf mir jetzt nichts weiter erzählen, ehe ich Ihnen nicht gezeigt habe, wo Sie sich waschen und umziehen können. Mit Ihrem Gepäck ist nichts passiert? Gut. Ich schicke Ihnen gleich jemanden, der Ihnen die Wunden verbindet. Dann trinken wir Tee, und danach kann Karim Sie zum Heim bringen."

„Sie sind sehr hilfsbereit, Seiyida Charles. Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll", fing Alice an, folgte ihrer Gastgeberin jedoch brav ins Badezimmer.

Nach dem Bad setzte sie sich vor den großen Wandspiegel und wartete darauf, daß jemand mit Verbandszeug kam. Sie betrachtete sich kritisch. Sie war nicht ausgesprochen hübsch, aber der Kontrast zwischen ihrem braunen Haar und den graugrünen Augen machte ihr Gesicht recht apart. Zudem besaß sie etwas slawisch anmutende Wangenknochen und einen ausdrucksvollen Mund. Mit ihrer Figur konnte Alice durchaus zufrieden sein. Sie war mittelgroß, schlank und gut proportioniert. Ihre Haut war leicht gebräunt, denn in England hatte es ausnahmsweise einmal einen schönen Sommer gegeben.

Natürlich war ihre Sonnenbräune mit der von Karim Ibn Charles überhaupt nicht zu vergleichen. Auch seine Mutter hatte den gleichen Hautton, wie ihn eigentlich nur Südländer maurischer Herkunft aufwiesen. Alice überlegte: Beide besaßen arabische Gesichtszüge, ja, waren höchstwahrscheinlich hier geboren. Andererseits sprachen sie so fließend Englisch, als sei dies ihre Muttersprache. Vielleicht hatten sie Verwandte in England?

Doch für weitere Überlegungen blieb Alice keine Zeit mehr, denn es erschien eine Frau im schwarzen Kaftan, um sich ihrer Verletzungen anzunehmen. Sie machte auf Alice einen ziemlich abweisenden Eindruck, weil sie weder zur Begrüßung ein Wort sagte, noch darauf reagierte, als sich die junge Engländerin später bedankte. Doch sie verband schnell und sehr sanft Alices Wunden.

Nachdem die Frau mit einem kurzen Nicken verschwunden war, richtete Alice ihr Make-up und machte sich dann auf den Weg nach unten. Erstaunlicherweise fand sie sich in dem riesigen Gebäude gut zurecht und landete richtig wieder in dem Raum, wo sie vorhin Seiyida Charles kennengelernt hatte.

Karim Ibn Charles saß auf einer langen, niedrigen Polsterbank, vor ihm stand auf dem Tisch ein großes Silbertablett mit drei zierlichen Teekannen. Daneben war auf einem Spirituskocher Wasser in einem ebenfalls silbernen Kessel aufgesetzt. Es fing bei Alices Eintritt gerade zu sieden an. In der Luft lag ein ausgeprägter Duft von Pfefferminze.

Alices Verwunderung stand ihr offenbar,so deutlich ins Gesicht geschrieben, daß Seiyida Charles sich bemüßigt fühlte, ihrem Gast die Situation zu erklären. Sie lud sie ein, sich neben sie zu setzen, und deutete auf Karim.

„Sie sind jetzt Augenzeuge unserer alten Teezeremonie, mein liebes Kind. Die Tradition verlangt, daß sie von dem Herrn des Hauses vor dem neuen Gast vollzogen wird, damit dieser immer wieder in Freundschaft zu Besuch kommt. Was Karim jetzt aufgießt, ist grüner Tee. Er gibt einen Schluck davon in unsere Gläser, wir kosten ihn, und wenn wir mit seinem Geschmack zufrieden sind, tut er Pfefferminze hinzu, gießt erneut kochendes Wasser auf, und was dabei herauskommt, trinken wir dann."

Die klare bernsteinfarbene Flüssigkeit in dem Glas, das ihr gereicht wurde, fand Alice übersüß, aber äußerst erfrischend.

„Köstlich", sagte sie zu Seiyida Charles, die auf ihre Reaktion gewartet hatte und sich jetzt mit einem Kopfnicken an ihren Sohn wandte, das zu sagen schien: Ich hab's ja gleich gewußt! In Worten drückte sie es jedoch etwas würdevoller aus: „Ihr schmeckt es. Das hatte ich gehofft."

Er zuckte nur mit den Schultern. „Die typische erste Reaktion von Europäern. Später finden sie es dann alle ekelhaft süß!" Alice war verletzt. Wie konnte er sie einfach mit allen anderen über einen Kamm scheren! Sie hatte ein ehrliches Urteil abgegeben, das er mit seiner Bemerkung jedoch total entwertete. Überhaupt hatte dieser Mann eine Art ihr gegenüber an sich, die sie ausgesprochen aggressiv fand.

Seiyida Charles reichte jetzt kleine Mandelkuchen herum, die so stark gezuckert waren, daß sie sogar den süßen Tee noch übertrafen. Während ihr zweimal nachgefüllt wurde, beantwortete Alice die in aller Ruhe gestellten Fragen ihrer Gastgeberin nach Herkunft und Vorleben.

Ja, sie sei in Surrey, in Südengland, zu Hause. In den Ferien sei sie außerhalb ihrer Heimat bisher nur in Spanien gewesen. Doch hätte sie vor ihrer Collegezeit schon ein halbes Jahr in Bordeaux als Au-pair-Mädchen gearbeitet, so daß sie auch ein wenig Französisch könne. Worauf Seiyida Charles bemerkte: „Das werden Sie hier sehr häufig brauchen können." An einer anderen Stelle schaltete sich ihr Sohn ein, als ob er die Antwort erraten würde:

„Stammen Sie aus der Familie Thomas Ireland, der Glas-und Porzellanfirma?"

„Wieso? Ja!" erwiderte Alice überrascht. „Mein Vater ist Besitzer der Firma in der fünften Generation. Kennt man die denn hier auch schon?"

„Das gerade nicht. Ich bin in England gewesen, und der Name ist dort ja wohl sehr bekannt", war seine etwas dürftige und ausweichende Antwort.

Doch Alice hakte nach. Er hatte sie selbst ja erst neugierig gemacht! „Sie waren in England? Haben Sie dort längere Zeit gelebt?"

Er nickte. „So kann man sagen. Ich war drei Jahre auf der Universität in Oxford." Dann stand er ein wenig zu abrupt auf. „Vielleicht sollte ich Sie jetzt doch lieber an Ihr eigentliches Reiseziel bringen."

Alice schüttelte der Hausherrin die Hand, dankte ihr herzlich für Tee und Kuchen und ging dann mit Karim hinaus zu seinem Wagen.

Während er sich auf den Weg konzentrierte, saß sie nachdenklich da. Jetzt fühlte sie sich ein wenig ängstlich und verlassen. Gestern hatte sie den Flug von England her und eine Nacht in einer unbekannten Stadt erlebt. Und der heutige Tag erschien ihr, trotz des sehr realen Unfalls, fast traumhaft. Morgen dagegen hatte sie einen strengen Werktag unter völlig unbekannten Mitarbeiterinnen und Kindern vor sich. Wenn Debbie nur ein ganz klein wenig mitteilsamer gewesen wäre! So tappte sie gänzlich unvorbereitet in die neue Umwelt hinein und ärgerte sich, daß sie Debbie nicht auf Einzelheiten einfach festgenagelt hatte. Nun war es zu spät.

Da sie das Gefühl hatte, Konversation machen zu müssen, fragte Alice, als sie durch einen Hain von Dattelpalmen fuhren: „Wie kommt es, daß sie so gut wachsen in einer Gegend, in der sogar die Flußbetten ausgetrocknet sind?"

„Weil ihre Wurzeln so weit nach unten wachsen, bis sie auf Grundwasser stoßen. Das gibt es selbst in der Wüste, man muß nur tief genug gehen. Wir sagen von den Palmen: Sie haben ihre Füße im Wasser und ihre Häupter im Himmel." Er machte eine kleine Pause, dann fuhr er fort: „Das ist so ziemlich die erste Frage, die Europäer hier stellen. Die zweite ..."

Ein weiteres Mal fühlte Alice sich von ihm in ein Klischee gepreßt und - ja, verurteilt. Kühl fragte sie deshalb: „So, wirklich? Dann ersparen Sie mir doch bitte die Mühe, sie zu stellen, ja?"

„Warum das Kamel seinen Kopf so hoch trägt und so ein erhaben hochmütiges Gesicht macht."

„Und warum tut es das?"

„Weil alle Welt von den hundert Namen Gottes nur neunundneunzig kennt, das Kamel aber als einziges Lebewesen auch den einhundertsten."

Die phantasievolle Erklärung gefiel Alice sehr.

„Ach, ist das hübsch!" rief sie unwillkürlich aus.

Ihr Begleiter warf ihr einen fragenden Blick zu. „Hübsch? Meinen Sie das wirklich?"

„Aber sicher!"

„Eigenartig. Aus vielfacher Erfahrung hätte ich von Ihnen erwartet, daß Sie kichern und irgendeine glatte und superschlaue Bemerkung von sich geben würden wie: Aha, deshalb grinst es also so hochnäsig!"

„O nein! Ich finde, Kamele sehen nicht hochnäsig aus, sondern stolz. Und jetzt weiß ich auch endlich, warum."

„Sie tun diese Deutung also nicht als reines Märchen ab?"

„Nein, ich finde, es könnte durchaus ein Grund sein."

„Das wundert mich allerdings sehr", meinte er und rang sich sogar ein freundliches Lächeln ab. Alice freute sich darüber mehr, als der Anlaß es verlangte.

2. KAPITEL

Alice erkannte das Kinderheim gleich wieder, als sie dort vorfuhren, denn Debbie hatte ihr tatsächlich einmal ein Foto davon geschickt. Mit seinen weißen Wänden und blauen Dachziegeln ähnelte es mehr einer Mittelmeervilla als den üblichen marokkanischen Häusern. Es stand auf hohem Fundament inmitten eines stufenförmig angelegten Gartens, der am unteren Ende von einer Dattelpalmenpflanzung begrenzt wurde. Im Garten gab es außer einer Unzahl von Blumen ein Planschbecken und einen teilweise überdachten Spielplatz. Ideal für Kinder - im Moment allerdings war keines zu sehen.

Das Mädchen, das sie an der Tür empfing, war etwa achtzehn Jahre alt. Über ihrem braunen knöchellangen Kleid trug sie eine Schwesternschürze. Auf ihrem Haar, das in zwei langen, schwarzen Flechten auf ihre Schultern fiel, saß eine Haube. Sie blickte überrascht drein, als sie Karim Ibn Charles sah. Dieser begrüßte sie als Sorab bint Khaled und stellte ihr Alice vor.

Das junge Mädchen lächelte und sagte auf englisch: „Wir haben Sie schon gestern erwartet, Miss Ireland. Am Flughafen stand ein Wagen für Sie bereit. Als Sie dann nicht kamen ..."

„Das macht nichts", sagte Alice und erzählte ihr mit Karim Ibn Charles' Unterstützung die Geschichte ihres Mißgeschicks. Karim schloß mit den Worten: „Jetzt kann ich sie wohl ruhig Ihnen überlassen, Sorab."

„Aber natürlich, Seiyid Karim. Ich werde schon für alles sorgen." Sie nahm ihm Alices Gepäck ab, als ob es leere Einkaufstaschen wären.

Alice streckte ihm die Hand hin. „Alsdann, vielen Dank für alles. Ihre Mutter und Sie waren sehr freundlich zu mir."

Er schüttelte ihr die Hand und verbeugte sich. „Es war uns ein Vergnügen."

Wie höflich - und wie unpersönlich, dachte Alice. Es war zwar ganz normal, trotzdem - sie wußte nicht zu sagen, warum - hätte er sie gern ein bißchen herzlicher behandeln dürfen. Ein bißchen mehr so wie seine Mutter, die der Hoffnung Ausdruck gegeben hatte, Alice würde ihr Haus in Freundschaft wieder besuchen. Sie sah ihm nach, bis er seinen Wagen erreicht hatte. Aber er blickte nicht zurück.

Als Sorab vor ihr die Treppe hinaufging, fragte Alice: „Wo sind denn überhaupt die Kinder? Ich sehe kein einziges."

„Die sind jetzt alle beim Abendbrot. Sie gehen früh zu Bett. Möchten Sie sie sehen, wenn ich Ihnen Ihr Zimmer gezeigt habe?"

„Gern. Sie können jeweils zwanzig aufnehmen, nicht wahr? Wie viele sind denn jetzt gerade hier?"

„Fünfzehn. In ein paar Tagen kommen neue. Hier - das ist Ihr Zimmer. Gefällt es Ihnen?"

Alice blickte sich um. Sie war angenehm berührt. Der Raum war hell und kühl. Bastmatten auf dem Boden, Möbel aus Bambusrohr. Die Decke auf dem Bett war aus farbiger Wolle gewebt. In einer Ecke ging eine Duschkabine ab, und das Fenster blickte hinaus auf den Garten. Es war ganz sicherlich Debbies Zimmer, aber die hatte sich nie die Mühe gemacht, es zu beschreiben.

„Es wird mir schwerfallen, hier wieder auszuziehen", beantwortete sie Sorabs Frage und fügte hinzu: „Warten Sie auf mich, ja? Auspacken kann ich nachher, ich will mir nur eben mit dem Kamm durch die Haare fahren. Alles übrige habe ich schon im Dar El Faradis gemacht."

Während sie sich kämmte, lächelte sie Sorab im Spiegel zu. „Wie kommt es eigentlich, daß Sie so gut Englisch sprechen?"

„Weil ich seit meinem dritten Lebensjahr bei den Schwestern in Tetuán gelebt habe. Ich spreche und verstehe natürlich Arabisch, aber ich rede lieber Englisch."

„Darüber bin ich ganz froh. Sie werden mir sehr helfen müssen. Ich kann zwar ein bißchen Französisch, aber überhaupt kein Arabisch." Alice drehte sich zu ihr um. „Wissen Sie, ich habe bisher großes Glück darin gehabt, Menschen zu finden, die fließend Englisch sprechen. Zum Beispiel Seiyid Ibn Charles und seine Mutter. Übrigens: Spricht man ihn mit Seiyid Ibn Charles an, so wie man bei uns Mr. Charles sagen würde?"

„Mit Seiyid schon, aber hier in Tasenir ist er allgemein als der Seiyid Karim bekannt." Sorab zögerte einen Moment. „Und es ist kein Wunder, daß er so gut Englisch spricht. Immerhin ist er eher Engländer als Araber."

Alice war zwar durch den Namen Charles schon halbwegs darauf vorbereitet, dennoch verschlug ihr die Bestätigung ihrer Vermutung einen Augenblick lang die Sprache.

„Er ist Engländer, sagen Sie?" fragte sie dann. „Aber seine Mutter - die doch ganz gewiß nicht?"

Sorab schüttelte den Kopf. „Nein, die Seiyida Charles ist Marokkanerin - geboren im Dar El Faradis, dem Haus ihres Vaters. Aber wenn man als Sohn eines Engländers in England geboren wurde, dann ist man doch wohl Engländer, nicht wahr?"

Alice schwieg. Seiyid Karim in seiner nordafrikanischen Aufmachung, der in Aussehen und Gebaren so ganz orientalisch wirkte, hatte mehr als einmal von wir und uns gesprochen, wenn es um die Bewohner dieses Landes ging. Dabei hätte er doch auf ihre Frage nach seiner Beziehung zu England schlicht und offen antworten können, daß er väterlicherseits Engländer sei.

Er hatte es aber nicht getan. Und auch seine Mutter, die sonst so frei heraus und freundschaftlich mit ihr gesprochen hatte, war mit keinem Wort darauf eingegangen. Was steckte hinter dieser geheimnisvollen Zurückhaltung?

„Vielleicht hätte ich Ihnen das lieber nicht verraten sollen, da Seiyid Karim Ihnen ja auch nichts davon erzählt hat", meinte Sorab nach leicht betretenem Schweigen. „Sie werden jetzt denken, ich bin ein altes Klatschweib."

Alice beruhigte sie. „Ganz bestimmt nicht! Wenn Sie es von ihm wissen, kann es wohl kaum ein Geheimnis sein. Ich fand es im Moment nur etwas seltsam, daß er sich nicht als Engländer zu erkennen gegeben hat, als er in mir eine Landsmännin entdeckte."

Andererseits: Warum sollte er gleich zu Anfang ihrer Bekanntschaft damit herauskommen? Sie tat ihm sicherlich unrecht und empfand sich selbst als überempfindlich. Außerdem ging es sie im Grunde nichts an. Aber dennoch ...!

Das Wort Versteckspiel kam ihr in den Sinn, doch verwarf sie es gleich wieder. Es war unfair. Und wenn sie jetzt bei Sorab noch weiter nachbohrte, dann würde sie ganz entschieden selbst ein Klatschweib sein. Sie wechselte deshalb das Thema, indem sie vorschlug, zu den Kindern zu gehen. Auf dem Weg in das Erdgeschoß fragte sie: „Darf ich Sie einfach Sorab nennen und den Rest Ihres Namens weglassen?"

„Aber natürlich. Das andere - bint Khaled - heißt sowieso nur die Tochter Khaleds. Bei Männern bedeutet das Wort Ihn: der Sohn von. Wenn ich heirate, nehme ich den Namen meines Mannes an und werde eine Seiyida. Ja bitte, nennen Sie mich nur Sorab. Ich habe das gern."

Karim Ibn Charles. Also hatte er seinen englischen Familiennamen so in die marokkanische Form eingepaßt, daß er echt klang. Wozu das alles? dachte Alice. Laut sagte sie: „Danke. Wie wurde denn Miss Martin hier genannt?"

„Miss Deborah."

„Dann möchte ich bitte Miss Alice sein!"

Im Speisesaal saßen die Kinder an einem langen Tisch, dessen Kopf- und Fußende von zwei noch ziemlich jung aussehenden Mädchen eingenommen'wurde. Sorab stellte sie Alice als Rachma und Miriam vor, zwei Einheimische, die jeden Tag kamen, um beim Kochen, Saubermachen und Beaufsichtigen der Kinder zu helfen.

Die Kinder selbst blickten bei Alices Eintritt nur kurz und neugierig von ihren Schüsseln hoch. Deren Inhalt hatte stärkere Anziehungskraft. Sie waren etwa zwischen sechs und zehn, schätzte Alice. Alle trugen sie die gleichen blauen Kittel. Die Jungen hatten eine runde, randlose Kappe auf, die Mädchen liefen mit Zöpfen herum. Die Sprache der Kinder war ein phantasievolles Gemisch aus Arabisch und Englisch.

Alice sah ihnen eine kleine Weile stumm beim Essen zu, wobei sie sich fragte, wann sie in der Lage sein würde, diese vielen runden Augen und Pausbacken auseinanderzuhalten. Sorab lenkte sie von diesem Gedanken ab, indem sie mit ihrer Führung durch das Haus begann.

In der Küche herrschte Sarepta, eine üppige Marokkanerin mittleren Alters, die keinen Zweifel daran ließ, daß sie äußerst beschäftigt war. Sorab verstand und zog sich mit Alice gleich wieder zurück. „Sarepta nimmt ihre Arbeit sehr ernst", erzählte sie. „Sie hatte einen französischen Koch als Lehrmeister und kann alle Gerichte zubereiten, ob französische, marokkanische oder sonst welche. Auf ihrem Gebiet ist sie klasse, aber Miss Deborah sagt immer, da wo wir anderen Menschen Blut haben, fließt bei ihr Bechamelsoße."

Alice mußte über den Scherz lachen, wurde durch ihn jedoch gleichzeitig an Debbie erinnert und deren Unterlassungssünden. Statt von Sorab hätte sie von ihr schon einen großen Teil erfahren müssen - zum Beispiel über den Tagesablauf der Kinder.

„Also nach dem Aufstehen und Anziehen, bei dem wir ihnen helfen, gibt es Frühstück", erzählte Sorab. „Milch und Brötchen. Die Gesunden gehen dann raus zum Spazierengehen oder Spielen. In dieser Zeit kommt zu den anderen der Arzt."

„Wer ist das denn? Wohnt er hier?"

„In Tasenir, ja. Er ist Franzose, Dr. Renair. Er macht Visite im Krankenhaus, falls dort Patienten liegen, und kümmert sich um alle Dörfer in der Umgebung."

„Ach so. Und wie geht es bei den Kindern weiter?"

„Miss Deborah versammelt sie im Garten oder Spielzimmer um sich und erzählt ihnen ein altes englisches Märchen."

„Verstehen sie denn schon richtig?"

„Aber gewiß. In Tetuán bei den Schwestern hören und sprechen sie den ganzen Tag Englisch. Sie werden auch darin unterrichtet. Aber wenn sie groß sind, lernen sie gleichzeitig außerhalb der Schule ein altes marokkanisches Handwerk - Weben oder Silbergravur oder Lederbearbeitung."

„Haben sie denn hier auch Unterrichtsstunden?"

„Nein, hier sind sie nur in den Ferien. Aber sie haben alle eine Aufgabe, der sie sich jeden Tag eine Stunde lang widmen müssen, zum Beispiel Gartenarbeit, Saubermachen oder Nähen. Dann spielen sie wieder bis zum Abendbrot, nach dem sie bald zu Bett geschickt werden. Rachma und Miriam bleiben abwechselnd noch hier, um aufzuräumen." Sorab blickte aus dem Fenster. „Heute abend geht Rachma früher nach Hause. Hussein, der Gärtner, wartet. Sie sind miteinander schon lange befreundet."

Alice war überrascht. „Dürfen denn junge Leute hier allein Zusammensein?"

„Heutzutage schon - mit dem Jungen oder Mädchen, mit dem ihre Eltern einverstanden sind. Das Mädchen muß seine Mitgift sicher haben, der junge Mann muß nachweisen, daß er genug Geld verdient, eine Frau unterhalten zu können."

„Oder vielleicht noch mehr als eine?"

Sorab lachte laut heraus. „Unsere Männer sind keine Berbernomaden mehr, die vier Frauen für Herde und Zelt brauchen. Wenn Hussein Rachma heiratet, ist und bleibt sie seine einzige Frau. Für gewöhnliche Leute sind die Tage des Harems schon längst vorbei."

„Und für die Reichen?"

„Auch für die. In den alten Herrschaftshäusern gibt es zwar noch die abgetrennten Frauengemächer, aber sie werden nicht mehr benutzt, und ein wohlhabender Mann - wie der Seiyid Karim - heiratet bestimmt nur einmal eine Frau."

„Und Sie sagen ja, er ist sowieso Engländer", murmelte Alice.

„Schon. Aber er lebt nach marokkanischer Sitte, und alle betrachten ihn als einen von uns."

„Er wird voll als Marokkaner akzeptiert, obwohl er von Geburt halb Engländer ist?"

Sorab lächelte. „Da er es so wünscht, wäre es schwierig für Tasenir, ihn nicht zu akzeptieren - wenn man bedenkt, daß ihm das ganze Land gehört und daß fast alle Leute hier für ihn arbeiten. Er ist auch der Besitzer dieses Hauses, wissen Sie."

„O ja, ich weiß." Alice war nahe daran, Sorab zu fragen, ob sie den Grund der Reibereien zwischen ihm und Debbie kannte. Doch dann beschloß sie, lieber selbst herauszufinden, auf welchem Gebiet sie und Karim Ibn Charles in Zukunft die Klingen kreuzen würden. Wenn es überhaupt so weit kam. Vielleicht bestand zwischen ihm und Debbie nichts als eine instinktive Abneigung. Es war nicht unbedingt gesagt, daß sich zwischen Alice und ihm eine ähnliche Gegnerschaft entzünden mußte ...

Am nächsten Vormittag half Alice überall mit, um sich einzugewöhnen. Sie saß gerade in ihrem Zimmer und ging die Anwesenheitslisten durch, als nach kurzem Klopfen ein Europäer bei ihr eintrat.

„Ich bin Yves Renair, der Arzt. Sie sind ganz gewiß Miss Ireland. Willkommen in Tasenir", sagte er auf englisch und streckte ihr die Hand hin.

Alice gefiel sein fester Griff und sein offenes Lächeln. „Danke", sagte sie.

„Sie sehen aus", sagte er, „als ob Ihnen schon nach zwei Tagen in Marokko ein Mann im Straßenanzug ungewöhnlich vorkommt."

„Habe ich Sie so angestarrt? Ach, das tut mir aber leid", entschuldigte sie sich lachend. „Ich wunderte mich nur, warum Sie hier sind. Heute gibt es nämlich gar keine Patienten für Sie."

„Einen schon, einen weiblichen, und zu dem bin ich auch geschickt worden. Ich meine Sie!"

„Sie sind zu mir geschickt worden?"

„Von dem Eigentümer dieses Grundstücks, Karim Ibn 'Charles. Um Ihnen eine Tetanusspritze zu geben."

„Das ist doch bestimmt nicht nötig!"

„Aber ja doch! Karim hat mir übrigens am Telefon gesagt, seine Mutter hätte Ihnen versprochen, ihn selbst zu schicken. Er meinte jedoch, ich sei für Sie als Arzt im Moment mehr von Nutzen, und er hofft, Sie entschuldigen ihn."

„Ja, natürlich." Bis zu diesem Augenblick hatte Alice sich selbst nicht eingestanden, wie neugierig sie auf eine zweite Begegnung mit Karim gewesen war. Jetzt war sie richtig ein bißchen enttäuscht.

Der Arzt drehte sie dem Licht zu. Während er ihre Wunden untersuchte, die er beide harmlos fand, unterhielt er sich weiter mit ihr.

„Sie haben früh Bekanntschaft mit Ihrem Hauswirt geschlossen. Was halten Sie von ihm?"

Alice wählte ihre Worte sorgfältig. „Er war sehr freundlich und hilfsbereit, ebenso seine Mutter. Aber alles an ihm -seine Kleidung, seine Manieren, sein Haus - ließen mich denken, er wäre Marokkaner. Erst später habe ich erfahren, daß er väterlicherseits Engländer ist."

„Von wem erfahren - von ihm doch nicht?"

„Nein, von Sorab bint Khaled, als ich sein perfektes Englisch erwähnte."

„Nun ja, man weiß es von ihm, aber er verbreitet es nicht gerade öffentlich."

„Warum eigentlich nicht?"

„Warum sollte er?"

Alice hatte das Gefühl, sie müßte ihre Frage "rechtfertigen. „Ich hätte es nur für natürlich gehalten, daß er es mir sagte, als er meine Nationalität erfuhr."

„Doch wohl nicht, wenn er Marokko als seine Heimat betrachtet - und das ist, glaube ich, der Fall." Dr. Renair schloß seine Tasche. „Das soll kein Tadel sein. Ich kenne Karim und Seiyida Charles seit Jahren. Er spricht sehr wenig von sich selbst. Übrigens - darf ich hoffen, daß wir uns hin und wieder auch außerhalb des Dienstes sehen?"

Auch wenn seine Bemerkung nicht als Tadel gemeint war, hatte Alice ihn doch als solchen empfunden. Sie war deshalb froh über den Themenwechsel. „Sie dürfen" sagte sie. „Sorab hat mir erzählt, Sie wohnen in Tasenir?"

„Ja, bei einem Bekannten. Ich bin nicht verheiratet. Ich habe ein paar Räume im Hause des Forstaufsehers am Rande des Ortes. Er ist ebenfalls Franzose. Hat übrigens Schwierigkeiten, seine Stellung zu behalten. Die Regierung übt ziemlichen Druck aus, ihn durch einen Marokkaner zu ersetzen. Sind ziemlich nationalistisch gesinnt in letzter Zeit, die Leute. Möglich, daß er hier keinen anderen Posten mehr bekommt. Dann muß ich mit ihm meine Koffer packen und nach Frankreich zurück. Aber reden wir von etwas anderem: Wollen wir am Sonntag hinunter in die Stadt fahren oder über die Berge? Zum Mittagessen?"

Alice äußerte Bedenken. „Ich möchte nicht gern gleich zu Anfang so lange fortbleiben. Vielleicht für eine oder zwei Stunden nach dem Essen, wenn die Kinder Mittagsschlaf halten."

„Dann schaffen wir es nicht in die Stadt und wieder zurück. Aber - wie Sie meinen. Ich hole Sie dann am frühen Nachmittag ab und bringe Sie vor Sonnenuntergang wieder zurück. Sollte Ihr Arm Ihnen wegen der Spritze bis dahin Kummer machen, geben Sie mir Bescheid."

Nachdem er sich verabschiedet hatte, sah Alice sich nach den Kindern um und fand sie gerade im Begriff, zu einem Spaziergang mit Miriam aufzubrechen. Impulsiv sagte sie: „Kann ich sie nicht ausführen? Oder vielmehr: mich von ihnen ausführen1 lassen? Sie kennen doch sicherlich alle die besten Wege."

„Natürlich", sagte Miriam. „Und an den Kreuzwegen haben sie der Reihe nach die Wahl, welcher Pfad eingeschlagen werden soll. Heute liegt sie bei ..."

„... Ali!" beendete ein schriller Chor von Stimmen ihren Satz. Ali war zehn Jahre alt, und der Übermut blitzte ihm aus den Augen. Er übernahm die Führung, und der Trupp trottete hinter ihm her durch das rückwärtige Gartentor.

Einmal im Freien, liefen die Kinder in alle Richtungen auseinander. Alice hatte ziemliche Mühe, sie zusammenzuhalten. Erst an der Stelle, wo der Weg sich gabelte, bildeten sie wieder eine Gruppe. Nun durfte Ali die Route wählen.

„In den Dattelpalmenhain", verkündete er wichtigtuerisch.

Seine Wahl wurde mit fast einmütiger Begeisterung aufgenommen. Nur Zoe, ein kleines, schüchternes Mädchen, erhob protestierend seine dünne Stimme: „Ich will aber nicht in den Dattelpalmenhain!" Doch da Alice sie an der Hand hielt, ging die Kleine dann auch mit.

Die Dattelplantage führte über abfallendes Gelände bis zu einem zur Zeit trockenen Flußbett hinunter. Alice begriff, warum die Kinder diesen Platz liebten. Man konnte dort wunderbar Verstecken spielen, und die Palmen mit ihrer ringförmigen Rinde boten eine ideale Gelegenheit zum Klettern.

Alice sah keinen Grund, es ihnen zu verbieten, denn die Datteln waren noch unreif und hingen auch ganz außer Reichweite. Sie selbst setzte sich auf den Boden und lehnte sich gegen einen Stamm, zählte von Zeit zu Zeit die Köpfe, überließ sich aber sonst ihren müßig wandernden Gedanken.

Auf einmal fiel ihr ein, daß Karim Ibn Charles fast das ganze Land hier in der Gegend als sein Eigentum bezeichnet hatte. Sie fragte sich, ob sie und die Kinder sich vielleicht auch gerade jetzt auf seinem Grund und Boden befänden, da sah sie zwischen zwei Palmen eine hochaufragende Gestalt in einem weiten Umhang auf sich zuschreiten. Es war Karim. Er würdigte die in der Gegend verstreuten Kinder kaum eines Blickes und kam direkt auf sie zu. Sie stand langsam auf, schon im voraus gegen eventuelle Vorwürfe gerüstet.

Was sie dann jedoch zu hören bekam, übertraf all ihre Erwartungen. Er begrüßte sie nicht einmal!

„Sie haben kein Recht, hier zu sein - wissen Sie das nicht?"

Alice zog scharf den Atem ein. „Sie meinen, wir sind in Privateigentum eingedrungen?"

„Genau das!"

„Aber das wußte ich nicht! Woher denn auch? Hier steht keine Tafel, kein Zaun. Und die Kinder wollten zum Flußbett."

„Dahin gibt es andere Wege, wie sie wohl wissen. Sie wissen sicherlich auch, alle, daß jede Dattelpflanzung hier in der Gegend für sie verboten ist."

Alice beherrschte sich mühsam. „Dürfte ich das nachprüfen?" Dann rief sie sofort Ali zu sich.

Ali verbeugte sich verlegen vor Seiyid Karim und sah schuldbewußt zu Boden.

„Ali", fragte Alice dennoch, „wußtest du, daß wir nicht hierhergehen dürfen?"

Ali schwieg und scharrte mit einem Fuß im Sand. Der Fall war leider sonnenklar.

Karim Ibn Charles schickte ihn mit einer Geste fort. „Sehen Sie?" wandte er sich triumphierend an Alice. „Wenn Sie jetzt so freundlich sein wollen, die Kinder einzusammeln, damit ich Sie alle hinausbegleiten kann ..."

Alice unternahm einen letzten Versuch, sich zu behaupten. „Sie werden doch nicht behaupten, daß wir hier irgendwelchen Schaden angerichtet haben?"

Er blickte sie bedeutungsvoll an. „Muß etwa erst Schaden entstehen, damit ich Sie bitten darf, mein Land zu verlassen und in Zukunft nicht mehr zu betreten? Doch wohl nicht! Wenn wir dann also gehen könnten ..."

Jetzt explodierte Alice. „Sie brauchen uns wahrlich nicht hinauszuwerfen, als ob wir Verbrecher wären! Ich finde den Weg auch allein wieder zurück."

„Das möchte ich gern selbst sehen."

Diese Unverschämtheit ignorierend, sagte sie: „Ich möchte doch gerne einmal folgendes klargestellt wissen: Wenn Ihnen, wie es scheint, das ganze Gebiet hier gehört, kann man dann überhaupt irgendwelche Spaziergänge unternehmen? Ich meine, ohne befürchten zu müssen, im nächsten Moment von Ihrem Besitz verjagt zu werden?"

„Reichlich. Es gibt Feldwege, offenes Land, Bergpfade.

Und außerdem gibt es vielbegangene Wege durch Bananenpflanzungen und Orangenhaine, die Sie jederzeit benutzen können."

Alice glaubte, nicht recht gehört zu haben. „Bananenpflanzungen, Orangenhaine? Haben der Herr denn da gar keine Angst, daß die Kinder sich etwas abpflücken könnten?"

„Das tun sie sicherlich alle, wenn das Obst reif ist."

„Und das lassen Sie zu? Warum dann aber ..." Ihr fehlten die Worte angesichts dieser Unlogik. Wollte er nur den großen Mann spielen? Dann sollte er doch! Langsam fand Alice Debbies Abneigung gegen ihn begründet.

Nach der Rückkehr entschuldigte sich Sorab bei Alice und schimpfte Ali tüchtig aus.

„Ich wage allerdings zu behaupten, daß alle anderen das gleiche gemacht hätten", versuchte Alice sie zu besänftigen. „Außer Zoe. Sie konnte nicht schnell genug sagen: Ich hab's ja gleich gewußt!"

Sorab stimmte zu. „Aber mir, Miriam und Rachma gilt der eigentliche Vorwurf. Wir hätten Ihnen sagen müssen, daß die Kinder nicht in die Nähe von Dattelpalmen gehen dürfen. Nämlich wegen der Schlangen."

„Schlangen?" Alices Stimme klang ziemlich entsetzt. „Wie? Wo? Aber er - Seiyid Ibn Charles - hat kein einziges Wort davon fallenlassen! Er hat nur gesagt, daß wir da nichts zu suchen hätten und hat uns einfach hinausgescheucht."

„Das verstehe ich auch nicht."

„Sind die Schlangen denn gefährlich?"

„Manche schon. Man muß sie eben von den harmlosen unterscheiden können. Aber wer könnte das von Ihnen erwarten?"

„Sie glauben, Karim Ibn Charles hat aus diesem Grunde darauf bestanden, uns hinauszubegleiten?"

„Ganz bestimmt. Er wollte Sie beschützen. Aber Sie sagen, er hat seine Gründe nicht erwähnt?"

„Mit keinem Wort." Alice fragte sich allerdings mit einem Anflug von Schuldbewußtsein, wieviel Gelegenheit, seine Handlungsweise zu erklären, sie ihm gegeben hatte. War sie ihm nicht gleich empört über den Mund gefahren?

Sie fragte Sorab: „Wissen denn die Kinder von der Gefahr durch die Schlangen?"

„Gewiß doch. Es ist sinnlos, Kindern Verbote zu erteilen, ohne den Grund dafür anzugeben, meinen Sie nicht auch? Aber Sie wissen ja, wie Kinder sind, wenn sich die Gelegenheit zu etwas Reizvollem bietet, denken sie dann immer an die Gefahr? Das tun wir Erwachsenen ja schließlich auch nicht ..."

3. KAPITEL

Am Sonntag morgen wachte Alice mit dem angenehmen Gedanken auf, den Nachmittag mit Renair zu verbringen. Diese Verabredung hatte noch eine besondere Würze bekommen, denn man bemühte sich von gänzlich unerwarteter Seite her um sie.

Am Tag davor hatte es nämlich einen Telefonanruf aus dem Dar El Faradis gegeben: Die Seiyida Charles lud Alice am Sonntag zum Mittagessen ein. Karim würde sie natürlich abholen. Wann sie sich von ihren Pflichten freimachen könnte?

Alice bedankte sich, lehnte aber ihre Einladung aus denselben Gründen ab, die sie Yves Renair gegenüber angegeben hatte.

„Dann vielleicht für ein, zwei Stündchen nach dem Mittagessen?" fragte Karims Mutter. Und darauf mußte Alice ihr natürlich erklären, daß sie sich bereits zu einem Ausflug mit Dr. Renair verabredet hatte.

„Ach so!" war die Antwort der Seiyida gewesen. „Ja, richtig, Karim hat ihn ja gebeten, sich um Sie zu kümmern. Na dann - vielleicht ein andermal. Jedenfalls finde ich es schade und Karim sicherlich auch." Eine Antwort, die Alice nachdenklich stimmte.

Als Dr. Renair sie abholte, hatte er bereits den Ausflug durchgeplant. Sie würden M'Oumine, eine der alten, mit Mauern umgebenen Städte am Rande der Sahara, erforschen, dort den Sonntagsmarkt besuchen und mit der sinkenden Sonne im Rücken wieder durch die Berge zurückfahren.

Alice fand die Stadt berauschend fremdartig, und Yves Renair erwies sich als der ideale Begleiter. Geduldig blieb er mit ihr stehen, wenn sie sich etwas ansehen wollte, wehrte geschickt Kundenfänger ab und war immer bereit, zu erklären, zu übersetzen, einen Rat zu erteilen. Zum Abschluß ihres Ausfluges tranken sie auf der Terrasse des M'Oumine-Hotels noch ein Glas Pfefferminztee, und Alice dankte Yves Renair strahlend für den gemeinsam verlebten Tag.

Als der Wagen beim Heim vorfuhr, ,kam Sorab herausgelaufen und gab dem Arzt durch Gesten zu verstehen, daß er noch nicht fortfahren sollte. Bei den beiden angekommen, erklärte sie, worum es sich handelte. „Es geht um den kleinen Omar Ibn Souli. Er erbricht sich, mit Unterbrechungen, seit fast zwei Stunden."

Die drei eilten in das Haus.

Nach einer Untersuchung Omars sagte Dr. Renair: „Blinddarmreizung, nehme ich an. Wenn es nur eine Reizung ist, braucht er nicht operiert zu werden. Trotzdem möchte ich ihn gern ein paar Tage zur Beobachtung im Krankenhaus haben. Ich nehme ihn am besten gleich in meinem Wagen mit."

Omar wurde warm eingehüllt auf dem Rücksitz untergebracht. Dr. Renair meinte, von den beiden Mädchen brauchte keines mitzukommen, das Krankenhaus wäre nicht weit, und die Schwestern dort hätten genug Zeit, sich um den Kleinen zu kümmern. Er würde aber noch einmal wiederkommen, um über Omars Zustand Bericht zu erstatten.

Nach einer Stunde war der Doktor wieder da, und Alice lud ihn zum Abendessen ein, um sich ein klein wenig für den schönen Nachmittag zu revanchieren. Nach dem Essen begleitete sie ihn hinaus an seinen Wagen. Während er die Scheinwerfer einschaltete und den Motor anließ, fragte er, wann Omar wieder nach Tetuán zurück sollte.

„Eigentlich Ende der Woche", antwortete Alice. „Aber er darf wohl noch nicht?"

„Lieber nicht. Er kann wahrscheinlich übermorgen schon wieder entlassen werden und braucht auf Wochen hin keine Attacke zu bekommen. Dennoch möchte ich ihn lieber im Auge behalten. Könnten Sie das regeln?"

„Gewiß, ich rufe morgen in Tetuán an." Während ihres Gesprächs erklang in der Stille ganz deutlich das Getrappel von Pferdehufen. Alice und Renair hoben gleichzeitig den Kopf. Pferd und Reiter näherten sich schwarz und schattenhaft, erschienen Augenblicke lang im Lichte der Autoscheinwerfer und huschten vorüber.

Der Reiter hatte schweigend die Hand zum Gruß erhoben, und Alice erkannte ihn, obwohl er diesmal nicht marokkanisch gekleidet war, sondern Reithosen und ein weißes Hemd anhatte. Yves Renair wartete, bis die Hufschläge verklungen waren, ehe er fragte:

„Wissen Sie, wer das war?"

Alice nickte. „Ist aber eine merkwürdige Zeit zum Ausreiten!"

„Für Karim nicht. Ich bin ihm schon häufig nachts begegnet, wenn ich zu einem dringenden Fall unterwegs war." Yves unterbrach sich mit einem Lachen. „Übrigens könnte er genau wie Sie mit gutem Recht denken: Die beiden sind aber noch sehr spät zusammen! Na, wie dem auch sei, ich muß mich jetzt davonmachen. Unternehmen wir bald wieder einen Ausflug oder etwas Ähnliches?"

„Sehr gern!" antwortete Alice und winkte ihm nach, als er losfuhr.

Die Seiyida Charles hielt ihr Versprechen, Alice bald wieder zum Essen einzuladen. Die Dinge im Heim hatten sich eingespielt, so daß Alice diese Einladung annehmen konnte. Von Seiyida Charles war sie sehr eingenommen, und sie hätte ungern ein weiteres Mal abgesagt. Trotzdem löste der Gedanke an den bevorstehenden Besuch ein nervöses Kribbeln in ihrer Magengegend aus, das sie sonst nur vor Examen kannte.

Jedoch die ganze Aufregung war umsonst! Kurz vor dem Datum der Verabredung kündigte Schwester Bernardine aus Tetuán telefonisch an, sie würde zwei Tage heraufkommen, um Alice kennenzulernen und mit ihr alles durchzusprechen, was sie vielleicht auf dem Herzen hätte. Natürlich konnte Alice sich einem so offiziellen Besuch nicht mit dem Hinweis auf eine private Verabredung entziehen, und sie mußte sich also ein zweites Mal bei Seiyida Charles entschuldigen.

Zu ihrer Erleichterung hatte die ältere Dame durchaus Verständnis für ihr Dilemma und verabschiedete sich von ihr freundlich mit den Worten: „Unser dritter Anlauf muß aber gelingen, meine Liebe! Ich freue mich schon darauf."

Schwester Bernardine war, wie sich herausstellte, keine Engländerin, sondern Irin. Sie war ziemlich rundlich, besaß ein fröhliches Gesicht und blinzelte dauernd mit einem Auge. Sie sprach lebhaft und viel, konnte jedoch gleichermaßen gut zuhören. Außerdem nahm sie, wie Alice belustigt feststellte, begierig jeden Klatsch aus Tasenir auf, an den sie herankommen konnte. Aus den Fragen, mit denen sie während der Mahlzeiten Sorab auf den Leib rückte, erfuhr Alice über ihre Nachbarn und deren Lebensumstände mehr, als Sorab ihr bisher berichtet hatte.

Schwester Bernardine erkundigte sich nach den wenigen englischen und französischen Anwohnern des Ortes und seiner Umgebung und fragte ganz besonders nach Benöit Paul, Dr. Renairs Hauswirt.

„Hat der arme Mann immer noch solche Sorgen?"

Seltsamerweise bekam Sorab einen verschlossenen Gesichtsausdruck.

„Falls Sie damit seine bettlägerige Mutter meinen ...", entgegnete sie. „Ja, sie lebt noch!"

Schwester Bernardine schnaubte verächtlich durch die Nase. „Nein, Kind, du weißt ganz genau, ich meine seine unglückselige Angewohnheit, mitunter dem Wein ausgiebig zuzusprechen! Ein feiner Mensch sonst und seiner Mutter sehr ergeben, aber ..."

„Soviel ich weiß, trinkt Monsieur Paul nur mehr, als er sollte, wenn er sich große Sorgen macht", wandte Sorab mit steinernem Gesicht ein.

Schwester Bernardine nickte mitfühlend mit dem Kopf. „Er hat auch eine Menge Kummer zu tragen, der arme Kerl.

Die Krankheit seiner Mutter, und dann weiß er nicht, wie lange ihm die Regierung noch seine Försterei läßt. Sag mir, erweist du Madame Paul immer noch den Liebesdienst, ihr ab und zu Gesellschaft zu leisten?"

Sorab starrte auf ihren Teller. „Ja - an meinem freien Tag."

„Mögest du gesegnet sein dafür. Du bist ein gutes Mädchen. Und wenn es soweit kommt, müssen wir hoffen, daß Seiyid Ibn Charles sich für Benöit Paul verwendet. Als Großgrundbesitzer müßte er doch ein Wort bei der Regierung einlegen können." Schwester Bernardine wandte sich Alice zu. „Haben Sie ihn eigentlich schon kennengelernt?"

„Ja." Alice erzählte die Geschichte ihrer ersten Begegnung. Die zweite hätte sie gern verschwiegen, konnte es aber nicht, weil Sorab immerhin davon wußte. Schwester Bernardine war auch hier ganz Mitgefühl.

„Ach ja, ein schwieriger Mann. Man fragt sich, was ihn so verbittert hat bei all den Vorteilen, die er genießt."

Als Schwester Bernardine wieder abgereist war, ging Alice mit sich zu Rate, was wohl der Anstand Seiyida Charles gegenüber erfordere. Sie kannte sie nicht allzugut und hatte zweimal ihre Einladung ausschlagen müssen. Zu Hause hätte sie ihr wahrscheinlich Blumen geschickt. Aber einen einfachen Blumenstrauß für jemand, dessen Garten von Blüten nur so überquoll?

Dann hatte sie eines Tages, als sie im Garten des Heimes saß, eine Idee. Sie ging sofort ins Haus und fand in der Bücherecke der Kinder, was sie suchte - ein altes englisches Buch mit Abbildungen von Blumengestecken. Hussein, der Gärtner, stellte ihr auf ihre Bitten hin ein solches Gesteck her.

Sie wollte das kleine Werk selbst abgeben. Am späten Nachmittag machte sie sich deshalb zu Fuß zum Dar El Fa-radis auf.

Gerade hatte sie den Marktplatz überquert, als ein Wagen sie überholte, anhielt und wieder bis zu ihr zurücksetzte. Karim Ibn Charles, heute in einer weißen Dschellaba, lehnte sich heraus. „Kann ich Sie irgendwohin bringen?"

„Ach ja, danke. Ich bin sowieso auf dem Wege zu Ihnen nach Hause, um der Seiyida diese kleine Aufmerksamkeit hier zu bringen."

„Wirklich?" Sein Blick streifte das kleine Gesteck in Alices Hand. „Sehr liebenswürdig von Ihnen. Steigen Sie doch ein!"

Auf dem kurzen Weg konnte sich keine große Unterhaltung entwickeln. Karim informierte sie nur, daß seine Mutter gerade einen Besuch im Krankenhaus machte, aber bald wieder da wäre.

Da er ihr die Wahl ließ, entschied sie sich für den Garten. In einem Schaukelstuhl im Schatten einer Zeder ließ sie sich nieder. Er setzte sich jedoch nicht hin, sondern blieb neben ihrem Stuhl stehen, eine Hand auf eine der Streben gestützt.

„Sie sind uns nicht mit Absicht aus dem Wege gegangen?" begann er das Gespräch.

„Aus dem Wege gegangen? Wie meinen Sie das?" Sie konnte es sich natürlich denken.

„Mit Hilfe zweier sehr gelegen gekommener früherer Verabredungen. Nein?"

„Natürlich nicht. Es ist nicht meine Art, jemand absichtlich vor den Kopf zu stoßen."

„Sie wollten also eigentlich nicht absagen? Das überrascht mich, wenn ich an die Empörung denke, in der Sie sich nach unserer letzten Begegnung von mir trennten."

Sie nahm die Herausforderung in seinem Blick an. „Ich glaube, Sie müßten wissen, daß Sie selbst sich diese Empörung zuzuschreiben haben, Seiyid Ibn Charles."

„Mein Name ist Karim."

„Sehr schön - also Seiyid Karim."

„Meine Freunde lassen es bei Karim bewenden."

Sie ignorierte das. Mit seinen Einwänden wollte er sie sicherlich nur aus dem Konzept bringen. Schließlich war es ihm auch gelungen, denn sie mußte jetzt erst nach den richtigen Worten suchen, ehe sie weitersprechen konnte.

„Sie wissen - Sie hätten wissen sollen, wenn Sie mir den wahren Grund genannt hätten, weshalb Sie mich und die Kinder aus Ihrer Anpflanzung vertrieben haben, dann wäre ich dankbar gewesen, anstatt so ... so empört."

„Und Sie sollen wissen", konterte er, „daß ich Sie schon von der Gefahr unterrichtet hätte, in der Sie und die Kinder schwebten, wenn Sie mir ein wenig bereitwilliger gegenübergetreten wären."

„Sie haben mich sofort beschuldigt, in Privatbesitz eingedrungen zu sein."

„Habe ich auch - in der Hitze des Augenblicks. Aus Ärger über Ihre Dummheit, als die ich Ihr Verhalten sehen mußte. Ich konnte ja nicht wissen, daß man Sie nicht gewarnt hatte."

„Und als ich es Ihnen dann sagte, haben Sie es mir nicht geglaubt."

„Ach wo, ich glaubte es Ihnen, sobald Sie den Jungen als Zeugen gerufen hatten. Zu diesem Zeitpunkt hatten Sie sich aber bereits in einen hübschen Sarkasmus hineingesteigert."

„Ich war wütend."

„Zu wütend, um vernünftigen Argumenten noch zugänglich zu sein. Und zu der Zeit war es meine Hauptsorge, Sie sicher aus der Plantage herauszubekommen. Außerdem wußte ich ganz genau, daß Sie zu jemandem laufen würden, um dort Ihr Herz über meinen Starrsinn auszuschütten, und daß Sie bei dieser Gelegenheit erfahren würden, wie gut zumindest meine Motive gemeint waren."

Wieder diese Überheblichkeit, ihre Reaktionen vorhersagen zu können! Wußte er gar nicht, wie aufreizend das war? Er hatte allerdings recht. „Na ja, da ich Ihre Haltung völlig unerklärlich fand, habe ich Sorab bint Khaled davon erzählt, ja, und auch Dr. Renair."

„Ach ja, Dr. Renair. Natürlich ..." Plötzlich beugte er sich zu ihr nieder, legte einen Finger unter ihr Kinn und hob ihr Gesicht an, so daß sie ihm in die Augen blicken mußte. Bei einem Mann, den sie besser kannte, hätte es eine Geste der Intimität sein können. Bei ihm jedoch war es nur klinisches Interesse - wie sich herausstellte, als er mit der anderen Hand flüchtig die Narbe an ihrer Stirn betastete und fragte: „Renair hat es nicht für nötig gehalten, die Wunde zu nähen?"

„Nein." Sie fuhr sich jetzt selbst über ihre Narbe, strich dann weiter durch ihr Haar. Warum befand sie sich diesem Mann gegenüber bloß immer so in Verteidigungsstellung?

Jetzt meinte er: „Yves versteht sein Handwerk. Mögen Sie ihn?"

„Sehr sogar, und die Kinder lieben ihn. Er hat mir gesagt, Sie hätten ihn zu mir geschickt."

„Ja, ich hielt es für ganz wichtig, daß Sie eine Spritze bekamen. Und weiter?"

„Nun", erzählte sie, „Ihre Mutter wird Ihnen berichtet haben, daß ich an dem Nachmittag, an dem sie mich einladen wollte, mit ihm verabredet war. Er ist mit mir durch die Berge und in die Ebene nach M'Oumine gefahren."

„Sind Sie bis nach Sonnenuntergang geblieben, um M'Oumine bei Nacht zu sehen?"

„Nein, so lange konnte ich nicht vom Heim wegbleiben. Ach so!" Sie begriff plötzlich seine Frage.

„Ach so - was?" wollte Karim wissen.

„Nichts weiter. Mir fiel nur gerade ein, daß Sie denken müssen, wir wären so lange in M'Oumine geblieben, weil Sie gesehen haben, wie sich Dr. Renair nach einem gemeinsamen Abendessen im Heim von mir verabschiedet hat."

„Ein angenehm intimer Abschluß für einen gemeinsam verbrachten Tag."

„Ja, sehr angenehm", stimmte sie zu. Was ging es ihn an, wenn Dr. Renair ganz auf die Schnelle eingeladen worden war und daß auch Sorab an dem Abendessen teilgenommen hatte! Intim! Was wollte er eigentlich noch alles aus ihr herausbekommen?

Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. „Ach, ich müßte eigentlich ..."

Doch in diesem Moment kam die Seiyida Charles quer über den Rasen auf sie zu. „Meine Liebe, was für eine wunderbare Überraschung!"

Alice streckte ihr das Blumenkissen hin. „Ich wollte Ihnen nur dies hier bringen als Entschuldigung dafür, daß ich Sie zweimal versetzen mußte."

„Für mich?" Seiyida Charles umfaßte das Gesteck mit beiden Händen und murmelte: „Sehr schön, ganz reizend! Gänseblümchen und Stiefmütterchen und Ringelblumen. Fast wie aus einem europäischen Hausgarten. Sieh mal, Karim ..." Sie hob ihm das Kissen entgegen. „Ich weiß, sie wachsen auch hier, aber erinnern sie dich nicht an ...?"

Er runzelte die Stirn. „Jaja, typisch englisch", war sein knapper Kommentar.

Seine Mutter warf ihm einen forschenden Blick zu und erzählte Alice dann: „Wir hatten genau solche Blumen in unserem Garten in England. Wir lebten dort auf dem Lande, bis mein Mann starb, als Karim gerade fünfzehn war. Sie haben schon davon gehört, nehme ich an, daß sein Vater Engländer war?"

„Ja. Es hatte mich verblüfft, daß Sie beide so perfekt Englisch sprechen, deswegen habe ich mich bei Sorab bint Khaled erkundigt. Wo haben Sie in England gewohnt, Seiyida?"

„In der Grafschaft Essex. Kennen Sie sie? Unser Haus war früher eine Wassermühle gewesen, und daneben lag ein Teich mit Enten. Karim hat jeder einen eigenen Namen gegeben. Aber eines Abends wäre beinahe etwas Fürchterliches passiert. Ein Fuchs - Karim, weißt du noch?"

Er schnitt ihr das Wort ab. „Ja, Mutter, ich weiß. Aber Essex' zahme Enten und ein räuberischer Fuchs liegen schon lange hinter uns, und ich kann mir nicht vorstellen, daß Miss Ireland dieses Thema besonders aufregend findet."

Es entstand eine Pause. „Nein, wahrscheinlich nicht", gab Karims Mutter mit leiser Stimme zu. „Die Blumen haben mich nur so an England und an alles erinnert, weißt du."

„Aber -nach all der Zeit hat das doch wohl keine Bedeutung mehr."

Sie schüttelte den Kopf. „Es hat für dich keine Bedeutung mehr, mein Sohn, weil du es so beschlossen hast. Aber für mich war England ein Teil meines Lebens, ein glücklicher Teil, und ich vergesse ihn nicht so leicht."

„Leicht?" Sein heftiger Ton ließ die beiden Frauen erschrocken zusammenfahren. Nach einem Augenblick sagte seine Mutter: „Es tut mir leid, mein Sohn." Dann brachte sie mit ziemlicher Anstrengung wieder ein Lächeln zustande. „Aber was hast du denn überhaupt Miss Ireland angeboten? Tee? Oder etwa noch gar nichts?"

Alice kam seiner Antwort zuvor, indem sie sagte, sie müsse sowieso gehen. Die Seiyida wollte sie durchaus von Karim mit dem Wagen nach Hause bringen lassen, Alice konnte sie jedoch davon überzeugen, daß sie teilweise auch wegen des Spaziergangs gekommen war und lieber laufen wollte. So trennte sich die Seiyida von ihr mit einem leichten Kuß auf jede Wange.

Die Geschichte mit dem Spaziergang war nur die halbe Wahrheit. Alice wußte jetzt eins: Er hatte England und alles Englische nicht leichten Herzens aufgegeben.

Er hatte darunter gelitten, und das zeigte ihn in einem ganz anderen Licht Vielleicht war er gar nicht so egoistisch und überheblich, wie er immer tat? Wenn sein Exil ihm von außen auf gezwungen worden war, dann verdiente er eher Sympathie als Verurteilung.

4. KAPITEL

Es war für Alice neu gewesen, daß Sorab einen Teil ihrer freien Zeit dazu hergab, Benoit Pauls kranke Mutter zu besuchen. Sorab selbst hatte nie etwas davon erzählt, und auf Grund ihrer sehr abweisenden Reaktion auf Schwester Ber-nardines Fragen erkundigte Alice sich lieber bei Yves Renair darüber.

Yves mußte lächeln. „Ich frage mich allerdings, ob nicht Benoit der eigentliche Anziehungspunkt für Sorab in unserem Hause ist."

Es dämmerte bei Alice. „Wirklich? Ach, deshalb hat sie ihn Schwester Bernardine gegenüber so verteidigt! Trinkt er denn wirklich so viel, wie Schwester Bernardine behauptet?"

„Gelegentlich schon", gab Yves zu. „Aber nur wenn die Angst über ihn hereinbricht, er könnte seinen Posten verlieren und hier draußen keinen anderen mehr bekommen, denn seine Mutter ist völlig abhängig von ihm."

„Schwester Bernardine hat den Vorschlag gemacht, man solle deswegen den Seiyid Karim bitten, daß er sich bei der Regierung für Benoit Paul verwendet. Meinen Sie, er würde das tun?"

„Wer weiß? Es hat hin und wieder Reibereien zwischen ihm und Benoit gegeben. Wegen Steinschlag, niedergerissenen Weidezäunen und ähnlichen Dingen, die Benoit nicht gemeldet hat." Yves wechselte das Thema. „Aber wir sprachen von Liebe ..."

„Ja?" fragte Alice mit leicht angehaltenem Atem.

„Natürlich - von der zwischen Sorab und Benoit. Übrigens, Sie müssen eines Tages mal zu uns zu Besuch kommen!"

„Wieso?"

„Na ja, zwei ungeschickte Junggesellen, die für sich und eine bettlägerige alte Dame den Haushalt führen. Wenn auch einer von ihnen sich mit Heiratsplänen trägt, aber erst noch den Mut aufbringen muß, das Mädchen zu fragen."

„Welcher von beiden wäre das?"

„Nun - Benoit natürlich."

„Und der andere?"

„Im Moment noch ohne Pläne und Aussichten in dieser Richtung."

„Aber gewiß doch mit Absichten?" neckte Alice ihn.

Er schüttelte den Kopf. „Um Absichten zu haben, braucht man erst Hoffnungen, und selbst dafür ist es noch zu früh." Als sie ihm zum Abschied die Hand gegeben hatte, ging er zur Tür hinaus, steckte dann aber noch einmal seinen Kopf ins Zimmer:

„Und falls es einmal soweit kommen sollte, wäre Benoit nicht der einzige, der Mut braucht!" Ein Satz, aus dem Alice nicht ganz klug wurde.

Es war ein paar Tage später, als sie von einigen Besorgungen für das Heim aus dem Dorf kam, daß ihr Binyeh, eins der Dienstmädchen, sagte, Karim wäre gekommen und warte auf sie.

„Wo ist er?" fragte sie das Mädchen. „In meinem Büro?"

Doch Binyeh verneinte. Als er gehört hätte, Alice sei nicht da, hätte er gesagt, er würde im Garten warten, und soviel Binyeh wußte, hielt er sich noch dort auf.

Alice trat hinaus. Es war die Stunde zum Geschichtenerzählen für die Kinder, und Miriam war heute damit an der Reihe. Aber zu Alices maßlosem Erstaunen war es Karim, um den sich alle im Halbkreis gelagert hatten. Miriam saß auf einem Stuhl daneben. Niemand schien Alices Kommen zu bemerken, so sehr hingen alle an Karims Munde, der unter einem Baum mit gekreuzten Beinen am Boden hockte, ganz wie ein orientalischer Märchenerzähler. Er sprach auch Arabisch, so daß Alice kein Wort verstand.

Trotzdem hörte sie interessiert zu. Immer wieder kam in der Geschichte irgendeine Handlung vor wie Suchen, Trinken, Schlafen. Dann deutete Karim sie mit entsprechenden Gebärden an, und der ganze Zuhörerkreis machte es ihm nach. Und an bestimmten Stellen der Erzählung machte er eine Pause und wartete, bis der gesamte Chor die Sätze wiederholt hatte. Die Kinder schienen sie alle auswendig zu kennen.

Alice rührte sich nicht. Selbst diejenigen, die mit dem Gesicht in ihre Richtung saßen, gaben kein Zeichen des Er-kennens von sich. Als Karim schließlich aufstand, drängten sich alle Kinder um ihn zusammen. Er wehrte sie geschickt ab, doch der begeisterte Lärm ihrer Stimmen dauerte noch minutenlang an, nachdem Alice sich bemerkbar gemacht hatte.

„Ihre Geschichte war ja ein Riesenerfolg", begrüßte sie ihn, als er zu ihr trat. „Ich selbst habe zwar kein Wort verstanden, aber Ihre kleinen Zuhörer waren ganz hingerissen."

„Wir sind ein Volk von geborenen Erzählern und Zuhörern", sagte er leichthin. „Auf diese Weise halten wir unsere Geschichte und Folklore lebendig."

„Die Kinder scheinen auch alles auswendig zu kennen. Ich weiß, in diesem Alter lieben sie Wiederholungen. In unseren europäischen Märchen bekommen sie ja auch reichlich davon ..."

„Und Sie stopfen sie auch ohne einen einzigen Gewissensbiß in die Kinder hinein!"

Alice starrte ihn an. „Gewissensbiß? Was ist denn Schlimmes an Aschenputtel oder Dornröschen?"

„Überhaupt nichts - bei europäischen Kindern."

Plötzlich erkannte Alice, wohin er zielte. Es ging gar nicht um ein paar Märchen, es ging um Vorurteile. Um seine.

„Dem entnehme ich, daß Sie es den Schwestern übelnehmen, wenn sie die Kinder mit englischen Bräuchen vertraut machen."

Er erlaubte sich ein leichtes Lächeln. „Wenn Sie das schon ein, zwei kleinen Bemerkungen entnehmen zu können glauben, müssen Sie entweder hellsichtig sein, oder man hat Sie schon auf meine Ansichten vorbereitet. Wer, frage ich mich. Dr. Renair vielleicht?"

Die jäh in ihrem Gesicht aufsteigende Röte war Antwort genug für ihn. Alice hatte tatsächlich mit dem Arzt über Karim Ibn Charles gesprochen. Zur Verteidigung sagte sie: „Dr. Renair hat mich davor gewarnt, Sie würden einiges nicht billigen. Aber aus welchen Gründen? Sie können doch nicht ernsthaft behaupten, die Schwestern erweisen den Kindern einen schlechten Dienst, wenn sie sie sowohl auf marokkanische als auch auf europäische Tätigkeiten vorbereiten! Indem sie ihnen helfen, in beiden Welten leben zu können!"

Er schüttelte den Kopf. „Man kann nur in einer Welt leben - oder in der anderen."

„Aber es gibt doch nur eine einzige!"

„Geographisch schon. Aber wenn Sie glauben, die Völker in ihr bildeten eine Einheit, dann sind Sie entweder fürchterlich naiv, oder Sie haben Ihr ganzes junges Leben lang bisher den Kopf in den Sand gesteckt", versetzte er, fügte jedoch gleich hinzu: „Andererseits wäre es natürlich freundlicher, zu Ihren Gunsten anzunehmen, daß Sie bis jetzt vor der rauhen Wirklichkeit lieb beschützt worden sind."

Das brachte sie auf die Barrikade. „Sie brauchen mich überhaupt nicht zu schonen", sagte sie bissig. „Meinetwegen bin ich naiv. Ich habe eben dreiundzwanzig Jahre lang geschlafen. Aber ich weiß trotzdem, daß ich recht habe, und damit basta!"

Sie hatten inzwischen die Stufen zum Haus erreicht, als er stehenblieb und sagte: „Nein, ich möchte nicht hineinkommen. Ich bin nur hier, um eine Botschaft meiner Mutter auszurichten." Dann lachte er und fügte hinzu: „Ich sage Ihnen, es steht alles in Ihrem glühenden Gesicht geschrieben -Feuer, Schwert und Aufruhr! Sie zwingen mich wirklich zu glauben, daß Ihre Ansichten echt sind."

„Natürlich sind sie echt!" entgegnete sie entrüstet.

„Meine auch. Und gleichermaßen unerschütterlich. Wollen wir uns also darauf einigen, entgegengesetzter Überzeugung zu sein, und es dabei belassen?"

Es war eine Frage, aber es klang eher wie ein Befehl. Sie nickte nur. Nach einem Moment des Besinnens fragte sie: „Sie bringen mir eine Botschaft von der Seiyida?"

„Eine Einladung. Zum Mittagessen am Sonntag, falls Sie es einrichten können."

„Ich kann. Bitte danken Sie Ihrer Mutter in meinem Namen. Um welche Zeit soll ich da sein?"

„Um halb eins. Ich hole Sie ab, wenn es Ihnen recht ist."

Damit ging er.

Was war es nur, das sie an ihm so herausforderte? Wollte sie nur den Grund erfahren, weshalb er die Welt seines Vaters ablehnte? Sie glaubte es nicht, denn hinter ihrer Neugier steckte noch etwas mehr - eine Art Besorgnis, ein Gefühl der Sympathie. Sie hätte ihn am liebsten gefragt, was ihn so verbittert hatte.

Alice sah dem Sonntag mit gemischten Gefühlen entgegen und konnte nur hoffen, sie würde sich unter seinem eigenen Dache nicht zu unbedachten Worten hinreißen lassen.

Wie es sich ergab, brauchte Alice gar nicht auf der Hut zu sein. Denn als Karim sie zum Dar El Faradis gebracht hatte, und sie von der Seiyida Charles begrüßt worden war, entschuldigte er sich gleich wieder. Er hätte eine offizielle Besprechung mit dem Caid, dem Chef der Gebietsverwaltung, und würde auch in dessen Hause zu Mittag essen. Er wäre aber rechtzeitig zurück, um sie wieder nach Hause zu bringen, sagte er.

„Das tut mir sehr leid", sagte die Seiyida.

„Ich hatte gehofft, Karim könnte Sie nach dem Essen auf unserem Besitz herumfahren. Aber Sie bleiben uns ja noch ein bißchen länger erhalten, und ein Essen zu zweit gibt uns Gelegenheit, uns richtig zu unterhalten - so von Frau zu Frau", fuhr sie lächelnd fort. „Sie müssen mir unbedingt von England erzählen."

Das Essen war für Alice eine wahre Expedition ins Unbekannte. Als Vorspeise gab es in eine knusprige Hülle von Blätterteig gewickelten Reis mit Rosinen. Der Hauptgang bestand aus waffeldünnen Scheiben von Lammfleisch in heißem Honig, gewürzt mit Mandeln und einer Spur von Knoblauch. Den Nachtisch bildeten Pfannkuchen, die so leicht und fein ausgewalzt waren, daß man fast durch sie hindurchsehen konnte. Danach gab es noch kandierte Orangenscheiben und mit Mandelpaste gefüllte Datteln zum Kaffee, zu dem sie sich in das Boudoir der Seiyida zurückzogen.

Während die Mahlzeit aufgetischt wurde, unterhielten sie sich leicht und zwanglos. Alice erzählte von ihren Eltern, plauderte über Haus, Heimat und Freundinnen, und tat ihr Bestes, die Neugier ihrer Gesprächspartnerin in bezug auf das England von heute zu stillen. Seit ihr Mann gestorben war, hatte sie nur hier in Marokko gelebt.

„Das war - ja, vor fünfzehn Jahren", rechnete die Seiyida laut nach.

„Kamen Sie sofort wieder nach Marokko zurück?"

„Nicht gleich. Sehen Sie ..." Die Seiyida zögerte. „... ich hatte Alec gegen den Willen meines Vaters geheiratet, und dieser war zuerst nicht gewillt, mich zu Hause wieder aufzunehmen. Ich hatte Heimweh und war einsam, besaß aber zuviel Stolz, mich ihm mit Karim aufzudrängen."

„Was war Ihr Mann eigentlich von Beruf?" fragte Alice.

„Architekt. Unsere Badeorte hier richteten sich gerade auf mehr Tourismus ein, und ich lernte ihn kennen, als er in Agadir ein modernes Hotel entwarf. Ich trotzte meinem Vater, und wir gingen nach England, wo Karim geboren wurde. Mein Mann hinterließ mir nur sehr wenig Geld. Doch es gelang mir, Karim in der höheren Schule zu halten, indem ich als Modell in einem Londoner Modehaus arbeitete. Als Karim achtzehn war und gerade seine Aufnahmeprüfung für Oxford bestanden hatte, gab mein Vater plötzlich nach und wollte, daß wir beide nach Marokko kämen."

„Und das taten Sie dann auch?"

„Ja. Am Anfang war es schwierig für mich, wieder nach marokkanischer Sitte zu leben. Doch ich sagte mir, nichts könnte meine Bande zu England zerreißen. Ich trug den Namen meines Mannes, und mein Sohn war durch Geburt und Erziehung Engländer. Wenn Karim sich entschlossen hätte, ein englisches Mädchen zu heiraten ..."

„Dann wären Sie froh gewesen?" fragte Alice erstaunt.

„Glücklich wäre ich gewesen!" stimmte die Seiyida zu und lächelte bedauernd. „Denn dann wäre England wieder meine zweite Heimat geworden - durch meine Enkelkinder. Jedoch, gerade am Ende von Karims Studienjahren in Oxford starb mein Vater und vermachte mir das Haus und Karim den übrigen Besitz. Wir waren frei, konnten tun, was uns beliebte. Daher hoffte ich - aber wenn man schon einmal hofft! Als Karim kam, sein Erbe anzutreten, war er völlig verändert. Er wollte nur noch nach marokkanischer Sitte leben. Und ich passe mich ihm zuliebe an."

Dazu sagte Alice nichts weiter. Sie fragte sich, ob es recht von ihr wäre, sich diese Vertraulichkeiten ihrer so sehr viel älteren Gastgeberin anzuhören, die diese möglicherweise später bereute. Doch als wenn die Seiyida ihre Gedanken erraten hätte, sagte sie:

„Ich setze Sie mit diesen Intimitäten in Verlegenheit? Glauben Sie mir, Kind, ich würde sie Ihnen nicht zumuten, wenn Sie nicht neulich unfreiwillig Zeugin unserer Meinungsverschiedenheiten geworden wären. Karims Weigerung, mit mir über England zu reden, mußte Sie eigenartig berühren. Das wußte ich, und es hat mich traurig gemacht."

Alice sagte leise: „Gewundert habe ich mich neulich allerdings, und ich weiß es sehr zu würdigen, daß Sie es mir jetzt erklären, Seiyida."

„Ach, wenn ich es wirklich erklären könnte! Aber ob Sie es mir glauben oder nicht, in den sieben Jahren, die ich jetzt hier mit ihm lebe, habe ich immer noch nicht erfahren, warum er sich so sehr dem Orient zugewandt und dem Westen den Rücken gekehrt hat. Er hat einen Grund, das weiß ich. Auch daß er deswegen gelitten hat. Aber er spricht nie darüber - nicht einmal zu mir."

Darauf erhoben sie sich und gingen in den inneren Hof, um dort einen Blick auf die Blumenpracht zu werfen. Mit dem Rücken zu Alice sprach die Seiyida weiter.

„Wenn ich dieses Haus sehe, diese Gärten, all das Land drumherum, die Menschen, die mein Sohn beschäftigt und unterstützt, dann weiß ich, er tut Gutes, er schafft allen ein annehmbares Leben, nicht nur mir und sich selbst. Und dann gibt es noch eins ..." Sie wandte sich zu Alice herum. „Ich muß immer wieder an ein altes marokkanisches Sprichwort denken, das Sie wahrscheinlich noch nie gehört haben. Es lautet: Wenn die Sonne nicht auf deine Seite des Berges scheint, dann geh ihr um den Berg herum entgegen. Verstehen Sie, was ich damit sagen will, mein Kind?"

„Ich glaube schon. Das Glück kommt nicht von allein, man muß ihm schon entgegengehen, nicht wahr? Oder auch, wenn jemand seinen Standpunkt nicht verlassen kann, sollte man ihm weitgehend entgegenkommen - was Sie bei Karim tun."

Die Seiyida lächelte weise. „Es ist ganz leicht, wissen Sie. Es geschieht ja aus Liebe. Sie werden sicherlich genauso handeln, wenn Sie einmal in so eine Situation geraten."

In der Zwischenzeit hatte sich ihnen ein Hausdiener genähert und teilte der Seiyida jetzt etwas auf arabisch mit.

„Besuch für Karim", übersetzte sie gleich darauf für Alice. „Zwei englische Damen und ein Herr. Ich bin sehr verwundert, Karim hat mir kein Wort gesagt. Aber ich muß. mich um sie kümmern. Abdul sagt, sie warten unten im Garten."

„Soll ich lieber gehen?" fragte Alice, als sie die Treppe hinuntergestiegen waren.

„Aber nein, Kind, durchaus nicht! Karim kann nicht mehr lange ausbleiben. Ich kenne diese Leute ganz flüchtig - zwei von ihnen wenigstens. Captain Rout und seine Frau wohnen hier im Ort. Den Namen der anderen Dame hat Abdul nicht verstanden. Aber weshalb sie uns besuchen ...?"

Die drei unerwarteten Besucher saßen unter der Libanonzeder. Der Mann mittleren Alters erhob sich zackig, als die Seiyida mit ausgestreckter Hand auf die Gruppe zuging.

„Captain Rout und Mrs. Rout. Was für eine angenehme Überraschung!" Ihr Blick glitt zu der dritten in der Gruppe hinüber, und der Captain begriff sofort den Wink.

„Darf ich Ihnen Miss Elaine Kent vorstellen, Seiyida Charles? Sie bleibt den Sommer über bei uns. Wir haben uns letztes Jahr auf einer Kreuzfahrt in Griechenland kennengelernt und sind in Verbindung geblieben. Und wenn ich so sagen darf, ist Miss Kent auch unsere Entschuldigung dafür, daß wir hier so bei Ihnen eindringen. Wir haben von unseren Nachbarn erzählt, wie man das in einem kleinen Ort wie Ta-senir so tut, und dabei stellte sich heraus, daß sie Ihren Sohn gut kennt ..."

„Kannte, Maurice, kannte. Vergangenheitsform bitte!" Die Unterbrechung kam mit künstlich dunkler Stimme von Elaine Kent, die im selben Moment die dargebotene Hand der Seiyida ergriff. Mit einem Aufschlag ihrer hellblauen Augen sprach sie gleich weiter: „Zu behaupten, daß ich Karim noch gut kenne, wäre ganz, ganz falsch. Ich kannte ihn - sogar sehr gut, vor sieben oder acht Jahren etwa. Aber jetzt kann er sich vielleicht gar nicht mehr an mich erinnern. Glauben Sie mir, ich wäre durchaus darauf vorbereitet!"

Die Seiyida zog ihre Hand zurück. „Unmöglich", sagte sie. „Für eine richtige Freundschaft sind sieben Jahre überhaupt nichts, und Karim wird sich über Ihren Besuch ganz bestimmt freuen. Sie haben sich das letzte Mal in England gesehen?"

„Ja, kurz bevor er nach Marokko ging. Nach einer ziemlich langen Bekanntschaft."

„Er ist seitdem nie wieder in England gewesen."

„Und ich bin seitdem immer woandershin gefahren - nach Florida, Cannes, Tirol, Griechenland."

Elaine Kent war ganz gewiß eine attraktive Erscheinung. Silberblondes Haar, in der Mitte gescheitelt und dann in schweren Locken bis in den Nacken fallend. Ein schmales, fein modelliertes Gesicht. Die Bräune ihres geschmeidigen Körpers wurde betont durch die weiße Sportkombination, die sie trug: schulterfreies Oberteil, das ihren Rücken bis zur Taille freiließ, und ein Minirock, der lange, schlanke Beine zeigte. An den Füßen hatte sie Sandalen. Ihre Zehennägel hatte sie wie die Fingernägel silbern lackiert. Sie trug eine Menge Silberschmuck. Alice versuchte, sich ihr Alter auszurechnen. Vor sieben Jahren? Dann war sie jetzt wohl Mitte Zwanzig.

Doch jetzt wurde Alice von der Seiyida herangewinkt und vorgestellt. Dann schlug die Hausherrin vor, gemeinsam Tee zu trinken. Sie verließ die Gruppe kurz, um ihre Anordnungen zu geben.

„Man wird uns den Tee hier draußen servieren", sagte sie, als sie wiedergekommen war. „Mein Mädchen berichtet, Karim sei zurück. Ich nehme also an, er kommt gleich zu uns."

Einen Augenblick lang herrschte Schweigen. Der Captain deutete auf ein Beet mit blühenden Canna-Pflanzen, um seine Frau darauf aufmerksam zu machen. Elaine Kent rückte sich in ihrem Gartensessel zurecht. Alice ließ sich gleichfalls in einem Korbstuhl nieder. Ihre Gastgeberin beschattete ihre Augen mit der Hand und blickte zum Haus hinüber. Alice kam plötzlich der Gedanke, daß sie wie Statisten auf der Bühne Karims, des Hauptdarstellers, Auftritt erwarteten.

Und es wurde tatsächlich eine Szene wie im Theater, als Karim kam. Heute trug er eine weiße Dschellaba, weiße Pantoffeln und einen weißen Fes mit einer leuchtend roten Troddel. Den Kopf hielt er wie gewohnt hoch aufgerichtet, so daß er noch größer als sonst wirkte. Beim Näherkommen war sein Profil mit den strengen Linien Alice zugewendet, und aus irgendeinem sonderbaren Grunde war sie genauso stolz auf ihn wie seine Mutter.

Er war so ganz er selbst, gehörte so vollständig zu der von ihm erwählten Welt Sie mochte anderer Meinung sein als er und seine Überzeugungen für falsch halten. Aber er war eine beeindruckende Persönlichkeit

Er und der Captain nickten sich kurz zu, und vor Mrs. Rout verbeugte Karim sich höflich. Keiner sprach ein Wort, als Elaine Kent mit katzenhafter Anmut aufstand und sich so dicht vor Karim stellte, daß sie beide von den anderen ein wenig getrennt waren.

Dann lächelte sie. Ihr Blick wanderte von Kopf bis Fuß langsam über ihn hin.

„Schön, schön!" schnurrte sie. „Natürlich habe ich schon davon gehört - man hat mir erzählt, daß du in ganz großem Stil Einheimischer geworden bist. Aber wirklich, Karim, nein wirklich! Um alles in der Welt - warum dieses Fastnachtskostüm?"

Später sah Alice ein, daß Karim, als er diese Frage einfach ignorierte, bei allen Anwesenden an Ansehen gewann - außer bei der Frau, die ihm diese Ungezogenheit an den Kopf geworfen hatte. Denn er hatte, als ob sie überhaupt nichts gesagt hätte, ihre Hand ergriffen und gesagt:

„Eine große Überraschung - dich nach so langer Zeit wiederzusehen, Elaine. Willkommen in Tasenir!" Seine Worte klangen so kühl, daß nach Alices Gefühl selbst die hartgesottene Elaine die Zurückweisung spüren mußte.

Doch die war überhaupt nicht aus dem Gleichgewicht zu bringen gewesen und hatte Karim geschickt die Worte im Munde herumgedreht: „Du hast ganz recht, die Zeit war viel zu lang, und wir haben uns so auseinandergelebt, daß es schon nicht mehr feierlich ist! Aber sag mir doch ..."

Und dann hatte Elaine hatte Karims Arm genommen und war mit ihm ein paar Schritte weitergegangen. Den anderen war nichts übriggeblieben, als durch unverbindliches Geplauder ihre Verlegenheit über Elaines geschmacklose Bemerkung zu überbrücken.

Kurz darauf war der Tee gebracht worden, und man hatte sich wieder gemeinsam über allgemeine Dinge unterhalten, bis Alice der Seiyida gesagt hatte, sie müßte gehen.

Auf der Fahrt zurück zum Heim hatte Karim nur die Bemerkung fallengelassen, was für ein Zufall es wäre, daß Elaine Kent, mit der er während seines letzten Jahres in England sehr viel zusammen gewesen war, ihren Sommerurlaub gerade an einem so abgelegenen Ort wie Tasenir in den marokkanischen Bergen verbringen wollte.

Worauf Alice gefragt hatte: „Miss Kent wußte also vor ihrem Besuch bei den Routs gar nicht, daß Sie hier leben?"

Das hatte er mit einem Achselzucken erwidert. „Ach, ich habe es ihr sicher mal erzählt, aber ich hatte nicht erwartet, die Tatsache würde für sie noch irgendwelche Bedeutung haben, nachdem ich England verlassen hatte. Sie mußte mir ja heute auch erst wieder erzählen, wo sie jetzt lebt, und was sie macht. Wir hatten völlig die Verbindung verloren. In sieben Jahren verändert man sich."

Und doch hatte Elaine Kent sofort wieder eine ganz alte Vertraulichkeit aufkommen lassen wollen, von der sie offenbar annahm, sie sei unvergänglich.

Und er hatte es geschehen lassen. Elaine Kent hatte eine Art, lose Fäden aufzugreifen, als ob sie nur darauf warteten, von ihr wieder zusammengeknüpft zu werden ...

5. KAPITEL

Unterdessen war Alice bei ihrer alltäglichen Arbeit in einen gewissen Rhythmus hineingekommen, so daß ihr ihre Aufgaben immer leichter fielen und außerdem mehr Freude bereiteten. Sie und die Mädchen arbeiteten sehr harmonisch miteinander. Miriam und Rachma waren trotz ihrer Jugend außerordentlich verantwortungsbewußt, und mit Sorab verband Alice inzwischen eine echte Freundschaft. Von ihr und aus dem Radio, dem sie an den meisten Abenden gemeinsam zuhörten, lernte Alice ein bißchen Arabisch, und sie fanden endlosen Gesprächsstoff darin, englische und marokkanische Lebensumstände miteinander zu vergleichen.

Eines Abends fiel es Alice auf, daß Sorab ungewöhnlich schweigsam und bedrückt war.

„Du bist sehr ruhig heute abend, Sorab. Stimmt etwas nicht?"

Den Kopf über eine Strickarbeit gebeugt, antwortete Sorab zuerst nicht. Dann wiederholte sie mechanisch: „Ob etwas nicht stimmt? Bei mir? Doch, alles."

„Aber du machst dir Gedanken. Vielleicht sogar Sorgen? Möchtest du mir nicht davon erzählen?"

Sorab blickte endlich auf und ließ ihre Arbeit in den Schoß sinken. „Ich möchte schon", gab sie zu. „Aber es geht gar nicht um mich. Es geht um jemanden, mit dem ich befreundet bin."

„Kenne ich ihn ... oder sie?"

„Nur durch Dr. Renairs Erzählungen, glaube ich. Es ist Benoit Paul, der Hauswirt des Doktors, der Forstaufseher." Alice nickte. „Ja, ich erinnere mich. Schwester Bernardine

hat dich nach ihm und seiner Mutter gefragt, und du sagtest ..."

„Ja, immer, wenn ich kann, gehe ich den beiden helfen", unterbrach Sorab sie. „Er ist ein guter Mensch, mögen die anderen über ihn reden, was sie wollen. Er hat viele Probleme, und jetzt kommt eins auf ihn zu, das er nicht zu lösen vermag."

„Was ist es denn?" Alice ahnte die Antwort schon.

Sorab erwiderte dumpf: „Er ist Franzose, und die Regierung will, daß sein Posten an einen Marokkaner übergeht. Das ist natürlich im Prinzip richtig, aber falsch im Falle Be-noits, da seine Mutter von ihm abhängig ist, und er nicht nur den Posten, sondern damit auch das Haus verliert. Im Herbst, sagen sie, soll er gehen. Aber wohin? Und als was?"

Voller Mitgefühl fragte Alice: „Aber ist das denn endgül- '! tig? Hat nicht Schwester Bernardine vorgeschlagen, daß in diesem Fall Seiyid Karim für Monsieur Paul sprechen müßte?"

„Ja schon, aber das tut er nicht."

„Warum nicht? Hat ihn überhaupt schon jemand gefragt?"

„Siehst du, es ist der Caid, der Benoit sagt, daß er gehen muß, und er wiederum hört von Seiyid Karim, daß ..." Sorab brach ab und biß sich auf die Lippe. „Na ja, daß Benoit seine Arbeit nicht immer so tut, wie er sollte, wenn er zuviel Wein getrunken hat. Das stimmt leider. Aber es passiert nur, wenn er verzweifelt ist, und es würde überhaupt nicht vorkommen, wenn er jemanden neben sich hätte, jemanden, der ihn liebt."

„Du meinst, er braucht jemand, der ihm noch mehr bedeuten würde als seine Mutter? Eine Frau also?"

Sorab wurde rot. „Ich habe dir ja gesagt, er ist ein aufrechter Mensch, und er sagt, er darf keine Frau an sich binden, die er vielleicht nicht ernähren kann."

„Wenn es eine Frau gäbe, die ihn liebt, könnte die nicht bereit sein, das Risiko auf sich zu nehmen?" bohrte Alice nach. „Würdest du ihn heiraten, Sorab, wenn er dich fragt?"

Sorab antwortete mit zitternden Lippen: „Er weiß bestimmt, daß ich es tun würde. Aber er fragt mich nicht."

„Dann, meine ich, solltest du etwas nachhelfen", riet Alice. „Wenn du weißt, es würde ihn retten, wenn du mit ihm verheiratet wärst, kannst du dann nicht zum Caid gehen und ihm die Lage auseinandersetzen?"

„Ich? Zum Caid gehen? Unmöglich!" Sorabs Worte klangen so entsetzt, als ob Alice vorgeschlagen hätte, sie sollte zum Sultan höchstpersönlich gehen.

„Na, dann zum Seiyid Karim, wenn er, wie du sagst, Einfluß beim Caid hat!"

„Auch zum Seiyid Karim nicht."

„Warum das denn nicht?"

„Weil ich als Frau nicht bei einem Mann für jemanden bitten kann, der weder mein Bruder noch mein Vater noch mein Ehemann ist. Es würde gegen den ... Anstand verstoßen", entgegnete das Mädchen schwach.

„Das ist doch wohl nicht zu fassen", regte sich Alice auf. Sorab zuckte nur resigniert mit den Achseln. Alice dachte eine Weile nach. Es mußte doch einen Weg geben, der Freundin zu helfen!

„Dann muß jemand anders für dich und Monsieur Paul sprechen", beschloß sie schließlich. „Dr. Renair zum Beispiel. Er kennt Seiyid Karim gut und würde es, glaube ich, auch tun. Soll ich ihn fragen, wenn ich ihn das nächste Mal sehe?"

Sorab nickte dankbar. „Bitte, ja. Du bist sehr lieb."

Doch das nächste Mal, bei dem Alice und Yves Renair zusammentrafen, waren sie beide so beschäftigt, daß Alice gar nicht dazu kam.

Der kleine Omar hatte wieder einen Anfall, diesmal einen akuten, und mußte schnellstens zur Operation in die Stadt gebracht werden. Dr. Renair bat Alice, ihn zu begleiten und für ein, zwei Tage im Krankenhaus zu bleiben, damit der Junge sich nicht verlassen vorkam. Sie packte rasch die notwendigsten Sachen zusammen.

Im Krankenhaus wurde Omar sofort in den Operationssaal transportiert. Yves meinte aber, er würde auf jeden Fall durchkommen. Dann sorgte er dafür, daß Alice ein Zimmer bekam.

„Was soll ich denn nach der Operation machen?" fragte sie ihn.

„Wenn alles gutgeht, gehört der Tag Ihnen. Sehen Sie sich die Stadt an. Am liebsten möchte ich sie Ihnen natürlich zeigen."

„Das fände ich auch viel netter."

„Dann sparen Sie mir wenigstens einen Teil auf - sagen wir die Altstadt -, in dem ich Sie dann später herumführen kann. Versprochen?"

„Versprochen."

„Ich hole Sie also morgen ab."

Sie wußte, daß sie nicht schlafen konnte, daher legte sie sich nur im Slip auf das Bett und zog die Decke über sich. Sie dachte über Omar nach und wie die Operation verlaufen mochte. Yves hatte gesagt, man würde sie rechtzeitig holen. Erst jetzt fiel ihr ein, daß sie gar nicht daran gedacht hatte, mit Yves über Sorab und Benoit zu sprechen. Nun, morgen war noch Zeit genug ...

Sie hatte nicht einschlafen wollen und merkte erst, daß sie es doch getan hatte, als die Schwester sie aufweckte und ihr sagte, Omar wäre schon seit zwei Stunden im Bett. Er gäbe Zeichen von sich, daß er wieder zu sich käme, und Alice dürfe dann eine halbe Stunde bei ihm sitzen.

Als ihre Zeit bei ihm um war', sagte man ihr, sie könne während der ruhigen Nachmittagsstunden wiederkommen. Der Vormittag stand also zu ihrer Verfügung, und sie beschloß, Yves' Rat zu folgen und sich die Stadt anzusehen. Sie entschloß sich zu einem Schaufensterbummel im europäischen Viertel.

Sie hatte praktisch noch kein Geld ausgegeben, seit sie in Tasenir war. In den Läden dort gab es nur lebensnotwendige Dinge, und die Inhaber machten gar nicht den Versuch, Kunden anzulocken. Hier aber waren die Versuchungen enorm. Die Geschäfte auf den schicken Boulevards waren meist in französischer Hand, einige auch in marokkanischer und gleichermaßen luxuriös. Parfüms, Kleider, Schuhe und Wein in den europäischen Auslagen; Silber, Leder, Teppiche und farbige Wollwaren in den marokkanischen. Preise waren nirgendwo angebracht, und Alice hatte sich schon damit abgefunden, diesen Bummel zu einem reinen Studiengang werden zu lassen, denn hier war bestimmt alles superteuer.

Das heißt, bis sie im Fenster einer kleinen Eckboutique diesen Kaftan ausliegen sah. Sie blieb wie angewurzelt stehen, so entzückt war sie.

Es war ein französischer Laden, aber auf dem Schild an der Robe stand Die wahre Farbe des Propheten. Der Kaftan war grün, mit Fäden in Blau und Silber durchwebt. Rock, Oberteil und Ärmel waren mit breiten Streifen von Silberstickerei besetzt. Es war ein Traumkleid. Aber was konnte es kosten?

Da gab es gar nichts. Sie mußte es wissen. Sie öffnete die Tür des Ladens und ging hinein.

Eine Viertelstunde später trat sie wieder heraus, die Schachtel mit dem Kleid darin an einem Band freudestrahlend hin und her schwingend.

Nach einem erneuten Besuch bei Omar, dem es schon wieder gutging, verabschiedete Alice sich von ihm für diesen Tag, sagte ihm, Dr. Renair würde ihn morgen besuchen kommen, und versprach ihm, daß er bald wieder im Heim sein werde. Schwester Bernardine hatte ihm weitere vierzehn Tage zur Erholung dort erlaubt.

Alice war noch nicht lange wieder in ihrem Zimmer, als ein Botenjunge kam, um ihr zu sagen, in der Halle warte jemand auf sie.

„Auf mich? Sind Sie sicher? Ein Mann oder eine Frau?" Sie war überzeugt davon, der Junge hätte sich geirrt.

„Ein Seiyid Ibn Charles. Und ganz bestimmt für Sie, El Anissa Ireland. Er fragt, ob Sie hier sind, und ich sage ihm, ich kenne Sie von gestern."

Karim? Wahrscheinlich hatte er Yves getroffen, der ihm erzählt hatte, wo sie war. Aber warum ergriff er die Gelegenheit, sie zu sehen? Was wollte er?

Karim saß in einer Nische und blätterte in einer Zeitschrift. Zufällig sah er gerade auf, als sie aus dem Fahrstuhl trat. Er erhob sich und kam sofort herüber zu ihr.

„Ich hatte schon befürchtet, Sie wären ausgegangen oder an Renairs kleinen Patienten gebunden", meinte er nach der Begrüßung. „Wie geht es ihm denn?"

„Ist schon wieder sehr lebhaft. Ich bin gerade erst bei ihm gewesen. Heute abend werde ich ihn nicht mehr besuchen."

„Darf ich dann hoffen, daß Sie den Abend mit mir verbringen werden?"

Ihre Augen weiteten sich fragend. „Mit Ihnen? Sie sind deswegen hier?"

„Ja. Ich übernachte im Menoubia und dachte, wir könnten dort zusammen zu Abend essen."

Das Menoubia! Es war weltberühmt. Die ganze High-Society - Prinzen, Millionäre, Staatsmänner - mitsamt der juwelenschweren Weiblichkeit wohnte, schlemmte und praßte im Menoubia! Wie sollte sie da wohl - und dennoch!

„Das würde mir großen Spaß machen. Treffen wir uns da, oder holen Sie mich ab?" erwiderte sie erstaunlich ruhig.

„Ich komme natürlich hierher. Sagen wir um acht? Müssen Sie irgend jemandem sagen, daß Sie ausgehen?"

„Das wäre, glaube ich, besser."

„Dann also um acht."

Sie sah ihn hinausgehen, den Prinzen, der großzügig mit dem.Aschenputtel tanzen wollte. Aber ob Aschenputtel oder nicht, sie lief außerordentlich beschwingt wieder auf ihr Zimmer.

Das Menoubia! Welch ein Glück, daß sie den Kaftan gekauft hatte. Aber wie stand es mit Schuhen? Mit einer Handtasche? Sie dankte den Landesgesetzen, die hier die Geschäfte abends länger offenhielten, und machte sich erneut zum Kaufen auf - diesmal allerdings an die bescheidenen Tische eines Kaufhauses.

Dort hatte sie früher am Tag absatzlose, pantoffelähnliche Sandalen und dazu passende Handtäschchen aus weichem Leder gesehen, preiswert und in allen Farben. Das grüne Täschchen, das sie sich aussuchte, würde Taschentuch und Lippenstift aufnehmen, und die Sandalen würden unter dem Rand des Kaftans kaum zu sehen sein. Außerdem paßten sie im Stil dazu, auch wenn sie billig waren.

Um acht Uhr übernahm im Krankenhaus gerade die Nachtschicht ihren Dienst, so daß die Fahrstühle alle besetzt waren. Alice ging deshalb zu Fuß die breiten Steintreppen zum Erdgeschoß hinunter. Am Fuße der letzten in der Haupthalle stand Karim und blickte zu ihr hoch. Eine Gruppe von Schwestern und Ärzten kam in diesem Moment eilig vorbei und zwang Alice, sie vorbeizulassen. Als sie so mit einer Hand auf der Balustrade dastand, nahm sie dort Karims Blick entgegen, und sie fand in Karims Augen zu ihrer Überraschung einen Ausdruck, den sie ganz und gar nicht deuten konnte.

Bei einem Mann, der Interesse an ihr zeigte, hätte es Bewunderung sein können - selbst Zuneigung. Aber was war es bei ihm, der sie ja bloß zum Essen eingeladen hatte? Daß sie selbst durch diesen Blick zu dem flüchtigen Impuls befeuert wurde, freudig und ganz ohne Verstellung zu ihm hinunter-zurennen - das konnte er nicht wissen. Und als sie jetzt statt dessen langsam auf ihn zuschritt, senkten sich seine schweren Lider und verbargen, was dieser erste unkontrollierte Blick hatte vermuten lassen.

Als sie auf ihn zutrat, sagte er: „Nachdem ich Sie verlassen hatte, fiel mir ein, ich hätte ja auch ein ruhigeres Restaurant vorschlagen können als das Menoubia, da ich nicht wußte, wie Sie in diesen paar Tagen hier mit Ihrer Kleidung eingerichtet sind, aber wie ich sehe ..."

Sie sah ihn einen Blick auf ihr Gewand werfen und wurde verlegen. „Ich bin heute vormittag regelrecht dazu verleitet worden, es zu kaufen. Natürlich ohne eine Ahnung, daß ich es so bald tragen würde."

„Es ist reizend. Ich hoffe, der Abend verdient es", sagte er und griff dann über ihre Schulter, um ihr die Kapuze des Kaftans über die Haare zu ziehen. „Sie werden das nötig haben, ich habe das Verdeck meines Wagens heruntergelassen. Gehen wir?"

Auf der Terrasse des Hotels wartete schon ihr Tisch auf sie. Im Gegensatz zu dem hellen Glanz der Terrasse lag das Panorama der Altstadt dunkel da, nur von den Lichterreihen der Straßenlaternen erhellt. Karim beschrieb ihr die Szenerie, und dabei kam Alice ein Gedanke.

„Glauben Sie, daß es möglich ist, in eine Stadt oder ein Land verliebt zu sein?"

„Wie in eine Frau? Ja, warum nicht? Warum fragen Sie?"

„Weil ich den Eindruck habe, Sie lieben Marokko auf diese Art."

„Was heißt auf diese Art? Wenn Sie schon mit dem Wort Liebe herauskommen, müssen Sie auch erklären, was Sie darunter verstehen."

Alice wählte ihre Worte sorgfältig. „Ich glaube, dazu gehören Leidenschaft und Zärtlichkeit, der Wunsch, Schutz zu bieten. Daß man Fehler zugibt, sie aber auch akzeptiert. Ja, und auch Freundschaft. Das ist sehr wichtig."

Er hatte ihr aufmerksam zugehört. „Und wenn ich all das für mein Land empfinde, dann liebe ich es?"

„Wissen Sie das denn nicht?"

Er überlegte. „Das ist schwer zu sagen. Ich neige zu der Annahme, man kann Liebe erst dann analysieren, wenn ihr Objekt nicht mehr vorhanden ist. Davor kann man dieses Gefühl nicht zerpflücken. Sie haben versucht, mich davon zu überzeugen, daß man alles empfinden muß, wenn man jemand oder etwas liebt. Mir geht das nicht ganz ein. Diese Gefühle müssen einfach da sein, wenn man jemand liebt, ohne daß sie ins Bewußtsein dringen. Meinen Sie nicht auch?"

Alice wurde mit einem Mal bewußt, wie gefährlich es war, auch nur theoretisch mit einem Mann über Liebe zu sprechen - sie stutzte einen Augenblick und erkannte dann die Wahrheit: mit dem Mann, für den sie das alles, was sie eben aufgezählt hatte, fühlte. Bis zu diesem Augenblick allerdings unbewußt. Sie wehrte sich auch jetzt dagegen. Denn sie hatte Angst. Karim Ibn Charles zu lieben, konnte keine Zukunft haben. Keine.

Sie sah, daß er gespannt auf die Antwort wartete. Aber sie konnte ihm doch schließlich nicht einfach ins Gesicht sagen: Ja, ich liebe dich! So begann sie nur lahm: „Ich weiß nicht, ich ..." und brach ab, als er kurz auflachte.

„Dann haben Sie also nur in Abstraktionen gesprochen? Sagen Sie mal: Haben Sie keine einzige Liebesaffäre hinter sich, auf die Sie sich beziehen können?"

Sie schüttelte stumm den Kopf.

„Auch keine laufende vielleicht in England?"

„Auch das nicht."

Er verzog die Lippen. „Zu dumm. Es ist ein spannendes Thema, und ich hatte gedacht, wir könnten Erfahrungen austauschen. Na, dann vielleicht später, wenn Sie ein paar gesammelt haben."

Es gelang ihr nur schwer zu lächeln. „Vielleicht", meinte sie obenhin und blickte über die Terrasse, um ihm zu zeigen, daß sie genug hatte von diesem Thema, das inzwischen für sie so schmerzlich geworden war.

Während der Mahlzeit hoffte sie, ihr Verhalten verriete nichts von ihren Gedanken. Wenn Karim nicht direkt in ihre Richtung blickte, sah sie ihn heimlich an. Einmal fiel ihr dabei ein, daß sie bei ihrer Beschreibung der einzelnen Bestandteile der Liebe einen noch vergessen hatte - die Neugier.

Denn Neugier - der Drang zu erfahren, Fragen zu stellen -gehörte zur Liebe genauso wie das eigene Verlangen zu erzählen und ausgeforscht zu werden. Das allein schon, dachte sie, hätte mich warnen sollen, als ich Karim kennenlernte. Denn bereits von ihrer allerersten Begegnung an hatte sie in ihm ein Rätsel gesehen, das sie lösen wollte. Sie wollte den Mann kennenlernen, der hinter dieser Maske von Weltgewandtheit, dieser uninteressierten Höflichkeit steckte ...

Ihr war etwas entgangen, das er gerade gesagt hatte, und sie mußte ihn bitten, es zu wiederholen.

„Ich sagte", fing er von neuem an, „Renair wird sich nach einer neuen Behausung umsehen müssen, wenn sein jetziger Wirt ausziehen muß."

Das wirkte wie eine kalte Dusche auf Alice. „So, ja. Ich habe schon darüber gehört. Aber muß Monsieur Paul unbedingt gehen?"

„Auf Anweisung des Caids."

„Ja, das hat mir auch Sorab bint Khaled erzählt, und sie ist sehr unglücklich darüber. Sie glaubt, er verdient es nicht, seinen Posten zu verlieren, mit der kranken Mutter, die er pflegen muß."

„Der Mann trinkt und ist unfähig", sagte Karim kurz.

„Ist er das wirklich? Sorab sagt, er vernachlässigt nur seine Arbeit, wenn er trinkt, und das tut er nur, wenn er sich bis zur Verzweiflung Sorgen macht."

„Haben Sie je einen Mann kennengelernt, der trinkt und nicht die plausibelsten Gründe dafür angeben kann?"

„Ja schon, aber das waren Sorabs Begründungen, die ihn versteht und weiß, daß er im Herzen ein guter Mann ist. Sie weiß ganz genau, er würde nicht trinken, wenn seine Position weniger unsicher wäre. Aber sie hat keine Hoffnung, das jemand anders verständlich zu machen."

„Dann scheint sie ein völlig anderes Bild von ihm zu haben als wir. Wie kommt das?"

Alice blickte auf ihren Teller. „Sie liebt ihn. Sie würde ihn heiraten und ihm zur Seite stehen - wenn er sie darum bäte."

„Der wohltuende Einfluß eines liebenden Weibes, was? Das ist so eine fixe Idee, die bei euch Frauen nicht ausstirbt, scheint es."

Das traf Alice ins Mark. Sie schoß sofort zurück: „Das ist überhaupt nicht komisch. Und auch keine fixe Idee. Das kann geschehen, und es wird geschehen, wenn Benolt Paul Sorab heiratet."

Karims Züge verloren ihre Härte. „Entschuldigen Sie die billige Witzelei", sagte er. „Aber warum will Paul sie denn nicht heiraten? Verrät ihr das ihr Einfühlungsvermögen in seinen Charakter nicht?"

„Sie haben sogar schon darüber gesprochen. Aber er sagt, er hat in seiner Lage nicht das Recht, sie an sich zu binden."

„Und sie glaubt ihm?"

„Natürlich. Sie sind schon lange eng befreundet, und sie kennt ihn."

„Na schön, sie scheint Sie ja ebenfalls überzeugt zu haben. Aber warum versucht sie es dann nicht auf andere Weise? Es gibt immer Wege, sich dem Caid zu nähern. Sie hätte zu mir kommen können."

„Sie wagt es nicht, zum Caid zu gehen. Auch nicht zu Ihnen. Sie sagt, die Sitte Ihres Landes erlaubt es ihr nicht, für einen Mann zu bitten, mit dem sie nicht verwandt ist. Übrigens weiß sie auch, daß Sie in dieser Angelegenheit nicht auf ihrer Seite sind."

„Ich wußte doch gar nicht, daß sie damit zu tun hat. Übrigens - Benoit Paul würde eine Entschädigung erhalten, wenn der Vertrag vorzeitig gekündigt wird, und sollte sich in seinem Alter auch noch einen anderen Posten verschaffen können."

„In Marokko? Dr. Renair sagt, das wird er nicht können."

„Aha, Renair steckt also auch mit darin? Sie haben gleich ein ganzes Komitee gegründet, was? Und spielen hier Abgesandte?"

„Keine Spur", wehrte sie ab. „Sie haben das Thema selbst zur Sprache gebracht. Sorab weiß nicht, daß ich Ihnen etwas erzählt habe, und auch Dr. Renair nicht. Aber vergessen Sie es ruhig. Ich glaube zwar auch, Monsieur Paul wird ungerecht behandelt, aber ich kann mich irren. Sie müssen es am besten wissen."

„So ist es." Damit war für ihn das Thema erledigt.

Obgleich es schon spät war, als sie die Terrasse verließen, war die Nacht noch warm. Der Mond stand nicht am Himmel, aber die Sterne schienen strahlend.

„Lassen Sie uns ein wenig Spazierengehen", schlug Karim vor, eine Hand leicht unter ihren Ellbogen gelegt. „Ich möchte gern, daß Sie die Gärten eines Palastes aus dem zwölften Jahrhundert sehen. Es ist nicht weit. Sie sind wunderschön, besonders nach Einbruch der Dunkelheit, wenn die Bäume als Silhouetten gegen den Himmel stehen und man die Springbrunnen nur noch hören kann." Er unterbrach sich mit einem kurzen Lachen. „Vielleicht haben Sie recht, und ich bin wirklich verliebt - in einen Flecken Erde."

Die Gärten waren zu dieser Zeit ziemlich dunkel. Nur hier und dort beleuchteten Lampen schwach ein paar roh behauene Treppenstufen oder eine Wegkreuzung mit Büschen. Es war so still, daß das Geräusch ihrer eigenen Fußtritte fast unheimlich wirkte. Spannung lag in der Luft, und Alice tat einen tiefen Atemzug, um sich etwas zu entspannen.

„Hm", machte sie, „hier duftet es ja herrlich! Was ist das?"

„Eine Mischung. Jasmin, Myrte vielleicht, und nach einem warmen Tag sind auch die Rosen nicht zurückhaltend."

Er blieb auf einer Steinbrücke über einem künstlich angelegten Fluß stehen und lehnte sich mit dem Rücken gegen die niedrige Brüstung. Auch Alice blieb stehen, mit dem Gesicht zu ihm.

„Verführerisch, was?" sagte er. „Sagt man nicht, daß Mondschein dieselbe Wirkung auf unsere Sinne hat?"

Er sprach diese Worte absichtlich in sarkastischem Ton, das spürte Alice deutlich. Was er wohl damit bezweckte? Meinte er etwa, sie würde der Romantik einer Sommernacht grundsätzlich erliegen? Wollte er ausprobieren, wie dieser Märchengarten aus Tausendundeiner Nacht auf sie wirkte?

„Ich weiß nicht", sagte sie abweisend und wandte sich zum Gehen. Er aber hielt sie am Handgelenk fest und zwang sie stehenzubleiben.

„Das glaube ich Ihnen nicht!" sagte er. „Dies kann doch nicht das erste Mal sein, daß Sie nachts mit einem Mann Spazierengehen. Und ich bin sicher, Sie kennen auch das Risiko, das so ein Unternehmen in sich birgt. Haben Sie so viel Vertrauen zu mir, daß Sie heute vergessen haben, es einzurechnen? Oder sind Sie es sogar mit Absicht eingegangen?"

Sie kam gar nicht erst dazu, empört zu widersprechen, denn blitzschnell drehte er sie zu sich herum und zog sie in seine Arme. Im nächsten Augenblick spürte sie seine Lippen auf ihrem Mund.

Sein Kuß war zuerst hart und fordernd, dann zärtlich und sehr, sehr erregend. Alice, die sich anfangs noch gesträubt hatte, fühlte ihren Widerstand völlig erlahmen. Sie schmiegte sich instinktiv an ihn und erwiderte seinen Kuß.

Nach einer kleinen Ewigkeit lösten sie sich voneinander. Karim hielt Alice ein wenig von sich ab, betrachtete sie eingehend und sagte dann leise:

„Wahnsinn, wirklich total verrückt. Zwei verschiedene Welten - und doch ..."

„Was meinen Sie damit?" Alices Stimme klang noch nicht wieder so ruhig wie sonst. Verlegen räusperte sie sich.

„Ach, das war ganz unwichtig. Nehmen Sie das Ganze einfach als Reflexhandlung."

Alice entzog sich rasch seinem Griff.

„Erstaunlich, wie unkontrollierbar Reflexe sind, nicht wahr?" Sie bemühte sich sehr um einen gleichgültigen Tonfall.

„Ja", erwiderte er achselzuckend, „und mancher lernt's nie, sie zu beherrschen."

6. KAPITEL

Am nächsten Morgen saß Alice in ihrem Büro, als das Telefon läutete, und zu ihrer Überraschung Karim am Apparat war. Ihr Herz hämmerte, als sie ihm antwortete. Dies war die erste Probe für ihre Selbstbeherrschung angesichts seiner kühlen Höflichkeit.

Doch er wollte nur Sorab sprechen. Sie bat ihn, am Apparat zu bleiben, holte das Mädchen und ließ sie allein in dem Zimmer. Wenn sein Gespräch mit Sorab irgend etwas mit Benoit Paul zu tun hatte -und das war gewiß -, dann hatte Yves Renair nicht viel Zeit verloren, in die Arena zu treten. Sie hatte ihm gestern, als er sie aus Tasenir abholte, von ihrem Gespräch mit Karim berichtet. Yves hatte versprochen, auch noch ein gutes Wort für Benoit Paul einzulegen.

Nach einer Weile kam Sorab aufgeregt zu ihr. „Seiyid Karim hat versprochen, er will den Caid bitten, daß er Benoit noch eine Chance gibt! Wenn er bis zum Herbst seine Arbeit ordentlich verrichtet, will Seiyid Karim dafür sorgen, daß er nicht zu gehen braucht!"

„Da bin ich aber froh", sagte Alice zu ihr. „Erst gestern habe ich nämlich Dr. Renair gebeten, für ihn zu sprechen. Er muß sich sofort an Seiyid Karim gewendet haben."

„Dr. Renair?" Sorab blickte erstaunt drein. „Nein, Alice. Seiyid Karim sagt, dir hätte ich alles zu verdanken!"

„Mir? Aber - na ja, ich habe mit ihm gesprochen und versucht, in ihm Sympathie für euch beide zu wecken. Aber ich hatte nicht den Eindruck, es wäre mir gelungen. Bist du sicher, daß es nicht Renair war, der ihn überredet hat?"

„Davon hat er nichts gesagt. Nur, daß ich dir danken muß. Und das tue ich, Alice, das tue ich! Ohne dich hätte Benoit gehen müssen, aber jetzt kann er wieder Hoffnung haben, und ich weiß, er wird sich von nun an nichts mehr zuschulden kommen lassen!"

„Wird er dich denn jetzt fragen, ob du ihn heiraten willst?" neckte Alice sie.

Sorab blickte schüchtern weg. „Das kann ich nicht wissen, ehe er mich fragt, und ich darf nicht vergessen, daß ich ein arabisches Mädchen bin und er Europäer."

„Als ob das für ihn eine Rolle spielt, wenn er dich liebt! Nein - so sehr du dem Heim hier fehlen wirst - ich glaube, im Herbst braucht es eine neue stellvertretende Leiterin!"

„Seiyid Karim sagt, er hofft es gleichfalls", stimmte Sorab zu. „Und er sagt auch, wenn er bis zum Moussem, dem Fest der Verlobten, nicht gehört hat, daß Benoit Paul im Herbst heiraten wird, dann wird er sich einschalten."

„Gut", sagte Alice. „Und wann ist dieses Fest?"

„Sehr bald. Beim nächsten Vollmond", antwortete Sorab träumerisch, und Alice wünschte ihr insgeheim alles Glück dieser Welt.

Am nächsten Tag, als Yves zu seinem offiziellen Besuch kam, wußte er schon, daß Karim beim Caid einen Aufschub für Benoit erwirkt hatte. Karim hätte es ihm telefonisch gesagt, erzählte der Arzt.

Alice nickte. „Ja, ich bin auch sehr froh. Aber sagen Sie mir: Was genau ist das Moussem, und wann findet es statt?"

„Es ist eine öffentliche Verlobungsveranstaltung und wird am vierzehnten, bei Vollmond, gefeiert. Warum?"

Alice berichtete von Karims versteckter Drohung gegen Benoit, und Yves lachte. „Ein guter Termin! Ja, es ist eine Art großes Verlobungsfest, das als öffentlicher Feiertag überall im Lande begangen wird. Der Ort, an dem es am tollsten zugeht, ist Alaksaar in den Bergen. Das ist sehenswert. Würden Sie gern hingehen?"

„Sehr gern. Aber ich muß wohl Sorab den Tag freigeben. Sie ist schließlich diejenige, die sich - hoffentlich - verlobt, und ich nehme doch an, hier wird auch gefeiert, oder?" fragte Alice.

„O ja - Tanz, ein Festmahl unter freiem Himmel, Feuerwerk und so weiter. Schade wegen Alaksaar, aber eine von Ihnen beiden muß wohl hierbleiben."

„Ja, falls etwas passiert. Ich möchte die Verantwortung nicht allein in Rachmas und Miriams Hände legen, und außerdem werden sie wahrscheinlich selbst freihaben wollen."

Widerstrebend gab Yves zu, daß sie recht hätte, und als er gegangen war, verschwendete sie keinen Gedanken mehr an seine Einladung, bis die Seiyida sie ein paar Tage später anrief.

„Alice?" fragte sie mit ihrer dunklen Stimme. „Dr. Renair erzählt uns, Sie fühlen sich unabkömmlich am Tage des Moussem. Was sehr schade ist, denn das ist wirklich ein Schauspiel, das Sie sich nicht entgehen lassen sollten."

„Das sagt er auch. Aber ich kann leider nicht gehen."

„Sie sind sehr großzügig, daß Sie wegen Sorab bint Khaled bleiben wollen! Aber angenommen, ich biete Ihnen an, für Sie den Babysitter zu spielen?"

Überwältigt antwortete Alice: „Ich würde sagen, Sie sind wirklich sagenhaft nett, Seiyida Charles. Aber das kann ich Ihnen eigentlich nicht zumuten."

„Warum denn nicht? Ich bin schließlich selbst Mutter, und mir würde die Sache sogar Spaß machen. Übrigens könnten Sie dann alle zusammen hingehen. Karim fährt mit Miss Kent hin, und ihre Gastgeber, Captain Rout und seine Frau sind ebenfalls dort. Plus Sie und Yves Renair - jetzt sagen Sie mir zuliebe, daß Sie mitkommen, ja?"

Dankbar stimmte Alice zu, und die Seiyida meinte, sie könnten noch verabreden, wann sie in ihre Pflichten eingeführt werden sollte.

Obwohl Karim Elaine Kent kühl empfangen hatte, waren sie sich seitdem offensichtlich wieder etwas nähergekommen. Wohin und wie oft hatte er sie wohl ausgeführt? Die Eifersucht nagte an Alice, und ihre Phantasie malte ihr qualvolle Szenen aus.

Nach zehn Tagen im Krankenhaus kam Omar wieder und brüstete sich vor den anderen mit seinen schlimmen Erfahrungen. Die Zusammensetzung seiner Zuhörerschaft hatte sich jedoch inzwischen verändert. Ein paar Kinder waren abgereist, neue aus Tetuán dazugekommen.

Darunter war ein Zwillingspärchen, Junge und Mädchen, sieben Jahre alt, namens Rassim und Xenia, das von Schwester Bernardine schon von vornherein als Problemfall angekündigt wurde. Die Kinder könnten sich schlecht in eine Gemeinschaft einfügen. Sie hätten wenig Achtung vor fremdem Besitz und schon gar keine vor den Erwachsenen. So-rab, die die beiden von früher her kannte, hielt vor allem das Mädchen für ausgesprochen bösartig.

Die neuankommenden Kinder brachten gewöhnlich ein oder zwei Spielsachen mit sich, die Jungen meist einen Fußball, die Mädchen irgendwelche kleinen Handarbeiten. Doch die Vareh-Zwillinge fielen völlig aus der Reihe. Rassim war nicht von einer Mundharmonika zu trennen, während Xenias Schatz eine zerfledderte Pappschachtel war, in der sie falschen Schmuck, angelaufenes Lametta und Goldfäden, Bänder, Glasperlen und anderen Flitterkram aufbewahrte. Broschen steckten an ihrem Kittel, Talmiringe und -armbänder schmückten ihre Handgelenke und Finger.

Es gab die erste Auseinandersetzung, als beim Besprechen der Hausarbeit Xenia als die Anführerin der beiden festsetzte, Rassim würde Musik machen und sie selbst sich ein Stirnband aus ihren Perlen herstellen.

Alice, von Miriam als Schiedsrichterin herbeigerufen, wies Xenia sanft zurecht. „Rassims Musik ist sein Vergnügen und deins, mit deinen Perlen zu spielen. In der Hausarbeitsstunde machen wir etwas, was allen nützt, nicht nur uns selbst."

Xenia wehrte sich. „Für Rassim ist es nützlich, wenn er übt. Dann lernt er besser spielen. Und mich macht eine Kette mit einem Anhänger - so einem", sie hielt sich eine perlenartige Murmel an die Stirn und schielte danach, „viel, viel hübscher, findest du nicht auch?"

Freundlich, aber entschieden sagte Alice: „Du bist auch so hübsch, ganz bestimmt. Rassim wird Hussein im Garten helfen, während du ein Staubtuch umsäumst."

Xenia versuchte es noch einmal. „Ich kann aber nicht nähen. Ich steche mir in den Finger, und dann weine ich", behauptete sie.

„Und wofür sind Fingerhüte da? Frag Miriam, ob sie dir einen schönen versilberten gibt", versetzte Alice und zog sich zurück in dem Bewußtsein, Haltung bewahrt und diese erste Runde gewonnen zu haben.

Der nächste von Xenia heraufbeschworene Krach hatte schon einen häßlicheren Anstrich. Niraka, eine hübsche Zehnjährige, meldete das Verschwinden einer Brosche, klagte Xenia an, sie entwendet zu haben, und der Schmuck wurde auch prompt in deren Pappschatulle gefunden.

Xenia zeigte keine Scham über den Diebstahl. „Mir gefällt sie. Deswegen habe ich sie mir genommen", gab sie ganz selbstverständlich von sich.

„Ja, aber ..." Alice griff mit der Hand in die Schachtel und angelte einen ungemein geschmacklosen Anhänger aus gelbem Glas heraus. „... mir gefällt das hier auch, aber ich weiß, es gehört dir, deshalb nehme ich es mir nicht."

Xenia machte eine großartige Handbewegung. „Es gefällt dir? Dann gehört es dir. Ich schenke es dir."

„Aber Niraka hat dir ihre Brosche nicht geschenkt. Du hast sie genommen, ohne zu fragen, und jetzt mußt du sie wieder zurückgeben."

„Ich gebe Niraka was anderes."

„Nein, ihre eigene Brosche. Nichts anderes, und außerdem sagst du Niraka, es tut dir leid, daß du sie weggenommen hast, und du willst es nicht wieder tun", befahl Alice und überwachte die anschließende Rückgabe. Wie aber ging man auf die Dauer erfolgreich mit so einem Kind um?

Rassim, das hatte sie im Gefühl, würde sich besser eingliedern, wenn Xenia ihn in Ruhe lassen würde. Aber da sie ständig nach seiner Gesellschaft verlangte und sich selbst stets abseits hielt, hielt sie ihn leider genauso von den anderen fern.

Karim brachte am Tage des Moussem seine Mutter vormittags zum Heim und fuhr selbst weiter zu den Routs, um mit ihnen zu Mittag zu essen. Alice wurde von Yves am frühen Nachmittag abgeholt, und die drei Gruppen fuhren unabhängig voneinander in verschiedenen Wagen nach Alaksaar, wo man sich in einem Hotel treffen wollte.

Auf dem Wege fragte Alice: „Was passiert nun alles? Warum ist das Moussem in Alaksaar so besonders, da es doch überall gefeiert wird?"

„Ja nun, in Alaksaar gibt es eine Art Arena, die lang und breit genug ist für die Fantasia. Nächste Frage - was ist eine Fantasia?" griff er vor.

Sie lachte. „Was ist das also?"

„Eine Kreuzung zwischen einem Schaureiten und einem Kavallerieangriff. Man sieht prächtige Pferde mit silberbeschlagenem Zaumzeug, Reiter mit weißen Gewändern und Turbanen und langen Flinten. Sie simulieren einen Kampf. Das ist das Hauptschauspiel, das die Leute anzieht. Ein weiteres ist die Parade der frisch verlobten Brautpaare. Dann gibt es einen Jahrmarkt mit Buden, Zelten und einem Freiluftkino, wo alle Leute auf dem Boden sitzen und jedesmal zu johlen anfangen, wenn der Film reißt. Alles sehr laut, sehr ursprünglich, sehr marokkanisch. Es ist kein Wunder, daß Karim darauf gedrängt hat, daß Sie es sehen", schloß Yves seinen Bericht.

„Wieso?" fragte Alice. „Warum denn?"

„Als Teil Ihrer marokkanischen Erziehung, muß man wohl annehmen. Als ich ihm und der Seiyida gegenüber erwähnte, warum Sie nicht mitkommen könnten, sagte er, das wäre Unsinn, und bat sie, Sie zu überreden. Ich hatte so ziemlich den Eindruck, er hätte Sie selbst hierherbugsiert, wenn er nicht schon von Elaine Kent gebucht worden wäre und ich Sie nicht vorher eingeladen hätte."

„Was für ein Unsinn", protestierte Alice, erhoffte jedoch im stillen, daß es wahr wäre.

„Ich weiß nicht", entgegnete Yves zögernd. „Ich vergesse nicht, daß er mir bei der Einladung in die Altstadt schon um eine Nasenlänge voraus war." Er brach das Thema ab. „Was halten Sie von unserem neuesten Import aus dem Westen -von Miss Kent?"

„Ich bin ihr nur einmal begegnet - an dem Tage, an dem sie Karim besuchte. Mir kam sie sehr schön vor", gab Alice zu. „Strahlend und gepflegt bis zur Vollendung. Ich glaube, das Wiedersehen mit Karim war ein Erfolg für sie."

„Kann schon sein. In letzter Zeit bin ich mehrere Male beruflich im Dar El Faradis gewesen, da eins der Mädchen dort erkrankt ist, und Miss Kent ist sehr oft da. Wenn auch nicht, wie ich vermute, mit voller Zustimmung der Seiyida. Sie würde zwar niemals unhöflich zu einem Gast sein, doch mein Eindruck ist, daß sie und Elaine Kent nicht allzugut miteinander auskommen."

„Aber Karim schätzt sie um so mehr, nicht?" wollte Alice wissen.

Yves zuckte mit den Schultern. „Wer kann so etwas bei Karim genau sagen?" meinte er. „Ich weiß es nicht, und ich halte mich für einen seiner besten Freunde."

Karim und Elaine Kent waren schon vor ihnen an dem Treffpunkt. Captain und Mrs. Rout kamen kurz danach. Karim bestellte Kaffee, und sie plauderten eine Weile, ehe sie sich zu einem Gang über den Festplatz erhoben.

Elaine sah sehr elegant aus, ganz in Schwarz und mit einem Wagenrad von Hut auf dem Kopf, gleichfalls schwarz, eine Farbe, die ihr bei all dem schreienden Bunt, das die Marokkaner zu dieser festlichen Gelegenheit trugen, unbedingt die Aufmerksamkeit aller sicherte.

Ihr langer Gang über den Jahrmarkt führte sie schließlich auf das Gelände, wo die Fantasia stattfand. Dicht an dicht standen sie inmitten der wartenden Menge. Mrs. Rout konnte sogar einen Stuhl ergattern, und der Captain stellte sich hinter sie. Die beiden anderen Männer schufen Platz zum Stehen für die beiden Mädchen und flankierten sie, Yves außen neben Alice, Karim neben Elaine.

Karim gab dieser beiläufig den Rat: „Willst du nicht den Hut abnehmen?"

Sie griff mit der Hand danach. „Nein, warum sollte ich?"

„Weil die Leute hinter dir nicht sehen können."

Sie warf einen Blick nach hinten über ihre Schulter. „Na und? Sie haben ja nicht für ihre Plätze bezahlt."

„Wir auch nicht. Nimm ihn ab, bitte."

„Nein." Sie wandte sich an Alice. „Wenn der Mann einen Begriff von Chic hätte, würde er wissen, daß mein Hut Teil eines Ensembles ist und ich es extra für ihn angezogen habe, nicht wahr?"

Karim ignorierte ihre Bemerkung. Er faßte den Hut an der Krempe an, nahm ihn ihr vom Kopf und händigte ihn ihr mit todernster Miene aus.

Alice sah, wie Elaine eine scharfe Erwiderung unterdrückte. Dann blickte sie jedoch schwärmerisch zu Karim auf. „Neiiin, wie herrisch er ist", girrte sie mit künstlicher Kinderstimme. „Aber das sollst du mir büßen! Ich spreche nicht mehr mit dir, hörst du? Ich unterhalte mich nur noch mit Dr. Renair."

Mit dieser billigen Drohung drängelte sie sich zwischen Alice und Yves und drehte Karim beleidigt den Rücken zu.

Yves preßte die Lippen zusammen und warf Alice einen resignierten Blick zu. Karim fragte sie, ob sie noch Platz genug hätte, und legte ihr eine Hand um die Taille, um sie in die kleine Lücke zu manövrieren, die Elaine ihr übriggelassen hatte. Von hinten wurde beifälliges Gemurmel für das Verschwinden des Hutes laut.

Die Luft war angenehm kühl. Die Sonne schickte ihre letzten Strahlen über den Abendhimmel, und der Mond, der die nächtliche Festlichkeit beleuchten würde, ging bleich auf. Ganz am Ende der Bahn, weit hinten, verbarg eine riesige Staubwolke die Vorbereitungen für das Reiterspiel. Dann, fast wie auf ein Signal hin, wurde das Publikum still. Unter Hufgetrappel und dem Geklirr von Waffen und Zaumzeug begann das Spektakel.

In der Pause fragte Karim Alice, was sie von der Darbietung hielt.

„Fabelhaft", sagte sie. „Man hat den Eindruck, daß die Männer mit ihren Tieren zusammengewachsen sind. Ich nehme an, die Pferde sind alle sogenannte reine Araber?"

„Nein, sie haben zwar arabisches Blut, sind aber Berberhengste - hagerer und ausdauernder als die Araber."

„Reiten Sie selbst einen?"

„Ja, wie jeder hier, wenn er es sich leisten kann." Er schwieg eine kleine Weile. „Wir alle lieben Pferde se.hr. Man sagt, wenn zwei oder drei Marokkaner zusammen sind, reden sie von nichts anderem als Pferden, Pferden - Frauen -und wieder Pferden."

„Drei zu eins, das ist aber ein niederschmetterndes Verhältnis für uns Frauen. Aber es ist ja allgemein bekannt, daß man ihnen in Ihrem Land nicht allzuviel Wert zuerkennt", meinte Alice leichthin.

„Da irrt die allgemeine Meinung", gab er in spöttischem Ton zurück. „Daß wir mehr über Pferde reden, ist noch kein Beweis dafür, daß wir die holde Weiblichkeit nicht zu schätzen wissen, meine Liebe. Sie kennen doch sicher das Sprichwort: Der wahre Kenner genießt und schweigt, nicht wahr?"

7. KAPITEL

Yves nahm nach der Vorstellung Alices Arm. „Wir wollen uns von den anderen absetzen und zusehen, daß wir irgendwo in einer stillen Ecke etwas trinken können, ehe die Brautparade losgeht", schlug er vor.

Sie ließen sich zu einem Pfefferminztee an einem Tisch unter freiem Himmel nieder. Yves meinte sich entschuldigen zu müssen.

„Tut mir leid wegen dieser Episode mit dem Partnertausch, aber wie Sie gesehen haben, konnte ich nichts dagegen tun. Ich neige zu der Annahme", fügte er nachdenklich hinzu, „daß Elaine Kent schon als Kind so lange geschrien hat, bis sie das bekam, was sie haben wollte. Heute nimmt sie es sich einfach oder zieht ein Gesicht. Wie kamen Sie mit Karims Besessenheit von seinen geliebten Berberpferden zurecht?"

Alice berichtete, was er ihr darüber erzählt hatte, ohne seine Bemerkung über die Frauen auszulassen, und Yves lachte.

„Da waren Sie ja ganz schön bissig", meinte er. „Kein Wunder, daß er so reagiert hat."

„Ich hatte es eigentlich ernst gemeint", widersprach Alice. „Ich hatte bisher nämlich nicht den Eindruck, daß Karim viel Wert darauf legt, mit Frauen zusammenzusein. Debbie Martin, die ich vertrete, fand, daß mit ihm nicht gut Kirschen essen ist, und sogar bei der äußerst attraktiven Elaine Kent verhält er sich kühl."

„Und Ihnen gegenüber?"

„Ich habe jedesmal das Gefühl, er hält mich auf Armeslänge von sich."

„Das ist keine große Entfernung zwischen einem Mann und einer Frau. Die läßt sich leicht verkürzen."

Alice biß sich auf die Lippe. „Sie wissen, was ich meine."

„Er hat mehr getan, als das, worum ich ihn gebeten hatte, als er Sie zum Diner ins Menoubia ausführte. Und heute nachmittag war er ganz offensichtlich eifersüchtig, weil Sie meine Begleiterin gewesen sind und nicht seine."

„Eifersüchtig?" Sie wünschte, sie könnte es glauben. „Aber ich bitte Sie!"

Yves zuckte die Achseln. „Nein? Ich wäre es jedenfalls an seiner Stelle gewesen." Er schwieg, bis sie die Augen zu ihm erhob. „Und ich frage mich, ob Sie sich darüber im klaren sind, was das bedeutet."

Sie fing an zu ahnen, worauf er hinauswollte. „Sie? Eifersüchtig auf ihn?" Ihre Stimme schwankte ein wenig. „Aber doch nicht auf - auf diese Art?"

Er legte seine Hand auf ihre und hielt sie fest. „Auf diese Art! Ich hoffte, Sie hätten es schon erraten."

„Wir kennen uns doch erst ein paar Wochen. Ich wußte allerdings sofort, daß Sie mich gern haben, daß wir gut miteinander auskommen würden. Aber mehr auch nicht. Sie haben ja noch nicht einmal versucht ..."

„... Sie zu küssen? Sie ahnen ja nicht, wie sehr und oft ich es schon gewollt, aber nicht getan habe aus Angst, etwas zu überstürzen. Und was hat die Zeit hier, zu sagen? Ein Mann lernt alle möglichen Mädchen kennen und schäkert mit ihnen herum, aber wenn er die Richtige trifft, dann erkennt er sie, glaube ich, gleich und behandelt sie anders. So wie ich Sie erkannt habe, meine Liebste."

Er brach ab und suchte ihren Blick. „Sie sagen nichts, Sie zeigen keine Reaktion", warf er ihr vor. „Soll das heißen, ich überstürze die Dinge sogar jetzt noch? Daß Sie Zeit brauchen?"

Sie schüttelte ihren Kopf. „Nein."

„Was dann? Muß ich Sie weiter sanft umwerben, ehe Sie sich für mich entscheiden können?"

Er würde immer sanft sein, das wußte sie. Wie ganz anders war doch Karim, den an jenem Abend nur reine Leidenschaft dazu hingerissen hatte, sie zu küssen. Und hinterher hatte er sich dafür verachtet. Yves würde zärtlich zu ihr sein, sie humorvoll und feinsinnig in die Liebe einführen ...

Aber sie wollte es nicht. Sie könnte ihn nie lieben und mußte es ihm jetzt sagen, so sehr es weh tat - auch ihr.

Sie zog ihre Hand weg. „Die Zeit würde daran nichts ändern", sagte sie. „Und wenn Sie mich geküßt hätten oder mich jetzt küssen würden, machte es auch keinen Unterschied. Weil ich nicht so zu Ihnen stehe. Ich verlasse mich auf Sie, möchte Sie als Freund haben, bin gern mit Ihnen zusammen und schätze Sie wirklich sehr. Aber das ist doch nicht genug, nicht wahr?"

Yves sagte: „Es würde mir reichen, wenn ich nur eine Affäre mit Ihnen haben wollte. Aber für eine Ehe ist es nicht genug, und ich will Sie heiraten, ma chere. Welcher Platz bleibt mir also jetzt - der zweitbeste hinter einem anderen Mann? Sie haben niemals von einem gesprochen, daher dachte ich, Sie wären noch frei. Aber wahrscheinlich wartet jemand in England auf Sie?"

„Nein, ich habe zu Hause keinen festen Freund, wenn Sie das meinen."

„Dann ist es also einfach so, daß ich Ihnen nichts bedeute?"

Verlegen bat sie ihn: „Drücken Sie es nicht so aus!"

„Darf ich eventuell hoffen, daß Sie meinen: noch nicht?"

„Bitte nicht. Meine Zeit hier ist begrenzt, und nach diesem Gespräch brauchen Sie mich, wenn Sie wollen, nicht mehr zu sehen, außer dienstlich im Heim. Es wird für uns beide nicht leicht sein, aber ich glaube, so ist es am besten."

Seine Miene verdüsterte sich. „Sie machen es einem Mann, der verliebt in Sie ist, sehr schwer. Aber wenn Sie mir keine Wahl lassen, dann habe ich auch keine, und ich verspreche Ihnen, Sie nicht zu belästigen, wenn ich auch weiterhin hoffe." Damit stand er auf und streckte ihr eine Hand hin. „Kommen Sie. Lassen Sie uns gehen und zuschauen, wie die glücklicheren Männer vor ihren Mädchen den Pfau spielen."

Sie legte ihre Hand in seine und ließ sich von ihm aus dem Schatten der Bäume hinaus ins Mondlicht führen. „Ich wünschte, ich hätte Sie glücklich machen können, Yves. Bitte, glauben Sie mir das", sagte sie und mußte wieder an den Unterschied zwischen ihm und Karim denken.

Wie Yves seine Werbung in Worte gefaßt und ihre Ablehnung hingenommen hatte, wo Karim, ohne die Wirkung auf sie zu kennen oder sich darum zu kümmern, ihr Herz aus einem momentanen Impuls heraus bestürmt hatte. Karim, der keinen Anspruch auf ihre Liebe erhob und auch seine nicht darbot.

Die Zeit ging dahin. In weniger als einem Monat würde Alice Tasenir schon wieder verlassen. Sie hatte das Gefühl, als müsse sie jetzt jede Minute, jede Einzelheit der Tagesgeschehnisse voll auskosten - die Sonne, die Zuneigung der Kinder, die Blumen, das Zusammensein mit den Freunden, die sie gewonnen hatte. Sogar die bittersüße Erfahrung zu lieben, ohne wiedergeliebt zu werden.

Selbst die anfangs so problematische Xenia würde sie am Ende vermissen. Alice hatte sie so geschickt behandelt, daß sie sich jetzt schon recht gut mit den anderen verstand. Sie half und machte alle gemeinsamen Spiele mit, stahl nicht mehr und klebte längst nicht mehr dauernd an ihrem Zwillingsbruder Rassim.

Als Sorab Alice an einem dieser Tage erzählte, Rachmas Schwester würde heiraten, glaubte sie zunächst nicht, daß sie dieses Ereignis in irgendeiner Weise betreffen würde. Doch erfuhr sie durch Sorab, daß Rachmas Familie sich mit einem Problem herumschlug. Sie hatten nicht genug Platz, ihre Gäste unterzubringen!

„Das ist doch überhaupt keine Angelegenheit", meinte Alice. „Rachma bekommt für die Hochzeit natürlich sowieso frei. Hussein bringt sie dann abends immer hierher, und sie kann hier im Heim schlafen."

Alice ging mit ihrer Hilfe noch weiter. Rachma konnte sich kein neues Kleid leisten, und von ihrem Vater bekam sie auch keines, da Hochzeitsfeier und Mitgift ihrer Schwester ihn schon viel zuviel gekostet hatten. Alice bot ihr deshalb großzügig ihren neuen Kaftan an.

„Es ist sowieso ein marokkanisches Kleidungsstück, also ist er geeignet für dich, und du sollst ihn auch tragen", sagte sie zu Rachma.

Rachma war überwältigt von Dankbarkeit, und die Anprobe fand gleich darauf statt. Der Kaftan paßte Rachma perfekt, und Alice fiel nicht zum erstenmal auf, wie hell an Haut und Haaren das Mädchen für eine Marokkanerin war. Wenn sie beide gleich gekleidet waren, konnten sie fast für Schwestern gelten.

Hussein war nur allzu froh, daß er am Ende der Festlichkeit Rachma zum Heim bringen konnte, und Alice blieb an dem Abend auf, um auf das Mädchen zu warten. Auch Sorab, die sehr erpicht war, alles über die Hochzeit zu hören, wollte Rachma noch sprechen, und so saßen sie da und hörten sich das Radioprogramm ap. Plötzlich rief Yves an und fragte, ob er noch kommen könne, um sein Stethoskop zu holen, das er am Vormittag vergessen hatte und am nächsten Tage früh brauchen würde.

Bald darauf saßen alle drei bei einer Tasse Kaffee zusammen. Er lächelte, als er hörte, daß sie Rachmas wegen aufgeblieben waren.

„Ich kann zwar nicht genau prophezeien, wie lange Ihre Nachtwache dauern wird", sagte er, „aber soviel kann ich sagen, daß sie mit Hussein unterwegs ist. Sie stehen unten an der Pforte unter den Bäumen und schienen ziemlich vertieft darin zu sein, sich gute Nacht zu sagen."

„Haben die beiden Sie gesehen?"

„Sie müssen meinen Wagen gesehen haben, waren aber zu beschäftigt, um irgendein Zeichen von sich zu geben, und ich habe sie taktvoll ignoriert."

Yves blieb noch ein wenig länger, und kurz bevor er ging, kam Rachma herein, hochrot im Gesicht, glücklich, sehr hübsch und begierig zu erzählen, wie die Hochzeit verlaufen war.

Mit strahlenden Augen schloß sie dann ihren Bericht: „Hussein hat gut auf mich aufgepaßt und darauf geachtet, daß ich nicht zu spät mit ihm losging. Als Dr. Renair in seinem Wagen kam, hab ich gesagt, jetzt müsse ich aber rein. Aber er hat gebettelt, daß ich noch ein bißchen länger bleibe, und das habe ich dann getan - bis Seiyid Karim vorbeigeritten kam."

„Seiyid Karim hat euch also auch gesehen?" Rachma schüttelte den Kopf. „Er hat uns nicht gesehen. Dr. Renair doch auch nicht. Es war dunkel, und wir haben ganz still gestanden. Weil Hussein mich im Arm hielt, wollten wir auch nicht so gern gesehen werden."

Es war ein paar Tage später, daß eine schlimme Erkältung Sorab quälte, und Alice, die fürchtete, die Kinder könnten angesteckt werden, schickte sie ins Bett.

„Bleib morgen früh liegen", sagte Alice am Abend zu ihr. „Wenn Dr. Renair kommt, bitte ich ihn, nach dir zu sehen, und da es dein freier Tag ist, werden wir dich sowieso nicht vermissen."

Doch Sorab war anderer Ansicht darüber. „Morgen muß ich zu Madame Paul, weil Benoit beim Caid in der Stadt zu tun hat", erzählte sie besorgt. „Was soll ich bloß tun?"

Alice entschied: „Tut mir leid, aber du kannst nicht hingehen, Sorab. Du hast Temperatur und darfst nicht riskieren, Madame Paul anzustecken. Wie lange muß ihr Sohn denn wegbleiben?"

„Er fährt mittags los und könnte erst nach Dunkelwerden wieder zurück sein."

„Und ich weiß zufällig, daß Dr. Renair morgen auch über Land muß." Er hatte sie dazu eingeladen, sie mußte aber ablehnen, weil es Sorabs freier Tag war. „Aber wenn du nicht hinkannst, warum sollte ich es denn nicht für dich? Du bist im Notfall hier, und Miriam und Rachma kommen auch schon mal allein zurecht. Du mußt mir nur sagen, was ich bei der alten Dame alles tun muß. Also, wie war's?"

„Wenn du das tun würdest, Alice!"

Von dem Plan unterrichtet, bot Yves sich an, Alice mittags abzuholen und beim Hause des Forstaufsehers abzusetzen, ehe er zu seiner eigenen Verabredung fuhr.

„Falls Benoit vor mir zurückkommt, warten Sie auf mich. Ich fahre Sie wieder nach Hause", bot er ihr beim Abschied an.

Alice fand, das sei nicht nötig. „Sobald Monsieur Paul aufkreuzt, gehe ich zu Fuß zurück. Es ist doch keine Entfernung!"

Benoit Paul half ihr, einen kleinen Imbiß für seine Mutter zu machen, ehe er losfuhr, und die Wache am Bett der alten Dame stellte sich als überhaupt nicht mühselig heraus. Wie Sorab vorausgesehen hatte, döste sie andauernd ein, und Alice, die sich ein paar Kindersachen zum Ausbessern und ein Buch mitgebracht hatte, fand, daß die Zeit sehr schnell verstrich.

Benoit Paul kam nicht so spät zurück, wie er erwartet hatte. Der Abendhimmel war noch hell, als Alice wieder gehen konnte.

Draußen auf der schmalen Straße trat sie in den Schatten einer Hecke zurück, als sie hörte, wie sich ein Wagen näherte. Er gehörte Karim, und sie sah ihn einen Blick in ihre Richtung werfen, ehe er anhielt und wieder ein Stück zurücksetzte.

„Kann ich Sie ein Stück mitnehmen? Wollen Sie zum Heim?"

„Ja, danke."

Er öffnete die Tür, und sie stieg ein. Nach ein oder zwei Minuten Fahrt sagte er: „Sie kamen aus Renairs Richtung. Warum bringt er Sie nicht nach Hause?"

„Weil er nicht da ist."

„Nicht da?" Karim hob seine Augenbrauen. „Also haben Sie den Weg umsonst gemacht?"

„Durchaus nicht. Ich habe Sorab vertreten, der es nicht gutgeht. Ich habe bei Monsieur Pauls Mutter gesessen, da er in der Stadt zu tun hatte."

„Sie haben also nicht Renair besucht?"

Aufgebracht merkte Alice plötzlich, wohin diese genauen Fragen zielten. „Natürlich nicht", sagte sie. „Ich habe es Ihnen doch gesagt - Yves Renair ist unterwegs zu einer Visite. Außerdem ist es nicht meine Angewohnheit ..."

„... ihn eingeladen oder uneingeladen zu besuchen? Da bin ich aber froh."

„Ich bin überrascht darüber, daß Sie überhaupt auf so eine Idee kommen", versetzte sie.

Er zuckte mit den Achseln. „Tut mir leid. Ich hatte auch gehofft, Sie würden nicht so unklug sein. Ein Arzt muß ziemlich zurückhaltend sein, gerade in einem kleinen Dorf im Hohen Atlas, und ich hätte gedacht, Renair weiß das. Aber angesichts dessen, wie sich Ihre Freundschaft entwickelt zu haben scheint, wußte ich nicht so ganz genau ..."

„Ob er mich zum Rendezvous in seine Wohnung einlädt? Also ich kann Ihnen versichern, das macht er nicht. Dies ist das erste Mal, daß ich in dem Haus gewesen bin, und das aus einem ganz anderen Grunde. Und wenn wir beide auch Freunde sind, stehen wir doch nicht so zueinander, wie Sie es zu glauben scheinen."

„So? Dann muß ich mich erneut entschuldigen. Der Augenschein muß mich getrogen haben. Außerdem ist es nicht meine Angelegenheit, werden Sie sagen - und mit Recht. Aber vielleicht können Sie mir vergeben, wenn ich aus Ihrer intimen Art, sich gute Nacht zu sagen, geschlossen habe, daß Sie eine weit engere Beziehung miteinander haben, als Sie jetzt behaupten."

„Und angenommen, ich sage Ihnen jetzt, wir beide verabschieden uns zu keiner Tageszeit intim, auch nicht nachts, was würden Sie dann sagen?"

„Dann würde ich sagen, Sie verweisen meine unverschämte Neugier an ihren Platz mit einer, von Ihnen aus gesehen, durchaus gerechtfertigten Lüge."

„Aber ich brauche gar nicht zu lügen! Sie sprachen von Augenschein - soll das heißen, Sie wollen uns nachts zusammen gesehen haben, vielleicht sogar bei einer Umarmung ertappt? Wann denn?"

„Vor ein paar Nächten. Sie müssen mich gesehen haben, als ich vorbeiritt. Sie standen draußen vor dem Heim, im Schatten der Bäume und in der Nähe von Renairs Wagen. Ich habe Ihr Kleid wiedererkannt. Und - ja, Sie haben sich beide ziemlich glühend umarmt, wie es schien."

Bei Alice dämmerte es. „Neulich nacht, sagen Sie? Wann, am Mittwoch?"

„Könnte sein."

„Es war bestimmt am Mittwoch." Sie machte eine wirkungsvolle Pause, bevor sie ihre Trumpfkarte ausspielte. „Und es war auch Renairs Wagen, der da stand. Er war vorbeigekommen, um sein vergessenes Stethoskop zu holen, und ist dann auf einen Plausch bei Sorab und mir geblieben. Wir warteten nämlich auf Rachma, die auf der Hochzeit ihrer Schwester war, und sie war es, die Sie für mich gehalten haben. Sie hat sich von ihrem Verlobten Hussein verabschiedet."

Sie hatten die Pforte des Heims erreicht, und als Karim den Wagen anhielt, drehte er langsam den Kopf zu ihr herum. „Rachma - in Ihrem Kaftan?" meinte er zweifelnd.

„Ja. Ich hatte ihn ihr für die Hochzeit geliehen. Wir sind etwa gleich groß, und auch sonst, was das Haar, den Teint betrifft, sind wir einander ziemlich ähnlich."

„Aber ihr Begleiter war doch ein Europäer. Ich habe ihn zwar nicht deutlich gesehen, aber ..."

„Hussein - in seinem besten Ausgehanzug. Und jetzt", fügte Alice ruhig hinzu, „bekomme ich von Ihnen wohl eine Entschuldigung zu hören?"

Karim antwortete nicht sofort. Dann sagte er etwas verkniffen: „Im Gegenteil, Sie sollten sich geschmeichelt fühlen."

„Wirklich? Wieso?"

„Weil ich fälschlich glaubte, das Ergebnis Ihrer Wirkung auf völlig unterschiedliche Männer zu sehen."

Mußte der Mann immer so weit ausholen? „Meiner Wirkung auf - Männer?"

„In der Mehrzahl, ja. Yves Renair wäre nicht der einzige in Ihrem gegenwärtigen Bekanntenkreis, der Ihrer Anziehungskraft zum Opfer gefallen ist. Falls Sie sich noch erinnern, war ich selbst bei einer bestimmten Gelegenheit nicht ganz davor geschützt." Ihr blieb die Luft weg. Sie mußte sich erst wieder fassen, ehe sie sagen konnte: „Ich erinnere mich allerdings. Daran - und an Ihr späteres Bedauern."

„Das Sie teilten, glaube ich."

„Das ich teilte", gab sie zurück, obwohl ihre Reue ganz andere Gründe hatte.

Er stieg aus und ging um den Wagen herum, um ihr die Tür zu öffnen. Als ob sie gar nichts gesagt hätte, fuhr er fort: „Und deshalb habe ich Renairs Annäherungsversuch - so sah es ja für mich aus - ganz selbstverständlich gefunden.

Soviel man von seinem Privatleben weiß, hat er anderswo keine Ambitionen."

Alice fiel etwas ein, wie sie Karim noch mehr in die Irre leiten konnte. Obgleich sie jetzt begriff, daß Yves' frühere Anspielungen sich auf sie selbst bezogen hatten, sagte sie: „Da könnten Sie sich irren. Vor einiger Zeit schon hat Yves von mir Sticheleien zu hören bekommen wegen eines Mädchens, das er in Aussicht hätte, wie er sagte."

Das hätte sie lieber nicht sagen sollen! Sie sah ihren Fehler ein, als Karim sie fast mitleidig anblickte. „Sie sind entweder krankhaft bescheiden oder viel koketter, als ich je gedacht hätte. Ein Mann läßt sich von einer attraktiven Frau nicht sticheln wegen einer anderen, mit der er es ernst meint. Sie hätten wissen müssen, daß er Sie selbst meint."

Wie hatte sie nur annehmen können, diesem Mann mit solch läppischen Argumenten kommen zu können? Sie setzte zu einer Antwort an, doch er ersparte ihr eine totale Niederlage in diesem Geplänkel, indem er fortfuhr: „Ich nehme an, Sie wissen, daß Renair plant, uns im Herbst zu verlassen?"

Das war in der Tat eine Neuigkeit.

„Nein", sagte sie, „das wußte ich nicht. Will er es wirklich selbst, oder ist auch da die Regierung mit im Spiel?"

„Nein, ich vermute stark, es ist seine eigene Entscheidung. Er geht zurück nach Frankreich, wo er als Arzt mehr Entwicklungsmöglichkeiten hat als in Tasenir. Vielleicht sogar mit einer Ehe im Sinn. Er hat Ihnen nichts davon gesagt? Das überrascht mich."

„Nein, hat er nicht", erwiderte Alice flach.

„Dann tut er es bestimmt noch. Vielleicht hat er das Gefühl, er muß abwarten - bis die Aktien bei Ihnen günstig stehen", meinte Karim etwas geheimnisvoll, aber sie wußte genau, was er meinte.

Bevor Alice Yves wiedersah, hatte sie unerwarteten Besuch. Sie beaufsichtigte gerade die Arbeitsstunde der Mädchen, als Binyeh kam, um ihr zu sagen, El Anissa Kent wolle sie sprechen.

Elaine Kent? Überrascht sagte Alice zu Binyeh, sie solle El Anissa Kent in den Saal bitten, da sie die Kinder nicht so lange allein lassen konnte.

Elaine wurde hereingeführt, gerade als Xenia, die sich mit Stricknadeln herumschlug, nach mehr blauer Wolle verlangte. Alice begrüßte Elaine, bat sie, Platz zu nehmen, und wühlte in dem Wollekarton.

„Ja, weißt du - hier ist keine blaue Wolle mehr", mußte sie schließlich zu Xenia sagen. „Aber da ist noch ein Paket mit neuen Knäueln in der oberen Schublade der Kommode in der Halle. Weißt du, wo ich meine? Ja? Dann sei so lieb und hol es, bitte. Ich richte dir dann dein Strickzeug wieder."

Elaine sah Xenia hinterher und sagte träge: „Ein hübsches Ding, die Kleine da. Aber erlauben Sie den Mädchen in ihrem Alter schon, diesen ganzen Talmischmuck zu tragen?"

Alice lächelte. „Nur Xenia - so heißt die Kleine - will das. Sie bildet sich ein, sie sieht dann wie eine große Dame aus. Und da sie ziemlich schwierig war, als sie hierherkam, rede ich ihr da nicht allzuviel hinein."

„Wieso schwierig?"

„In vielerlei Hinsicht. Sie wollte zum Beispiel nicht mit den anderen spielen. Aber inzwischen ist es uns gelungen, ihre Faszination für bunten Krimskrams auszunutzen und so ihre Mitarbeit zu gewinnen. Jetzt geht es mit ihr viel besser."

„Hat Ihnen denn jemand dazu geraten?"

„Die Seiyida Charles."

„Ach, die Seiyida Charles ..." Elaine nickte und preßte gleich darauf die Lippen zusammen. Da sie nichts weiter sagte, fragte Alice sie, was sie für sie tun könnte.

Elaine lächelte und räkelte sich in ihrem Sessel. „Ach, es eilt nicht. Wenn wir allein sein können. Es ist ziemlich privat."

Alice warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. „Also dann in einer knappen Viertelstunde."

Als sie die Kinder in den Garten geschickt hatte, bot sie Elaine Tee an. Diese lehnte jedoch ab: „Nett von Ihnen, aber nein, danke. Ich wollte Sie nur in einer sehr persönlichen Angelegenheit um Hilfe bitten. Sie haben eben die Seiyida Charles erwähnt ..."

„Ja?"

„Das ist schon mein Stichwort. Sie kennen sie ziemlich gut? Sie hält jedenfalls eine Menge von Ihnen."

Alice lachte. „Ach, ich glaube aber doch nicht ..."

„Doch, doch. Jedesmal, wenn Ihr Name im Gespräch auftaucht, dann preist sie Sie förmlich an - sogar Karim."

„Sogar Karim", wiederholte Alice nicht ganz ohne Ironie.

„Ja, und deshalb wären Sie die einzige, die sie davon überzeugen könnte, daß ich für Karim nicht die Giftschlange bin, für die sie mich zu halten scheint. Und als die sie mich, nebenbei bemerkt, auch behandelt."

Alice zog ihre Brauen zusammen. „Ich weiß wirklich nicht, was Sie meinen", sagte sie. „Und auch nicht, was ich Ihrer Meinung nach tun könnte. Ich kenne Seiyida Charles lange nicht gut genug, um ..."

Elaine rutschte auf ihrem Sitz nach vorn und schnitt ihr ungeduldig das Wort ab. „Hören Sie, wenn Sie es nicht erraten können, dann will ich es Ihnen klarmachen. Die Sache ist ganz einfach die: Als Karim seine letzten Monate in England verbrachte, waren wir sehr eng befreundet. Ich war nicht so beteiligt, aber er war verrückt nach mir, einfach blind. Trotzdem haben wir Schluß gemacht. Bald danach hat er sich hierher verzogen, und obgleich ich ihn ganz gern hatte, habe ich ihm nicht gerade nachgeweint. Seitdem hat es andere Männer gegeben ... Aber als ich dann die Routs kennenlernte, wollte ich ihn doch wiedersehen. Es würde nicht allzuviel Mühe kosten, da wieder anzufangen, wo wir aufgehört hatten. Er war früher Wachs iil meinen Händen, und wie sehr er sich in der Zwischenzeit amüsiert haben mag, er bemüht sich im Augenblick um keine Frau. Das weiß ich. Aber ich komme nicht an ihn heran. Er hält mich auf Abstand, und daran ist nicht zuletzt die Seiyida schuld."

„Wobei ich Ihnen kaum helfen kann", war Alices Antwort. „Ich kenne die Seiyida nicht gut genug, und die ganze Idee, daß jemand zwischen Ihnen und Karim vermitteln könnte, ist - einfach grotesk."

„Warum denn das?" Eliane ließ sich nicht von ihrem Gedanken abbringen. „Ich brauche eine objektive Beobachterin wie Sie, um herauszufinden, warum er mich abwehrt, obwohl ich weiß, daß er mich genauso haben will wie zuvor."

„Wissen Sie das genau? Kam Ihnen nie die Idee, er könnte die Liebesaffäre mit Ihnen inzwischen überwunden haben?"

„Ach, Unsinn! Seine Mutter würde doch wohl sonst nicht so auf mich aufpassen. Ich kenne ihn zu gut und zu lange, als daß ich nicht die Anzeichen erkennen würde - den Ausdruck seiner Augen, scheinbar kühl und gleichgültig, während er in Wahrheit in Flammen steht. Und dann seine herrische Art, die ich schon immer ganz köstlich fand, weil ich wußte, er ist im Grunde mein Sklave."

„Und doch haben Sie beide damals miteinander gebrochen. Warum eigentlich?" wollte Alice wissen.

Elaine rutschte nervös auf ihrem Sessel herum. „Ach, das war eine ganz alberne Sache."

„Albern? Wieso?"

„Ganz albern. Er bat mich, ihn zu heiraten - nicht zum erstenmal, aber ich hatte immer die Spröde gespielt. Dieses Mal aber habe ich ihm einfach ins Gesicht gelacht und ihm gesagt, wenn ich ernsthaft daran dächte, mich an einen hübschen Mischling zu fesseln, dann würde ich es ihn wissen lassen, und er könnte sich vorn anstellen."

8. KAPITEL

Alice rang nach Luft. „Das haben Sie zu ihm gesagt? Wie konnten Sie das nur tun?"

„Was wollen Sie damit sagen?" erwiderte Elaine verächtlich. „Er war verliebt in mich, stimmt's? Ich konnte ihm immer schon alles an den Kopf werfen, und er nahm es hin."

„Aber hübscher Mischling ist denn doch ein bißchen stark, finden Sie nicht?"

„Nun ja, aber seine Reaktion war einfach albern."

„Albern! Sie sagen, er liebte Sie. Haben Sie denn für ihn überhaupt nichts übrig gehabt?"

Ein Achselzucken. „Ich war von ihm eingenommen. Er war so - anders. Ja, ich mochte ihn ziemlich gern."

„Und doch kannten Sie ihn nicht einmal so gut, daß Sie sich vorstellen konnten, was für Folgen Ihre Spöttelei über seine Herkunft haben mußte?"

„Sein Vater war schon tot, und seine Mutter hatte ich nie kennengelernt"

Alice lachte ungläubig auf. „Als ob es darauf ankäme! Er muß Ihnen doch von ihnen erzählt haben. Hat er Ihnen gegenüber nie davon gesprochen, wieviel ihm Marokko bedeutete?"

„Ach, manchmal schon, glaube ich. Aber das Thema fand ich immer langweilig. Ich kannte ihn nur als Engländer, die marokkanische Seite konnte ich doch außer acht lassen."

Alice schüttelte ihren Kopf. „Nicht bei Karim Ibn Charles. Als er Sie bat, ihn zu heiraten, hat er sicherlich erwartet, daß Sie ihn akzeptieren, so wie er ist: halb Engländer, halb Marokkaner."

„Wollen Sie damit sagen, er hat mich nur deshalb sitzenlassen, weil ich ihn einen hübschen Mischling genannt habe? Wenn ich das also zurücknehme und ihm ein bißchen um den Bart gehe, würde alles wieder gut werden? Wissen Sie ..." Elaine würde jetzt ganz gönnerhaft. „... ich hatte schon so eine Ahnung, daß Sie mit etwas Vernünftigem herauskommen würden, auch wenn Sie mir bei der Seiyida nicht helfen können."

„Danke", sagte Alice trocken. „Aber ich glaube, dann müßten Sie auch Ihr Begrüßungswort an dem Nachmittag zurücknehmen, als Sie ihn zum erstenmal wiedergesehen haben. Falls Sie sich erinnern: Sie sagten etwas von Fastnachtskostüm."

„Ach das! Das kann er mir nicht übelgenommen haben. Irgend etwas mußte ich doch schließlich sagen, nicht?"

„Und Sie haben nicht gemerkt, wie sehr es ihn verletzt hat?"

Mit jedem Wort, das sie sprach, fühlte Alice sich älter, klüger und reifer als Elaine. Es war beinahe ein Gefühl von Triumph, und sie kostete es voll aus. Sie, die Karim erst so kurze Zeit kannte, verstand ihn und seine Motive besser als Elaine, die ihm einmal nahegestanden' hatte. Sie erinnerte sich, wie scharf er den Vorwurf seiner Mutter zurückgewiesen hatte, er hätte England leichtherzig oder für immer vergessen. Ihr Instinkt sagte ihr, daß er das Land seines Vaters genauso geliebt hatte wie das seiner Mutter, bis eine Frau -dieses dumme Mädchen da ihr gegenüber - ihm an den Kopf warf, ein Halbblut zu s'ein.

Laut sagte sie zu Elaine: „Ich bezweifle sehr stark, ob Ihre Zurücknahme dieser Beleidigungen Karim wieder dahin zurückbringt, wohin Sie ihn haben wollen."

Elaine schüttelte abwehrend den Kopf. „Kein Problem, glaube ich. Jetzt, da Sie mich auf seinen empfindlichen Punkt hingewiesen haben, habe ich die Fäden in der Hand, würde ich sagen."

Alice fühlte sich ihr überlegener denn zuvor. „Ich glaube, Sie wissen gar nicht, wie sehr Sie ihn dazu getrieben haben, seine englische Erziehung zu verleugnen und ganz zum Marokkaner zu werden. Sie sehen nur seine äußere Aufmachung, aber seine Mutter, seine Freunde, seine Leute hier respektieren ihn so, wie er ist - und die Arbeit, den Mut, und die Liebe, die er diesem Lande entgegenbringt."

Sie hätte durch ein plötzliches Aufblitzen in Elaines blauen Augen gewarnt sein sollen. „Wirklich eine tolle Rede! Wissen Sie was? Ich frage mich jetzt auf einmal, was für ein Interesse Sie an Karim haben. Würden Sie sich so aufregen, wenn Sie ihn nicht vielleicht zufällig für sich selbst haben wollten?" Sie stand währenddessen auf und fügte dann lässig hinzu: „Aber das ist Ihre Sorge, und ich glaube kaum, daß Sie Ihre Chancen sehr hoch einschätzen, wie?"

„Falls Sie damit fragen wollen, ob ich mit Ihnen konkurriere, dann ist die Antwort nein", versetzte Alice und hoffte, die Verachtung, die sie empfand, machte sich in ihrem Ton bemerkbar.

„Obwohl Sie offensichtlich etwas gegen mich haben. Ich könnte mir denken, es wird Sie wahnsinnig befriedigen, wenn Sie jetzt mit der Geschichte, warum Karim und ich Schluß gemacht haben, zur Seiyida laufen."

Das setzte Alices Geduld ein Ende. „Wenn Sie nur ein Fünkchen Vernunft besitzen und sich überhaupt etwas aus Karim machen, dann würden Sie ihr selber sagen, wie grausam Sie ihren Sohn damals behandelt haben", erwiderte sie. „Wenn Sie schon hintenherum vorgehen, dann wäre das Ihr bester Schritt."

„Die Seiyida bearbeiten anstatt Karim selbst?" Elaine schüttelte mit dem Kopf. „Nein. Mit Männern kann ich umgehen, aber Frauen werden aus irgendeinem Grunde schon giftig, wenn sie mich nur sehen. Wie man an Ihnen selbst beobachten kann, nicht wahr?"

„Mit Recht, würde ich sagen."

„Aber nicht sehr überlegt", gab Elaine seidig zurück. „Sie mögen der Liebling der Seiyida sein. Aber sind Sie sich Karims Gunst genauso sicher? Dieses Heim hier zum Beispiel ..." Sie blickte um sich. „... ist besonders abhängig von seinem Wohlwollen. Also, wenn ich Ihnen etwas raten darf -machen Sie mich nicht zu Ihrer Feindin!"

Alice ließ sie gehen. Sie hatte sich selbst eingeladen, also .konnte sie sich auch selbst den Ausgang suchen! Das Wortgefecht war entnervend gewesen, und obgleich Elaines Drohungen wenig Substanz haben konnten, war Alices Triumphgefühl von kurzer Dauer gewesen.

Das Rätsel, warum Karim alles Englische ablehnte, mochte nun gelöst sein. Aber was war damit für seine Mutter gewonnen? Was für ihn selbst? Ganz offensichtlich war Elaine darauf aus, alles zu tun, um ihn wieder in ihre Arme zu locken. Und falls es ihr gelang, was dann? Die Seiyida Charles wäre glücklich, wenn er ein englisches Mädchen heiratete, wie sie selbst gesagt hatte. Aber würde das auch für Elaine gelten, die ihr im Grunde mißfiel?

Yves kam bei der nächsten Gelegenheit, als er mit Alice allein war, von selbst mit der Mitteilung heraus, daß er Tase-nir verlassen würde. Er hatte seine Entscheidung natürlich zuerst dem Caid unterbreiten müssen und war deshalb nicht überrascht, daß Karim schon davon gehört hatte.

„Außerdem, wenn Benoit heiratet, dann ist ihm und Sorab mein Zimmer lieber als meine Gesellschaft, und wenn sie eine Familie gründen, brauchen sie auf jeden Fall mehr Platz. Ich habe aber auch andere, dringendere Gründe. Muß ich Ihnen erst erzählen, welche?"

„Karim sagte, Sie fühlten hier Ihre Entwicklungsmöglichkeiten eingeengt."

„Ja, das auch, aber mein stärkstes Motiv war meine Hoffnung, Sie zu heiraten." Er blickte sie eindringlich an. „Ich könnte von Ihnen nicht verlangen, sich hier jahrelang zu begraben. Auf die Dauer ist Marokko nicht das Wahre für uns Europäer, selbst wenn Sie jetzt ein bißchen davon verzaubert sind. In Frankreich könnte ich Ihnen viel mehr bieten, wenn Sie mich lassen würden. Geben Sie mir eine Chance, Alice!"

Als er sie in seine Arme nahm, dachte sie, wie gut es sein würde, wie einfach, wenn sie ihn lieben könnte. Einen Augenblick lang war sie versucht, sich seiner Umarmung hinzugeben. Doch als er sie sanft geküßt hatte und wieder freigab, hatte er die Antwort wohl in ihren Augen gelesen.

„Nein? Ist es immer noch Nein?" fragte er, indem er sie losließ.

„Es tut mir leid, Yves ..."

„Aber es muß doch nicht das Ende sein?" drängte er. „Wenn Sie wieder nach England gehen, könnten wir uns dann nicht einmal treffen? Dort oder in Frankreich?"

„Ich hätte nichts dagegen, wenn Sie es wollen."

Er lächelte verzerrt. „Man ist mit Krümeln zufrieden, wenn einem nicht der ganze Kuchen angeboten wird. Ich würde allerdings in einer Ehe erwarten, daß der ganze Kuchen für mich da ist."

Als er diesmal von ihr ging, wußte sie, daß er sie nicht noch einmal fragen würde.

Einige Tage später berichtete Sorab, sie hätte Elaine mit Karim im Gelände reiten gesehen. Und bei einer zufälligen Begegnung mit Mrs. Rout hätte diese Elaines Absicht erwähnt, im Winter zur Skisaison wiederzukommen. Elaine bearbeitet Karim mit allen Mitteln, dachte Alice und gab ein halbinteressiertes „Wirklich?" von sich. Sie würde ja nicht mehr da sein, den Ausgang dieser Geschichte mitzuerleben.

Unterdessen kam die Seiyida, seitdem sie Alice vertreten hatte, oft in das Heim zu Besuch. Sie brachte Obst mit oder Blumen für Alices Schreibtisch, sah den Kindern beim Spielen zu und trank Kaffee mit Alice. An einem dieser Tage fragte sie Alice, wie lange sie noch in Tasenir bleiben würde.

„Ich gehe Ende September."

„So bald schon? Müssen Sie denn zurück nach England?"

„Leider ja. Meine Aufgabe dort wartet. Debbie Martin kommt zurück, ich bin ja nur ihre Stellvertreterin."

„Ja, natürlich, aber ich hoffe, ich könnte Sie dazu überreden, noch eine kleine Weile als Gast bei uns im Dar El Faradis zu bleiben."

Wenn sie nur hätte annehmen können! Aber der Versuchung, das angenehme Leben in diesem schönen Haus gemeinsam mit KarinTund seiner Mutter zu teilen, mußte widerstanden werden. Sie würde es nicht ertragen können, das als letzte Erinnerung an Tasenir zu behalten.

Seiyida Charles sagte: „Ich finde es so schade. Wir haben Sie sehr wenig gesehen - Sie sind immer beschäftigt. Sie kennen noch nicht einmal all unsere Ländereien! Sie werden sich erinnern, Karim sollte sie Ihnen zeigen an dem Tag, an dem Sie bei mir zum Essen waren."

„Ja. Aber er ..."

„... mußte zum Caid. Und danach kam Miss Kent. Seitdem ..." Die Seiyida zögerte, als ob sie sich ihre Worte genau überlegen müßte. „... hat sie seine Zeit ziemlich für sich in Anspruch genommen. Aber als ich ihm heute morgen erzählte, daß Sie bald wieder abreisen, wollte er gern dieser Tage mit Ihnen über Land fahren. Jetzt sagen Sie bitte nicht ab!"

Noch eine Versuchung - aber eine geringere. Und sie konnte nicht für alle ihre freien Stunden bis zum Ende des Monats irgendwelche Verpflichtungen vorschützen. Sie willigte also ein, und sie machten ab, daß Karim sie wegen des genauen Zeitpunkts noch anrufen würde.

Dann kam die Seiyida mit einer ziemlich seltsamen Bitte heraus.

Wieder zögerte sie, als ob sie nicht wüßte, wie sie sich am besten ausdrücken sollte. Nach einer Weile sagte sie: „Ich habe den Eindruck, Karim muß sich bei jemandem - aussprechen. Er ist immer seinen eigenen Weg gegangen, hat allein seine Entscheidungen gefällt und zu ihnen gestanden, ob sie nun falsch oder richtig waren. Aber jetzt habe ich zum erstenmal in seinem Leben das Gefühl, daß er ... über einen Rat nachdenken würde."

„Den er auch von Ihnen erbitten und bekommen könnte, nicht wahr?"

„Ich fürchte, er nimmt von mir keinen an. Er ist zu stolz, um zu sagen: Ich stehe an einem Kreuzweg; hilf mir bei der Entscheidung, welche Richtung ich einschlagen soll. Aber wenn er reden könnte, und jemand würde ihm einfach nur zuhören."

Alice sagte langsam: „Ich kann mir nicht vorstellen, daß er mit mir Probleme besprechen will."

„Trotzdem: Hören Sie zu, wenn er es tut. Um mehr bitte ich nicht. Und denken Sie nicht, ich würde Sie nachher drängen, seine Geständnisse auszuplaudern", versprach die Seiyida. „Sie können zwischen euch beiden bleiben."

Mehrere Tage verstrichen, ehe Karim mit Alice abmachte, sie an einem bestimmten Nachmittag abzuholen.

Außer ihrem Besuch von M'Oumine, der Fahrt in die Stadt mit Omar und der nach Alaksaar zu dem Moussem hatte sie die Gegend um Tasenir bisher meist nur zu Fuß erforscht. Die Bananen- und Dattelpalmenhaine, die Mandelbaumplantagen und Weizenfelder, die zu Karims Besitz gehörten, waren Neuland für sie. Das Hochplateau von Tasenir war verhältnismäßig klein, aber jeder Quadratmeter seines fruchtbaren Bodens war bebaut. Karim, der langsam die Seitenwege entlangfuhr, erzählte sehr interessant über den Anbau und die Ernte der Pflanzen, die sie gerade sahen.

Alice stellte Fragen; er beantwortete sie geduldig und in allen Einzelheiten. Er spielte den Fremdenführer, nichts weiter, und als die zwei Stunden vorüber waren, fragte Alice sich, was für persönliche Geständnisse seine Mutter bloß gemeint haben mochte, die er ihr anvertrauen könnte.

Auf der Rückfahrt fragte er sie plötzlich: „Hat Ihnen schon jemand den Brautschleier gezeigt?"

„Nein, aber ich habe davon gehört. Ein Wasserfall, nicht wahr?" ,

Bei der nächsten Abzweigung von der Straße lenkte er den Wagen einen steil ansteigenden Weg hinauf, der zu einer roh aus dem Felsen geschlagenen freien Stelle führte. Dahinter konnte man mit dem Wagen nicht weiterfahren.

„Wir steigen hier aus und gehen zu Fuß", meinte er. „Der Weg ist ziemlich uneben, also sehen Sie sich vor."

Er ging vor ihr, hielt ihr dann und wann Brombeerranken aus dem Weg oder bot ihr seine Hand, um ihr über schlüpfrige Baumwurzeln zu helfen. Einmal blieb er stehen und suchte die Zweige eines knorrigen Baumes ab. „Feigen", sagte er. „Sie sind schon reif. Möchten Sie welche?"

Ohne auf ihre Antwort zu warten, erkletterte er den Stamm und pflückte eine Handvoll von den dunkelgrünen, sich purpur färbenden Früchten, bei denen zum Teil die Haut eingerissen war und das braunrote Fruchtfleisch zeigte.

Alice biß herzhaft in eine hinein. Die Frucht war süß und so saftig, daß sie sich schnell den Rest in den Mund stopfte, um nicht ganz fürchterlich zu kleckern.

Karim beobachtete sie. „Sie essen wie ein Kind - richtig gierig", meinte er lächelnd.

Sie lächelte zurück. „Tut mir leid. Aber es sind meine Lieblingsfrüchte, und in England gibt es sie kaum."

„Möchten Sie noch eine? Ich trage Ihnen die übrigen; die können Sie dann gemütlicher am Wasserfall essen."

Sie hörten sein Rauschen lange, ehe sie ihn erblickten. Das Wasser fiel in Kaskaden über den Felsen und sammelte sich an dessen Fuß in einem tiefen Teich. Es wirkte tatsächlich wie ein Brautschleier.

Alice beschattete ihre Augen und folgte dem Wasserfall mit den Blicken. „Wohin fließt das Wasser von dem Teich aus?"

Karim suchte einen passenden Felsen mit glatter Oberfläche und lud sie ein, sich hinzusetzen. „Es frißt sich so tief, wie es kann, in den Felsen hinein und verteilt sich dann in winzige Wasseradern, nehme ich an. Ich weiß es nicht genau, ich bin kein Geologe."

Das gab ihr das Stichwort für eine Frage, die sie ihm schon lange hatte stellen wollen: „Was haben Sie eigentlich studiert, als Sie in Oxford waren?"

„Geschichte. Moderne Geschichte, mit Betonung der Geschichte meines eigenen Landes, das so viele Angreifer und Eroberer erdulden mußte, bis es selbständig wurde." Er warf einen Stein in den Teich. „Nicht, daß die Franzosen oder Spanier ihre Protektorate mißbraucht hätten; sie haben uns Straßen und Schulen gebaut, aber wir sind eben nicht frei gewesen. Ein Umstand, den ihr Engländer nie kennengelernt habt."

„Nein."

Sie befand sich auf gefährlichem Boden, trotzdem fragte sie weiter: „Warum sagen Sie Ihr Engländer, als wenn Sie nicht selbst zur Hälfte einer wären? Darf ich offen reden?"

„Nur zu. Sie brauchen mich nicht zu schonen. Ich kann es durchaus verkraften, über dieses Thema zu sprechen."

„Gut. Offen gestanden - ich finde, Sie tun Ihrem Vater sehr unrecht, wenn Sie alles, was mit seinem Heimatland zu tun hat, ablehnen. Sie leugnen schließlich Ihr eigenes Erbgut, und das kann kein Mensch auf die Dauer."

Sein Gesichtsausdruck wurde verschlossen. „Sie haben gut reden! Und wenn mich dieses Erbgut, wie Sie es bezeichnen, unglücklich gemacht hätte? Wenn man mich in seinem Heimatland nicht voll akzeptiert hätte?"

Alice, die ja durch Elaine wußte, wie sehr er verletzt worden war, fragte ruhig: „Warum denn nicht?"

„Weil ich ein Mischling bin", erwiderte er bitter. „Zwar intelligent und sogar interessant, aber ein Außenseiter der Gesellschaft."

„Man muß Sie zutiefst beleidigt haben", sagte Alice nach einer Weile leise. „Es ist Ihnen sicher nicht leichtgefallen, England so konsequent den Rücken zu kehren."

Er sah sie an. „Nein. Mein liebes Mädchen, keiner kann von heute auf morgen liebgewordene Gewohnheiten, Verbindungen und Freundschaften abschütteln, und das ohne Bedauern ..."

Sie hakte schnell ein. „Aber das müssen Sie doch gar nicht! Schön, Sie sind ein Mischling, daran können Sie nichts ändern. Aber - bitte, sind nicht die besten Rosen Mischlinge, Kreuzungen? Pfropft man nicht Weinranken auf fremde Rebstöcke?"

Vielleicht waren ihre Vergleiche nicht gerade glücklich gewählt, aber auf ihrer verzweifelten Suche nach einer Parallele, die ihn überzeugen könnte, fuhr sie dennoch fort: „Und Ihre eigenen geliebten Berberpferde? Sie haben gesagt, daß sie arabisches und marokkanisches Blut haben -macht sie das nicht auch zu Mischlingen?"

Sie hörte zu reden auf, da sie sich nicht schlüssig war, ob sein intensiver Blick nun einschüchternd oder ermutigend gemeint war. Endlich sagte er langsam: „Dieses Argument ist Ihnen nicht so aus heiterem Himmel eingefallen. Sie haben darüber nachgedacht."

Sie gab es zu. „Ja."

„Warum?"

Sie zog mit dem Zeigefinger eine Kurve in den Staub auf dem Felsen. „Weil ich glaube, daß es wichtig ist."

„Was ist wichtig? Und warum für Sie?"

Sie wagte nicht, die zweite Frage zu beantworten. Auf die erste hin sagte sie: „Ich habe versucht, es Ihnen klarzumachen. Wichtig ist, daß Sie Ihre Verbitterung überwinden, denn so können Sie nicht weitermachen." Sie schwieg einen Augenblick. „Die Seiyida hat mir mal ein marokkanisches Sprichwort zitiert - es ging darum, daß man der Sonne entgegengehen muß."

Er nickte. „Ich kenne es. Worin besteht die Verbindung?"

„Nun, bedeutet es nicht, daß man die Dinge, die man nicht ändern kann, akzeptieren lernen muß? Dem Unvermeidlichen ins Auge sehen und sich darum bemühen muß, auf die Sonnenseite des Lebens zu gelangen?"

„Wobei das Unvermeidliche wäre, daß ich ein Mischling bin. Ich sollte mich mit dieser Tatsache abfinden?"

„Ja. Übrigens: ich glaube, Sie würden mir nicht einmal zuhören, wenn Sie sich selbst nicht schon in Gedanken damit beschäftigt hätten."

Daraufhin zog er eine Grimasse. „Meine Mutter hat also geplaudert."

„Ja."

„Was hat sie denn gesagt?"

„Sie meint, Sie brauchen jemanden, der Ihnen verständnisvoll zuhört."

„Also Ratschläge? Vielen Dank, aber dafür habe ich keinen Bedarf."

„Keinen Rat", gab Alice zurück. „Sie weiß, daß Sie immer Ihre Entscheidungen allein treffen. Das hat sie jedenfalls gesagt."

„Sehr gut. Stimmt auch."

„Trotzdem fragt sie sich, ob Sie nicht daran zu zweifeln begonnen haben, daß Sie in der Vergangenheit immer die richtige Entscheidung getroffen haben. Daß etwas geschehen ist, das diese Zweifel ausgelöst hat."

Er stand daraufhin auf, richtete sich zu voller Höhe auf und streckte eine Hand aus, um Alice hochzuziehen. Ohne sich direkt an sie zu wenden, murmelte er: „Weibliche Intuition, geliebte Mutter. Glaub es oder nicht, du hast recht."

Und wenn ich ihn fragte, was? dachte Alice. Aber ich weiß ja schon, was er sagen würde. Daß er sich über Elaine eines anderen besonnen hat; wünschen würde, sie hätten sich nicht getrennt; weiß, daß er nachgeben muß, um sie wiederzugewinnen. Das ist es, was ihn schwankend macht.

Vielleicht erwartet er, daß ich danach frage. Aber das tue ich nicht. Ich kann es nicht. Weil ich es durchaus nicht wissen will. :

Sie ging jetzt vor ihm her, und das Schweigen zwischen ihnen wurde nur einmal unterbrochen, als sie auf dem trügerischen Pfad ausrutschte, und er sie einen Moment lang festhielt.

„Vorsichtig", sagte er, so beiläufig wie zu einem stolpernden Kind.

Erst als sie den Wagen wieder erreicht hatten, ergriff er zum zweiten Mal das Wort, indem er sie erinnerte: „Sie haben Ihre Feigen gar nicht alle aufgegessen und sie am Wasserfall liegengelassen."

„Ach - ja", sagte sie ausdruckslos. „Hab sie vergessen." Sie dachte daran, wie sie jetzt in der Sonne verschrumpelten, und verspürte ein kleines Schuldgefühl, weil er sie ihr schließlich geschenkt hatte.

Am nächsten Morgen schickte er ihr durch einen Boten einen Korb reife Feigen, in feuchtes Moos eingebettet und von ihren eigenen Blättern umgeben. Zwischen ihnen steckte eine Karte.

Vielen Dank für den gutgemeinten Rat. Aber er war unnötig. Ich hatte mich schon vorher dazu entschlossen -um bei Ihrem Gleichnis zu bleiben -, um den Berg herum meiner Sonne entgegenzugehen. Auch wenn ich noch nicht weiß, wie und wann. Wünschen Sie mir gute Reise - bitte!

Sie warf einen Blick auf die Früchte, konnte ihnen jedoch keinen Wert abgewinnen, denn sie waren ganz sicherlich von der Hand des Gärtners, der sie abgeliefert hatte, gepflückt und mit beruflicher Nüchternheit arrangiert worden. Sie schickte sie in die Küche zu Rachma und behielt nur die Karte, um sie immer und immer wieder zu lesen. Sie konnte sie nicht vernichten, diese einzige schriftliche Botschaft von ihm an sie, auch wenn sie sie als Abschied von ihr deutete.

Ihre Antwort, die sie mit der Post sandte, war noch kürzer.

Vielen Dank für die Feigen. Und - gute Reise.

Sie begann, Ordnung zu schaffen für die bevorstehende Rückkehr von Debbie. Schwester Bernardine besuchte das Heim ein weiteres Mal und drückte ihre Genugtuung über Alices Arbeit aus. Besonderes Lob fand sie für Alices offensichtlich erfolgreiche Taktik gegenüber Xenia und Rassim.

Alice fing an zu bedauern, daß sie die Kinder bald aus den Augen verlieren sollte, besonders Xenia, die trotz zeitweiliger Wildheit und unveränderter Begeisterung für ihren Flitterkram ein Verantwortungsgefühl entwickelte, das weit über ihre Jahre hüiausging. Sie rebellierte gegen Disziplin, aber blickte auf, wenn man ihr Vertrauen zeigte.

Eine der neuen Freiheiten, die Alice ihr seit kurzem zugestanden hatte, war, sie allein oder mit Rassim zu kleineren Einkäufen ins Dorf zu schicken. Voller Eifer nahm sie dann ihren Auftrag von Alice, Sarepta oder Sorab entgegen, bewaffnete sich mit einem Korb und kehrte auch immer bald mit ihren Erwerbungen wieder, wonach sie genau vorrechnete, was sie wo ausgegeben hatte, und auch immer den Rest der Summe bis auf das letzte Geldstück zurückbrachte.

Sie war allein auf einem dieser Gänge im Ort gewesen, als sie mit der Nachricht ins Haus kam, Elaine, die den Wagen der Routs fuhr, hätte sie unterwegs mitgenommen. Sie hätte ein- oder zweimal angehalten, um etwas für Mrs. Rout zu erledigen, und hätte dann Xenia zum Heim gebracht. Xenia beschrieb Elaine als die englische El Anissa, die Alice während einer Arbeitsstunde besucht hatte, und Alice erinnerte sich, daß Xenia Elaine damals flüchtig aufgefallen war.

„Das war aber nett von El Anissa Kent", sagte Alice. „Hast du dich auch bei ihr dafür bedankt!"

„Ich hab ihr die Blumen geschenkt, die ich unterwegs gepflückt hatte", erwiderte Xenia mit Würde, und Alice wünschte, sie hätte Elaines Reaktion sehen können, als ihr Xenias heiße kleine Hand ein paar vermutlich halb verwelkte Gänseblümchen entgegenstreckte. Doch dann vergaß Alice den Vorfall, der bald einen langen Schatten werfen sollte.

9. KAPITEL

In dieser Woche war Yves Renair nach Frankreich geflogen, im Zusammenhang mit seiner Rückkehr dorthin. Er war noch fort, als Alice eine überraschende Einladung von Mrs. Rout zu einer Gartenparty erhielt. Zwanglose Kleidung besagte die Karte, und Mrs. Rout hatte noch eine Note hinzugefügt, in der es hieß, Karim würde ebenfalls kommen und Alice abholen wie auch wieder nach Hause bringen. Alice nahm an, und als am Morgen der Party Elaine anrief, vermutete sie, diese hätte eine weitere Botschaft von Mrs. Rout für sie.

Doch Elaine rief in eigener Sache an. „Ich muß Sie sehen. Wenn es Ihnen paßt, komme ich gleich rüber."

„Warum - ja", gab Alice zur Antwort, überrascht, daß Elaine nach dem Gespräch vom letzten Mal noch direkten Kontakt mit ihr suchte. „Aber wir sehen uns doch heute abend auf der Party bei den Routs", erinnerte Alice sie.

„Ja, ja, ich weiß", gab Elaine unwillig zur Antwort. „Aber das jetzt ist dringend - und ernst, und ich möchte darüber nicht am Telefon sprechen. Also erwarten Sie mich bitte in einer halben Stunde."

Alice empfing sie im Büro, und Elaine kam sofort zur Sache. „Wissen Sie auch, daß sich unter Ihren Kindern hier ein Dieb befindet?"

Völlig aus dem Gleichgewicht gebracht, wiederholte Alice mechanisch: „Ein Dieb? Was meinen Sie damit? Wie kommen Sie darauf, so etwas anzunehmen?"

„Ich nehme es nicht an, ich weiß es. Das Mädchen, das ich neulich im Auto mitgenommen habe, hat mich bestohlen."

Alice faßte sich und überflog im Geist Kenias Bericht über die Begegnung.

„Ja", sagte sie, während sie versuchte, sich und Elaine beim Sprechen die Einzelheiten ins Gedächtnis zurückzurufen. „Das war Xenia, eine Siebenjährige. Sie war Ihnen während Ihres Besuches hier wohl aufgefallen. Sie erzählte mir, Sie hätten sie vom Dorf aus mit dem Wagen mitgenommen. Aber daß sie Ihnen etwas gestohlen haben sollte, daß sie überhaupt dazu die Chance gehabt hätte - das ist absurd, unmöglich!"

„So?" fragte Elaine gedehnt. „Selbst wenn ich weiß, daß sie es getan haben muß? Selbst wenn es Schmuck ist, den sie genommen hat? Sie haben mir doch selbst erzählt, daß sie in dieser Hinsicht wie eine Elster ist?"

Alices Überzeugung an Xenias Unschuld geriet ins Wanken, als sie an die Unterhaltung dachte, und noch mehr, als ihr die Geschichte mit Nirakas Brosche einfiel, zu der Xenia sich auch selbst verhelfen hatte. Aber sie hatte sich doch inzwischen so sehr geändert! Und wirklichen Schmuck! Ganz gewiß nicht!

Elaine wartete. So selbstverständlich wie möglich sagte Alice: „Ich kann es nicht glauben. Was hat sie denn Ihrer Überzeugung nach an sich genommen?"

„Ein Paar Perlenohrringe aus einem Kästchen im Handschuhfach. Ich hatte sie vom Juwelier in der Stadt abgeholt, bei dem sie repariert worden waren. Als ich an diesem Tage nach Hause kam, war das Kästchen leer. Was die Chancen für die kleine Diebin betrifft, so gab es sie reichlich. Zweimal bin ich ausgestiegen, ehe ich sie hier absetzte, und sie ist im Wagen geblieben. Na?"

Alice spielte gedankenverloren mit einem Bleistift, der auf dem Tisch lag.

„Was ich nicht verstehe", sagte sie, „ist folgendes: Warum haben Sie nicht sofort Xenia verdächtigt, als Sie entdeckten, daß das Kästchen leer war? Warum haben Sie bis heute, immerhin ein paar Tage später, gewartet, ehe Sie sie beschuldigten?"

„Mir ist es nicht gleich aufgefallen."

„Aber Sie haben doch eben gesagt, als Sie,nach Hause kamen ..." stieß Alice hervor.

Elaine zuckte mit den Achseln. „So, habe ich das? Ein Versprecher. Ich meinte, ich nahm das Kästchen an diesem Tage mit in mein Zimmer. Aber ich habe es nicht geöffnet und entdeckte erst heute morgen, daß die Ohrringe verschwunden waren. Worauf ich natürlich folgerte ..."

„Daß Xenia sie genommen haben muß, obwohl Sie nicht beweisen können, daß der Kasten schon leer war, als sie sich von ihr trennten?" forschte Alice.

„Er ist die ganze Zeit in einer abgeschlossenen Schublade in meinem Zimmer gewesen. Was muß ich also dabei groß beweisen, und was gedenken Sie zu tun?"

„Ich werde das Mädchen natürlich danach befragen."

„Jetzt? Vor meinen Augen?"

„Wenn Sie das wollen. Ich werde sie holen lassen", sagte Alice und klingelte nach Binyeh.

Als das Kind dann kam, forschte Alice intensiv in seinem Gesicht nach einem Zeichen von Unbehagen beim Anblick von Elaine. Doch Xenia senkte nur grüßend den Kopf in deren Richtung, murmelte „El Anissa Kent" und wartete darauf, daß Alice sie anredete.

Alice wandte sich an Elaine: „Wollen Sie Xenia befragen oder soll ich?"

„Meinetwegen können Sie es tun", versetzte Elaine achselzuckend. „Solange ich hier bin und sehen kann, daß Sie es wirklich tun."

„Sehr wohl."

Alice schluckte eine heftige Erwiderung auf diese Unverschämtheit hinunter und wandte sich an Xenia.

„Xenia", fing sie an. „An diesem Tag, an dem El Anissa Kent dich in ihrem Auto nach Hause gefahren hat, hast du da eine kleine Schachtel angefaßt oder aufgemacht? Sie lag in dem Handschuhfach des Autos?"

Xenia zog die Stirn in Falten bei dem unvertrauten Wort. „Hand-schuh-fach?" wiederholte sie langsam.

„Eine kleine Nische genau vor deinem Sitz im Auto", erklärte Alice.

„Es hat eine Klappe. Sie mußte sie dafür ja wohl öffnen", warf Elaine ein.

„Ein ganz kleines Regal also, mit einer Tür. Hast du sie aufgemacht und das Kästchen .darin gesehen?"

Xenia schüttelte ihren Kopf. „Ich hab gar kein kleines Regal gesehen ..."

„Unsinn!" explodierte Elaine. „Du hast das Fach und auch das Kästchen aufgemacht. Und du hast ..."

Alice schaltete sich wieder ein. „Sie haben mir erlaubt, die Fragen zu stellen, also lassen Sie es mich auch tun. Xenia - El Anissa Kent glaubt, du hast das Fach aufgemacht, hast das kleine Kästchen gesehen und die hübschen Ohrringe, die darin waren, herausgenommen und behalten. Du weißt, was Ohrringe sind, nicht wahr?"

„Klar. Wie meine hier." Xenias verächtliches Kopf schütteln versetzte ihre Ohrreifen aus Falschgold in schaukelnde Bewegung.

„Nicht ganz wie deine", korrigierte Alice sie. „Die ändern bestanden aus Perlen und waren sehr wertvoll für El Anissa. Und weil du die Gelegenheit dazu hattest, frage ich dich jetzt: Hast du sie genommen oder nicht?"

Xenia öffnete weit und - nach Alices Ansicht - überzeugend unschuldig ihre Augen.

„Ich kenne doch Perlen", trotzte sie. „Wenn ich groß bin, kauft mir mein Mann welche. Und Gold und Rubine und viel Silber und ... Aber wenn ich diese Ohrringe genommen hätte, dann hätte ich sie mir auch an die Ohren gesteckt, damit jeder gesagt hätte: Guck dir mal Xenia an! Was für schöne Juwelen sie hat! Sieht sie nicht prima aus?"

Dieses kindlich logische Argument muß doch sogar Elaine überzeugen, dachte Alice. Sie lächelte erleichtert. Xenia würde nie Schmuck verstecken. Sie hätte die Perlenohrringe sofort angelegt, um damit zu prahlen.

Alice wandte sich zu Elaine: „Ich meine, das ist ganz sicher wahr. Wenn sie Ihre Ohrringe genommen hätte, hätte sie der Versuchung nicht widerstanden, sie auch zu tragen."

„Und Sie glauben ihr? Auf diesen sogenannten Beweis hin?" wollte Elaine wütend wissen. „Sie würden ihr Wort meinem vorziehen? Als ob die kleine Diebin mit den Ohrringen herumstolzieren würde! Sie gibt zu, ihren Wert zu kennen, und sie hätte sie bis jetzt sehr leicht verkaufen können. Sie lassen doch aber zumindest ihre Sachen danach durchsuchen, hoffe ich?"

Alice entgegnete ruhig: „Ich kenne sie, und ich denke, ich kann ihr glauben. Aber falls Sie darauf bestehen, schön, dann wollen wir auch das tun, obwohl ich davon überzeugt bin, daß wir Ihre Ohrringe nicht finden werden."

„Damit rechne ich auch gar nicht. Sie weiß zu gut, was sie wert sind. Sie hat sie bestimmt schon irgendwelchen Leuten zugeschanzt, möchte ich behaupten."

„Dazu hat sie gar nicht die Gelegenheit gehabt. Außer zu Spaziergängen mit den anderen Kindern hat sie das Grundstück seit dem Tage, von dem wir sprechen, nicht verlassen. Aber natürlich werde ich in ihrer Spielkiste und ihrem Fach nachsuchen, wo sie ..."

Doch auf diese Worte hin schob Xenia ihre Lippen entschlossen vor und schrie: „Nein!"

Elaine erlaubte sich ein dünnes Lächeln, und Alice hätte ihr am liebsten ins Gesicht geschlagen. „Sehen Sie? Sie hat Angst!"

„Ich habe keine Angst! Ich bin keine ...! Aber wenn du in meinen Schmuckkasten nachguckst, dann findest du - dann findest du ..."

Xenia brachte die letzten Worte nur noch mühsam hervor, schluchzte auf und floh aus dem Zimmer. Ihr klägliches Weinen war durch das ganze Haus zu hören.

Alice, wütend und niedergeschmettert, sagte nichts.

Elaine stichelte: „Also wenn Sie noch einen weiteren Beweis brauchen ...! Aber natürlich ist es jetzt zu spät, jetzt haben Sie ihr ja die Gelegenheit gegeben, das Beweisstück zu vernichten."

„Sie haben vorhin zugegeben, daß Sie daran zweifeln, ob wir irgend etwas finden. Aber wollen Sie jetzt bitte mit mir kommen, damit wir eine Durchsuchung veranstalten können?" fragte Alice.

Doch Elaine machte sich pikiert zum Gehen bereit. „Nein, das überlasse ich Ihnen. Ich habe genug gehört und gesehen, um mich davon zu überzeugen, wohin mein Eigentum gewandert ist. Sehr peinlich, diese Sache. Für Sie und das Heim, meine ich. Es wird ziemlich übles Gerede geben, fürchte ich - ich werde es nicht verhindern können, daß die Geschichte verbreitet wird. Karim zum Beispiel dürfte besonders daran interessiert sein."

Mit einem boshaften Lächeln nickte Elaine Alice zu und ging-

Und du wirst es ihm selbst mit Wonne beibringen, dachte Alice, als sie Kenia suchen ging. Du hast ja schon einmal verschleierte Drohungen gegen mich und das Heim ausgestoßen, du Schlange! Jetzt haben Kenia und ich dir auch noch die Gelegenheit geliefert, sie wahr zu machen!

Wie sie erwartet hatte, saß Kenia im Schneidersitz auf dem Fußboden neben ihrem Bett im Schlaf saal und hielt den Karton mit ihrem Krimskrams vor sich auf den Knien. Beim Anblick von Alice umklammerte sie ihn fest mit beiden Händen.

„Du darfst nicht reingucken!" rief sie verzweifelt.

Alice kniete sich neben sie. „Aber ich muß. Ich muß der El Anissa Kent sagen können, daß ihre Ohrringe nicht darin sind - wenn sie wirklich nicht darin sind."

„Du glaubst, sie sind drin!" klagte Kenia sie an.

„Wie kann ich das sagen, wenn du mich nicht in deine Schachtel hineinblicken läßt?"

„Nein!"

„Doch!"

Alice entwand mit Gewalt die Schachtel dem Griff des Kindes und klappte sie auf. Sie drehte sie um, kippte den Inhalt auf den Boden und breitete Kenias Herrlichkeiten darauf aus. Wie sie es erwartet hatte, waren keine Ohrringe darunter. Es war nur das übliche Durcheinander von losen Glasperlen, Murmeln, Blecharmbändern und dann ein längeres Stück feiner Draht, an dem abwechselnd runde Steine und viereckige Metallplättchen aufgefädelt waren. Alice hielt es in die Höhe und fragte: „Was ist das hier?"

Kenia sah sie mit einem herzzerreißenden Ausdruck an. „Das wird eine Halskette", sagte sie, und ihre Unterlippe zitterte verdächtig. „Für dich. Es sollte ein Abschiedsgeschenk werden. Aber jetzt hat du es schon gesehen, und ich wollte doch nicht, daß du es weißt. Jetzt ist es keine - keine Überraschung mehr. Und du bist gemein, weil ich es dir zeigen muß, nur weil die El Anissa Kent denkt ..."

Kenia konnte nicht mehr weitersprechen. Ihr Ausbruch endete in verzweifeltem Schluchzen. Sie warf sich der Länge lang hin, hämmerte mit den kleinen Fäusten auf den Boden und stieß Alice heftig weg, als sie versuchte, das Kind zu beruhigen. Schließlich ließ sie die Kleine mit ihrem Kummer allein. Später würde sie mit ihr reden und ihr mit einfachen Worten ihre Handlungsweise erklären.

Schweren Herzens zog sich Alice für die Party bei den Routs um. Sie hätte am liebsten abgesagt, aber dafür war es einerseits zu spät, andererseits hätte sie eine plausible Erklärung finden müssen. Und sie wollte schließlich nicht selber den Stein ins Rollen bringen.

Das würde Elaine viel besser besorgen! Vielleicht nutzte sie sogar die Gelegenheit, Alice auf der Party bloßzustellen? Dort waren immerhin alle wichtigen Leute versammelt, sie würde für ihre Szene ausreichend Zuschauer, haben. Dennoch: Alice wollte einer möglichen Auseinandersetzung nicht feige aus dem Wege gehen. Sie hatte zwar keinen Beweis, daß Kenia die Ohrringe nicht gestohlen hatte, aber Elaine letzten Endes auch nicht.

Alice machte sich ziemlich große Sorgen um das Kind. Sie befürchtete, daß alles, was sie ihm in letzter Zeit mühsam beigebracht hatte, nun völlig umsonst gewesen war. Das bißchen Vertrauen, was Kenia zu ihr und auch den anderen gefaßt hatte, war sicherlich jetzt zerstört. Sie war wieder zu einem Problemkind geworden.

Da es sich um eine Party im Freien handelte, wählte Alice einen Hosenanzug aus Baumwollstoff. Dazu trug sie Sandalen mit flachen Absätzen. Ihre Haare hatte sie mit einem Stirnband zurückgebunden.

Karim holte sie pünktlich ab. Überraschenderweise war er heute europäisch gekleidet - hellgraue Hose und ein Seidenhemd mit offenem Kragen. Es stand ihm vorzüglich, fand Alice. Trug er diese Kleidung, um Elaine entgegenzukommen? War es ein erster Schritt auf dem Weg um den Berg herum?

Der Garten der Routs war nicht groß, aber sehr gepflegt. Als Karim und Alice ankamen, waren die meisten Gäste schon versammelt. Es waren nicht so viele, wie Alice angenommen hatte. Zumeist handelte es sich um englische oder französische Anwohner aus Tasenir. Ein paar Leute kamen auch aus der Stadt, aber offensichtlich waren sie alle gut miteinander bekannt.

Sie entdeckte unter den Gästen einige Marokkaner, die wie Karim europäische Kleidung trugen. Bevor man in den Garten ging, versammelte man sich im Hause zum Begrü-ßungstrunk. Ein Rundblick über die einzelnen Gruppen hin zeigte Alice, daß Elaine noch nicht da war.

Erst als eine allgemeine Bewegung zum Garten hin entstand, erschien diese in der offenen Doppeltür des Wohnzimmers oder besser - es gab keinen anderen Ausdruck, um es zu beschreiben - sie trat auf.

Bei ihrem Anblick erstarb jedes Geplauder, und die Leute starrten sie entgeistert an. Denn sie war von Kopf bis Fuß auf Marokkanerin getrimmt. Es hätte zu dieser Gelegenheit nichts Unpassenderes sein können.

Ihre Kopfbedeckung aus scharlachrotem und grün gesäumtem Tuch beherbergte eine Art Tiara, die so tief in ihre Stirn reichte, daß die davon herabbaumelnden runden, vergoldeten Plättchen fast in ihre schwarz ummalten Augen hineinschaukelten. Sie hatte ihre Haare so gekämmt, daß sie in zwei Strähnen locker nach vorn hingen, und Silber- und Goldfäden in sie hineingewunden.

Ihr Kaftan war unglaublich bunt - knallgrün, grellrot und himmelblau, gnädig verhüllt von mehreren Chiffontüchern, die um ihre Schultern schwebten. Ihre Taille war eingeschnürt von einem breiten Ledergürtel mit Metallbeschlägen, an dem eine wahre Sammlung von Münzen baumelte. Unter dem Saum ihres Kaftans schauten ihre nackten Füße in reichbestickten Pantoffeln hervor. Große halbmondförmige Clips hingen von ihren Ohren herab, und die Finger beider Hände waren schwer beringt.

Eine echte Marokkanerin hätte unter Umständen einen solchen Putz tragen können. An Elaine, blond, blauäugig und durch und durch angelsächsisch, wirkte es nur grotesk.

Die ganze Gesellschaft starrte sie an. Elaine hob kriegerisch ihr Kinn und starrte zurück. Jemand hinter Alice murmelte: „Das darf doch wohl nicht wahr sein! Sie muß sich den billigsten Trödelladen in der Stadt ausgesucht haben für diesen Aufzug."

Dann kam Elaine hüftenschwingend näher. Sie schien sich zwar nicht sonderlich wohl zu fühlen in ihrer Haut, überspielte aber eventuelle Verlegenheit gekonnt. Alice an ihrer Stelle wäre vor Scham sicherlich in den Erdboden versunken.

Elaine blickte um sich. „Ach, ihr spießigen Leute alle!" schimpfte sie. „Es ist doch eine Party, oder? In Marokko? Stimmt's nicht? Marokko - exotisch, märchenhaft, sonnenüberflutet, mit azurblauem Himmel, mit Zelten und Palästen - lest den Rest in den Reiseführern nach! Und ihr gebt euch so langweilig wie zu Hause! Ich dachte doch zumindest, daß du, Karim ..." Sie pickte ihn sich heraus und bewegte sich auf ihn zu. „... ein bißchen exotische Farbe in die Szenerie bringen würdest."

Er blickte sie unter halbgeschlossenen Lidern hervor von oben bis unten an. „Vielleicht hatte ich das Gefühl, eine Grillparty wäre nicht ganz die richtige Gelegenheit für ein ..." Er legte eine Pause vor dem Wort ein. „Fastnachtskostüm."

. Er hatte ihr ihre eigene Unverschämtheit zurückgegeben, und sie mußte es gemerkt haben, denn sie zuckte ärgerlich mit den Schultern. „Ach, wenn du nicht mal einen Scherz vertragen kannst", sagte sie beleidigt und wandte sich ab.

Captain Rout brachte ihr etwas zu trinken, und sie verzog sich mit ihm in eine Ecke.

Alice hegte den Verdacht, daß Elaines bizarre Kleiderwahl mitnichten als Scherz gemeint war, sondern ein ganz bewußtes Manöver, um Karim zu zeigen, wie sehr sie auf ihn einging. Sie wollte ihm schmeicheln - nur fand ihr Versuch nicht seinen Beifall.

Sicherlich hatte Elaine angenommen, auch er sei marokkanisch angezogen, und sie beide würden sozusagen allein den Orient auf der Party vertreten. Sie hatte sich verrechnet. Fast tat sie Alice leid.

Doch Alices Mitleid mit Elaine sollte kurzlebig sein. Im Laufe des Abends sollte der Zufall dazu beitragen, jegliche Sympathie völlig zu zerstören. Abneigung und Verachtung waren das logische Ergebnis eines ganz beiläufigen Gesprächs mit ihrer Gastgeberin.

Die Männer überwachten das Grillen, und Alice half Mrs. Rout und einer anderen Dame dabei, Geschirr, Besteck und Servietten auszuteilen und die Gläser neu zu füllen. An dem langen Büffettisch in der Veranda stehend, erzählte ihnen Mrs. Rout:

„Elaine hat übrigens heute morgen in ihrer Post eine Überraschung gefunden - ein Paar wertvolle Ohrringe wurde ihr zugeschickt, deren Verlust sie noch nicht einmal bemerkt hatte!"

Zweimal innerhalb weniger Tage sollte Elaines Schatulle einen Verlust erlitten, und beide Male sollte es sich um dieselbe Art von Schmuckstück gehandelt haben? Alice spitzte die Ohren.

„Das ist aber eigenartig", sagte sie zu Mrs. Rout. „Sind sie ihr denn gestohlen worden, und wie kommt es, daß sie ihren Verlust nicht bemerkt hat?"

„O nein, nein", erwiderte Mrs. Rout, „nicht gestohlen. Sie hatte sie bei einem Juwelier in der Stadt gelassen, um an ihnen etwas ändern zu lassen. Später hat sie sie dann wieder abgeholt - so dachte sie jedenfalls. Doch durch ein Versehen in dem Laden war ihr das leere Kästchen ausgehändigt worden, und das machte sie nicht auf, als sie es mit nach Hause brachte. Erst als man dann bei dem Juwelier merkte, daß die Ohrringe noch dort waren und sie ihr zuschickte, entdeckte sie, daß sie gar nicht in dem Kästchen gewesen waren."

Die andere Dame sagte: „Da hat sie aber Glück gehabt."

Alice fragte so beiläufig, wie sie konnte: „Wie lange waren sie denn noch in dem Geschäft gewesen, bis daß man dort auf den Irrtum kam?"

„Das weiß ich nicht ganz genau. Mehrere Tage, vielleicht eine Woche. Auf jeden Fall hat Elaine sie erst heute morgen wiederbekommen."

Und der Postwagen aus der Stadt machte seine Runde im Dorf nie später als acht Uhr, so daß Elaine, als sie gegen Mittag zum Heim herübergekommen war, schon genau wußte, was mit den fehlenden Ohrringen wirklich passiert war! Jedoch zwischen dem Öffnen ihrer Post und ihrem Telefonanruf bei Alice hatte sie ihre gemeine Anklage gegen Xenia erhoben, in der Hoffnung, daß auf jeden Fall etwas Schmutz hängenbleiben würde.

Falls sie echt davon überzeugt gewesen wäre, wenn auch fälschlicherweise, daß Xenia gestohlen hatte, dann hätte Alice ihr vergeben können. Aber sie hatte genau gewußt, daß das Mädchen unschuldig war! Konnte Bösartigkeit noch weiter gehen?

Was war diese Elaine nur für ein Mensch? Ein Kind dazu zu benutzen, um Alices Ruf zu beschmutzen? Denn darauf lief es hinaus, das war Alice inzwischen klar. Elaine vermutete in ihr eine Rivalin um die Gunst ihres alten Freundes Karim. Sie wollte sie mit allen Mitteln ausschalten, ohne Rücksicht auf Verluste.

Da die Routs die Wahrheit mit den Ohrringen kannten, hätte Elaines Anklage auf sehr wackligen Füßen gestanden. Sie war dennoch dieses Risiko eingegangen. Wie groß mußte der Haß dieses Mädchens auf sie sein!

Würde sie es wirklich wagen, mit dieser Lügengeschichte zu Karim zu laufen? Vielleicht hoffte sie, die Wahrheit käme erst so spät heraus, daß keiner sich mehr so richtig an die Vorgänge im einzelnen erinnern konnte. Dann könnte sie immer noch den Verdacht gegen Xenia rechtfertigen -und scheinheilig behaupten, ihr Irrtum täte ihr leid, aber was hätte denn nähergelegen ...

Doch das Schicksal hatte es mit Kenia und Alice gut gemeint. Der Zufall wollte es, daß Alice die Wahrheit jetzt schon wußte und so Elaines etwaigen Schachzügen um eine Nasenlänge voraus war. Noch besser - sie würde ihr die Suppe total versalzen! Sie versprach sich eine diesbezügliche Sitzung mit Elaine, die diese ganz und gar nicht genießen würde.

In der Hitze ihres ersten Zorns hätte sie etwas darum gegeben, diese Enthüllung noch an diesem Abend in Szene zu setzen. Doch unter dem Dach ihrer Gastgeber verbot das der gute Ton. Es würde eine bessere Gelegenheit geben. Sie bereitete sich statt dessen innerlich darauf vor, Kenia die frohe Botschaft mitzuteilen, daß sie nichts mehr zu befürchten hätte.

Vor dem Aufbruch der Gäste war hinter den Bergen ein schwaches Donnergrollen zu vernehmen, und man gratulierte den Routs, daß sie ihre Party erfolgreich zu Ende gebracht hatten, ehe der Regen einsetzte. Als Alice und Karim dann mit dem Wagen vor dem Heim ankamen, regnete es bereits dicke Tropfen. Er stieg mit ihr aus, und sie bedankte sich gerade bei ihm, als sich die Tür des Hauses öffnete und Sorab angelaufen kam.

„Alice! Seiyid Karim! Ich habe darauf gewartet, den Wagen zu hören", keuchte sie. „Etwas Schreckliches ist passiert - Kenia Vareh und auch Rassim sind weg - verschwunden, fortgelaufen! Ich habe Hussein aufgeweckt, und er hat den Garten durchsucht, während Sarepta mir beim Suchen im Haus geholfen hat. Aber sie verstecken sich nicht. Sie sind nicht hier ..."

Alice fühlte das Blut in ihren Adern stocken. Also waren ihre Bemühungen um Kenia umsonst gewesen - das Kind war beim ersten Anflug von Mißtrauen wieder in seine alten Verhaltensweisen zurückgefallen.

Alice wandte sich erklärend an Karim: „Zwei von unseren Kindern: Zwillinge, erst sieben Jahre alt. Eins von ihnen, das Mädchen, ist heute morgen in eine sehr häßliche Situation geraten." Sie richtete das Wort wieder an Sorab. „Wann hast du das herausgefunden? Wie lange können sie schon weg sein?"

„Das weiß ich nicht. Man kann es nicht sagen. Es war, als ich meine Runde im Schlafsaal machte, ehe ich selbst zu Bett ging. Ich fand zuerst Kenias Bett leer, dann Rassims. Eins oder zwei von den Kindern, die wach waren, sagten, sie hätten nichts gehört. Die anderen wollte ich nicht stören ..."

Sorab brach ihre Erzählung ab, als Karim sie beide beim Arm nahm und in das Haus schob. „Laßt uns das in Ruhe besprechen - erst mal raus aus diesem Wetter", sagte er und fügte zu Sorab gewandt hinzu: „Ist Hussein jetzt bei Ihnen im Haus? Ja? Gut."

Hussein und Sarepta wurden im Hintergrund sichtbar, als Karim ihnen allen voran in Alices Büro ging. „Nun los. Wann haben die beiden frühestens das Haus verlassen können?" fragte er Sorab.

„Sobald die anderen Kinder eingeschlafen waren."

„Sie wurden also zu Bett gebracht? Und wenn sie bald danach ausgerissen sind, wieviel Zeit ist dann verstrichen, bis Sie Ihre Runde machten, Sorab?"

„Ungefähr - zwei Stunden."

„So. Zwei Stunden, womöglich weniger. Wie weit könnten sie in dieser Zeit zu Fuß laufen?" überlegte er laut. „Acht Kilometer oder so. Aber welchen Weg könnten sie eingeschlagen haben?"

Alice beantwortete seine Frage. „Kenia Vareh kennt den Weg zum Dorf sehr gut. Sie geht ihn oft für mich."

„Und könnten sie dort Verwandte oder Freunde haben?"

„Ganz bestimmt nicht."

„Und obwohl über das Dorf keine Straße hinausführt, würden sie trotzdem versuchen weiterzukommen?" Karim winkte Hussein näher zu sich heran und sagte etwas auf arabisch zu ihm. Hussein eilte hinaus.

Karim erklärte: „Ich habe ihn hinüber zu Benoit Paul geschickt und gesagt, sie sollten jeden Bergpfad eine gewisse Strecke lang verfolgen, den die Kinder kennen könnten. Ich fahre jetzt mit dem Wagen die Straße in Richtung Stadt ab. Alles Sackgassen, aber was Besseres können wir nicht tun. Sorab, warten Sie hier bei Sarepta, falls die beiden zurückkommen."

Er wandte sich an Alice. „Wollen Sie mit mir kommen?"

„Ja bitte", bat Alice.

10. KAPITEL

Auf dem Wege zum Wagen fragte Karim: „Sie sagen, diese Xenia befand sich in einer häßlichen Situation. In was für einer? Und ihr Bruder?"

„Der wird von seiner Schwester überallhin mitgezogen." Sie stiegen in den Wagen und fuhren los. „Heute morgen hat Miss Kent mich aufgesucht und Xenia des Diebstahls beschuldigt."

„Wieso das denn? Was für eine Gelegenheit hatte das Kind, Elaine zu bestehlen?"

Alice erzählte es ihm.

„Aber Sie sind überzeugt, daß Xenia die Sachen nicht genommen hat?"

„Ich weiß es."

Der Gedanke an die beiden Kinder, die jetzt wahrscheinlich irgendwo vom Regen durchweicht wurden, vertrieb jeden Rest von Mitgefühl für Elaine in ihr.

„Woher wollen Sie das so genau wissen? Xenias Wort steht gegen Elaines, das ist alles. Es ist kein Beweis, daß Sie den Schmuck nicht unter ihren Sachen gefunden haben."

„Ich weiß, sie hat ihn nicht gestohlen", gab Alice störrisch zur Antwort. „Fragen Sie mich nicht, warum, aber ich weiß es."

„Ich muß Sie fragen, wenn ich Ihnen glauben soll. Kommen Sie", drängte er ungeduldig. „Sie wissen mehr über diese Sache, als Sie mir erzählen wollen. Sie glauben, Sie haben einen Beweis, daß Elaine das Kind irrtümlich beschuldigt hat?"

„Miss Kent befand sich keinesfalls in einem Irrtum."

„Befand sich nicht in einem Irrtum? Geheimnisvoll. Wie meinen Sie das?"

Nach einigem Zögern erzählte Alice ihm doch den ganzen Hergang. An seinem Schweigen merkte sie, daß es ihm einen Schock versetzt hatte. Dann sagte er: „Elaine soll also das Kind absichtlich und kaltblütig beschuldigt haben? Aber wieso?"

Wie konnte sie ihm die ganze Wahrheit erzählen? Nämlich, daß Xenia nur ein Werkzeug für Elaines Rache und Eifersucht gegen sie selbst war. Statt dessen sagte sie: „Ich weiß es nicht."

Doch das befriedigte ihn nicht. „Sie muß einen Grund gehabt haben. Haben Sie Elaine schon mit dem konfrontiert, was Sie durch Mrs. Rout erfahren haben?"

„Wie konnte ich das? Miss Kent ist Mrs. Routs Gast, und das war ich heute abend auch. Ich konnte doch keinen Skandal aus einer Bemerkung machen, die Mrs. Rout ganz beiläufig hat fallenlassen, ohne zu wissen, was mir das bedeutete. Sehen Sie das ein?"

„Ich sehe ein, daß Sie es nicht konnten", meinte Karim. „Aber ich könnte es."

Sie warf ihm einen flehenden Blick zu. „Ach nein, bitte nicht - lassen Sie es auf sich beruhen!"

„Auf sich beruhen lassen? Wenn es solche Folgen hat? Zwei unschuldige Kinder ihrer Angst und dem Unwetter preisgegeben! Sie treiben die Nächstenliebe zu weit, muß ich sagen."

„Das tue ich nicht", stritt Alice ab. „Ich bin aufgestört und wütend und - und verbittert. Aber so eine Auseinandersetzung wird nur zu Mißtönen zwischen Ihnen beiden führen."

„Nicht mehr Mißtöne, als es schon vorher zwischen uns gegeben hat", sagte er hart.

„Ja, aber das ist ja jetzt alles vorbei", sagte sie unbedacht, weil ihr einfiel, daß er in seinem einzigen Brief an sie so gut wie zugegeben hatte, Elaine verziehen zu haben.

„Vorbei?" fragte er erstaunt. „Darf ich hören, was Sie davon wissen, was zwischen Elaine und mir vorbei ist und was nicht?"

Er konnte nicht wissen, wieviel Elaine ihr anvertraut hatte, und er durfte es auch nicht.

„Ach, nichts", stammelte sie. „Ich meinte das nur so."

„Dann versuchen Sie auch bitte nicht, mir vorzuschreiben, wie ich sie behandeln soll", stieß er hervor. Doch dann nahm er zu ihrer äußersten Überraschung eine Hand vom Lenkrad und legte sie über ihre beiden, die sie im Schoß gefaltet hatte. Er drückte sie so sanft und sacht, daß es ihr fast wie eine Liebkosung vorkam.

Er sagte: „Sie zittern ja. Warum?"

Sie mußte sich einen plausiblen Grund einfallen lassen. „Ich-habe Angst."

„Um Xenia und ihren Bruder?"

Sie nickte stumm.

„Ich auch", gab er zu. „Das macht zwei. Aber wenn wir beide gemeinsam Angst haben - könnte das nicht helfen?"

Sie wußte nicht, was er damit meinte, und er erklärte es auch nicht. Aber er lächelte sie an, als er seine Hand wegnahm, und sie wußte nur, daß Lächeln und Berührung ihr etwas hatten sagen sollen. Etwas Freundliches. Etwas gab es zwischen ihnen, das Elaine Kent, wenn auch nur für die Augenblicke dieser Nacht, ausschloß.

Eine Weile schwieg Karim. Dann sagte er: „Ich habe eben versucht nachzurechnen, wie weit Xenia und der Junge gekommen sein könnten, vorausgesetzt, sie haben diese Straße gewählt und sind noch auf den Beinen."

„Meinen Sie, jemand hätte sie vielleicht mitgenommen?"

„In der Nacht ist das sehr unwahrscheinlich: Da fährt keiner mehr von Tasenir fort. Nein, mein Gedanke ist, daß wir jetzt langsamer fahren, gut nach allen Seiten Ausschau halten und bei dem Punkt halten, den sie allerhöchstens erreicht haben können."

„Und dann?"

„Dann müssen wir uns leider etwas Neues einfallen lassen. Wahrscheinlich bis zum ersten Morgenlicht warten, wenn ich nämlich jeden Mann, den wir haben, zu einer gründliehen Suche losschicken kann. Oder wir hoffen einfach, daß Hussein und Paul mehr Glück gehabt haben als wir."

Nach einer kleinen Weile hielt Karim an und wendete den Wagen. „Das war's, glaube ich." Sie gab ihm recht. Aus eigener Kraft hätten Xenia und Rassim auf keinen Fall weiterkommen können.

Auf der Rückfahrt spähte sie angestrengt durch die Scheiben in die Dunkelheit, aufmerksam beobachtete sie jeden Schatten, der sich bewegte, und alles, was den Kindern Schutz vor dem strömenden Regen bieten konnte - eine Steinmauer, eine Baumgruppe und einmal, gerade noch erkennbar, den roh behauenen Bogen einer Brücke über einem Flußbett.

Karim war gerade von der erfolglosen Suche darunter wiedergekommen, als ihr blitzartig etwas einfiel, was sie kurz vorher gesehen, aber nicht bewußt registriert hatte.

Sie legte eine Hand auf seinen Arm, als er sich zum Weiterfahren anschickte.

„Nein", sagte sie. „Fahren Sie zurück - nicht sehr weit. Da ist eine Stelle, wo das Land gleich hinter dem Straßenrand ganz scharf abfällt. Ich erinnere mich jetzt, ganz kurz ein Dach gesehen zu haben. Ein flaches ..."

An einer Haarnadelkurve ließ sie ihn wieder anhalten. Auf der einen Seite ragten Felsen auf, an der anderen ging es ziemlich schnell steil nach unten. Sie stiegen aus.

„Da", zeigte Alice. „Als wir um die Ecke gefahren sind, habe ich es ganz flüchtig gesehen. Glauben Sie ..."

Karim nickte. „Könnte sein. Es ist eine Schutzhütte für Ziegenhirten, wir können ja mal nachsehen. Nein, bleiben Sie hier - der Hang ist zu steil für Sie."

Doch sie folgte ihm auf der Kletterpartie nach unten, und er hielt sie nicht zurück. Als er auf einer Ebene mit der Hütte war, blieb er stehen, drehte sich um und breitete die Arme aus, um sie aufzufangen. Einen Moment lang hielt er sie eng an sich gepreßt, und sie hatte auf einmal das wunderbare Gefühl, geborgen zu sein. Alles würde gut werden ...

Dann ließ er sie los, bückte sich, sah durch den niedrigen Eingang ins Innere der Hütte und zog Alice zu sich heran. „Ende der Suche", flüsterte er. „Da - sehen Sie mal!"

Alice folgte mit ihrem Blick dem Strahl von Karims Taschenlampe. Er beleuchtete die Ecke der Hütte. Auf einem Lager aus trockenem Farnkraut richtete Xenia sich gerade auf und blinzelte durch ihre Finger. Rassim lag noch in tiefem Schlaf.

„Xenia!" rief Alice leise. „Hab keine Angst, es ist alles in Ordnung Was für ein vernünftiges Mädchen du bist, hier vor dem Regen unterzuschlüpfen!"

Kenia rieb sich die Augen und blickte völlig verblüfft drein über das unerwartete Lob.

„Zuerst wollten wir es ja nicht", gab sie zu. „Ich hatte Angst anzuhalten, und wir sind naß geworden - sieh mal!" Sie richtete sich auf die Knie und breitete, um es zu zeigen, ihren Rock vor Alice aus. Im selben Moment wachte auch Rassim auf und begann zu wimmern.

Alice befühlte den Rock und schnalzte mitfühlend mit der Zunge. „Aber macht ja nichts. Ihr habt einen trockenen Platz zum Schlafen gefunden, und bald seid ihr beide wieder in euren eigenen trockenen Betten. Was möchtet ihr denn haben, bevor ihr schlafen geht? Kakao? Heiße Milch?"

Xenia kroch in sich zusammen und schüttelte mit dem Kopf. „Gar nichts", sagte sie kleinlaut. „Ich habe Angst."

„Wovor, Xenia?"

„El Anissa Kent wird dem Caid sagen, daß ich ihre Ohrringe gestohlen habe, und der Caid steckt mich ins Gefängnis."

Alice kniete bei ihr nieder. „Der Caid bekommt davon gar nichts zu hören, weil El Anissa Kent ihm nichts erzählen wird. Sie weiß inzwischen, daß du ihre Ohrringe nicht genommen hast. Und es tut ihr sehr leid", log Alice.

Xenia zeigte Interesse. „Ein anderer hat sie gestohlen?"

„Nein, sie hat herausgefunden, daß sie sie gar nicht verloren hat. Es war ein Irrtum."

Alice streckte Rassim zur Beruhigung eine Hand hin. Er umklammerte sie und hörte zu weinen auf. „Wollt ihr also jetzt beide mit mir in Seiyid Ibn Charles' Auto zurückfahren? Das hier ist Seiyid Ibn Charles", stellte sie Karim vor.

Xenia neigte ihren Kopf zum Gruß in seine Richtung. „Ich kenne den Seiyid Ibn Charles", gab sie mit der Würde einer Herzogin von sich.

Alice schickte einen fragenden Blick zwischen den beiden hin und her. „Ach nein, wirklich? Ich wußte nicht, daß ihr euch schon einmal gesehen habt."

„Doch", sagte Xenia. „Im Heim in Tetuán. Ich habe ihn da getroffen, und er hat mich gefragt, ob ich artig bin, und er hat mir einen Dirham geschenkt, und ich habe mir davon ein goldenes Armband gekauft. Weißt du das noch, Seiyid?"

„Aber gewiß doch", sagte er eine Spur zu herzlich, als daß es wahr sein konnte. „Wollt ihr euch also jetzt von mir nach Hause fahren lassen?"

Als Antwort schob sie vertrauensvoll ihre Hand in seine und winkte Rassim zu sich. „Komm", befahl sie. „Der Seiyid und Miss Alice bringen uns nach Hause."

Die Kinder erklommen dann den Abhang mit erstaunlicher Geschicklichkeit und warteten oben an der Straße auf Karim und Alice.

Im Wagen fragte Alice ihn neugierig: „Erinnern Sie sich wirklich, Xenia schon einmal gesehen zu haben? Und wieso in Tetuán?"

„Ersteres: nein. Doch habe ich herausgefunden, daß es sehr unklug ist, einer Dame zu sagen, man erinnere sich nicht bestens an sie. Ich habe ganz allgemein ein paar Kleinigkeiten verteilt, als ich bei den Schwestern in Tetuán war."

„Ich wußte gar nicht, daß Sie so engen Kontakt zu ihnen pflegen. Wann war denn das? Seitdem ich in Tasenir bin?" wollte Alice wissen.

„Aber natürlich - Sie haben mich doch sozusagen dahin gejagt."

„Ich? Wieso denn?"

„Der Grund war Ihr Vortrag über die großartige Erziehung, die die Kinder von den Schwestern erhalten. Als ich einmal geschäftlich in Tetuán zu tun hatte, beschloß ich, mich selbst davon zu überzeugen."

„Sie waren noch nie vorher in dem Heim gewesen?"

„Nein. Der Vertrag über das Heim in Tasenir war vor meiner Zeit hier geschlossen worden, und ich habe bisher alles Geschäftliche durch einen Agenten regeln lassen. Also sind meine Ansichten über die Erziehungsmethoden der Nonnen bis auf ein paar Reibereien mit Schwester Bernardine nie ernsthaft angegriffen worden. Bis Sie das taten. Und das habe ich Ihnen übelgenommen."

„Ich weiß. Aber - Sie haben mir wenigstens zugehört."

„Und letzten Endes eingesehen, daß Sie recht hatten. Zufrieden mit Ihrem Kreuzzug gegen meine Vorurteile?"

„Wenn Sie selbst es sind ...", meinte Alice.

Er warf ihr einen Blick zu und sah dann schnell wieder weg. „In gewisser Weise", meinte er. „In gewisser Weise."

Wenig später sagte er zu ihr: „Darf ich Ihnen übrigens dazu gratulieren, wie Sie die Situation mit den Kindern eben angepackt haben? Kein Vorwurf, kein Tadel. Im Gegenteil, Sie machten ihnen Mut, und es wirkte."

„Danke", antwortete Alice schlicht. „Es schien mir nicht ganz die passende Gelegenheit für eine Gardinenpredigt zu sein, obwohl ich die irgendwann einmal sicher noch nachholen werde."

„Über welches Thema?"

„Nun, darüber, daß man, wenn man verletzt oder ungerecht behandelt worden ist, nicht gleich fortlaufen darf ..."

„Und Sie hoffen, das einer Siebenjährigen einprägen zu können?"

„Wenn ich die richtigen Worte benutze. Und es ist doch wichtig, nicht wahr? Das ist eine Lektion, die man lernen muß."

„Mag sein. Aber wer richtet sich immer danach?"

Seine Reaktion bewies Alice, daß sie mit ihrer Vermutung recht gehabt hatte: daß er damals vor Elaine Kents Grausamkeit weggelaufen war. Laut sagte sie: „Lange nicht alle. Aber viele laufen nur in einem ersten Impuls weg und denken dann noch einmal darüber nach."

„Und tun dann - was?"

Sie starrte in die Dunkelheit. „Hören auf wegzurennen. Blicken den Tatsachen ins Auge ... gehen um den Berg herum", sagte sie. Und dachte an Elaine. Sie spielte ihr Karim wahrhaftig noch in die Hände ...

Als sie ein paar Minuten später ankamen, rechnete Alice nicht damit, daß er bleiben würde. Doch als sie die Kinder in das Haus gebracht hatten, sagte er, als ob sie es vereinbart hätten: „Ich sehe Sie also dann gleich, wenn sie Xenia und Rassim ins Bett gebracht haben."

„Ach, Sie brauchen doch nicht darauf zu warten. Ich bin Ihnen natürlich sehr dankbar, denn ich wüßte nicht, was ich ohne Ihre Hilfe getan hätte."

„Dann kpnnen Sie mir auch noch ein Stückchen von Ihrer Zeit schenken", meinte er.

„Ich habe eher das Gefühl, Ihnen welche wegzunehmen."

„Das tun Sie ganz sicher nicht. Ich wollte sowieso heute mit Ihnen Zusammensein."

„Zusammensein, mit mir? Aber wir sind doch bis jetzt eben zusammengewesen?"

„So meinte ich das nicht, ich möchte noch mit Ihnen reden. Meinen Sie, wir könnten noch eine Tasse Kaffee bekommen?"

Sorab und Sarepta waren noch auf, aber Alice schickte sie zu Bett und ging schnell selbst Kaffee machen, nachdem die Kinder schliefen. Sie mußte sich ein paar Minuten überlegen, worüber er noch mit ihr sprechen wollte. Was könnte es anderes sein, als daß er Elaine heiraten wollte? Sie sah der Unterredung nicht gerade freudig entgegen, als sie zu ihm zurückkam.

Er nahm ihr das Tablett ab, ließ sie sich setzen und goß ihnen beiden Kaffee ein. Er selbst nahm seine Tasse in die Hand und blieb stehen.

„Ahnen Sie gar nichts?"

„Ich nehme an, Sie wollen mit mir über den Brief sprechen, in welchem Sie mich gebeten haben, Ihnen gute Reise zu wünschen."

„Allerdings, denn Sie haben mich gar nicht gefragt, wohin mich meine Reise führen wird."

„Sie schrieben, Sie wüßten nicht, wo Sie auf Ihre Sonne treffen würden."

„Ja, aber ich habe Sie ein bißchen belogen Ich wußte schon, wo sie war ... wo sie ist. Ich wußte nur nicht, wie und wann und ob überhaupt diese Begegnung endgültig zustande kommen würde. Und Sie hätten mir eigentlich dabei helfen können, indem Sie gefragt hätten, was ich damit meinte."

„Ich wußte ziemlich genau, was Sie meinten. Sie wollten mir sagen, Sie brauchten meinen Rat nicht, weil Sie bereits entschlossen waren, die Beziehungen, die Sie mit Miss Kent in England hatten, wiederaufzunehmen."

Er setzte seine Tasse ab und verschränkte die Arme vor der Brust. „Und was wissen Sie über meine Beziehung zu Elaine Kent in England?"

„Das, was sie mir darüber erzählt hat."

„Ach! Es ist mir neu, daß Sie ihre Vertraute sind."

„Das bin ich auch nicht. Jedenfalls nicht ihre Freundin."

„Was dann?"

„Nun ja, sie ist einmal zu mir gekommen und hat mir erzählt, wie eng befreundet Sie beide früher einmal gewesen sind, und daß sie das Gefühl hätte, Sie würden ihr immer noch böse sein wegen der - der unschönen Art, mit der Sie beide Schluß gemacht haben."

„Ist unschöne Art ein Ausdruck von Ihnen oder von ihr?"

„Von mir", gab Alice zu. „In Wirklichkeit hat sie mir genau gesagt, was sie Ihnen an den Kopf geworfen hat."

„Ich sehe schon - sie hat Ihnen all ihre Sünden gebeichtet. Aber was hat sie gehofft, dadurch zu gewinnen, daß sie sich bei Ihnen ausgeweint hat?"

„Sie war der Meinung, Ihre Mutter würde ihr mißtrauen. Sie wußte zwar, Sie würden im Grunde wieder zu ihr zurückkehren wollen, müßten aber gegen Ihre Mutter und gegen sich selbst ankämpfen. Sie kam zu mir, weil sie glaubte, ich könnte die Seiyida zu ihren Gunsten beeinflussen."

„Und Ihre Antwort?"

„Ich stünde mit Ihrer Mutter nicht auf so vertraulichem Fuße."

„Elaine akzeptierte das?"

„Ihr blieb nichts anderes übrig." Alice rückte unbehaglich auf dem Sessel hin und her. „Wenn sie mir das alles wirklich freundschaftlich anvertraut hätte, würde ich es Ihnen jetzt nicht wieder erzählen. Es ist nur so, daß ..."

Karim schüttelte den Kopf. „Darüber würde ich mir nicht allzu viele Gewissensbisse machen. Sie haben wohl instinktiv gewußt, daß Elaine nie Ihre Freundin gewesen ist, auch schon, ehe Sie sich weigerten, bei meiner Mutter für sie einzutreten."

„Aber sie hatte keinen Grund, gegen mich zu sein. Wir kannten uns doch kaum!"

„Können Sie sich nicht denken, Alice, warum sie gerade Ihnen - fast einer Fremden - erzählte, wie intim sie mit mir einmal befreundet gewesen war?"

„Nun, ich nehme an, sie wollte durch das Geständnis mein Mitgefühl erregen."

Karim machte ein Gesicht, als würde er gleich verzweifeln. „Ich nehme an, ich nehme an!" explodierte er. „Erkennen Sie die Eifersucht nicht einmal, wenn sie sich Ihnen dermaßen deutlich zeigt? Wo haben Sie bloß Ihre Augen!"

Alice starrte verstört zu ihm hoch. Wohin sollte das alles führen? Diese Kritik an Elaine, dies Auseinandernehmen ihrer Motive, seine eindeutige Parteinahme für sie selbst?

„Wieso soll denn dabei Eifersucht eine Rolle spielen?"

„Wenn Elaine Ihnen Stück für Stück erzählt, was zwischen uns beiden in England passiert ist; wenn sie, wie ich jetzt stark vermute, diese Diebstahlsbeschuldigung gegen Xenia im Grunde gegen Sie verwerten will; wenn sie keine Gelegenheit ausläßt, Sie herabzusetzen - dann behaupten Sie immer noch, sie sei nicht eifersüchtig auf Sie?"

„Aber sie hat keinen Grund, eifersüchtig auf mich zu sein, das muß sie doch wissen!"

„Muß sie das?"

„Sie wollen sie doch immer noch haben."

„Sagen Sie mir nur eines: Wenn ich Elaine wirklich haben wollte, glauben Sie im Ernst, sie hätte dann Ihre Hilfe nötig?"

Alice schwieg betroffen, und Karim fuhr fort: „Haben Sie je irgendeine Zärtlichkeit zwischen mir und Elaine beobachtet?"

„Ich war nicht immer zugegen, wenn Sie mit ihr zusammen waren, und das scheint oft gewesen zu sein."

„Bah, nicht öfter, als es die Höflichkeit einem Gast von Freunden gegenüber erforderte."

„Und Elaine hat mir gegenüber behauptet, gerade Ihre Zurückhaltung ihr gegenüber zeige ihr, wie sehr Sie sie noch mögen. Sie wollten sich selber beweisen, daß Sie sie beherrschten. Sie fand das köstlich, wie sie sich ausdrückte."

Karim lachte leise in sich hinein. „Elaine ist zäh und hat ein ausgesprochen dickes Fell. Sie gibt nicht so schnell auf. Warum sie allerdings glauben sollte, ich hätte aus Angst vor meiner Mutter gezögert, ihr meine Liebe zu gestehen, das kann ich mir nicht vorstellen. Es ist einfach absurd."

Plötzlich kniete Karim neben Alices Sessel und sah sie fast beschwörend an. „Alice", sagte er, „ich bin nicht hiergeblieben, um mit dir über Elaine zu sprechen. Ich will dir die ganze Zeit einen Heiratsantrag machen, aber ich gebe ehrlich zu, daß es mir ungeheuer schwerfällt."

Alice starrte ihn fassungslos an. Dann setzte sie vorsichtig, mit zitternden Fingern ihre Kaffeetasse auf den Tisch. „Wenn das ein Scherz sein soll", brachte sie schließlich mühsam heraus, „so finde ich ihn ..."

„Das ist kein Scherz", fuhr er sie ziemlich heftig an. „Für mich ist es sehr ernst. Aber du bist so unglaublich begriffsstutzig, mein Liebling. Hast du denn gar nicht gemerkt, wie es um mich steht?"

Jetzt fand Alice ihre Sprache wieder. „Nein", erwiderte sie ebenso heftig. „Das hätte an meiner Stelle wohl niemand. Du verstehst es nämlich hervorragend, deine Gefühle zu verbergen!"

Karim lachte so herzlich, daß Alice gar nicht anders konnte, als ebenfalls in Gelächter auszubrechen. „Was findest du eigentlich so komisch?" fragte sie schließlich, nach Atem ringend.

„Daß wir zwei solche Hitzköpfe sind. Ich mache dir einen Antrag, und gleich darauf liegen wir uns schon wieder in den Haaren."

„Wie am Anfang, als wir uns kennenlernten", stimmte sie zu. Dann wurde sie mit einem Mal nachdenklich. „Weißt du", begann sie zögernd, „du warst mir einfach ein Rätsel. Dann hielt ich dich für starrsinnig, ich regte mich fürchterlich wegen deiner Vorurteile auf. Bis ich anfing, dich zu verstehen, und begriff, daß ich mich in dich verliebt hatte. Aber ! da war dann Elaine. Bist du sicher, daß du nichts mehr für sie empfindest?"

Karim ergriff ihre Hand. „Komm", meinte er, „setzen wir uns aufs Sofa. Diese pathetische Stellung, in der ich mich augenblicklich befinde, wird mir langsam zu unbequem. Ich möchte dir aber nahe sein, wenn ich dir das alles erkläre."

Er stand auf und zog sie vom Sessel hoch. Und plötzlich lag sie in seinen Armen, und nichts zählte mehr als die Leidenschaft, die zwischen ihnen aufflammte. Er küßte sie so inbrünstig, als wollte er ihr damit all seine Liebe beweisen. Alice war ziemlich schwindlig, als sie schließlich auf dem Sofa saß, ihren Kopf an seine Schulter gelehnt.

„Hast du jetzt noch Zweifel, daß ich nur dich und nicht mehr Elaine liebe?" fragte er leise.

„Nein", gab sie träumerisch zu. „Aber ich wüßte doch gern ..."

„Schau", begann er, „ich war damals wirklich in Elaine verliebt und wollte sie auch heiraten. Aber dann hat sie mich, wie du weißt, tödlich beleidigt, ja, mehr noch - sie hat mir die Augen geöffnet, was für ein Narr ich gewesen war. Sie hat nur mit mir und meinen Gefühlen gespielt, sie ist gar nicht fähig, einen anderen Menschen zu lieben, als sich selbst."

„Und wieso warst du dir so sicher, daß ich dich ernsthaft liebe?"

„Du hast dich zu intensiv mit meinen Problemen beschäftigt, mein Engel, als daß ich nicht darüber stolpern mußte. So etwas tut eine Frau nur, wenn sie Gefühle für jemanden hat. Ich gebe zu, anfangs haben mich deine Hartnäckigkeit, dein Widerspruch und dein Kampfgeist ziemlich irritiert, um nicht zu sagen gestört. Aber du hast mich aufgerüttelt, und dafür bin ich dir unsagbar dankbar."

„So wirst du also nicht mehr alles verdammen, was eigentlich ist? Zum Beispiel deine eigenen Charakteranlagen väterlicherseits?"

„Nein. Wenn du willst, schwöre ich es dir sogar. Ich war verbittert und habe dadurch ziemlich dumme Grundsätze entwickelt. Du mußt mir versprechen, Liebling, daß du mich unbarmherzig auf den Boden der Tatsachen herunterholst, wenn ich mich wieder einmal in irgendwelche hochtrabenden Ideen verrenne, ja?"

„So, wie du mich hinstellst, war ich weiß Gott nicht sehr liebenswürdig zu dir. Warum liebst du mich denn eigentlich?"

„Weil du schön bist, weil du mich so akzeptierst, wie ich bin, weil du ein gutes Herz hast - weil ich dich einfach haben will! Ich brauche dich, ich will nicht mehr ohne dich leben. Ich war furchtbar eifersüchtig auf Yves Renair, weil ich eine Zeitlang glaubte, du würdest ihn mir vorziehen."

„Er hat mir einen Heiratsantrag gemacht, aber für mich war er nie mehr als ein guter Freund. Ich schätze ihn, aber Liebe - nein, Liebe ist ..."

„... ganz anders", unterbrach er sie. „Und weißt du, wie man sie am besten erklärt?"

Sie schüttelte den Kopf und blickte fragend zu ihm auf.

„Ohne Worte", antwortete er halblaut, zog sie fest an sich und küßte sie zärtlich.

-ENDE-

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