Utopia Classics 71 Lin Carter Die Magier Von Bargelix

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Aus der Reihe

»Utopia-Classics«

Band 71



Lin Carter

Die Magier von Bargelix


Wissenschaft gegen Schwarze Magie

Es geschieht im Jahr 154 des interstellaren Menschheitsimpe-
riums, das dem Jahr 3217 irdischer Zeitrechnung entspricht.
Der Schauplatz ist Bargelix, der einzig bewohnbare Planet des
Doppelsternsystems 4221A und B in den Sierra-Sternen,
35 000 Lichtjahre von Sol entfernt. Morgan Outworlder, der
Verbannte des Imperiums, beginnt seinen aussichtslos erschei-
nenden Kampf gegen die Schwarze Magie und deren Vertreter.
Er liebt die Welt, die ihm Asyl gewährt hat, und er versucht,
die Bewohner vor dem drohenden Verderben zu retten.

Nach MEISTER DER STERNE (UTOPIA-CLASSICS-Band

64) präsentiert der Autor mit DIE MAGIER VON BARGELIX
das zweite Abenteuer aus der Imperium-Trilogie. Der dritte
Roman erscheint in Kürze als Band 73 dieser Taschenbuchreihe.


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Lin Carter


Die Magier von Bargelix

Utopia-Classics Band 71












Freeware ebook by Tigerliebe

Oktober 2003

Kein Verkauf!










VERLAG ARTHUR MOEWIG GMBH, 7550 RASTATT

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Titel des Originals:

OUTWORLDER

Aus dem Amerikanischen

von Heinz Nagel





















UTOPIA-CLASSICS-Taschenbuch

Verlag Arthur Moewig GmbH, Rastatt

Copyright © 1971 by Lin Carter

Copyright © 1984 by Verlag Arthur Moewig GmbH

– Deutsche Erstausgabe –

Titelbild: Nikolai Lutohin

Vertrieb: Erich Pabel Verlag GmbH, Rastatt

Druck und Bindung: Elsnerdruck GmbH, Berlin

Printed in Germany

November 1984

ISBN 3-8118-5017-2

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EINLEITUNG

Die Errichtung des ersten Imperiums unter Arion dem Ewigen
und der Moraldemontane-Dynastie im Jahr 3063 nach Christus
verschmolz die Überreste des Nordonnats in ein einziges Gan-
zes und führte nach einiger Zeit zu einem neuen Gefühl natio-
naler Einheit von galaktischem Ausmaß.

Dies führte natürlicherweise zu neuem Interesse für die Er-

forschung der Galaxis und erzeugte einen Anreiz, der die kolo-
niale Ausweitung beschleunigte, die unter Nordonns Regime
praktisch zum Erlahmen gekommen war.

Häufig waren es handeltreibende Abenteurer, verbannte Ge-

setzlose und Wanderer, die als erste die neuen Sternenwelten
erreichten. Manchmal trafen sie sogar Jahrhunderte vor den
Forschungsflotten ein.

Einige der Eingeborenenkulturen jener bislang unerforschten

Welten befanden sich noch in ihren mythischen oder heroi-
schen Zeitaltern. Auf solchen Welten mußte die formelle Ge-
schichte erst ihren Anfang nehmen …

Es ist daher nicht überraschend, daß die Taten und Leistun-

gen einiger dieser wandernden Abenteurer Teil der noch jun-
gen Mythologien solcher Zivilisationen der Morgendämme-
rung wurden.

Und in diesem Zusammenhang wird man zwangsläufig an

den Morgantyr-Mythos von Sierra 4221 IV erinnert.


(Zitat aus Die ersten Tausend Jahre, Band II, von Chendler
Diocolba, C.A.; Universitätsbibliothek Azphar, Nolderon I,
Herkules, Jahr 2019 des Imperiums.)




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Bargelix; Sierra 4221 IV. Einziger bewohnbarer Planet des
Doppelsternsystems 4221 A und B in den Sierra-Sternen.
Durchmesser: 11.756 Kilometer (Äquatormessung), Gravitati-
onskonstante: 0,92 Standard.

Das Zentralgestirn 4221 A (Sitra) ist ein blau-weißer Stern

der Hauptsequenz mit einem A 5 Spektrum, der an Alpha
Aquilae erinnert; die zweite Komponente des Binärsystems,
4221 B (Marib) ist ein Roter Zwerg mit einem M5e-Spektrum.
Das Doppelsternsystem liegt etwa 35.000 Lichtjahre von Sol
entfernt, in der Richtung Kanopus.

Bargelix beherbergt eine intelligente, sehr hominide Einge-

borenenrasse, die Cophyri. Die Hauptabweichung von der
Terranorm besteht in der ungewöhnlichen gelben Pigmentie-
rung der Iris, dem Fehlen jeglicher Körperbehaarung und einer
inzwischen rudimentären Drüsenabnormalität des Biokortex im
Vorderhirn; in früheren Zeiten führte diese biokortikale Ent-
wicklung zu einer starken rassischen Vorliebe für psionische
Manipulation der geophysikalischen, ja sogar astrophysikali-
schen Bereiche des Plenums.

Die cophyrische Literatur, insbesondere das vor dem Kontakt

entstandene Morgantyr-Epos läßt einige Analytiker vermuten,
daß Bargelix möglicherweise in seiner Frühgeschichte von der
wenig bekannten extragalaktischen Yokannarasse besucht
wurde. Das Epos schildert möglicherweise in seinem neunten
Gesang eine typische Yokanna-Dimensionalkongruenz, die
gelegentlich in eingeborenen sierranischen Kulturen als ›Tür
nach Draußen‹ erwähnt wurde …


(Zitat aus Folkers Führer zu den Sierra Sternen, 9. Ausgabe;
Kaleris Nationalbibliothek, Byatis III, Sierra, Jahr 4736 des
Imperiums.)


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Hier beginnt die Legende von Morgan Outworlder und der
Bericht von der Schließung des Tarandon-Tores, auf daß nicht
die letzten Tage über die Welt von Bargelix kommen mögen …

In früheren Zeiten hat der Sänger Conyin von Llyrain dieses

Epos gesungen. Möge meine armselige Prosa zumindest ein
Echo der Kraft und der Schönheit jenes mächtigen Gesanges
sein.



























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1.

Der Himmel wurde plötzlich hell, und die bleiche Flamme der
Morgendämmerung zog wie eine schnelle, lautlose Explosion
über ihn. Der junge Mann, der sein Floß über den Gelben
Drachenfluß zur Kargonessa-Insel in der Bucht hinüberstakte,
hielt inne, um etwas auszuruhen, und blickte zu dem bleichen
Himmel empor, der mit leuchtendem Rosa überzogen war, und
auf dem kleine, goldgeränderte Wolken standen. Vögel krei-
sten über dem braunen dahinströmenden Fluß, den milchweißer
Morgennebel umhüllte. Hart, klagend hallten ihre Rufe. Das
braune Flußwasser stank nach toten Fischen und verrottendem
Müll, aber die aufkommende Brise trug den frischen Salzduft
des Iophanesmeers landeinwärts.

Mit geweiteten Augen trank der Bursche alles in sich hinein,

die klare Morgendämmerung, den fahlen Himmel, den weißen
Nebel und die mövenähnlichen Vögel, die über den Wogen des
schlammigen Flusses dahinzogen. Fast alles, was er sah, schien
ihm neu und wunderbar. Bislang hatte er wenig genug von der
Welt gesehen, da er seine Knabenzeit im Kloster zwischen
verstaubten Büchern verbracht hatte. Er beugte sich jetzt wie-
der vor, um sein Floß weiter über den Gelben Drachenfluß zu
staken.

Er war solche Arbeit nicht gewohnt, und es dauerte nicht

lange, bis seine Arme, sein Rücken und die Schultern schmerz-
ten. Doch sein Wille trieb ihn weiter. Die geschorene Kopfhaut
glitzerte vom Schweiß. Obwohl der Morgen feucht und kühl
war, hatte ihn die Anstrengung erwärmt. Er hatte die Kapuze
nach hinten geschoben, die an seiner grünen Kutte befestigt
war, und die langen, weiten Ärmel waren zurückgeglitten und
ließen seine jungen Arme sehen.

Goldene Ringe baumelten an seinen Ohrläppchen; an seinen

Fingern glitzerten Talismanringe aus seltenen Metallen, wäh-
rend er mit langsamen Schlägen weiterstakte. Ein breiter Gürtel

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aus Anthar-Leder umgab seine Hüfte, und an ihm hingen an
Bronzehaken zwei Beutel. In dem einen klimperte Handelsme-
tall. Der andere war mit Zauber vollgestopft.

Er war ein Magier. Das konnte man an dem grünen Gilden-

zeichen erkennen, das über seinen hellen gelben Augen auf
seine Stirn tätowiert war. Dieses Zeichen, eine gehörnte
Schlange, die sich in den Schwanz biß, ließ ihn als einen Adep-
tus Minor in der Bruderschaft des Grünen Ouroborus erkennen.
Sein Name war Sodaspes, und er war erst vor kurzer Zeit in
Babdaroul, der Verbotenen Stadt, seinem Geburtsort, der Schu-
le der Geheimen Wissenschaften geweiht worden.

Noch eines hätte man bemerken können. Es war seltsam, daß

in jenen gefährlichen Zeiten keine Waffe in seinem Gürtel
steckte. Aber vielleicht brauchte er bei den vielen kleinen
Zaubern, mit denen sein Beutel vollgestopft war, keinen Stahl.

Der Morgenhimmel war jetzt ein atemberaubendes Gewölbe

vom blassesten Blau, klar wie Kristall. Der Nebel über dem
Fluß verschwand jetzt, und jenseits der schlammigen Wasser
konnte man die Felsinsel Kargonessa erkennen. Eine hohe
Burg klammerte sich an den klippenreichen Fels; die Festung
war aus demselben dunklen Gestein gehauen, aus dem die Insel
selbst bestand, und man konnte nicht erkennen, wo die Natur
aufgehört und der Mensch sein Werk begonnen hatte.

Der junge Magier stützte sich auf seine Stange und betrachte-

te die Insel mit träumenden Augen. Er war sehr müde. Die
ganze lange Nacht waren er und sein älterer Begleiter, der
Sänger, auf schnell dahintrabenden Lopers südwärts geritten.
Sie waren der Flußstraße gefolgt, am Gelben Drachen entlang,
und waren müde die vielen Meilen zu dieser südlichsten Spitze
Azams geritten.

Kurz vor dem ersten Licht der Morgendämmerung hatten sie

das kleine Fischerdorf Strye erreicht. Nur ein paar Frühaufste-
her unter den Fischern waren bereits auf und rollten die Planen
von ihren Fischerbooten zurück. Während Sodaspes’ Begleiter

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abstieg, die zwei Loper an den Zügeln nahm und sich daran
machte, eine Gaststätte zu finden, ging der Junge ans Flußufer,
um sich ein Boot zu kaufen oder zu mieten, um mit der Flut
nach Kargonessa übersetzen zu können.

Die hochgewachsenen Leute von Strye rissen Augen und

Münder auf, weil sie den Besuch von Fremden nicht gewöhnt
waren. Aber als er Kargonessa erwähnte, wurden die aufgeris-
senen Augen kalt, und ihre offenen Münder schlossen sich
grimmig. Die Männer ignorierten die Anwesenheit des Jüng-
lings und wandten ihm den Rücken zu.

Am Ende aber, fand Sodaspes einen schlaksigen Jüngling,

der sich freundlich bereiterklärte, sich von seinem Floß zu
trennen, sich jedoch entschieden weigerte, den Magier um
irgendeinen Preis über den Gelben Drachenfluß zu befördern.
Die Leute von Strye waren einfach und abergläubisch. Für sie
war Kargonessa ein verwunschener Ort, eine Stadt dem Unheil
geweihter Verbrecher, Flüchtlinge, Verbannter … Und was den
Lord von Kargon anging, so waren seine Vorfahren dreimal
verdammt, weil sie vor Jahrhunderten den Pakt gebrochen
hatten, und seitdem waren alle, in deren Adern ihr schwarzes
Blut floß, von der Gemeinschaft mit dem Bann belegt. So-
daspes blieb also nichts anderes übrig, als das Floß selbst über
die Flußmündung zu staken und das Beste zu hoffen. Sein
Begleiter würde ihm dabei nicht behilflich sein, da er als ge-
weihter Barde nicht einmal den Fuß auf Erde setzen konnte, die
die Brecher des Paktes berührt hatten. Nur ein Magier konnte
ungefährdet die Kargoninsel betreten.

Er befand sich mitten im Fluß, als die Zweitdämmerung kam

und den leuchtenden, gewölbten Himmel mit schwachem
Scharlach erfüllte. Jetzt hob sich die kleine rote Zweitsonne
über den nebligen Horizont und begann auf ihrer ewigen Ver-
folgungsjagd hinter der helleren, höheren Sonne herzuklettern.
Für Sodaspes war die erste Sonne Sitri der Weiße Krieger, und
ihr schwach leuchtender Begleiter Marib der Karmesinrote.

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Bald erfüllten der blau-weiße Stern und sein roter Zwergbeglei-
ter den Himmel ihres Abkömmlings Bargelix mit doppeltem
Tageslicht.

Vor ihm türmte sich die Burg in die Höhe, umringt von finsteren
Mauern, und reckte ihre massigen Türme in die Helligkeit.
Banner flatterten von Turmspitzen und Mauern, und auf ihrem
meergrünen Feld prangte das silberne Emblem des Hippocam-
pus, das Wahrzeichen der wappentragenden Familie der Freien
Stadt, der Diomhae, die das kleine Inselfürstentum beherrschten.

Hier weitete sich die Mündung des Gelben Drachenflusses zu

einer Bucht. Sodaspes stakte sein Floß langsam weiter, mühte
sich um die Felsbiegung, an der sich Gischt und Meeresbran-
dung brachen. Von hier aus konnte er eine geschützte winzige
Bucht erkennen, und über ihr reihten sich Hütten und kleine
Häuser und darüber die Festung selbst. Von den zwei Vorber-
gen dieses winzigen Vorsprungs aus hatte man Kais aus grau-
em Felsgestein ins Wasser hinausgeführt. Dort lagen drei
Schiffe vertäut, ihrem Umfang nach zu schließen Handelsschif-
fe. Er wußte, daß die kargonesischen Inselbewohner, obwohl
auf dem Festland als Gesetzlose betrachtet, doch mit den Kü-
stenstädten auf dem Südkontinent jenseits des Iophanesmeers
Handel trieben, denn jene waren Heiden, die den Pakt der
Gemeinschaft nicht kannten.

Er lenkte sein Floß zum näherliegenden Kai und vertäute es.

Dann kletterte er den Kai hinauf und machte sich auf den Weg,
den Hügel hinauf, durch die Straßen der kleinen Stadt, die sich
im Schatten des Kargonlords duckte.

Finster blickende Seeleute stießen ihn beiseite, während sie

ihrer Wege gingen. Ausgemergelte Bettler jammerten nach
Almosen. Kinder mit schmutzigen Gesichtern rannten krei-
schend an ihm vorbei. Niemand achtete sonderlich auf ihn,
während er die Dorfstraße hinauf auf das offene Tor der Festung
zuging.

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An die Außenwand der Burg gelehnt, fand er eine Matrosen-

kneipe. Der heiße Atem, der durch die offene Tür der Wirt-
schaft nach außen schlug, ein Dunst von geröstetem Fleisch,
saurem Wein und kräftigen Soldamagewürzen, ließ seinen
Magen knurren. Erst jetzt erinnerte er sich daran, daß er heute
noch nicht gefrühstückt hatte, daß tatsächlich seit gestern
abend keine Nahrung mehr über seine Lippen gekommen war.

Morgan stand bei der ersten Dämmerung auf. Der salzige Duft
der Seebrise weckte in ihm stets einen kräftigen Appetit. Die
Zimmerflucht, die Lord Tasper ihm zugewiesen hatte, lag auf
der seewärts gerichteten Seite der Festung, und der feuchte
Wind heulte durch seine Fenster, trug die Schreie der Vögel
und die Gesänge der Matrosen mit sich und das Klatschen der
Wogen gegen die Klippen. Es war eine kleine Zimmerflucht,
niedrig, mit Balken an den Decken und dicken Steinmauern,
die mit cremefarbenem Verputz bedeckt und mit schweren
Teppichen behängt waren.

Während er sich das kalte Wasser ins Gesicht spritzte und

sich die letzten Schlafreste aus den Augen rieb, überlegte er,
daß sein Leben hier auf der Kargoninsel ähnlich dem der Wi-
kinger gewesen sein mußte, damals, auf Sol III. Er war ein
Centaurusgeborener, aber die Wurzeln der Vorfahren seiner
Mutter waren tief in Terra verankert, und die Familie war
seinerzeit in der Skandinavischen Union mächtig und berühmt
gewesen.

Nackt, die Haut vom kalten Wasser gerötet, schlüpfte er in

seine Strümpfe und gürtete sich seine Tunika um den Leib.
Zwei Jahre waren jetzt fast verstrichen, seit er zur Bargelixwelt
gekommen war. Er war Soziologie-Ingenieur und hatte sich auf
Trasna im Acturussystem niedergelassen, wo er daran gedacht
hatte, sein Leben mit der Arbeit zu verbringen, die ihm den
größten Spaß machte. Aber dann kamen die Semnedar-Junta
und die Freiheitsunruhen, und er war in den trasnischen Kampf

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um Selbstbestimmung gegen das Erbliche Parlament hineinge-
zogen worden. Als überzeugter Zentralist hatte er von Trasna
fliehen müssen, um sein Leben zu retten, als das Prokonsulat
die Macht ergriff. Jetzt war er ein Verbannter, den der Erlaß
des Mardax-Imperators von den imperialen Welten vertrieben
hatte, und so war er jenseits der Grenzen gezogen, um in den
fernen Sierra-Sternen Zuflucht zu suchen … Und hier nun hatte
er ein Zuhause gefunden.

Denn Bargelix war das Zuhause, nach dem sein Herz sich

gesehnt hatte, eine Welt verloren in den Zeiten, Äonen hinter
den imperialen Sternen zurückhinkend … eine Insel der Farbe
und Pracht, der windzerzausten Wälder, der einsamen Schlös-
ser und Burgen, der feurigen Barden, der barbarischen Krieger
… eine romantische, lebende Welt, mit fahlen Morgen, flam-
menden Mittagen und mystischem Zwielicht, wo Sigurd, der
Wälsunge, hätte wohnen können.

Den Schatten eines Lächelns um die Lippen, zog Morgan

sich langsam an. Er hatte seine erste Jugend hinter sich, war
vielleicht sechsunddreißig, ein dunkler Mann, etwas kleiner
und kompakter als die orionidische Norm, mit einem Schim-
mer von Grau im kurz gestutzten dunklen Haar.

Vor zwei Jahren, im Jahre 152 des Imperiums, war er auf

diese Welt gekommen, in einem winzigen Ein-Mann-Flieger,
der jetzt, von Lianen überwuchert, an irgendeinem Wiesenhang
im Westland verrottete.

Ein schweigsamer, scheuer und etwas verlegener Mann, hatte

Morgan sich auf seiner Welt und in seiner Zeit stets als Frem-
der gefühlt. Manche Männer sind geborene Fremde, und er war
einer davon. In seinem Herzen war nichts, das sich unter den
Männern des Imperiums zu Hause fühlte. Er sehnte sich nach
einem Leben näher der grünen Erde und den Zyklen der Jah-
reszeiten. Und so war er im Herzen ein Outworlder, ein Wan-
derer, selbst bevor die politischen Spannungen ihn aus dem
Arcturussystem vertrieben.

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Er war ohne Wurzeln geboren worden. Aber hier auf Barge-

lix hatte er sie gefunden. Es war etwas Seltsames, endlich nach
Hause zu kommen. Einem Zuhause auf einer fremden Welt,
weit entfernt von der Welt seiner Geburt.

Die Leute hießen ihn willkommen, trotz all seiner Sternen-

weltfremdheit. Sie kannten seinesgleichen von einem früheren
kurzen Kontakt her. Die Cophyri waren trotz ihrer Ferne vom
Imperium gelegentlich von wandernden Händlern oder Gesetz-
losen besucht worden. Sie wußten von den reichen imperialen
Welten, und die Gerüchte von Wissenschaft und Wundern
hatten ihren Weg bis hierher gefunden.

So fand er, inmitten der verbitterten, einsamen, stolzen See-

könige von Kargon ein Willkommen, jenen Königen, deren
uralte Verfehlung gegen jenen mysteriösen »Pakt« sie für
Verbannte und Gesetzesbrecher auf Bargelix zur Zuflucht
machten. Und hier fand er seine Heimat, eine wilde, einfache
und buntfarbige Welt, wie er sie nur in den Träumen seiner
Knabenzeit besucht hatte.

Er gewöhnte sich daran, die Leute von Bargelix mit einer

Eindringlichkeit zu lieben, die ihn überraschte und zugleich
bewegte. Und sie ihrerseits akzeptierten und ehrten ihn und
gewöhnten sich daran, ihn ebenfalls zu lieben. Er war der
Sternenlord, der Outworlder.

Aber weder er noch sie ahnten auch nur entfernt, wer er ein-

mal für ihre Kinder sein würde, und die Kinder ihrer Kinder
ahnten nicht, daß dieser finstere, schweigsame Outworlder, der
seinen Platz zwischen ihnen eingenommen hatte, in den Sagen
und Mythen weiterleben sollte.

Tasper Kargonlord frühstückte nach Art der alten Barone. Die
niedrige, verräucherte Speisehalle war überfüllt. Neben den
Männern und Frauen des eigenen Hofes und der Burg waren da
Fischer und Seeleute, Händler und Bewohner von Kargondorf,
das am Fuß der Burg lag.

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Mächtige Feuer flackerten auf steinernen Herden. Langhaari-

ge Pagen trugen Platten mit rauchendem Fleisch zwischen den
Tischen hindurch. Saures Bier, Wein und Liköre bespritzten
die Schilfmatten auf dem Boden. Alles war Festlichkeit, Lärm
und Freude.

Was Tasper selbst anbetraf, so saß er auf dem großen Podest

unter einem verblaßten Gobelin, der die mächtigen Taten von
Arvery dem Großen in seinen Schlachten gegen das Meervolk
von Whitestrand Firth darstellte.

Tasper war blendender Laune. Sein Gelächter dröhnte über

die Scherze, die von Tisch zu Tisch flogen. Aus tiefer Kehle
hallte seine Stimme, und er trank reichlich aus dem Hornpokal
und ließ dann den Becher, wenn er geleert war, gegen den
schweren Schild dröhnen, der an seinem Hochsitz lehnte. Sein
Becher schlug den Takt zu den Versen der alten Meersagen,
die sein Sänger verkündete.

Die klare Stimme des alten Barden schwebte wie der Duft

lang vergessener Zeiten durch die Halle … Er sang das Lied
von Arvery, das Epos vom Krieg des Helden gegen die Sieben
Ungeheuer. Morgan kannte es gut und liebte es, und es war
auch kein Wunder, daß sie es gerade an diesem Tag sangen,
denn dies war der Tag des Arvery, den man seit alten Zeiten
verehrte, denn kein anderer als jener ruhmreiche Held hatte das
Adelshaus der Diomhae gegründet. Und so blieb er am Ein-
gang zur Halle einen Augenblick lang stehen und lauschte auf
die alte Geschichte, ehe er seinen Platz an den Tischen ein-
nahm.

Tasper applaudierte als erster und warf seinem Sänger einen
goldenen Armring zu, den der alte Mann mit geschickter Hand
im Flug auffing, während Morgan Platz nahm und zu essen
begann. Dann verlangte der Earl brüllend nach der letzten
Strophe des alten Epos, die sich mit der Schlacht selbst befaßte,
und in der Halle zog Stille ein. Die schlanken Finger des alten

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Sängers schwebten über die silbernen Saiten, und die uralte
Weise erfüllte die rauchige Halle, bis die Herzen der Männer
zu Träumen von mutigen Taten und einer vergangenen, golde-
nen Epoche anstachelte.

Einer nach dem anderen fielen die Krieger des Earls in den

alten Gesang ein. Morgan, der Outworlder, sang mit ihnen und
teilte ihre Freude, und er liebte das, was er erlebte, aus ganzem
Herzen.

Dann kam der alte Osmer, der Burgsteward des Earls, und

sagte, einer stehe vor der Banketthalle und wolle zum Earl
Tasper und seinen Lords sprechen. Ein Jüngling sei er, ein
Mann vom Festland, und wie es schien, sei er ein Magier.

Lord Tasper rief dröhnend, man solle den Knaben eintreten

lassen. Der kam und stand vor ihnen, mit den geweiteten Au-
gen eines Träumers. Er lehnte Wein und Fleisch ab und sagte,
seine Botschaft, die er durch kalte Nächte und lange Tage
harten Rittes getragen hätte, dulde kein längeres Warten. Und
Earl Tasper von Kargon forderte ihn auf zu sprechen, und ganz
unten am langen Tisch spürte Morgan, der Wanderer von
Centaurus, einen Hauch seltsamer Furcht, als die weiten gelben
Augen des Knaben ihn suchten und ausgerechnet ihn anstarr-
ten. Dann sprach der Junge mit klarer Stimme.

»Lord Earl und Lords von Kargonessa, ihr singt von mutigen

Taten in vergangenen Tagen, singt von Kriegen und tapferen
Helden einer alten Zeit … und ich bin gekommen, um einen von
euch aufzufordern, eine edlere und mutigere Tat zu begehen, als
sie je besungen wurde! Denn, fürwahr – im Westen brennt der
Unheilsstern! Die Sterne, die das Drachenzeichen bilden, sind
zurückgekehrt durch endlose Zyklen unermeßlicher Zeit, um
wieder ihren Platz einzunehmen – und die letzten Tage, seit
dreimal zehntausend Jahren prophezeit, sind über uns!

Ich bin der Zauberer, gekommen, um von deiner Tafel den

Mann zu mir zu rufen, Morgan, Sternenwanderer, Outworlder,
auf daß er die Suche nach der Schließung des Tores beginne –

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höret meinen Ruf, auf daß nicht böse Tage über uns kommen,
auf daß nicht Bargelixwelt im Chaos versinke!«

Die Knabenstimme hallte wie eine Fanfare, und als sie ver-

stummte und sich eine Welle von Ehrfurcht und Stille über die
Halle senkte, sah Morgan sich um und erkannte, daß die Augen
aller Männer ihm zugewandt waren. Und in jenem langen,
zeitlosen Augenblick wußte Morgan noch nicht, ahnte auch
nicht, daß das Schicksal ihn über tausend Sternenräume herge-
holt hatte zur Bargelixwelt, für diesen Tag und diese Stunde.

Er sah nicht die Sorge in den Augen seines Freundes, des

Kargonearls. Alles was er sehen konnte, war der seltsame Stolz
einer geheimnisvollen Bestimmung, die ihn aus den Augen von
Sodaspes anstarrte.


2.

Kargoninsel bestand ganz aus Felsgestein, und jene, die aus
fernen Landen dort ankamen, gewöhnten sich daran, das Feh-
len grüner Felder, großer Bäume und des Duftes lehmiger Erde
zu ertragen. Auch der Earl Tasper fühlte den Mangel und hatte
daher veranlaßt, daß man in den oberen Geschossen des Burg-
frieds einen Garten anlegte und diesen pflegte. In jenem Garten
schlenderte Morgan Outworlder oft herum und erinnerte sich
der sonnigen Felder des fernen Centaurus.

Er war eine seltsame Mischung von Mann: grobschlächtig

und einfach und alles andere als wortgewandt; er pflegte wenig
zu sagen, und sein starr wirkendes Gesicht und die finsteren
Augen ließen selten irgendwelche Gefühle erkennen. Trotzdem
waren seine Empfindungen tief. Die Vorfahren seines Vaters
waren im alten Gwent zur Welt gekommen, und so hatte er die
Art der mystischen Kelten an sich.

Während der Nachmittag lange Schatten von den felsigen

Türmen zog und Earl Taspers Garten im kühlen Schatten er-

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tränkte, schlenderte er zwischen fremdartigen Bäumen und
Blumen dahin und versuchte, in seine wirren Gedanken Frie-
den und Ordnung zu bringen. Der Ruf des jungen Magiers
hatte an etwas Altes, lang Schlummerndes in seinem Blut
gerührt. Aber er begriff die Botschaft nicht, die der Jüngling
ihm gebracht hatte. Und er wußte nicht, warum sich alle Leute
in der Halle ihm zugewandt hatten.

In dem schmerzhaften Schweigen, das dem Ruf des Sodaspes

gefolgt war, hatte der Outworlder gespürt, daß die Blicke aller
auf ihm ruhten. Seine Wangen hatten sich gerötet, seine Lippen
waren wie gelähmt, und er wußte nicht, was er sagen sollte.
Nicht einmal, wozu man ihn aufgerufen hatte.

Jetzt, während der Westen sich rötete und die Luft kühler

wurde und der weiße Stern Sitri sich weigerte, sich seinem
karminfarbenen Bruder am fernen Horizont anzuschließen,
warf er sich auf eine weiße Steinbank, die über und über mit
Schnitzwerk versehen war.

Am meisten beunruhigte ihn, daß der Ruf des jungen Magiers

in ihm etwas geweckt hatte, von dem er nicht einmal gewußt
hatte, daß es da war. Sein ganzes Wesen war bei den geheim-
nisvollen Worten erwacht, als hätte er sein ganzes Leben lang
auf einen solchen Ruf gewartet. Aber dies war Träumerei –
Wahnsinn! Denn er wußte nichts vom Unheilsstern, nichts von
Toren, die zu schließen waren, oder Welten, die es vor der
Finsternis zu retten galt …

Das Scharren einer Sandale auf den Gartenfliesen riß ihn aus
seinen finsteren Gedanken; er hob die Augen und sah, wie sein
Gastgeber durch die Schatten herannahte. Er erhob sich und
begrüßte den Earl höflich, aber Tasper gab ihm ein Zeichen,
Platz zu nehmen, und stand verlegen schweigend eine Weile
vor dem Outworlder.

Für einen Cophyri war dieser Tasper von Kargon hochge-

wachsen und kräftig gebaut; er hatte kurzes, dickes Haar von

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der Farbe von Stroh, und ein Gesicht, das die Sonnen rot ge-
brannt hatten; vom guten Leben fleischig, mit breiter Stirn und
noch breiterer Wange und einem kantigen Kinn, breitem Mund
und Augen von kaltem Gelb. Er war kräftig und massiv und
neigte zu schnellen Gefühlsausbrüchen und war trotz seiner
rauhen Art von zartem Herzen.

Er hatte dem schweigsamen Outworlder Gastrecht gewährt,

mehr wie einer Kuriosität als jemandem, der wahrhaft in seiner
Halle willkommen war. Aber an dem anderen war etwas, das
seine Liebe fast von Anfang an gewonnen hatte. Dem fremden
Blut einer fernen Welt entsprungen, schien der Mann Morgan
irgendwie kein Fremder auf Bargelixwelt. Von Anfang an hatte
er sich unauffällig der Lebensart Kargons angepaßt; selbst die
Dorfleute vergaßen bald seine Herkunft von der Sternenwelt
und sahen in ihm einen der Ihren. Und jetzt liebte man ihn, und
Kargon war sein Zuhause.

»Du brauchst nicht zu gehen«, platzte es plötzlich aus Tasper

heraus, und in dem Satz war so viel Eindringlichkeit, daß
Morgan blinzelte.

»Du brauchst nicht zu gehen«, sagte er wieder und nickte mit

dem schweren Schädel. »Das Gastrecht ist dein; der Junge vom
Festland kann von dir nichts fordern, nur bitten. Soweit es mich
betrifft, ist Insel Kargonessa dein Zuhause, ob du nun der
Wahrer des Liedes bist oder nicht!«

Diese letzten Worte schrie er fast hinaus.
Morgan wählte seine Worte langsam; so war das immer bei

ihm – er wußte nie ganz, was er sagen sollte. Sein Verstand
war nicht schnell – da war keine Zungenfertigkeit.

»Herr, ich weiß nicht … Ich verstehe nichts von dem … was

der junge Mann meinte. Von diesem Lied. Oder weshalb man
mich ruft oder wozu man mich ruft …«, sagte er zögernd. Aber
der andere war, wie stets, seiner stockenden Zunge voraus.

»Eine alte Prophezeiung, nichts mehr; ich sage es noch ein-

mal, du brauchst nicht zu gehen … Bleib hier, wo du hinge-

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hörst, und soll die Welt sich um sich selbst kümmern!« knurrte
Tasper mit einer schnellen Bewegung seiner kräftigen Pranke.

»Aber welche Prophezeiung? Wie kann sie … ich begreife

nicht, wie sie mich erwähnen kann. Ich kam hierher, laß mich
sehen, es war …«

Tasper murmelte einen Fluch gegen alle Propheten und

brummte etwas vom Pakt und daß seine Ahnen, als sie mit der
ganzen Sippe brachen, auch mit allen älteren Gesängen gebro-
chen hätten und nicht länger durch närrische Sitte gebunden
wären. Und dann, unruhig auf dem Gartenweg auf und ab
schreitend, den Kopf auf die breite Brust gesenkt, so daß seine
Worte nur schwer zu verstehen waren, begann er schwerfällig,
diese Mysterien zu erklären. Und Morgan saß stumm da, den
Kopf auf die geballte Faust gestützt, und lauschte gebannt.

Die von Bargelixwelt, soviel wußte Morgan, waren in vieler
Hinsicht primitiv, und dazu gehörte auch ihre Religion.

Seine eigenen Leute, wie die meisten Centaurier, hatten

schon lange die religiösen Modelle ihrer Vorfahren aufgege-
ben, und das war nur natürlich, denn nur wenige Religionen
überleben die Zivilisation, in der sie aufgestiegen sind, und in
deren Lebensweise sie einzig und alleine von Belang sind.

Von Zeit zu Zeit treten neue Religionen hervor, so wie in

jüngster Zeit Vuudhana aufgestiegen war und jetzt die Orion-
sterne überzog, aber zum größten Teil war dem jungen Imperi-
um die Religion etwas Fremdes.

Die von Bargelixwelt hatten eine Religion wie die meisten

Kulturen der feudalen Zeitalter, aber sie war zum größten Teil
eine Frage gesellschaftlicher Sitten und lieferte den Barden
einen Schatz an Überlieferungen, aus denen sie ihre Gesänge
wählen konnten, und den Fürsten ein Maß an Autorität, von
dem sie ihre Rechte und Privilegien ableiteten. Es war nicht
eine Religion heiliger Schriften, feuriger Propheten, eine der
Kreuzzüge oder der Inquisitionen oder eine, die jene auf dem

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Scheiterhaufen verbrannte, die sich ihren Glaubensgrundsätzen
nicht unterordnen wollten. Sie wirkte im Hintergrund, war eher
eine Sache der Tradition. In ferner Vergangenheit hatte sie die
Sitten der Cophyri geformt; in der Gegenwart hatte sie nur
wenig Einfluß auf ihr Leben.

Diese Dinge waren Morgan einigermaßen bekannt. Kargo-

nessa hielt sich einen Priester, einen fetten alten Burschen, der
das Weinglas und die alten Dichter sehr liebte: Vater Ormaldus
nannte er sich. Morgan hatte manchmal mit dem alten Mann
Taku gespielt, das, was auf Bargelix dem Schach oder dem
Damespiel entsprach. Er hatte mit dem schläfrigen, alten Mann
geplaudert, sie hatten Scherze und Zitate getauscht, und Or-
maldus hatte den Outworlder das wenige gelehrt, was er von
der geschriebenen Sprache dieses Teils des Planeten wußte.
Über Religion hatten sie sich, soweit er sich erinnerte, nie
unterhalten. Für den alten Priester war das etwas Selbstver-
ständliches, eine Sache, deren Fragen und Dispute alle vor
Jahrhunderten bereits geklärt worden waren und die man ge-
trost vergessen oder zumindest vernachlässigen konnte. Mor-
gan hatte ein wenig in den alten Heldensagen gelesen, hatte
aber nie irgendeine der religiösen Schriften oder Prophetischen
Bücher der Verehrung gelesen, wie die Bewohner von Bargelix
ihren einheitlichen, die ganze Welt umfassenden Glauben
nannten. Er war überhaupt kein Mann für Bücher.

Aber von den Yokanna hatte Morgan gehört. Es gab da einen

Berg oberhalb von Jarimstadt, mit einem aus zwei Stufen
bestehenden Gipfel: »Yokannathron« nannten die Fischerleute
ihn, so wie die Bewohner von Cornwall einer früheren Epoche
ihr Land mit Orten gefüllt hatten, die sich auf die Artuslegende
bezogen – Felsen, die »Artusstuhl« hießen und Bergkuppen mit
dem Namen »Artusgrab« und so weiter.

Sie waren keine Götter, die Yokanna, oder zumindest nicht

genau Götter; jedenfalls betete man sie nicht an, ja verehrte sie
nicht einmal. Vor langer Zeit waren sie zur Bargelixwelt ge-

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kommen, waren eine Weile geblieben und dann ins Geheimnis
entschwunden, ins Anderswo. Wie Earl Tasper die Geschichte
jetzt hervorbrachte, waren sie ein seltsames Volk gewesen, das
stets von einer Welt zur anderen eilte, von einer Zeit in die
andere, stets auf der Flucht vor schattenhaften, schrecklichen
Verfolgern. Der groben Sprache Taspers fehlten die richtigen
Worte, um es genau zu erklären, aber irgendwie entwickelte
sich bei seinem Zuhörer die Vorstellung einer Rasse fremdarti-
ger Geschöpfe, die stets vor einem Verderben flohen, das von
Ewigkeit zu Ewigkeit auf sie lauerte, und das sie nie weit hinter
sich zurücklassen konnten.

Eine sternfahrende Rasse? Das fragte er sich und stellte die

Frage laut, weil er wußte, daß es solche Besucher vor dem
Erscheinen der Menschen von Terra gegeben hatte. Die Ar-
chäologen hatten Spuren einer ausgestorbenen Sternenschiff-
technologie gefunden, tot und verschwunden, Äonen ehe der
Mensch den Mutterleib seines Planeten verließ und sich zwi-
schen den Sternen ausbreitete. Aber, nein, sagte Tasper, der im
fernen Keruvay – »Stern-Stadt« – die hohen Silberschiffe
gesehen hatte, dort, wo die wenigen Menschen von Morgans
Rasse manchmal erschienen, um ihre fremden Güter gegen
Juwelen, Pelze, Gewürze und Alkohol einzutauschen, aber
nicht oft. In Keruvay war er, Morgan, vor zwei Jahren gelan-
det, und dort hatte er zum erstenmal den Fuß auf die schwarze
Erde von Bargelix gesetzt, die ihn so freundlich willkommen
geheißen hatte, als wäre diese Welt seine Heimat.

Nicht durch den Weltraum, sondern zwischen den Räumen:

das war, worauf Taspers Erklärung hinauslief – wundersam für
einen Menschen der Bronzezeit, der überhaupt nichts von
Raum-Zeit-Kontinuen wissen konnte. Eine Dimensionstür, das
war der Sinn von all dem; durch so etwas waren die Yokanna
vor undenklichen Zeiten gekommen; und durch dasselbe Portal
waren sie wieder gegangen, als Jenes-was-stets-verfolgt ihnen
näher rückte, als sie ertragen konnten.

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Ein geheimnisvoller Mythos, dachte Morgan, der nichts da-

von wußte, daß die Xenomythologen in neun anderen homini-
den Kulturen Spuren desselben Glaubens entdeckt hatten,
Kulturen, die vom Orion bis zu den Sierrasternen verstreut
waren und zurück bis zu den Planeten von Herkules.

»… Und als sie abzogen, mußt du wissen, haben sie das Tor

offen gelassen«, murmelte Earl Tasper. »Für jene offen, die sie
von Welt zu Welt verfolgen.«

Morgan lief es eisig über den Rücken, denn er begriff.
»… Und die Verfolger werden durch das Tor kommen und

sie jagen. Wenn sie die Yokanna hier nicht finden, nun, dann
werden sie das verwüsten und in Schutt und Asche legen, was
sie finden: uns. Es sei denn, irgendein tapferer Mann schließt
das Tor rechtzeitig.«

Morgan furchte nachdenklich die Stirn. Verwirrt suchte er

nach Worten. »Aber sie müssen doch … Ich meine, Herrgott,
das alles liegt doch eine Ewigkeit zurück. Sind denn die Yo-
kanna nicht geflohen, weil ihre Feinde näherkamen … Sind sie
denn nie gekommen? Warum kommen sie jetzt?«

»Es hat etwas mit den verdammten Sternen zu tun. Die Sterne

müssen richtig sein, ich meine, in der richtigen – wie heißt das
verfluchte Wort doch? – in der richtigen ›Konfiguration‹ stehen,
ja, das ist es! Du mußt wissen, das Tor ist nicht immer offen.«

Morgan hatte tausend Fragen, aber er konnte sie nicht sortie-

ren, und so suchte er in ihnen herum, nahm hier eine und dort
eine, sprach davon zu dem Fürsten, kaute an seiner Antwort
herum, die immer wieder neue Fragen aufwarf.

Aber dann fügte er es sich Stück für Stück zusammen, jeden-

falls das meiste. Die Yokanna und das, was sie stets verfolgte,
reisten auf seltsame Weise zwischen den Welten, ja, und auch
zwischen den Zeiten, und das war auch der Grund, weshalb die
lange Zeitspanne zwischen ihrer legendären, weit zurücklie-
genden Abreise und der augenblicklichen Gefahr für sie bedeu-
tungslos war, aber für die Menschen so unerklärlich. Die Tore

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(Morgan fand nie heraus, ob es mehr als eines gab, aber mögli-
cherweise war es so, weshalb sonst das eine in Frage kommen-
de mit einem Namen behängen – Taradontor nannte es sich in
der Überlieferung) funktionierten nur selten, und die Position
bestimmter Sterne war dafür der Schlüssel; Morgan dachte
verwirrt an stellare Magnetfelder, an das Wirken gravitorischer
Kräfte, und gab auf.

»Aber warum gerade ich?« Klagend kam das.
»Freund, ich weiß es nicht. So ist’s im Lied. ›Der Outworl-

der‹ sagt die Prophezeiung.«

»Das Lied … weißt du, ich habe es nie gehört.«
Das Sehen fiel jetzt schwer; der Westen stand in Flammen,

und die langen, dünnen Wolken hatten Bäuche aus blassem
Jadegrün. Der Garten war in purpurnen Schein gehüllt. Die
massive, breitschultrige Gestalt des Earls war eine schwarze
Silhouette vor ihm, ein Monolith der Finsternis, und er konnte
das Gesicht seines Gastgebers nicht ausmachen.

Und dann begann Tasper mit leiser, unsicherer Stimme zu

singen.

Nach einer Weile erfaßte ihn die Stimmung des Gesangs, fast

so, als wäre ihm die Musik aus heroischen Zeiten ins Blut
gegangen. Und es schien, als schlüge sein Herz im Takt dazu.
Und ein paar Zeilen später bemerkte er, daß seine Hand den
Takt schlug.

Kleine Finger von Ehrfurcht – oder war es Angst? – strichen

über Morgans Rücken, der dasaß und lauschte, die Stirn furchte
und nachdachte. Und als der Earl schließlich jene Stelle im
Gesang erreichte, die sich angeblich mit ihm, Morgan Out-
worlder, befaßte, hielt er den Atem an.


»Der junge Zauberer trägt den Schlüssel und weiß, daß das
Verderben naht. Reitet zu jenem fernen Ort am Meer, dort
wo die Wogen brausen.

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Dort, wo ein Outworlder wohnt, der Heimat fern, inmitten
jener, die sich einst vergangen – auf seinen Schultern ruht die
Last der Suche in der ganzen Welt …«

Es folgten noch viele Strophen, aber Tasper sang sie nicht, und
in Wahrheit hätten sie Morgan Outworlder in jenem Augen-
blick nichts bedeutet.

Seine Stimme verstummte, während der Outworlder dasaß

und in sich jene fremdartige, uralte Musik nachklingen hörte
und über das Geheimnis nachdachte, das anfing, ihn in seinen
Bann zu ziehen.

Dann riß ihn Earl Taspers schwere Stimme aus seinen wan-

dernden Gedanken.

»Siehst du, junger Freund, Kargonessa ist der ›ferne Ort, wo

die Wogen brausen‹ … oder zumindest hatte dieser junge Zau-
berer das so angenommen. Was den Rest angeht, nun, ›jene, die
sich einst vergangen‹, das sind wir Kargonesen, weil unsere
Vorfahren in alter Zeit den Pakt brachen, den alle anderen auf
Bargelixwelt geheiligt halten und nie verletzen würden.«

»Ja, ich beginne zu begreifen«, murmelte der Terraner.
»Und der Outworlder, ›der Heimat fern‹, das bist wohl du,

denke ich … daran ist kein Zweifel … der einzige Outworlder,
den es jetzt auf ganz Bargelixwelt gibt. Und das ist es, wieso
der junge Sodaspes wußte, wen er suchen mußte und wie er ihn
finden konnte …«

Der alte, fette Priester hatte ein winziges Nest ganz unten im
Burgfried; man hatte es förmlich aus dem Boden gegraben, und
die Wände waren roh behauener Stein, dick und massiv, wie
die Gebeine der Welt. Man konnte dort das Meer hören oder es
fühlen, wie es kräftig gegen den Berg aus Felsgestein anrannte.

Ein kleines Fenster spähte auf die düstere Iophanische See

hinaus, ein Fenster, das man tief und schräg aus der Mauer
geschlagen hatte, um Licht und Luft hereinzulassen. Man hatte

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Scheiben aus altem, gelben Horn eingesetzt, so daß das herein-
fallende Licht schwach und von rosafarbenem Gold war. Da
lagen weiche, schwere Kissen und ein oder zwei alte Teppiche,
die jetzt fadenscheinig waren, und an der Wand stand ein Bü-
cherregal. Die riesigen, langen Cophyribücher waren ganz
anders als ihre terranischen Gegenstücke aus Morgans Kna-
benzeit (er wußte, daß das nur mehr Filmbänder und Kassetten
waren), und sie waren so schwer und so groß, daß Bücher-
schränke der Cophyri so gebaut waren, daß man sie flach la-
gern konnte. Vater Ormaldus war überrascht, ihn zu sehen. Er
hatte ihn aus seinem gewohnten Schläfchen geweckt, aber jetzt
fegte er Morgans Entschuldigungen weg und sagte, es gäbe
bald Nachtmahl, und er würde seinen alten Knochen ohnehin
erheben müssen, es mache daher nichts. Und Morgan lächelte
innerlich, weil er wußte, daß der alte Mann ohnehin lieber
essen oder trinken würde als schlafen.

Auf den alten, ledergebundenen Büchern mit ihren zerknitter-

ten Pergamentseiten und den bunten Kapitelanfängen lag
Staub. Die windschiefen, üppig verzierten Buchstaben waren
schwer auszumachen (und das Licht war auch schlecht), aber
der Priester schlug sich den schweren Folianten gegen den
Schenkel, schüttelte den Staub weg und zeigte ihm die Seite,
die er suchte, und begann mit einer langen, weitschweifigen
Erzählung, wie er sich vor Jahren jenen Band für seine Samm-
lung beschafft hatte, und wer Lissandur gewesen war, der alte
sodalmesische prophetische Barde, der den Gesang in lang
verstrichenen Jahrhunderten aufgezeichnet hatte. Wie stets, war
es auch jetzt schwer, dem geschwätzigen alten Priester lange
zuzuhören, und so gab Morgan es nach einer Weile auf; er gab
sogar auf, so zu tun, als hörte er zu, während er las und die
Verse des Gesanges langsam eins wurden mit dem Schlag der
Wellen gegen die Klippen, die man in der kleinen Kammer
hören konnte.

Schläfrig dröhnte die Stimme des alten Mannes, und Morgan

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träumte und brütete über den verschlungenen Schriftzeichen und
las den Lissandurgesang oder Teile davon und las Jazphers
Anmerkung, und die Kommentare der Vier Alten las er auch,
soweit er imstande war, die abstrusen Formulierungen einer
antiquierten und weitgehend vergessenen Theologie zu enträt-
seln. Einiges von dem, was er las, brachte ihm neue Erkenntnis-
se; einiges war völlig verwirrend, und letzteres war zum Teil den
Redakteuren und Kommentatoren zuzuschreiben, wenn diese
versuchten, jene Teile des Gesanges zu enträtseln, die selbst für
sie keinen Sinn abgaben, so wie der Begriff »Outworlder« für
sie ein unergründliches Geheimnis darstellte, was er zunächst
nicht begreifen konnte, bis ihm in den Sinn kam, daß diese alten
Priester und Gelehrten zu einer Zeit gelebt, gedacht und ge-
schrieben hatten, als das erste terranische Sternenschiff den
Boden dieses fernen Planeten noch nicht berührt hatte.

Auf Kargonessa pflegte man das Nachtmahl spät einzuneh-

men. Ormaldus war sehr stolz auf seine Lichtuhr, die er mit
viel geduldiger Arbeit und sorgfältigen Messungen selbst
ausgetüftelt hatte. Sie hing an der Wand, genau gegenüber dem
einen kleinen Fenster der Kammer, eine Platte, die auf eigenar-
tige Weise mit Farbstrichen und Zyklen bemalt war, so daß der
Priester, je nachdem auf welchen Teil davon die Sonne fiel, die
Stunde ablesen konnte. Morgan war fertig; er hatte genug
gelesen, um das Rätsel teilweise zu erklären und neue Rätsel
aufzuwerfen. Als der alte Mann sich schließlich räusperte und
die Stunde verkündete, war er froh, sich von den Seiten des
altes Buches abzuwenden und die Kammer mit dem alten
Mann zu verlassen, der mit ihm die Treppe hinunterschlurfte,
in die große Festhalle, wo er auf Sodaspes zuging, der dastand
und wartete, die klaren, furchtlosen Augen auf den Erdmen-
schen gerichtet. Und der blieb vor dem jungen Magier stehen
und sprach die Worte: »Ich werde mit dir gehen.«


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Tasper wollte, daß sie wenigstens bis zum Morgen bleiben
sollten. Er sagte, die Welt hätte so lange überdauert und würde
doch wohl noch ein paar Stunden überdauern können, und
Morgan war es gleichgültig, aber Sodaspes war darauf erpicht,
sein großes Vorhaben in Angriff zu nehmen, und so verließen
sie Kargonessa nach dem Abendmahl und wechselten sich
dabei ab, das Floß über die dunklen Wellen zu treiben.

Tasper hatte gegen Morgans plötzliche, impulsive Entschei-

dung, mit dem jungen Magier zu gehen, keine Einwände erho-
ben. Er nahm die Nachricht in mürrischem Schweigen auf, und
ehe sie abreisten, schenkte er dem Outworlder einen fetten
Beutel voll Handelssilber und einen Reiseanzug, der aus einem
Lederwams bestand, das mit achteckigen Platten aus schwerem
Stahl besetzt war, einem dicken, warmen Umhang aus Wolle
und ein kostbares Schwert.

Und noch ein weiteres Geschenk drängte er ihm auf: einen

Diener. Als Morgan protestierte, widersprach ihm Tasper und
rief den jungen Zauberer zu Hilfe.

»Heißt es nicht im Gesang, daß ein kräftiger Diener, einer der

sechs, die Tat verrichten soll?« fragte er. Sodaspes nickte
wortlos, und so wurde es entschieden.

Der Diener war ein starker, vierschrötiger Mann, Ende der

zwanzig, namens Othgrim. Er hatte ein freundliches, ehrliches,
offenes Gesicht, kräftige Muskeln, Haar von der Farbe von
Stroh und helle, humorvoll blickende, gelbe Augen. Er war
entzückt, mit von der Partie sein zu dürfen, und schwor dem
Outworlder die Treue.

Und so stakten sie quer über den Gelben Drachenfluß und

redeten wenig miteinander. Morgan, weil er vor dem jungen
Zauberer etwas verlegen war, der sich seiner selbst so sicher
schien, so erfüllt von seiner Aufgabe, und dessen klare Augen
beständig auf ein Ziel blickten, das Morgan nicht einmal sehen
konnte; Othgrim, weil er es nicht gewöhnt war, sich vertrau-
ensvoll unter »Höhere« zu mischen, wie er sie nannte, und

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Sodaspes, weil er sich in der Gegenwart des vorbestimmten
Outworlder bescheiden, ehrfürchtig vorkam, des Mannes aus
dem alten Mythos.

Und so stakten sie nur das Nötigste redend, langsam quer

durch den finsteren Hafen – unter einem Himmel, der plötzlich
fast erhaben wirkte, stakten hinüber zu dem Fischerdorf, wo
der Sänger wartete, wie Sodaspes zumindestens hoffte, und die
von der Burg gekrönte Insel sank hinter ihnen zurück, eine
hochragende Masse aus Finsternis mit nur wenigen flackernden
Lichtern. Morgan schmeckte den kühlen Nachtwind von der
See, würzig vom Salzduft und dem exotischen Geruch all der
fernen Orte, die er besucht hatte. Jetzt wehte er von der dunk-
len Küste des Festlands zu ihm herüber, und Morgan träumte
von Abenteuern, die ihm bevorstanden, und wunderte sich ein
wenig über die impulsive Art, mit der er dem Ruf gefolgt war,
den er immer noch nicht völlig begriff. Und dabei sah er sich
nicht einmal nach der felsigen Insel um, die sein Zuhause
gewesen war, und die er zutiefst liebte.

Aber da wußte er natürlich noch nicht, daß er sie nie mehr

sehen würde.

Sie landeten, und Sodaspes vertäute das Floß an einer Stange,

die mit farbigen Bändern als Eigentum der Familie des Jungen
markiert war, von dem er das Floß am Morgen gemietet hatte.
Sie kletterten an Land und fanden das Dorf in Finsternis dalie-
gend, selbst die Gasthäuser und Weinlokale waren geschlossen
und dunkel, denn Fischer gehen früh zur Ruhe, weil sie schon
vor der Morgendämmerung wieder aufstehen müssen, wenn sie
die silberne, schuppige Ernte des Meeres einbringen wollen.

Sie fanden den Sänger betrunken vor – Conyin von Llyrain

hieß er, und einst würde er vielleicht einen Gesang aus der
Geschichte ihrer Reisen machen, wenn sie sie geschafft hatten
– und als sie die Tür aufrissen und ihn sahen, standen sie
stumm da und starrten sein gerötetes Gesicht an, seine blutun-
terlaufenen, trüben Augen und seinen feuchten Mund.

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Jetzt blickte er zu ihnen auf und lachte, lachte, hauptsächlich

über den scheuen Morgan mit den starren Zügen, gleichzeitig
aber auch über den Jungen mit den strengen Zügen.

Lachte und sagte mit heiserer Stimme: »Das ist also der Narr,

den du aufgepickt hast, was, Junge? Willkommen, dreimal
willkommen im Tollhaus, ausländischer Herr?«

Morgan sah den Magier fragend an, und der Junge sagte

schnell: »Stör dich nicht an ihm, er ist oft so, aber trotzdem ist
er ein wahrer Sänger.«

Ob der Sänger das nun gehört hatte oder nicht, konnte keiner

von beiden sagen, aber er brach in heiseres Gelächter aus,
stampfte mit nackten Füßen auf den schmutzigen Boden und
schlug sich mit den schwieligen Händen auf die Schenkel.

»Seht uns an … seht uns an!« krähte er. »Zwei Narren, ein

schwachsinniger Tölpel und ein verrückter Junge auf einer
wahnsinnigen Reise an den Rand der Welt, um mit Schatten-
teufeln zu kämpfen, die noch kein Mensch je gesehen hat! Hat
es je eine solche Reise oder Helden wie uns gegeben?«

Und wieder hallte sein Gelächter, während Morgan steif und

mit rotem Gesicht verlegen dastand und sich dachte, daß er
sich gar nicht wie ein Held fühlte.

Und so hatten sich die vier versammelt, jeder von weit her
kommend, Conyin von Llyrain im Norden, Sodaspes von
Babdaroul im Westen, Othgrim von Kargonessa im Süden und
Morgan selbst, ein Outworlder vom fernen Centaurus.

Seltsam unähnlich waren sie einander; der häßliche, ge-

schwätzige, stets betrunkene alte Barde, der streng wirkende
junge Magier, der kräftige Diener mit mächtigen Muskeln, aber
einfachem Herzen, und der scheue, verlegene, einsame Ster-
nenwanderer. Würde es ihnen gelingen, aus ihren Unterschie-
den ein Band zu knüpfen, das sie für die eine Aufgabe verbin-
den würde?

Das mußten sie. Denn es hatte begonnen: sie hatten die ersten

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Schritte auf ihrem langen Weg getan, und die Suche hatte
bereits angefangen …


3.

Strye fiel hinter ihnen zurück, und als der Morgen zur Hälfte
um war, hatten sie ein gutes Stück Weges nach Nordosten
zurückgelegt. Eine Weile benutzten sie die alte Straße der
Könige, verließen sie aber nach ein oder zwei Stunden und
machten sich quer über die Grasebene auf den Weg. Es war ein
düsterer, grauer Tag, und der Wind flüsterte in den hohen
Gräsern, und sie beugten sich seiner unsichtbaren Macht, und
in jenem Wind lag eine eisige Kühle.

Sie hatten einander wenig zu sagen. Der alte Conyin war

mürrisch und litt ohne Zweifel unter etwas, das man auf der
alten Erde als Kater bezeichnet hätte. Der Zauberer war tief in
seine Gedanken versunken und antwortete einsilbig auf Mor-
gans wenige Versuche, ein Gespräch zu beginnen, so daß nur
er und Othgrim blieben. Der vierschrötige Knecht war es nicht
gewöhnt, einen Loper zu reiten, und er hatte alle Mühe, nicht
herunterzufallen. Wenn sie die Tiere nur im Schritt gehen
ließen, machte das nichts, aber wenn sie dann zu traben began-
nen, war ihm deutlich anzumerken, daß er sich nicht wohl
fühlte. Morgan versuchte, ihm das Reiten beizubringen, war
aber das Sitzen auf einem Loperrücken selbst nicht gewohnt
und fand es recht schwierig, sich an die seltsamen Tiere zu
gewöhnen.

Das Loper kommt dem terranischen Pferd so nahe, wie das

die unterschiedliche Entwicklung auf Bargelix zuließ, was
nicht sehr nahe ist. Das einzige, was Pferd und Loper wirklich
gemeinsam haben, sind ihre vier Beine. Lopers sind mit kur-
zem indigofarbenen Pelz bedeckt und haben lange, nach vorne
zulaufende Hälse, fast wie Giraffen auf der Erde; außerdem

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sind sie höher gebaut als Pferde, und ihre langen Beine schei-
nen irgendwo ein zusätzliches Gelenk zu haben, was ihnen
einen längeren Schritt mit seltsamem Rhythmus erlaubt, der
einige Gewöhnung erfordert.

Der graue Tag brachte schließlich kühlen Regen. Lange, nas-

se Gräser schlugen gegen die Flanken ihrer Reittiere, während
sie sich langsam und hintereinander durch die Flüsternden
Ebenen arbeiteten, wie das Grasland östlich von Strye heißt. Es
dauerte nicht lange, bis Morgan von den Hüften bis zu den
Füßen durchnäßt war. Sein Umhang, wenn auch aus schwerer
Wolle gewebt, konnte wenig dazu beitragen, ihn vor dem
Wetter zu schützen, und er wünschte sich aus ganzem Herzen
einige der Bequemlichkeiten der technologisch orientierten
Zivilisation, die er hinter sich gelassen hatte. Primitive Welten
sind recht schön; sie sind romantisch und prunkvoll, erregend
und farbenfroh, aber wenn dann ein Tag einmal kühl und reg-
nerisch ist, dann sehnen sich selbst die romantischsten Träumer
nach einem Thermoumhang oder einer Repellereinheit. Aber
im Augenblick hatte er keine andere Wahl, als die Zähne zu-
sammenzubeißen und alles zu ertragen. Und nach einer Weile
gewöhnte er sich sogar an den leicht schwankenden Lauf sei-
nes Tiers und an die ewige Nässe.

Er fragte sich, was er eigentlich hier zu suchen hatte, weshalb

er diese Reise auf sich genommen hatte, und wozu das alles am
Ende führen würde. Wahrscheinlich hatte er die Suche deshalb
auf sich genommen, weil er tief in seinem Innern das Gefühl
hatte, den Cophyri etwas zu schulden. Sie hatten ihn in ihrer
Mitte willkommen geheißen, obwohl er ein völlig Fremder auf
ihrer Welt war und nicht mit ihrer Lebensart vertraut. Noch nie
zuvor hatte er das Gefühl gehabt, irgendwo zugehörig zu sein.
Centaurus kam ihm eigentlich nicht als Heimat vor, denn wenn
er auch dort geboren war, lagen seine Wurzeln doch auf der
alten Erde, im mystischen Wales und in der Skandinavischen
Union. Aber wohin auch immer seine Reisen ihn geführt hat-

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ten, er schien stets ein Fremder unter Fremden zu sein. Barge-
lix hingegen war ihm fast seit der ersten Stunde, in der er den
Fuß auf diesen Planeten gesetzt hatte, wie ein Zuhause vorge-
kommen. Und die Leute hier hatten ihm in ihrer Mitte einen
Platz eingeräumt; er war hier kein Fremder.

Und wahrscheinlich war es das, eine nicht artikulierbare Tie-

fe der Dankbarkeit, die er empfand – und das hatte ihn zu
seiner impulsiven Entscheidung geführt, die Suche auf sich zu
nehmen. Denn ohne Zweifel glaubte er nicht an alte Prophezei-
ungen und geheimnisvolles Verderben. Er hatte das Gefühl,
den Menschen dieser Welt vieles zu schulden, und dies war das
allererste, was irgendeiner von ihnen je von ihm verlangt hatte.

Er hätte gerne mehr über die Suche gewußt, die er sich zu

seiner Aufgabe gemacht hatte. Als sie anhielten, um die Mit-
tagsmahlzeit einzunehmen und ihren Lopers Futter und Wasser
gaben und eine Weile ausruhten, versuchte er, den Sänger
danach zu befragen. Der alte Conyin hatte sich von den Nach-
wirkungen des vielen Alkohols erholt, den er am vergangenen
Abend zu sich genommen hatte, aber seine Zunge war so
scharf wie eh und je. Als Morgan ihn fragte, weshalb er sich
der Suche angeschlossen hatte, da er doch, nach seinen Worten
vom vergangenen Abend zu schließen, ebensowenig daran zu
glauben schien wie Morgan selbst, brummte und knurrte der
alte Barde und gab am Ende zu, daß auch er den Ruf gehört
hatte. Sodaspes war der erste gewesen. Ihn hatte der Ruf eines
Nachts in Babdaroul, der Verbotenen Stadt, erreicht. Erst vier-
zehn Tage davor war er in die Mysterien seiner Kunst einge-
weiht worden. Der Ruf hatte ihn während der Nachtwache
erreicht, und er hatte ihn sofort begriffen und war aufgestanden
und bei Morgendämmerung des nächsten Tages losgezogen.

Was Conyin betraf, so war er auf dem Weg zum Hof des Kö-

nigs Chandazzar im Hügelland unterwegs gewesen, da es hieß,
daß jener Monarch für die Lieder der Barden etwas übrig hatte
und freigebig zu sein pflegte. Conyin hatte der Ruf in derselben

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Nacht erreicht, in der er auch in der Zelle des Sodaspes in
Babdaroul erklungen war. Er, der Sänger, hatte unter freiem
Sternenhimmel gelegen, hatte seine Leier gestimmt und war
damit beschäftigt gewesen, eine Ballade zu Ehren des freigebi-
gen Königs zu komponieren, dessen Gastfreundschaft er bald
zu genießen hoffte. Auch er kannte die Bedeutung des Rufes.
Denn er war ein geweihter Barde und auf seine Art so etwas
wie ein heiliger Mann. Und er kannte den Lissandurgesang.
Also hatte er abgewartet, bis der Zauberer am Ufer der Fluß-
straße erscheinen würde. Dann waren sie sich begegnet und
waren gemeinsam nach Süden gegangen.

Morgan sah den alten Mann mit unverhohlener Neugierde an.

Er hatte keinen Ruf gehört, und als er sich darum bemühte, von
dem alten Sänger mehr Einzelheiten darüber zu hören, versieg-
te dessen Redseligkeit, und er war nicht bereit, mehr zu sagen.
Es war gerade, als wäre der Ruf etwas Persönliches und Inti-
mes, worüber man nicht sprach. Seine schmalen, knochigen
Kiefer kauten getrocknetes Fleisch und schluckten saures Bier,
und seine dunklen, gelben Augen blickten brütend ins Leere.

Morgan wußte einiges über Barden seiner Art. Die Cophyri

empfanden tiefe Verehrung für das Wissen und für Männer, die
sich der Wissenschaft ergeben hatten. Sie waren nicht nur
sakrosankt, sondern heilig. Es gab alle möglichen Arten von
Barden, angefangen bei wandernden Minnesängern, die nicht
mehr viel als Taschenspieler und Vagabunden waren, bis zu
echten Rhapsoden. Ein Rhapsode, wie Conyin, wurde mit
besonderer Verehrung betrachtet: er mußte die Kunst der Bar-
den auf einer der sieben Schulen dreimal fünf Jahre lang stu-
dieren, er mußte die Mysterien seiner Kunst beherrschen, und
man schrieb ihm unter dem Volk die Fähigkeit zu, jene, die
ihm Mißfallen bereiteten, ihn beleidigten oder verletzten, mit
einem Fluch zu belegen. Morgan hatte einmal eine dieser
langgezogenen, gereimten Fluchlitaneien gehört, und dabei
hatten sich ihm die Nackenhärchen gesträubt. Er empfand

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durchaus Mitgefühl mit einfachen, ungebildeten Bauern und
konnte sich daher gut die Ehrfurcht und die Angst vorstellen,
mit der sie einen Mann mit so seltsamen Kräften und geheim-
nisvollen Wissen betrachteten, wie Meistersinger von Barden-
rang waren. Und so sehr er sich auch wie ein alter, schmutziger
Landstreicher benahm, war Conyin doch ein Meistersinger.

Sie hatten sich einen guten Platz für ihr Mittagsmahl ausge-

sucht. In großen Abständen erhob sich hier und da ein Baum
inmitten der Graswüste. Diese Bäume (man nannte sie Oraldi-
nar
, Oasenbäume, weil ihr Blattwerk Schutz vor der Sonne bot
und man aus ihren fleischigen Wurzeln Wasser gewinnen und
ihre großen Früchte essen konnte) hatten fremdartige, breite
Blätter, so groß wie der Rücken eines Mannes, und weit ausge-
streckte Zweige, die eine beträchtliche Fläche deckten. Einer
dieser Oraldinarbäume konnte einer halben Kompanie beritte-
ner Krieger Schutz vor dem Wind, der Sonne oder dem Schnee
bieten. So nahmen sie ihre Mahlzeit mit einigem Komfort ein,
zumindest trocken, während die ganze Welt um sie von kaltem,
grauen Nieselregen erfüllt war.

Sodaspes hatte Feuer gemacht, um sie zu wärmen, und Mor-

gan riß verblüfft die Augen auf, als er sah, wie er das machte.
Während Othgrim den Lopers die Sättel abnahm und sie trok-
kenrieb und Morgan ihnen Futter und Wasser gab, schlenderte
der junge Zauberer unter dem Baum herum, sammelte trockene
Zweige und Laub und errichtete daraus einen kleinen Haufen.
Statt aber die komplizierten kleinen Feuerzeuge aus Stahl und
Feuerstein zu benutzen, die Morgan in Kargonessaburg gese-
hen hatte, holte der Magier einfach nur einen der kleinen Zau-
ber aus seinem Beutel. Es war ein kleiner roter Stein, der selbst
im schwachen Licht dieses grauen Tages golden schimmerte.
Diesen Stein legte er auf die aufgehäuften Zweige, und in
wenigen Augenblicken brannten diese und flackerten munter.
Es war seltsam. Morgan wußte, daß die Leute dieser Welt, so
wie es die Primitiven überall taten, an Zauberei glaubten. Ge-

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legentlich hatte er bei Earl Taspers Festen gesehen, wie die
Zauberei zur Unterhaltung benutzt wurde, hatte darin aber
immer eine Kombination von Fingerfertigkeit und vielleicht
gewisser Suggestivkraft gesehen, wenn nicht gar etwas wie
Massenhypnose. Aber das, was er hier sah, ganz beiläufig,
wirkte echt. Er dachte eine ganze Weile darüber nach, war aber
zu verlegen, um sich näher zu erkundigen.

Im flackernden Flammenschein betrachtete er die Gesichter

seiner Begleiter, das glatte Gesicht des jungen Magiers mit
seinem nach innen gerichteten gelben Blick und dem kahlge-
schorenen Schädel, die häßlichen Züge des alten Sängers und
den trägen, breitgesichtigen Othgrim mit seinen kleinen, hellen,
freundlich blickenden Augen.

Conyin hielt seinen Blick am längsten fest. Es war unmöglich

festzustellen, wie alt der Mann war, denn sein ledernes, durch-
furchtes Gesicht schien die Erfahrung von Jahrhunderten zu
bergen. Seine Augen waren von dunklerem Gelb als die der
zwei anderen und saßen tief in knochigen Höhlen. Seine Brau-
en waren buschig und wirkten irgendwie teuflisch. Er hatte ein
langes Pferdegesicht und eine gerunzelte Stirn, dicke Lippen
und einen sehr breiten Mund; seinen Kopf bedeckten wirre,
schüttere Locken von eher farblos als grau wirkendem Haar.
Seine lange, hagere Gestalt war mit Kleidern bedeckt, die man
nur mit Mühe als solche bezeichnen konnte, die Reste von
tausend Lumpensammlern schienen sie zu sein; nichts paßte zu
irgend etwas anderem. Sein Umhang war geflickt und ausge-
franst und von einer Art dunklem Grün; seine Handschuhe
bestanden aus abgewetztem, alten schwarzen Leder; sein Bein-
kleid war zerrissen und faltig – und dann hatte er alle mögli-
chen Dinge am Gürtel und in die Ärmel gestopft: Tücher, eine
Art Schal, eine abnehmbare Kapuze und was dergleichen mehr
war. Anstelle von Sandalen, Schuhen oder Stiefeln trug er
Reitstiefel, die früher einmal aus scharlachrotem Leder bestan-
den haben mochten, jetzt aber abgewetzt und mit grauem

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Schlamm und gelbem Ton bespritzt waren.

Das Gesicht des alten Mannes zeigte eine Fülle von Charak-

ter und Humor von der Art eines Rabelais. Jetzt, da er sich
weitgehend von den Folgen seines unmäßigen Trinkens erholt
hatte, schien die Stimmung des Barden verbessert. Er summte
ein kleines Lied und musterte den jungen Magier und den
verlegenen Outworlder mit blitzenden, humorvollen Augen.
Morgan hatte das Gefühl, daß er gerne ein Lied gespielt hätte
und das auch getan hätte, wäre das Wetter nicht gewesen.

Seine Leier war übrigens aus schönem, altem, gelbem Elfen-

bein. Er achtete besser auf sie als auf sich selbst; er trug sie
eingehüllt in mit Wachs imprägniertem Leder unter seinem
schweren Umhang. Ihr hatte auch seine erste Sorge gegolten,
als er aus dem Sattel gestiegen war: er hatte sie aus dem Futte-
ral geholt und mit einem sauberen Leinentuch abgewischt, das
er irgendwo unter dem phantastischen Sammelsurium an Klei-
dern zum Vorschein gebracht hatte.

Aus dem leichten Nieselregen wurde ein Wolkenbruch. Glit-
zernder grauer Regen peitschte das Gras und trommelte auf die
großen Blätter des Oasenbaumes herunter. Die Reisenden, die
jetzt ihr Mahl beendet hatten und wußten, daß ihre Lopers
ausgeruht waren, überlegten, ob sie gleich weiterziehen oder
den Regenguß abwarten sollten. Sodaspes war unruhig und
wollte weiterreiten. Dies sei gefährliches Land, sagte er, aber
sie müßten es durchqueren. Aber als Morgan fragte, ob es
wilde Tiere gäbe, schüttelte der Magier den Kopf und murmel-
te etwas von »Wilden Reitern«.

»Aber im Regen reiten sie nicht, Knabe«, lachte der alte Co-

nyin. »Die sind vernünftiger.«

»Ist das nicht ein guter Grund für uns, es zu tun?« fragte So-

daspes. »Wir können in diesem Regen weit kommen.«

»Nicht weit genug; es kostet uns leicht ein oder zwei Tage,

um Grymwood zu erreichen, falls du nicht über die Felsmauer

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Thoor reisen willst. Und ich würde lieber einen Zusammenstoß
mit den Reitern riskieren, als mich darauf einlassen, ein knur-
rendes Rudel Senmurven abzuwehren.«

»Ich habe vor, den Weg über die Felsmauer zu nehmen«,

sagte der Junge entschlossen. Ȇber die Senmurven zerbrechen
wir uns den Kopf, sobald wir auf den Klippen sind.«

»Sobald wir auf den Klippen sind, werden sie uns vielleicht

den Kopf zerbrechen«, sagte Conyin trocken. »Aber tu, was du
willst, für mich ist das alles ohnehin Wahnsinn.«

»Warum hast du dann an der Flußstraße auf mich gewartet?«
Conyin starrte brütend in die schwächer werdenden Flammen

und gab keine Antwort.

Sie stiegen auf ihre Tiere und ritten weiter, nachdem So-

daspes in der Asche seinen roten Stein gesucht, ihn sauberge-
wischt und wieder eingesteckt hatte. Morgan berührte ihn: er
fühlte sich kühl und trocken an. Sodaspes sagte, daß man so
etwas einen Dryope nenne, einen Feuerstein.

Sie kamen bis zum nächsten Oasenbaum, vier Stunden We-

ges, ehe die Wilden Reiter über ihnen waren.

Conyin sah sie als erster. Es hatte endlich aufgehört zu regnen,
und wenn auch der Himmel noch von tiefhängenden Wolken
bedeckt war, die eher wie dicker Nebel wirkten als die Art von
Wolken, mit denen Morgan vertraut war, so standen doch die
Zwillingssonnen von Bargelix hoch dahinter, und feuchte Hitze
lag über der Ebene.

Conyin ritt an der Spitze, und seine Haltung im Sattel wurde

plötzlich steif, und er zügelte sein Reittier und starrte mit
scharfen, alten Augen nach vorne. Sodaspes trabte an Morgan
vorbei und hielt neben dem Alten an.

»Ich habe es dir ja gesagt«, sagte der Sänger grimmig. »Drei-

ßig, würde ich sagen. Keine Ahnung, was sie tun werden.«

Sodaspes wurde bleich. Er biß sich auf die Lippen und sagte

nichts.

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»Ich nehme an, du hast einen Zauber in einem deiner Beutel,

mit dem man dreißig Wilde Reiter in die Flucht schlagen kann,
wie?« fragte der Barde sarkastisch. Der junge Magier schüttelte
wortlos den Kopf.

Morgan, der hinter ihnen ritt, konnte noch nichts sehen.
Hinter ihm seufzte Othgrim und betastete das blaue Amulett

aus gebranntem Ton, das an einem Lederband um seinen Hals
hing.

»Die sind schlimm, die Reiter«, brummte er. »Vielleicht

müssen wir gegen sie kämpfen, Meister.« Morgan sagte nichts;
er trug ein langes Schwert an der Hüfte, war aber wenig damit
vertraut. Der Barde war natürlich unbewaffnet, da nur wenige
der Bewohner dieser Welt es wagten, gegen seinesgleichen die
Hand zu erheben. Othgrim war mit einem Stab aus Eichenholz
bewaffnet, zehn Fuß lang und an den Enden mit Eisenkappen
versehen. Eine schreckliche Waffe, aber was konnte man damit
schon gegen dreißig Männer ausrichten?

»Was sind das – Banditen?«
»Reiter sind keine Banditen, Meister. Sie sind die Männer

der Ebenen. Sie reiten, wann sie wollen, und kennen kein
Gesetz außer ihrem eigenen.«

»Weshalb nennt man sie ›Wilde Reiter‹?«
Der hünenhafte Knecht zuckte die Schultern. »Ich hab’ ein-

mal von Meister Yuthlim gehört«, sagte er und bezog sich
damit auf den Barden an Taspers Hof. »Er sagte, die machen
eine Art Kuchen aus irgendeinem Kraut, das sie Chingay nen-
nen, und das macht sie manchmal verrückt. Manchmal töten sie
und foltern, dann sind sie wieder gastfreundlich und gutge-
sinnt.«

Chingay bedeutete auf altcophyrisch »Verrücktes Blatt«.

Morgan fragte sich, ob das vielleicht eine Art Halluzinogen
war wie das terranische Peyote. Er wünschte sich in diesem
Augenblick nichts so sehr wie einen Energiestrahler.

Jetzt konnte er sie sehen, es waren leicht dreißig. Sie ritten in

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weit gezogenem Halbkreis auf langbeinigen, verhungert ausse-
henden Lopers. Es waren gebräunte Männer mit harten Gesich-
tern, wilden Mähnen und riesigen Säbeln, die sie an Wehrge-
hängen trugen, die um ihre Schultern geschnallt waren. Sie
waren fast nackt, nur mit Stiefeln, Lendentüchern und schwar-
zen Lederkürassen bekleidet, die ihren Oberkörper bedeckten.
Sie fegten mit atemberaubender Geschwindigkeit über das
Grasland dahin, geradewegs auf die kleine Gruppe von Reitern
zu, und – das war das Beängstigende an ihnen – sie ritten völlig
lautlos. Morgan hätte sich wohler gefühlt, wenn sie mit Geheul
herangeprescht gekommen wären. Aber sie ritten in völligem
Schweigen.

Conyin ritt ihnen entgegen, und dann kam die breite Sichel

aus Reitern plötzlich zum Stillstand. Er hob die Hand, um ihre
Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, und sagte mit lauter, klarer
Stimme:

»Ich bin ein geweihter Barde der Aronneschule. Mein Name

ist Conyin Meistersänger, und ich reite unter dem Schutz des
Hohen Brauches auf dieser Welt. Wenn ihr mich und meine
Brüder aufhaltet, so tut ihr das auf eigene Gefahr, Reiter!«

Die Reiter musterten sie böse, blieben aber reglos auf ihren

Lopers sitzen. Zwei von ihnen flüsterten miteinander und
warfen finstere Blicke auf die Reisenden, und einer von ihnen
lachte. Morgan war unruhig und tastete nach dem Heft seines
langen Schwertes, und er fragte sich, ob ihre Suche schon hier
ihr Ende finden würde.

Dann folgte ein langes Palaver; zwei der Wilden Reiter ritten

vor, um mit dem Sänger zu verhandeln. Die Verhandlung, von
der Morgan kein Wort hören konnte, schien ewig zu dauern. Er
saß da, schwitzte in der schwülen Feuchtigkeit und wünschte
sich weit weg.

Endlich salutierte Conyin den zwei Reitern mit erhobener

Hand und wandte sich wieder seinen Begleitern zu. Sein Ge-
sicht wirkte erleichtert, und er grinste breit.

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»Alles in Ordnung, denke ich«, sagte er mit leiser Stimme.

»Man hat uns eingeladen, dieser Gruppe zum Lager ihres Herrn
zu folgen, um die Gastfreundschaft der Reiter zu genießen«,
sagte er, und neben Morgan atmete der vierschrötige Othgrim
erleichtert auf.

»Das war knapp, Meister«, knurrte er. »Ich war schon sicher,

daß gleich die Schwerter sprechen würden!«

»Können wir ihnen vertrauen, meinst du?« fragte Sodaspes

im Flüsterton.

Der Barde zuckte die Schultern. »Das wissen die Götter,

Junge. Aber ich dachte, es wäre nicht klug, ihre Gastfreund-
schaft abzulehnen.«

Und so ritten sie weiter, durch den diesig-schwülen Tag, hin-

ter der galoppierenden Schar von Reitern her, und als der
Abend nahte, tauchte am Horizont das Lager der Wilden Reiter
auf. Es war ein dreifacher Kreis aus riesigen Wagen, mit Dä-
chern aus zusammengenähten Häuten über einem Rahmenwerk
aus Korb. Die hochrädrigen Wagen wirkten auf Morgan wie
die alten Planwagen des Wilden Westens, die Morgan in den
Büchern seines Vaters gesehen hatte, als er noch ein Kind war.
Am äußeren Rand des dreifachen Kreises grasten schwere
Tiere, deren buschige Schwänze hin und her schlugen und auf
deren dicken Köpfen phantastische Geweihe prangten. Morgan
hatte dergleichen noch nie zuvor gesehen, vermutete aber, daß
es Anthar waren, Vieh von der Art der Ochsen. Die Reiterno-
maden benutzten sie ohne Zweifel als Zugtiere für ihre Plan-
wagen und als Schlachtvieh.

Stupsnasige Kinder starrten sie neugierig an, als sie in einer

Gasse zwischen den Wagenkreisen auf deren Mitte zuritten.
Gut aussehende, dunkle Frauen in voluminösen Röcken beäug-
ten sie von den Stufen der Wagen und riefen den Reitern, die
sie begleiteten, mit schrillen Stimmen ihre Bemerkungen zu.

In der Mitte des Kreises hatte man das Gras flachgetreten,

und ein wahrhaft gigantisches Feuer flackerte himmelwärts.

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Große Stücke von Antharfleisch drehten sich langsam an äch-
zenden Spießen, und ihr Fett tropfte in die Flammen. Rings um
das Feuer waren Bänke aufgestellt worden, und dort saßen die
Ältesten des Nomadenstamms, tranken aus Weinschläuchen
und rauchten die hohen Wasserpfeifen aus durchlöcherter
Bronze, von denen Morgan oft gehört, aber die er nie gesehen
hatte.

Ihre Begleiter zügelten ruckartig die Pferde und sprangen

geschickt herunter. Die Abenteurer kletterten steif aus dem
Sattel und standen herum, fragten sich, was nun geschehen
würde. Dann kam der Anführer der Gruppe, der Mann, mit
dem Conyin verhandelt hatte, im Gefolge eines eindrucksvoll
wirkenden Mannes auf sie zu, der sicher der Häuptling der
Horde war. Er war fast sechs Fuß groß, was für einen Cophyri
eine Seltenheit war, da diese gewöhnlich nicht diese Größe
erreichten, und er hatte auffällig bernsteinfarbige Augen, die
wie die eines Löwen blitzten, und einen eindrucksvollen Bart,
gepflegt und gewachst, offenbar sein ganzer Stolz. Conyin
begrüßte ihn, worauf der andere würdig nickte und sie schwei-
gend musterte.

Die anderen Reiter, die sich um sie drängten, hatten, wie

Morgan feststellte, entweder glasige, gleichgültige Augen oder
solche, in denen es wild loderte, was offenbar ihrer Stammes-
sitte zuzuschreiben war, Chingay zu kauen. Nicht so der Rei-
terfürst. Seine Augen waren scharf und klar suchend. Sie gli-
chen denen von Tasper Kargonearl: die Augen eines großen
Königs.

Endlich erhob er die Stimme, sie klang tief und sonor: »Ihr

seid willkommen hier, in Frieden und Brüderschaft unter dem
Pakt«, sagte er, und Morgan wußte, daß sie nichts mehr zu
befürchten hatten.

In dieser Nacht feierten sie mit den Reitern. Es war eine wilde,
tumulthafte Nacht; am Himmel flammten die Sterne, und

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mächtige Winde heulten gegen den goldenen Mond, die langen
Gräser seufzten und stöhnten.

Morgan aß, bis er nichts mehr essen konnte; in Kargonessa

war Fisch das Grundnahrungsmittel, Antharfleisch eine Selten-
heit, die es nur an heiligen Tagen gab, aber hier auf den Ebenen
war es umgekehrt, und Fisch galt als exotische Rarität. Es
schmeckte herrlich, voll und saftig, dampfendheiß vom offenen
Feuer, und dann gab es dicke Bratensoße, die man mit Brot
auftunkte. Und gelben Wein, der mit Honig und Kräutern und
rotem Pfeffer gewürzt war. Morgan aß, bis er das Gefühl hatte,
er müsse bersten, und lehnte sich dann warm und schläfrig
gegen ein Wagenrad. Wenn der Rest der Suche so sein sollte,
hatte er eine glückliche Wahl getroffen, dachte er halb benom-
men. Ob es nun der Wein war, oder das Chingay, mit dem man
die Bratensoße gewürzt hatte – jedenfalls empfand er eine
seltsame Mischung aus Leichtigkeit und Schlaftrunkenheit.

Die Reiter liebten Musik wie die Zigeuner und spielten sie

auf klagenden Pfeifen und kleinen Glöckchen, während die
jungen, unverheirateten Mädchen des Stammes vor den hoch-
lodernden Flammen eine wilde, erotische Sarabande tanzten.
Die Röcke hoch gehoben, so daß man die roten Petticoats
fliegen sehen konnte, mit nackten, langen Beinen, die immer
wieder im Flammenschein blitzten, tanzten sie zu den berau-
schenden Rhythmen, und von Zeit zu Zeit sprang einer der
jungen Männer mit einem wilden Schrei auf, um sich ihnen
anzuschließen. Die Hände in den Hüftgürtel gesteckt, die
Schultern zurückgeworfen und die Brust vorgereckt, stolzierten
die Männer wie Kampfhähne herum, während die Mädchen sie
umkreisten, mit den Röcken flatterten und mit roten Lippen
lächelten, so daß ihre weißen Zähne im Flammenschein blitz-
ten. Es war wild und stürmisch, und Morgan genoß es.

Dann forderte der würdige Reiterfürst, der unter den Stam-

mesältesten saß, Conyin auf, ihnen ein Lied zu singen, und der
alte Barde stellte sich vor die Flammen und stimmte seine

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Leier. Zuerst sang er ein melancholisches Lied, voll hallender
Vierteltöne, wie um damit den Kontrast zu der wilden, schril-
len Musik des Tanzes herzustellen.

Morgan hatte den alten Sänger noch nie zuvor singen gehört,

und es war für ihn wie eine Offenbarung. Conyin war wahrhaf-
tig ein Meistersänger; seine Stimme war herrlich, tief und voll,
ein edler Bariton, und das traurige Liebeslied, das er ihnen
sang, versenkte sie alle in Träume. Dann schloß sich ein Stück
aus einer der alten Heldensagen an, die Earl Tasper so geliebt
hatte. Er sang die Ballade im epischen Versmaß, und sie war
gefüllt mit Duellen und Schlachten und den Tagen der legendä-
ren Krieger des Altertums. Während Morgan den Worten
lauschte, dachte er schläfrig, daß der blinde Homer wohl eben-
so gesungen haben mochte.

Und dann schloß sich, wie um erneut einen Kontrast herzu-

stellen, ein seltsam komisches altes Lied an; es gab keinen
Sinn, und Morgan begriff die ehrfurchtsvolle Stille nicht, die
sich über sie senkte. Später sollte er sich daran erinnern, an den
mächtigen Gesang jener früheren Suche, als die Neun Helden
von Irion sich gegen die Schatten und die finstere Hexe stell-
ten, die Dienerin der Dunkelheit, nur bewaffnet mit der Harfe
Gleewood und Gondafal, dem Schwert des Lichtes. Auf jener
Suche hatten sie auch einen Sänger gehabt, und er war es, der
jenes alte Lied gemacht hatte, um die anderen der Neun auf
ihrem langen Weg zu erheitern:


Wir suchen den König der Schatten, wo immer er stecken
mag, auf der anderen Seite der Berge oder sechs Meilen tief
im Grab!

Wir jagen auch die Hexe, die seine Dienerin ist, um Mores
sie zu lehren. Unter dem Mond soll ihre Burg liegen? Was
macht das uns schon aus!

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Sind wir auch nur neun Männer (mit Gleewood sind wir
zehn), kein Ort der Welt ist uns zu weit, sonst suchen wir
nochmal!

Dann schwoll das alte, muntere Lied an, und wieder fielen all
die Wilden Reiter und ihre Frauen und Kinder ein, ein mächti-
ger Chor, der dem einfachen, alten Lied etwas von der Leiden-
schaft und der Macht eines Epos verlieh. Und plötzlich ertappte
Morgan sich dabei, wie er mit den anderen mitsang …


Sie mag zehn Heere haben, gehorsam ihrem Wort, und wir,
die wir nur neun sind (Gondafal nicht gezählt)!

Am Morgen soll sie zittern, noch vor der Zeit des Mahls be-
siegen wir ihre Armeen – und werfen sie ins Meer!

Dann soll die Hexe zittern, ja zittern soll die Hex, ja zittern
soll die Hex.

Das alte Lied bekam brüllenden Applaus, aber der nächste
Gesang rief ehrfürchtiges Schweigen hervor. Man spürte die
tiefe Trauer, die es erzeugte, aber es war eine strenge, grimmi-
ge, kraftvolle Art der Trauer. Es ging um ein Opfer, das der
Liebe zu bringen war, und um einen Fremden, der endlich sein
Zuhause fand, und irgendwie war er gleichzeitig Sieger und
Besiegter, und erst als Morgan bemerkte, daß alle Männer ihn
anstarrten, erwachte er langsam und bemerkte, daß der alte
Barde mit großer Würde und mit Tränen in den Augen den
Lissandurgesang sang.

In hallendem Schweigen endete er.
Der Reiterfürst stand auf und verbeugte sich vor dem Sänger,

dann drehte er sich um und verbeugte sich vor Sadaspes und
Othgrim und auch Morgan.

»Auch wir Bewohner der Ebenen kennen die alten Weisen«,

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sagte er leise. »An uns ist der Ruf nicht ergangen, obwohl es
hier Helden gibt. Unsere weisen Männer haben die Sterne
gelesen und wissen, daß der Drache sich wieder geformt hat, so
wie er einst in der Vergangenheit tief am fernen Himmel
prangte, als der Elendstern rot wie Feuer oder Blut loderte.«

Der Wind flüsterte im Gras; ein paar Augenblicke lang

sprach niemand.

»Wir kennen euch und kennen auch eure Sendung, weil wir

schon seit langem wissen, daß ihr eines Tages dieses Weges
kommen würdet«, fuhr der alte Häuptling langsam fort. »Der
Zauberer, der Sänger, der Knecht und der weitgereiste Fremde.
Ihr ehrt uns ungemein, und wir werden unseren Kindern und
den Kindern unserer Kinder noch erzählen, daß wir euch ein-
mal gesehen haben.«

Und Morgan sah, daß auch seine Augen mit Tränen gefüllt

waren.

Es gab keinen Wein mehr zu trinken und keine Lieder, die es
zu singen galt, aber am Ende wartete ein weiches Bett in den
Zelten der Wilden Reiter und tiefer Schlaf unter dem purpur-
nen Himmel, wo tausend Sterne groß und klar brannten, wie
verstreute Diamanten auf dickem Samt.

Noch lange sollten sie sich der Gastfreundschaft der Reiter

der Ebenen erinnern, denn vor ihnen lagen schwere Zeiten auf
jener langen Straße, die um die Welt führte. Sie mußten über
Ebenen und Klippen, durch Wälder und über Berge, vorbei an
Ungeheuern und Magiern, bis schließlich ihre große Suche ihr
Ende finden würde.






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4.

Am nächsten Tag bildeten die Wilden Reiter eine Eskorte und
ritten den ganzen Tag mit ihnen, denn im Grasland gab es
Banditen und wilde Tiere. Die dritte Nacht ihrer Reise ver-
brachten sie unter den Sternen, während die Reiter respektvoll
Wache standen, und als dann der Morgen dämmerte, ritten sie
weiter nach Osten, wo die Felsmauer sich wie eine weiße
Wand aus dem Morgen hochtürmte.

Der Reiterfürst – er hieß Loran – hatte sie höchst gastfreund-

lich mit Antharseiten versorgt, die in Wachshäute gehüllt wa-
ren, und mit trockenen Früchten, die die Wilden Reiter gegen
Fleisch und Häute von den Bewohnern der Handelsstädte im
Norden eintauschten, und mit gutem Wein in ledernen Säcken,
aus denen man nach Reiterart trinkt, indem man sich den
Schlauch über den Kopf hält, so daß der Elfenbeinspund herun-
terhängt, und dann drückt man den Wein in einem dünnen
Strahl in den Mund. Wenn man Glück hat: als Morgan es das
erstemal versuchte, besudelte er sich sein Lederhemd damit.

Die Reiter, die sie begleiteten, schlugen diesen Weg wider-

strebend ein, denn es hieß, daß die Felsmauer von den Senmur-
ven unsicher gemacht würde, die ihre Nester in kleinen Höhlen
und Löchern im Felsgestein hätten. Aber Sodaspes blieb hart-
näckig. Der Ruf, der an ihn ergangen war, hatte ihm gesagt,
daß der fünfte ihrer Gruppe sich ihnen auf den Klippen an-
schließen würde. Außerdem lag hinter der Felsmauer Grym-
wood, und das war der Weg, den sie einschlagen mußten.

Als sie der Felsmauer von Thoor näherkamen und Morgan die

mächtige Klippenwand deutlicher erkennen konnte, verspürte er,
wie ihn ein Gefühl der Niedergeschlagenheit überkam. Das
sollten sie ersteigen? Wie eine tausend Fuß hohe Mauer türmten
sich die Klippen über ihnen auf und zogen von Norden nach
Süden quer über die Welt, so weit das Auge in diesem Dunst
sehen konnte (denn es war immer noch nebelig). Aber Sodaspes

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behauptete, von einem Paß zu wissen, und da war auch einer,
wenn sie auch den ganzen Vormittag brauchten, um ihn zu
finden, weil sie etwas vom Weg abgekommen waren, indem sie
zum Lager der Reiter nach Norden zogen. Er war steil und
schmal, steiler, wie Morgan dachte, als irgendein Loper klettern
konnte; aber Conyin sagte, die Lopers seien dazu imstande,
wenn es auch nötig werden könnte, sie ein paarmal von der
Peitsche kosten zu lassen, um sie in Gang zu halten.

Sie trennten sich am Fuß des Passes von der Reiterschar, und

über ihnen ragten die Klippen wie die Mauern einer Stadt von
Giganten auf. Der Abschied war ziemlich peinlich. Denn die
dreißig Krieger warfen sich wie ein Mann auf die Erde und
knieten, um ihren Segen entgegenzunehmen, und einer von
ihnen, ein gut aussehender Junge mit scharfen, gelben Augen,
einem guten Gesicht und einer Nase, die wie der Schnabel
eines Falken wirkte, kniete vor Morgan nieder, bestand darauf,
ihm die Hand zu küssen und bat um seinen Segen. Morgan sah
die anderen hilflos an (Conyin grinste unverhohlen), aber sie
waren ihm keine Hilfe, und so hob er verlegen eine Hand – der
Junge hatte die Lippen fest auf die andere gedrückt – und
machte die Andeutung einer Segensgeste. Niemand lachte.

Der Junge dankte ihm ernst, so als hätte er etwas Seltenes,

Wunderbares getan. »Man nennt mich, Khonor, Sohn von Lord
Reiterlord«, sagte er. »Und ich und meine Männer sind die
Deinen, wenn du uns je brauchen solltest, Lord!«

Dann sprangen sie in den Sattel, machten kehrt, die nackten

braunen Arme grüßend erhoben, stießen einen ohrenzerreißen-
den Schrei aus und fegten über das Grasland davon, so daß
Morgan ihnen nur benommen nachstarren konnte. Die Wilden
Reiter … die Flüsternden Ebenen … Nie sollte er sie wiederse-
hen, aber dies wußte er natürlich nicht.

Stundenlang quälten sie sich den steilen Paß hinauf. Die feuch-
te, schwüle Wärme der Ebene wich trockener, kühler Luft.

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Manchmal wurde der Paß so steil, daß sie aus dem Sattel stei-
gen und die Lopers führen mußten, indem sie vor ihnen gingen
und sie an den Zügeln zerrten. Die langbeinigen blauen Tiere
gaben klagende Laute von sich, quälten sich aber weiter.

Der Felsstaub hing dicht in der Luft und er war weiß, denn

das Gestein hier war Mergel und zerbröckelte wie Kalk. Sie
sahen keine Spur von Senmurven – was immer Senmurven sein
mochten. Morgan hatte nie zuvor von ihnen gehört, oder zu-
mindest nur als heraldisches Symbol, denn die Fürsten von
Srishtar tragen sie als Wappen.

Sie kletterten weiter. Morgan begann Muskeln zu entdecken,

von denen er gar nicht gewußt hatte, daß er sie besaß, aber
entdeckte sie hauptsächlich, wenn sie zu schmerzen begannen.
Besonders Muskeln an seinen Schenkeln; er preßte die Lippen
zusammen und fuhr fort zu klettern, gab sich Mühe, sich nicht
zu beklagen. Hinter ihm stapfte der vierschrötige Othgrim
dahin, und sein breites, fleischiges Gesicht war gerötet, und er
murmelte unablässig vor sich hin.

Weder Sodaspes noch dem Sänger schien die Kletterpartie

etwas auszumachen. Sie schienen tatsächlich fast Gefallen
daran zu finden, obwohl sie beide binnen kurzer Zeit von Kopf
bis Fuß vom Felsstaub weiß waren. Morgan selbst war eben-
falls ganz weiß; das Zeug war in seinem Mund, biß in seinen
Augen und klebte an seinem Hals.

Aber alles endet einmal, und so erreichten sie schließlich den

leichter zu begehenden Teil des Passes und konnten ihre Lo-
pers wieder besteigen und weiterreiten. Von dieser Höhe aus
konnten sie in ungeheure Weiten blicken. Unter ihnen lag
meilenweit die Ebene, von leichtem Nebel überzogen; dahinter
konnte man ganz schwach das Glitzern des späten Nachmit-
tagslichts auf Wasser erkennen: der Gelbe Drachenfluß oder
das Meer? Styre selbst war unsichtbar, ebenso wie Kargonessa.
Der Himmel rötete sich, als die erste der Doppelsonnen im
flammenden Glorienschein hinter dem Horizont versank. Der

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weiße Stern, Sitra, stand immer noch am Himmel, wenn auch
der Tag schon fast vorbei war.

Sie mühten sich weiter den Paß hinab, und der kalte Wind,

der ihnen ins Gesicht schlug, war sehr erfrischend. Conyin pfiff
eine melancholische Weise und trank von Zeit zu Zeit aus
seinem Weinschlauch, was Sodaspes dazu veranlaßte, die
Lippen mißbilligend zusammenzupressen und den Blick abzu-
wenden.

Morgan war der erste, der einen Senmurv erblickte.
Er wußte nicht, was es war, und hätte fast über das komische

Aussehen des Geschöpfes gelacht, das ganz und gar nicht
gefährlich wirkte. Man stelle sich einen Adler mit einem Hun-
dekopf vor, das vermittelt den Eindruck wohl am besten. Der
Körper war für einen Vogel groß und wirkte plump, er wat-
schelte auf kurzen, krummen Beinen, die mit glänzenden
schwarzen Klauen bewehrt waren. Der Hundekopf hatte eine
heraushängende Zunge, dick und feucht und weiß, und Augen,
die im Schatten rot funkelten. Es klammerte sich irgendwie an
einen weißen Mergelvorsprung über ihnen und starrte herunter
wie ein Wachhund, der die Witterung noch nicht aufgenommen
hat und nicht weiß, ob er bellen soll. Lachend wollte Morgan
die anderen auf das seltsame kleine Zwitterwesen hinweisen,
aber Sodaspes schrie ganz plötzlich schrill auf. Er verstummte
sofort wieder und sah sich verlegen um, aber das nützte nichts.
Mit einem heiseren, schnarrenden Bellen stürzte sich der Hun-
deadler nach vorne und kam auf sie heruntergeschossen, die
Augen glühend, die weiße Zunge aus dem mit Fängen bewehr-
ten Maul hängend.

Das Geschöpf wirbelte so dicht an Morgan vorbei, daß er das

Pfeifen des Windes in den steifen Federn hören und den stren-
gen Geruch seines Körpers einatmen konnte.

Während die Bestie an ihm vorbeifegte, erfaßten ihre Fänge

seine Schulter, rissen daran und fetzten ein Stück von seinem
Umhang weg. Er taumelte benommen zur Seite und fiel von

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seinem Loper. Der Senmurv war in einer steilen Kurve wieder
nach oben gezogen. Jetzt bellte er, ein schriller, heiserer, kläf-
fender Schrei, dessen Echo von einer Felswand des steilen
Passes zur anderen hallte.

Ehe Morgan sich bewegen oder denken konnte, wimmelte es

über ihnen von den wilden, kleinen Tieren. Ein heulender
Chor, wie von jagenden Bluthunden, erfüllte den Himmel.
Überall wirbelten ihre geflügelten Leiber herum, schnappend
und knurrend und um sich beißend. Sodaspes stieß ein halb
ersticktes Krächzen aus und riß eines der Tiere von seiner
Kehle weg, wo es sich festgeklammert hatte, die schwarzen
Klauen ausgestreckt und wild um sich beißend. Die Lopers
schrien und bäumten sich auf, schlugen wie wild um sich.

Der hünenhafte Othgrim schwang seinen schweren Stab und

traf eine der geflügelten Bestien in der Luft. Morgan hörte das
Klatschen des eisenbeschlagenen Stabes, als der den Senmurv
am Rücken traf. Das Ding stieß einen Schmerzensschrei aus
und plumpste zu Boden. Vielleicht hatte der Schlag mit der
Eichenstange ihm das Rückgrat gebrochen – jedenfalls zer-
schmetterte Othgrim ihm mit einem zweiten Schlag den Kopf
und schwang dann seinen Stab herum, um ein zweites Opfer zu
suchen.

Sodaspes hetzte durch den wirbelnden, weißen Staub heran,

packte Morgan am Arm und drängte ihn weiter.

»Hinauf zum höchsten Punkt des Passes!« keuchte er. »Viel-

leicht können wir sie dort besser abwehren, wenn wir oben
stehen …«

Morgan spürte die Panik des anderen, zögerte aber zu flie-

hen. Hinter ihm war Othgrim aus dem Sattel gestiegen. Er
stand jetzt inmitten einer wirbelnden Wolke der kleinen Teufel
und ließ seinen mächtigen Stab mit vernichtender Wirkung
kreisen. Was Conyin betraf, so stand der alte Rhapsode mit
dem Rücken an der Felswand und wehrte sie mit seinem eige-
nen Stab ab. Drei oder vier der Bestien lagen zu seinen Füßen.

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Morgan wollte nicht Sicherheit für sich selbst suchen, solange
seine Kameraden noch bedrängt wurden. Er wischte die Hand
des Magiers mit einer kurzen Entschuldigung weg, zog unge-
schickt sein Schwert und eilte Conyin zu Hilfe.

Eines der Scheusale hing mit wütend schlagenden Flügeln in

Brusthöhe und schnappte immer wieder nach dem alten Mann.
Morgans Stahl traf es an der Schulter. Er konnte einen Blick
auf ein bösartig geöffnetes, schwarzes Maul und wilde Augen
erhaschen, die rings um die Pupille ganz weiß waren, als der
wütende Hundevogel den Kopf herumdrehte, um nach der
Klinge zu schnappen. Zähne knirschten und glitten auf dem
Metall ab, und einer der Fänge brach. Dann schnitt die Klinge
in den Flügelmuskel, und der Senmurv fiel herunter. Morgan
biß die Zähne zusammen und tötete das Scheusal.

Sein Angriff von hinten alarmierte das Rudel, das Conyin

umflatterte, und sie bogen plötzlich mit schrillen Warnrufen ab.
Morgan packte den Arm des alten Minnesängers und zerrte ihn
von der Felswand weg, schob ihn auf Sodaspes zu, der immer
noch unschlüssig weiter oben am Paß stand. Der Rhapsode
stieß ein Wort des Dankes hervor und taumelte im wirbelnden
Staub davon. Morgan drehte sich um, um zu sehen, wie es
Othgrim erging. Sie waren jetzt alle zu Fuß, und ihre Reittiere
waren entweder tot oder in wilder Flucht den Paß hinunter
begriffen.

Der vierschrötige Knecht war ganz in seinem Element: das

Gesicht schwarz und verzerrt, den Mund weit geöffnet, schrie
er dröhnende Flüche hinaus und schwang den schweren Stab in
der geflügelten Wolke kläffender Scheusale und traf immer
wieder eines davon mit schmetternden Schlägen.

Sein Lederhemd bestand nur noch aus Fetzen, und Fänge

oder Klauen – oder beides – hatten ihm die nackte Brust, den
Rücken und die Schulter mit scharlachroten Linien überzogen,
aber er kämpfte ruhmreich und schwang den eisenbeschlage-
nen Stab mit der ganzen Gewalt seiner mächtigen Muskeln.

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Schon lagen sechs oder acht tote Senmurven im Staub zu sei-
nen Füßen.

Als Morgan sich näherte, den Stahl schwingend, wirkte das

wie ein Alarm für das Rudel, das in einer schwindelerregenden
Spirale davonstrebte, so daß Othgrim sich einen Augenblick
auf seinen Stab stützen und nach Luft schnappen konnte. Mor-
gan drängte ihn weg und sie stürmten beide zur Paßhöhe, wo
Conyin und Sodaspes einen Ort der Zuflucht gefunden hatten.

»Schnell jetzt; die fassen gleich wieder neuen Mut«, knurrte

der alte Sänger und schob sie vor sich her.

Sodaspes hatte eine Höhle gefunden; kaum mehr als ein Loch

in der Felswand, und nicht hoch genug, daß einer von ihnen
hätte aufrecht stehen können, aber so eng wie der Eingang war,
konnte ein einziger Mann dort eine ganze Armee aufhalten. Sie
stolperten in die Finsternis hinein, dabei kleine, trockene Kno-
chen unter den Füßen zerdrückend, und Morgan hoffte nur, daß
der räuberische Bewohner, dem diese Höhle als Behausung
diente, heute nicht zu Hause sein möge.

Geduckt, keuchend, in der schlechten Luft halb erstickend,

hörte Morgan ein warnendes Knurren von Othgrim, der hinter
ihm war, und drehte sich um, um zu sehen, daß ein hechelnder
Hundeschädel am Eingang schnüffelte. Othgrims Stab traf den
Schädel zwischen den roten, leuchtenden Augen, und trieb das
Tier zurück. Aber kurz darauf schob sich eine andere schwarze
Schnauze neugierig ins Dunkel – und dann noch eine und noch
eine. Othgrim handhabte seinen Stab mit grimmigem Geschick,
während die anderen sich steif niederkauerten, den Felsstaub
und den Gestank der Höhle einatmeten und sich fragten, ob sie
das schwarze Loch wohl je wieder lebend verlassen würden.

»Einen kleinen Fehler hat dieses Versteck«, knurrte der Sän-

ger, zu Sodaspes gewandt. »Stimmt schon, diese Vogelbiester
können uns nicht anfallen; auf der anderen Seite stecken wir
hier fest und können nicht mehr hinaus, solange die nicht da-
vonfliegen – wenn sie das je tun!«

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Darauf wußte Sodaspes keine Antwort, denn die Feststellung

des Alten stimmte. Aber sie mußten warten und sehen, was
geschehen würde; vielleicht würden die geflügelten Scheusale
ihrer Wache müde werden und anderswo leichtere Beute su-
chen.

Eine halbe Stunde verstrich, und immer noch schwärmten die

hundeköpfigen Adler knurrend und mit Schaum vor den Mäu-
lern am Eingang ihrer Zuflucht. Morgan hatte das dumpfe
Gefühl, als müßte ihm das Rückgrat vom langen Kauern bre-
chen. Und dann sehnte er sich mächtig nach Wasser, konnte
aber den Schlauch nicht erreichen, der hinter ihm hing.

Sodaspes, der weiter in die Felsspalte eingedrungen war als

die anderen, fand einen Spalt, einen Schlitz am Ende der engen
Höhle. Der Schlitz war mit lockerem Felsgestein fast ver-
schlossen, aber der junge Magier entdeckte einen Luftzug, der
durch die Lücken zwischen den Steinen wehte.

Mit beiden Händen tastend, gelang es dem Magier, ein paar

Steine locker zu bekommen und herauszuziehen. Der Luftzug
wurde jetzt stärker. Jetzt machten sich die Abenteurer daran,
gemeinsam arbeitend, so gut das in der Enge ging, größere
Steine zu lockern. Schließlich entdeckten sie eine Ausweitung
in eine größere Höhle. Sie war so eng und niedrig, daß sie
kriechen mußten, einer hinter dem anderen, und schwarz wie
Pech. Sie konnten nicht sehen, wohin der Weg sie führte, und
wußten auch nicht, ob der Felsspalt sie ins Freie führen oder
nach einer Weile an einer massiven Felsmauer enden würde.
Aber von irgendwoher mußte die frische Luft kommen, und
wie Conyin auf seine lakonische Art bemerkte, selbst wenn die
Spalte sie nur zu einer anderen Felswand führte, konnten sie ja
immer noch umkehren und würden dann wieder in derselben
Lage wie vorher sein, nicht besser und nicht schlechter dran.

Mit den gelockerten Felsbrocken versperrten sie den vorde-

ren Eingang, so daß auch die mutigeren der Senmurven ihnen
nicht folgen konnten. Dann bewegten sie sich, einer nach dem

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anderen, gebückt und manchmal auf allen vieren dahinkrie-
chend, hintereinander durch den schwarzen Gang. Das scharfe
Gestein riß ihnen Knie und Hände auf; sie holten sich ein paar
Abschürfungen an den Felswänden, schafften es aber irgend-
wie, sich durchzuwinden und am Ende ins Freie zu gelangen.

Die Höhle führte zu einem schmalen Felssims, von dem aus

man eine tiefe Schlucht überblicken konnte, bei der es sich um
irgendeinen Nebenarm im Innern der Felsmauer handeln muß-
te. Der Sims war an seiner breitesten Stelle nur knapp zwei Fuß
breit und verlief an der Felswand entlang, beschrieb dann einen
Bogen und verschwand. Müde, verstaubt, sich die schmerzen-
den Muskeln reibend, überlegten sie, was nun zu tun sei. Mög-
licherweise endete der Vorsprung hinter jener Kurve; aber es
lohnte zumindest, das näher zu erforschen. Mit Conyin an der
Spitze, weil er am besten zu Fuß war, schoben sie sich mit den
Rücken an der Klippenwand langsam an dem Sims nach vorne.

Für Morgan war es nach jener endlosen Zeit in der finsteren,

engen Höhle schon ein Glücksgefühl, wieder frische, kalte Luft
zu schmecken und das Sonnenlicht im Gesicht zu spüren und
aufrecht zu stehen.

Vor der Biegung weitete sich der Sims etwas aus, so daß sie

frei stehen konnten. Conyin ging vorsichtig auf die Biegung zu
und blieb dann mit einem heiseren Stöhnen stehen.

Denn jetzt waren die Senmurven wieder über ihnen, und

diesmal war ihr Stand zu unsicher, als daß sie hätten kämpfen
können.

Das Rudel der fliegenden Schrecken mußte Witterung von

ihnen bekommen haben und über die Bergkuppe in diese inne-
re Schlucht geflogen sein. Da waren zehn – ein Dutzend – zwei
Dutzend dieser geflügelten Bestien. Flatternd und schnaubend
stießen die hundeköpfigen Adler auf den Felssims herunter, auf
dem sie standen.

Conyin fluchte heftig, aber sein faltiges, häßliches Gesicht

wirkte seltsam friedlich. Othgrim schien völlig ungerührt; er

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stand neben Morgan, als wollte er den Outworlder mit dem
eigenen Körper schützen. Sodaspes war damit beschäftigt,
etwas aus seinem Beutel zu ziehen, dem Beutel, der mit so
vielen kleinen Zaubern vollgestopft war, und plötzlich kam es
dem Outworlder in den Sinn, daß die Senmurven so schnell
angegriffen hatten, daß der Magier überhaupt noch nicht im-
stande gewesen war, eine seiner übernatürlichen Waffen einzu-
setzen. Was Morgan anging, so empfand er tiefe Müdigkeit
und doch zugleich ein Gefühl des Überschwangs. Hier sollte es
also enden, seine Wanderung, seine Sternreisen! Zumindest
hatte er seine wahre Heimat gefunden, bevor das Ende kam.
Zumindest würde er, wenn er schon sterben mußte, hier in
Gesellschaft guter und treuer Männer sterben.

Der erste Senmurv sprang ihn mit schwirrenden Flügeln und

freigelegten Klauen an und ging auf seine Augen los. Sich mit
dem Rücken gegen die Felswand pressend, hob Morgan sein
Schwert und schwor, daß er wenigstens ein paar der fliegenden
Teufel zu den Toren des Todes mitnehmen würde …

Und dann blühte da plötzlich, wie durch Zauber, ein funkeln-

der weißer Pfeil aus der breiten Brust des Senmurven auf!

Das Ding schrie auf und taumelte zur Seite, prallte gegen die

Klippe. Ein zweiter Pfeil pfiff durch die Luft und durchbohrte
den Schädel des nächsten Scheusals.

Morgan dachte benommen, es wäre Sodaspes, der endlich

eine seiner Zauberkünste eingesetzt hatte, aber nein, als er sich
umsah, um nach dem jungen Magier zu sehen, war der ebenso
benommen und verwirrt wie die anderen, und die Waffe, was
auch immer sie sein mochte, hing unbenutzt und vergessen in
seiner Hand.

Ein Mädchen trat um die Felsbiegung. Ein glänzender Bogen,

den kleine, kräftig wirkende Fäuste hielten, entsandte einen
dritten Pfeil und einen vierten. Sie starrten sie verständnislos
an. Ihr plötzliches Auftauchen, hier auf diesem einsamen Fels-
sims, kam so unerwartet und wie durch Zauberei, daß sie sie

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zunächst für eine Erscheinung hielten, die jemand heraufbe-
schworen hatte. Aber nein, sie war sehr wirklich.

Sie wirkte sehr jung, ein Mädchen noch, zumindest sahen

jene Teile ihres schlanken, gelenkigen Körpers, die nicht von
knapper Kleidung bedeckt waren, knabenhaft jugendlich aus.
Ihr Haar war schwarz und lang und glänzte wie der Flügel
eines Raben. Eine weiße Strähne durchzog es wie ein Blitz
durch schwarze Sturmwolken. Ihr Gesicht war oval, gleichmä-
ßig gebräunt, mit ernst blickenden, klaren, gelben Augen wie
Bernstein, einem kleinen, festen Mund und einem ausgeprägten
Kinn. Sie trug eine leichte Brustplatte aus geformtem Stahl,
und ein breiter Gürtel aus schwarzem Leder, mit stählernen
Ringen besetzt, umgab ihre schmale Hüfte. Und von dem
Gürtel hing eine Art kurzer Kilt aus Lederstreifen, mit silber-
nem Besatz und mit quadratischen Stahlplatten behängt, herun-
ter, um ihre Lenden und Oberschenkel und den Bauch zu
schützen. Hohe Stiefel, ebenfalls mit Silber besetzt, vervoll-
ständigten ihr Kostüm. Um die Schultern hing ihr ein kleiner
Beutel, und an ihrer Hüfte hing ein kurzes, breites Schwert. Ein
kleiner Rundschild aus mit Silber besetztem Leder, das über
ein Korbgeflecht gespannt war, war an ihren linken Unterarm
geschnallt, hing aber jetzt von einem Haken im Gürtel, um ihr
zu erlauben, mit beiden Armen den Bogen zu bedienen. Über
dem Kurzschwert klatschte ein Köcher mit weißen Pfeilen bei
jeder Bewegung gegen ihren rechten Schenkel. Sie hatte lange,
schlanke, gebräunte Beine.

Die Abenteurer musterten sie blinzelnd. Diese Mischung aus

jungem Mädchen und bewaffnetem Krieger war verblüffend.
Aber sie verstand sich jedenfalls darauf, mit dem Bogen umzu-
gehen. Ihre Hände fuhren an den Köcher und ließen den näch-
sten Pfeil fliegen – so schnell, daß man der Bewegung kaum zu
folgen vermochte.

Der tödliche Hagel gefiederter Pfeile räumte im Rudel der

Senmurven auf. Unterdessen hatte sie bereits acht von ihnen

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erledigt, und kurz darauf war die Zahl auf zehn angewachsen.
Die kläffenden Scheusale fingen an, ihren Appetit zu verlieren.
Jedesmal, wenn eines von ihnen die Männer auf dem Felsvor-
sprung anflog, brachte ein weißer Pfeil ihm den Tod im Ab-
grund. Jetzt ließen schon einige der weniger Eifrigen von ihrem
Vorhaben ab und flogen davon, um sich weniger gut behütete
Beute zu suchen. Nicht lange, und die Senmurven strebten dem
Gipfel zu und hingen böse knurrend dort, wagten es aber nicht,
noch einmal anzugreifen.

Die vier Reisenden und ihre Retterin starrten einander in

schmerzvollem Schweigen an.

Schließlich murmelte Sodaspes: »Wir sollen sechs sein, und

bis jetzt sind wir nur vier. Mädchen, ist an dich auch der Ruf
ergangen?«

Sie musterte ihn mit einem langen, unergründlichen Blick

und nickte dann kurz.

»Mein Ruf hat mich an diesen Ort gelenkt«, sagte sie mit kla-

rer, weithin hallender Stimme. »Man nennt mich Argyra, die
Kriegsmaid von den Neun Clans von Siriath Koroba. Nach
dem grünen Siegel auf deiner Stirn zu schließen, wirst du der
Magier sein …«

Sodaspes nickte und begann Conyin vorzustellen. Aber das

Kriegermädchen blickte an dem alten Rhapsoden vorbei und
sah Morgan in die Augen.

»Und du, der Outworlder, … ›Tatenvollbringender der Su-

che‹«, murmelte sie und hob eine kleine braune Hand in einem
seltsamen Gruß, den er verlegen erwiderte.

Ihre durchdringenden, hellen, gelben Augen, Falkenaugen,

furchtlos und stolz und sehr klar, starrten ihn an. Sein Gesicht
rötete sich, und er stammelte etwas, wünschte, sein Haar wäre
jetzt nicht verwirrt und voll Felsstaub, seine Kleider zerfetzt,
die aufgerissene Schulter blutend, wo der erste Senmurv ihn
aufgegriffen hatte.

Und dann schritt sie an den anderen vorbei und kniete schnell

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zu seinen Füßen nieder, um ihre warmen Lippen auf seine
staubige Hand zu drücken.

»Die vier sind jetzt fünf, Outworlder«, sagte sie. Und der kla-

re Blick ihrer gelben Augen verfolgte ihn noch viele Nächte
lang in seinen Träumen …

Jenseits der Biegung im Fels weitete sich der Sims noch weiter
aus und endete schließlich an einem Schieferhang, den sie mit
einiger Mühe erstiegen. Der Hang war mit Geröll bedeckt, und
sie bewegten sich in beständiger Angst, eine kleine Lawine
auszulösen. Trotz alledem, wenn Argyra Kriegsmaid es ge-
schafft hatte, den Hügel herunterzukommen, so würden sie es
wohl schaffen, ihn zu ersteigen. Und sie schafften es auch
tatsächlich. Die Sonne ging gerade unter, als sie den Rand der
Felsmauer erreichten, und es war schwarze Nacht, als sie
schließlich müde und zerschunden das Tafelland dahinter
erreichten.

Hier wuchsen dicke, lange Gräser, ähnlich jenen der Ebenen,

über die sie am Morgen und am Tag zuvor geritten waren. Vor
ihnen, in der Dunkelheit unsichtbar, lag Grymwood, durch das
sie ziehen mußten. Aber jene Gefahr bewahrten sie sich für den
Morgen auf.

Othgrim sammelte trockenes Gras und errichtete daraus ei-

nen hohlen Haufen, den Sodaspes mit einer Berührung seines
Zaubersteins zu Feuer entfachte. Im weichen Gras ausge-
streckt, die Stiefel oder Mokassins abgestreift, genossen sie den
kühlen Nachtwind, packten ihren geretteten Proviant aus und
aßen und tranken und redeten.

Argyra erzählte ihnen vom Leben bei den Neun Clans ihres

nördlichen Volkes. Sie war sehr jung, wie Morgan vermutet
hatte: nur neunzehn. Bei ihrem Volk sind die Frauen die Krie-
ger, die Jäger, die Häuptlinge; was die Männer angeht, so hüten
sie die geheiligten Feuer des Herdes, kümmern sich um die
Kinder und bereiten die Mahlzeiten zu. Eine seltsame Umkeh-

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rung der Gebräuche, ohne Zweifel, aber die Menschheit ist zu
unendlicher Vielfalt fähig, und zwischen den Sternen, die er
besucht hatte, hatte Morgan von noch viel fremdartigeren
Lebensweisen als jener gehört.

Noch lange erinnerte er sich an jenen friedlichen Abend – im

weichen Gras, das wie ein Kissen war und nach würzigen
Kräutern duftete – und die orangeroten Flammen tanzten und
malten hinter ihnen schwarze Schatten – und die leisen Stim-
men seiner Freunde im gelockerten Gespräch.

Nach einer Weile sang der alte Conyin. Es war ein leises

Lied voll klagender Töne; ein trauriges Lied vielleicht, aber
auch ein tapferes, mit einem Anklang von Glück.

Morgan lag da und träumte und lauschte, bis Conyin schließ-

lich seine alte Leier beiseite legte und gähnte, sich streckte und
Bier trank.

Nach einer Weile schliefen sie. Und so lagen sie des Nachts

am Fuß von Grymwood, und nichts rings um sie störte ihre
Ruhe.

Aber da waren Augen, die sie unter belaubten Zweigen beo-

bachteten.


5.

Morgan erwachte beim ersten Licht der Morgendämmerung
und lag da, schläfrig blinzelnd, während der Osten langsam
bleich wurde und Sitra emporstieg und sich kurz darauf rötete,
als Marib aufging.

Bald erwachte Conyin, rieb sich den Schlaf aus den Augen,

streckte sich und knetete seine hageren, knochigen Glieder,
sich immer wieder räuspernd und spuckend, wie es alte Männer
tun.

Sie bereiteten sich ein bescheidenes Frühstück, erpicht darauf

weiterzuziehen und so weit wie möglich in Grymwood voran-

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zukommen, solange der Tag hielt. Morgan spülte das grobe
Brot und das kalte Fleisch mit saurem Bier hinunter und fühlte
sich dabei unwohl und gereizt. Er wünschte sich ein heißes Bad
mit echter Seife, aber leider gab es weit und breit kein Wasser.
Sein Gesicht juckte von Schmutz, und als er sich mit der Hand
über das Kinn strich, stellte er überrascht fest, daß er einer
Rasur bedurfte. Er war nach all den Jahren so gewohnt, alle
zehn Tage Demonol zu nehmen, daß ihm erst jetzt bewußt
wurde, daß er den Bartunterdrücker in Kargonessa gelassen
hatte. Nun, da war nichts zu machen. Er hatte kein Rasiermes-
ser – hatte tatsächlich so lange schon keines mehr benutzt, daß
er sich wahrscheinlich ein Ohr abgeschnitten hätte, wenn er
eines hätte benutzen müssen.

Die Anwesenheit Argyras führte zu gewissen Unbequem-

lichkeiten; nicht gerade sexueller Natur, dafür war Conyin zu
alt, der junge Magier hatte ein Keuschheitsgelübde abgelegt,
Othgrim war von niederer Geburt und würde eher sterben, als
eine höherstehende Kaste beleidigen, und was Morgan betraf,
so war er in Gegenwart junger Frauen immer steif und verlegen
und wußte nicht, was er zu ihnen sagen, oder was er mit seinen
Händen anfangen sollte. Nein: die Unbequemlichkeiten waren
sanitärer Natur.

Die Männer waren, weil sie Männer waren und unter Män-

nern, gewöhnt, sich immer dann zu erleichtern, wenn sich die
Notwendigkeit ergab. Aber in Gegenwart des Mädchens mußte
sich das ändern, das erforderte die Sitte.

Der alte Conyin war gerade dabei, seinen Gürtel zu lösen, um

seine Notdurft zu verrichten, als er bemerkte, daß Argyra zu-
sah. Irgendeine Unfreundlichkeit murmelnd, mußte der alte
Barde seine Hosen wieder hochziehen und etwa sechzig Schrit-
te bis zum nächsten Busch trotten. Sein Gesichtsausdruck,
gerötet, verärgert, indigniert, und das ziemlich große Tempo,
mit dem er dem Busch zustrebte, ließen seine männlichen
Begleiter laut auflachen. Als er zurückkehrte, immer noch bis

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zu den Ohren rot, steif vor gekränkter Würde, erkundigten sie
sich beflissen nach seinem Gesundheitszustand. Der Barde
fand das keineswegs spaßig und hielt sich eine Weile abseits
von ihnen, vor Wut kochend.

Als die fünf sich dem mächtigen Wald näherten, standen die
Zwillingssonnen von Bargelix schon hoch am Himmel.

Er türmte sich vor ihnen auf wie eine grüne Mauer, Reihen

über Reihen mächtiger, knorriger, uralter Bäume, die vom
Norden bis Süden reichten, so weit das Auge sehen konnte.

Das Land war Thoor genannt; es war ein Tafelland, ein

Hochplateau, und dahinter ragten noch mächtigere Höhen auf,
und die hochgetürmten Berge, die die Cophyri Shamandur
nannten – »Den Gipfel der Welt«. Diesen Wald mußten sie
durchqueren, jene mächtigen Höhen ersteigen und einen
schmalen Pfad zwischen schwindelerregenden Abgründen und
spitzen Gipfeln schreiten, wenn sie je Tarandon-Tor erreichen
wollten.

Als sie den Rand des Waldes erreichten, hielten sie ein wenig

inne, zögerten, als empfänden sie Widerstreben, in die uralte
Einsamkeit und das Schweigen, das dort wohnte, einzudringen.
Nur wenige Menschen, so berichtete Sodaspes, drängen in die
dunkelgrüne Düsternis von Grymwood ein; es hatte unter
Reisenden einen schlechten Namen.

»Sind dort drinnen Ungeheuer?« fragte Othgrim, und seine

Hand umfaßte den eisenbeschlagenen Stab fester. Der Magier
zuckte die Schultern.

»Vielleicht Tiere der einen oder anderen Art«, sagte der Jun-

ge würdig. »Aber besonders müssen wir Menschen uns weni-
ger als Menschen fürchten. Denn in Grymwood gibt es Räuber;
Gesetzlose und Verbannte, Banditen aller Art.«

Und dann sprach er auch von den Derynigol, einem Cophy-

riwort, das sich nur schwer in unsere Sprache übertragen läßt:
»Eine passende Übersetzung könnte vielleicht ›Zauberer des

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Wildwaldes‹ sein, aber ich will sie die Waldhexer nennen.«

Morgan hatte im meerumschlungenen Kargonessa wenig von

den Derynigol gehört. Aber an dem Wenigen war nichts Gutes
gewesen. Eine wilde, gesetzlose Brüderschaft von Zauberern
waren diese Waldhexer; verschlagene, gefährliche, trickreiche
Geschöpfe. Und doch hatten auch sie sich dem Pakt ange-
schlossen. Wenn die fünf also das Unglück haben sollten,
einem ihrer Art zu begegnen, so war immerhin möglich, daß
sie ohne ein Messen der Kräfte an ihm würden vorbeiziehen
dürfen.

Und so zögerten sie eine Weile, ehe sie den Wald betraten.

Und Morgan dachte für sich über jenes geheimnisvolle, unaus-
gesprochene Band nach, das man »Pakt« nannte. Die Men-
schen dieser Welt erwähnten ihn immer wieder; er war einer
der Fakten ihrer Existenz, so wie Regen, Sonne oder Blut. Sie
erwähnten ihn fast bei jedem zweiten Atemzug und sprachen
doch nie darüber. Morgan hatte nie begriffen, worum es bei
diesem Pakt ging, und jedesmal in seinen frühen Tagen auf
Kargonessa, wenn er versucht hatte, einen der Cophyri danach
zu befragen, so zuckte der Betreffende mit einer Mischung von
Schrecken und Empörung zurück, als ob seine Frage an Blas-
phemie grenzte. Es war alles höchst rätselhaft; aber dann war
diese Welt ihm ohnehin in vieler Hinsicht fremd. Nur wenige
Menschen der terranischen Rasse waren vor ihm hierherge-
kommen, und das waren im allgemeinen Händler gewesen;
keiner vor ihm hatte auf Bargelix sein Zuhause gefunden. Und
die Cophyri hatten trotz ihres menschenähnlichen Aussehens
und ihrer biologischen Ähnlichkeit doch ihre Geheimnisse.

Mit der Zeit hatte er sich aus den cophyrischen Mythen zu-

sammengereimt, daß die Götter dieser Welt zu Anfang gleich-
zeitig viele Rassen erschaffen hatten: Menschen, Gnomen,
Meeresvolk und die Sprechenden Tiere – die vier Gemein-
schaften. Die Götter schufen einen Pakt zwischen den Gemein-
schaften; den Menschen wurden die Felder und Flüsse gege-

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ben; den Gnomen die Hügel und Berge; die Meerleute bean-
spruchten das große Meer für sich, und was die Sprechenden
Tiere anging, so waren die Wälder ihre Domäne. Und so
herrschte Frieden – der Frieden des Paktes – zwischen ihnen
allen.

Was hatten die Kargonleute getan, um den Pakt zu brechen?

Das war das Geheimnis, das der Outworlder nie erfuhr, aber er
argwöhnte, daß ein Mann von Kargoninsel einen der Meerleute
getötet hatte, denn in den alten Tagen hatte es, wie er wohl
wußte, einen Krieg zwischen den Kargonlords und den Lords
des Meeres gegeben.

Soviel hatte sich der Outworlder aus Andeutungen und Stük-

ken der Überlieferung zusammengereimt – aber es war ein
Gewebe, das meistenteils aus Vermutungen bestand, und so
konnte er nicht sicher sein.

Jedenfalls waren die Alten Tage lange vorbei. Und jene Din-

ge trugen heute mythischen Charakter. Die Meerleute waren
alle tot und seit Äonen verschwunden oder hatten sich viel-
leicht auch von den Küsten der Menschen an die tiefen, gehei-
men Orte des Meeres zurückgezogen … auch die Berggnomen
sah man selten. Und von den Sprechenden Tieren, was immer
das Wort bedeutete, hörte man heutzutage nur noch in Legen-
den.

Sie zögerten eine Weile vor dem Eingang zu Grymwood, und
eine ernste Stimmung überkam sie in Gegenwart der mächtigen
Bäume und ihrer lautlosen Majestät.

Hier hatte die Hand des Menschen, die allen Dingen ihren

Stempel aufdrückt, nicht zugeschlagen. Diese mächtigen Patri-
archen hatten nie den bitteren Kuß der Axt verspürt. So wie in
der ersten Dämmerung der Schöpfung streckte sich auch heute
Grymwood noch unverändert über die Welt.

Hier war Zauber, und auch Geheimnis – und Fremdheit. Ein

wilder, geheimnisvoller Rausch. Aber hier war auch Frieden …

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Frieden, ungebrochen seit Anbeginn der Zeiten.

Sie standen im Schatten der riesigen Bäume, alle von der

gleichen würdevollen, ernsten Stimmung erfaßt, stumm. Mor-
gan dachte an die mächtigen alten Redwoods der Erde seiner
Ahnen. Er war nie dort gewesen, noch hatte er die großen
Bäume je körperlich gesehen, aber er kannte sie wohl aus
Stereosendungen und Fotowürfeln und Buchbändern. Jahrtau-
sende hatten sie erlebt, waren unverändert geblieben. Und von
solcher Weise war der Zauber, der von Grymwood ausging.
Und Sodaspes griff in nachdenklicher Melancholie hinter sich
und strich über die rauhe Borke eines mächtigen Baumes.

»Hai-ja, Grymwood!« flüsterte er leise für sich: »Du ehr-

würdiger, uralter Großvater aller Wälder … Seit der Dämme-
rung der Zeiten stehst du auf diesem Land, du grüner, stimmlo-
ser Gigant! Behüte immer deine Geheimnisse und deine Ver-
stecke; wir bitten nur, du mögest uns den Durchzug gewähren,
und flehen dich an um sicheres Geleit …«

Und dann begann plötzlich Conyin zu sprechen, anscheinend

war die schlechte Stimmung, die ihn den ganzen Vormittag
begleitet hatte, jetzt verflogen. Seine Augen blickten verträumt.

»Holz von Zweigen Grymwoods diente Kelemar als Stab und

Bogen und Pfeile«, sagte er mit tiefer Stimme, aber weich, fast
als sänge er ein Lied. »Und damit bewaffnet, zog er gegen die
Schwarzen Gnome und entrang in alter Zeit dem Schatten ganz
Sodalma; Heil dir, alter Wald, Heil dir, Grymwood!«

Dann zogen sie unter den gebogenen Ästen des Waldtitanen,

und es war, als hätten sie eine magische Schwelle überschritten
von einer Welt in die andere.

Denn draußen war nur volles, goldenes Sonnenlicht und

muntere Winde, die mit den hohen Grashalmen spielten; aber
hier drinnen waren grüner, mystischer Schein, flüsterndes
Schweigen und geheimnisvolle Wege, die einen ins Unbekann-
te führten. Es war eine völlig andere Welt hier drinnen im
Wald, und hier mußten sie vorsichtig ausschreiten.

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Smaragdfarbene Düsternis umhüllte sie, als sie hintereinan-

der einen sich windenden Pfad entlangschritten. Hohe Stämme
ragten beiderseits von ihnen auf, wie mächtige Säulen in einer
riesigen, düsteren, murmelnden Kathedrale. Das grüne
Schweigen und die Düsternis waren ehrfurchterregend, waren
irgendwie heilig. Hier herrschte Schweigen, das nicht mehr
gebrochen worden war, seit die Welt jung war. Sie schritten
hinein in die Düsternis, und die Düsternis verschlang sie.

Den ganzen Tag lang schritten sie durch die grünen Schatten
von Grymwood und sahen nichts, was ihnen Furcht bereitete.
Es gab kleine Tiere, die zwischen den heruntergefallenen Blät-
tern herumliefen, oder auf den Ästen entlangrannten und sie
ohne Angst mit hellen, neugierigen Augen musterten.

Und in Nestern über ihnen saß seltsames Geflügel, riesige

Vögel mit prunkvollen Federn, die ihr Lied sangen.

Aber an gefährlichen Tieren oder gar Raubtieren sahen sie

nichts.

Wäre Sodaspes jetzt nicht gewesen, so hätten sie sich sehr

schnell verlaufen. Aber der Magier trug stets einen Wegstein in
der Hand; das war etwas sehr Seltenes, eine Art natürlicher
Kompaß, ein milchiger Kristall, in dessen wolkigem Herzen
ein Funken lebender Flamme pulsierte. Der kleine Stern pochte
in den Tiefen des Kristalls: eine flackernde Flamme, wie eine
Pfeilspitze, die immer nach Osten wies, auf das Land des Son-
nenaufgangs zu.

Als es schließlich zu dunkel geworden war, als daß sie hätten

weitergehen können, lagerten sie an einem kleinen, munter
plätschernden Flüßchen. Morgan schlüpfte erleichtert aus
seiner Tunika und badete seinen verschwitzten Körper hinter
dem Schutz der Büsche im kalten, gurgelnden Wasser.

Sie aßen im Schein ihres Lagerfeuers, zu müde, um viel zu

reden.

Aber jetzt, da Dunkelheit über ihnen war, war die Gefahr groß.

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Sodaspes trug kein Schwert, weil die Gelübde, die er abge-

legt hatte, verboten, daß er scharfen Stahl trage. Aber er lieh
sich das kurze Schwert aus, das an Argyras Seite hing; man
brauchte eine Stahlklinge, um die Hut zu errichten. Morgan
hatte von diesem Ritus gehört, hatte aber nie zugesehen, wie
ein Magier ihn zelebrierte. Und so sah er jetzt mit großer Neu-
gierde zu.

Der Magier zog einen Griffel aus feinem Holz aus seinem

Beutel und schrieb damit auf eine mit feinem Wachs bedeckte
Schiefertafel. Jetzt benutzte er die Spitze des Griffels, um eine
Ader über seinem Herzen zu ritzen, und als Tropfen für Trop-
fen dunkles Blut aus der kleinen Wunde aufquoll, befeuchtete
er die Griffelspitze darin und malte damit sorgfältig Symbole
auf das Schwertblatt.

Dann drückte er die Schwertspitze in den Boden und zog

langsam einen Kreis um ihr Lager, bis die ganze Lichtung
unter der Hut war. Als das geschehen war, stieß er das kurze
Schwert in der Mitte des Kreises in den Boden und ließ es dort
stecken.

Argyra beklagte sich laut, daß die Feuchtigkeit der Nacht den

Stahl zum Verrosten bringen könnte. Aber Sodaspes brachte
sie mit einem hingeworfenen »Es muß so sein« zum Schwei-
gen, entschuldigte sich dann ob seiner Unhöflichkeit und ver-
sprach ihr, das Schwert selbst am nächsten Morgen zu säubern.

Dann zogen sie sich alle zu ihren Lagern zurück. Die

Kriegsmaid schlief ein wenig abseits von den Männern auf der
anderen Seite des Lagerfeuers.

Die ganze Nacht hielt das verzauberte Schwert das Lager in
seiner Hut.

Einmal, obwohl die Schläfer das nicht wußten, stand eine

hochaufragende dunkle Silhouette lautlos im düsteren Schatten
der Bäume außerhalb des Kreises und beobachtete sie mit
bösen glitzernden Augen. Auf verstohlenen Füßen kroch die

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Gestalt nahe an den Kreis heran; das Schwert blitzte einmal
warnend, ein greller Blitz stahlblauen Lichts, und das gleitende
Ding floh vor der Strahlung, stieß einen klagenden Laut aus
und hielt sich etwas vor die Augen, um das Blitzen abzuhalten.

Das Schwert aber wurde wieder dunkel, ohne einen einzigen

Schläfer geweckt zu haben.

Und dann glitt ein schniefendes Ding heran und schnupperte

mit schmatzenden Lauten den heißen Atem lebenden Men-
schenfleisches. Es war vorsichtiger als das Geschöpf, das
aufrecht stehend hereingespäht hatte, denn es kam dem Kreis
nicht einmal nahe, sondern hielt sich hungrig außerhalb der
verzauberten Sperre.

Das zweitemal kam das schniefende Ding, das jetzt vom Ge-

ruch von Menschen an die Grenze seiner Toleranz getrieben
war, um ein Haar zu nahe, und die unsichtbare Sperre knisterte
warnend. Ein kaum sichtbarer Vorhang feuriger Funken. Das
dunkle Ding zog seine zarte Schnauze zurück und verschmolz
wieder mit der schwarzen Düsternis des Waldes, zornig und
verwirrt, aber auch verängstigt.

Die fünf schliefen ungestört weiter und erfuhren überhaupt

nicht, wie nahe das Schreckliche ihren schlafenden Leibern
gekommen war.

Der Morgen dämmerte, und sie standen auf und tranken und
aßen, und Sodaspes brach die Hut und polierte Argyras Stahl,
während sich das Kriegermädchen zu den Büschen am Ufer
des Flüßchens zurückzog, um sich dort zu waschen.

Sie waren alle irgendwie beschäftigt, als es endlich kam: So-

daspes war über das Schwert gebeugt und polierte es mit Öl
und einem Lappen. Morgan und Conyin waren damit beschäf-
tigt, ihre Knappsäcke neu zu packen, die sie in der Nacht zuvor
nicht neu geordnet hatten. Othgrim drückte die letzten Kohlen
des Feuers aus und bespritzte sie mit Wasser aus dem Flüß-
chen: Grymwood war ihnen bis zur Stunde ein freundlicher

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69

Gastgeber gewesen und so wollten sie ihn nicht ungehörig mit
jenem Feuer belohnen, das die Furcht aller Wälder ist.

Argyra schrie!
Schrill, scharf, erschütternd laut in der Stille des Morgens.
Othgrim schnappte sich seinen Stab und bahnte sich brüllend

seine Bahn durch die Büsche, wobei er ein paarmal rief: »Ich
komme, Herrin!«

Morgan stand einen Augenblick lang wie erstarrt, dann beug-

te er sich vor, riß Sodaspes das Schwert des Mädchens weg und
rannte hinter dem hünenhaften Othgrim her. Als er sich dem
Flußufer näherte, sah er plötzlich ein eingefrorenes Tableau.

Nackt stand das Mädchen im Strom, bis zu den Knien im

Wasser, mit einem Arm die Schenkel und mit dem anderen ihre
Brüste bedeckend, in der seit urdenklichen Zeiten bekannten
Haltung einer überraschten Frau. Trotz der unsäglichen Span-
nung des Augenblicks wurde sich Morgan doch auf schmerz-
hafte Weise einer kleinen, runden, festen, weißen Brust be-
wußt, die sich im schnellen Atem des Mädchens hob und senk-
te. Aber er konnte nur einen winzigen Blick auf jene weiße
Brust und ihre Schultern erhaschen, über die das ungebundene
Haar strömte, auf die traumhafte Kurve ihres Rückens, ihrer
Hüften und der langen, schlanken Schenkel.

Denn der hünenhafte Othgrim lag mit dem Gesicht nach un-

ten im Fluß, als hätte eine Axt ihn gefällt.

Und hinter den zweien – stand lächelnd ein Waldhexer.
Er war ein kleiner, gebeugter Mann, mit braunem, runzeli-

gem Gesicht, schwarzem, öligen Haar und gelben Augen, so
seelenlos wie die einer Kröte. Er trug einen unauffälligen
Umhang, zerfetzt und geflickt und schmutzig, so daß es fast
nicht mehr wie ein Tuch wirkte. Er verschmolz mit der Baum-
rinde und den hohen Gräsern und der schlammigen Erde, als
hätte er sich wieder zur Hälfte in seine natürlichen Elemente
aufgelöst.

Eine braune, knorrige, schmutzige Hand hielt einen Stab aus

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schwarzem Holz umklammert. Die Hand selbst wirkte fast wie
ein Gewirr knotiger Wurzeln.

In dem atemlosen Schweigen hob Morgan sein Schwert.

Sonnenlicht blitzte auf geöltem Stahl, aber der seltsame,
schmutzige, kleine Mann achtete überhaupt nicht auf das
Schwert, obwohl seine bösen, gelben Augen zur Seite husch-
ten, um die Klinge zu mustern.

Othgrim lag zu Morgans Füßen. Tot oder betäubt? fragte sich

Morgan, und sein Herz schmerzte ihn. Er mußte tot sein; wie
konnte der kleine Mann ihn niedergeschlagen haben?
dachte
er. Und dann dachte er: Tasper! Wie kann ich zurückkehren
und davon berichten? Othgrim, du großer, dummer, grinsen-
der, treuer Bursche!

Er veränderte den Griff, mit dem er das Schwert hielt. Er

schwitzte unter der heißen Sonne im summenden Schweigen.
Ein Schweißtropfen sammelte sich an seiner Nasenspitze und
fiel in den Schlamm. Der gebeugte, braune, kleine Mann grin-
ste spöttisch in lautlosem Gelächter, und seine Hand bewegte
sich wie eine riesige Spinne über den schwarzen Stab.

Und dann war hinter Morgans Rücken eine zitternde, atemlo-

se Stimme, die von Sodaspes, zu hören:

»Geh von uns, Derynigol! Ich bin ein Adeptus Minor des

Grünen Ouroborus. Geh von uns, Derynigol! Ich diene dem
Verborgenen Auge; mein Kreis ist der Neunte; die Grüne
Schlange bewacht die Ihren, Derynigol! Geh von uns, jetzt!
Geh in Frieden! Erinnere dich an den Pakt, Derynigol; wir sind
die Sucher; die Großen Jahre sind über uns, Derynigol; wir
gehen, um das Tarandon-Tor zu schließen, auf daß der Schat-
ten uns nicht alle überwältige und die Welt ende …«

Argyra holte schluchzend Atem. Ihr Gesicht war weiß wie

Milch – Morgan sah, daß selbst ihre Lippen weiß waren – er
wußte, ohne daß es der Worte bedurfte, daß sie gesehen hatte,
wie jene bösen, gelben Augen sie beobachteten, daß sie jenes
bösartige Feixen gesehen hatte, zwischen grünen Blättern,

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während sie ihre Nacktheit in klarem Wasser badete. Der
Schrecken aller Frauen war über sie gekommen in jenem Au-
genblick; das oder der Panikschrecken, den die Waldhexer wie
eine Pestilenz um sich verbreiten, wo immer sie sind.

Insekten summten in seinen Ohren; die Sonne spiegelte sich

vom hellen Wasser in seinen Augen. Das Flüßchen gurgelte
über glatte, bemooste Steine, erschreckend laut. Seine Achsel-
höhlen waren naß und klebrig; Schweißtropfen klebten auf
seinem Handrücken. Das lange Stillstehen bereitete ihm
Schmerzen. Im nächsten Augenblick würde er sich auf den
kleinen, braunen Mann stürzen und ihm das Schwert in den
Leib treiben, das wußte er.

Hinter ihm tönte die zitternde, schwache Stimme von So-

daspes weiter, und Morgan fühlte, daß er diese Spannung nicht
länger ertragen konnte. Ein roter Nebel zog über seine Augen.
Seine Beine zitterten wie die eines kampfunerfahrenen Pferdes
beim Geruch der Schlacht. Und immer noch lachten die gelben
Augen, und das braune Gesicht starrte feixend zu ihm herüber.

Und dann pfiff etwas an Morgans Ohr vorbei, ein schwarzer

Pfeil, bohrte sich klatschend zolltief in den Stab des braunen
Mannes, summte zwischen den braunen, knorrigen Fingern!

Argyra kreischte, schlug um sich; Morgan stöhnte!
Schnell, wie das Flackern eines Gedankens, blitzte ein zwei-

ter Pfeil. Diesmal brach der schwarze Stab in zwei Stücke und
fiel durch die Blätter – dem erschlaffenden Griff des Waldhe-
xers entrissen.

Plötzlich riß die Stimmung wie ein zersplitternder Spiegel,

die Spannung rann aus der Szene. Der braune Mann ver-
schmolz mit den Blättern und war plötzlich verschwunden,
lautlos. Sie drehten sich um, alle, und sahen einen hochge-
wachsenen, kräftigen Mann, unbestimmten Alters, in dunkle
Erdfarben gekleidet, der einen mächtigen schwarzen Bogen
senkte.

Er stand auf der anderen Seite des Flusses, ein paar Schritte

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stromabwärts. Der Waldhexer hatte ihre ganze Aufmerksam-
keit auf sich gezogen, so kam es, daß keiner der fünf den gro-
ßen Mann aus dem Blattwerk hatte treten sehen, den schwarzen
Bogen hebend und die Pfeile versenden. Jetzt musterten sie ihn
unsicher. War dies ein Freund, der den Feind vertrieben hatte?
Oder war es eine Konfrontation zwischen zwei ihrer Feinde
gewesen, die um sie, die gemeinsame Beute, stritten?

Er war sehr groß, fast ebenso wie der mächtige Othgrim. Sein

schmales Gesicht war braun wie die Erde, sein Haar von dunk-
lem Grau, an den Schläfen weiß gefleckt. Seine klaren, gelben
Augen waren scharf, sein dünnlippiger Mund fest. Es war ein
gutes, starkknochiges Gesicht.

Er trug ein einfaches Hemd aus weichem, braunen Leder,

sauber und gebürstet, fast Wildleder; darunter ein Kleidungs-
stück mit grünen Ärmeln, waldgrün, könnte man sagen, und
eng anliegende Beinkleider derselben Farbe. Er trug Wildle-
derhandschuhe und Halbstiefel aus demselben Material. Ein
lederner Gurt umgab seine Hüften und an ihm hing ein Dolch
in schwarzer Scheide, ein Lederbeutel und ein Köcher. Einen
Umhang aus dunkelgrünem Wollstoff hatte er über die Schul-
tern zurückgeworfen, um die Arme für den Pfeil und Bogen
frei zu haben.

Dann senkte er den Bogen und ließ die Sehne locker und lä-

chelte ihnen zu. Sie wußten, daß er kein Feind war.

Othgrim, stellten sie fest, war weder tot noch im Sterben. Der

Knecht hatte den Waldhexer mit einem dröhnenden Schrei
angegriffen, worauf ihn ein Zauberstrahl gefällt hatte. Argyra
hatte das Ganze gesehen: ein lautloser Blitz grünen Feuers aus
dem schwarzen Stab, so grell, daß das Tageslicht daneben
düster wirkte, und Othgrim war kraftlos niedergestürzt wie
vom Schlag einer Keule.

Kaltes Wasser, das man ihm ins Gesicht spritzte, und etwas

Wein brachten ihn gleich wieder zu sich, obwohl er eine Weile
etwas benommen war. Aber er hatte keinen dauernden Schaden

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gelitten.

Sodaspes legte seinen Umhang um den bloßen Körper der

Kriegsmaid; Conyin und Morgan halfen dem benommenen
Hünen beim Aufstehen und trugen ihn ins Lager zurück. Der
Fremde, stumm und geheimnisvoll, folgte ihnen, den schwar-
zen Bogen schußbereit, mit scharfen Augen, die beständig das
Buschwerk absuchten, so als argwöhnte er, daß jeden Augen-
blick wieder einer der Waldhexer angreifen könnte.

Aber das geschah nicht, und sie erreichten ihren Lagerplatz

sicher. Und dort befragte Sodaspes mit leiser Stimme den
stummen Fremden, während die anderen zu Ende packten.

Wie sich ergab, hieß jener, dessen schneller Pfeil sie alle vor
dem kleinen braunen Mann aus dem Wald gerettet hatte, Korlix.

Das war eigentlich kein Name sondern ein Beruf: kor lix,

›Mann des Bogens‹ bedeutet das auf Corphyri. Und als So-
daspes den Namen hörte, rief er erstaunt aus: »Ist es nicht ganz
so, wie der Gesang prophezeit?« Sein junges Gesicht strahlte
vor Freude. Der alte Conyin funkelte ihn mürrisch an, und
Argyras klare Stimme erhob sich fragend.

»So heißt es doch im Lied, im Lissandurgesang!« sagte er.

»Ihr erinnert euch doch sicher an die Verse …«

»Nun, ich zumindest nicht«, gab Morgan zögernd zu. »Oder

besser, laß mich sagen, daß ich mich unbestimmt an sie erinne-
re. Conyin hat sie in jener Nacht im Reiterlager gesungen –
aber ich habe es nicht verstanden, mir schienen diese Verse
unsinnig … wie ein Rätsel …«

»Ja, so ist es«, brummte der alte Rhapsode. »Aber wie alle

Rätsel und Worte von Prophezeiungen wird es klar, wenn das,
was prophezeit wird, geschehen ist: was, mein lieber Zauber-
junge?«

Und der alte Barde schlug grinsend seine Leier an, und plötz-

lich verstand der Outworlder seine Bedeutung, hatte er doch
alles mit eigenen Augen miterlebt.

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Ich meine den achten Gesang, der da lautet:

Im Blattwerk an dem munteren Bach, ein Zauberfeind die
fünf bedroht. Doch der Gefahr entrinnen sie, ein kühner Bo-
genschütze eilt herbei.

»Natürlich!« sagte Morgan Outworlder. »Korlix, der Mann ist
der Schütze, den der Gesang prophezeit! Aber wie erstaunlich
das alles doch ist, daß diese Ereignisse, die wir erleben, von
einem gesehen und im Gesang festgehalten wurden, der vor so
langer Zeit gelebt hat – vor wievielen Jahrhunderten?«

Aber keiner hörte auf ihn, denn alle hatten sich um den hoch-

gewachsenen, finster blickenden Fremden mit dem großen
schwarzen Bogen gesammelt.

Da seine Bezeichnung kor lix, wie ich schon sagte, nichts

anderes als »Mann des Bogens« besagt, werde ich ihn künftig
in dieser Erzählung einfach »Bowman« nennen. Wahrschein-
lich ist das ein seltsamer Name, aber so lautet er nun einmal.
Das Morgantyr-Epos, dem ich lediglich folge, nennt ihn so in
Cophyri, und dem muß ich folgen. Wie auch immer er bei der
Geburt genannt wurde, was auch immer sein Clan, seine Stadt,
seine Vorfahren gewesen sein mögen, ist im Epos nicht ver-
merkt, und die anderen, die mit ihm zogen, haben es nie erfah-
ren. Oder, wenn sie von diesen Dingen hörten, haben sie das
Wissen nicht weitergegeben, und so ist Bowmans Geschichte
eine, von der wir nur wenig wissen. Und so unbefriedigend der
Name auch sein mag, wir kennen keinen anderen. Das war der
einzige Name, den er ihnen nannte, und somit auch der, unter
dem sie ihn kannten.

Bowman begleitete sie zu ihrem Lager zurück. Er war ein

Mann weniger Worte, schweigsam und von ernstem Wesen,
und mußte daher zu den Waldlern gehören, wie man die Räu-
berbanden von Grymwood nennt. Es herrscht ewiger Krieg
oder zumindest bewaffneter Waffenstillstand zwischen den

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Derynigol und den Waldlern. Die Waldhexer haben Macht
über alle, die von draußen in die grünen Lichtungen von
Grymwood kommen; aber ihre Kräfte sind vom Boden selbst
abgeleitet, vom Samen und vom Blatt, von Kräutern und Blü-
ten, und ihre schattenhaften Künste sind nutzlos gegen Mitbe-
wohner des Waldes, die mit ihnen das Blätterdach von Grym-
wood teilen. So kam es, daß Bowman den feixenden, kleinen,
braunen Mann mit den bösen Augen so leicht vom Schauplatz
des Geschehens hatte vertreiben können. Obwohl, wie er ein-
gestand, die Konfrontation ganz anders hätte ausgehen können,
hätte er nicht das Glück gehabt, den schwarzen Stab des He-
xers mit einem seiner Pfeile zu zerstören.

Sie packten ihre Sachen, und Argyra legte stumm ihren

Brustpanzer an. Eine ernste Stimmung hatte sich über sie ge-
legt, denn wie Sodaspes sagte, war die alte Prophezeiung des
Liedes jetzt erfüllt. Der letzte der Helden, die die große Suche
antreten sollten, sollte ein Bogenschütze sein, hieß es im Lis-
sandurlied.

Und dieser grimmige, schweigsame, ernste Mann war auf

denselben Ruf hin erschienen, der sie alle eingeholt hatte,
abgesehen von Othgrim und Morgan Outworlder. Anscheinend
war dieser Ruf tief in den Mysterien der Gene und Chromoso-
men der Cophyri vergraben. Morgan hatte ihn nicht gehört,
weil er von fremdem Blut war, und Othgrim hatte ihn nicht
gehört, weil alle, die auf Kargoninsel wohnen, als Brecher des
Paktes von dem gemeinsamen geistigen Erbe der Festländer
abgeschlossen sind, isoliert vom Zauber und dem Schutz der
nebelhaften Schattengötter von Bargelix, die so selten erwähnt
wurden, obwohl sie doch so wirklich schienen.

Bowman drückte es mit seiner tiefen, ruhigen Stimme so aus:

»Nun sind wir in Wahrheit die Sechs und können weiterziehen
ans Ende der Suche.«

Sie verließen jenen Ort, und Bowman führte sie den ganzen

Tag durch die dunklen Pfade von Grymwood, und die Nacht

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verbrachten sie auf dem Lagerplatz der Waldler im Schutz
ihres neuen Kameraden.


6.

Bowmans Brüder wohnten mitten in Grymwood, wo ein gigan-
tischer Baum einer Lichtung Schatten spendete, die so groß wie
ein ganzes Stadion war. Dieser große Baum war uralt; sein
mächtiger Stamm so riesenhaft, daß zehn Männer mit ausge-
streckten Armen ihn nicht umfassen konnten: Iornungand
nannten sie ihn voll Respekt und Liebe. Der Name bedeutete
»Großvater-der-Bäume«, und war sehr gut gewählt, dachte
Morgan Outworlder.

Die Waldler hatten ihr Hauptlager in dieser Lichtung. Zelte

aus Häuten waren unter den mächtigen Ästen aufgestellt, La-
gerfeuer flackerten in Gruben. Lautlos, wie Schatten, glitten
die grün und lederbekleideten Gesetzlosen durch die Lichtung
im Schatten des ungeheuren Patriarchen der Wälder.

Sie waren eine rauhe, harte Schar, diese Waldler, und neigten

zu groben Scherzen und lauter Heiterkeit. Alles Gesetzlose, ob
sie nun ein Bruch der Gesetze ins Exil getrieben hatte oder
freiwillige Wahl der Einsamkeit Grymwoods. Aber da jener
Bowman (ein Häuptling von einigem Rang in ihrer Gruppe)
sich für die Reisenden verbürgte, wurden sie mit großer Gast-
freundschaft willkommen geheißen. Sie kannten den Pakt
nicht; noch kannten sie Lissandurlied oder irgendeine Prophe-
zeiung oder kümmerten sich darum. Aber die Gastfreundschaft,
das Recht des Gastes, war ihnen geheiligt, und so fanden die
fünf und ihr neuer Begleiter einen Platz unter ihnen.

In jener Nacht saßen Sie unter den wenigen Sternen, die man

durch den schwarzen Baldachin von Iornungands Zweigen
erkennen konnte, saßen und unterhielten sich.

Sie hatten reichlich gegessen und getrunken. Das Gastmahl

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bestand aus mächtigen, dampfenden Stücken köstlichen Wild-
brets auf Platten aus geschnitztem Holz und Holzbechern mit
kaltem, schäumendem Bier und würzigem Kräuterkuchen, und
es war wahrhaftig eine herzhafte Mahlzeit zum Klang alter
Lieder und wilder Musik, die auf Pfeifen und klagenden Lauten
gespielt wurden. Die Frauen der Waldler tanzten vor den Feu-
ern, genauso wie die Frauen des Reitervolks in jener Nacht auf
den Flüsternden Ebenen getanzt hatten. Mit herausfordernden
Augen, lachend und mit roten Lippen.

Da Conyin ein Barde war, forderten ihn die Waldler auf, ih-

nen ein Lied zu singen, und er sang in jener Nacht unter dem
murmelnden Baldachin aus Blättern und den wenigen glitzern-
den Sternen, sang ihnen das alte Lied von Arvery am White-
strand Firth, und die Gesetzlosen saßen hingerissen und ver-
träumt und lauschten dem mächtigen Epos uralter Helden und
Krieger.

Morgan aß reichlich. Das Wildbret stammte von einem tier-

ähnlichen Bewohner der Wälder, einem großen, edlen Ge-
schöpf mit purpursamtener Haut und schneeweißem, verästel-
tem Geweih. Die Gesetzlosen jagten den purpurnen Hirsch, um
sein Fleisch, seine Haut und sein Geweih zu gewinnen. Was
das Bier betraf, so brauten sie es selbst, indem sie gut ver-
schlossene Fässer tief in die rauschenden Wasser der großen
Ströme versenkten, die kalt und schäumend von den Höhen
jenseits von Grymwood in die Tiefe stürzten.

Er trank in langen Zügen und wurde verwirrt. Der wirbelnde

Tanz, die strömenden Flammen, das Brausen des Liedes – sie
alle vermischten sich in seinem Geist. Und durch den Nebel
leuchtete klar das ovale Gesicht von Argyra. Ihre gelben Augen
suchten von Zeit zu Zeit die seinen, wenn die Kriegsmaid ihm
gegenübersaß. Nach einer Weile schlief er ein, und das so tief,
daß Morgan, als Othgrim kam, um ihn mit vorsichtiger Hand
zur Ruhe zu betten, nicht einmal bemerkte, daß man ihn be-
wegte. Aber Conyin trank viel mehr als er, und so war er am

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78

nächsten Morgen mürrisch und reizbar und legte sich mit allen
an, ohne dafür einen Grund zu haben.

Sie ließen das grüne Dach von Grymwood hinter sich und
stiegen ein in steiles, felsiges Land. Sie waren jetzt dem Sha-
mandur ganz nahe – dem Gipfel der Welt. Weit vor sich konn-
ten sie die Berge sehen, die sich hintereinander auftürmten,
undeutlich und purpurfarben, und aus dieser Ferne noch wie
Nebel oder Wolkenformationen wirkend.

Bowman schritt mit einem schweren Bündel auf den Schul-

tern vor Morgan einher. Vor ihnen erwarteten sie jetzt keine
Freunde mehr, auch keine Einladungen zum Abendmahl; jetzt
mußten sie ihre eigenen Vorräte tragen, oder hungern.

Sodaspes übernahm die Führung, und der Wegstein blitzte in

seiner Hand, und wies immer nach Osten, dem Land des Son-
nenaufgangs.

Die Luft war klar und kalt und sehr trocken. Sie stiegen jetzt

beständig höher, und bald brannten ihre Beinmuskeln von der
Strapaze. Unter ihnen und hinter ihnen dehnte sich Grymwood,
ein endloser Teppich, dunkelgrün mit einer Andeutung von
Grasland und einem Blick auf die ferne Felsmauer dahinter –
alles andere war im Dunst der Entfernung verlorengegangen.

Zuerst hielten sie jede zweite Stunde an, um zu rasten. Aber

bald legten sie jede Stunde eine Rastpause ein und wurden
dennoch müde, denn die trockene Luft brannte in ihren Lun-
gen, und ihre Münder dursteten. Als ihr Weg sie daher zu
einem kalten, schnell dahinplätschernden Bergflüßchen führte,
war ihnen das sehr willkommen. Sie legten Bündel und Stab
beiseite und legten sich auf den Bauch, um von dem bitterkal-
ten, sauberen Naß zu trinken, das an ihnen vorbeiströmte.
Morgan tauchte den ganzen Kopf in den Strom, und als er sein
brennendes Gesicht wieder hob, blickte er ins Antlitz des
Schreckens.

Auf der anderen Seite des Stromes funkelte ihn auf einem

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weißen Felsbrocken ein vorgebeugtes schwarzes Ding an, mit
einem Gesicht, das eine Karikatur der menschlichen Visage
war, mit bösen, roten Augen.

Eisiger Schrecken packte ihn. Er wußte, was das war – ein

Schwarzer Gnom! – einer der Bergbewohner – und ein Feind
jedes Menschen. Er stieß krächzend einen Warnruf aus, aber
Bowman und Argyra hatten den Gnomen fast im selben Au-
genblick auch erkannt. Ihre zwei Bogen blitzten, und ein
schwarzer und ein weißer Pfeil pfiffen durch die klare Luft und
prallten gegen totes Felsgestein. Das schwarze Ding war ver-
schwunden, wie durch Zauberei – zwischen dem Augenblick,
in dem die Pfeile die Sehne verließen und dem, in dem sie
gegen den Felsen prallten.

Ernüchtert griffen sie wieder nach ihren Bündeln und zogen

weiter, aber jetzt schritten sie mit größter Vorsicht aus und
beobachteten die Hügel und Gipfel über sich und hielten Aus-
schau nach schwarzen Gestalten, die sich bewegten. Sie wuß-
ten, daß diese Höhen von Gnomen wimmelten, aber es war ein
Unglück, daß sie schon so früh entdeckt worden waren.

Höher kletterten sie und immer höher. Aber dies war nicht,

wie Morgan gefürchtet hatte, dasselbe wie Bergsteigen. Da er
nichts von solch alpinen Dingen verstand, hatte er damit ge-
rechnet, sich mühsam an steilen Felswänden emporarbeiten zu
müssen, bei jedem Schritt in Gefahr. Aber so war es nicht: hier
stieg das Land steil an, eine Felskette nach der anderen, aber
Gefahren waren da kaum, eher rückenbrechende Quälerei. Die
Berge von Shamandur freilich, die vor ihnen lagen, mochten da
etwas ganz anderes sein.

Einige Stunden später geschah es.

Auf schmerzenden Beinen und Füßen arbeiteten sie sich eine

steile Schlucht hinauf, als sie plötzlich stehenblieben und ein-
ander anstießen.

Dort, an der Mündung der Schlucht, stand drohend eine klei-

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ne, schwarze, verzerrte Gestalt und funkelte auf sie herunter,
und ihre roten Augen brannten unter herunterhängenden Lidern
und einer zottigen Mähne. Morgan musterte die Kreatur faszi-
niert, als wäre sie ein Geschöpf der Legende.

Gedrungen – vielleicht drei Fuß oder ein wenig größer –

schwarz wie knorriges Holz, mit kurzen, krummen Beinen und
knorrigen Armen, so knotig wie die Wurzeln von Iornungand,
dem Großvater der Bäume. Es hatte einen viereckigen Schädel,
ohne Brauen und breit, dicht mit zottigem Haar bewachsen, das
die Farbe von Stroh hatte. Aus dem breiten, lippenlosen Mund-
schlitz ragten Hauer hervor, halb von einem spärlichen Bart
bedeckt. Unglaublich häßlich stand es da, eine schwere Stein-
axt in den hornigen Händen. Sein Leib war mit schmutzigen
Häuten bedeckt. Und das Ding stank.

Bowman schoß einen Pfeil auf den schwarzen Gnomen ab,

aber der gab ein knurrendes Geräusch von sich, das ebensogut
Gelächter hätte sein können, und fegte den Pfeil mit unglaubli-
cher Geschicklichkeit mit seiner Steinaxt weg. Ehe der hoch-
gewachsene Mann einen weiteren Pfeil hinter dem ersten her-
schicken konnte, huschte das bösartige kleine Geschöpf zur
Seite und war plötzlich verschwunden.

Die sechs sahen sich stumm an, als wollten sie sagen – was

nun?

Doch die Antwort darauf ließ nicht lange auf sich warten, als

nämlich ein Felsbrocken von der Größe eines Kürbisses von
oben heruntergeflogen kam, Othgrim nur um ein Haar verfehlte
und in einem Regen scharfkantiger Fragmente und einem
Wirbel von Felsstaub auf dem Boden zerschellte.

Sie blickten auf. Grinsende, schwarze Gesichter säumten den

Klippenrand wie Wasserspeier an einem Dachsims. Weitere
Steine rollten und tanzten jetzt den steilen Hang herunter und
zerplatzten wie Bomben auf dem Steinboden. Ein schrapnell-
ähnliches Fragment riß Morgans Wange auf, ein zweites, so
groß wie eine Menschenfaust, prallte gegen Bowmans Schulter

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und brachte ihn zum Taumeln. Sie suchten Deckung und rann-
ten, als sie keine fanden, den Weg hinauf, um außer Reichweite
zu sein. Herumhuschende, schwarze Gestalten schwärmten
schnatternd am Felsrand entlang und hielten mit ihnen Schritt.
Ein Speer mit einer steinerner Spitze krachte dicht neben Argy-
ra gegen einen Felsvorsprung; einen zweiten fing sie mit ihrem
kleinen Schild auf und lenkte ihn ab, wurde aber davon nieder-
geworfen. Im nächsten Augenblick ging ein ganzer Regen
schwerer Steinwaffen auf sie nieder. Aber wie durch ein Wun-
der wurde in dem ganzen Durcheinander keiner der Gruppe
verletzt.

Sie rannten weiter und waren in wenigen Minuten außer

Reichweite, mußten aber von jetzt an jeden Augenblick auf der
Hut sein und ihre Umgebung im Auge behalten.

Dreimal während der nächsten Stunden pfiff ein Pfeil mit

steinerner Spitze aus dem einen oder anderen Versteck an
ihnen vorbei. Die Waffen der Gnomen waren primitiv gemacht
und schlecht ausbalanciert, und so wurde keiner getroffen.
Aber es war nur eine Frage der Zeit, bis die bösartigen kleinen
Teufel genügend Mut gefaßt haben würden, um sie in Massen
anzugreifen.

Tatsächlich geschah das auch nur wenige Minuten nach dem

dritten Pfeil. Die sechs schlängelten sich durch eine ziemlich
enge Felsspalte, als sich plötzlich, ohne das geringste Ge-
räusch, das sie hätte warnen können, kleine schwarze Männer
mit bösen roten Augen sich auf sie warfen, vielleicht zwei
Dutzend an der Zahl.

Argyra fing mit ihrem Schild einen Axthieb auf und fällte

einen Gnomen. Ein zweiter, der wie ein Ziegenbock stank,
sprang Morgan von hinten auf die Schulter und riß ihn halb zu
Boden. Morgan hatte einmal ein paar Nahkampftricks gelernt –
er packte ein knorriges, schwarzes Handgelenk, beugte sich
plötzlich vor und riß den um sich schlagenden kleinen Gnomen
zu Boden, wo Othgrim ihm mit seinem Stab erschlug.

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Es war ein wirbelndes Chaos aus weißem Staub, heulenden,

buckligen Gestalten und schreienden Männern. Das Sonnen-
licht blitzte auf Argyras breiter Klinge, als diese ein weiteres
der häßlichen kleinen Geschöpfe niederschlug. Bowman jagte
einen Pfeil nach dem anderen davon, ein tödlicher Hagel, der
fünf oder sechs der kleinen, schwarzen Gnomen fällte.

Blendende Blitze lautlosen blau-weißen Lichts huschten über

ihre Netzhaut. Das war Sodaspes, der wild gestikulierte. Jeder
Blitz blendete einen der heulenden Horde oder ließ ihn ohn-
mächtig niedersinken. Morgan riß sein Schwert heraus, tötete
einen der Gnomen und fragte sich, ob Sodaspes noch weiteren
Zauber hatte, den er einsetzen konnte.

Und das tat er. Als die Lichtblitze allem Anschein nach er-

schöpft waren, holte Sodaspes einen kurzen Stab aus einem
rauchigen, bernsteinfarbenen Kristall heraus und richtete ihn
auf ihre Widersacher. Rotes Feuer schoß aus der Spitze – es
sah aus wie eine Laserpistole, wunderte sich Morgan – und ein
paar der schwarzen Gnomen fielen um, eingehüllt in ein Netz
aus roten Flammen.

Othgrim war es, der die Wende brachte. Wie ein Riese aus

weißem Kalkstein, vom Scheitel bis zur Sohle mit weißem
Staub bedeckt, ragte er hoch in dem Durcheinander auf, und
sein mächtiger Stab kreiste pfeifend, wie ein riesiges Rad des
Todes. Und dabei hallte seine tiefe Stimme, brüllte einen unar-
tikulierten Kriegsruf hinaus.

Der Angriff endete ebenso schnell, wie er begonnen hatte.
Plötzlich gab es da keine herumhuschenden, knurrenden

schwarzen Kreaturen mehr zu bekämpfen; zehn oder fünfzehn
lagen reglos im Staub; die Überlebenden flohen, verschwanden
fast wie durch Zauberei und ließen die sechs keuchend, zer-
kratzt und blutend, aber unversehrt auf dem Schlachtfeld zu-
rück. Sie gingen weiter, aber den ganzen Tag lang folgten
ihnen schwarze Gestalten entlang der Klippen und Spitzen, und
von Zeit zu Zeit flog ein Felsbrocken auf sie herunter, verfehlte

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sie aber immer wieder. Sodaspes machte sich Sorgen: Langsam
zog die Nacht herauf, und in der Dunkelheit würde der nächste
Angriff einer größeren Schar vielleicht auch der letzte sein.

Aber es blieb ihnen nichts anderes, als weiterzuziehen, und

das taten sie, ohne Rast und ohne Ruhe, bis die Nacht über sie
kam.

Argyra war es, die die Höhle fand. Es war nur eine schmale,
schwarze Spalte in der Mauer aus weißem Felsgestein, aber
dahinter weitete sie sich aus, so daß sie aufrecht stehen konn-
ten. Sie sollte ihnen Unterschlupf für die Nacht bieten, da leicht
ein einziger Mann den Eingang halten konnte, während die
anderen ruhten. Conyin beklagte sich auf seine mürrische Art,
daß es gut eine Falle sein könnte; vielleicht lauerten die Gno-
men auf sie und konnten sie überfallen, wenn sie in der Mor-
gendämmerung wieder herauskamen. Bowman meinte in seiner
kurz angebundenen Art, daß sie sich über die Probleme des
nächsten Tages am besten am nächsten Tag den Kopf zerbre-
chen sollten, zumindest würden sie diese Nacht in Sicherheit
schlafen können.

Und so kamen sie überein, daß sie die Dunkelheit in der Höh-

le verbringen sollten, da jeder Versuch, im Freien zu lagern,
dem Selbstmord gleichkam.

Die Bergwinde hatten trockene Blätter und allen möglichen

Unrat in die Ecken der Höhle getrieben, und die häufte So-
daspes jetzt mit ein paar Zweigen auf und machte ein Feuer,
wobei er wieder den Zauber seines kleinen Steines einsetzte.
Sie machten eine Mahlzeit, und dann legte sich jeder zur Ruhe
und rollte sich in seinen Mantel, wobei Bowman die erste,
Othgrim die zweite und Argyra auf eigenen Wunsch die dritte
Wache übernahm.

Morgan schlief den Schlaf völliger Erschöpfung und regte

sich nicht, bis er Argyras Hand an der Schulter spürte, und die
verklebten Augen blinzelnd öffnete, um das erste Licht der

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Morgendämmerung an der Höhlenmündung zu erkennen.

»Meine Wache?« murmelte er. Aber sie hielt warnend den

Finger an die Lippen und trat an ihm vorbei, um den Sänger
und Sodaspes auf dieselbe Art zu wecken. Bowman und der
vierschrötige junge Riese kauerten an der Mündung der Höhle
und, spähten mit grimmigen Gesichtern hinaus.

»Tatsächlich ein Hinterhalt«, sagte Bowman mit leiser Stim-

me. »Sie haben uns umzingelt und stehen bereit, einen Regen
von Felsbrocken und Pfeilen auf uns niedergehen zu lassen,
sobald wir herauskommen. Das Problem ist – sollen wir versu-
chen, uns ihnen draußen zu stellen oder hierbleiben in der
Hoffnung, daß sie am Ende weggehen?«

Conyin rieb sich mit der knochigen Hand über die Stoppel-

wangen. »Wir könnten einfach hierbleiben, nicht wahr, und das
auf ein paar Tage. Wir haben Essen und Wasser …«

»Ja«, sagte Argyra, »aber was ist, wenn sie nicht weggehen,

sondern einfach dort draußen lagern? Am Ende müssen wir
hinaus; sollte es jetzt oder später sein?«

Darauf hatte keiner eine gute Antwort.
Sodaspes runzelte nachdenklich die Stirn und rieb sich über

die Brauen. Dann leuchteten seine Augen plötzlich auf. Conyin
runzelte fragend die Stirn.

Der Magier sagte: »Ehe wir das entscheiden, sollten wir nicht

vorher sehen, wohin diese Kaverne führt? Vielleicht gibt es
eine Abzweigung, die zu einem anderen Ausgang führt.«

Der Sänger lachte. »Nun, warum auch nicht, wie? Bis jetzt

haben wir ja mit Höhlen ausgezeichnetes Glück gehabt«, mein-
te er und bezog sich damit auf die Höhle, in der sie Schutz vor
den Senmurven gefunden hatten. Jene hatte einen »Hinteraus-
gang« gehabt, der zu dem Zusammentreffen mit Argyra und
schließlich in die Freiheit geführt hatte. Konnte es nicht bei
dieser Höhle ebenso sein?

Sie beschlossen, es zu riskieren; während Morgan und Bow-

man ihre Habseligkeiten einsammelten, gab Othgrim dem

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Lagerfeuer neue Nahrung, damit die Flammen den Eingang
abdecken und es den Gnomen erschweren sollten, ihre Verfol-
gung zu früh aufzunehmen. Sodaspes entzündete eine Fackel,
und dann drangen sie, angeführt von ihm, tiefer in die schwarze
Höhle ein, wo sie einen engen Gang fanden, der im Zickzack
verlief, bis er sich nach einer Weile in eine bequemere Kaverne
ausweitete.

Von oben tropfte Wasser von den Spitzen herunterhängender

Speere aus glasig wirkenden Mineralien. Ein kalter, feuchter
Wind schlug ihnen entgegen und ließ die Flammen von So-
daspes’ Fackel zittern, so daß der von Zeit zu Zeit die Hand
davor halten mußte, um zu verhindern, daß sie ausgeblasen
wurde. Aber dieser Wind war ein gutes Zeichen: er wehte nicht
von hinter ihnen, wo der Eingang lag, sondern von irgendwo
vor ihnen aus den schwarzen, unbekannten Tiefen. Und ein
Wind weht nicht durch Mauern aus massivem Felsgestein; es
mußte also einen anderen Ausgang geben!

Sie gingen durch eine phantastische Welt. Rings um sie gab

es schleimigen Schimmel und Flechten und riesige, fahle Pilze,
die von Wänden und gerundeten Felsbrocken glitzerten und aus
dem feuchten, dampfigen Boden sprossen. Die Flechten ebenso
wie der Schimmel leuchteten grünlich und erzeugten ein ge-
spenstisches Glühen, das die Schwärze wie der fahle Schimmer
eines unterirdischen Mondes erfüllte.

Die Stalaktiten und Stalagmiten wuchsen zu ungeheurer

Größe, hängende, steinerne Wälder, durch die sie sich mühsam
ihren Weg suchen mußten. Der Klang ihrer Schritte hallte von
überall wider, ein gespenstisches Echo, in das sich das allge-
genwärtige Trip-Trip-Trip von Wasser mischte.

Die unterirdische Welt war nicht ohne Bewohner. Rote Au-

gen beobachteten sie furchtlos aus schwarzen Schrunden; das
Klicken und Scharren winziger Klauen auf glattem Gestein
konnte aus den Galerien gehört werden, und einmal glitt ein
Nagetier quer über ihren Weg, abstoßend groß, nackt, rosafar-

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ben, mit einem langen, schlangenartigen Schwanz und schar-
lachroten Augen, die in der Finsternis leuchteten.

Es war eine Welt wie aus einem Alptraum, fremdartig und

irgendwie schön, trotz all ihrer Fremdheit. Morgan hatte nie
von Jules Verne oder dessen berühmten Roman Reise zum
Mittelpunkt der Erde
gehört – nur wenig terranische Literatur
aus der präspatialen Zeit hatte die Jahrhunderte überlebt –, aber
wenn er den Roman gekannt hätte, so hätte er ohne Zweifel
eine seltsame Verwandtschaft mit Vernes unterirdischen Aben-
teuern empfunden. Die Welt, durch die sie jetzt zogen, war
nicht fremdartiger und auch nicht faszinierender als die, die
Vernes Helden unter einem erloschenen Vulkan in Island
entdeckt hatten.

Morgan fand während einer kurzen Ruhepause, die sie ein-

legten, Gelegenheit, dem jungen Magier eine Frage zu stellen.

»Wohnen denn diese Schwarzen Gnomen, wie ihr sie nennt,

in solchen Orten?«

Sodaspes nickte, und über seine müden Züge zog ein schwa-

ches Lächeln.

»Ja, Morgan, sie hausen in den schwarzen Höhlen unter den

Bergen, an den Wurzeln der Welt. Mir ist derselbe Gedanke
gekommen – daß sie nämlich diese Kavernen vielleicht viel
besser kennen als wir, und daß wir in größere Gefahren hinein-
laufen als die, vor denen wir zu fliehen trachten. Aber ich weiß
nichts Besseres … wir müssen das Risiko einfach eingehen.«

Morgan verarbeitete das. »Was diese Gnomen betrifft«,

meinte er schließlich, »sind sie nicht auch an den Pakt gebun-
den wie alle anderen? Weshalb sollten sie uns hindern und
versuchen, uns ein Leid anzutun, wo wir uns doch Mühe ge-
ben, sie und alle anderen Bewohner von Bargelix vor dem
Unheil zu retten?«

Sodaspes zog die Beine an, um etwas bequemer zu sitzen.
»Das ist schwer zu erklären, Outworlder. Ursprünglich galt

der Pakt auch für sie. Aber du mußt wissen, das liegt sehr lange

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zurück. Zu Beginn der Welt, in der mythischen Zeit, wohnten
alle Geschöpfe in Frieden beieinander unter dem Pakt. Aber in
den Äonen, die seit jener fernen, vergessenen Zeit vergangen
sind, haben sie sich der Verehrung der Dunkelheit und des
Bösen zugewandt. Und außerdem sind sie ein unstetes Volk,
dem man nicht vertrauen kann. Vielleicht haben sie uns einfach
nur deshalb angegriffen, weil sie die Menschen nicht mögen,
oder weil sie unseren Auftrag nicht kennen, oder aus irgendei-
nem anderen Grund, den wir nicht ahnen können.«

»Zwischen den Kindern der Menschen und dem Gnomenvolk

hat es seit vielen tausend Jahren keine Verbindung mehr gege-
ben«, bemerkte Conyin, der dem Gespräch zugehört hatte.

»Ja«, fügte Bowman ernst hinzu. »Und dann gibt es noch

einen Grund, einen besonders schrecklichen.«

»Und was für ein Grund wäre das?« fragte Sodaspes. Bow-

mans Gesicht verfinsterte sich. »Das Tarandon-Tor öffnet sich
in das formlose Chaos zwischen den Welten … das gestaltlose
Zeug, aus dem alle Welten am Anfang geschaffen wurden,
sagen die Philosophen. Jene, die die Finsternis anbeten, sagen,
daß Chaos der erste Gott war, der Urvater, das, woraus die
Schöpfung entstanden ist. Und selbst das Chaos müht sich ab,
die Schöpfung zu vernichten …«

Der Magier sah den anderen streng und mißbilligend an.
»Das sind verbotene Dinge«, erklärte er ernst. »Was du sagst,

grenzt gefährlich an die Geheimnisse der Hohen Magie!«

Bowman grinste und spuckte aus. »Das ist alles, was ich für

die Hohe Magie übrig habe! Für uns sind diese Fragen mögli-
cherweise Leben oder Tod und für ganz Bargelixwelt! Ich
pfeife auf deine Theologie – das ist ernst.«

»Bitte fahr fort, Bowman«, bat Morgan.
»Nun gut. Es ist leicht möglich, daß die auf dieser Welt, die

zum Dienst am Bösen verführt worden sind, dagegen sind, daß
das Chaostor geschlossen wird. In Grymwood wurde davon
geraunt: daß die Derynigol sich regten, daß Gnomen und be-

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stimmte mächtige Zauberer sich zu einer wichtigen Sache
verbündet hätten. Wir haben Gnomen gesehen, die Schwarzen
Gnomen heißt das, nicht das Alte Volk, die auf geheimer Mis-
sion die Höchsten der Derynigol in Grymwood aufgesucht
haben.« Sein bronzefarbenes Gesicht war wie eine Maske, er
blickte brütend drein. »Die Großen Tage sind jetzt da, meine
Kameraden. Es mag sein, daß dies schon die Letzten Tage sind,
und wieder verbünden sich die Diener des Schattens im uralten
Bündnis, denn das Chaos selbst greift nach Bargelixwelt.«

Conyins Augen glitzerten im Widerschein der verlöschenden

Fackeln.

»Das ist es also, weshalb der Waldhexer es gewagt hat, uns

in Grymwood herauszufordern!« brummte der alte Mann. »Ich
hatte mich schon darüber gewundert, das ist nicht ihre Art; sie
scheuen die Menschen und wagen es nicht, sich gegen sie zu
stellen!«

Argyra wurde unruhig: ihr Volk wußte wenig von den Tradi-

tionen der Alten Tage, und sie war dieser Reden müde; es
drängte sie danach, diese Welt der Finsternis und des leuchten-
den Schleims und ewig tropfenden Wassers zu verlassen.

»Sollen wir nicht weiterziehen?« fragte sie. »Wenn wir die-

ses schwarze Loch verlassen haben, ist noch genug Zeit zum
Reden.«

Die Kaverne führte immer weiter in die Tiefe. Mächtige, frei
liegende Felsschichten, wie eine Treppe, die für Giganten
bestimmt war, führten sie immer tiefer in die Kavernenwelt.

Sie schritten jetzt durch wahrhafte Wälder aus kolossalen

Pilzen, riesigen Gebilden von der Größe von Regenschirmen,
aus schorfigem Rot, fahlem Gelb, giftigem Blau, und manche
so hoch wie junge Bäume.

Hier und da kamen sie an unterirdische Flüsse, die ihnen den

Weg versperrten. Einen dieser Flüsse überquerten sie, kämpf-
ten gegen den Sog des eisigen Wassers an, um schließlich auf

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der anderen Seite bis auf die Haut naß, vor Kälte zitternd,
wieder herauszukommen. Der zweite Strom war zum Glück
von einer natürlichen Steinbrücke überspannt. Oder war dies
eine natürliche Formation? Sodaspes beugte sich vor, um sie
im schwachen Licht zu untersuchen. Er konnte keine Spur
menschlicher Arbeit entdecken, blieb aber zweifelnd.

»In der Welt sind drei Arten von Gnomen übrig geblieben«,

sagte er finster. »Die Schwarzen Gnome, unsere bösen Feinde,
die keinem der Kinder des Menschen besonders freundlich
gesinnt sind. Dann gibt es die Roten Gnomen, von denen man
heutzutage nur selten sieht oder hört, nicht gerade Feinde der
Menschen, aber stets zu Streichen aufgelegt. Am besten von
allen sind die alten Grauen Gnomen, die immer noch dem Pakt
gehorchen, aber von denen haben wir in vielen Jahrhunderten
nichts mehr gehört …«

Sie gingen weiter. Stunden waren jetzt vergangen, seit sie

ihren Abstieg in diese schwarze, verwunschene Welt begonnen
hatten. Sie sahen nichts von den kleinen Geschöpfen, die sie
belagert hatten, und am Ende gelangten sie zu dem Schluß, daß
die Gnomen sie nicht in die Höhle verfolgt hatten. Aber warum
die kleinen, schwarzen Kreaturen das nicht getan haben sollten,
blieb ihnen ein Geheimnis. Das Lagerfeuer an der Kavernen-
mündung hätte sie eigentlich nicht lange aufhalten dürfen, da
sie es hätten ersticken können; ebenso unwahrscheinlich war,
daß sie Ursache zur Furcht hatten, den sechs in diese Kaver-
nenwelt zu folgen, da die Unterwelt ja ihre Heimat war.

Konnte es sein, daß es in diesen Tiefen etwas gab, das die

Schwarzen Gnomen selbst fürchteten?

Der Gedanke war beunruhigend. Aber die Frage war nicht zu

beantworten, und so gingen sie weiter, vorsichtig, die Schwer-
ter bereit.

Es geschah eine Weile später, als sie durch eine riesige, hallen-
ähnliche Formation zogen. Die Kuppeldecke war weit über

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ihnen; ihre Fackeln waren jetzt fast ausgebrannt, und sie stol-
perten durch das Halbdunkel, das nur gelegentlich von Flecken
einer stumpfen Phosphoreszenz erhellt war, wo der Schimmel
wucherte.

Überall waren mächtige Felsbrocken aufgehäuft, von denen

viele die schwarze Mündung des Tunnels versperrten, auf den
sie jetzt zustrebten. Argyra, die sich ihren Weg zwischen den
hinderlichen Felsen bahnte, schrie plötzlich auf und sprang
zurück, stach mit ihrem kurzen Schwert nach etwas auf ihrem
Weg.

Es sah aus wie der Schwanz einer Schlange, war aber viel

größer als eine Schlange je sein konnte. Das Stück Schwanz,
über das die Kriegsmaid fast gestolpert wäre, hatte den Umfang
eines Fasses.

»Ich dachte, es lebt – irgendeine Art Tier«, gestand das Mäd-

chen. Als sie genauer hinsahen, erkannten sie eine hornige
Substanz, die entweder schwarz oder grünlichschwarz war,
leicht glänzte und wie Schuppen aussah. Aber die Schuppen
hatten die Größe einer menschlichen Hand und konnten daher
keine Schuppen sein.

Bowman stieß das Ding an. Es war hart und unnachgiebig

wie Fels, und das sagte er auch. Argyra zuckte die Schultern
und lachte ein wenig verlegen.

»Irgendeine Art Gestein also«, sagte sie und schickte sich an,

über den Steinhaufen dahinter zu klettern, der die Tunnelmün-
dung versperrte.

Und dann öffnete einer der großen Steine Augen wie Bälle

aus orangeroten Flammen und sah sie an …

Sie stoben in Panik auseinander. Morgan konnte sich später

nie mehr an die nächste Minute erinnern, bis er wieder bei sich
war. Aber da war er bereits durch die halbe Grotte gerannt,
keuchend und zitternd.

Was sie für einen Felsen gehalten hatten, hob jetzt einen un-

glaublich dicken, schuppigen Hals und drehte sich herum. Es

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hatte einen Schnabel und Hörner und war ungeheuer mit riesi-
gen Kiefern, und die Augen brannten wie orangerote Lampen
und erfüllten die Kaverne mit rötlichem Schein wie zwei
Scheinwerfer. Morgan dachte an Drachen. An Siegfried, den
Helden seiner Knabenzeit, und den Drachen Fafnir. Aber die-
ses Ding war wirklich, es lebte, und Drachen waren Geschöpfe
aus der Legende … Das mußte ein gigantischer Saurier sein,
eine ungeheure Echse, ein Bewohner der Tiefen.

Und dann sprach es! Tiefe Baßtöne, langsam und dröhnend,

wie Donner, dem Sprache verliehen ist.

»Was – seid ihr Menschenvolk hier in meiner uralten Unter-

welt?« sagte das schwerfällige Monstrum mit Tönen, die wie
das Echo eines fernen Erdbebens widerhallten. »Habt ihr nicht
die ganze obere Welt, um darin eure Behausung zu finden, und
müßt in meinen Abgründen herumstochern und Leute mit
scharfen Stöcken belästigen?«

Mit orangeroten Augen, die wie riesige Lampen flammten,

einem riesigen Schädel, gehörnt und mächtig, der über ihnen
aufragte, regte sich der kolossale Saurier langsam, schwerfäl-
lig, und unter seinem mächtigen Gewicht scharrte das Gestein.

»Ich will davon nichts haben, hört ihr? Zurück in eure obere

Welt, und laßt die Tiefen Dzarmungzung, in Frieden …«

Sodaspes, der keuchend neben Morgan stand, drehte sich um,

als er diesen seltsamen, schwer auszusprechenden Namen
hörte. Sein Gesicht glänzte vom Schweiß und war bleich wie
Milch, aber plötzlich blitzte Hoffnung in seinen gelben Augen.

»Dzarmungzung!« flüsterte er ungläubig. Und dann huschte

sein Blick zum alten Conyin hinüber, der ebenfalls plötzlich
zum Stillstand gekommen war und sich jetzt umdrehte und mit
dem jungen Magier verblüffte, benommene Blicke wechselte.

»Dzarmungzung?« wiederholte der alte Barde. Und dann

drehte er sich vorsichtig um und sah das hoch aufragende
Reptil an, das sie mit Flammenaugen anfunkelte. »Bist das du,
Alter Drache?« rief er.

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Das große Ding senkte seinen mächtigen Schädel.
»Ich bin es«, dröhnte es mit seiner tiefen Stimme. »Aber wer

nennt meinen alten Namen?«

Jetzt trat Conyin mutig vor, obwohl Morgan sehen konnte,

daß seine Beine zitterten. Conyin schwang seine Leier herum,
so daß man sie sehen konnte.

»Ich, Conyin, der Sänger, ein geweihter Barde. Du lebst also

wirklich, o Mächtiger, nach all den Zeiten? Und hältst du den
Pakt immer noch in Ehren?«

»Ich lebe noch, ja«, sagte der Drache langsam. »Ein Barde

des Menschenvolks hier? Wie wunderbar seltsam … Ja, der
Pakt! Aber wer seid ihr, die ihr von Pakten plappert und in
meinen zarten Schwanz Dinge steckt? Sprich, Menschling, hab
keine Angst vor dem alten Dzarmungzung und stich ihn nicht
mehr mit scharfen Stöcken!«

Conyin begann ein stockendes Gespräch mit dem mächtigen

Reptil, aber Morgan konnte sich später nicht mehr erinnern,
was gesagt wurde. Er war voll des Staunens – nicht so sehr
über die Vorstellung eines vernunftbegabten Wesens, das von
nichtmenschlicher Gestalt war, denn davon gab es auf den
Sternenwelten viele. Tatsächlich waren die Boygyars von Tau
Ceti diesen großen gigantischen Reptilintelligenzen nicht
unähnlich und den Menschen freundlich gesinnt. Aber sie
waren Telepathen und nicht mit der Fähigkeit der Sprache
begabt.

Nein – sein Staunen hatte eine andere Ursache, denn er be-

griff, daß Dzarmungzung eines der Sprechenden Tiere der alten
Cophyrilegende sein mußte; einst, so sagten die Mythen, teilten
die Menschen diese Welt mit großen, weisen Tieren, die sich in
menschlicher Sprache verständigten. Von Äonen glaubte man
schon, sie seien alle untergegangen, und jetzt erwähnte man sie
nur noch in alten Geschichten und in jenen Reimen, mit denen
die Cophyrimütter ihre Kinder in den Schlaf sangen – und doch
lebte hier einer, ein sprechender Drache! Es war, als unterhielte

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man sich mit einem alten magischen Geschöpf aus einem
uralten Märchen.

»Nun, nun, tretet vor und laßt euch ansehen«, polterte der

alte Drache. Conyin winkte heftig, und sie traten nacheinander
vor und standen bleich und zitternd oder verwundert vor
Dzarmungzung, dem Alten Drachen. Die großen Lampen
seiner Augen ließen ihr rötliches Licht über sie tanzen, über
einen nach dem anderen, bis sie schließlich auf Argyra zum
Stillstand kamen.

»Hoh! Bist du das gewesen, der mich gestochen hat?« fragte

er. Sie nickte tapfer, und ihre schwarzen Locken schimmerten
im Leuchten seiner flammenden Augen.

»Das war ich, aber ich kannte dich nicht, o Großvater aller

Schlangen«, rief sie. Der Drache drehte seinen mächtigen Hals
und spähte auf sie herunter. Menschliche Gefühle flammten
jetzt in jenen Augen, Amüsiertheit, Überraschung und Humor.

»Was soll das?« brüllte er. »Bei meinem uralten und höchst

zarten Schwanz, ist das nicht ein Mädchenkind? Sag, Mädchen,
hat der alte Dzarmungzung nicht recht? Nach all diesen Ewig-
keiten«, wunderte sich der Drache, »ein Mädchenkind – und
mit einem Stecher bewaffnet!« Er lachte glucksend – ein ent-
nervendes Geräusch, das so klang, wie wenn man eine Ladung
Kohlen in eine Blechrutsche schüttelt.

»Ja, ich bin eine Frau, und mein Name ist Argyra, Alter«,

schrie das Mädchen zu ihm hinauf.

»Nun, hmmm!« Er schnaubte, verschleierte die Lampen sei-

ner Augen halb und ließ sich dann langsam herunter, bis seine
mächtigen Kiefer und der hornige Schnabel auf den gekreuzten
Vorderpfoten ruhten. In dieser Position reichte sein gehörnter
Kopf nur ein kleines Stück über Othgrim hinaus.

»Ein Sänger … ein Zauberer … ein Mädchenkind«, sinnierte

der alte Drache langsam. »Ich sehe, daß ihr sechs seid … Nun,
bei meinen Hörnern, schließlich kennt der alte Dzarmungzung
auch die alten Gesänge! Dann sind also die Letzten Tage über

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uns gekommen? Nun, nun … ich habe mir schon so etwas
gedacht.« Plötzlich unterbrach er sich und schniefte.

Wenigstens dachte Morgan, daß er das tat. Es klang wie eine

Dampfpfeife, die Druck abläßt.

»Gnomen!« polterte er. »Ihr stinkt nach Gnomischkeit! Nun,

sag mir, Kind, habt ihr etwas mit den kleinen Schwarzen zu tun
gehabt? Heh? Bei meiner alten Nase, das rieche ich.«

Argyra trat vor.
»Sie haben uns in der oberen Welt angegriffen«, rief sie dem

Monstrum zu, »und wir haben gegen sie gekämpft und in die-
sen Kavernen Zuflucht vor ihnen gesucht, denn sie sind viel
mehr an der Zahl als wir, obwohl wir ihre Zahl ein wenig
reduziert haben«, sagte sie grinsend und schlug sich auf die
Schwertscheide.

»Ho, ho! Ein paar weniger von den kleinen schwarzen Wür-

mern, wie?« gluckste der Drache. »Das gefällt mir gut, Kind!
Ein widerliches Volk sind sie, diese Schwarzen, mit ihren
kleinen roten Augen, die überall herumschnüffeln – ho! Es hat
also einen Kampf gegeben, he? Das hätte meinem alten Herzen
gut getan, das zu sehen, das ist die Wahrheit! Was … glaubt
ihr, daß das die Wahrheit ist … wißt ihr, was dieses schurki-
sche Pack gewagt hat, he? In meine eigene Kaverne haben sie
sich hereingeschlichen und haben versucht, mich mit Gold,
alten Edelsteinen und dem Versprechen fetter Menschenbabys
zu kaufen. Dzarmungzung, dem Schwarzen Chaos und dem
Schatten des Bösen dienen! Was haltet ihr davon? Hah!«

Er reckte seinen alten Schädel, seine Augen flammten. Weit

hinter ihnen, im Schatten, regte sich sein mächtiger Schweif
und löste zwischen den Steinen eine kleine Lawine aus.

»Und was hast du gesagt, Großvater?« fragte Argyra.
»Gesagt?« dröhnte er. »Gesagt? Nun, nichts, kleines Kind –

getan habe ich. Ja, das ist das Wort – getan! Nun, ich hab ihnen
meine Antwort schon gegeben, ja, das habe ich, und ganz klar,
nicht mit leisen Worten, das sollt ihr wissen … Etwa auf diese

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Weise habe ich’s formuliert, schaut …«

Seine mächtige Pranke hob sich und schwebte einen Augen-

blick lang in der Luft, riesig wie ein Haus, so schien sie. Sieben
Finger waren an dieser mächtigen Pranke, und orangefarbenes
Augenlicht glitzerte auf den gekrümmten Klauen, die sie be-
wehrten.

Und dann krachte die große Tatze plötzlich donnernd auf die

aufgehäuften Steine herunter, von denen die meisten manns-
hoch und aus solidem Felsgestein waren. Der Steinboden beb-
te, und Echos hallten durch die mächtige Kaverne, als Dzar-
mungzung die Steine mit der mächtigen Pranke wie Walnüsse
knackte. Stücke von zersprungenem Gestein spritzten zwischen
seinen Fingern davon und prasselten wie Gewehrfeuer von den
fernen Wänden. Staub wirbelte auf, angefüllt mit Felsflocken
und setzte sich dann langsam wieder. Die Stärke des Drachen
war unglaublich.

Und dann sagte er mit selbstgefälliger Stimme, mitten in das

Echo hinein: »Und ich glaube, sie haben verstanden, was ich
mir dachte, diejenigen von ihnen, die nicht plattgedrückt wur-
den, meine ich«, und dann gluckste er wieder.

»Deshalb hatten sie also Angst, uns zu folgen!« lachte der

alten Barde. Dzarmungzung blinzelte mit einem hornigen
Augenlid, dämpfte sein orangefarbenes Licht.

»Nun, mich überrascht es nicht, wenn das schwarze Ge-

schmeiß sich hier in meinen Träumen nicht willkommen
fühlt!« dröhnte er.

Sodaspes sah sich verträumt in der mächtigen, düsteren Ka-

verne um.

»Das also ist Dzarmungzungs Tiefe«, sagte er nachdenklich;

»wie oft habe ich doch von diesem Ort und seinen Wundern in
den alten Geschichten und Liedern gehört, als ich in den sonni-
gen Höfen der verbotenen Stadt Novize war.«

»So, man spricht also noch in jener euren oberen Welt von

dem Alten Drachen?« polterte Dzarmungzung. »Nett zu wis-

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sen, daß die kleinen Menschlinge sich an ihren alten Freund
erinnern … Sag mir, Magier, wieviele Jahre ist es jetzt her, seit
jene Tage verstrichen sind, verstrichen in jenem hellen,
schrecklich offenen Ort, aus dem ihr Kinder kommt?«

Sodaspes sagte zögernd: »Eine sehr lange Zeit, Großvater

aller Schlangen … viele Jahre …«

»So wie ihr kleinen Kinder Zeit rechnet, ja«, sagte der Alte

Drache tolerant. »Aber sag mir, wieviele? Denn ich habe lange
im dunklen, kühlen Schweigen der Untererde geschlafen, und
möchte wissen, wieviele Jahre, vielleicht Jahrhunderte, aus der
Zukunft in die Vergangenheit gewandert sind, seit jene hohen,
goldenen Tage und wundersamen Kriege vorübergezogen
sind.«

Sodaspes wechselte einen Blick mit Conyin und senkte die

Augen. Er schlurfte unsicher mit den Füßen; Morgan hatte den
Eindruck, daß der junge Magier Angst hatte, die Wahrheit zu
sprechen. Das beschäftigte ihn sehr, aber er wußte überhaupt
nichts von diesen Dingen und hatte diese Geschichten nie
gehört.

Der Drache bemerkte den Blick, der zwischen den zwei

Sterblichen gewechselt wurde, und er spürte das verlegene
Schweigen, das darauf folgte.

»Ihr scheint Angst zu haben, zum alten Dzarmungzung von

der Zeit zu sprechen«, dröhnte der Drache blinzelnd. »Nun
muß ich euch bei meinem uralten und zarten Schwanz sagen,
daß ich nicht weiß, warum ihr so empfindet. Ich bin immer ein
Freund von euch kleinen Menschlingen gewesen, in jenen alten
Tagen ebenso wie heute. Sprecht jetzt und sagt mir die Wahr-
heit: Wie viele Jahre sind an mir vorübergegangen, während
ich hier in meinem tiefen, dunklen Loch schlief, seit ich mit
Rolnarn, König der Menschen, und Silianath, Herr des Mee-
resvolkes, und Yunglinglamor, Häuptling der Gnomen, an
meiner Seite gegen den Schatten zog, mit all den Sprechenden
Tieren hinter mir, als ich über die sonnenbeleuchtete Erde

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schritt? Sprecht, habt keine Angst vor mir!«

Endlich sprach Sodaspes, aber mit gesenktem Blick, mit lei-

ser, trauriger Stimme.

»Dreißigtausend Jahre der Zeit«, sagte er sanft.
»Hä?« Der Drache hob seinen mächtigen Schädel, und seine

flammenden Augen blinzelten ungläubig. »Hä?«

Sodaspes wiederholte den Satz.
Einen Augenblick lang herrschte Schweigen.
Mit weiten, flammenden Augen ragte der gigantische Drache

über ihnen auf. Mit einem einzigen Schlag seiner Pranke konn-
te er sie zu Brei schlagen, mit einem einzigen Peitschen seines
mächtigen Schweifes. Dann klang es donnernd:

»Du lügst, falscher Menschling! Du lügst, sage ich!«
Das Brüllen zerriß die Finsternis. Die Lampen der monströ-

sen Augen flammten wie goldene Monde durch die Düsternis.
Sie standen erstarrt vor dem Donner seines Zorns, wagten
weder zu sprechen noch sich zu bewegen.

Dann verblaßten die flammenden Augen, und die hochragen-

de schwarze Gestalt schrumpfte ein wenig zusammen, als sei
sie plötzlich müde. Langsam senkte sich der mächtige Schädel
des Drachen.

»So lange … so lange … wirklich, eine sehr lange Zeit …

dreißigtausend Jahre! … Ihr habt doch ›tausend‹ gesagt, oder?
… Ja, und ich habe hier in meinem schwarzen Loch geschla-
fen, während all die Zeit verstrich … Und die hellen jungen
Reiche, was ist aus denen geworden? Herrscht Riolnarns Blut
immer noch in Irion, Stadt der Menschen? Was, kleiner
Menschling?«

Conyins Stimme klang unendlich sanft, als der Sänger es auf

sich nahm, diese von Hoffnung erfüllte Frage zu beantworten.

»Seine Dynastie endete vor vielen tausend Jahren, und all

sein Volk ist verstreut und vergessen, und die Steine von Irion,
der Stadt der Menschen, sind begraben unter dem Staub der
Äonen und verloren, so daß nicht einmal die weisesten aller

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Menschen noch wissen, wo jene große Stadt einmal stand.«

Der Drache wimmerte tief in seiner mächtigen Kehle.
»Ist das so, wahrhaftig …? Das leuchtende Irion … das stol-

ze Irion … das schöne Irion? Ah! Ich kann es noch sehen, die
goldenen Banner, die im Wind des Morgens flattern … die
jungen, lachenden Prinzen … die Helden mit den edlen Herzen
… ah, wie traurig …«

Sie standen verlegen da und wußten nicht, was sie sagen soll-

ten, während das älteste aller lebenden Geschöpfe verlorene
Königreiche betrauerte. Nach einer Weile hob der Drache
wieder seinen großen Schädel, um zu fragen:

»Und der mächtige Sillianath und das Volk des Tiefen Grü-

nen Meeres – bestimmt sind sie auch dahin und vergessen …
und was ist mit ihrer hellen Stadt, Koth Ylim, die Stadt im
Meer – sie ist doch sicher nicht auch untergegangen, mit all
den Legionen des Meeresvolks, die sie schützten?«

Und Sodaspes sagte leise: »Das Meeresvolk hat nach der

Zerstörung der Dunklen Stadt und dem Fall des Schattens vor
der Ankunft Iarbaths, Engel des Lichts, mit den Kindern der
Menschen lange Kriege gekämpft … Die Stadt im Meer wurde
besiegt und vom schwarzen Schlamm bedeckt, und all Meer-
volk floh zu den fernen Orten der Welt und wenn noch welche
leben, so haben sie sich vor den Menschen verborgen.«

Der Alte Drache brütete lange Zeit schweigend, und seine

Augen waren stumpf und fahl, nur das langsame, schwere
Geräusch seines Atems durchbrach das Schweigen; schließlich
stellte er mit dumpfer Stimme eine letzte Frage.

»Du bringst mir traurige Nachricht, Menschling … trauriger,

als Worte es ausdrücken können … Und mein altes, müdes
Herz leidet unter dem Wissen dieser Dinge, und ich wollte, ich
hätte nicht gefragt! Aber da ist noch eines, was ich wissen muß
… eine letzte Frage muß ich dir stellen …«

»Dann stelle sie, Alter«, bat der Magier.
»Mein eigenes Volk, das Tiervolk … was ist mit ihnen? Si-

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cher hat die Zeit doch keinen so traurigen Zoll von meinen
eigenen Brüdern verlangt, wie von euch Sterblichen! Sicher …
wir sind sehr langlebig, wir Tiere … Was ist mit Sharmingzorn
dem Großen Rock, und Gordrim dem Weißen Greif, und Aaarl,
dem Sprechenden Fisch? Was mit der schönen, süßen Noni-
daal, der Sphinx-Löwin … und dem schlauen Yemnd, dem
Basilisken … und dem alten, weisen Erygandor? Was ist aus
unserer Art geworden, den Einhörnern, den Hippocamps, den
Feuerdrachen, den Sprechenden Tieren der Berge, Haine,
Meere und des Himmels?«

Sodaspes’ Kopf sank auf seine Brust, und Morgan sah das

Glitzern von Tränen in seinen Augen. Mit erstickter Stimme
sprach er, und der Drache unterbrach ihn und bat ihn, das
Gesagte zu wiederholen. Das tat er.

»Es tut mir leid, Großvater … abgesehen von dir, dir alleine

… nach allem, was die Kinder des Menschen wissen … sind
die Sprechenden Tiere vor Äonen von dieser Welt verschwun-
den …«

»Kann das so sein?«
»So ist es, Großvater«, meldete Argyra sich zu Wort. »Mein

eigenes Land, im Norden der Flüsternden Ebenen, war einst die
Heimat Baranthars, des menschenköpfigen Bullen. Aber er
starb, jener große Weise, Zwölftausend Jahre vor der Geburt
meiner Mutter … starb, wie er gelebt hatte, ein Freund von uns
Menschlingen. Die Sprechenden Tiere sind alle lange ver-
schwunden.«

»Deshalb staunten wir so darüber, dich zu finden, o Mächti-

ger«, sagte der Rhapsode würdig. »Du bist, soweit wir bloßen
Sterblichen es wissen, das letzte all der Sprechenden Tiere, die
mit den ersten Menschen am hellen, schönen Morgen der Welt
über das Land zogen …«


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100

7.

Der Drache brütete eine lange Zeit über jene lang vergangenen
Tage nach, und seine Augen waren düster und glanzlos,
versunken in finsteren Gedanken und alten Erinnerungen. Aber
am Ende raffte er sich auf, und obwohl in seiner tiefen Stimme
immer noch Traurigkeit mitschwang, brannten die großen
Lampen seiner Augen wieder hell.

»Nun«, sagte er würdevoll, »die Zeit verstreicht, ob wir es

wollen oder nicht … und die Welt vergeht … schwebt immer
zwischen der Ewigkeit und dem Untergang. Mich dünkt, es ist
Zeit, daß ich aus meinem uralten Schlummer erwache, denn
noch gibt es tapfere Taten zu vollbringen, ehe die Welt kalt
ist.«

Und er verlegte sein kolossales Gewicht und erhob sich ma-

jestätisch zu seiner vollen Höhe. Morgan riß die Augen weit
auf. Sicher waren nicht einmal die großen Dinosaurier der alten
Erde in der Urdämmerung der ersten Tage so gewaltig gewe-
sen. Dzarmungzung mochte tausend Tonnen an Gewicht ha-
ben: die Welt ächzte und stöhnte unter seinem bedächtigen
Schritt. Kein lebendes Ding konnte auf seine gepanzerte Ge-
stalt blicken, ohne Ehrfurcht, Staunen und Schrecken zu emp-
finden. Er war ein sich bewegender Berg aus lebendem Fleisch,
er, das älteste aller lebenden Geschöpfe, das letzte und größte
und weiseste aller Sprechenden Tiere.

Er führte sie langsam durch jenen Ort der alten Mythen. Es

war eine Kaverne, die eine Kuppel deckte, so riesig, daß man
Sternenschiffe darin hätte abstellen können. Die Decke war
dem Blick verloren, von Schatten verhüllt; die andere Wand
nur schwach zu erkennen. Sie schritten, oder besser gesagt, sie
trabten, denn sie hatten Mühe, mit dem Drachen Schritt zu
halten, stets darauf bedacht, den großen Tatzen auszuweichen,
die sie zu Brei hätten zermalmen können. Und während sie
neben ihm dahinliefen, blickten sie auf die Wunder, die sich

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ringsum ihren Augen darboten.

Die Dunkelheit wich. Dzarmungzung rief einen Namen, und

eine glitzernde Fontäne aus silbernem Feuer erblühte aus dem
Dunkel eines Kraters in der Mitte des riesigen Raumes. Das
glitzernde weiße Feuer hob und senkte sich und ließ mächtige
Schatten über die Wände und das Kuppeldach der Drachenhal-
le zucken. Und jetzt, da die Kaverne beleuchtet war, konnten
sie monströse Schriftzeichen oder Runen erkennen, die in die
Felswand geschnitten waren, tief in den Stein getrieben, die
geduldige Arbeit ferner Jahrhunderte. Die Symbole waren fast
zu groß, als daß man sie auf einen Blick hätte erkennen kön-
nen; das Auge wanderte über sie von einer Seite zur anderen,
es waren Schriftzeichen so riesig wie Häuser. Sodaspes sah
voll Ehrfurcht auf die Drachenschrift.

»Das ist die vergessene Sprache«, seufzte er, zu Conyin ge-

wandt. »Die Welt hat sie vergessen, die Schrift der Dämme-
rung, die Sprache der Tiere! Er hat hier mit seinen Klauen die
mächtige Fabel der Schöpfung in das lebende Felsgestein
geschnitten. Schaut doch, schaut! Kein Mensch wird je wissen,
welche Geheimnisse hier eingegraben sind …«

Conyin nickte, hörte den anderen kaum. Sein faltiges, häßli-

ches Gesicht wirkte im schimmernden Licht der magischen
Fontäne sanft, ja fast verträumt. Er kannte die alten Gesänge
und liebte sie aus ganzem Herzen, mit einer Liebe, wie er sie
sein ganzes Leben lang nie einem Mann oder einer Frau hatte
geben können: und diese Halle war in jenen goldenen Gesän-
gen der Urzeit berühmt. Dies war Dzarmungzungs Tiefe, und
für Conyin war sie schrecklich und wundersam und herzerstik-
kend fremd zugleich … so als würden Sie oder ich durch die
Marmorhallen des Olymps wandeln oder über die grimmigen
Zinnen von Asgard, und auf deren Wunder blicken und erken-
nen, daß eine Legende Wahrheit war.

»Hierher kam einst Iarbath selbst, als die ganze Welt noch

jung war, um den Alten Drachen in den Krieg gegen die Fin-

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sternis zu rufen«, murmelte er. »Unsterbliche Füße sind über
jene uralten Steine geschritten, vielleicht bin ich der einzige
von allen Sängern, der dieses Wunder sehen soll!«

Vorräume (jeder einzelne so groß wie das Schiff einer mäch-

tigen Kathedrale) gingen von der Mittelhalle aus. Der Drache
führte sie durch eine ganze Reihe solcher Räume: einer davon
war mit Schätzen wie mit goldenen Bergen vollgefüllt, andere
mit Hügeln aus weißem Silber oder mit Strömen von Juwelen.
Der Reichtum einer anderen Welt lag hier aufgehäuft, und
Morgan hielt den Atem an, als er die Fülle sah.

Das Drachenvolk hatte stets Freude daran gehabt, Schätze zu

sammeln und zu bewachen, aber dieser hier überstieg jede
Vorstellung. Und keineswegs alles war das Werk von Men-
schenhand. Hier lagen fremdartige Juwelen, eingetauscht oder
gestohlen von dem Gnomen, und seltsame grüne Münzen, die
aus den Münzstätten des Meeresvolks stammten, und eigenar-
tige Edelsteine wie durchsichtige Blasen aus schimmerndem
Licht – Tand vielleicht der Sylphine, jenes Volkes der Lüfte,
von denen die Legenden berichten und die vom Angesicht der
Welt verschwunden waren. Der verlorene Stamm …

Sodaspes stöhnte und beugte sich vor, um mit zitternden Fin-

gern eine blitzende Goldmünze aufzuheben, auf der ein könig-
liches Gesicht eingraviert war und seltsame Schriftzeichen, wie
sie der Outworlder noch nie zuvor gesehen hatte. Der Magier
berührte die Münze mit ehrfürchtigen Fingern und wandte dann
sein Gesicht Conyin zu.

»Schau, Sänger! Dies ist das Gesicht von Amandar selbst,

dem ersten König der Menschen«, flüsterte er. Conyin beugte
sich über die Hand des anderen und blickte staunend auf das
Geldstück.

»Eine Münze, die in Mon, der Stadt der Menschen, geschla-

gen wurde«, sagte der alte Barde mit vor Ehrfurcht rauher
Stimme. »Sieh, Junge, die ist fast vor siebzigtausend Jahren
geprägt worden. Jene Zeit, das Königsreich, sein Volk und die

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Sprache, die sie sprachen, sind lange aus dem Wissen der
Menschen verschwunden. Aber sieh doch! Das geprägte Gold
leuchtet hell und rein, als wäre kein Tag verstrichen, seit es in
der Herrlichen Stadt Gestalt angenommen hat.«

Sie zogen weiter durch Höhlen des Wunders, vollgestopft mit

Schätzen.

Da war eine Halle, in der tausend Schwerter hingen. Alt und

zerbeult und zernarbt und rot vom uralten Rost waren diese
Schwerter, und jedes hatte seinen eigenen Namen und seine
stolze Geschichte; Schwerter der alten Heroen waren dies, und
unter ihnen waren viele der gesegneten Klingen, die die Men-
schen im großen Krieg gegen die Finsternis getragen hatten.
Der alte Conyin wußte all dies auf einen Blick. Seine Augen
waren verschleiert, als er auf die alten Schwerter blickte, und er
nannte ihre Namen, einen nach dem anderen.

»Dort hängt Skammung, das Ixnar trug, und das breite Ionar

und das blitzende Seriam das Scharfe und Babamore und Ror-
naway und Yan und Tarnalume und Zariol das Schlanke.
Schlaf gut, du heiliger Stahl! Du hast dir die Ruhe der Ewigkeit
verdient.«

Und schließlich erreichten sie eine weitere, noch riesigere

Höhle. Sie war düster und blau und erfüllt von murmelnden
Geräuschen und sich bewegenden Schatten und ruhelosem
Feuer, und die Luft roch nach Zauberei – würzig, geheimnis-
voll!

»Die Höhle der Magie«, sagte Bowman mit leiser Stimme.
Sodaspes fand keine Worte; er sah sich mit tränenden Augen

um, und in seinem jungen Gesicht leuchtete die Ehrfurcht vor
dem Unerreichlichen. Morgan sah sich in dem mystischen
blauen Schein um. Fremdartige Formen ragten in der magi-
schen Finsternis auf. Gehörnte Masken aus Stein; ein Amboß,
mächtiger als ihn je ein Sterblicher benutzt hatte; eine Kugel
aus klarem Wasser, die im lebenden Licht leuchtete; ein Altar,
primitiv und roh aus uralten Steinen aufgehäuft; ein großer

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Speer, vom Ende bis zur Spitze vierzig Fuß lang, und mit einer
Spitze aus unsterblichem Feuer.

Und dann gab es hier auch viele seltsame Instrumente, für die

Morgan keine Bezeichnung kannte. Seltsame Gebilde aus
Stangen und Kegeln, Würfeln und Prismen aus glänzendem
Kristall und fremdartigem Metall, schwarz und grün und sil-
bern. In diesen geheimnisvollen Gebilden pulsierte Kraft –
Kraft, die gebändigt war, jetzt schlief, aber Kraft, die aufwa-
chen konnte – um ganze Welten zu verändern, zu zerbrechen
oder in Stücke zu reißen.

Die Höhle der Zauberei … Noch heute flüsterten alte Gesän-

ge davon, jenem fabelhaftem Schatz der Alten Magie, angefüllt
mit Geräten und Instrumenten und Waffen der Zauberer aus
der Morgendämmerung der Welt.

Da war ein schwarzer Spiegel, hoch wie das Tor einer Fe-

stung; in seinen Tiefen bewegten sich fahle Gestalten, regten
sich endlos die Gespenster, die für immer in einer blassen Welt
aus nur zwei Dimensionen gefangen waren. Und ein riesiges
Juwel, in tausend blendende Facetten geschnitten, und jede
Seite, jede Fläche trug eine Rune von unbekannter Kraft: Feuer
schlummerte im Herzen des Juwels wie ein gefangener Stern.

Da waren Rüstungen und Schilde mit fremdartigen Schrift-

zeichen. Ein Schwert, dessen Klinge ein blitzender Diamant-
splitter war, lag auf einer zusammengeknüllten Kriegsflagge.
Ein Kopf aus getriebener Bronze, vom Alter geschwärzt, stand
auf einer Säule aus stumpfem Blei; in metallischen Augenhöh-
len blitzten Juwelen, und da war Leben und Intelligenz in jenen
Augen, die sich ganz leicht bewegten, so als wollten sie sie
beobachten, während sie vorüberschritten.

In der Mitte der Kaverne wuchs ein riesiger Baum. Es war

erstaunlich anzusehen – er lebte, obwohl seine knorrigen,
verwitterten Wurzeln aus kalkhartem Stein herausragten. Fri-
sche grüne Blätter wuchsen auf den mächtigen Zweigen und
regten sich leicht, als bewegte sie ein schwacher Wind, viel-

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leicht aus irgendeiner anderen Welt. Ein Ast fiel ihnen ins
Auge. Er blitzte wie helles Gold, und sieben schwarze Vögel
saßen darauf, und die Vögel hatten weder Augen noch Schwin-
gen.

Morgan sah diese Wunder, kannte sie aber nicht. Und aus der

Ehrfurcht und dem Staunen, das er in den Gesichtern seiner
Freunde wahrnahm, wußte er, daß er hier durch den Hort ural-
ter Wunder schritt: Dinge aus dem Mythos, das, woraus uralte
Legenden geformt waren.

Vor einem Wunder aus dunklem Kristall blieb Dzarmungzung
stehen. Es war wie ein großer Brunnenschacht, der mit schim-
merndem Glas ausgekleidet war. Das Geheimnis hing darüber
wie eine Aura aus unsichtbarem Licht.

»Kann es sein?« staunte Argyra mit schwacher Stimme ne-

ben Morgan.

»Du kennst es wohl, Mädchenkind?« fragte der Alte Drache,

und seine orangefarbenen Augen blitzten vergnügt. Die
Kriegsmaid nickte langsam.

»Das ist Yggs Brunnen, nicht wahr, Alter Großvater? Hierher

kam Prinz Ouros in der Geschichte und der Weise Einsiedler
und der alte König Adler auch …«

»Der Brunnen der Weisheit«, kam es von Bowmans Lippen.

Selbst sein ausdrucksloses, finsteres Gesicht ließ sein Staunen
erkennen.

»Ja, Kinder, der Brunnen der Weisheit, wahrhaftig!« dröhnte

Dzarmungzung. Er war jetzt selten guter Stimmung; nach all
diesen Äonen seine Schätze vor Gästen zeigen zu können, die
sie begriffen, bereitete ihm Freude, dachte Morgan, so wie es
bei jedem Sammler der Fall war.

»Mir schien es klug, daß ihr hierherkommt zu dem Brunnen,

den in vergangenen Zeiten so viele andere Helden des Men-
schenvolks besucht haben«, polterte der alte Drache. »Hier
könnten wir von dem lesen, was kommen soll, oder von dem,

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das vielleicht kommen könnte, und vielleicht einiges Wissen
gewinnen von den Gefahren, die auf uns lauern, und wie man
sie am besten umgeht, wie? Ha! Dann bleibt hier und – bei
meinem uralten, zarten Schweif – wir wollen sehen, ob im
letzten Zeitalter der Welt immer noch die Weisheit lebt …«

Die sechs knieten ehrfürchtig am Rand des geheimnisumwo-

benen Brunnens nieder, dessen Rand aus dunklem Kristall in
den magischen Lichtern dieses Horts der Zauberei schwach
schimmerte. Dzarmungzung baute sich neben dem Brunnen auf
und setzte sich langsam. Er legte seinen schuppenbewehrten,
glitzernden Schweif halb um die Öffnung des Brunnens herum
und stützte seinen mächtigen, hornigen Schädel auf die riesigen
Pranken.

Dann sprach er einen Namen aus.
Und an dem magischen Ort wurde es still.
Die Schatten wurden dichter; die Lichter verglommen.
Jetzt kam ein schwaches Leuchten aus den unsichtbaren, un-

bekannten Tiefen des alten Brunnens.

Wie ein Geist aus grünem Licht war jenes Leuchten: zu

schwach eigentlich, um es »Licht« zu nennen, und zu fahl, als
daß man es eigentlich »grün« nennen durfte. Ein Phantom des
Lichtes war es und der Schatten einer Farbe.

Das Leuchten schwebte aus der Mündung des Brunnens nach

oben und hing wie ein schwacher Dunst darüber, kräuselte sich
langsam. Morgan sah gebannt und fasziniert hin. Dies war
wahre Magie, und jetzt befand er sich nicht länger in der Ta-
geslichtwelt der Menschen, sondern im zwielichtigen, geheim-
nisvollen Reich des Mythos.

Der grüne Dunst verformte sich langsam in etwas, das wie

ein riesiges Gesicht aussah.

Sie war nicht ganz menschlich, jene dunstige Visage, obwohl

sie bärtig und majestätisch und menschlich war. Flügel wuch-
sen aus der breiten Stirn, und in den großen, weisen Augen
schimmerten unirdische Tiefen, und als das Gesicht im Nebel

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sprach, war seine Stimme ein weit entferntes Flüstern, das im
Bewußtsein nachhallte, nicht im Ohr.

Was willst du? fragte die flüsternde Gedankenstimme.
»Wir möchten wissen, was diesen kleinen Menschlingen be-

vorsteht«, sagte der alte Dzarmungzung kühn, während die
sechs den Schemen voll Ehrfurcht und Staunen anstarrten.

Viele Gefahren und für jeden einzeln; und für mindestens

einen der Tod, und Finsternis für einen anderen; aber große,
triumphale Taten ebenso, und Ruhm, der alle Zeiten überleben
wird,
sagte das Gesicht im Dunst.

»Aus meiner Tiefe gibt es sieben Straßen«, sagte der Drache;

»welchen dieser Pfade sollten diese kleinen Reisenden ein-
schlagen; welches Tor ist unbewacht; welcher Pfad nicht von
Gnomen besetzt?«

Alle sieben Wege sind bewacht, aber das Schicksal hat ent-

schieden, daß die sechs durch das Bergtor diesen Ort verlassen
sollen, obwohl auch jenes scharf bewacht wird.

»Und was, wenn sie durch ein anderes der sieben Tore hi-

nausziehen?« fragte der Drache. Das Gesicht der Weisheit
lächelte schwach.

Du kannst das Schicksal nicht vereiteln, o Dzarmungzung, so

sehr du dich auch bemühst! Denn im Buch der Millionen Jahre
steht, daß sie die Tiefe auf jenem Weg verlassen sollen und auf
keinem anderen: und obwohl es zutrifft, daß Gefahr und Tod
und Finsternis vor dem
Bergtor lauern, so wartet dort auch der
Sieg. Deshalb fürchtet euch nicht und schreitet kühn hinaus,
dem entgegen, das bestimmt ist.

Das Gesicht begann jetzt wieder zu verblassen: Stirn und

Wange und fließender Bart lösten sich wieder in formlose
Schatten auf. Dzarmungzung sprach hastig, ehe das Phantom-
gesicht sich ganz aufgelöst hatte.

»Und was ist mit den Gnomen, o Weiser?«
Sie und die Hexe, ihre Herrin, haben sich mit dem Chaos

verbündet, aber am Ende wird alles gut sein …

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Und mit jenen geheimnisvollen Worten verschwand das Ge-

sicht, und im Brunnen der Weisheit wurde es wieder dunkel.

In jener Nacht schliefen sie in Dzarmungzungs Halle, und als

der Morgen dämmerte, zogen sie zum Bergtor.

Der Weg dorthin führte durch Gänge und Galerien, die seit
Jahrhunderten, vielleicht sogar seit Jahrtausenden nicht mehr
benutzt worden waren.

Hier herrschte ringsum absolute Finsternis, denn in jenen

staubigen, düsteren Bereichen war das grünliche Leuchten der
phosphoreszierenden Pilze und Flechten nicht zu sehen. Es gab
hier überhaupt kein Licht, nur das gespenstische Strahlen, das
von Dzarmungzungs Augen ausging. Deshalb zog Sodaspes ein
Medaillon aus seltsamem schwarzem Metall aus dem Beutel.
Eine geheimnisvolle Hieroglyphe, die keiner der Abenteurer
bisher gesehen hatte, war darauf eingeprägt. Der junge Magier
hielt die kleine Scheibe hoch und sprach einen bestimmten
Namen aus, worauf eine Kugel aus wirbelndem Licht auf-
flammte. Sie schwebte vor ihnen her und strahlte ein flackern-
des, goldenes Licht aus.

»Die Hallen, durch die wir gehen müssen, sind finster genug,

aber ich glaube, das Hexenlicht wird die Dunkelheit erhellen«,
sagte Sodaspes und steckte sein Medaillon wieder weg. Mor-
gan folgte den anderen und dachte, daß es doch recht gut war,
einen echten Magier als Begleiter zu haben, wenn man auf eine
Suche ging, wie er sie angetreten hatte.

Die Blase aus goldenem Licht schwebte über ihnen, während

sie durch riesige Gewölbe zogen, in denen ihre Schritte ge-
spenstisch hallten. Der Lichtkegel, der vom Hexenlicht aus-
ging, reichte aus, um ihnen den Weg zu weisen.

Dzarmungzung ging mit Argyra voraus, die anscheinend sei-

ne Favoritin war und auf seiner Schulter hockte, die wie eine
runde Bergkuppe über ihnen aufragte.

Sie schlenderten neben den mächtigen Füßen des alten Dra-

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chen dahin. Von Zeit zu Zeit, wenn der Gang enger wurde,
zogen sie sich hinter seinen Schwanz zurück, der mit einem
metallischen Klappern über den rauhen Steinboden schleifte.

Diese Galerien waren seit Jahrhunderten nicht mehr benutzt

worden und daher teilweise knöcheltief mit Staub bedeckt.
Aber einst hatten die Könige und Helden aller Gemeinschaften
hier gewohnt oder diese unterirdischen Korridore als Grabge-
wölbe benutzt.

Sie kamen an steinernen Sarkophagen vorbei, deren mächtige

Deckel die glitzernden Aufschriften von Namen aus der Fabel
trugen.

Throne, die von staubigen Spinnweben verhängt waren, rag-

ten in den Schatten auf. In jener Zeit der Morgendämmerung
war es Sitte gewesen, daß mit jedem König sein Thron, seine
Krone und sein Schwert begraben wurden.

Hier und da glitzerten inmitten von Staub und Spinnweben

Rüstungen oder zerbeulte Helme, verrostete Schilde oder Lan-
zen im düsteren Schein uralten Metalls, wenn das kalte Hexen-
licht auf sie fiel.

Othgrim, der dicht hinter dem Outworlder einherschritt, ver-

drehte abergläubisch die Augen, als er diese verwitterten Relik-
te der Sterblichkeit sah, und murmelte halblaut eine heisere
Litanei der Namen von Schutzgeistern. Der vierschrötige Bauer
wußte um die Schrecken, von denen es hieß, daß sie solche
Orte heimsuchten, und bei dem bloßen Gedanken daran liefen
ihm eisige Schauer über den Rücken.

Morgan lächelte innerlich, obwohl er bemüht war, die Gefüh-

le dieses wackeren Kameraden nicht zu verletzen, indem er
etwas sagte. Er erinnerte sich sehr wohl des eisernen Mutes,
den dieser selbe Othgrim an der Felsmauer von Thoor gezeigt
hatte, als das heulende Rudel der Senmurven um sie gekreist
war. Damals hatte der wackere Knecht nicht das leiseste An-
zeichen von Furcht gezeigt: jetzt aber waren seine Lippen
weiß, und kalte Schweißtropfen standen auf seiner Stirn, und er

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rollte verängstigt mit den Augen. Morgan grinste, sagte aber
nichts.

»Jedem Mann seine eigene Tapferkeit und sein eigener

Schrecken«, sagt das Weiße Buch.

Eine kleine Weile später hatte Morgan Outworlder selbst An-
laß, den eiskalten Hauch des Schreckens zu verspüren.

Denn plötzlich blieben sie stehen, und selbst dem Furchtlose-

sten von ihnen entrang sich ein Stöhnen der Ehrfurcht und des
Staunens.

Bowman wurde blaß, und seine Hände umfaßten den schwar-

zen Bogen fester, so daß seine Knöchel weiß hervortraten.

Vor ihnen bewegte sich etwas zwischen den Schatten.
Mit langsamen Schritten kam es aus der Finsternis hervor,

um sich ihnen gegenüberzustellen. Morgan kniff die Augen
zusammen und versuchte, in dem schwachen Licht auszuma-
chen, was es war. Und dann weiteten sich seine Augen ungläu-
big, und er merkte, daß sein Herz wie wild schlug, wie ein
Vogel, der sich aus einem Käfig befreien möchte.

Uralter Schrecken stand vor ihnen und breitete braune, ver-

witterte Arme aus, um ihnen den Weg zu versperren!

Einst war es ein lebender Mensch gewesen, ein Ding aus

Fleisch und Blut, aber das lag sehr weit zurück. Die Jahrhun-
derte hatten jenes Fleisch zu geschwärzten Fetzen verwittern
lassen. Nackte, braune Knochen glitzerten trocken durch die
ledernen Fleischlappen, die von ihnen herunterhingen.

Der Kopf war wenig mehr als ein Schädel. Nackter, brauner

Knochen, ausgetrocknet und zersprungen, vom Staub der Äo-
nen bedeckt. Ein grinsendes Horrorgesicht – und doch blitzte
aus den Schatten schwarzer Augenhöhlen noch Intelligenz wie
Funken eines unsterblichen Feuers.

Das skelettartige Ding stand auf knochigen Beinen, die so

dünn wie Stöcke waren. Es war ohne Zweifel tot, und doch war
da eine geheimnisvolle Kraft, die es belebte.

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Die knochige Klaue einer Hand umklammerte den Griff eines

alten Schwertes. Die Klinge war vom Rost gerötet und zer-
beult, aber immer noch scharf genug, um zu verwunden und zu
töten.

Die braunen, knochigen Kiefer brachten kein Wort heraus,

aber die zerbrochenen Zähne grinsten maskenhaft. Und doch
funkelte im Feuer jener unsterblichen Augen eine Herausforde-
rung, unausgesprochen, und doch nicht weniger eindrucksvoll.

Conyin kannte das Ding, denn er alleine trat vor, während die

anderen wie erstarrt stehenblieben. Er sprach es mit sanfter
Stimme an.

»Laß uns passieren, Dorovir, tapferer Dorovir, o du treuester

aller Diener!« sang er leise. Der Schädel bewegte sich ein
wenig, so als lauschte er.

»Wir bitten dich, laß uns passieren, o Dorovir! Dein guter Kö-

nig schläft immer noch im Schatten hinter dir, und seine Ruhe
soll von uns nicht gestört werden, hab also keine Angst, Dorovir,
und laß uns vorbei, du Getreuer. Der gute König Aromedion soll
in ungestörter Ruhe schlafen, bis zum Ende aller Dinge, du
Getreuer! Wir müssen nur seinen Ort passieren und werden ihn
nicht stören, denn er gehört zu den gesegneten Toten … O laß
uns passieren, wir bitten dich, tapferer Krieger!«

Langsam zog sich das tote, knochige Ding zur Seite zurück,

und sie krochen an ihm vorbei, einer nach dem anderen, wi-
chen seinem wachsamen Blick aus, bis sie den Ort passiert
hatten, wo Dorovir der Tapfere ewige Wache vor der letzten
Ruhestatt seines geliebten Königs hielt, dessen Schlaf er jetzt
zehntausend Jahre lang bewacht hatte und den er weiter bewa-
chen würde, bis die Welt selbst ihr Ende fand.

Sie zogen weiter, stumm, mit ernsten, nachdenklichen Ge-

sichtern. Und nie wieder lächelte Morgan Outworlder über
Othgrim und seinen »Aberglauben«, denn dies war nicht seine
Welt, und er kannte nicht alle Dinge, die in ihr waren.

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Stundenlang führte sie ihr Weg durch die Hallen des Todes,
aber am Ende, als der Morgen dämmerte, traten sie in das helle
Licht des Bergtors hinaus, und jetzt bedrohten keine grimmi-
gen Schemen mehr ihren Pfad.

Sie ruhten ein wenig in der Sonne aus, verjagten den Geruch

nach Staub und Trockenheit und Verwesung aus ihren Lungen,
tranken die frische, klare, kalte Bergluft in sich hinein und
ergötzten sich nach so viel Schatten wieder am Anblick der
hellen Sonne.

Sie waren still und redeten überhaupt nicht über die Dinge,

die sie erlebt hatten, denn sie wußten jetzt alle, selbst der Out-
worlder, daß in jener Finsternis große Legenden und alte Hel-
den schliefen, und es geziemt sich nicht, von solchen Dingen
zu reden.

Nach einer Weile, erfrischt mit kaltem Wein und nachdem

sie die finstere Stimmung von sich geschüttelt hatten, die in
den Hallen des Todes über sie gekommen war, schickten sie
sich wieder an, weiterzugehen.

Immer noch schwebte das Hexenlicht über ihnen hin und her,

obwohl sein Feuer im hellen Glanz des Morgens nur schwach
und kalt wirkte. Sodaspes erinnerte sich jetzt daran und zog
wieder sein Medaillon heraus und bannte es, indem er einen
anderen Namen aussprach.

Und so zogen sie weiter, über das Bergtor hinaus. Eine Weile

begleitete Dzarmungzung sie noch, auf daß sie den wahren
Pfad finden mögen. Aber schließlich kehrte er um und sagte
ihnen lebewohl, denn die Suche war ihre Aufgabe, und nach so
vielen in der Finsternis verbrachten Äonen schätzte er die
Helligkeit des Tages nicht sonderlich.

»Gehabt euch wohl jetzt, kleine Menschlinge, und auch du,

kleines Mädchenkind!« sagte er mit seiner tiefen Stimme, und
seine großen Augen lächelten wie freundliche Lampen auf sie
herab. »Künftig müßt ihr allein eures Weges gehen, obwohl
meine Wünsche euch bis zum Ende eurer Suche begleiten.«

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Einer nach dem anderen sagten sie dem gigantischen Reptil

Lebewohl, und jeder versuchte auf seine Art, dem alten Dra-
chen für seine Freundlichkeit und Gastfreundschaft zu danken.
Aber er wollte nichts davon hören und weigerte sich resolut,
auch nur hinzuhören.

»Bei meinem uralten, zarten Schwanz«, polterte er. »Nichts

davon will ich hören, denn was ich getan habe, tat ich nur, um
mit euch Worte zu tauschen und euch meine uralte Tiefe zu
zeigen! Und deshalb heiße ich euch, seid still und dankt nicht
dem alten Dzarmungzung! Und wenn diese eure große Suche
vorbei ist und Bargelixwelt gerettet, dann seid ihr willkommen,
mich wieder in meiner Behausung zu besuchen. Vielleicht
haben wir dann die Muße zu einem guten Gespräch. Aber jetzt
sagte ich euch Lebewohl. Seid vorsichtig, schaut aus nach
diesen kriechenden, kleinen schwarzen Gnomen! Ein schur-
kenhaft schlaues Gezücht ist das, seid also auf eurer Hut! Viel-
leicht werden wir uns wieder begegnen … früher sogar, als ihr
denkt!«

Und mit diesen Worten machte der alte Drache kehrt und zog

wieder zum Bergtor seiner unterirdischen Welt. Sie blieben eine
Weile stehen und sahen ihm nach, bis er ihren Augen entschwun-
den war. Dann drehten sie sich wieder um und zogen weiter.

Die Stimme von Ygg hatte nicht gelogen. Kaum eine Stunde,
nachdem Dzarmungzung sich von ihm getrennt hatte, waren
die Schwarzen Gnomen über ihnen, und diesmal in größerer
Zahl als zuvor.

Der Morgen flammte hell am reinen Himmel, und die beiden

Sonnen standen hoch am Firmament, während sie die Höhen
erklommen. Sie waren jetzt mitten in den mächtigen Bergen, denn
sie hatten endlich den Gipfel der Welt erreicht. Rings um sie
türmten sich die größten Berge auf, die Morgan je in seinem
Leben gesehen hatte, ragten in den hellen Morgen, bedeckt mit
jungfräulichem Schnee, den noch nie des Menschen Fuß betreten

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114

hatte, und in dem sich der ganze Glanz des Himmels widerspie-
gelte. Sie waren jetzt nicht mehr weit von ihrem Ziel entfernt. Nur
ein kurzes Stück Weges noch, dann würden sie vor dem Taran-
don-Tor stehen, und die Suche würde dann beendet sein.

Und da brach es über sie herein, so schnell, daß sie schon

hilflos waren, ehe sie auch nur Zeit hatten, mit der Hand ans
Schwert zu greifen.

Sie mühten sich einen steilen Weg hinauf, der sich zwischen

den hohen Bergmauern hindurchschlängelte, als der Himmel
plötzlich dunkel wurde und Netze auf sie heruntersausten und
sie mit ihrem Geflecht bedeckten.

Bowman rief eine Warnung; Argyras Schwert blitzte im hel-

len Licht; Othgrim brüllte wie ein zorniger Bulle und schwang
seinen mächtigen Stab. Aber die dicken Falten des schweren
Netzes fielen über sie herab, umschlangen ihre Arme,
behinderten ihre Waffen und warfen sie auf die Knie.

Und dann kam heulend, in einem schrillen Chor, der von den

Bergen widerhallte, eine ganze Schar der knorrigen, kleinen
schwarzen Geschöpfe über sie. Ihre roten Augen glänzten mit
böser Lust, und ihre Knüppel flogen. Sie schlugen Bowman
nieder. Ein wohlgezielter Schlag traf Argyra am Handgelenk,
und das Schwert entfiel den gelähmten Fingern der Kriegs-
maid. Aber wenigstens ein Dutzend von ihnen war nötig, um
den brüllenden Othgrim niederzuzerren und den mächtigen
Knecht bewußtlos zu schlagen. Sodaspes spie Blitze von magi-
schem Feuer nach ihnen. Pfeile aus gelben Flammen zuckten
und fällten wie Blitze. Aber am Ende wurde auch er niederge-
schlagen.

Eine Keule traf Morgan am Hinterkopf. Für ihn explodierte

die Welt in fliegenden Sternen und versank dann in absoluter
Dunkelheit.

Und als sie erwachten, waren sie Gefangene der Roten Zau-

berin.

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115

Der Brunnen der Weisheit hatte sie davor gewarnt, und es war
so gekommen. Sodaspes hatte im Gespräch mit dem Alten
Drachen entdeckt, was die geheimnisvolle Warnung des Ge-
sichts im Nebel bedeutet hatte.

Wie es schien, war eine mächtige Zauberin zur Macht ge-

langt und hatte die Herrschaft über die Schwarzen Gnomen
angetreten. Yakiah hieß sie, ein Name, den man in diesem
Land fürchten mußte.

Immer noch verstrickt in das schwere Netz, benommen und

nur halb bei Bewußtsein, schleppte man sie in die Halle ihres
Bergpalasts und warf sie zu Füßen ihres Thrones.

Auf eine gewisse unheimliche Art war die Halle sehr schön.

Ringsum ragten Wände aus kühlem, grünen Stein in die Höhe,
glasig und halb durchsichtig. Der Boden war ein schwarzer
Spiegel, in dem kleine, goldene Sterne blitzten, verloren in
ebenholzfarbenen Tiefen. In Pfannen aus getriebenem Messing
leuchteten Jadeschalen mit smaragdgrünen Flammen zu beiden
Seiten ihres Thrones, der ein Sessel aus rotem Holz war, mit
einem grünen Samthimmel dahinter und darüber.

Auf diesem Stuhl saß die Rote Zauberin. Sie trug die Gestalt

einer schönen jungen Frau mit hohen Brüsten, schlanken
Schenkeln und Hüften – eine gebieterische Schönheit, die die
staubige Argyra ungepflegt und primitiv erscheinen ließ. Aber
trotz all ihrer Schönheit konnte man erkennen, daß sie nicht
ganz menschlich war. Zauberinnen von solcher Macht wie der
ihren gestatteten selten anderen, sie in ihrer Realität zu sehen,
und nahmen daher häufig eine Scheingestalt an. Daß sie die
Rote Zauberin genannt wurde, paßte gut, denn ihr Haar war
eine glitzernde Mähne aus scharlachrotem Feuer und wirkte
eher wie das Werk eines begabten Juweliers als wie menschli-
ches Haar. Winzige Punkte aus Gold und rotem Feuer blitzten
zwischen ihren Haaren. Sie trug ein Kleid aus scharlachroter
Seide, das ihre perfekten Beine kaum verhüllte und ihre klei-
nen, spitzen Brüste bloß ließ.

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116

Ihr Gesicht war ein Oval, blaßgolden und makellos in seiner

Perfektion, mit vollen, üppigen Lippen und einem kleinen
Kinn, das ihrem Antlitz die Form eines Herzens verlieh.

Doch ihre Augen verrieten sie. Unter fein gezeichneten

Brauen waren sie von reinem Scharlachrot: die Augen eines
Tieres, nicht die einer Frau.

Am Fuß ihres Throns hockte ein häßliches, kleines Mon-

strum, schwarz wie Ebenholz, breitschultrig, mit mächtigen
Oberarmen, krummen, knorrigen kleinen Beinen, einem häßli-
chen Gesicht, das eine zottige Mähne und ein Bart aus rötli-
chem Grau umrahmte. Auf seinem häßlichen Schädel saß eine
Krone aus Eisen.

Dies war Thog, der Häuptling der Schwarzen Gnomen und

Diener der Roten Zauberin.

Das Netz wurde von ihnen weggeschnitten, und viele kleine

Gnomen hielten ihre Arme und Beine. Man band sie mit eiser-
nen Ketten und nahm ihnen die Waffen weg, ebenso wie Cony-
ins Leier und den kleinen Beutel mit Zauber, den der junge
Magier an seinem Gürtel trug. Dann warf man sie vor ihren
Thron. All dies geschah in völligem Schweigen, während die
Zauberin mit unergründlichem Blick zusah, mit einem Gesicht,
das ohne jeden Ausdruck war.

Als sie dann sprach, mit glockenklarer Stimme, rein, süß und

verführerisch, verriet das sofort die wahre Macht, die von ihr
ausging.

»Weshalb seid ihr hierhergekommen, trotz der Warnung des

Brunnens, daß man euch gefangennehmen würde?« fragte sie
ohne Vorrede. Sie sahen einander an, und dann war es Bow-
man, der das Wort als ihr Führer ergriff, obwohl dies bislang
nie geschehen war. Doch irgendwie schien dies in diesem
Augenblick ganz natürlich.

»Weil, Lady, der Brunnen uns den Sieg versprochen hat«,

sagte er.

»Sieg!« sagte sie, und in ihrer Stimme klang Spott. »Wie

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117

könnt ihr an Sieg denken, wo ich euch alle habe? Ein Wort von
meinen Lippen, und Stahl senkt sich in das Herz des Outworl-
ders, und eure Suche ist vorbei. Denn, wie du weißt, Sodaspes,
nur ein Outworlder kann Tarandon schließen.«

Sodaspes, bleich, aus vielen Wunden blutend, sagte nichts

auf diesen Spott, oder hob auch nur den Kopf, der auf seine
Brust gesunken war. Wieder sprach Bowman für die sechs, und
seine Stimme war eigenartig ruhig.

»All dies ist sehr wahr, Lady. Und doch weiß ich irgendwie,

daß du jenes Wort nicht sprechen wirst. Oder, wenn du es tust,
daß sich das, was du wünscht, aus irgendeinem Grund nicht
ereignen wird; oder selbst wenn es das tut, daß am Ende der
Gesang sich erfüllen wird.«

Sie musterte sein Gesicht mit hellen, spottenden Augen, die

nichts Menschliches an sich hatten.

»Glaubst du das wirklich, Bowman? Sollen wir es auf die Probe

stellen? Ich kann jenen Befehl jetzt aussprechen, und das Herzblut
von Morgan Outworlder wird diesen schwarzen Spiegel des
Bodens rot beflecken. Wollen wir darauf wetten, du und ich?«

Jetzt fühlte Morgan eine Angst, wie er sie während all der

Gefahren die sie bestanden hatten, nicht gekannt hatte. Er
wagte nicht zu sprechen; er lag still und reglos da wie einer,
der bereits tot ist, und haßte sich ob seiner Furcht. Doch er
konnte nicht anders. Die ruhige Sicherheit, die in Bowmans
Stimme mitschwang, fand kein Echo in Morgans Herzen. Ihm
war nach Schreien zumute, aber er wagte nicht, sich zu bewe-
gen, oder einen Laut von sich zu geben. Irgendwie – unerklär-
lich – wußte er, daß Bowman Herr des Augenblicks war. Auch
Yakiah, die Rote Zauberin, spürte es, und es verblüffte sie.

Bowman lenkte die Rede auf einen anderen Weg.
»Du kannst den Outworlder nicht töten, Lady, so sehr du dich

auch bemühst, weil es nicht seine Bestimmung ist, an diesem
Ort zu sterben, noch die deine, ihm Unheil zu bringen«, sagte er
leise. »Und du, die du die Macht der Roten Magie beherrscht,

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118

weißt, daß man die Bestimmung nicht betrügen kann.«

Ein Anflug von Unsicherheit legte sich über ihre Züge; und

dann wurden sie wieder kalt und hart, wie eine aus Elfenbein
geschnitzte Maske; und dann wieder weich und schlau.

»Bestimmung!« spottete sie. »Weil das Gesicht im Nebel

gesagt hat, ihr werdet am Ende gewinnen? Hat das Gesicht
nicht auch gesagt, daß hinter dem Bergtor der Tod einen der
sechs erwartet? Warum sollte es nicht Morgan Outworlders
Tod sein?«

Und dann fuhr sie, ehe er antworten konnte, fort: »Und wie

kannst du sicher sein, daß das Gesicht die Wahrheit sprach?
Oder wessen Stimme durch jene Schattenmaske sprach? Viel-
leicht war es das mächtige Chaos und nicht der weise Alte
Ygg!«

Bowman gab darauf keine Antwort; es gab wirklich nichts zu

sagen. Sie konnten nicht sicher sein, daß das Gesicht zu ihnen
die Wahrheit gesprochen hatte … nur hoffen konnten sie.

Dann sprach wieder die Zauberin, und jetzt war ihre Stimme

einschmeichelnd.

»Warum quält ihr euch durch Gefahren und Unbilden, wo

doch nichts euch zwingt, diese Leiden und Lasten auf euch zu
nehmen? Woher wißt ihr, daß ihr das Tarandon-Tor schließen
könnt? Wie könnt ihr wissen, daß ihr es auch nur finden werdet
inmitten dieser Wildnis aus Felsgestein, in diesem Wald aus
Gipfeln? Und selbst wenn ihr es findet und es könnt, wißt ihr
denn, ob es klug ist, das Tor zu schließen? Eure Götter sind
einst durch das Tor auf diese Welt gekommen; vielleicht sind
sie es, die sich jetzt diesem Portal nähern und die auf diese
schöne, grüne Welt zurückkehren möchten, um ein Paradies
aus ihr zu machen? Könnt ihr sicher sein, daß dies nicht die
Wahrheit ist? Denn wenn es einmal geschlossen ist, kann das
Tor nie wieder geöffnet werden, nicht einmal dann, wenn alle
Magier dieser Welt sich dazu verbündeten.

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119

Warum fürchtet ihr das Chaos und bekämpft es? Weil es böse
ist? Aber das Chaos ist die Kehrseite der Schöpfung. Die bei-
den zusammengenommen machen das Ganze, was wir Natur
nennen. Kann eine Naturgewalt gut oder schlecht sein? Sind
denn die Gewalten, die die Welten machen und zerbrechen,
nicht über solch unwichtige Urteile erhaben, die kleine
Menschlinge in ihren kleinen Moralphilosophien erwecken? Ist
ein Stern gut oder böse – ein Wind, ein Stein, ein Tier, eine
Wolke, eine Welle?«

So floß die weiche Musik ihrer Worte weiter, bis Morgan

spürte, wie seine Aufmerksamkeit abzuschweifen begann. Es
drängte ihn danach auszuruhen; seine Arme waren taub. Der
schwarze Spiegel, auf dem er lag, war kalt. Er blinzelte ein
paarmal, um sich wachzuhalten, und entdeckte, daß sie aufge-
hört hatte zu sprechen. Sie saß reglos da wie eine Statue, starrte
auf sie herab, und ihre Macht umhüllte sie, ihre Augen flamm-
ten in der fahlen Maske ihres schönen Gesichts wie rote Mon-
de, und ein Schimmer pulsierender Macht umgab sie fast sicht-
bar; er lag wie ein schwaches Leuchten über ihrer Haut, als
wäre sie durchsichtig geworden wie eine Säule aus farbigem
Rauch, und sie konnten die sieben Chakras ihres Astralleibs
wie Flammenräder sehen.

Zu ihren Füßen kauerte wimmernd der Gnom und verbarg

seine bösen Augen. Eine Wolke pulsierender Strahlung sam-
melte sich über ihrem Kopf, Zwielicht war im Raum; grüne
Düsternis umhüllte alles. Es war, als stünde dieser Saal unter
Wasser, und das einzige Licht käme durch flüssigen Smaragd
herein. Und dann erstarb das Licht und stürzte den Raum in
schwarze Düsternis. Jetzt ging das einzige Licht von der nebel-
haften, durchsichtigen Gestalt auf dem Thron aus – von den
sieben wirbelnden Flammenscheiben, die durch ihre Gestalt
brannten wie Monde aus kriechendem Feuer durch eine Wolke.
Ein schrilles Pfeifen wurde hörbar: ein Geräusch so scharf und
hoch, daß menschliches Fleisch es kaum ertragen konnte.

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120

Argyra wimmerte und versuchte, mit den zusammengeketteten
Händen ihre Ohren zu bedecken. Sodaspes war weiß wie eine
Leiche und schwitzte, und seine Augen funkelten wie die eines
Wahnsinnigen, Schaum stand in seinen Mundwinkeln, und er
versuchte zu sprechen. Conyin lag mit dem Gesicht nach unten
auf dem schwarzen Boden und betete.

Die sieben Feuerräder wurden jetzt heller, und die Substanz

ihres Körpers verblaßte fast bis zur Unsichtbarkeit. Das Pfeifen
wurde tiefer, wurde zu einem Dröhnen. Wellen des Lichtes
gingen jetzt von der wirbelnden Wolke aus, die sich über dem
Kopf dessen, was einmal Yakiah gewesen war, versammelt
hatte; Tentakel aus wolkiger Strahlung tasteten herum, wanden
sich ineinander wie ein Nest von Schlangen.

Dann zerrten harte, schwarze Hände sie aus dem Saal, weg

von der pulsierenden Säule aus Feuerrädern und der unirdi-
schen Musik, und Morgan sank in eine Ohnmacht, die Stunden
dauerte.

Er sollte nie erfahren, was die seltsame Transformation zu

bedeuten hatte, deren Zeuge er geworden war, noch weshalb
die Hexe so eigenartig zu ihnen gesprochen hatte, noch was das
Ganze bedeutete. Nichts davon erklärt das Epos und auch nicht
die neun Kommentare, noch kann ich das, weil ich es nicht
begreife; ich kann es hier nur wiedergeben, wie es im siebten
Buch des Epos geschildert wird, und hoffen, daß klügere Gei-
ster als der meine seine Bedeutung und sein Geheimnis erken-
nen mögen.

Die Zeile, in die die Gnomendiener der Roten Zauberin sie
stießen, war geräumig und luftig, in gewissem Maß sogar
bequem. Nach all den Strapazen und Mühen der Reise war es
seltsam angenehm, in solchem Komfort Gefangener zu sein.
Eine eigenartige Stimmung der Schlaffheit hatte sie erfaßt: sie
beklagten ihren Zustand nicht, versuchten auch nicht zu ent-
kommen, da sie klar erkannten, daß dies ihre Kräfte überstieg.

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121

Sie saßen oder lagen herum, redeten träge und dösten von Zeit
zu Zeit. Die Stunden verstrichen in einem traumartigen Nebel.
Nichts schien sehr wichtig, nicht einmal die Flucht.

Weshalb die Magierin sie gefangenhielt, überstieg ihr Vor-

stellungsvermögen. Ihre Motive waren unbekannt, davon abge-
sehen, daß sie eine Jüngerin des Chaos war und daher ihrer
Suche feindlich gegenüberstand. Morgan konnte nicht begrei-
fen, weshalb man sie am Leben ließ, da, solange sie lebten, die
Flucht und die Krönung ihrer Suche, das Schließen von Taran-
don-Tor, doch noch möglich waren. Ihr Tod würde dem ein
Ende machen, und doch ließ sie sie nicht töten. Und an diesem
Punkt staunte Morgan, der wie die meisten Terraner ein Prag-
matiker war, über ihre scheinbare Ziellosigkeit, obwohl er sich
natürlich den Tod nicht wünschte.

Träge diskutierten sie Fluchtpläne. Die Tür ihrer Zelle war

mit einer Stange aus fremdartigem Metall verriegelt, aus-
gebleicht und farblos, ein Metall, das keiner von ihnen kannte.
Die Riegel waren zwei Zoll dick und wichen nicht einmal
Othgrims hünenhafter Stärke. Es gab kein Schloß an der Tür:
sie war mit Zauberei versiegelt, und der Schlüssel war ein
geflüstertes Wort.

Die Gnomen hatten ihnen all ihre Waffen und Geräte abge-

nommen. Sodaspes besaß freilich auch ohne den kleinen Beutel
mit Zauberamuletten noch gewisse Kräfte – das Wissen um
Worte und Namen – Runensprüche, für die die Stimme reichte.
Aber in ihrer augenblicklichen Not waren diese, wie er ihnen
erklärte, nicht ausreichend, um ihnen zu helfen. Auf Morgan
wirkte der junge Magier ruhig, ja phlegmatisch, ohne viel
Interesse an ihrer Zukunft, ganz in die Stimmung der Trägheit
versunken, die sie alle erfüllte.

»Wenn man sich selbst nicht helfen kann«, sagte der Magier,

»muß man auf Hilfe von draußen warten.« Aber er wollte diese
geheimnisvolle Bemerkung nicht erklären und hieß den Out-
worlder nur, er solle abwarten.

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122

Die Rote Zauberin schickte nicht wieder nach ihnen, sprach

auch nicht mit ihnen. Aber manchmal waren sie sich bewußt,
daß ihre unsichtbaren Augen auf ihnen ruhten: »Sie hat einen
Zauberspiegel«, murmelte Sodaspes träge auf Morgans Frage.
Er wußte, daß dies ein Zauberglas war, ein magischer Spiegel
irgendeiner Art, in dem sie sie sehen konnte, ohne selbst gese-
hen zu werden.

Und dann war der Augenblick ihrer Flucht plötzlich über ih-

nen, ohne die geringste Warnung. Soweit sie die Zeit in diesem
seltsamen Schloß abschätzen konnten, das jenseits des Zugriffs
der Zeit zu liegen schien, mußte das ein oder zwei Tage nach
ihrer Gefangennahme sein.

Morgan hatte ein wenig geschlafen. Plötzlich war er hell-

wach, als der Steinboden unter seiner Pritsche sich aufbäumte.
Die Luft war voll Staub und Geschrei. Gnomen huschten im
Korridor an ihrer Zelle vorbei, von Panik erfüllt kreischend.
Aus der Ferne war das Poltern von Steinen zu hören und ein
Scharren von zerbrochenen Felsbrocken, die sich an anderen
rieben. Jetzt bäumte sich der Boden wieder auf, und in der
Ferne war ein lautes Klappern zu vernehmen, und plötzlich riß
in ihrer Zelle eine Spalte auf, die vom Boden bis zur Decke
reichte.

»Erdbeben!« rief Morgan in Neoanglik aus, weil er den Aus-

druck in Cophyri nicht kannte.

Irgendwie schien Sodaspes zu begreifen, was er meinte, und

er lächelte schwach.

»Mag sein, Outworlder! Ich glaube freilich, daß es Augen

und einen Schweif hat«, sagte er geheimnisvoll.

Plötzlich erschütterte etwas die Burg in ihren Grundfesten:

das ganze Bauwerk schien zu zittern und sich zu bewegen, und
überall in den Fugen zwischen den Steinblöcken stiegen
Staubwolken auf. Wieder war aus einer fernen Halle das Klap-
pern herunterstürzender und zerbrechender Dinge zu hören,
und erneut erhob sich ein Chor heulender Gnomenstimmen.

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123

Und gleich darauf ertönte ein knatterndes Krachen, dann ein

summendes Dröhnen und ein paar betäubende Explosionen.
Blitzschläge, dachte Morgan benommen. Dann folgte ein don-
nerndes Krachen, und der Boden ihrer Zelle schwankte wie ein
Floß auf unruhiger See. Argyra taumelte durch die Staubwol-
ken auf sie zu, und der Outworlder legte den Arm um ihre
Schultern, um sie zu stützen. Selbst in diesem Augenblick der
Panik war er sich ihrer weichen Rundungen und der Wärme
bewußt, die von ihrer Nähe ausging. Und der Duft ihres Haares
stieg ihm in die Nase und ließ sein Herz schneller schlagen. Sie
sah ihn an, ein langer, seltsamer Blick, und löste sich dann aus
seinen Armen.

Der Staub legte sich. Bowman stieß einen Schrei aus, ein

wortloser Freudenruf, und deutete. Die verzauberte Tür ihrer
Zelle war aus ihren Angeln gefallen, und der Korridor lag offen
vor ihnen. Sie rannten aus der Zelle in den geneigten Gang
hinaus. Die Steine an der Decke ächzten unheilverheißend.

»Das fällt uns gleich auf den Kopf, Meister«, knurrte

Othgrim. Morgan schluckte, nickte dann und sagte: »Welche
Richtung?«

»Irgendwohin, Junge, nur los!« herrschte der alte Conyin ihn

an, und dann rannten sie den Korridor hinunter, erreichten eine
Treppe und hetzten mit verzweifelter Hast hinauf. Lärm umgab
sie jetzt von allen Seiten, wie die Geräusche einer Schlacht:
schrille Schreie, knurrende Stimmen, als hätte ein Feind die
Gnomen überfallen. Sie erreichten das nächste Stockwerk des
Schlosses, ohne entdeckt zu werden, und gelangten in eine
geräumige Halle. Einst war sie wohl prunkvoll gewesen, aber
jetzt war nur noch das Werk der Zerstörung zu sehen. Schlanke
Statuen aus durchscheinenden, milchigem Stein lagen in zer-
sprungenen Fragmenten neben ihren Sockeln, und der ganze
Boden war mit kalkigem Staub bedeckt. Wände und Türöff-
nungen waren zersprungen oder verbogen, eine riesige
Porphyrsäule war umgestürzt, und ein halber Torbogen war

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124

zerbröckelt und übersäte den Boden der Halle mit Trümmern.
Zwei oder drei Gnomen waren von den heruntergestürzten
Steinen zerdrückt worden. Der scharfe Jodgeruch von Gno-
menblut lag in der Luft und mischte sich in den beißenden
Staub.

Sie rannten durch das Trümmerfeld und erreichten eine große

Rotunde.

Dort, auf einem zersprungenen Podest, lagen zu ihrer großen

Freude, Schwert, Stab, Leier und alles, was ihnen gehörte. Ein
Zauber hatte ihr Eigentum behütet, aber ein heruntergefallener
Balken hatte den Ring aus leuchtender, roter Kraft durchbro-
chen, und so konnte man ihn durchschreiten, wenigstens sagte
Sodaspes das. Mit zitternden Händen, fürchtend, das Dach
würde jeden Augenblick in einer Steinlawine über ihnen zu-
sammenbrechen, griffen sie sich ihre Habseligkeiten und rann-
ten durch das mittlere der vier Portale, das in die Rotunde
führte, und fanden sich kurz darauf auf den Zinnen einer mäch-
tigen Mauer im Freien. Ihren Augen bot sich ein phantastisches
Bild.

Die Burg der Roten Zauberin war auf einem breiten Felsvor-

sprung erbaut, der wie eine mächtige Klippe über einen gewal-
tigen Abgrund hinausragte. Rings um sie ragten schneebedeck-
te Gipfel in das klare Licht des Morgens, rosafarben und grau,
purpurn, golden und in atemberaubendem Weiß. Nur Sitra
stand am Himmel und überflutete das reine, wolkenlose Blau
mit seinem weißen Schein. In dem grellen Licht war jede Ein-
zelheit mit kristallener Klarheit zu erkennen.

Die Burg wurde belagert. Und das, was sie belagerte, war

schrecklicher als jede Armee. Denn es war kein anderer als
Dzarmungzung selbst, der Großvater aller Drachen, der vor der
Außenmauer stand.

Bowman stieß einen Freudenruf aus, und der alte Conyin

grinste breit. Der Alte Drache hatte ihre Not erraten oder mit
seiner Magie von ihr gehört, und die mächtigste Kreatur dieser

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125

Welt hatte sich aus ihrer Lethargie gerissen und war aus den
Tiefen ihrer Unterwelt ausgezogen, um für das Licht zu kämp-
fen.

Die äußerste Mauer von Yaklahs Festung bestand aus Stein-

quadern, von denen jeder eine Tonne wog, und die Mauer war
so breit, daß zwei Männer nebeneinander auf ihr gehen konn-
ten. Aber für die Macht Dzarmungzungs war die Kraft des
Steines nichts, und so hatte der Drache sich mit seinen mächti-
gen Tatzen gegen die Mauer gelehnt und sie an zwei Stellen
umgeworfen.

Gnomen hingen von Zinnen und Dach, fuchtelten mit ihren

Steinwaffen herum und jaulten wie ein Rudel Hunde. Furcht
und Schrecken vor dem Großen Drachen erfüllten sie, und man
konnte die Angst aus ihren Stimmen hören.

Während die sechs in den von Schutt und Staub bedeckten

Hof zwischen der inneren und der äußeren Mauer strebten und
durch einen der Risse in der Mauer zusahen, ging der alte
Dzarmungzung erneut ans Werk und drückte mit dem Schädel
gegen einen Wachturm, der eine der Himmelsrichtungen be-
wachte.

Im klaren Morgenlicht schien der Alte Drache aus funkelnder

Jade zu bestehen, und die großen Hornplatten, die seinen Rük-
ken, seine Schultern und das Gesicht schützten, leuchteten wie
riesige Smaragdscheiben. Er war wie ein sich bewegender
Berg. Und jetzt drückte er mit der Stirn gegen den Turm und
beugte sich vor. Seine mächtigen Tatzen gruben sich in den
Steinboden, zerdrückten massives Gestein zu Staub; mächtige
Muskelstränge traten an seinem Nacken hervor.

Vor den Augen der sechs bewegte sich der schwere Turm

etwas, Stein scharrte an Stein; ein Regen von Staub und Fels-
brocken ging zu allen Seiten des Turmes hernieder. Und dann
fiel der Turm in großen Stücken auseinander, brach in sich
selbst ein; Gnomen sprangen wie schwarze Insekten von der
Turmspitze. Der Turm löste sich in fünf riesige Fragmente auf

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126

und fiel langsam mit einem mächtigen Krachen zusammen, das
den Boden erzittern ließ und den Himmel mit einer wirbelnden
Fontäne aus Steinstaub erfüllte.

Dzarmungzung grinste, und sein großer, horniger Kopf war

mit weißem Felsstaub bedeckt wie eine Maske. Er schien
ungeheuren Spaß zu haben.

Jetzt zog ein schriller Schrei aus unartikulierter Wut ihre

Aufmerksamkeit auf die Spitze des Mittelturms der Festung,
wo ein breiter Balkon Ausblick auf die Szene bot. In der unna-
türlichen Klarheit des weißen Tages konnten sie die winzige,
scharlachrote Gestalt in allen Einzelheiten erkennen. Die Zau-
berin stand dort, das scharlachrote Haar gelöst und ihren Kopf
wie eine Krone wildgewordener Schlangen umfliegend. Selbst
auf diese Entfernung waren ihre Augen sichtbar, rote Kreise
zuckender Flammen.

Ihre Kraft umgab sie wie ein Panzer und umflutete sie wie

ein strahlender Nimbus aus roten Flammen. Ihre eine Faust
hielt einen Stab aus goldenem Holz oder Metall; oben war der
Stab wie Schwingen geformt, die von einer Kugel aus Glas
ausgingen, in der ein Funke eines diamanthellen Leuchtens wie
ein gefangener Stern blitzte.

»Was ist das Ding?« wollte Argyra wissen.
Sodaspes warf ihr einen Blick zu und sagte: »Ihr Spreng-

stock, glaube ich; sei still, Mädchen, und sieh zu …«

Sie strich über den Stab, und plötzlich zuckte eine Kette aus

lebenden Feuern durch die staubige Luft und traf den Alten
Drachen. Die sechs zuckten unwillkürlich zusammen, als ein
Blitzschlag über den Hof peitschte. Es war ein Blitz, so uner-
träglich grell, daß die Sonne im Vergleich dazu blaß wirkte,
und die Sekunden, die der Blitz zuckend am Himmel hing,
machten den Tag selbst düster und dunkel.

Die Explosion war betäubend. Sie hallte, wie wenn ein mäch-

tiger Riese die Hände zusammenschlägt. Dann war der feurige
Blitzbogen verschwunden und hinterließ ein gespenstisches

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127

grünlich-gelbes Nachleuchten in ihren Augen. Der metallische
Gestank von Ozon hing in der staubigen Luft.

Morgan blinzelte das Nachbild weg und blickte furchterfüllt

hinüber, um zu sehen, ob ihr geschuppter, mächtiger Freund
verletzt worden war. Aber Dzarmungzung stand ungerührt da,
und seine orangefarbenen Augen blickten mild. Die älteste all
der Sprechenden Tiere von Bargelixwelt hatte große Zauber-
kraft und bezog seine Stärke aus den Granitgebeinen der Berge
und den eisernen Eingeweiden der Welt, und so etwas war für
ihn nicht mehr als ein Nadelstich.

Die Zauberin stieß einen wütenden Schrei aus. Sie hob ihre

schlanken Arme vor den flammenden Feuerschein ihres Haa-
res, um erneut zuzuschlagen. Aber jetzt stand Sodaspes mit
erhobenen Armen da, das Gesicht bleich und vor Konzentrati-
on streng blickend, und auf seiner Stirn schimmerte der
Schweiß. Langsam sammelte er seine Kräfte und sprach einen
Namen der Macht aus. Gespenstisch und rauh waren die rol-
lenden Silben jenes Namens; Kehle und Zungen von Menschen
waren nicht dafür geformt, jenen schrecklichen Namen auszu-
sprechen, und die harten Silben sogen die Kraft aus dem jun-
gen Magier, und er sackte schließlich müde in sich zusammen
und wäre vielleicht gestürzt, wenn Othgrim ihn nicht mit sei-
nen mächtigen Armen gestützt hätte.

Aber der Klang des Namens ließ den Stab der Zauberin in

ihren Händen zerbrechen. In sieben Stücke zerbrach er, und
trotz der Entfernung konnte man hören, wie er brach. Der
diamantene Funke, der in der geflügelten Kugel gebrannt hatte,
verlosch; die Kugel brach vom Stab und fiel, zerklirrte auf dem
steinernen Rand der Balustrade.

Yakiah kreischte! Sie warf die Arme hoch und stieß einen

schrillen, schrecklichen Ruf aus. Und dann zerbröckelte mit
donnerartigem Grollen der Balkon und stürzte in die Tiefe, ein
Katarakt aus Felsbrocken wie eine kleine Lawine. Die Frau war
plötzlich verschwunden, vielleicht unter den Steinen begraben.

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128

Der Fall der Hexe, ihrer Herrin, brach den Mut der Gnomen.

Von Panik erfüllt, rannten sie hin und her, verließen die Mau-
ern, warfen die Waffen weg und huschten durch das Steinge-
wirr. Alle, ausgenommen der schwarze Thog. Er klammerte
sich an die Fenstermündung, vor der einmal der Balkon gewe-
sen war, von dem aus die Zauberin ihre feurigen Blitze nach
Dzarmungzung geschleudert hatte. Als er die sechs im Hof
unter sich erblickte, ballte er die knorrige Faust und schüttelte
sie in stummem Haß nach ihnen.

»Ist sie tot?« fragte Morgan. Conyin sah ihn mit kalten Au-

gen an.

»Tot, wie? Nun vielleicht … und vielleicht auch nicht. Jene,

die so hoch im Dienst des Chaos und der Alten Nacht aufstei-
gen, sind nicht leicht zu töten. Und wenn sie einmal tot sind,
bleiben sie selten lange tot. Fürwahr, manchmal muß man sie
immer wieder töten, in jedem Äon …«

Und dann gingen sie über den Hof zu Dzarmungzung, der

damit beschäftigt war, den nächsten Turm umzuwerfen.

Er entdeckte sie durch die Staubwolken, und sein herzlicher

Gruß dröhnte ihnen entgegen.

»Hoh! Sind das nicht die kleinen Menschlinge? Bei meinen

Hörnern, und ich hatte schon gedacht, der alte Dzarmungzung
müßte diesen hübschen Palast zur Hälfte umstürzen, um euch
zu finden! Nun denn, Kind«, knurrte er, und seine Augen such-
ten Argyra, zu der ihn besondere Zuneigung zu erfüllen schien,
obwohl es gerade die Kriegsmaid gewesen war, die ihm mit
dem Schwert in den Schwanz gestochen hatte – »Nun, hat nicht
Yggs Brunnen die Wahrheit gesprochen? He? Magier! Es hat
mir viel Freude bereitet, zu sehen, wie du mit deiner Kraft den
Stab jener Hexe zerbrachst. Ja, fürwahr, diese Berge werden
wieder freier atmen, wo sie nicht mehr ist und die Luft nicht
länger verpesten kann. Möge sie tausend Jahre nicht mehr
erwachen!«

Er drehte sich etwas zur Seite, hielt inne, zog seinen Schweif

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129

durch all den Schutt an sich heran und demolierte verspielt ein
weiteres Mauerstück mit einem Prankenschlag. Mit großer
Befriedigung sah er zu, wie das Mauerwerk in sich zusammen-
sank.

Und dann: »Ah, nun, das sollte genügen, was, ihr Menschlin-

ge? Alte Knochen wie die meinen sollten alle paar hundert
Jahre einmal ein wenig bewegt werden, ist es nicht so? He!
Hrrumph. Nun denn, Kind, sieh zu, ob du und deine Kamera-
den nicht auf dieses breite Stück zwischen den Schultern des
alten Dzarmungzung klettern könnt, eh? Und dann wollen wir
alle gemeinsam zum Tarandon-Tor gehen und es schließen, ihr
und ich, und ihr sollt die Hälfte des Weges bequem auf mir
reiten!«


8.

Eines mußte Morgan zugeben, wenn man schon auf eine Suche
gehen mußte, dann war es besser, dies auf dem Rücken des
Großvaters der Drachen zu tun als zu Fuß. Das behäbige, alte
Reptil schlenderte dahin, plauderte dabei mit seiner tiefen,
dröhnenden Stimme, und seine krummen Beine fraßen trotz
seines ungeheuren Gewichts die Meilen in sich hinein, und die
Entfernung schrumpfte so schnell, daß sie es kaum bemerkten.

Angesichts seiner Leibesfülle brauchte er eine ziemlich breite

Straße und wählte sich daher die Kammlinie der Bergkette. Sie
waren jetzt weit über dem Meeresspiegel und hatten eine gehö-
rige Distanz zurückgelegt. Morgan hätte gestaunt, wenn man
ihm gesagt hätte, wie weit sie gereist waren, seit sie an jenem
lang vergessenen Morgen Kargonessa verlassen hatten. In
dieser Höhe war die Luft klar und trocken und sehr kalt, und
sie ritten zwischen den Schultern Dzarmungzungs, die wie
schuppige Hügel waren, und hatten sich eingehüllt in ihre
Umhänge und in Decken. Nach einer Weile schlief der Out-

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130

worlder ein und selbst in seinem Traum klang die angenehm
dröhnende Stimme des Alten Drachen, der freundlich mit
Argyra und Bowman plauderte.

Als dann der Alte Drache plötzlich haltmachte, weckte ihn

das auf. Er blinzelte, wachte auf und starrte auf ein phantasti-
sches Bild, das sich ihm bot. Vor ihnen, auf der anderen Seite
eines riesigen Abgrunds, türmte sich ein mächtiger Berg in die
Höhe. Man konnte nicht sagen, wie hoch er war, aber er schien
höher als jeder Everest auf der alten Erde, höher selbst als
Mount Albright auf Centauruswelt war er, und mit silbernem
Schnee bis zu seinem gehörnten Gipfel bedeckt.

»Und da ist sie, Menschlinge«, sagte der Drache: »Die Mut-

ter aller Berge.«

Neben dem Outworlder faltete Sodaspes die Hände und

hauchte einen magischen Namen.

»Tarandon …«
Morgan musterte den Berg aus zusammengekniffenen Au-

gen. Er türmte sich vor ihnen auf, ungeheurer, als je ein Berg
sein sollte, unglaublich riesig, den halben Mittagshimmel mit
seinen mächtigen Hängen erfüllend. Ganze Wälder bedeckten
seine Flanken, Hügel und Schluchten. Morgans Herz drohte zu
stocken, als er die Höhe und die gewaltigen Ausmaße sah.

»Ist … ist er das?« murmelte er. »Aber … Wie sollen wir das

je ersteigen?«

Der alte Conyin kniff die Augen zusammen, um sie vor dem

grellen Widerschein der endlosen Schneefelder zu schützen,
knurrte und stieß dann hervor: »Wir brauchen ihn nicht ganz zu
erklettern, nur ein Stück – dort, diese Höhlenmündung bei der
scharfen Bergspitze im Süden! Siehst du sie? Diese schwarze,
dreiecksförmige Öffnung? Das ist der Weg, der zu dem Portal
führt, wenn die alten Legenden nicht lügen.«

»Wir brauchen ihn überhaupt nicht zu ersteigen«, ereiferte

sich Argyra und deutete hinüber. »Seht ihr? Dort führt eine
Steinbrücke über den Abgrund zu diesem großen Felsbrocken.

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131

Von dort bis zur Mündung der Höhle scheint es nicht weit zu
sein.«

Vielleicht waren Bowmans Augen schärfer als die der

Kriegsmaid, oder er verstand sich besser darauf, Entfernungen
abzuschätzen. »Das ist weiter als es scheint, Herrin«, sagte er
mit seiner leisen, ruhigen Stimme. »Und der Hang vom Ende
der Brücke zur Höhlenmündung ist steil und schneebedeckt
und gefährlich.«

Sie zogen weiter, und am Ende stellten sie fest, daß für den alten
Dzarmungzung der Weg jetzt zu Ende war, denn von der Stelle
aus, die sie erreicht hatten, wurde der Pfad für ihn zu schmal. Es
war auch gut so, daß sich ihre Wege hier trennten, denn am
Ende würden sie ohnehin auseinandergehen müssen: niemals
würde er die Steinbrücke überqueren können, die den mächtigen
Abgrund von einem Berg zum nächsten überspannte. Denn die
war so eng gebaut, daß nur ein Mann auf ihr gehen konnte, und
so würden sie hintereinander hinübergehen müssen.

So verabschiedeten sie sich hier von Dzarmungzung, an einer

Stelle, wo der Platz für ihn noch ausreichte, daß er sich umdre-
hen und zurückgehen konnte. Es war ein ernster Abschied,
denn nach dem, was sie aus dem Brunnen gehört hatten, stand
ihnen noch große Gefahr bevor, ehe sie ihr Ziel erreichten.
»Gefahr und Finsternis und Tod«, hatte das Gesicht im Nebel
versprochen. Und so gab es einige unter ihnen, die den alten
Dzarmungzung nie wieder erblicken würden.

Argyras Abschied war voll Liebe. Die Kriegsmaid brach in

Tränen aus und schlang die Arme um das mächtige Kopfhorn
des Alten Drachen und sagte ihm, er solle gut auf sich aufpas-
sen und sich vor den Gnomen hüten. Seine großen Augen
blinzelten ihr freundlich zu, und er gab beschwichtigende
Geräusche von sich, oder versuchte das wenigstens, weil sie
nur als ohrenbetäubendes Schnauben herauskamen.

»Geh nur zu, Kind, und vielleicht wird der alte Dzarmung-

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zung noch nicht umkehren, sondern hier warten und vielleicht
ein kleines Nickerchen machen. Bei meinem uralten, zarten
Schweif, all die Anstrengung hat mich müde gemacht, und so
werde ich eine Weile schlafen, bis ihr alle zurückkehrt, denn
auf diesem Weg müßt ihr wieder kommen – es gibt keinen
anderen …«

Und sein mächtiger Rachen öffnete sich weit in einem er-

schütternden Gähnen, so daß man seine großen Fänge und
Hauer sehen konnte, wie mächtige Stalagmiten in einer uralten
Höhle.

So zogen sie alleine weiter, und ehe eine Biegung im Weg

ihnen die Sicht nahm, blickten sie zurück und sahen, daß die
großen, feurigen Lampen seiner Augen geschlossen waren. Der
Großvater aller Drachen schlief tief, dort auf dem Schnee des
Gipfels der Welt.

Zwei Stunden, oder auch ein wenig mehr, arbeiteten sie sich

langsam und mühsam über den Felspfad hinauf, an den Fuß der
steinernen Brücke, die den Abgrund überspannte.

Und dann nahm Thog Rache …

Von irgendwo aus dem Nichts brach eine heulende Horde
Schwarzer Gnomen über sie herein. Sie arbeiteten sich gerade
auf einem schmalen Felssims auf die Brücke zu, als es geschah.
Auf der einen Seite ragte eine steile Klippe weit über ihnen
auf; auf der anderen stürzte die Welt ab in einen düsteren,
schwindelerregenden Abgrund. Und da ging plötzlich ein
Sturm steinerner Geschosse auf sie nieder. Steinäxte und Spee-
re mit Steinspitzen klapperten gegen die Felswand. Conyin
taumelte, Blut strömte ihm über die Schulter, und er wäre
gestürzt, hätte der mächtige Othgrim nicht den Arm ausge-
streckt, ihn am Umhang gepackt und ihm Halt gegeben.

Die Gnomen waren über ihnen am Bergkamm, und ihre

schwarzen Köpfe säumten den blauen Mittagshimmel, und sie
hatten keine andere Wahl als zu rennen.

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Und so rannten sie über den schmalen Felssims, wo ein ein-

ziger Fehltritt den schrecklichen Absturz in einen schnellen
Tod auf den Felsen in der Tiefe bedeutete; rannten, während
rings um sie feuergespitzte Pfeile in einem klappernden Schau-
er niedergingen. Einer prallte von Argyras kleinem Schild ab,
den sie sich über den Kopf hielt; ein anderer zupfte am Saum
von Sodaspes’ Kutte und fetzte einen langen Riß in das grobe
Gewebe, fügte ihm aber zum Glück nur einen leichten Kratzer
am Bein zu.

Morgan rannte keuchend, denn in dieser dünnen Luft bereite-

te jede Anstrengung Mühe. Bowman war vor ihm, und wäh-
rend sie rannten, schrie Morgan die Frage, ob sie wohl die
Brücke noch rechtzeitig erreichen würden.

»Wenn nicht, sind wir alle tot«, knurrte Bowman.
Aber schließlich hatten sie den Felssims hinter sich, und kei-

ner von ihnen war ernsthaft verletzt. Vor ihnen war die Brücke.

Und ebenso die Gnomen und Thog selbst, die bärtigen Lippen

in einem Wolfsgrinsen zurückgezogen, so daß man die schmut-
ziggelben Stummel seiner verfaulten Zähne sehen konnte.

Sie hatten keine andere Wahl als den Angriff, und so griffen

sie an. Othgrim an der Spitze, den mächtigen, eisenbeschlage-
nen Stab schwingend, zur Linken und zur Rechten mit jedem
Schlag grauhaarige Schädel spaltend.

Bowman und Argyra eilten ihm zur Seite und ließen die Seh-

nen ihrer Bogen schwingen. Weiße und schwarze Pfeile pfiffen
abwechselnd über den Mittagshimmel, durchbohrten Leder und
Fleisch. Die Gnomen fielen und glitten über den Abgrund, um
in der Tiefe zu verschwinden.

Morgan und Conyin waren jetzt mitten unter ihnen, und

Morgan schwang sein Schwert und schlug und hieb nach allen
Seiten, bahnte sich seinen Weg durch das knurrende Pack
kleiner, schwarzer Geschöpfe. Sie klammerten sich an seine
Schenkel, seine Knöchel, bissen mit scharfen Fängen nach ihm,
versuchten, ihn in die Tiefe zu ziehen. Aber die scharfe Klinge,

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die Tasper ihm vor so vielen Tagen gegeben hatte, verließ ihn
in dieser Stunde der Gefahr nicht. Sie schnitt und hieb und
hinterließ eine rote Spur in der Luft.

Und dann war plötzlich der Weg irgendwie frei. Othgrim

stand auf der Brücke, winkte ihnen zu, und Morgan stürzte sich
hinter ihm her, dicht gefolgt von Conyin und Sodaspes, wäh-
rend Argyra und Bowman mit ihren Bogen die Nachhut sicher-
ten.

Und jetzt kam Morgans Zeit des Schreckens.
Er hatte das noch nie jemandem gesagt, aber er fürchtete sich

vor Abgründen. An hohen Stellen überkam ihn Schwindel, und
jetzt mußte er diese schmale Felsbrücke über den Abgrund
gehen.

Man stelle sich vor: die Brücke maß von einem Rand zum

anderen zweieinhalb Fuß, und es gab kein Geländer. Schnee
bedeckte das glatte, ausgetretene alte Gestein und machte jeden
Schritt gefährlich. Zu beiden Seiten gähnte ein schwindelnder
Abgrund. Während sie sich vorsichtig, Zoll für Zoll, weiterar-
beiteten, erwachten die mächtigen Winde und fegten lachend
um sie, zerrten an ihren Kleidern, zupften an ihrem Haar, trie-
ben ihnen das Wasser mit ihrem eisigen Atem in die Augen, bis
sie kaum sehen konnten, wohin sie den Fuß setzen sollten. Und
im Griff jener kalten, heulenden Winde schwankte die Brücke
ganz leicht hin und her.

Alle Kraft verließ seine Beine. Jeden Augenblick konnte er

fallen, und es würde fast eine Freude sein, loszulassen, zu
taumeln, in die Tiefe zu stürzen und diese Tortur nicht länger
ertragen zu müssen.

Seine Augen tränten, so daß er seine Umgebung nur wie

durch einen Schleier wahrnahm. Aber er wagte es nicht, die
Augen zu reiben, auf daß die Gewichtsverlagerung sein
Gleichgewicht nicht störe.

Er ging weiter, irgendwie, Schritt für Schritt, obwohl er lie-

ber gestorben wäre. Er wollte weinen, schreien – irgend etwas

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135

tun, nur um diese unerträgliche Spannung zu mildern, und den
Druck loszuwerden, der auf ihm lastete.

Aber er ging weiter, taumelnd, benommen, fast blind und von

Furcht gepackt, weiter, irgendwie, sich mit ausgestreckten
Armen Gleichgewicht schaffend, die Phantome seiner alten
Angst von sich treibend, die in seinem Bewußtsein heulte und
kreischte, mit seiner ganzen Seele dagegen ankämpfend.

Und dann, nach einer Ewigkeit, spürte er, wie Othgrims

mächtige Hand sein Handgelenk packte und ihn auf die Knie
niederzog. Und er wußte jetzt, daß alles vorbei war, daß er den
Abgrund sicher überquert hatte und sich auf der breiten ge-
schützten Felsnase befand.

Würgend übergab er sich, während der große Othgrim ihn

festhielt und ihm auf die Schultern klopfte, verblüfft von der
Qual seines Herrn, das Schreckliche nicht begreifend, das
dieser erduldet hatte.

Und dann, wieder mit klarem Verstand, die Tortur hinter

sich, spürte Morgan, wie ein grenzenloses Staunen über ihn
kam, Staunen darüber, daß er es geschafft hatte und nicht
abgestürzt war. Schwach wie Wachs lag er in Othgrims mäch-
tigen Armen und wußte, daß ihm nie wieder, ganz gleich, was
noch an Schrecklichem vor ihm liegen mochte, eine ähnlich
heroische Tat wie das Überqueren der Brücke abverlangt wer-
den würde.

Er wusch den säuerlichen Geschmack mit Wein aus

Othgrims Bündel aus seinem Mund, ruhte eine Weile aus und
fühlte sich bald wieder wohler.

Jetzt waren sie am Ende, schwer geprüft, und vielleicht würden
sie nicht weitergehen können.

Einer nach dem anderen kamen sie sicher über die Brücke,

aber jetzt stand ihnen Schweres bevor.

Bowman hatte einen Gnomenpfeil durch die Schulter be-

kommen und lag mit weißem Gesicht, Blut spuckend im

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136

Schnee. Eine der großen Arterien, die zu seinem Herzen führ-
ten, war von dem Pfeil getroffen worden, und er konnte nicht
weitergehen.

Auch Conyin war getroffen. Es war sein Herz. Der alte Mann

hatte sich abgemüht, mit ihnen Schritt zu halten, aber die dün-
ne, kalte Luft dieser Höhen reichte nicht aus, und sein Herz
hatte auf die einzige Art protestiert, die es kannte, und das war
Schmerz. Mit weißem Gesicht, die Augen stumpf und glasig,
war der alte Barde so weit gegangen wie er konnte. Jetzt war er
am Ende seiner Kräfte.

Und die Gnomen überquerten die Brücke.
Mit kurzen Schritten kamen sie über den Abgrund, so sicher

wie Katzen, und Argyra hielt sie mit ihren Pfeilen zurück. Aber
die weißen Geschosse in ihrem Köcher waren schließlich
ausgegangen, und sie benutzte bereits die schwarzen Pfeile aus
Bowmans Köcher. Bald kam die Zeit, wo auch sie zu Ende
waren.

Und dieses Ende war jetzt sehr nahe.
Othgrim stand am Fuß der Brücke und hielt sie, als der erste

der Gnomenhorde auf ihn zuhuschte. Dann fegte er sie eine
Weile, den mächtigen Stab mühelos schwingend, in den Ab-
grund. Anschließend stand er wieder da, lehnte sich auf den
Stab und wartete, daß andere ihren Mut oder ihre Wut so weit
anstachelten, daß sie den Angriff wagten und versuchten, den
Abgrund zu überqueren.

Conyin und Bowman konnten nicht mehr kämpfen, und auch

Argyra war dem Ende ihrer Kräfte nahe. Die wackere Kriegs-
maid besaß allen Mut der Welt, aber selbst die Stärksten und
Tapfersten müssen einmal der Natur ihren Tribut zollen. Und
sie gehörte einem Volk an, das im Flachland lebte: ihre Lungen
waren nicht dafür geschaffen, diese dünne, trockene Luft zu
atmen. So lag sie benommen, mit stumpfen, glasigen Augen
da, und ihre jungfräulichen Brüste wogten verzweifelt, lechzten
nach Luft. Morgan wußte, daß jede weitere Anstrengung ihren

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Tod bedeutete.

So hielten er und Othgrim und Sodaspes die Brücke gegen

die Gnomen. In den Kampfpausen schleppten sie ihre gestürz-
ten Kameraden in Sicherheit, wo es für sie etwas besser war.
Sie würden von der Kälte sterben, wenn nicht an ihren Wun-
den, falls man sie nicht gleich vor den Winden schützte. Zum
Glück gab es an dem Abhang zahlreiche kleine Höhlen, und in
die beste dieser Höhlen, die, die sie vor dem Wind schützen
konnte, zerrten sie die Gestürzten, und Sodaspes, dem Ende
seiner Kräfte selbst nahe, machte ein magisches Feuer, um sie
zu wärmen. Sie packten ihre Bündel aus, hüllten sie in Decken
und Häute und betteten sie so weich sie konnten. Conyin gaben
sie starken Wein, unverdünnt mit Wasser, und ließen ihn schla-
fen. Für Bowman konnte der müde, ausgepumpte Sodaspes nur
wenig tun, aber jenes Wenige tat er und zog schließlich den
Pfeil aus seiner Schulter, obwohl er seine ganze magische
Kunst aufbieten mußte, um die rote Fontäne zu stillen, die aus
der durchschnittenen Arterie schoß. Schließlich lag der Magier,
vor Erschöpfung geschwächt, da und konnte sich nicht mehr
bewegen.

»Ah, laß ihn hier schlafen, Meister«, dröhnte Othgrims

Stimme. »Du und ich, wir können die Brücke gegen dieses
Geschmeiß halten, wenn nötig bis zum Ende aller Zeiten.«

»Nein, du mußt sie alleine halten«, ächzte eine schwache

Stimme hinter ihnen. Sie drehten sich um, und es war Conyin;
der alte Barde war dem Ende nahe, aber seine müden Augen
strahlten. »Du mußt weitergehen, Morgan, und den Jungen
zurücklassen, um den Weg zu halten. Wir haben nichts davon
gesagt, Morgan, weil wir nichts tun konnten. Aber die Zeit ist
jetzt sehr nahe. Du mußt jetzt alleine weitergehen, Morgan, und
das Tor so schließen, wie Sodaspes es dir gezeigt hat, denn uns
bleiben nur noch Stunden, mußt du wissen.«

Morgan fühlte sich hilflos, benommen; er stammelte.
»A… aber … kann Othgrim die Brücke halten? Und wie lan-

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ge? Und wenn er fällt, dann werden sie – dann werden sie
hierherkommen und euch alle hinschlachten, so wie ihr da-
liegt«, sagte er.

Doch Conyin brachte kein Wort mehr hervor; er schlief, den

weißen Kopf auf Felle gebettet, das faltige Gesicht vom Feuer-
schein beleuchtet.

Jetzt sprach Bowman. Seine Stimme war ein Flüstern blutlo-

ser Lippen.

»Du mußt jetzt weiterziehen, Morgan, alleine, wie der Sänger

es sagt. Wir haben alles getan, was wir konnten, um dich an
diesen Ort zu bringen. Und jetzt mußt du uns unserem Schick-
sal überlassen und zum Tor gehen. Wenn Othgrim fällt und wir
sterben, nun, dann macht das nichts … solange nur du lebst,
um das Tarandon-Tor zu schließen.«

Hilflos, unfähig Worte zu formen, wandte sich Morgan von

ihnen ab. Othgrim blickte mit sanften Augen aus seinem brei-
ten, lächelnden, gebräunten Gesicht auf ihn herab. Er schlug
Morgan verlegen auf die Schultern.

»Du hast sie gehört, Meister, also geh nur weiter und laß

Othgrim hier«, sagte der Hüne. »Ich glaube, ich kann die Brük-
ke lange halten. Geh nur und tue das, wozu du hierhergekom-
men bist … Nein! Sag nicht, daß du mich nicht hier zurücklas-
sen kannst, Meister, denn das kannst du.«

Die klaren Augen des Hünen blickten plötzlich verträumt.
»Ich glaube, ich weiß jetzt, warum die Götter wollten, daß

ich mitkomme. Darüber habe ich viel nachgedacht. In den
Nächten – warum gerade ich auf dieser Suche mitziehe und
nicht irgendein Lord oder Weiser Mann. Warum ich? Ich tauge
zu nicht viel, aber stark bin ich, und kämpfen kann ich gut.
Und ich glaube, ich kann eine ganze Menge töten. All die
anderen, nun, die haben auch alle ihren Zweck, daß sie hier
sind. Der Zauberer da, nun, die haben ihn gebraucht, damit die
Hexe stürzte, dort in ihrer Burg, denke ich, damit sie den Alten
Drachen nicht töten konnte. Und den Sänger haben sie ge-

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braucht, damit er mit dem Reitervolk redet, weißt du? Und die
Herrin hier«, sagte er und lächelte liebevoll Argyra zu, die um
Atem ringend dalag und sie beobachtete und auf das lauschte,
was sie sagten, »nun, ich glaube, die haben sie gebraucht,
damit wir damals an den hundsköpfigen Vögeln vorbeikamen
auf den Klippen, erinnerst du dich? Und den Bowman auch. Er
hat den Waldhexer im Wald verjagt und uns Gastrecht von den
Waldlern verschafft, als wir es brauchten. Und du, Meister, du
bist der Tatenmeister der Suche, und nur du kannst das Tor
schließen!«

Seine klaren, gelben Augen blickten freundlich auf ihn.
»Und ich? Nun, ich glaube, ich bin mitgekommen, um dies

hier zu tun: Um hier zu stehen und die Brücke zu halten, solan-
ge ein Mensch sie halten kann und vielleicht ein Stückchen
länger. Sonst kann keiner das tun, außer mir, und das ist der
Grund, daß ich hier bin. Ist doch klar, oder?«

Morgan versuchte, etwas zu sagen, aber die Worte wollten

sich nicht einstellen. Othgrim legte eine mächtige Pranke auf
seine Schulter und drückte sanft.

»Geh du jetzt, Meister, tu, was nur du tun kannst und laß

mich hier, um das zu tun, wozu ich bestimmt bin.«

Und der Hüne ging wieder hinunter, um seinen Posten am Fuß

der Brücke einzunehmen, denn die Gnomen hatten sich gegen-
seitig zu neuer Wut angestachelt und schwärmten jetzt über den
Bogen aus Stein. Othgrim nahm einen Schluck Wein, spülte sich
den Mund damit aus und schluckte ihn dann hinunter.

Er spreizte die Beine, bis er sicher stand, spuckte sich dann in

die großen, roten Hände, umfaßte den eisenbeschlagenen Stab
fester und wartete auf die ersten der kreischenden schwarzen
Horde. Er sah sich nicht um, während Morgan stolpernd und
weinend den schneebedeckten Abhang hinaufkletterte und
schließlich verschwand. Er holte tief Luft, schwang den Stab
ein paarmal und wartete dann auf den Angriff. Er war sehr
glücklich.

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140

9.

Wie er es schaffte, würde er wohl nie wissen, aber am Ende
schaffte er es jedenfalls. Der Abhang war sehr steil, und der
Schnee lag dick und weich darauf, über den kantigen Steinen,
und unter dem Schnee lag Eis. Er glitt viele Male aus und
glaubte manchmal, daß er für jeden Meter, den er weiterkam,
drei zurückrutschte. Bald sah er selbst wie ein Gebilde aus
Schnee aus, weiß von Kopf bis zum Fuß und von der Kälte
taub.

Bowman hatte recht gehabt. Es war viel schwerer, als es aus-

sah.

Aber er hatte keine andere Wahl als weiterzugehen. Dort hin-

ten starben in diesem Moment vielleicht seine Freunde, um ihm
diese wertvollen Minuten zu verschaffen. So trieb er sich wei-
ter, wühlte sich mühsam durch die dichte weiße Schneedecke,
glitt immer wieder auf dem Eis aus, grub die Hände in den
Schnee, um wieder ein paar Zoll weiterzukommen.

Die Luft war sehr dünn und trocken, und seine Kehle brann-

te. Sein Herz mühte sich qualvoll, trommelte gegen seine Rip-
pen, aber irgendwie schaffte er es, auf den Beinen zu bleiben.

Die Tränen waren schon lange auf seinem Gesicht gefroren.

Er konnte jetzt nicht mehr weinen. Aber es gab noch Zeit, um
um Othgrim zu weinen – den hünenhaften, dummen, ehrlichen,
wackeren Othgrim! –, wenn all dieser weiße Schrecken vor-
über war und die Welt entweder gerettet oder dem Untergang
geweiht war. Jetzt konzentrierte sich sein ganzes Bewußtsein
auf einen einzigen Punkt: Er mußte den Fuß auf den nächsten
Stein setzen, den Ellbogen auf jenen kleinen Vorsprung stüt-
zen, sich hochstemmen und den Körper nachziehen, bis er das
Knie in jene Spalte zwängen konnte; dann einen Augenblick
ausruhen, während sein Herz schlug und der Schädel ihm
kreiste, und es dann wieder tun. Und wieder. Und wieder.

Er war jetzt sehr weit oben, dachte er vage, während er aus

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zusammengekniffenen Augen auf den schwachen Nebel der
Welt darunter blickte. Wahrscheinlich war noch kein anderer
Mensch von Bargelix so hoch über der Meeresfläche gewesen,
seit diese Welt erschaffen wurde, dachte er. Wenn die Luft klar
gewesen wäre, wenn seine Augen nicht mit Schneekristallen
bedeckt und vom grellen Schein der Sonne auf die Schneefel-
der halb geblendet gewesen wären, hätte er wahrscheinlich bis
Thoor sehen können, bis zur Felsmauer vielleicht, möglicher-
weise sogar bis zu den Flüsternden Ebenen, wo die Wilden
Reiter herrschten.

Er fragte sich, warum gerade er auserwählt war, es zu tun. Er

war kein Bergsteiger, kein starker Mann und mochte die Höhen
nicht. Er war sein ganzes Leben noch nie so weit oben gewe-
sen. Er mußte eine Meile hoch sein, dachte er, und vielleicht
mehr. Benommen fragte er sich, weshalb er in dieser Höhe
atmen konnte, denn die Luft war sehr dünn und rein, bitterkalt,
wie die Schneide eines Messers in seinen Lungen. War es, weil
er ein Raumer war, gewöhnt, dünne Luft zu atmen? fragte er
sich. Das mochte es sein.

Dann erinnerte er sich an das, was Sodaspes gesagt hatte.

Tage oder Wochen lag das zurück, in dem Gasthof in Strye. Sie
hatten einen Geas auf diesen Ort gelegt, auf die Kaverne des
Tores; kein Mann von Bargelixwelt konnte es durchqueren, es
war stärker als ein bloßes Tabu, etwas, das in das Blut und die
Gene der Menschen dieser Welt eingeprägt war und ihnen den
Zutritt verbot. Er, ein Outworlder, konnte hineingehen. Ihn
berührte der Geas nicht.

Aber jetzt hatte er lange genug ausgeruht. Es war Zeit, den

Kampf wieder aufzunehmen.

Nach einer langen Zeit lag er benommen da und wußte, daß er
nicht weiterklettern konnte.

Ihm war jetzt so kalt, daß er seine Füße nicht mehr fühlen

konnte und seine Hände nicht, und sein ganzes Gesicht war

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eine einzige betäubte Maske. Er würde hier sterben, dachte er,
erfrieren, nie wissend, wann die Welt endete. Es war nicht
schwer, das zu tun; es würde überhaupt nicht weh tun. Der
Schnee war dick und weich, und seine Kälte war für ihn Wär-
me geworden. Es würde genauso sein, wie wenn er einschlief,
vielleicht der leichteste aller Tode. Zu schlafen und die Welt
verlassen … Er hatte getan, was er konnte. Schließlich war er
nur ein Mensch, kein Held, und so würde er hier sterben …

Was nun bedeutete, daß Othgrim für – für gar nichts? –

starb?

Der Gedanke durchfuhr ihn wie ein elektrischer Schock. Er

taumelte weiter, zornig über sich selbst, über seine Schwäche
und das, was er für seine Feigheit hielt. Er trieb seine tauben
Glieder weiter, zwang sie zur Bewegung, obwohl es so leicht
gewesen wäre, einfach dazuliegen, umhüllt von einer weichen,
weißen Decke, und den Tod kommen zu lassen. Er mühte sich
weiter.

Und entdeckte, daß er nur noch zwei Meter unter der Kaver-

ne des Tores war!

Großer Arion, zu denken, daß er beinahe aufgegeben hatte –

so nahe dem Ende der Reise!

Sich selbst verfluchend, vor Schmerz schluchzend, quälte er

sich über den breiten Steinsims vor dem Eingang. Er blieb
liegen, keuchte, klammerte sich an dem vom Wind freigefegten
Stein fest und starrte empor zu der dreieckigen Mündung der
Kaverne.

Ein Felsvorsprung schützte ihn vor dem schlimmsten Wind.

Entweder deswegen, oder wegen einer seltsamen Wärme, die
von dem Steinsims selbst ausging, tauten seine benommenen
Glieder langsam auf, und er fühlte, wie ihn wieder warmes Blut
durchpulste. Er zerrte sich zu dem schwarzen Eingang, mühte
sich, sich aufzusetzen, den Rücken gegen die Felsmündung zu
stützen, öffnete mit klammen Fingern sein Bündel und holte
Essen und Trinken heraus.

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Es war nur getrocknetes Fleisch, ein paar Stücke Käse und

ein paar Brocken trockenes, hartes Brot und ein Schlauch mit
starkem Wein, aber er fühlte sich ausgehungert, erschöpft und
benommen, fast am Rand seines Leistungsvermögens. Und die
einfache Nahrung schmeckte unbeschreiblich herrlich. Heiß-
hungrig würgte er es hinunter, trank gierig von dem starken
Wein und lehnte sich dann zurück und spürte, wie wieder
Kräfte in ihn zurückfluteten, bis er sich stark genug fühlte
aufzustehen.

Jetzt war es also fast vorbei. Ein seltsamer Gedanke! Er war

so weit gekommen, hatte so viele Wunder gesehen, so viele
Gefahren bestanden; und jetzt war das alles fast vorbei. Ver-
träumt starrte er in den Dunst; es war inzwischen Nachmittag,
dachte er vage, und die Schatten über der Welt wurden bereits
wieder länger. Wie weit er doch gekommen war, seit … Wie
lange war es her? Wie lange lag jener Morgen in Taspers Halle
auf Kargonessa zurück, als er in die hellen, furchtlosen Augen
des jungen Sodaspes geblickt und seine Botschaft gehört hatte?
Er zählte die Tage und staunte – nur zehn Tage von jenem Tag
bis zu diesem! Dabei kam es ihm eher wie ein Monat vor;
sicher war es ein Monat gewesen! So viel war geschehen, und
so weit waren sie gekommen.

Er dachte zurück, erinnerte sich an den hellen Morgen in

Kargonessa, das Gesicht mit dem Earl im Garten und später
mit dem fetten, schläfrigen Vater Ormaldus. Und dann, wie er
über den Gelben Drachenfluß gezogen war, mit dem wortkar-
gen Othgrim und dem jungen Magier, in die Kneipe, wo Cony-
in betrunken auf sie gewartet hatte.

Eine nach der anderen flackerten die Szenen jenes Abenteu-

ers durch seine Erinnerung: die Dämmerung in dem kleinen
Fischerdorf, die Flüsternden Ebenen, die er auf dem Rücken
eines Lopers durchzogen hatte; der Regen, die Mahlzeit unter
den Sternen, und das große Feuer im Lager des Reiterlords.
Dann jener lange Ritt über die Ebene, zum Fuß der Felsmauer,

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der Aufstieg und der Angriff der Senmurven, die Höhle, der
Felssims dahinter, und Argyra … Argyra … Und jene Nacht
auf den grasbedeckten Ebenen von Thoor, am Rand von
Grymwood.

An alles erinnerte er sich: Argyra nackt im Fluß, der grinsen-

de, kleine Derynigol, der schwarze Pfeil, und Bowman, stumm
und grimmig, auf der anderen Seite des Flusses. Jene Nacht mit
den Waldlern unter den mächtigen Zweigen von Iornungand,
dem Vater der Bäume … die kalkigen Hügel, die Schwarzen
Gnomen, die Höhle, die ihnen in jener Nacht Unterschlupf
gewährt hatte, und der Abstieg durch die unterirdische Welt in
Dzarmungzungs Tiefen … der Brunnen der Weisheit, und
Yakiah, und Othgrim an der Brücke … zehn Tage, zehn Tage!
Nur zehn Tage, und sie hatten einen halben Kontinent durch-
quert, um eine Welt zu retten!

Als er sich ausgeruht und seine Kräfte wiederhergestellt hatte,
erhob er sich und schickte sich an, weiterzugehen. Sein Bündel
ließ er an der Mündung der Höhle. Niemand würde es hier
stören, denn niemand außer ihm konnte diesen Ort betreten.

Die Mündung der Kaverne des Portals war dreißig Fuß hoch,

verengte sich wie eine Pfeilspitze von einer breiten, flachen
Basis zu einem zugespitzten Bogen weit über seinem Kopf. Die
Mündung der Kaverne schien zu regelmäßig, um ein Werk der
Natur zu sein, und doch bezweifelte er, daß hier Menschenhand
am Werk gewesen war.

Fremdartige Zeichen waren an den Wänden angebracht, tief

in das uralte Felsgestein von Tarandon eingegraben. Ihre Be-
deutung konnte er nicht einmal erahnen. Er trat ein und stand
eine Weile bewegungslos da, während seine Augen sich nun an
die Finsternis anpaßten.

Der Boden der Kaverne war glatt wie polierter Stein, und

auch dies war unnatürlich. Hinter ihm ein Dreieck aus dunkler
werdendem Blau, von Rot durchzogen, weil die Höhlenmün-

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145

dung nach Westen blickte, wo die Zwillingssonnen langsam in
einem Glorienschein der Flammen hinter dem Horizont ver-
sanken. Das rötliche Licht hüllte ihn ein und spiegelte sich an
Rundungen von poliertem Stein. Morgan erkannte jetzt etwas
beunruhigt, daß die Kaverne des Portals ganz und gar künstlich
geschaffen war, von Intelligenz geformt und nicht von der
blinden Natur, denn das Dach der Kaverne weit über ihm wur-
de von mammutartigen Säulen gestützt.

In doppelter Reihe, in ihrem Umfang den Stämmen eines

mächtigen Waldes aus versteinerten Redwoods gleich, er-
streckten sich die Säulen bis in die Dunkelheit hinein: rötliches
Licht schimmerte in der spiegelgleichen Politur des Steinbo-
dens, und in dem schwachen Schein konnte er den Weg vor
sich sehen, klar und unbehindert. Er trat in die dichter werden-
den Schatten hinein, und bald war sein Weg nicht mehr zu
erkennen, dennoch ging er weiter.

Ihm schien, als ginge er Stunden. Sicher war es draußen inzwi-
schen Nacht geworden, in der Welt jenseits dieses Ortes.

Außer dem Geräusch seiner Schritte und dem Schlag seines

Herzens war kein Laut zu hören. Schwarzes Schweigen hatte
sich um ihn geschlossen, und er begann, jedes Zeitgefühl zu
verlieren.

Die Kaverne mußte tief in das Herz von Tarandon hineinfüh-

ren. Jene Mutter der Berge mußte sogar noch gigantischer sein,
als er gedacht hatte; der Name Gipfel der Welt paßte gut, dach-
te er.

Er ging den endlosen Korridor von Säulen entlang, immer

tiefer in das schwarze Herz des mächtigen Berges hinein. Ein
oder zweimal blieb er stehen, um sich umzublicken, aber dann
war ihm jedesmal, als griffe eine eisige Hand nach seinem
Herzen, als er erkannte, wie klein der dreiecksförmige Eingang
geworden war. Er war jetzt auf die Größe seines Fingernagels
zusammengeschrumpft – und dann auf einen schwachen, win-

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146

zigen Lichtpunkt, ein Atom rötlichen Leuchtens in einer hal-
lenden Unendlichkeit völliger Schwärze. Als er sich das letz-
temal umgesehen hatte, hatte er den Ausgang überhaupt nicht
mehr sehen können. War er meilenweit gegangen, oder beweg-
te er sich vielleicht in irgendeiner seltsamen Zwischenwelt,
einer fremden Dimension, in die er irrtümlich geraten war? Er
wußte es nicht.

Aber er sah sich nicht wieder um.
Und dann, nach einer Zeit, die ihm endlos vorkam, entstand

vor ihm ein schwaches Leuchten. Es war von düsterem Blau,
eine sich bewegende, saphirfarbene Strahlung.

Als er dann weiterging, wurde es vor ihm immer heller.
Jetzt schimmerte es schon auf den groben Säulen; dann glit-

zerte es im polierten Boden unter seinen Füßen. Er bewegte
sich jetzt auf einem Pfad aus blau glitzerndem Feuer, wie
Mondlicht, das einen silbernen Pfad über dunkle Wasser be-
schreibt.

Dann sah er das Portal und blieb, vor Ehrfurcht ergriffen,

davor stehen, jenem mächtigen Wunder aus blauer Flamme.

Vor ihm war eine Scheibe aus poliertem Stein in den Boden

eingelassen. Und darüber eine weitere, von kleinerem Umfang,
und darüber eine dritte: ein Podest, kreisförmig, mit drei Stufen.

Und darüber – das Portal ins Jenseits!
Man stelle sich einen großen ovalen Ring aus dunklem Kri-

stall vor, fünfzig Fuß hoch und dreißig Fuß von einer Seite zur
anderen durchmessend … wie die Schleife eines Schleifen-
kreuzes, des uralten ägyptischen Symbols des ewigen Lebens

Und zwischen den Seiten jenes glitzernden Kristallrahmens

gewoben, es von Seite zu Seite füllend, von unten bis oben,
wogte ein Gewebe aus saphirnem Licht … ein Gewebe aus
blauen Flammen!

Flammen, die dauernd in Bewegung waren, sich unablässig

in konzentrischen Ringen bewegten, wie Wellen, die über die

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Fläche eines schwarzen Tümpels dahinziehen … Flammen, die
wogten, ein Film aus azurfarbenem Licht, das sich in einem
Wirbel immer weiter werdender Ringe bewegte.

An jenem blauen Schein war etwas, das den Augen Schmerz

bereitete, sie blinzeln ließ, und Nadeln aus stechendem
Schmerz in das Gehirn hinter den Augen trieb. Er ignorierte es,
starrte tief in den Wirbel fahlblauen Leuchtens.

Es zog ihn an!
Er spürte einen Augenblick übelkeiterregenden Schwindels.

Eine schreckliche Desorientierung im Raum, so als ob »oben«
plötzlich »unten« geworden wäre.

Als ob das Portal, statt aufrecht vor ihm zu stehen, in Wirk-

lichkeit ein Brunnenschacht wäre, über den er sich lehnte …
und als winkten ihn die kreisenden Wellen aus blauem Licht
hinunter in Tiefen und Fernen, die unvorstellbar waren.

Mit einem heiseren Schrei riß er den Blick von der Übelkeit

erregenden Vision und starrte zu Boden, keuchend, mit wild
schlagendem Herzen, bis der Schwindel nachließ.

Dann hob er die Augen und blickte auf den Hebel.
Es war ein einfacher Schaft aus leuchtendem Kristall, der im

rechten Winkel aus einem Schlitz oben aus dem Podest ragte.

Und dies war das Ende der Suche.
Es war eigenartig, dieses Gefühl der Enttäuschung. Es blieb

kaum noch etwas zu tun. Die letzte Aufgabe war so einfach,
daß er sich irgendwie auf unbestimmte Art betrogen fühlte.
Dies war keine große, heroische Tat, es galt nur, einfach einen
Hebel umzulegen. Das hatte nichts Dramatisches an sich, nicht
mehr, als wenn man eine offene Tür schließt. Dabei hatte es
nichts zu besagen, daß die Tür in das wogende, urtümliche
Chaos zwischen den Dimensionen von Raum und Zeit führte,
oder daß die Tür vor einer Million Jahren offen gelassen wor-
den war, und daß die letzte Hand, die den Hebel berührt hatte,
die eines unsterblichen Gottes gewesen war, wenn man die
geheimnisvollen Yokannagötter wahrhaftig unsterblich nennen

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148

konnte.

Trotzdem, es war eine sehr kleine Tat, die es zu tun galt.
Und so ging er mit diesem seltsamen Gefühl der Enttäu-

schung die drei Kristalltreppen hinauf, bis er vor dem ungeheu-
ren Oval stand, über das beständig Wellen gespenstischer
blauer Flammen zogen, griff nach dem Kristallstab, der sich
kalt anfühlte und an seiner Handfläche ein prickelndes Gefühl
erzeugte, und legte ihn um.

Einen Augenblick lang änderte sich nichts.
Dann …
Plötzlich beschleunigte sich der gleitende Rhythmus des

blauen Gewebes aus leuchtenden Flammen zu einem unerträg-
lichen Vibrieren. Der mächtige Torbogen war plötzlich eine
solide Masse aus blauer Flamme – blendend, unerträglich, die
konzentrierte Essenz azurfarbener Brillanz!

Tausend Nadeln blauer Agonie stachen in seine Augen –

bohrten sich in sein Gehirn, durchführen es, und er schrie laut.
Er drückte die schmerzenden Augen zu und preßte die Knöchel
in die Augenhöhlen, um jenes brennende Bild blendenden
Feuers zum Erlöschen zu bringen.

Und ebenso schnell, wie es zu voller Brillanz aufgeflammt war,

verblaßte der blaue Glorienschein aus Licht … verblaßte zu einem
Gespenst des Lichts … wurde schwächer … und ging aus!

Schwärze senkte sich auf die Halle der mächtigen Säulen

herab, tiefe, vollkommene Schwärze.

Der Schmerz wich langsam von seinen Sehnerven, und die

gelben Gespenster wurden vor seinen schmerzenden, tränenden
Augen dunkler, bis rings um ihn nur noch unbeleuchtete Dü-
sternis war.

Vorsichtig streckte er die Hand aus und berührte den Kristall-

rand des Portals; er war kalt und tot.

Vorsichtig tauchte er die Hand in den Raum, in dem sich das

Gewebe aus schwachem blauen Feuer bewegt hatte, spürte dort
aber nichts als Luft. Und so war es geschehen. Es war vorbei

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149

und vorüber. So einfach war das!

Und die Welt war gerettet.
Ganz plötzlich überkam ihn ein Gefühl unendlicher Müdig-

keit.

So müde war er, daß er sich setzte, daß er völlig unpassend

auf der obersten Stufe jenes eine Million Jahre alten Tors
zwischen den Universen Platz nahm und den Kopf auf die
Hände stützte.

Morgan Outworlder hätte jetzt einen Tropfen Wein ge-

braucht. Aber der Wein war in seinem Bündel, weit entfernt,
und er mußte durch jene lange Halle der Säulen zurückgehen,
um an sein Bündel zu kommen. Er war sehr müde.

Vielleicht schlief er eine Weile, dort am Fuß des Tarandon-

Tores, das zu schließen er um die halbe Welt gezogen war.

Jedenfalls erhob er sich nach einer Weile – Arion alleine

wußte, wie lange es gedauert hatte – und setzte sich benom-
men, unsicher in der Schwärze, die nach dem Tod des blauen
Flammengeflechts gekommen war, wieder in Bewegung, zu-
rück den langen, hallenden Weg.

Im Berg war es jetzt schwarz wie der Tod. Aber er ertastete

sich seinen Weg, indem er mit den Fingerspitzen an den glat-
ten, glasigen Steinsäulen entlangfuhr. Ein oder zweimal kam er
vielleicht vom Wege ab und einmal stieß er gegen eine Säule
und schlug sich die Stirn an. Aber er ging weiter, mit langsa-
men, schleppenden Schritten.

Jetzt war alles vorbei. Dabei hatte er die Empfindung, daß es

schwieriger sein mußte, die Welt zu erretten. Dann erinnerte er
sich an etwas, was Sodaspes vor Tagen und Tagen gesagt hatte:
Etwas von einem Opfer, das die Suche von ihm forderte, zu-
mindest hieß es so, denn, wenn man Gefahren, Strapazen und
Furcht nicht als Opfer bezeichnet, hatte er keines gebracht.

Er ging weiter, und nach langer Zeit erreichte er schließlich

wieder den Eingang.

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Die Nacht mußte sich über die Welt gesenkt haben, denn als er
auf den Felssims jenseits der Höhlenmündung hinaustaumelte,
herrschte völlige Dunkelheit. Er hatte im Innern der Kaverne
jedes Zeitgefühl verloren. Stunden oder Tage konnten vergan-
gen sein, ohne daß er sie gezählt hatte.

Es war sehr dunkel, und es war auch kein Mond zu sehen.
Er ruhte sich auf dem Felssims aus, trank die klare, kalte Luft

in sich hinein und spürte den Wind im Gesicht.

Dann drangen undeutliche Schritte im Schnee an sein Ohr,

und er richtete sich auf. Das konnten nur schwerlich seine
Freunde sein, dachte er, denn die lagen jetzt verletzt, ermüdet
oder tot viel weiter unten. Aber es konnte die Vorhut der
Schwarzen Gnomen sein … Nun, wenn sie es waren, so hatte
das wenig zu sagen; das Geas, das weltweite Tabu, beschützte
diesen Ort immer noch vor allen, die keine Outworlder waren.
Er konnte sich in den Eingang zurückziehen und dort vor je-
dem Angriff sicher sein. Aber er rechnete kaum damit, daß die
Schwarzen Gnomen es wagen würden, diesem Ort nahezu-
kommen.

Dann hörte er die klare, silberne Stimme Argyras, und das

Herz hüpfte ihm vergnügt im Wissen, daß das Mädchen in
Sicherheit war.

»Hallo, Outworlder«, rief sie. »Du lebst noch! Ist dann die

Tat getan?«

»Sie ist getan, Argyra, und das Tor ist für immer dem Chaos

verschlossen«, erwiderte er. »Aber was ist mit unseren Gefähr-
ten? Haben sie die Gnomen abgewehrt, oder ist noch Gefahr?«

»Die Gnomen sind abgeschlagen«, rief sie zurück. »Wie

schade, daß wir dem starken Othgrim nicht gegen sie helfen
konnten.«

Ein Gefühl der Niedergeschlagenheit überkam Morgan.
»Ist er …«
»Lange hat er die Brücke gegen sie gehalten und seine Her-

ausforderung gegen sie hinausgeschrien und ihren Mut belei-

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151

digt und sie immer wieder aufgefordert, doch mit ihm zu
kämpfen«, sagte sie mit hohler Stimme. »Immer wieder kam
ein Rudel der schwarzen kleinen Bestien heulend über den
schmalen Steg, und jedesmal hat Othgrim mit seinem mächti-
gen Stab unter ihnen gewütet. Aii, zu Dutzenden hat er sie
niedergeschlagen. Und doch kamen sie immer wieder, und er
wurde sehr müde, und keiner von uns hatte die Stärke, sich
neben ihn zu stellen und ihm bei seinem letzten Kampf zu
helfen. Am Ende …« Ihre Stimme erstarb.

»Sprich, Argyra! Was geschah am Ende?«
»Am Ende wagten sie nicht wieder, gegen ihn anzutreten. Sie

wußten nicht, daß er auf den Tod müde war, und sie wußten
nicht, wie sehr seine Wunden ihn geschwächt hatten. Denn
wisse, Outworlder, daß er, obwohl schon drei Pfeile in seinem
Fleisch steckten, er immer noch dastand und ihnen den schma-
len Pfad versperrte. Ich weiß nicht, von wo er die Kraft bezog,
um immer noch zu stehen, während sein Herzblut verströmte,
aber er blieb stehen, und seine Stimme war stark und ruhig wie
immer.«

»Wie hat es … geendet?«
»Sie hatten Angst, noch einmal gegen ihn anzutreten, denn

sie sagten, er sei ein Gott und kein Sterblicher, denn noch nie
hätte es einen sterblichen Menschen gegeben, der so schreck-
lich kämpfen und töten konnte wie er. Thog, ihr Prinz, tobte
vor Wut und verfluchte sie und schlug mit seinem Schwert um
sich und tötete einige von ihnen, aber selbst ihre Furcht vor
Thog reichte nicht aus, um sie noch einmal über die Brücke zu
treiben, in Reichweite jenes tödlichen Stabes. Das Ende von
alledem war, daß Thog alleine gegen den wackeren Othgrim
antrat. Er war mächtiger als die anderen seiner Art, und seine
Wut und sein Zorn trieben ihn fast in den Wahnsinn. Und doch
verlor er seine Schlauheit nicht und bewaffnete sich mit einer
schweren Axt, mit der er Othgrims Stab beiseite wischen und
ihn vielleicht sogar zerschlagen konnte.«

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Ihre Stimme war jetzt schwächer geworden, und Morgans

Herz schmerzte vor Angst vor den Worten, von denen er wuß-
te, daß sie jetzt kommen würden.

»Und so brach er den Stab und schlug den Stummel aus

Othgrims Händen und dann warf Thog sich mit einem wilden
Schrei auf unseren Kameraden, der jetzt mit bloßen Händen
gegen ihn kämpfen mußte. Die schreckliche Axt schwang sich
glitzernd in die Höhe und fuhr wieder herunter und spaltete
Othgrims Brust. Es war ein Schlag, der jeden geringeren Mann
augenblicklich gefällt hätte, und doch lebte Othgrim noch
einen Augenblick, und in dem Augenblick warf er sich nach
vorne und packte Thog mit seinen mächtigen Händen und
drückte ihn gegen seine gespaltete Brust, und ein schrecklicher
Schrei ging von Thog aus und hallte bei den Gnomen wider,
die sich auf der anderen Seite zusammendrängten, während
Othgrim und der Gnomenprinz, einander mit den Armen um-
fangend, in den Abgrund stürzten und für immer verschwan-
den.«

Schweigen. Dann fragte Morgan: »Was folgte dann?«
Argyra sagte: »Der Weg war nicht länger bewacht, aber der

Fall ihres mächtigsten Kriegers nahm den Schwarzen Gnomen
den Mut, und sie flohen heulend und versperrten nicht länger
den Weg. Und so kam es, daß ich, als ich meine Kraft wieder-
gewonnen hatte, hierher kletterte, um zu sehen, ob du noch
lebtest und ob die Suche erfüllt war.«

»So ist es, Argyra«, sagte er.
»Dann Heil dir, o Morgantyr! Unser großer Freund ist nicht

vergebens gestorben!« rief sie, und ein Prickeln durchlief ihn
bei dem Namen, den sie ihm so verliehen hatte. Und dann
wurde ihm klar, daß er wahrhaftig den Namen des Helden
gewonnen hatte, der so selten verliehen wird. Und er wußte,
daß er von diesem Augenblick an als Morgantyr bekannt sein
würde.

Gerecht schien das nicht, dachte er. Er hatte wenig erlitten,

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153

während Othgrim bis zum Tod und darüber hinaus gekämpft
hatte, und Bowman verwundet, vielleicht tödlich verletzt, unter
dem Schneehang lag. Warum sollte er alleine den Namen des
Helden tragen?

»Willst du jetzt nicht heruntersteigen und zu uns kommen, o

Morgantyr?« fragte Argyra. »Oder bist du zu müde oder hast
dich vielleicht an jenem verbotenen Ort verletzt?«

Er zwang sich zu einem Lachen.
»Ich bin müde genug, aber noch ganz. Und doch meine ich,

daß ich warten sollte, bis es dämmert, Argyra, denn ich möchte
nicht noch einmal, und diesmal in der Finsternis der Nacht,
jenen trügerischen Abhang in Angriff nehmen!«

Wieder herrschte Schweigen. Dann rief sie. »Aii! O Morgan-

tyr! Dann hast du jenen finsteren Ort des Schreckens nicht
unverletzt verlassen!«

Er wollte sie schon fragen, was sie meinte, aber als er dann

einen Schritt vortrat, spürte er den warmen Schein der Zwil-
lingssonnen auf seinem Gesicht, und plötzlich war ihm die
schreckliche Wahrheit bewußt. Denn obwohl er die Sonnen
fühlen konnte, sah er sie nicht.

Und für ihn war für immer die Nacht über die Welt gekommen.
Und das war das Opfer …

10.

Der Himmel erhellte sich plötzlich im weißen Schein der Mor-
gendämmerung, als Sitra über den Rand der Welt aufstieg und
Land und See mit Licht überflutete. Weiße Vögel sangen ihr
klagendes Lied und kreisten über den schlammig braunen
Wellen des Gelben Drachenflusses und stiegen in die Höhe, um
die hochragende Felsinsel von Kargonessa zu umkreisen, die
sich hoch vor dem strahlenden Morgenhimmel auftürmte, dort
in der mächtigen Bucht, wo der braune Fluß sich ins grüne

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154

Meer ergoß.

Riesige Wellen brachen sich donnernd an ihrem felsigen

Sockel, und weißer Gischt krachte über die Felsen und Docks,
wo die hohen Schiffe von Arthex und Sarcola und Phuol und
dem fernen Jhandalmar vor Anker lagen.

Auf den Kais rannten finster blickende Seeleute mit geteer-

tem Haar und nach Bier riechendem Atem herum. Magere
Bettler flehten aus Türnischen um Almosen, und schmutzige
Kinder rannten zwischen den Ballen und Kisten hin und her,
die aus den Rümpfen der Schiffe entladen worden waren.

Und auf der anderen Seite des Gelben Drachenflusses, wo die

Küsten von Azam braun und grün vor dem Horizont sichtbar
waren, ruderten die Fischerleute von Strye langsam in ihren
Hafen, die schweren Netze mit dem Fang des Morgens gefüllt.

Es war alles sehr schön.
Morgantyr konnte von all dem nichts sehen, obwohl er auf

einer hohen Zinne aus grauem Stein stand, die über die grünen
Wasser des Iophanischen Meeres aufragten.

Aber den klagenden Ruf der weißen Vögel konnte er hören und

sich vorstellen, wie sie kreisten und hochstiegen und dann mit
ausgebreiteten, reglosen Flügeln im Morgenwind dahinglitten.

Und den frischen Salzduft des offenen Meeres konnte er rie-

chen und den zu Kopf steigenden Geruch der Gewürze von den
Docks, in denen sich Teer und Farbe und Segelleinwand
mischten. Das Krachen der schaumigen Brandung gegen die
Felsen der Insel drang an seine Ohren und das Ächzen der
Segel und heisere Stimmen von den Docks. All das konnte er
sich ausmalen, wie es gewesen war, als er es zum letztenmal
sah. Für ihn würde sich davon nichts mehr ändern. Kargonessa
würde stets so bleiben, wie es vor Jahren gewesen war.

Seine Gedanken wandten sich verträumt der langen Reise zu.
Um die halbe Welt waren sie gezogen, um an den Abhang von
Tarandon zu gelangen, während einer weiterzog, um das Tor

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155

des Verderbens zu schließen. Durch Gefahren und Schlachten,
vorbei an Feinden und Tieren, waren sie von Strye zum Sha-
mandur gezogen. Und am Ende hatten sie gesiegt.

Und in jener seltsamen Art und Weise, in der alle Geschöpfe

von Bargelixwelt irgendwie miteinander verbunden sind, wuß-
ten alle Menschen von ihrem Sieg. So war der Weg zurück,
ebenso lang wie vorher, sicher. Die Gnomen verbargen sich
unter den tiefen Wurzeln der Berge und belästigten sie nicht;
der alte Dzarmungzung begrüßte sie mit ernster Höflichkeit
und führte sie durch sein Reich. Nirgends auf ihrer langen
Reise drohte ihnen Gefahr: die Senmurven kamen nicht hervor,
um sie anzugreifen. Die Waldler von Grymwood begegneten
ihnen ehrerbietig und gaben ihnen ein Gastmahl und hießen sie
willkommen. Sie waren auf ihrer Reise langsam zu jenem Ort
der Ruhe gezogen, denn Bowman war dem Rand des Todes
sehr nahe gekommen und war vom Blutverlust schwach wie
ein Kind. Sie mußten langsam und vorsichtig gehen, weil
Morgantyr seine Augen nicht gebrauchen konnte.

Sie rasteten lange bei den Waldlern und gewannen ihre Kräf-

te zurück. Conyin war wieder ganz der alte, als sie die Höhen
hinter sich gelassen hatten, ebenso übellaunig und streitsüchtig
und dem Trunk ergeben wie zuvor. Denn jetzt war er ein gro-
ßer, siegreicher Held.

Der Weg von Grymwood zu den Flüsternden Ebenen war

kein leichter. Argyra ging an der Seite Morgantyrs, stets zur
Stelle, um seine Schritte zu lenken und ihre jungen Kräfte
einzusetzen, um ihn zu stützen, wenn er müde wurde. Denn er
brauchte eine Weile, um sich daran zu gewöhnen, daß er jetzt
in einer Welt ewiger Dunkelheit lebte, und es gab Zeiten, da
die Furcht vor der Finsternis und die Angst vor der Einsamkeit,
die die Finsternis mit sich brachte, ihn überkam, und dann
weinte er im Schlaf. Aber sie war immer zugegen, um ihn zu
trösten. Und es dauerte nicht lange, bis er sich an das Leben in
der Dunkelheit gewöhnt hatte und sich nicht mehr fürchtete.

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Wie erobernde Helden wurden sie begrüßt. Unter den Klip-

pen erwarteten sie die Wilden Reiter und grüßten sie mit mäch-
tigen Willkommensrufen. Lopers standen bereit, und sie ritten
quer über die Ebenen ins Lager der Reiter, umgeben von einer
Ehrengarde. Und während jenes wilden Rittes, sangen die
Krieger Lieder von alten Helden und fabelhaften Siegen.

Selbst Strye, als sie schließlich die Ufer des Gelben Drachen-

flusses erreichten, grüßte sie voll Ehrfurcht. Argyra sagte
Morgantyr, wie die einfachen Fischerleute stumm, mit entblöß-
ten Köpfen, dastanden, als sie an ihnen vorüberritten, und wie
einige niederknieten, um sie zu ehren, und wie die Frauen
ihnen ihre Kinder entgegenhielten, so daß sie künftig sagen
konnten, sie hätten die Helden von Tarandon-Tor gesehen.

Sodaspes lächelte spöttisch, als sie das Ufer erreichten. Denn

als er Wochen zuvor hierhergekommen war, hatte es dort nur
einen jungen Burschen gegeben, der bereit war, ihm ein Boot
zu vermieten. Und jetzt wetteiferten hundert Fischer um die
Ehre, sie zur Kargoninsel zu rudern!

Sie überquerten den braunen Fluß, jeder von ihnen in einem

Boot für sich, und sie mußten für die Kargonesen wie eine
Invasionsflotte gewirkt haben, als sie mit Morgantyr an der
Spitze über das Wasser kamen.

Earl Tasper Kargonlord erwartete sie am Kai, und mit ihm

sein ganzer Hof. Schweigend standen sie in ihrer prunkvollen
Kleidung in der Sonne, und als die Fischerleute dem Morgantyr
halfen, den Kai zu ersteigen, ging Tasper vor ihm auf die Knie
und mit ihm all die anderen Lords. Sie knieten auf beiden
Knien, in der Begrüßung, die sonst nur Kaisern zuteil wird. Als
er sie aufstehen hieß, zogen sie die Schwerter und hoben sie
mit einem weithin hallenden Schrei zum Himmel, so daß die
Seevögel in wirbelnden Wolken aufstiegen.

Und so hatten sie Morgantyr wieder nach Kargoninsel zu-

rückgeleitet.

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Einen Monat wohnten die Helden in Taspers Hallen und wur-
den mit großen Ehrungen überhäuft. Aber dann zogen sie, einer
nach dem anderen, in ihre Heimat zurück: Bowman, um sich
wieder den Waldlern von Grymwood anzuschließen, und So-
daspes, um wieder seinen Platz unter den Magierbrüdern von
Babdaroul einzunehmen.

Doch Conyin blieb in Kargonessa. Das rauhe Volk der Insel

gefiel ihm, und er war damit beschäftigt, ein großes Lied von
ihrem Abenteuer zu verfassen, und dazu würde er Jahre brau-
chen.

Doch ehe die Gruppe auseinanderging, kam eine Deligation

des Hohen Rates der Gemeinschaften, wie es sie seit sieben
Jahrhunderten nicht mehr gegeben hatte. Sie knieten vor Mor-
gantyr nieder, wo er auf seinem hohen Thron saß, neben dem
Stuhl von Tasper selbst, und nicht weniger hoch, und flehten
ihn an, ihnen zu sagen, welchen Titel oder welche Ehre sie ihm
anbieten sollten. Morgantyr verkündete würdig, daß der Hel-
denname, mit dem alle Leute ihn jetzt ansprachen, Ehre genug
sei. Aber wenn sie ihm noch mehr Ehre erweisen wollten, so
sollten sie von Tasper und seinem Volk den Fluch des Paktbre-
chers nehmen und sie wieder in die Bande der Gemeinschaft
aufnehmen. Und so geschah dies mit großem Pomp und unter
viel Zeremonie. Und nie wieder sollten die Bewohner von
Kargoninsel von der Gemeinschaft von Bargelixwelt getrennt
werden. Darüberhinaus verlangte er keine andere Ehre.

Und dafür, wenn für keine andere Tat, würden die Menschen

von Kargoninsel ihn stets lieben und verehren.

Er sog die würzige Seeluft tief in seine Lungen und lächelte,

spürte das Sonnenlicht auf seinem Gesicht und den rauhen,
porösen Stein der Balustrade unter seinen Händen. Es war gut
zu leben und unter Freunden zu sein und nach mächtigen Taten
auszuruhen. Er war lange in den schwarzen Räumen, zwischen
den weit verstreuten Sonnen des Weltraums gewandert, weit
war er gezogen von der Welt seiner Geburt, und war zu einer

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fernen Welt gelangt, die nur wenige Angehörige seiner Rasse
bisher besucht hatten. Und hier hatte er sein Zuhause gefunden.

Er vermißte sein Augenlicht nicht. Er war sehr glücklich.

Und dann hörte er Schritte und das Rascheln eines langen
Gewandes. Er war neugierig – einen Sinn hatte er verloren,
aber all die anderen waren wie zum Ausgleich schärfer gewor-
den. Er drehte sich um und lächelte einer zu, die er nicht sehen
konnte, von der er aber wußte, daß sie dort stand.

Eine weiche, süße Stimme sagte: »Du bist früh aufgestanden,

mein Ehemann, mein Lord.«

»Ja, meine Liebe«, sagte er. »Aber ich liebe den Morgen so.«
Und dann streckte er die Hand aus und spürte schlanke,

warme Finger, die sich um die seinen schlossen. Und dann
gingen er und seine Frau Argyra hinein, um mit ihren Söhnen
das Frühstück einzunehmen.


ENDE














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NACHWORT DES AUTORS

Für diejenigen, die solche Dinge wissen möchten, will ich
sagen, daß dieser Roman ein Band in einer Folge von Bänden
ist, die ich »Geschichten des Großen Imperiums« nennen
möchte.

Andere in dieser Folge bereits veröffentlichte Romane sind

The Man Without a Planet (Der Mann ohne Planet) und Star
Rogue
(Meister der Sterne).

Im Gegensatz zu einer Serie wie Asimovs FoundationErzäh-

lungen oder Fritz Leibers Stories von Fafhrd und dem Grauen
Mausling hat die meine weder ein zusammenhängendes Thema
oder einen Handlungsrahmen, der die verschiedenen Bände zu
einem Ganzen verbindet, noch eine kontinuierliche Folge von
Personen. Tatsächlich sehe ich in ihr eher eine Sequenz als eine
Serie. Und das aus gutem Grund. Die einzelnen Bände haben
ihre eigene Handlung, ihre eigenen Personen und stehen in
keiner besonderen Beziehung zueinander, abgesehen davon,
daß sie einen gemeinsamen Hintergrund historischer und
galaktografischer Daten besitzen.

Man erwartet nicht von Ihnen, daß Sie sie in chronologischer

Reihenfolge lesen: tatsächlich können Sie das nicht einmal,
wenn Sie es wollen, weil ich sie nicht in dieser Reihenfolge
schreibe. Die Magier von Bargelix, das Buch, das von den drei
bislang erschienenen das jüngste ist, ist chronologisch das
früheste.

Natürlich soll jeder Roman für sich alleine bestehen, und es

ist nicht erforderlich, daß Sie, der Leser, die anderen Bücher
gelesen haben, um dieses hier zu verstehen oder Spaß daran zu
haben.

Was künftige Bücher in der Sequenz angeht, so kann ich da-

zu nicht viel sagen. Für jedes einzelne davon gibt es ein Exposé
– wenn nicht auf Papier, dann doch immerhin in meiner Vor-
stellung – aber es scheint mir unklug, sie hier zu diskutieren

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oder auch nur aufzulisten.

Warum? Dafür gibt es zwei Gründe. Zum einen weiß ich

zwar, was ich in künftigen Jahren gerne schreiben möchte, aber
meine Pläne können sich jederzeit ändern, wenn mir neue
Ideen in den Sinn kommen. Und dann ist da noch ein anderer
Grund: Ein Autor handelt nicht frei, sondern ist in gewisser
Weise den Wünschen seiner Verleger unterworfen. Wenn ich
jetzt das Buch ankündigen würde, das ich Galactic Agent
nenne, oder das, welches Empire of Stars heißen soll, oder
wieder ein anderes mit dem Namen Between Galaxies oder The
Mischief-Makers
, dann wäre das voreilig und unklug. Ich kann
nicht sicher sein, daß ich einen Verleger finde, der bereit ist,
irgendeines dieser Bücher anzunehmen. Da Verleger gelegent-
lich eigensinnig und pervers sind, ist es schon vorgekommen,
daß sie ›nein‹ gesagt haben. Selbst die Titel könnten sich än-
dern, was als traditionelles Vorrecht der Verleger gilt. Und so
kann ich im Augenblick nur sagen, daß die Sequenz, so wie ich
sie mir jetzt vorstelle, aus nicht weniger als acht bis zwölf
Bänden bestehen und etwa zehntausend Jahre zukünftiger
Geschichte umspannen sollte.

Übrigens, es liegt mir fern, mir nicht zukommendes Lob auf

mich zu ziehen, und ich darf daher darauf hinweisen, daß die
Idee, eine Folge von Erzählungen verschiedener Art zu schrei-
ben, die sich über eine zukünftige Geschichte der Menschheit
erstreckten, nicht gerade von mir stammt. Robert A. Heinlein
tat das zum erstenmal in den vierziger Jahren mit einer Serie,
die er durchaus passend als »The Future History Series« be-
zeichnete. Ich hoffe, daß niemand mir ein Plagiat vorwerfen
wird, wenn ich zugebe, daß ich diese grundlegende Idee von
ihm ausgeborgt habe – die Idee von Erzählungen, die vor ei-
nem sich kontinuierlich entwickelnden Hintergrund histori-
scher Ereignisse aufgebaut sind. Mir schien die Idee sehr inter-
essant, und ich habe sie schamlos übernommen und sie für
meine eigenen Zwecke benutzt. Aber ich möchte hier erklären,

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161

daß Robert Heinlein derjenige war, der als erster daran dachte.
Sonst habe ich von seiner berühmten Serie nichts geborgt; ich
hoffe, er wird mir diesen kleinen »Diebstahl« nicht verübeln.

Dieser Notiz füge ich eine chronologische Tafel bei, die die

Anordnung der historischen Ereignisse darstellt, die in Die
Magier von Bargelix
erwähnt wurden, ebenso wie die Daten
der anderen Bücher, die bereits erschienen sind.

– Lin Carter –

























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162

Chronologie der wichtigsten historischen

Ereignisse, die in diesem Roman

erwähnt wurden.

Anno Jahr des

Schilderung der Ereignisse

Domini Imperiums

3063 Das Jahr 1

Gründung des Ersten Imperiums

des Imperiums

durch den Imperator Arion I.

(3181)

118

Morgan wird im Centaurus-

System

geboren.

(3215)

152

Politische Unruhen auf den
Arcturus-Planeten. Die
Semnedarjunta ergreift die
Macht auf Trasna. Die »Frei-
heitsunruhen« führen zum
Einsatz der Flotte. Mardax
Imperator erklärt die Zen-
tralistenpartei als ungesetz-
lich. Morgan im Exil; er er-
reicht die Sierrasterne und
trifft im fünften Jahr der
Kaiserherrschaft Mardax’ auf
Bargelix ein.

(3217)

154

Die Suche der sechs Helden
und die Schließung von
Tarandon-Tor, wie im
Roman Die Magier von
Bargelix
geschildert.

(3376)

313

Das Imperium stellt
offiziellen Kontakt mit
Bargelix her und findet dort
das Morgantyr-Epos vor.

(3468)

407

Das Imperium breitet sich in
den Grenzwelten von
Herkules aus. Periode des
Romans Der Mann ohne
Planet

(7177)

4114

Periode des Romans

Meister der Sterne

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163

Als

Utopia-Classics Band 72

erscheint:


Kurt Mahr

Der Nebel frißt sie alle


Der große Flug des Sternenschiffs EUR 2002

Der große Flug des Sternenschiffs

Für die Crew der EUR 2002 ist das Schiff noch das einzige, was
sie an die Erde erinnert, von der sie im Oktober des Jahres
2158 gestartet sind.

Wenn auch nach Bordzeit kaum mehr als ein Jahr seit dem

Start verstrichen ist, so sind die Männer und Frauen der EUR
2002 sich dessen bewußt, daß sie den Preis zahlen müssen,
den der Flug im hochrelativistischen Geschwindigkeitsbereich
fordert: Sie werden, wenn sie zurückkehren, eine Erde wieder-
finden, die um Milliarden Jahre gealtert ist.

Doch die Kosmonauten suchen nach wichtigen wissenschaft-

lichen Erkenntnissen – und sie finden das große Abenteuer
zwischen den Sternen.


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