Max Frisch
»Im übrigen bin ich
immer völlig allein«
Briefwechsel
mit der Mutter 1933
Eishockeyweltmeisterschaft
in Prag
Reisefeuilletons
Herausgegeben von
Walter Obschlager
Suhrkamp Verlag
Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2000
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,
des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung
durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.
Kein Teil des Werks darf in irgendeiner Form
(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)
ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert
oder unter Verwendung elektronischer Systeme
verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Satz und Druck: MZ-Verlagsdruckerei GmbH, Memmingen
Gedruckt auf holzfreies Schleipen-Werkdruckpapier
Gebunden in Irisleinen der Bamberger Kaliko
Printed in Germany
Erste Auflage 2000
1 2 3 4 5 6 – 05 04 03 02 01 00
Inhalt
Briefwechsel 7
Berichte von der Eishockeyweltmeisterschaft
in Prag 153
Reisefeuilletons 187
Prag 189
Budapest 209
Dubrovnik 217
Serbien/Montenegro 236
Sarajewo 256
Konstantinopel 276
Flug 282
Griechenland 293
Nachwort 303
Namenregister 319
Quellennachweis 321
Briefwechsel
9
1
prag, freitag abend 17. 2. 33.
hotel . . . grand hotel paris
1
, beim representationshaus
2
,
U obneciho domu
mein liebes mutti und meine lieben
3
,
nun bin ich also in prag
4
. und das sieht so aus: ich liege auf
dem couch, die schreibmaschine auf dem schreibpult und
über dem schreibpult eine ständerlampe. eine zweite stän-
derlampe auf dem nachttisch. hier ein telefon zum consierge
und am schreibpult ein telefon für stadt- und fern verkehr.
auf dem herrlichen bett eine ebenso herrliche steppdecke.
natürlich fliessend kalt und warm. so mein zimmer.
nur weiss ich noch nicht, wo ich eigentlich bin und was der
scherz kostet. man munkelt von 70 kc.
5
man wird es erfah-
ren.
auf der ganzen reise habe ich kein einziges mal meinen koffer
öffnen müssen. bis karlsruhe allein und geschlafen. dann im
wagen ein frühstück. mit schweizermannschaft in der zwei-
ten klasse gesessen bis eger. von eger mit der freikarte in der
ersten klasse. in prag nahm man uns gleich alles schwere ab,
setzte uns in ein auto, sagte uns das neuste wegen den morgi-
gen spielen. worauf man durch ein vestibül schritt und in die-
sem appartment stand.
übrigens hat man inzwischen, nach erfolgter waschung, ein
nachtessen genommen, das in seiner feinheit und üppigkeit
einen fast verlegen machte. nach genossenem pilsner durch
die nächtliche stadt gebummelt. von der stadt kann ich noch
nichts aussagen. stadion
6
besichtigt. gut. morgen mit auto
abgeholt zwecks . . . montag morgenblatt. und montags, da
schweizer mannschaft spielfrei, besichtigung der stadt.
und doch habe ich schon etwas auszusagen von dieser stadt:
vor einem der vielen, wolkenkratzerartigen luxushotels sah
10
Briefwechsel
ich einen bettler, der mit nackten, verschränkten beinen im
tauenden strassenschnee sass und mit gefalteten händen
murmelte.
wanzen noch nicht aufgetreten.
wenn ich wenigstens wüsste, was der scherz kostet. habe
den manager gefragt. er wird sich erkundigen und dem ho-
tel mitteilen, dass der pressemann bleibe, falls man ihm
nicht mehr als 50 kc. täglich abnehme. ansonsten ziehe ich
aus. nach kurzem genuss eines ersten eleganten grossstadt
hotels.
morgen beginne ich meine arbeit. ich hoffe, dass es euch
gut geht und dass mutti bei euch recht froh werde. noch-
mals danke für den proviant, der mir mittagessen und vier-
uhressen ersparte.
nun bringe ich das brieflein dem consierge, nehme alsdann
eine orange, worauf ich die finger lange, sehr lange waschen
werde; denn man muss das wasser nehmen, solange es
warm ist. leider habe ich niemanden, dem ich so vom bett
aus telefonieren kann. denn übermorgen, wenn ich wirklich
telefonieren muss, wer weiss, wo ich dann bin?
ich grüsse euch herzlich und mit dem vorbehalt, dass ich
nächste tage nicht gerade wieder werde briefschreiben kön-
nen.
mägi.
7
1 1907 erbautes neugotisches Gebäude. In den dreißiger Jahren zählte
es mit einem Dutzend weiterer Hotels zu den Häusern »Ersten Ran-
ges« in Prag. Nach dem 2. Weltkrieg verstaatlicht, 1991 den ursprüng-
lichen Eigentümern zurückgegeben und 1997 umfassend restauriert,
zählt es heute zu den schönsten Prager Fünfsterne-Hotels.
2 1905-1912 im Jugendstil errichtetes Gemeindehaus (Obecnı´ dum).
An den Ausschmückungen des Bauwerks mit Gemälden und Skulptu-
ren sind die meisten der bedeutenden tschechischen Künstler der Jahr-
hundertwende beteiligt gewesen.
11
Briefwechsel
3 Lina Frisch war für einige Tage zur Familie ihres ersten Sohnes,
Franz, und dessen Frau Klara nach Basel gezogen.
4 Der Zug, in dem Frisch zusammen mit der Schweizer Eishockey-
mannschaft gereist war, hatte Zürich am Vortag um 21.20 Uhr verlas-
sen und war am Freitagabend um 18.10 Uhr in Prag angekommen.
5 70 tschechische Kronen: nach damaligem Wert etwa 9 Reichsmark
oder 11 Schweizerfranken.
6 Das Eishockey-Stadion: siehe »Prager Eishockey-Weltmeisterschaf-
ten«, S. 157.
7 Mundartl. Rufname für Max, möglicherweise aus dem basel-deut-
schen Megge abgeleitet.
2
Prag, den 22. 2. 33.
Immer noch: hotel Paris, beim Representationshaus,
obecniho domu, Prag I.
meine lieben!
ich habe viel zu tun, komme oft wenig zum schlafen, da die
spiele bis halb zwölf uhr nachts gehen. ich habe bereits ei-
nige spaziergänge durch prag gemacht, das zwar nicht so
schön ist wie zürich, aber interessanter.
1
später mehr davon.
wir haben hier strengen winter mit häufigem schneefall.
und der platz hat keine gedeckte tribüne. ich habe mein zim-
mer, das zu teuer war (11 franken mit pension) aufgegeben
und wohne nun im dachstock. denn ich muss aus verschie-
denen gründen im selben hotel sein wie die mannschaft. hier
zahle ich für das zimmer mit fliessend warm und kalt 25 kc.
die pension habe ich aufgegeben. morgens nehme ich mir
ein rechtes frühstück. das weitere nach notwendigkeit. ge-
stern mittag: den kuchen von franz
2
. gestern nacht: schoko-
lade von emmi
3
und aepfel von franz. und manchmal habe
ich lust für ein pilsner mit salzstangerl. denn die sache ist
die: ich habe für die telefonate so unsinnig viel ausgeben
müssen, dass ich fast all mein geld für diese spesen verbrau-
12
Briefwechsel
che, und nun schon in schwierigkeiten bin. allerdings wird
mir dies ja zurückvergütet. wenn es euch möglich ist, wäre
es gut, wenn ihr mir vorher schon geld senden könntet. denn
ich habe im ganzen für die telefonate und expressbriefe
etwa 8 bis 9 hundert kc. auszugeben. das macht ungefähr
120 fr. ich mache folgende bitte: sendet mir ins hotel, wo ich
bis sonntag bleiben werde, etwa fünfzig franken, welche ihr
dann abziehen müsst von dem geld, das euch nächste bis
übernächste woche von den zeitungen zugestellt wird. bes-
ser, wenn ihr es in der schweiz umwechselt. 50 fr. etwa 330
kc. denn wenn ich warten muss, bis ich diese spesen von der
zeitung zurückbekomme, muss ich bis dann verteufelt spa-
ren in allem. übrigens stimmt es offenbar, dass prag billig
ist, wenn man die örtchen kennt. im bata`-glashaus
4
: ein kaf-
fee 1 kc. (15 rp.), ein belegtes brötchen, ein glas gefrorenes
je 1 kc. am freitag geht unsere mannschaft nach pilsen, um
sich die brauereien anzusehen; wenn ich nicht so auf dem
hund wäre, ginge ich mit. habe übrigens schon recht ulkige
leute kennen gelernt. männlichen geschlechtes. eine sorte
für sich, diese tschechen, die scheissfreundlich sein können,
wenn man das offizielle abzeichen trägt.
euer mägi grüsst euch
alle herzlichst:
1 Prag, nach dem Untergang der Doppelmonarchie Österreich-Un-
garn im 1. Weltkrieg 1918 zur Hauptstadt der neugegründeten tsche-
choslowakischen Republik geworden, zählte 1933 rund 750’000 Ein-
wohner, darunter etwa 5 % Deutsche.
In der alten Doppelmonarchie galten die Tschechen als Staatsbürger
zweiten Ranges, ihre Kultur wurde für wenig beachtenswert gehalten
und man begnügte sich damit, Schuhe und Kleider bei ihnen zu bestel-
len. Mit dem Umsturz 1918 und der Gründung des tschechoslowaki-
schen Staates entstand eine jähe Änderung. Die bisher unterdrückte
und mißachtete Nation gelangte zur Herrschaft und glaubte nun Ver-
geltung für alles vergangene Unrecht üben zu dürfen.
13
Briefwechsel
Nach und nach aber haben sich die Gemüter beruhigt, und jetzt lebt
man, abgesehen von sporadischen Rückfällen, ganz friedlich nebenein-
ander. Deutsche Aufschriften sind zwar immer noch verboten, deut-
sche Vorträge in städtischen Gebäuden auch nicht gestattet, es sei
denn, es handelte sich um Vorträge von Ausländern. Doch im allge-
meinen ist die deutsche Bevölkerung wenig gehemmt, spielt sogar eine
im Verhältnis zu ihrer Anzahl erstaunlich große Rolle. In den Straßen
des Zentrums hört man auffallend viel Deutsch, die Buchhandlungen
haben in ihren Schaufenstern vorwiegend deutsche Bücher, zahlreiche
namhafte Zeitungen erscheinen in deutscher Sprache, und das Deut-
sche Theater steht einer Großstadtbühne ersten Ranges in nichts nach.
Auch diese Erscheinung ist auf die noch aus österreichischer Vergan-
genheit herrührende Klassenscheidung zurückzuführen. Die Deut-
schen Prags sind fast durchweg gutgestellte Bürger, so daß z. B. die
deutsche sozialdemokratische Partei klagt, in Prag lediglich Intellektu-
elle, aber keine Arbeiter als Mitglieder zu finden.
(Aus: Viola Klein, Prager Brief, Neue Zürcher Zeitung Nr. 178, 20. 1.
1933)
2 Franz Frisch (1903-1978), der Bruder von Max, hatte die Industrie-
schule in Zürich besucht, von 1924-1928 an der Eidgenössischen Tech-
nischen Hochschule Chemie studiert, 1930 doktoriert und sich 1931
mit der aus Polen gebürtigen Klara Krakowska verheiratet. Er arbei-
tete als leitender Ingenieur bei der Firma Sandoz in Basel.
3 Emma Elisabeth Wohlwend-Frisch (1899-1972) war die Halbschwe-
ster von Max Frisch, Tochter aus erster Ehe des Vaters Franz Bruno
Frisch (1871-1932) mit Emma Böni (1877-1899).
4 Gebaut 1927-1929 im Auftrag des 1876 in Zlin geborenen, im Juli
1932 mit seinem Privatflugzeug tödlich abgestürzten tschechischen
Schuhindustriellen Thoma´sˇ Bat’a, Gründer des bis heute bestehenden
weltweiten Bata-Schuhimperiums. Entworfen und ausgeführt wurde
der siebenstöckige Bau vom Architekten und Städteplaner Ludvik Ky-
sela (1883-1960), der in Prag eine ganze Reihe Geschäfts- und Detail-
Warenhäuser in funktionalistischem Stil gebaut hat.
Das Bata-Haus am prächtigen Wenzelsplatz, der »Glaspalast«, wie es
auch genannt wird, ist eine gewerbliche Sehenswürdigkeit ersten Ran-
ges. Hier zeigt sich das Organisationstalent des tschechoslowakischen
Schuhkönigs, sein hervorrragendes verkaufstechnisches Können. Wir
Schweizer haben keine besondere Ursache, den verstorbenen Gründer
und Leiter der tschechoslowakischen Schuhindustrie zu rühmen, denn
er hat einer unserer Hauptindustrien arge Verlegenheit bereitet. Aber
man darf auch von Betrieben lernen, die man nicht unter allen Um-
14
Briefwechsel
ständen als erwünscht betrachtet, die aber doch in gewissen Beziehun-
gen als vorbildlich anerkannt werden müssen. Und dieses Batahaus er-
scheint uns als eine Institution, die zum Teil wenigstens nachahmens-
wert wäre. Im obersten Stockwerk finden wir das Selbstverständliche
des Warenhauses, den Erfrischungsraum, wo zu erstaunlich billigen
Preisen Getränke und Speisen zu haben sind. Dann folgt die Etage der
Bureaux, und sodann die Abteilung für Fußpflege. Hier finden sich in
zwei Abteilungen 80 durch Vorhänge abgegrenzte Boxen für Damen
und Herren, wo speziell ausgebildetes Personal innert kürzester Frist
vollständige Pedicure besorgt, das Schneiden der Nägel, die Entfer-
nung von Hühneraugen und von Hornhaut usw. Die ganze Prozedur
kostet fünf Tschechenkronen oder 75 Schweizerrappen. Täglich wer-
den hier über 1000 Menschen ihrer Fußbeschwerden entledigt. Die un-
teren Stockwerke des mächtigen Hauses bergen die Produkte der Bata-
fabriken, und im Souterrain sind die Werkstätten eingerichtet, wo man
sich in bequemen Fauteuils hinsetzt und gleich auf die Reparatur seines
Schuhwerkes warten kann.
(Aus: Meyner, Robert, »Wien, Brünn, Prag, Karlsbad, München. Skiz-
zen von der VIII. Gewerblichen Studienreise vom 19. Sept. bis 29. Sept.
1932«, Zürich 1933)
3
Basel, den 24. Feb. abends.
Mein liebes Mäxelein!
Herzlichen Dank für deine prompte Briefbedienung. Es hat
mich gefreut, dass du gut reisen konntest. Ich habe dich in
Gedanken auf deiner Reise begleitet. Nach deiner Abreise
ist Emy noch mit mir ins Astoria
1
zum Conzert gegangen,
wo wir bis 11 Uhr sitzen blieben. Hernach fand ich zu mei-
nem grössten Erstaunen das Silbrige
2
in meinem Bett und
deine Güte hat mich tief gerührt. Du hast es wirklich gut ge-
meint mit mir u. ich danke dir. – Seit Samstag bin ich hier
und werde erst auf den 4.-5. März zurück sein. Es gefällt
mir gut und ich bin gut aufgehoben u. abends sind wir ge-
mütlich beisammen. Ich geniesse die so viel entbehrte Sonne
u. habe die warme Wohnung als angenehm empfunden. Das
15
Briefwechsel
Heimreisen wird mir schwer fallen, besonders wenn ich so
allein bin ohne dich. –
Du hast mich heute (also am 24. Feb. mit der Morgenpost er-
hielt ich deinen zweiten Brief, den du am 22. datiert hast) or-
dentlich in Aufregung gebracht. Es ist Ende des Monates u.
Franz hatte mir die von dir erbetenen 50 frs. nicht geben kön-
nen sodass ich, um nicht plötzlich abreisen zu müssen, ex-
press an Emy schreiben musste. Hoffentlich hat es dir das
Gewünschte bald besorgt. Ich habe natürlich bis jetzt noch
keinen Bescheid. Aber es versprach mir den Rest des Geldes
für den Schrank v. Büro
3
auf Ende diesen Monates. Nächsten
Montag erst bekommen alle die Gehälter u. dann würde es
gar spät. Und sobald der Tagesanzeiger
4
Geld schickt, so
wechsle ich es ein, um es dir zu senden, und wenn du bis dann
keine andere Adresse angibst, an die heutige. –
Wir lesen mit Interesse deine Berichte, die ich dir aber doch
nicht nachschicken muss. Doch wie es scheint, sind unsere
Mannschaften nicht allzugut in Form. Franz hat sich geär-
gert über das Tschechen Resultat.
5
– Er spielt uns auf der
Geige vor, während ich schreibe.
Letzte Tage hatten wir öfters Schneefall und Franz und
Clärli
6
waren am Sonntag auf dem Feldberg
7
Ski fahren,
wobei Clärli einen Unfall erlitt an der Hand. Wir haben
meistens schönes Winterwetter und ich komme viel an die
Luft. Man ist allerdings bald in der Stadt herum, doch hat
sie auch manches Heimelige und Gemütliche.
Anbei lege ich die Bücherkritik
8
bei, die am Samstag, den
18. erschienen ist. Sie ist leider zerrissen beim Herausneh-
men, doch zu Hause sind dann noch die betr. Belegexem-
plare.
Und nun mein lieber Max weiss ich nichts mehr, das dich in-
teressieren könnte. Deshalb sage ich dir gute Nacht und
küsse dich herzlich
dein Mutti.
16
Briefwechsel
Mein Lieber!
Bist scheinbar gut gereist und die Fressalien haben gute Dien-
ste geleistet. Ob unseren Kämpfern war ich reichlich ent-
täuscht, habe mich grausam aufgeregt. Jetzt müssen sie dann
noch mit dem III. Europaplatz zufrieden sein, die Eicheln!
9
Hoffentlich geht es Dir gut & lasse oft von Dir hören.
Mit besten Wünschen für Erfolg
Dein Franz
In Vertretung für
für Klärli einen Gruss.
1 Cafe´-Restaurant an der St.Peterstraße in Zürich. Wie damals in den
meisten größeren Cafe´s der Stadt, fanden im »Astoria« täglich Live-
Konzerte statt.
Im Cafe´ Astoria kommt man dem Unterhaltungsbedürfnis des Publi-
kums damit entgegen, daß man in die Darbietungen des Orchesters,
das zurzeit von dem seit vielen Jahren in Zürich bekannten Geiger Ed.
Grilli geleitet wird, Einlagen verschiedener Art einstreut.
Die musikfreundlichen Restaurationsgäste sind aber nicht nur ziem-
lich anspruchsvoll, sondern verlangen auch Abwechslung. Dies be-
dingt fast allmonatlich einen Wechsel der gastierenden Unterhal-
tungskapellen. Einige unserer Gaststätten allerdings erweisen sich als
konservativ, indem sie ihre Hausorchester jahrelang im Engagement
halten.
(Neue Zürcher Zeitung Nr. 693, 18. 4. 1933)
2 Gemeint sind wohl Fünffrankenstücke.
3 Der am 29. März 1932 verstorbene Vater von Max Frisch hatte an
der Claridenstr. 47 in Zürich ein Büro gemietet gehabt.
4 Der ›Tages-Anzeiger‹ für Stadt und Kanton Zürich erschien erstmals
1893 als »unparteiisches Organ für Jedermann« in einer Auflage von
40.000 Exemplaren. Gegründet von einem deutschen Verleger und ei-
nem ehemaligen NZZ-Redaktor, wurde das Blatt in kurzer Zeit zur
meistverbreiteten Zeitung innerhalb der Schweiz. Der aus Deutsch-
land gebürtige Otto Coninx (1871-1956), Schwiegersohn des Verlegers
Wilhelm Girardet, wurde 1926 Schweizer und übernahm das Unter-
nehmen. Werner Coninx, einer seiner beiden Söhne, war mit Max
Frisch befreundet; sie besuchten von 1924-1930 in derselben Klasse
das Realgymnasium in Zürich. Diese Freundschaft und ihr Ende hat
Max Frisch in seiner 1975 erschienenen Erzählung ›Montauk‹ be-
schrieben.
17
Briefwechsel
5 Die Schweizer Mannschaft hatte zwei Tage zuvor durch ein Eigen-
tor ihres Torhüters gegen die Mannschaft der Tschechoslowakei 0:1
verloren.
6 Klara Frisch-Krakowska (1902-1980), die aus Polen gebürtige Ehe-
frau von Franz Frisch, hatte von 1922-1925 Naturwissenschaften an
der Universität Wilna studiert. Von 1929-1931 war sie als Zahnarztas-
sistentin an der Schulzahnklinik Zürich tätig gewesen.
7 Ort und gleichnamiger höchster Gipfel des Schwarzwaldes (1493 m);
damals wie heute ein beliebtes Wintersportgebiet, etwa 60 km von Basel
entfernt.
8 Max Frisch hatte den im Zinnen-Verlag Berlin auf deutsch erschie-
nenen China-Roman »Die gute Erde« der amerikanischen Schriftstel-
lerin Pearl S. Buck (1892-1973) besprochen. Die Rezension ist nicht am
18., sondern am 19. Februar 1933 in der Neuen Zürcher Zeitung er-
schienen.
9 Aus dem mundartl. »Eichle« für »Stümper«, »Nieten«.
4
Basel, d. 8/III.
Mein lieber Max.
Also ich bin immer noch in hier, doch reise ich am Montag
endgültig heim. Wenn ich heim sagen kann. Offen gesagt, ich
fahre ungern in die Seestrasse
1
. Doch nun zwingen mich
versch. Besorgungen zurück (Grab)
2
. Deinen Brief dankend
erhalten, freuen uns, dass du dich wohl fühlest. In der
N. Z. Z. noch nichts erschienen; auch sonst nichts Neues.
Werde dir die Monneten v. d. N. Z. Z. umgewechselt schik-
ken, sobald eingegangen. Alles gesund, hoffe auch bei dir.
Herzliche Grüsse v. Mama, Franz u. Clara.
1 Mutter und Sohn waren nach dem Tod von Franz Bruno Frisch von
der Freiestraße 217, wo sie seit Oktober 1926 gewohnt hatten, an die
Seestraße 82 in Zürich umgezogen.
2 Das Grab ihres Mannes, Franz Bruno Frisch, der ein Jahr zuvor am
31. März auf dem Friedhof Rehalp in Zürich bestattet worden war.
18
Briefwechsel
5
Prag, den 9. 3. 33
Max Frisch, bei Hamaceck, Manesova 74, Vinohrady, Prag.
heute ist donnerstag mittag. ich weiss nicht, warum das
Geld nicht kommt, das der tagesanzeiger an die seestrasse
geschickt hat. mindestens seit samstag den 4. oder montag
den 6. muss dieses geld bei euch sein. ihr scheint die ge-
schichte höchst gemütlich zu besorgen. heute ist donnerstag
und ich habe keinen heller. seit sonntag habe ich keinen hel-
ler. ich lebe nur von einem kleinen frühstück. vier tage. aber
der hunger ist nicht das schlimmste. sondern die aufregung:
in einer total fremden stadt ohne eine einzige münze. nur
weil ihr zu bequem seid, mein verdientes geld nachzuschik-
ken. oder ist es gestohlen worden? ich grüble den vierten tag
und die vierte nacht. ich weiss keinen ausweg. das geld, das
ich mitgenommen auf die reise, verbrauchte ich für den er-
sten unterhalt und für die vielen spesen. dann bekam ich auf
meinen wunsch die 50 franken, die man mir an diese spesen
vorgeschossen. von diesen musste ich natürlich das zimmer
im voraus bezahlen. so lebte ich letzte woche mit dem klei-
nen rest sehr bescheiden. brauchte noch einiges für porto
meiner artikel. dann rechnete ich bestimmt, dass das geld
vom tagesanzeiger kommt auf 4. oder 5. oder spätestens 6.
denn am 3. schreibt mir der tagesanzeiger, dass er es an die
seestrasse geschickt habe. was dort geschieht, kann ich mir
nicht vorstellen. schlaft ihr oder seid ihr tot oder was? wozu
hat man monatelang vor der reise alles besprochen? und
dann findet ihr es nicht für nötig, mir mitzuteilen, ob
mamma in basel ist oder in zürich. ich habe keine ahnung.
und von den artikeln, die inzwischen bestimmt erschienen
sein müssen, weder einen beleg noch eine erwähnung. über-
haupt nichts. ich weiss nicht, wie ich leben soll, bis euch der
einfall kommt, mir mein geld zu senden. ob ihr wisst, dass
19
Briefwechsel
ich pleite bin oder nicht, spielt keine rolle; man hat abge-
macht: geld sofort nachsenden. wie es euch geht, wo ihr
überhaupt seid, ob geld gekommen oder nicht, wieviel und
wann: nichts. man könnte verrecken. ich kann mir das nicht
erklären. ob ihr wirklich so unglaublich unzuverlässig seid?
ich kann es nicht glauben. so habe ich zum hunger noch die
angst, dass das geld also gestohlen worden ist. seit sonntag
kann ich meine artikel nicht mehr abschicken, da ich kein
geld für porto habe. dabei verdient man genug zum leben.
und nur weil das geld in zürich herumliegt.
jetzt habe ich von der hauswirtin etwas gepumpt, was ich
glatt für porto brauchen muss: um euch zu schreiben. denn
wenn ich wenigstens irgendetwas wüsste, was in zürich
läuft. aber dass ihr mir einen brief schreiben könnt, um
mich zu orientieren, scheint euch nicht einzufallen. jetzt bin
ich genau drei wochen weg: ein einziger brief von mama. ich
werde euch diese liebenswürdigkeit kaum vergessen. ich
kann natürlich nichts anfangen in prag, ohne geld, in kein
museum, nichts. im ungeheizten zimmer warten, bis es euch
beliebt, mir das geld nachzusenden. das ist eine verzweifelte
woche. da sind also vier leute: mama, tante
1
, franz, klara –
keiner hat zeit, zu schreiben, was los ist. ob meine arbeiten
in der zeitung erscheinen oder nicht – ich weiss es nicht. ich
weiss nicht, wird der nächste monat sichergestellt sein oder
finanziell schwach. ich weiss nicht, kommt morgen freitag
geld oder soll ich noch bis montag nur von frühstück und
aufregung leben oder bis wann? bis wann? wahrscheinlich
geht es euch gut. mir ginge es auch. in sachen briefschreiben
werde ich meine konsequenzen ziehen.
ich will von euch nichts als das geld, das ich mir verdient
habe. um leben zu können.
gruss an meine ganze familie: max.
20
Briefwechsel
1 Hedwig Frisch (1884-1934) war die jüngste Schwester des Vaters
von Max Frisch. Sie arbeitete als Büroangestellte und war unverheira-
tet. Die Wohnung an der Seestraße, die sie mit Max Frisch und seiner
Mutter zusammen bewohnte, war von ihr gemietet.
6
Tüllingen
1
12. / III.
Lieber Maxel.
Bei schönem Wetter sind wir auf einem Ausflug in hier ange-
kommen u. sitzen bei herrlicher Sonne im Garten b. Cafe´.
Und wo magst du wohl sein? Wir senden unsere herzlich-
sten Sonntagsgrüsse aus Deutschland, doch weil wir keine
Marken bekamen, musste ich die Carte n. B. nehmen.
Alles Gute wünschend: Mama. Franz. Klara.
1 Nördlich von Basel, zwischen Weil und Lörrach gelegener Ausflugs-
ort; die Karte wurde in Ober-Tüllingen im Garten des Gasthofes »Zur
Schönen Aussicht« geschrieben.
7
Zürich, den 14. / III. vormittags 10 Uhr.
Mein armes liebes Mäxelein.
Oh je! oh je! Wie schrecklich ohne Geld in der Fremde! Ich
bedaure sehr, dass durch ein[en] Irrtum jedenfalls diese,
deine aufregende Situation geschaffen wurde. Ich bin ge-
stern um 8 h. heimgekommen und erfuhr zu meinem gros-
sen Erstaunen, dass das Geld vom Tages Anzeiger noch
nicht in deinen Besitz gelangt sei. Auf deinen Brief nach Ba-
sel, worin du uns sagtest, dass der T. Anzeiger dich direct
mit dem Honorar versehen werde, fand ich es nicht nötig
auf den 4. des Monates (auf welches Datum ich ja nur des
21
Briefwechsel
Einzahlens wegen zurückgefahren wäre) schon in Zürich
anwesend zu sein. Gerade, weil der Tagesanzeiger dir direct
das Geld schicken wollte, gedachte ich, meinen Aufenthalt
um diese acht Tage, d. h. bis zum Fälligwerden des N. Z. Z.
Honorars, ganz gut ausdehnen zu können u. es that mir gut,
mich etwas länger als beabsichtigt ausruhen zu können. Ich
war sprachlos, als mir die Tante, die für dich sofort 80 frs.
einzahlen konnte, die ganze Aufregung erzählen musste. Sie
hat dann am Montag an den T. Anz. telephoniert, wo sie
den ganz lakonischen Bescheid erhielt, dass diese Einzah-
lung ganz vergessen wurde. Jetzt gerade ist sie gemacht wor-
den u. du siehst, dass es an uns nicht gefehlt hat. Denn ich
dachte, schon längst werdest du zu Geld gekommen sein,
eben gerade, weil du uns n. Basel berichtet hast, dass diese
Einzahlung direct nach Prag gemacht würde. Es ist die
ganze missliche Geldunterbindung also nur der Schlamperei
der Zeitung zuzuschreiben. – Nun, was die Zeitungsbelege
anbetrifft,, weiss ich nur, dass anderes als die Eishockey Be-
richte und die Bücherbesprechung von Lung Wang
1
nicht
erschienen ist. Und die Belegexemplare, die Tante nun ge-
wissenhaft dir zugeschickt hat, glaubte ich in hier behalten
zu müssen, denn ich konnte doch annehmen, dass du die
betr. Eishockey Berichte dir in Prag selbst kaufen konntest.
Und in der Z. Zeitung, die wir in B. ja auch hatten, habe ich
leider nichts unter m. f. gelesen. Wir selbst waren auch er-
staunt, von dir nichts mehr gehört zu haben, doch dachten
wir nicht im Entferntesten an eine solche Aufregung deiner-
seits, die ich ja ganz gut, in diesem Falle, begreifen kann, die
aber niemals uns zum Vorwurf gemacht werden darf. Hät-
test du inzwischen nur einmal mir nach B. eine Carte mit
diesbezüglicher Erwähnung geschickt, dann hätten wir
nachforschen können. Denn du musst auch nicht vergessen,
dass diese Geldsendungen, Telegr. u. Express sehr viel ko-
22
Briefwechsel
sten; für die 80 frs. hat Tante allein 6 frs. 15 Porto ausgege-
ben. Und es zeigen sich immer am Anfang einer Reise mit
Geldnachschub Schwierigkeiten, die im Fortlaufe dann
schon behoben werden können. Ich will also hoffen, dass
dein Grimm gegen die ganze unschuldige Familie, die ja ge-
wiss immer nur an dich denkt u. im Guten, sich nach Erhalt
der von Tante gütigst gesandten 80 frs. bald gelegt haben
werde, u. dass die ganze Affaire, die, ich glaube ja schon,
deinem Magen böse zugesetzt haben wird, vielleicht schon
mit einem köstlichen Pilsner ins Vergessen geschwemmt
worden ist. – Also, so die Sache! Nun ziehe ich los, löse das
Geld um und sende es dir per eingeschriebenen Brief, ohne
express. – Entschuldige den harten Styl, aber ich musste
mich beim Schreiben entsetzlich beeilen, um bald den Brief
mit den Aufklärungen abschicken zu können. Dies meine
erste Aufgabe, seit wieder zu hause.
Also lieber Max, ich grüsse dich u. küsse dich recht herzlich
u. wünsche dir genuss- u. fruchtbringenden Aufenthalt.
Bitte bedanke dich per Carte bei der Tante, denn sie ist für
dich, neben Überstunden im Geschäft, bis spät herumge-
sprungen, bis sie wusste, wie dir auf schnellstem Wege das
Geld senden. Also adieu, liebes Mäxchen u. denke auch
etwa an Mama.
1 Gemeint ist Frischs Besprechung von Pearl S. Bucks Roman »Die
gute Erde«, dessen Held der Bauer und Grundherr Lung Wang ist.
23
Briefwechsel
8
Mittwoch abend. [15.3.1933]
Mein lieber Max.
Anbei übermache ich dir diese Zeitung, die in meiner Abwe-
senheit gekommen ist u. ich lege dir auch die heute abend er-
schienene Skizze
1
bei, auf die du jedenfalls so sehnlichst ge-
wartet hast. Sie hat mir sehr gut gefallen und ich sehe daraus,
dass du der Eindrücke viele gewonnen hast und Prag, die
wunderschöne interessante Stadt dich fesselt. Ich hoffe dich
gesund u. munter u. nehme an, dass dein ungerechtfertigter
Zorn über uns sich bald gelegt haben werde. Heute, resp. Ge-
stern kam das Geld der N. Z. Z. und ich habe absichtlich das
Geld noch zurückbehalten, werde es auf deinen Abruf erst
folgen lassen, da ich es nicht ratsam finde, wenn du soviel
Geld bei dir versorgen musst. Ich gewärtige also deine diesbe-
züglichen Anordnungen. – Ich bin nun wieder in unserem
Schattenloch und friere wieder. Überall Sonne ringsum, nur
nicht in der Wohnung oder nur ganz spärlich. Der Aufenthalt
in B. that mir gut u. Beide waren sehr nett, obschon Clärli
noch viel das Alte ist
2
. Alle lassen dich herzlich grüssen, auch
Emy und die Kleinen u. Tante Hedwig, die heute noch über
deine S. O. S. Rufe lachen muss. Am Freitag gedenke ich ins
Theater
3
zu gehen u. an Frau Bloch ein Billet abzutreten. Von
dem Tagesanzeiger sind keine Belegexemplare gekommen,
es wäre denn, dass unter denen die Tante befördert, sich sol-
che befunden hätten. Gelt, ich habe meinen letzten Brief un-
genügend frankiert, was mir nicht mehr passieren sollte. Und
nun 10 1/2. Ich schliesse, um den Brief zu spedieren u. küsse
dich innigst.
Mama
1 Max Frisch: »Zwischen Hastigem und Verträumtem«, Neue Zür-
cher Zeitung Nr. 463, 15. 3. 1933.
24
Briefwechsel
2 Das Verhältnis zwischen Lina Frisch und ihrer Schwiegertochter
Klara war immer wieder von gegenseitigen Animositäten überschattet.
3 Am Schauspielhaus Zürich stand Freitag, 17. 3. 1933, »Der Garten
Eden« auf dem Programm (siehe Anm. 4, S. 40).
9
prag, den 16. 3. 33
meine lieben!
vor dem frühstück habe ich soeben zwei briefe erhalten und
bin recht erfreut. nicht, weil ich für den einen von mama ein
strafporto zahlen musste. aber deswegen, weil ich nun
weiss, wie die sache steht. die schlamperei vom tagesanzei-
ger ist ja krass.
erstens möchte mal der tante vielmal danken dafür, dass sie
mich so rasch aus dem hunger befreit hat. wenn ich richtig
kapiere, hat sie mir also 80 franken von ihrem geld vorge-
streckt? das war sehr freundlich. aber warum habt ihr es
nicht abgezogen von dem tagesanzeiger geld? also bitte: ab-
ziehn vom n. z. z. geld!
wegen des einwechselns: da müsst ihr mehr dafür bekom-
men! eine krone zu 14,75 rappen ist wenig. geht in das reise-
büro, wo ich gewesen bin. du weisst doch wo, mutti? oder
wenn du zeit hast, geh einmal dahin und dorthin und frage,
wieviele sie geben. denn auf solche summen macht das aller-
lei aus. stell dir bloss vor, dass es dreissig kronen ausmachen
würde, d. h. zwei ganz hervorragende sonntagsessen! sonst
lebe ich bescheiden, weil ich viel geld brauche für porto und
foto. leider hat es eine schwierigkeit: da ich nicht tsche-
chisch verstehe, kann ich nicht in die billigen restaurants.
was soll ich anfangen mit tschechischer speisekarte? so
muss ich in gasthäuser, wo deutsche verkehren, und das
sind immer etwas zu feine. allerdings für das gebotene nicht