LEKT�RESCHL�SSEL F�R SCH�LER
Bertolt Brecht
Leben des Galilei
Von Franz-Josef Payrhuber
Philipp Reclam jun. Stuttgart
Alle Rechte vorbehalten
� 2002, 2004 Philipp Reclam jun. GmbH & Co., Stuttgart
Made in Germany 2004
RECLAM und UNIVERSAL-BIBLIOTHEK sind eingetragene Marken
der Philipp Reclam jun. GmbH & Co., Stuttgart
ISBN 3-15-950102-7
ISBN der Buchausgabe 3-15-015320-4
www.reclam.de
Inhalt
1. Erstinformation zum Werk 5
2. Inhalt 8
3. Personen 23
4. Aufbau und Form 30
5. Wort- und Sacherl�uterungen 34
6. Interpretation 43
7. Ausformung der Thematik durch
andere Autoren 57
8. Autor und Zeit 64
9. Checkliste 80
10. Lekt�retipps 84
Anmerkungen 88
1. Erstinformation zum Werk
Bertolt Brecht war einer der gro�en Dichter des zwanzigs-
ten Jahrhunderts, der heute zu den anerkannten : Klassikern9
z�hlt. Sein literarischer Rang war jedoch nicht immer un-
umstritten, denn er war oft unbequem in seinem Bekenntnis
zum Marxismus und seinem politischen Engagement f�r
eine humanere Welt, die sein Werk pr�gen. Gerieben hat
man sich auch an seinen Widerspr�chen, an den biografi-
schen nicht weniger als an den literarischen. Doch diese sind
f�r Brecht gerade kennzeichnend. Er selbst hat seine Arbei-
ten nie als abgeschlossen betrachtet und darum seine Ant-
worten auf die Probleme der Zeit, trotz seines optimis-
tischen Glaubens an die Ver�nderbarkeit der Welt, immer
wieder befragt. Er wollte, wie er in seinem Gedicht Ich
ben�tige keinen Grabstein selbst sagte, Vorschl�ge� ma-
chen1 oder, wie es sein Freund Lion Feuchtwanger in einem
Nachruf ausdr�ckt, anregen, [& ] sich mit den andern aus-
einandersetzen und ihnen denken helfen�2.
Brecht schuf ein umfangreiches literarisches Werk, das
aus rund f�nfzig abgeschlossenen St�cken, aus zahlreichen
Erz�hlungen und Romanen und aus �ber zweitausend Ge-
dichten besteht, nicht gerechnet die unterschiedlichen Text-
fassungen zu vielen Werken, die Tageb�cher und Briefe. Im
Mittelpunkt seines k�nstlerischen Schaffens stand aber im-
mer das Drama und, abgesehen von den Jahren des Exils, die
praktische Theaterarbeit. Nicht von ungef�hr bezeichnete
er sich selbst als St�ckeschreiber�. Wenngleich seit einigen
Jahren auch die Lyrik Brechts zunehmendes Interesse fin-
det, bleiben doch nach wie vor seine St�cke im Blick der
Theater, der Literaturwissenschaft und der Schule.
6 1. ERSTINFORMATION ZUM WERK
Das Drama Leben des Galilei, das unter dem Eindruck
atomarer Bedrohung vor und nach dem Zweiten Weltkrieg
entstanden ist und die Problemstellungen und Verhaltens-
weisen thematisiert, die ein Wissenschaftler bei seinen For-
schungen bedenken und verantworten muss, gilt als eines
der bedeutendsten St�cke Brechts, wenn nicht �berhaupt als
sein bedeutendstes. Der St�ckeschreiber hat sich mit der
Galilei-Thematik seit den drei�iger Jahren immer wieder
besch�ftigt, drei B�hnenfassungen hat er dazu zwischen
1938 und 1955/56 fertig gestellt. Bedingt durch die biografi-
schen und politischen Zeitumst�nde des Exils und des Krie-
ges, wurde das St�ck bis zur Berliner Urauff�hrung der
dritten Fassung am 15. Januar 1957 nur selten im Theater ge-
spielt und konnte daher kaum Wirkung entfalten. Die erste
in Deutschland gezeigte Auff�hrung in K�ln im Jahre 1955,
die sich weitgehend an das Modell einer amerikanischen
Inszenierung von 1947 hielt, war dann zwar schon ein be-
achtlicher Erfolg, aber erst die Berliner Inszenierung wurde
zu einem Theaterereignis mit gro�er Resonanz auch im
Ausland. Brecht selbst hat diese Auff�hrung im Theater am
Schiffbauerdamm, an der er mit dem Berliner Ensemble
mehrere Monate intensiv gearbeitet hatte, allerdings nicht
mehr erlebt.
Die Aufnahme des St�cks in der literarischen �ffentlich-
keit war nicht unbeeinflusst von der politischen Frontstel-
lung beider deutscher Staaten. Nach dem Aufstand der Ber-
liner Arbeiter am 17. Juni 1953, der von den sowjetischen
Truppen niedergeschlagen wurde, war in der Bundesrepu-
blik �ber das gesamte Werk Brechts ein Boykott verh�ngt
worden, von dem auch das St�ck Leben des Galilei betrof-
fen war. Seine R�ckkehr auf die B�hne musste sich deshalb
von der Thematik und der literarischen Qualit�t her recht-
1. ERSTINFORMATION ZUM WERK
fertigen lassen. Die zeitgen�ssische Kritik lobte denn auch
die dramatische Potenz des St�cks, und hob, �bereinstim-
mend in beiden Teilen Deutschlands, seine Aktualit�t vor
dem Hintergrund des Kalten Krieges hervor.
Auch fast f�nfzig Jahre sp�ter darf das St�ck noch  oder
wieder  Aktualit�t beanspruchen. Es erhellt keineswegs
nur die historischen Zusammenh�nge. Die Galilei-Pro-
blematik darf angesichts der gegenw�rtigen ethischen,
wissenschaftlichen bzw. wissenschaftspolitischen und ge-
sellschaftlichen Auseinandersetzungen um die M�glich-
keiten und Grenzen der elektronischen Datenverarbei-
tung oder, mehr noch, der Biomedizin und der Gentech-
nik neue Aufmerksamkeit erwarten. Die Antworten, die
es gibt, m�gen sich heute relativiert oder gar erledigt ha-
ben, mit seinen Fragen aber reicht sein Sinnpotential in
die Gegenwart hinein und vermag anzuregen, sich mit
den aktuellen Problemen intensiv auseinander zu setzen.
Dem Lekt�reschl�ssel zu Brechts St�ck wird die dritte
so genannte Berliner Fassung� zugrunde gelegt. Sie ist die
einzige, die 1955 auch gedruckt wurde, und gilt seither
als authentischer Text. Zum Verst�ndnis soll zun�chst eine
ausf�hrliche Inhaltsangabe Hilfen bieten. Sie weist bereits
auf alle Einzelheiten hin, die sodann unter den f�r eine In-
terpretation zentralen Gesichtspunkten behandelt werden:
Thematik, Personencharakteristik, Werkaufbau, �sthetische
Form und Wirkungsabsicht. Wort- und Sacherkl�rungen
erl�utern die Bedeutung von W�rtern und kl�ren �ber Per-
sonen und Dinge auf, die dem heutigen Leser nicht unmit-
telbar bekannt sind. Ein Vergleich mit der Ausformung der
Thematik durch andere Dramatiker sowie biografisches
Hintergrundwissen zum Autor und seinem Gesamtwerk
geben dem Leser zus�tzliche Verst�ndnishilfen.
2. Inhalt
In f�nfzehn Szenen zeigt das Schauspiel� (Untertitel) Sta-
tionen aus dem Leben des italienischen Mathematikers und
Physikers Galileo Galilei, der im 17. Jahrhundert das neue,
kopernikanische Weltbild mit der Sonne im Mittelpunkt des
Alls durchsetzen wollte und dar�ber mit einer der herr-
schenden M�chte, der Kirche, in Konflikt geriet. Denn die-
se sah ihre Anschauung der Welt, die ihr als biblisch �ber-
liefert und philosophisch beglaubigt galt, gef�hrdet.
Die Handlung spielt zwischen 1609 und 1637 in Padua,
Venedig, Florenz, Rom und Arcetri, sie erstreckt sich also
�ber einen gro�en Zeitraum und mehrere Orte.
1. Szene (Padua 1609: Studierzimmer). Galilei, Lehrer der
Mathematik an der zur Republik Venedig geh�renden Uni-
versit�t von Padua, erkl�rt Andrea, dem elfj�hrigen Sohn
seiner Haush�lterin Sarti, auf anschauliche Weise das ko-
pernikanische Weltsystem: Die Erde ist nicht, wie bisher ge-
lehrt wurde, Mittelpunkt der Welt, sie dreht sich vielmehr
um die Sonne.
Galilei ist �berzeugt davon, dass das neue Weltbild selbst
von Kindern verstanden werden kann. Sei-
Galileis
ne Lehrmethode basiert auf dem Gebrauch
Lehrmethode
der Vernunft und zielt auf den Zweifel am
blo�en Augenschein. Daher antwortet er auf
Frau Sartis entsetzte Frage, was in aller Welt er mit den Ex-
perimenten bezwecke, die er mit ihrem Jungen anstelle: Ich
lehre ihn sehen� (12).3 Er meint damit nicht die blo�e Wahr-
nehmung bzw. ein Glotzen� (11), wie er sich ausdr�ckt,
sondern ein unsinnliches, abstraktes Sehen im Medium des
anschaulichen Experiments�4.
2. INHALT
Geradezu emphatisch begr��t Galilei das neue Zeitalter,
das mit den Entdeckungen angebrochen ist.
Er ist �berzeugt davon, dass sich den Men- Erwartung eines
neuen Zeitalters
schen nun, da die Wissenschaft aus den Fes-
der Vernunft
seln des ptolem�ischen Weltbildes befreit
ist, ungeahnte M�glichkeiten er�ffnen. Das
alte Denken, das die Erkl�rung der Wirklichkeit aus den
Lehrs�tzen der philosophischen und theologischen Auto-
rit�ten und aus der Spekulation gewann, geh�rt der Vergan-
genheit an. An die Stelle des blinden Vertrauens tritt der
Zweifel, der Glaube wird durch die auf Vernunft gegr�nde-
te Wahrheitssuche ersetzt und die Religion verliert ihren
Sinn: Die Himmel, hat es sich herausgestellt, sind leer. Dar-
�ber ist ein fr�hliches Gel�chter entstanden� (10).
Frau Sarti unterbricht Galileis optimistische Zukunftsvi-
sion mit dem alltagspraktischen Hinweis auf seine Schulden
und k�ndigt ihm in dem jungen und nicht besonders klugen
Adligen Ludovico Marsili einen potentiellen neuen Sch�ler
an. Galileis Geldnot zwingt ihn n�mlich, reiche aber unin-
teressierte Privatsch�ler zu unterrichten. Von
Ludovico erf�hrt Galilei, dass in Holland ge- Galilei
erf�hrt von
rade das neu erfundene Fernrohr auf den
der Erfindung
Markt gekommen ist. Die Information macht
des Fernrohrs
ihn h�chst neugierig, er rechnet sich eine
Chance aus, mit Hilfe dieses Instruments,
dessen Konstruktionsprinzip er nach den Angaben Ludovi-
cos auf einem Blatt fl�chtig skizziert, eintr�gliche Gesch�f-
te zu machen.
Die Verbesserung seiner finanziellen Lage ist um so dr�n-
gender, als der Kurator der Universit�t die Nachricht bringt,
dass die von Galilei beantragte Gehaltserh�hung nicht be-
willigt wurde; denn die Mathematik sei gegen�ber der Phi-
10 2. INHALT
losophie und der Theologie eine unn�tze brotlose Kunst�
(16). Die Gedankenfreiheit, die die Republik Venedig der
Wissenschaft gew�hre, habe ihren Preis. Andernorts zahle
man vielleicht mehr, da aber regiere die Kirche, und die dul-
de keinen Gegensatz zwischen Wissenschaft und kirchlicher
Lehre. Er empfiehlt Galilei, doch wieder einmal etwas Prak-
tisches wie den Proportionalzirkel, eine Art Rechenmaschi-
ne, zu erfinden, was den Rat von Venedig erfreuen k�nne.
Das bringe wenigstens etwas ein.
Im Grunde ist Galilei mit der Verwertung seiner For-
schungsergebnisse durch den Staat einver-
Der wirtschaft- standen, er wehrt sich nur gegen �berzogene
liche Nutzen der
Erfolgserwartungen, weil dadurch seine For-
Wissenschaft
schungen behindert werden. Drastisch for-
muliert er sein Argument: Ihr verbindet
dem Ochsen, der da drischt, das Maul� (20).
2. Szene (Venedig 1609: Das gro�e Arsenal). Sich auf die Be-
schreibungen Ludovicos st�tzend, hat Galilei das Fernrohr
nachgebaut. Er hat es zwar nur verbessert, gibt es aber vor
dem Rat von Venedig als seine Erfindung aus. Die Begeiste-
rung ist gro�, denn die Vorteile scheinen
Der milit�rische au�erordentlich. Mit Hilfe des Fernrohrs
Wert des
kann man, wie der Kurator die Ratsherren
Fernrohrs
wissen l�sst, im Krieg die Schiffe des Feinds
nach Zahl und Art volle zwei Stunden fr�her
erkennen [& ] als er die unsern, so dass wir, seine St�rke wis-
send, uns zur Verfolgung, zum Kampf oder zur Flucht zu
entscheiden verm�gen� (24). Galilei hat mit der �bergabe
des Fernrohrs an den Staat sein angestrebtes Ziel erreicht,
sein Gehalt wird verdoppelt.
2. INHALT 11
3. Szene (Padua 1610: Studierzimmer). Sehr bald kommt der
Rat von Venedig dahinter, dass Galilei gar nicht der Erfinder
des Fernrohrs ist. An allen Stra�enecken werden billige Ex-
emplare aus Holland angeboten. Galilei l�sst sich aber von
den Vorhaltungen des w�tenden Kurators nicht beein-
drucken. Das Fernrohr ist ihm inzwischen f�r seine wis-
senschaftlichen Forschungen von gr��tem
Entdeckung der
Nutzen. Mit seiner Hilfe entdeckt er nicht
Jupitermonde
nur die materielle Gleichartigkeit von Erde
und Mond, er sieht auch die Monde, die um
den Planeten Jupiter kreisen. Diese bahnbrechende Ent-
deckung bedeutet einen entscheidenden Beweis f�r das von
Kopernikus theoretisch formulierte Weltsystem. Jupiter
kann nicht an einer kristallenen Schale befestigt sein, wie
bisher behauptet und gelehrt wurde, denn wie sollten sonst
Monde um ihn kreisen k�nnen.
Galileis Freund Sagredo ahnt die theologische Brisanz der
jetzt best�tigten kopernikanischen Hypo-
these und fragt irritiert: Wenn sich alle Ge- Theologische
Brisanz des
stirne frei im Raum bewegen, wo ist dann
neuen Weltbildes
Gott?� (33). Galilei antwortet zun�chst aus-
weichend, dann zitiert er Giordano Bruno,
der Gott zu einer blo�en Vorstellung des Menschen ge-
macht und gesagt hatte: Gott ist in uns oder nirgends� (33).
Das hei�t, im neuen Weltbild ist kein Platz mehr f�r einen
transzendenten Gott, der au�erhalb der menschlichen Seele
existiert.
Sagredos Warnungen, seinen Hinweis auf
Galileis Vertrauen
das Schicksal Brunos, der auf dem Scheiter-
auf die �ber-
haufen der Inquisition endete, weist Galilei
zeugungskraft
als unbegr�ndet zur�ck. Seine eigene Situati-
der Vernunft
on sei damit nicht vergleichbar, denn anders
12 2. INHALT
als Bruno k�nne er beweisen, was er behaupte. Er vertraut
auf die �berzeugungskraft der Vernunft, ihrer sanfte[n]
Gewalt� (34) werde sich auf Dauer niemand verschlie�en
k�nnen, selbst die Theologen nicht und nicht einmal der
Papst.
Doch Galilei ist sich auch bewusst, dass das Wahrnehm-
bare noch nicht das sicher Gewusste ist. Dies ist vielmehr an
die schlussfolgernde, rechnende, abstrahierende Wissens-
logik gebunden, an die unsichtbare Beweiskraft der physi-
kalisch-mathematischen Formel.5 Er plant daher, die unab-
h�ngige Republik Venedig zu verlassen und sich um einen
Ruf an den Florentiner Hof zu bewerben,
Hoffnung auf
weil er dort auf bessere Bezahlung hofft und
mehr Zeit
dadurch Zeit f�r seine Beweisf�hrungen ge-
f�r Forschungen
winnen will. Seine Begr�ndung lautet: Ich
brauche Mu�e. Ich brauche Beweise. Und
ich will die Fleischt�pfe� (37). K�rperliches Wohlbehagen
und Genuss sind ihm Bedingungen produktiven Schaffens.
Sagredo r�t ihm nachdr�cklich von Florenz ab, denn an
dem der r�mischen Kirche eng verbundenen
Sagredos vergeb- Hof der Mediceer wache die Inquisition
liche Warnung streng �ber die Einhaltung der kirchlichen
vor der Reaktion
Lehren. Diese werde sich die Existenz des
der Kirche
Himmels nicht ohne Gegenwehr zerst�ren
lassen und der Papst werde nicht einfach in
sein Tagebuch einschreiben: 10. Januar 1610  Himmel ab-
geschafft� (38). Doch Galilei schl�gt alle Warnungen in den
Wind.
4. Szene (Florenz: Haus des Galilei). Galileis Bewerbung
war erfolgreich. Voller Erwartung sieht er nun einer De-
monstration seiner Entdeckungen vor dem Gro�herzog
2. INHALT 13
und den f�hrenden Gelehrten des Florentiner Hofs entge-
gen. W�hrend er noch unterwegs ist, trifft der neunj�hrige
Gro�herzog Cosmo de Medici bereits in seinem Haus ein,
wo ihm Andrea die beiden Weltsysteme an zwei Holzmo-
dellen erkl�rt. Cosmo zeigt sich m��ig interessiert, er sieht
in den Modellen nur Spielzeug, das er nicht
wieder hergeben will. Es kommt zu einer Symbolischer
Kampf zweier
handfesten Rauferei, bei der das Modell des
Weltsysteme
Ptolem�ischen Systems zerbricht  eine sym-
bolische Vorausdeutung auf den Zusammen-
bruch des alten Weltbildes und auf die neue Erkenntnis, die
Galilei den Mathematikern und Philosophen darzulegen
beabsichtigt.
Trotz Aufbietung all seiner, auch mit viel Unterw�rfigkeit
gepaarten �berzeugungskraft, st��t Galilei
jedoch auf totale Ablehnung. Die Hofgelehr- Unvers�hnlicher
ten weigern sich, �berhaupt einen Blick Gegensatz
zwischen alter
durch das Fernrohr auf die Jupitermonde zu
Lehre und neuer
werfen, weil sie keine Sterne sehen wollen,
Erkenntnis
die es nach der herrschenden Lehre der Kir-
che gar nicht gibt. Die Heilige Schrift kann
ihrer �berzeugung nach nicht irren, ebensowenig der : g�tt-
liche Aristoteles9 (45). Gegen das bornierte Beharren auf
der unumst��lichen Autorit�t des Aristoteles kommt Gali-
lei auch nicht mit dem Argument an, der antike Philosoph
habe noch kein Fernrohr gehabt. Ihm wird daraufhin nur
die b�se Absicht unterstellt, er wolle eine �ber allen Zweifel
erhabene Autorit�t in den Kot� (48) ziehen.
Die Kontrahenten trennen sich ohne ein Anzeichen der
Ann�herung. Der Hofmarschall teilt Galilei im Weggehen
lediglich mit, dass seine Behauptungen dem an der P�pstli-
chen Universit�t in Rom lehrenden Pater Christopher Cla-
14 2. INHALT
vius, dem gr��ten lebenden Astronomen� (50), zur Pr�-
fung vorgelegt werden sollen.
5. Szene (Florenz: Die Pest). Galilei l�sst sich durch die ab-
lehnende Haltung der Florentiner Hofgelehrten weder ein-
sch�chtern noch ersch�ttern. Er setzt, obwohl in Florenz
eine Pestepedemie ausbricht, seine Forschungen unbeirrt
fort, um weitere Beweise f�r die neue Lehre vorlegen zu
k�nnen. Frau Sarti und Andrea harren an seiner Seite aus
und entscheiden sich gegen die rettende Flucht.
6. Szene (Rom 1616: Collegium Romanum). In einem Saal
der P�pstlichen Universit�t im Vatikan wartet Galilei, der
sich fast unbemerkt unter die versammelten Geistlichen
und Gelehrten gemischt hat, auf das Pr�fungsergebnis des
p�pstlichen Hauptastronomen. Eine Gruppe
Denkweise der Geistlicher spottet �ber die Dummheit�
konservativen
(58) jener, die an das neue Weltbild glauben,
Geistlichkeit
aber die Existenz des Teufels bezweifeln. Ein
M�nch spielt die durch Beobachtung gewon-
nenen Erkenntnisse Galileis gegen ein w�rtliches Verst�nd-
nis der biblischen Texte aus. Ein sehr alter Kardinal droht
Galilei gar wegen seiner angeblich ketzerischen Behauptun-
gen mit dem Scheiterhaufen. Angesichts dieser Anh�ufung
von Ignoranz und Arroganz wirkt das Urteil von Pater
Clavius, das die Richtigkeit von Galileis Entdeckungen be-
st�tigt, um so einschneidender. Die Wahrheit scheint sich
durchzusetzen.
7. Szene (Rom 1616: Haus des Kardinals). Ein Fastnachts-
ball f�hrt die gro�en Familien Italiens im Hause des Kar-
dinals Bellarmin in Rom zusammen. Auch Galilei, nun
2. INHALT 15
ein ber�hmter Mann, ist eingeladen, zusammen mit seiner
Tochter Virginia und ihrem Verlobten Ludovico. Die Kar-
din�le Bellarmin und Barberini, die ihr Gesicht hinter den
Masken von Lamm und Taube verstecken, begr��en ihn
heuchlerisch als Freund, w�hrend sie ihn in Wahrheit als
ihren Gegner betrachten. Nach einigem un-
verbindlichen Geplauder konfrontieren sie
Vorgehensweise
ihn mit der Nachricht, dass die Inquisition der kirchlichen
Beh�rden gegen
die kopernikanische Lehre trotz des Clavius-
Galilei
Gutachtens f�r t�richt, absurd und ketze-
risch� (69) erkl�rt und auf den Index gesetzt
habe: F�r Galilei das Gebot, weitergehende Forschungen zu
unterlassen und seine Forschungsergebnisse nicht zu ver-
breiten. Als mathematische Hypothese ohne Beweiskraft
d�rfe seine Lehre bestehen bleiben.
Der zum Schluss der Szene hinzukommende Inquisitor
macht den wahren Charakter der Auseinan-
dersetzung ganz deutlich. Die Kirche sieht Bedrohung des
kirchlichen
durch die neue Lehre ein neues Zeitalter im
Machtanspruchs
Zeichen des Zweifels anbrechen und dadurch
ihren universellen Machtanspruch gef�hrdet.
Angesichts dieser Position ist Galileis Vertrauen auf die
Macht vern�nftiger Beweise nichts als pure Illusion.
8. Szene (Rom 1616: Im Palast des florentinischen Gesand-
ten). Ein kleiner M�nch aus der Untersuchungskommission
des P�pstlichen Astronoms Clavius sucht das
Gespr�ch mit Galilei. Der Sohn armer Bau- Religi�se
ern macht sich zum Anwalt des alten Weltbil- Begr�ndung der
alten Ordnung
des, weil es dem ausgebeuteten Volk wenig-
stens die Hoffnung auf den Lohn Gottes und
auf ein besseres Jenseits lasse, w�hrend die neue Lehre es der
16 2. INHALT
puren Verzweiflung aussetze. Denn indem sie die Erde aus
der Mitte des Kosmos an den Rand r�cke, widerlege sie die
g�ttliche Weltordnung und nehme damit dem Leiden der
Armen seinen Sinn.
Galilei widerspricht heftig der von dem kleinen M�nch
unausgesprochen mitgemeinten Auffassung, dass die Le-
bensform der Bauern, sprich ihre Armut, nat�rlich, das
hei�t gottgegeben sei. Sie sei vielmehr die Folge der Macht-
politik der r�mischen Kurie, weil die Bauern deren Kriege
mit ihrer Arbeitsleistung bezahlen m�ssten. Doch die-
ser Zustand lie�e sich �ndern, zum Beispiel mit Hilfe der
Wasserpumpe, einer seiner neuen Erfindun-
Die sozial- gen, die die Feldarbeit erheblich erleich-
revolution�re tere. Auf das zur Diskussion stehende Pro-
Wirkung der
blem �bertragen, hei�t das: Wir k�nnen
neuen wissen-
nicht Maschinerien f�r das Hochpumpen
schaftlichen
von Flu�wasser erfinden, wenn wir die gr��-
Erkenntnisse
te Maschinerie, die uns vor Augen liegt, die
der Himmelsk�rper, nicht studieren sollen�
(78). Und noch ein Zusammenhang sei offenkundig: Wie das
neue Weltbild nicht verschwiegen werden d�rfe, d�rften
auch die Bauern nicht im alten Zustand verharren, das aus-
gebeutete Volk m�sse in Bewegung kommen und denken
lernen� (79).
Die Argumente �berzeugen den kleinen M�nch. Augen-
blicklich vertieft er sich in eine neue Schrift Galileis �ber die
Entstehung von Ebbe und Flut, um die frisch erwachte Lust
an der Erkenntnis zu stillen.
9. Szene (Florenz 1623: Haus des Galilei). Zum Stillhalten
gezwungen, schweigt Galilei �ber acht Jahre hin. Er be-
sch�ftigt sich mit seinen Sch�lern, zu denen neben dem in-
2. INHALT 17
zwischen erwachsenen Andrea der Linsenschleifer Feder-
zoni und der kleine M�nch geh�ren, mit den Eigenschaften
schwimmender K�rper, also allt�glichen Forschungsarbei-
ten, die ihn nicht in Konflikt mit der Kirche bringen k�n-
nen. Trotzdem st��t er auch hier immer wieder auf neue Er-
kenntnisse, die in Widerspruch zur Lehre des Aristoteles
stehen.
Ludovico, der seit Jahren mit Galileis Tochter Virginia
verlobt ist, kommt auf der Durchreise zu Besuch. Mehr bei-
l�ufig erw�hnt er, dass der Papst im Sterben liege und der
mathematisch und naturwissenschaftlich ge-
bildete und Galilei angeblich freundlich ge- Hoffnung auf
den neuen Papst
neigte Kardinal Barberini als sein m�glicher
Nachfolger im Gespr�ch sei. Aufgrund dieser
Nachricht beginnt Galilei voller Hoffnung sofort, die un-
tersagten Forschungen wieder aufzunehmen und auf das
Feld der Sonnenflecken auszudehnen. Damit entzweit er
zugleich Ludovico und seine Tochter. Weil
Bruch Galileis
Ludovico, ein Repr�sentant der die Bauern
mit Ludovico
ausbeutenden Oberschicht, durch Galileis
erneute Forschungsarbeiten die bestehende
Gesellschaftsordnung gef�hrdet glaubt, l�st er die Verlo-
bung mit Virginia.
10. Szene (Italien Fastnacht 1632: Marktplatz). Im folgen-
den Jahrzehnt finden Galileis Forschungs-
ergebnisse Eingang ins Volk und versetzen Verbreitung der
neuen Lehre
es in die l�ngst erhoffte Bewegung�. �berall
 in der Szene ist es der Marktplatz einer
oberitalienischen Stadt  greifen Pamphletisten und Balla-
dens�nger [& ] die neuen Ideen auf� (94) und verh�hnen die
kirchlichen Autorit�ten auf Fastnachtsumz�gen.
18 2. INHALT
11. Szene (Florenz 1633: Im Palast der Medici). Galileis
Hoffnungen auf die wissenschaftliche Aufgeschlossenheit
des neuen Papstes erf�llen sich nicht. Der ehemalige Kardi-
nal Barberini, der sich jetzt Urban VIII. nennt, beugt sich
dem Druck der Inquisition. W�hrend der weltbekannte
Forscher� (99) zusammen mit seiner Tochter auf eine Audi-
enz beim Gro�herzog von Florenz wartet, dem er sein neu-
es Buch mit Dialogen �ber die beiden gr��ten Weltsyste-
me� (103) �berreichen m�chte, sucht ihn der Eisengie�er
Vanni zur Flucht zu �berreden. Vanni, Repr�sentant des
b�rgerlichen Mittelstandes, versichert Galilei, die oberitali-
enischen St�dte st�nden hinter ihm, weil sie
Galilei verkennt ohne M�nner wie ihn, die sich f�r die Frei-
die ihm
heit einsetzten, nicht bestehen k�nnten. Ga-
drohende Gefahr
lilei weist das Hilfsangebot br�sk zur�ck. Er
misstraut der Macht des B�rgertums und be-
streitet au�erdem die Verantwortung f�r die sozialrevolu-
tion�ren Folgen seiner Lehre: Er habe ledig-
Galilei bestreitet
lich ein Buch �ber die Mechanik des Univer-
die gesellschaft-
sums geschrieben. Was daraus gemacht
lichen Auswirkun-
werde oder nicht gemacht werde, gehe ihn
gen seiner
nichts mehr an (103). Erst als der Gro�her-
Wissenschaft
zog sein Buch nicht annimmt, begreift Gali-
lei den Ernst der Lage. F�r eine Flucht ist es jetzt aber zu
sp�t, er wird verhaftet, um nach Rom gebracht zu werden.
12. Szene (Rom 1633: Gemach des Vatikans). Hinter ver-
schlossenen T�ren im Gemach des Vatikans diskutiert der
neue Papst mit dem Kardinal Inquisitor �ber den Fall Gali-
lei. W�hrend der Audienz wird er in seine liturgischen Ge-
w�nder gekleidet und ist am Ende in vollem Ornat� (108).
Symbolisch wird mit diesem Vorgang auf die einbindenden
2. INHALT 19
Rollenzw�nge verwiesen, die ihm sein Amt auferlegt. So
h�lt er dem Inquisitor zun�chst zwar noch wissenschaftliche
Argumente entgegen, die f�r Galilei sprechen, widersetzt
sich aber nicht mehr, als dieser die Gef�hr-
lichkeit der neuen Lehre f�r den Glauben
Bef�rchtete
anspricht. Die beabsichtigte Bedrohung der Folgen der
neuen Lehre
Glaubenswahrheiten zeige sich schon darin,
f�r den Glauben
dass Galilei seine Schriften in der Volksspra-
der einfachen
che und nicht mehr in der Wissenschaftsspra-
Leute
che Latein verfasse. Wenn die einfachen Leu-
te erst einmal gelernt h�tten, sich ihrer Ver-
nunft zu bedienen, w�rden sie auch vor der kritischen
Befragung der Glaubensaussagen nicht zur�ckschrecken.
Der Papst �berantwortet Galilei schlie�-
lich der Inquisition mit der Anweisung, da�
Galileis
man ihm�, sollte er den geforderten Widerruf
Aush�ndigung
seiner Lehre verweigern, im �u�ersten Fall an die Inquisition
die Folterinstrumente zeigt�, d. h. mit der
Folter droht.
13. Szene (Rom 1633: Im Palast des florentinischen Ge-
sandten). Galileis Sch�ler, die auf den Ausgang des Inquisi-
tionsprozesses warten, sind �berzeugt, dass
Galileis Widerruf
er nicht widerrufen wird. Doch er unterwirft
sich der Macht und schw�rt am 22. Juni
1633� (109) seiner Lehre ab. Ma�los entt�uscht ruft Andrea
aus: Ungl�cklich das Land, das keine Helden hat!� (113).
Er beschimpft Galilei und bezichtigt ihn, er habe nur seine
Haut retten und sein angenehmes Leben sichern wollen.
Dieser, vom Prozess sichtlich gezeichnet, vermag zun�chst
gar nichts zu erwidern, h�lt dann aber Andrea entgegen:
Nein. Ungl�cklich das Land, das Helden n�tig hat� (114).
20 2. INHALT
14. Szene (Arcetri, nach 1633: Landhaus). Galilei lebt als
Gefangener der Inquisition mit Virginia in
Leben in
der N�he von Florenz. Virginia, verbittert
Gefangenschaft
durch Ludovicos Aufk�ndigung der Verlo-
bung, wacht dar�ber, dass ihr Vater keine
verbotenen Forschungen ver�ffentlicht. Alles, was er ihr
diktiert, �bergibt sie der Kirche, die es beschlagnahmt, auch
die Discorsi, eine dialogisierte Abhandlung �ber die Mecha-
nik und die Fallgesetze.
Jahre sp�ter besucht Andrea, der auf dem Weg nach
Holland ist, den halberblindeten Galilei. Die Unterredung
der beiden verl�uft zun�chst z�h, zumal Virginia anwesend
ist. Andrea ist sehr distanziert, er berichtet mit sichtlich ge-
gen Galilei gerichteter Vorwurfshaltung von den durch sei-
nen Widerruf entstandenen Schwierigkeiten der Wissen-
schaftler. Erst nachdem Virginia sich entfernt
Unterschiedliche
hat, wird das Gespr�ch offener. Galilei �ber-
Begr�ndungen
gibt Andrea schlie�lich die heimlich gefertig-
des Widerrufs
te Abschrift seines Buchs, der Discorsi. Nun-
mehr bejaht Andrea Galileis Widerruf, weil
er glaubt, er habe ihn aus List vollzogen, um sich die M�g-
lichkeit zu verschaffen, seine wissenschaftlichen Forschun-
gen fortzusetzen. Galilei belehrt ihn jedoch, dass er aus
Angst vor der Tortur der Folter widerrufen habe.
Andrea sucht das Eingest�ndnis mit dem Argument
herunterzuspielen, letztlich z�hle nicht das Motiv des Wis-
senschaftlers, sondern das Ergebnis seiner
Forschungen. Er fordert damit jedoch den
Sozialethischer
Zweck der entschiedenen Widerspruch Galileis heraus
Wissenschaft
und veranlasst ihn, seine Auffassung von
der Ethik des Wissenschaftlers darzulegen.
Durch ihre Methode des kritischen Zweifels an �berkom-
2. INHALT 21
menen Lehrmeinungen sei die Wissenschaft auch ein Instru-
ment der Kritik an den �berlieferten Strukturen einer aus-
beuterischen Klassengesellschaft. Das einzige Ziel der Wis-
senschaft habe darin zu bestehen, die M�hseligkeit der
menschlichen Existenz zu erleichtern� (125), anders gesagt,
das Wissen in den Dienst einer Ver�nderung der sozialen
Herrschaftsverh�ltnisse zu stellen. Eindringlich warnt Ga-
lilei davor, zweckfreie Wissenschaft zu betreiben oder das
Wissen gar selbsts�chtige[n] Machthaber[n]� (125) zu
�bereignen. Dann k�nnte eines Tages die Kluft zwischen
der breiten Masse des Volkes und den Wissenschaftlern so
gro� werden, dass ihr Jubelschrei �ber irgendeine neue Er-
rungenschaft von einem universalen Entsetzensschrei be-
antwortet� werde (126).
Galilei schlie�t mit dem Bekenntnis, er habe, an diesem
Ma�stab gemessen, versagt und als einfluss-
reicher Wissenschaftler eine einzigartige
Galilei bezichtigt
M�glichkeit� des folgenreichen Widerstands sich des Verrats
an der
und der Solidarisierung der Wissenschaftler
Wissenschaft
vertan. H�tte er widerstanden, h�tten die
Naturwissenschaftler etwas wie den hippo-
kratischen Eid der �rzte entwickeln k�nnen, das Gel�bnis,
ihr Wissen einzig zum Wohle der Menschheit anzuwenden�
(126). Er aber habe sein Wissen den Machthabern� �berge-
ben und seinen Beruf verraten� (126). Sein Fazit lautet:
Ein Mensch, der das tut, was ich getan habe, kann in den
Reihen der Wissenschaft nicht geduldet werden� (126).
15. Szene (1637: Grenzstadt). Das St�ck endet damit, dass
Andrea die Discorsi �ber die Grenze bringt. Mittels der List,
das Manuskript ganz offen in der Hand zu behalten, entgeht
er erfolgreich den Kontrollen der Grenzw�chter.
22 2. INHALT
Die letzte Szene schl�gt den Bogen zur ersten, in der
Galilei voller Optimismus eine neue Zeit
: Bedingt9 gekommen sah. Andrea, der Repr�sentant ei-
optimistische
ner neuen Wissenschaftlergeneration, kn�pft
Zukunfts-
hier an, wenngleich sein Optimismus verhal-
perspektive
tener erscheint. Sein Satz Wir stehen wirk-
lich erst am Beginn� (131) ist aber zugleich
der Schlusssatz des Dramas.
Bemerkenswert ist freilich, dass Brecht darauf verzichtet
hat, seine Berliner Inszenierung des St�cks mit dieser opti-
mistischen Zukunftsperspektive statt mit der Selbstverurtei-
lung Galileis enden zu lassen. Die Szene steht : nur9 in der
Buchausgabe.
3. Personen
Das Personenverzeichnis weist drei unterschiedliche
Kategorien auf: In der ersten sind die Fi-
Figuren-
guren durch einen Namen identifizierbar
kategorien
 neben Galilei selbst beispielsweise seine
Tochter Virginia und ihr zeitweiliger Ver-
lobter Ludovico, Andrea Sarti und dessen Mutter oder
Galileis Freund Sagredo  , in der zweiten sind sie nur in
ihrer Funktion benannt  der Doge etwa oder der Kar-
dinal Inquisitor, der Theologe, der Philosoph oder der
Mathematiker  , und in der dritten finden sich solche,
die bestimmte gesellschaftliche Gruppen repr�sentie-
ren  zum Beispiel Ratsherren, M�nche oder Gelehrte.
Das klassische Drama legte gro�en Wert darauf, das Han-
deln und Verhalten der Figuren aus ihrem Charakter heraus
sichtbar zu machen und zu erkl�ren. Da-
durch konnte ein Konflikt individualisiert
Figuren als
und die Identifikation des Zuschauers mit
Repr�sentanten
den agierenden : Helden9 bewirkt werden. weltanschau-
Brecht, der in seinem episch-dialektischen licher, gesell-
schaftlicher
Theater die Empathie des Zuschauers durch
und politischer
Distanz ersetzen wollte, hat zwar gerade in
Positionen
Leben des Galilei nicht darauf verzichtet, sei-
ne Hauptfigur als Pers�nlichkeit zu gestalten,
bei den anderen Figuren war es ihm aber meist wichtiger, sie
als Vertreter einer bestimmten Position erkennbar zu ma-
chen, als ihren individuellen Charakter herauszuarbeiten.
L�sst man Galileis Familie unber�cksichtigt, zu der ne-
ben Virginia auch Frau Sarti gez�hlt werden darf, sind
zwei gegens�tzliche Figurengruppen auszumachen: Auf
24 3. PERSONEN
der einen Seite stehen die Repr�sentanten der alten Zeit,
die Vertreter der Kirche, die Gelehrten am Florentiner
Hof und der adlige Gro�grundbesitzer Ludovico. Auf
der anderen Seite gruppieren sich die Repr�sentanten der
neuen Zeit, Andrea Sarti, der Linsenschleifer Federzoni,
der Eisengie�er Vanni und, nach einigen inneren K�mp-
fen, der kleine M�nch Fulganzio.
Bei solch polarisierender Zuordnung der Figuren ist je-
doch zu beachten, dass diese Konstellation sich nur vom
Gesamtbild her erschlie�t, w�hrend sich bei genauerer Be-
trachtung vielfache Differenzierungen und auch dialekti-
sche Umbr�che ergeben.
Am eindeutigsten repr�sentieren die Florentiner Gelehr-
ten, die Mitglieder des Inquisitionsgerichts
Repr�sentanten und Ludovico die alte Zeit. Bei einigen Ver-
der alten Zeit
tretern der Kirche ist die eindeutige Zu-
ordnung hingegen schwieriger. Zur Kirche
geh�ren nicht nur die Inquisition, sondern gleicherma�en
der P�pstliche Hauptastronom Christopher Clavius, der
Galileis Lehre best�tigt, und Kardinal Barberini, der auf-
grund seiner naturwissenschaftlichen Bildung f�r Galilei
eintritt. Zum Papst geworden, �berl�sst er Galilei erst der
Inquisition, als sein Amt ihn zur Verteidigung des Glaubens
zwingt, der durch die Verbreitung der neuen Lehre unter
dem Volk h�chst gef�hrdet erscheint.
Eine besondere Rolle in Brechts Dramen-
Der kleine
konzeption kommt dem kleinen M�nch zu.
M�nch:
Bei ihm verlegt Brecht den Zwiespalt zwi-
Widerstreit
schen den Positionen der alten und der neu-
zwischen altem
en Zeit in die Figur selbst. Ich wu�te nicht,
Weltbild und
wie ich das Dekret, das ich gelesen habe, und
neuer Erkenntnis
die Trabanten des Jupiter, die ich gesehen ha-
3. PERSONEN 25
be, in Einklang bringen sollte� (74), bekennt er eingangs sei-
nes Gespr�chs mit Galilei. Als Priester und Mann der Kir-
che deutet er den Erlass des Heiligen Offiziums als Aus-
druck h�herer Weisheit, die den armen Menschen immerhin
die Gewissheit gibt, da� in ihrem Ungl�ck eine gewisse
Ordnung verborgen liegt� (75). Galilei entlarvt die angeb-
lich sinnstiftende Ordnung als Ausbeutungsinstrument der
herrschenden Klasse und setzt dem Willen, an ihr festzuhal-
ten, die Forderung nach revolution�rer Ver�nderung entge-
gen. Weil er den kleinen M�nch davon �berzeugen kann,
dass seine Wissenschaft Antriebskraft und St�tze dieser not-
wendigen Umw�lzungen ist, gewinnt er in ihm einen neuen
Sch�ler und Anh�nger der neuen Lehre. Er symbolisiert
die Hoffnung, dass die unteren sozialen Schichten sich dem
Neuen �ffnen, durch wissenschaftliche Betrachtungsweise
die Ursachen ihres Elends erkennen und durch aktive wis-
senschaftliche Arbeit sich daraus befreien.�6
Angesichts des durchlaufenen Entwicklungsprozesses
trifft es den kleinen M�nch umso h�rter, dass Galilei seine
Lehre unter dem Druck der Inquisition widerruft. Seine
R�ckkehr in den Scho� der Kirche erscheint daraufhin fol-
gerichtig.
Mindestens ebenso hart wie der kleine M�nch sieht An-
drea Sarti sich vom Widerruf Galileis betroffen. Brecht hat
ihm die Rolle des wissbegierigen Sch�lers zu-
gewiesen, und als dieser hat er von Anfang an
Sch�ler
den Forschungen und Entdeckungen seines Galileis und
Lehrers Anteil nehmen d�rfen. Die enge Be- Repr�sentant
der neuen
ziehung, die daraus erwachsen ist, reicht bis
Wissenschaft
in den pers�nlichen Bereich hinein; keine an-
dere Figur steht Galilei so nahe wie Andrea.
Er wird Physiker, wie er es sich bereits als kleiner Junge
26 3. PERSONEN
w�nschte, bleibt w�hrend der Pest an Galileis Seite und
traut sich bald sogar eigene Forschungsaktivit�ten zu. Der
Widerruf seines bewunderten und verehrten Lehrers f�hrt
dann aber zu einem Bruch, der bis zum Besuch bei dem in
Arcetri Arretierten anh�lt. Erst als Andrea von Galilei er-
f�hrt, dass er heimlich eine Abschrift von den Discorsi an-
gefertigt habe, deren Original er der Kirche hatte �ber-
lassen m�ssen, wandelt sich seine Haltung wieder von
Ablehnung zu Anerkennung. Dass er damit den Wider-
spruch Galileis ausl�st und ihn zur Selbstanalyse und
anschlie�ender Darlegung seiner Ethik veranlasst, ihn al-
so gewisserma�en das Fazit seines Lebens ziehen l�sst,
verweist auf seine besondere Stellung in der Dramaturgie
des St�cks. Unterstrichen wird diese noch in zweierlei
Hinsicht: Indem er in den Dialog die Argumentation ein-
bringt, die Wissenschaft sei voraussetzungslos und wert-
frei, sie kenne nur ein Gebot: den wissenschaftlichen
Beitrag� (124), wird er zum Sprachrohr einer Position,
die Brecht aus den historischen Geschehnissen heraus
den Wissenschaftlern seiner Gegenwart zum Vorwurf
macht. Indem ihm andererseits die Aufgabe zuf�llt, die
Discorsi �ber die Grenze zu schaffen, was ihm mit einer
klugen List gelingt, wird er zum Hoffnungstr�ger einer
neuen Zeit, in der das Werk Galileis endlich zur Wirkung
kommen kann.
Die Rolle Andreas im St�ck zeigt am deutlichsten, wie
Brecht alle handlungstragenden Figuren in
Hauptfigur
ihrer Beziehung auf Galilei hin anordnet. Er
ist, worauf ja bereits der Titel hinweist, die
zentrale Figur, um die sich alles dreht. Diese B�hnenfigur zu
erfassen, ist jedoch nicht einfach, weil Brecht sie reichlich
widerspr�chlich gestaltet hat.
3. PERSONEN 27
In Dingen der Wissenschaft ist Galilei vern�nftig und
vorsichtig-pr�fend, ist der methodische Zweifel Grundlage
seines Denkens, in der Einsch�tzung des Verhaltens der
M�chtigen aber ist er naiv und unvern�nftig. Sagredo analy-
siert k�hl: So mi�trauisch in deiner Wissenschaft, bist du
leichtgl�ubig wie ein Kind in allem, was dir
ihr Betreiben zu erleichtern scheint� (39). Widerspr�ch-
lichkeit Galileis
Galilei verachtet die : Filze9 der Republik Ve-
nedig, �bergibt ihnen aber mit tiefer Freu-
de und aller schuldigen Demut� (23) das angeblich von ihm
entwickelte Fernrohr, und mit der gleichen unterw�r-
fig[en] [& ] Demut� (48) dient er sich auch dem Herzog von
Florenz an. Er �u�ert Einsichten �ber den wahren, macht-
politischen Charakter des kirchlichen Dekrets, schweigt
aber acht Jahre lang. Er wei� um die revolution�re Spreng-
kraft seiner Forschungen und f�rdert diese, indem er in der
Volkssprache schreibt, leugnet aber im Angesicht drohender
Gefahr eine solche Bedeutung seines Werks. Er zeigt Mut
und Unerschrockenheit gegen�ber der Pest, um sein wis-
senschaftliches Forschen nach Beweisen f�r seine Ent-
deckungen nicht unterbrechen zu m�ssen, versagt aber vor
der Inquisition und gibt mit seinem Widerruf die Wahrheit
seiner Lehren dem Angriff seiner Feinde preis.
Weil er sich der Macht unterworfen hat, um f�r seine Ar-
beit die erforderlichen Mittel und Ruhe zu haben und
au�erdem ein einigerma�en angenehmes Leben liebte, und
weil er seine Lehren widerrufen hat, um Fol-
ter und Tod zu entgehen, steht Galilei am
Zweifel
Ende des St�cks als Negativ-Held da. Dies
als wissenschaft-
um so mehr, als er am Anfang durchaus als liches
Forschungsprinzip
positive Gestalt erscheint. Er vertritt da mit
der Haltung des Zweifelns, des Experimen-
28 3. PERSONEN
tierens, der kritischen Infragestellung aller �berkommenen
Wahrheiten, des Glaubens an die menschliche Vernunft und
des lustvollen Lehrens den Optimismus einer neuen Zeit,
die im Zeichen der Naturbeherrschung zu einem Zeitalter
werden k�nnte, : in dem zu leben eine Lust ist9 (12)�7. Doch
dieser Fortschrittsoptimismus h�lt nicht vor, er wird Schritt
f�r Schritt zu der Erkenntnis aufgebraucht, da� die Wahr-
heit nicht autonom und die Wissenschaft in ihrer Entfaltung
durch die Interessen der M�chtigen eingeschr�nkt ist�8. An
deren Widerstand aber erkennt Galilei den sozialen Zusam-
menhang seiner Einsichten. Der wissenschaftliche Zwei-
fel, Motor seiner Forschungsaktivit�ten, be-
Zweifel m�chtigt sich zunehmend auch seiner Hoff-
an der Durchset- nungen und Gewissheiten, bis er schlie�lich
zungskraft
den naiven Glauben an die selbstt�tige Wirk-
der Wahrheit
kraft der Vernunft aufgibt: Es setzt sich nur
so viel Wahrheit durch als wir durchsetzen;
der Sieg der Vernunft kann nur der Sieg der Vern�nftigen
sein� (78).
Indem Brecht derart die Erwartungen und Lebensper-
spektiven Galileis von Mal zu Mal heftiger in ihr Ge-
genteil umschlagen� l�sst, r�ckt er den Betrachter in
: epische Distanz9 zu seiner Hauptfigur� und fordert seine
reflexive Aufmerksamkeit� heraus.9
Solche in der Figurenperspektive angelegte Distanz wi-
derspricht der von mehreren Interpreten vorgebrachten
These, dass dieses St�ck im Stile der konventionellen
: aristotelischen9 Einf�hlungsdramatik geschrieben sei.10
Zweifellos kann die Hauptfigur beim Betrachter mit-
f�hlende Empfindungen ausl�sen, das hat Brecht auch
nicht verhindern wollen. Er zeichnete in dem Wissen-
schaftler und Lehrer Galilei eine gro�e Einzelfigur, die
3. PERSONEN 29
bahnbrechende Entdeckungen macht, soziale Bewegun-
gen in Gang setzt, in der Konfrontation mit der Kirche
aber vor der Inquisition ihr Wissen verr�t. Dieser Ent-
wicklungsprozess bleibt nicht ohne Wir-
kung auf den Zuschauer. Anders jedoch als Distanz
im klassischen Drama ist er nicht als aus- zur Hauptfigur
als erstrebtes
weglos tragischer Konflikt gestaltet, son-
Zuschauer-
dern als bewusste Entscheidung, die auch
verhalten
h�tte anders ausfallen k�nnen. Das St�ck
Leben des Galilei ist daher, wie Brecht
selbst in seinen Anmerkungen feststellte, auch keine
Trag�die�11, die den Zuschauer ganz in ihren Bann zieht.
Gerade die Widerspr�chlichkeit der Hauptfigur h�lt ihn
vielmehr auf Distanz und gibt ihm st�ndig Gelegenheit,
sich mit seinen eigenen Gedanken gleichsam einzumi-
schen. Genau diese aktive Rezeption ist von Brecht beab-
sichtigt.
4. Aufbau und Form
Die f�nfzehn Szenen des St�cks, die in arabischen Zahlen
durchnummeriert sind, scheinen auf den ersten Blick in
lockerer Folge aneinander gereiht zu sein. Genauer besehen,
sind sie jedoch �u�erst kunstvoll miteinander verzahnt, und
jede Szene steht in einem mehrfachen Spannungsverh�lt-
nis zu den vorangehenden und nachfolgen-
Keine Lebens- den wie auch zum Ganzen des St�cks. Was
chronik Galileis
sich zun�chst als einfache, chronikartige
Abfolge von Lebensstationen Galileo Gali-
leis ausnimmt, erweist sich als wohl �berlegt komponierter
Aufbau.12
Die ersten drei Szenen dienen der Entfaltung von Gali-
leis Pers�nlichkeit und schildern die Entste-
Strukturierung
hungsbedingungen der neuen wissenschaftli-
der Handlung
chen Erkenntnis. Die Szenen vier und f�nf
zeigen die Demonstration des neuen Wissens
und vertiefende Forschungen, die Galilei selbst angesichts
der lebensbedrohenden Pestepidemie nicht unterbricht, die
Szenen sechs und sieben bringen die h�chste Anerkennung
durch das Collegium Romanum und das Verbot durch die
Inquisition. Der achten Szene mit dem Gespr�ch zwischen
Galilei und dem kleinen M�nch kommt eine eigene Stellung
zu. Sie steht zeitlich am Ende des ersten Handlungsverlaufs,
nachdem Galileis Lehre auf den Index kam, und vor dem
neuen Anfang mit der Wiederaufnahme der Forschung. In-
haltlich r�ckt sie mit der Frage nach dem Zusammenhang
von Wissenschaft und Gesellschaft das Thema in den Vor-
dergrund, das im weiteren Verlauf im Mittelpunkt stehen
wird. Die Szenen neun bis dreizehn zeigen die Versch�r-
4. AUFBAU UND FORM 31
fung der Entwicklung bis zur Auslieferung Galileis an die
Inquisition und zu seinem Widerruf. Die beiden letzten
Szenen handeln von dessen Folgen, der Gefangenschaft in
Arceti, der Selbstanalyse und -verurteilung Galileis und
schlie�lich vom Beginn der grenz�berschreitenden Weiter-
verbreitung der neuen Lehre.
Inhaltlich ist die Szenenfolge nach dem Prinzip von Par-
allele und Kontrast strukturiert. Wird das
Fernrohr in der zweiten Szene von den Ve- Parallele und
neziern als Quelle k�nftiger milit�rischer Kontrast
als inhaltliches
und wirtschaftlicher �berlegenheit begeistert
Bauprinzip
aufgenommen, lehnen es die Florentiner in
der vierten Szene als Instrument wissen-
schaftlicher Forschung radikal ab. W�hrend Galilei in der
zehnten Szene von Balladens�ngern als Sozialrevolution�r
gefeiert wird, liefern ihn seine adligen Geldgeber nicht zu-
letzt aus diesem Grund an die Inquisition aus. Vertraut er in
der dritten Szene bei seinem Wechsel nach Florenz auf die
sanfte Gewalt der Vernunft�, veranlasst der sich im Volk
ausbreitende Vernunftglaube den Papst, ihn zum Widerruf
zu zwingen. Un�bersehbar sind die Parallelen zwischen der
ersten und der letzten Szene. Begr��te Galilei zu Anfang
den Morgen einer neuen Zeit, ist es am Schluss Andrea, der
den Beginn einer neuen Zeit gekommen sieht.
In dem kunstvoll gestalteten Aufbau haben manche Inter-
preten �hnlichkeiten mit der Struktur des konventionellen
Dramas erkennen wollen; es fehlte auch nicht der Versuch,
die Szenenfolge in das f�nfaktige Schema der
klassischen Dramaturgie pressen zu wollen.13 Gestaltungsmittel
Gegen solche Analysen sprechen jedoch ei- des episch-dialek-
ne Reihe von Formmerkmalen, die sich un- tischen Theaters
schwer Brechts Konzept des episch-dialekti-
32 4. AUFBAU UND FORM
schen Theaters zuordnen lassen. Aus dem Repertoire der
st�ckimmanenten Episierungstechniken fehlen zwar Ele-
mente wie eine Erz�hlerfigur, Ch�re und Songs; die soge-
nannten V(erfremdungs)-Effekte wie Szenentitel, Projek-
tionen und kommentierende Epigramme sind jedoch vor-
handen.
Die Texte, die jede Szene einleiten, sind keine Regiean-
weisungen, sie sollen vielmehr in die Auff�hrung des St�cks
einbezogen werden. Die Szenentitel, die im
Funktion von Theater auf den B�hnenvorhang projiziert
Szenentiteln und
werden k�nnen, informieren knapp �ber den
Epigrammen
Inhalt der jeweils folgenden Handlung und
haben dar�ber hinaus die wichtige Funktion,
den Flu߫ der dargestellten Geschehnisse� zu unterbre-
chen und die Fabel� in Teile zu zerlegen.14 Dies soll dem
Fortgang der Handlung seine Spannung nehmen, die Ein-
f�hlung des Zuschauers verhindern und die Aufmerksam-
keit des Betrachters vom : Was9 auf das : Wie9 der Darstellung
lenken.
Die epigrammartigen Verse am Anfang der Szenen sollen
nach der Vorstellung von Brecht von einem Kinderchor ge-
sungen werden. Sie �hneln auch in ihrer Diktion zuweilen
einfachen Kinderliedern. Meist kommentieren sie das kom-
mende Geschehen und weisen auf ganz bestimmte Aspekte
voraus.
Alle diese szenischen Mittel reflektieren auf je eigene
Weise das Prinzip der Verfremdung�15. Die-
Verfremdung
ses hat in Brechts Konzeption des episch-
dialektischen Theaters die Funktion, einem
Vorgang� oder einem Charakter das Selbstverst�ndliche,
Bekannte, Einleuchtende� zu nehmen und �ber ihn Stau-
nen und Neugierde� zu erzeugen.
4. AUFBAU UND FORM 33
Brecht hat die gro�en St�cke episch-dialektischen Thea-
ters als Parabeln gestaltet, weil er mit Hilfe der Gleichnis-
form Weltbilder� entwerfen konnte, das hei�t Modelle
des Zusammenlebens der Menschen, die es dem Zuschau-
er erm�glichen [& ], seine soziale Umwelt zu verstehen
und sie verstandesm��ig und gef�hlsm��ig zu beherr-
schen�16. Gleichnisse erhoffen vom Zu-
Beabsichtigtes
h�rer bzw. Zuschauer immer, dass er aus
Zuschauer-
ihnen Konsequenzen ziehe und etwas f�r
verhalten
sein eigenes Leben lerne. Der Parabel-
erz�hler setzt sie ein, um die Zuh�rer
von seiner Sicht der Dinge zu �berzeugen und f�r sei-
ne Handlungsvorschl�ge zu gewinnen. Nichts anderes
macht Brecht mit den Parabeln des episch-dialektischen
Theaters. Unter Einsatz der Mittel der Verfremdung, mit
deren Hilfe er die theatralische Illusion zerst�rt, die das
klassische Drama sich zum Ziel gesetzt hatte, provoziert
er die kritische Reflexion des Zuschauers und fordert ihn
zu Konsequenzen f�r sein eigenes gesellschaftliches Han-
deln auf.
Diese dramaturgische Praxis und die ihr innewohnende
Intention gilt unver�ndert auch f�r das
St�ck Leben des Galilei, obwohl Brecht es �hnlichkeiten
mit dramatischen
selbst im Untertitel als Schauspiel� ausgibt.
Parabeln
Die Kennzeichnung Parabel� verbietet sich
nur, weil er den Stoff bereits in der Geschich-
te vorfand und folglich nicht mehr v�llig frei erdichten und
gestalten konnte.
5. Wort- und Sacherl�uterungen
7,3 das neue kopernikanische Weltsystem: Bezeichnung
f�r das heliozentrische Weltbild (Sonne als Mittelpunkt
des Planetensystems). Sein Begr�nder ist Nikolaus Ko-
pernikus (11,3).
7,28 Ptolem�ischen Systems: Bezeichnung f�r das geozen-
trische Weltbild (Erde als Mittelpunkt des Planetensy-
stems). Sein Begr�nder ist der �gyptische Astronom
Claudius Ptolem�us (ca. 100 180). Da es auch mit den
Aussagen der Bibel in �bereinstimmung gebracht wer-
den konnte, galt es noch zu Galileis Zeit als unumst��li-
che Lehre.
8,1 Astrolab: von den Arabern erfundenes Ger�t zur Be-
rechnung von Gestirnpositionen; hier: Sph�renmodell
des Universums.
8,10 kristallnen Sph�ren: Sph�re: (griech.) Kugel, Kugel-
schale. Nach der Lehre des Aristoteles (19,11) sind die
Gestirne fest mit kristallenen Schalen verbunden, auf de-
nen sie sich in Kreisbahnen um die Erde drehen.
8,30 kristallenen Kugel: Wiederum nach der Lehre des
Aristoteles dachten sich die Menschen das Weltall als
gro�e undurchdringliche Kugel aus ineinanderliegenden
Kristallschalen, in deren Mittelpunkt die Erde ruht.
9,22 Disput: Streitgespr�ch.
9,34 Pr�laten: h�here Geistliche der r�misch-katholischen
Kirche.
10,4 Spinnrocken: Teil eines Spinnrades.
11,3 Kippernikus: eigentlich Kopernikus. Das Wortspiel
mit dem Namen soll deutlich machen, dass er die alten
Vorstellungen kippt�, d. h. st�rzt. Der Domherr Niko-
5. WORT- UND SACHERL�UTERUNGEN 35
laus Kopernikus (1473 1543) zu Frauenburg (Ermland)
hatte in Bologna, Padua und Ferrara juristische und na-
turwissenschaftliche Studien betrieben und dann ein
heliozentrisches Weltmodell mit der Sonne als Mittel-
punkt entworfen. Sein Hauptwerk De revolutionibus or-
bium coelestium (�ber die Kreisbewegungen der Welt-
k�rper) wurde erst in seinem Todesjahr ver�ffentlicht.
13,1 Fakt: nachpr�fbare Tatsache.
14,19 Campagna: fruchtbares Landwirtschafts- und Wein-
baugebiet in der N�he von Rom.
14,26 Skudi: alte italienische Silberm�nzen (Einzahl: Sku-
do).
15,10 kosmische Rohr: das Teleskop des holl�ndischen
Linsenschleifers Hans Lippershey (vgl. 23,6).
15,13 konkave: nach innen gew�lbte.
konvexe: nach au�en gew�lbte.
15,35 tote Sprache: nicht mehr gesprochene Sprache: Alt-
griechisch, Latein.
16,6 Kurator: Verm�gensverwalter, Leiter der Univer-
sit�tsverwaltung.
16,22 die Republik: Gemeint ist die Republik Venedig, die
im 7. Jahrhundert entstand und bis 1797 existierte. Sie
wurde von mehreren adeligen Familien beherrscht, die
aus ihrem Kreis die Vertreter der Regierung (Signoria,
18,14) stellten und den Dogen (23,8), das jeweilige Staats-
oberhaupt, w�hlten.
16,34f. siebengescheit: sp�ttisch: besonders klug. Anspie-
lung auf die Sieben Weisen� des Altertums, bedeutende
M�nner in Politik, Philosophie und Naturwissenschaften.
17,5f. Hypothesen: zun�chst unbewiesene Annahmen, die
sp�ter durch Beweise gesichert werden sollen.
17,15 Cremonini, Caesare C. (1550 1631), Professor f�r
36 5. WORT- UND SACHERL�UTERUNGEN
Philosophie und Mathematik an der Universit�t Padua.
Wegen seiner wissenschaftlichen Arbeiten wurde er
mehrmals bei der Inquisition angezeigt, von der Republik
Venedig aber nicht an Rom ausgeliefert.
17,16 Inquisition: (lat. inquisitio) Untersuchung. Gericht
der katholischen Kirche, das seit dem 13. Jahrhundert al-
lein dem Papst unterstellt war und mit strafrechtlicher
Gewalt (auch unter Einsatz von Folter, Kerker und Tod)
�ber die Einhaltung der Glaubenslehre wachte. Im Ge-
gensatz zu den italienischen F�rstent�mern, in denen die
Macht der Inquisition unbeschr�nkt war, unterstand sie in
Venedig der Oberaufsicht der Republik.
17,25 Giordano Bruno: italienischer Philosoph (1548
1600), der sich auf die Erkenntnisse von Kopernikus be-
rief, die Einheit Gottes mit der Natur lehrte, deshalb we-
gen Ketzerei angeklagt und am 17. Februar 1600 in Rom
�ffentlich verbrannt wurde.
18,14 Signoria: (ital.) Herrschaft. Vertreter der Regierung
der Republik Venedig.
18,25 Colombe: Ludovice delle C. (1565 1616): Florenti-
ner Mathematiker und Philosoph, der Galilei bek�mpfte.
19,11 Aristoteles: antiker Philosoph (384 322 v. Chr.), des-
sen wissenschaftliches System vom Christentum �ber-
nommen wurde. Es wurde dadurch im christlichen Mit-
telalter zur herrschenden Lehrmeinung und galt als unan-
tastbare, unumst��liche Wahrheit.
19,32 Proportionalzirkel: eine Art Rechenmaschine, mit
deren Hilfe sich vielf�ltige mathematische Operationen
durchf�hren lie�en. Galilei entwickelte das Ger�t zur
Vereinfachung geometrischer Berechnungen im Milit�r-
wesen.
20,7 Stefano Gritti: nicht nachweisbar, vermutlich fiktiv.
5. WORT- UND SACHERL�UTERUNGEN 37
20,21 Arsenal: die staatlichen Schiffswerften und Waffen-
schmieden der Republik Venedig.
22,2 Campanile: frei stehender Glockenturm.
22,3 Gracia dei: (lat.) zum Lob Gottes / Gnade Gottes.
23,6 Teleskop: Fernrohr. Das erste Linsenfernrohr wird
1608 von dem holl�ndischen Linsenschleifer Hans Lip-
pershey gebaut. Das von Galilei nachkonstruierte und
zun�chst als eigene Erfindung ausgegebene Instrument
erreichte bereits eine zwanzigfache Vergr��erung und
war somit erstmals f�r astronomische Beobachtungen
einsetzbar.
23,8 Doge: auf Lebenszeit gew�hltes Staatsoberhaupt der
Republik Venedig.
28,32 Journal: (veraltet) Tagebuch.
31,6 Filzen: (umgangssprachl.) Geizh�lsen.
31,13 Klafter: alte deutsche Ma�einheit; hier Raumma�,
ca. 3 m3; auch L�ngenma�, das etwa der Spannweite zwi-
schen den ausgestreckten Armen eines erwachsenen Man-
nes entspricht.
32,29 der andere: Giordano Bruno (17,25).
37,1 Mediceischen Gestirne�: Jupitermonde, die Galilei
den Medici, der regierenden Familie im Gro�herzogtum
Toskana, widmete.
40,18 Monsignore: (ital.) Hochw�rden; Titel und Anrede
der Pr�laten (9,34).
41,6 Hofmarschall: Beamter des f�rstlichen Hofs, der das
Hauswesen leitet.
43,34 Miasmen: giftige Ausd�nstungen der Erde, nach der
mittelalterlichen Auffassung Ursache von Seuchen.
44,24 epizyklische Bahn: Kreis, dessen Mittelpunkt sich
auf einem anderen Kreis um die Erde bewegt.
45,5 applizieren: anwenden.
38 5. WORT- UND SACHERL�UTERUNGEN
45,22f. Aristotelis divini universum: (lat.) das Weltall des
g�ttlichen Aristoteles.
46,7 des celestialen Globus: der Himmelskugel.
46,24 Ph�nomen: Erscheinung; durch Beobachtung be-
wahrheiteter Sachverhalt.
49,30 offerierte: bot an.
50,28 P�pstlichen Collegium, auch (69,31): Collegium
Romanum: p�pstliche Universit�t, die vom Jesuitenor-
den getragen wurde. Sie galt in allen Fragen der Wissen-
schaft als h�chste Instanz der Kirche.
51,31 grassierenden: sich ausbreitenden.
51,34 Kalesche: leichte Kutsche.
53,25 Englischen Gru�: Gru� des Engels Gabriel an Ma-
ria; katholisches Gebet; lateinisches Ave Maria.
56,11 Ursulinerinnen: Anfang des 16. Jahrhunderts ge-
gr�ndete Frauengemeinschaft, die sich nach der heiligen
Ursula benannte und der F�rsorge und Erziehung von
M�dchen widmete. Sp�ter entwickelte sie sich zu einem
Schulorden.
58,21 Schusser: Murmel.
58,21f. Sancta simplicitas: (lat.) heilige Einfalt.
59,32 Tycho Brahe: d�nischer Astronom (1546 1601). Ob-
wohl noch ohne Fernrohr, war er der erste exakt beob-
achtende Astronom. 1572 entdeckt er in der Cassiopeia
einen neuen Stern, eine sogenannte Nova�.
60,9 Principiis obsta!: (lat.) Wehre den Anf�ngen!
61,16 Kardinal: h�chster W�rdentr�ger in der katholischen
Kirche nach dem Papst.
62,4 Eminenz: Hoheit. Ehrentitel und Anrede der Kar-
din�le.
63,15 Kardinal Inquisitor: Oberster Gerichtsherr der In-
quisition (17,16).
5. WORT- UND SACHERL�UTERUNGEN 39
64,3 Index: (lat.) Verzeichnis. Liste der [aus religi�sen
Gr�nden] in der katholischen Kirche verbotenen B�cher.
64,9 Vestib�l: Vorhalle.
65,4 Adonis: in der griechischen Mythologie sch�ner J�ng-
ling und Geliebter der Liebesg�ttin Aphrodite.
65,31 Lorenzo di Medicis: Gro�herzog von Toscana
(1449 1492). Er galt zu seiner Zeit als einer der bedeu-
tendsten Dichter Italiens.
67,9 zwei Kn�blein & W�lfin: Anspielung auf die Zwil-
lingsbr�der Romulus und Remus, die der r�mischen Sage
nach von einer W�lfin ges�ugt wurden und Rom gegr�n-
det haben.
69,9 das Heilige Offizium: Officium: (lat.) Amt, Beh�rde;
hier: Kardinalskongregation (d. i. Beh�rde) der Inquisi-
tion an der r�mischen Kurie.
70,1 Heilige Kongregation: Bezeichnung f�r wichtige Ge-
meinschaften und Beh�rden der r�mischen Kurie (78,24);
hier: Gemeinschaft der Kardin�le unter dem Vorsitz des
Papstes.
74,20 Dekret: beh�rdliche Verf�gung oder richterlicher
Beschluss.
76,29 Soutane: Obergewand katholischer Geistlicher.
77,2 Stuhl Petri: Thron des Papstes. Im �bertragenen Sinn
die p�pstliche Regierung.
78,2 Priap: griechisch-r�mischer Fruchtbarkeitsgott.
78,7 Horaz: r�mischer Dichter (65 8 v. Chr.).
78,24 Kurie: Gesamtheit der p�pstlichen Beh�rden und ih-
rer Amtstr�ger.
80,33 Schaff: gro�es offenes Holzgef��.
82,21 Horoskop: Voraussage �ber kommende Ereignisse
aufgrund von Sternkonstellationen.
82,27 Aszendenten: in der Astrologie verwendeter Begriff.
40 5. WORT- UND SACHERL�UTERUNGEN
Er steht jeweils f�r das Tierkreiszeichen, das zum Zeit-
punkt, f�r den das Horoskop gestellt wird, gerade �ber
dem Horizont des Beobachtungsortes erscheint.
83,17 Traktat: Abhandlung �ber ein religi�ses, moralisches
oder wissenschaftliches Problem.
Fabrizius, Johann: niederl�ndischer Theologe und Astro-
nom (1587 1616), der 1610 die Sonnenflecken entdeckte.
90,8 Observationen�: Beobachtungen; hier im naturwis-
senschaftlichen Sinne gebraucht.
90,13f. Mariae Empf�ngnis: katholischer Feiertag am 8.
Dezember.
91,4 heiligen Doktrinen: heilige Doktrine: allgemeing�lti-
ge und unver�nderliche, von der Bibel hergeleitete Glau-
bensgrunds�tze der Kirche.
94,3 Pamphletisten: Verfasser von Pamphleten (100,13),
Schm�hschriften.
95,9f. ordo ordinum: (lat.) Ordnung aller Ordnungen.
95,10 regula aeternis: (lat.) ewig g�ltige Regel.
95,17 creatio dei: (lat.) Sch�pfung Gottes.
96,13 Brotkipf: l�nglich geformtes Brot.
97,30 exaltiert: aufgeregt.
98,7 Blache: Leinentuch, Plane bzw. Zelttuch.
100,13 Pamphlete: Schm�hschriften.
100,16 Homer: griechischer Dichter (8. Jh. v. Chr.), dem
die beiden gro�en Epen Ilias und Odyssee zugeschrieben
werden.
100,19 Manufaktur: fr�he Form eines industriellen Gro�-
betriebes, der auf arbeitsteiliger Handarbeit basiert.
100,23 mechanischer Kultivator: mechanisch verbessertes
Ackerger�t.
100,33 regelm��ig erscheinende Zeitungen: Anfang des
17. Jahrhunderts erschienen die ersten Zeitungen im heu-
5. WORT- UND SACHERL�UTERUNGEN 41
tigen Sinne, sie unterlagen aber strengster staatlicher
Zensur.
101,12 Schwarzr�cke: abwertender Ausdruck f�r Geist-
liche.
101,33 Buch: Galileis Schrift Dialog (1632) �ber die beiden
gro�en Weltsysteme.
106,30 Kollekten: Kirchenspenden der Gl�ubigen.
107,10 Idiom: Sprechweise; hier: die Sprache des Volkes,
Italienisch, gegen�ber dem Latein als offizieller Kirchen-
und Wissenschaftssprache.
108,23 Ornat: feierliche, liturgische Amtstracht der kirch-
lichen Funktionstr�ger.
108,24 Instrumente: Folterwerkzeuge.
109,19 Discorsi: (ital.) Unterredungen. Hauptwerk Gali-
leis: Lehren von der Fall- und Wurfbewegung und von
der Festigkeit der K�rper, in der Form eines wissen-
schaftlichen Streitgespr�chs.
110,25f. hieme et aestate, et prope et procul, usque dum
vivam et ultra: (lat.) im Winter und im Sommer, nah und
fern, solange ich lebe und dar�ber hinaus.
114,4 Ellen: Elle: altes L�ngenma�, entspricht etwa der
L�nge des Unterarms.
117,8f. Sintemalen: (veraltet) da, weil.
117,29 unnachahmbaren Imitatio: Anspielung auf das
Buch De imitatione Christi (Die Nachfolge Christi) des
Thomas von Kempen (1379 1471).
118,2 Jargon: Sondersprache einer Berufsgruppe oder Ge-
sellschaftsschicht.
119,4 Hydraulik: Lehre von der Bewegung der Fl�ssigkei-
ten, deren Erkenntnisse vor allem im Grund- und Was-
serbau Verwendung finden.
119,29 Descartes, Ren� (1596 1650): franz�sischer Philo-
42 5. WORT- UND SACHERL�UTERUNGEN
soph und Mathematiker. Er gilt mit seiner Forderung
nach methodischer Strenge und rationaler, d. i. vern�nfti-
ger Begr�ndung aller Erkenntnisse als : Vater9 des moder-
nen wissenschaftlichen Denkens.
121,26 Unze: auf die Antike zur�ckgehende Ma�-, Ge-
wichts- und M�nzeinheit.
123,25 Gloriole: Heiligenschein.
124,10 Die Gro�e Babylonische: die : gro�e Hure9 Baby-
lon. Sie ist im Neuen Testament Sinnbild der gottesfeind-
lichen Weltmacht.
125,1 Machinationen: Machenschaften.
126,9f. den hippokratischen Eid: die moralisch-ethische
Grundlage f�r den Beruf des Arztes, auf die Mediziner
noch heute vereidigt werden. Er geht auf den griechischen
Arzt Hippokrates (460 375 v. Chr.) zur�ck, der als Be-
gr�nder der wissenschaftlichen Heilkunde gilt.
6. Interpretation
Entstehungshintergrund
Das Galilei-Projekt hat Brecht l�nger und intensiver als alle
seine anderen St�cke besch�ftigt. Er hat davon drei Fassun-
gen geschrieben, von denen vor allem die beiden ersten
deutlich unterschiedliche Akzente setzen, ohne dass er aber
zu einer endg�ltigen L�sung gelangt w�re.
Die erste Fassung, die 1938/39 im d�nischen
Zeitgeschicht-
Exil entstand und am 9. September 1943 am licher Hinter-
grund der
Z�richer Schauspielhaus uraufgef�hrt wur-
ersten Fassung
de, war vom Erschrecken �ber die Nachricht
veranlasst, dass deutschen Physikern die
Spaltung des Uran-Atomkerns gelungen war. Denn dies be-
deutete, dass die Voraussetzung f�r die Entwicklung der
Atombombe geschaffen war, mit deren Bau die Machthaber
des Dritten Reiches� �ber ein ungeheures Vernichtungspo-
tential verf�gen w�rden. In dieser ersten Fassung widerruft
Galilei seine Lehre, forscht aber im Verborgenen weiter und
sorgt daf�r, dass die Ergebnisse das Ausland erreichen.
Brecht wollte in einer weltpolitischen Situation, in der ein
Krieg absehbar war, an dem als Vorbild f�r die deutschen
Atomphysiker gemeinten Verhalten Galileis zeigen, dass
nur der Wissenschaftler verantwortlich handle, der dem
Druck der Staatsmacht durch vorget�uschte Unterwerfung
begegne.
Unter dem Eindruck der Atombombenabw�rfe auf die
japanischen St�dte Hiroshima und Nagasaki im Jahre 1945
hielt es Brecht dann aber nicht l�nger f�r m�glich, Galileis
Widerruf als kluge List zu deuten. Er �berarbeitete deshalb
44 6. INTERPRETATION
sein St�ck noch w�hrend des amerikanischen Exils und ver-
sch�rfte den Konflikt Galileis mit der Obrig-
keit in Richtung einer Selbstanklage des
Galilei als Modell
Wissenschaftlers. Brecht warf Galilei nun
f�r den aktuellen
: S�ndenfall der Verantwortungslosigkeit vor, weil er seine
Wissenschaft9
Forschungen nicht in den Dienst des Volkes
in der zweiten
gestellt habe. Damit bezog er dessen histo-
Fassung
rischen Fall auf die Wissenschaftler seiner
Gegenwart, deren Versagen seiner �berzeu-
gung nach die Atombombe erm�glicht habe. Die Urauf-
f�hrung dieser amerikanischen Version des Leben des Gali-
lei fand am 30. Juli 1947 in Beverly Hills statt.
Die dritte Fassung, an der Brecht seit 1954 arbeitete, ist
genau genommen keine eigenst�ndige Version, sondern die
R�ck�bersetzung der zweiten ins Deutsche. Allerdings ver-
sch�rfte er in ihr noch die Frage nach Verantwortung und
Schuld des Wissenschaftlers, weil er sie auf
Ost-West- neue Weise f�r aktuell hielt. Die weltpoli-
Konflikt als
tische Lage war gepr�gt von dem angespann-
weltpolitischer
ten Verh�ltnis der Gro�m�chte USA und
Hintergrund der
Sowjetunion, das mehrfach, nicht zuletzt
dritten Fassung
durch den Krieg der USA in Korea, eine ge-
f�hrliche Zuspitzung erfuhr. Ein dritter
Weltkrieg mit dem Einsatz atomarer Verichtungswaffen er-
schien in diesen Nachkriegsjahren nicht ausgeschlossen.17
Im September 1949 war der Sowjetunion ein Atomwaffen-
test gelungen, 1952 erprobten die USA zum ersten Mal eine
Wasserstoffbombe, �ber die dann ein Jahr sp�ter auch die
Sowjetunion verf�gte. Als angebliche Atomspione f�r die
Sowjetunion wurden 1953 in den USA trotz weltweiter
Proteste Ethel und Julius Rosenberg unter dem Vorwurf des
Landesverrats hingerichtet. 1954 begann in den USA die
6. INTERPRETATION 45
Untersuchung gegen J. Robert Oppenheimer, den Vater
der Atombombe�, der von 1943 bis 1945 die Laboratorien
im amerikanischen Kernforschungszentrum Los Alamos
geleitet hatte. Oppenheimer musste sich dem Vorwurf stel-
len, ein verkappter Sowjetagent zu sein und die Entwick-
lung der Wasserstoffbombe verhindert zu haben. Er galt da-
her in den USA als Sicherheitsrisiko�. Oppenheimer legte
eine Verteidigungsschrift vor, in der er seine Neutralit�t in
Fragen der amerikanischen R�stungspolitik bekundete und
sich dabei als Beweggrund auf sein Entsetzen �ber den
Bombenabwurf auf Hiroshima und Nagasaki berief. Der
Fall erregte weltweites Interesse, und Brecht notierte in sei-
nem Arbeitsjournal am 8. Juli 1954: seine schrift liest sich
wie die eines mannes, der von einem kannibalenstamm an-
geklagt wird, er habe sich geweigert, fleisch zu besorgen.
und der jetzt, sich zu entschuldigen, vorbringt, er sei
w�hrend der menschenjagd beim holzsammeln f�r den
kochkessel gewesen! was f�r eine finsternis!�18
Vor dem Hintergrund dieser Ereignisse r�ckte Brecht in
der neuen Berliner Fassung� des Leben des Galilei das
Problem der Verantwortung des Wissenschaftlers noch
n�her an die Gegenwart heran, als dies in der amerikani-
schen Fassung geschehen war. Er f�hrte nun einen Wis-
senschaftler vor, den nur seine Forschungsarbeit, nicht
aber die gesellschaftlichen Folgewirkungen seiner Er-
kenntnisse interessieren und der dadurch seine soziale
Verantwortung schuldhaft vers�umt.
46 6. INTERPRETATION
Dramatische Gestaltung der Geschichte
Zahlreiche Einzelheiten der dramatischen Handlung, ins-
besondere die biografischen Daten Galileis,
Der historische
sind historisch belegt. Der Mathematiker,
Galilei
Physiker und Astronom wurde 1564 in Pisa
geboren und starb 1642 in der Verbannung in
Arcetri. Er wurde bekannt durch seine Fall- und Pendelge-
setze, seinen Proportionalzirkel, die hydrostatische Waage,
die Entdeckung von vier Jupitermonden (von insgesamt
zw�lf), der Venusphasen und des Saturnringes. Vor allem
aber bekannte er sich zur heliozentrischen Lehre des Ko-
pernikus, deren Anerkennung die katholische Kirche offizi-
ell lange verweigerte. Wegen seiner Dialoge (1630) kam er
vor die Inquisition; die Discorsi (1636) schrieb er w�hrend
seines Hausarrests in Arcetri.
Brecht hielt sich bei der Wiedergabe der Fakten meist sehr
genau an die �berlieferung und an die Quellen. In Bezug
auf Galileis Verh�ltnis zur Kirche beispiels-
Historisch weise notiert er in den Anmerkungen zum
korrekte Darstel- St�ck: Es entspricht der historischen Wahr-
lung der Kirche
heit, wenn der Galilei des St�ckes sich nie-
mals direkt gegen die Kirche wendet. Es gibt
keinen Satz Galileis in dieser Richtung. H�tte es einen gege-
ben, so h�tte eine so gr�ndliche Untersuchungskommission
wie die Inquisition ihn zweifellos zutage gef�rdert.�19 Gali-
lei brauchte darum auch nicht in den Scho� der Kirche�
zur�ckzukehren, er hat sich niemals daraus entfernt. Er
versucht lediglich seinen Frieden mit den Herrschenden zu
machen.�20 Und es entspricht ebenfalls der historischen
Wahrheit, da� der gr��te Astronom des p�pstlichen r�mi-
schen Kollegs, Christopher Flavius Galileis Entdeckungen
6. INTERPRETATION 47
best�tigte [& ]. Ebenso stimmt es, da� unter seinen Sch�lern
Geistliche waren [& ].�21
Trotz Verwendung eines historischen Stoffs entwarf
Brecht kein Historiengem�lde. Davon �ber-
zeugt, dass sich die Lehren der Geschichte Parallele
Problemf�lle in
f�r die Bew�ltigung der Gegenwart fruchtbar
Gegenwart und
machen lassen, projizierte er vielmehr ein
Geschichte
zeitgen�ssisches Problem auf die Geschichte.
Um dessen Substanz herauszuarbeiten, ge-
staltete er die Tendenz des dramatischen Geschehens und
insbesondere das Verhalten der Hauptfigur daher auf Ko-
sten der Geschichtstreue. Es lag ihm nichts daran, Galileis
Biografie nachzuzeichnen, wenn er das Abbild nicht zu-
gleich als Vor-Bild (mit negativen oder positiven Vorzei-
chen) darstellen� konnte.22
Brechts Gestaltungsabsicht zeigt sich, worauf bei den Er-
l�uterungen zur Form bereits kurz hingewiesen wurde, in
der Abgrenzung des Schauspiels� Leben des Galilei von
seinen Parabelst�cken. In seinem Arbeitsjournal notierte er
am 30. Juli 1945: so ist der GALILEI in meiner produktion
immerhin interessant als gegenbeispiel zu den parabeln.
Dort werden ideen verk�rpert, hier eine materie gewisser
ideen entbunden.�
Diese Bemerkung l�sst die Deutung zu, dass die erfun-
dene Handlung beim Parabelst�ck nur ein Gleichnis f�r
die gesellschaftliche Wirklichkeit ist, das
als Erkenntnismodell der Wirklichkeit dient.
Angleichung
Die Handlung kann also schon von dieser des Geschichts-
dramas an
Erkenntnisfunktion her vom St�ckeschreiber
die Parabel
konzipiert werden. Bei einem Drama, das
einen historischen Stoff aufgreift, muss der
Autor jedoch von einer Handlung ausgehen, die durch die
48 6. INTERPRETATION
reale Geschichte gleichsam schon vorgepr�gt ist, und dieser
Geschichte bedeutsame Erkenntnisse abgewinnen.
Die realen historischen Ereignisse sind nicht mehr zu �n-
dern; ver�ndern kann das Drama allerdings den Blick des
Zuschauers auf die Geschichte. Diese M�glichkeit aufgrei-
fend, deutet Brecht bekannte Ereignisse der Geschichte neu,
kritisiert damit �berkommene Vorstellungen von histori-
schen Ereignissen und entlarvt sie als falsches Bewusstsein.
Unter dieser Perspektive kommt auch ein Aspekt ins
Spiel, der f�r das episch-dialektische Theater Brechts von
gro�er Bedeutung ist: die Historisierung.
Historisierung als
Historisieren hei�t f�r ihn Vorg�nge und
Erkenntnisform
Personen als historisch, also als verg�ng-
lich� darzustellen,23 damit sie beim Publi-
kum Erstaunen hervorrufen, neu wahrgenommen wer-
den und kritische, bis in das eigene Handeln hinein wir-
kende Einsichten nach sich ziehen. In solcher Absicht
zeigt das St�ck Leben des Galilei nach Brechts Selbstaus-
kunft den Ausbruch einer neuen Zeit und versucht, ei-
nige Vorurteile �ber den Ausbruch einer neuen Zeit zu
revidieren�24.
In dialektischer Formulierung schl�gt Brecht mit die-
ser Aussage den Bogen von der neuen Zeit� Galileis im
siebzehnten Jahrhundert zu seiner Gegenwart im zwan-
zigsten, in der die nationalsozialistischen Machthaber den
Anbruch einer neuen Zeit� verk�ndet hatten. Um diese
Gegenwart geht es Brecht, nicht um die Vergangenheit.
Durch die Wahl Galileis zum Protagonisten hat er die ak-
tuelle Thematik seines St�ckes nur historisch verfremdet.
Diese Verfahrensweise erkl�rt auch, dass der Galilei des
Dramas �ber Einsichten verf�gt, die der historische Galilei
noch nicht haben konnte, und Perspektiven aufzeigt, die de-
6. INTERPRETATION 49
nen des Autors Brecht entsprechen. Dazu geh�ren vor allem
die Selbstverurteilung, die Idee des hippokratischen Eides
der Naturwissenschaftler und der warnende Blick in die Zu-
kunft. In seinem gro�en Schlussmonolog sagt
Galilei zu Andrea: Ihr m�gt mit der Zeit Betrachtung der
Geschichte vom
alles entdecken, was es zu entdecken gibt,
Standpunkt der
und euer Fortschritt wird doch nur ein Fort-
Gegenwart
schreiten von der Menschheit weg sein. Die
Kluft zwischen euch und ihr kann eines Tages
so gro� werden, da� euer Jubelschrei �ber irgendeine neue
Errungenschaft von einem universalen Entsetzensschrei be-
antwortet werden k�nnte� (126). Diese Zukunftsvision Ga-
lileis richtet sich zweifelsohne unmittelbar an die Adresse
des Publikums und warnt es vor dem Missverst�ndnis, Ga-
lileis Verhalten als einen einmaligen historischen Fall zu be-
trachten. Brecht konfrontiert das Publikum vielmehr mit ei-
nem dramatischen Modell, in dem ein Problem von histo-
risch �bergreifender Qualit�t�25 sichtbar wird.
Politisch-gesellschaftliche Bedingungen
der Wissenschaft
Der Wissenschaftler Galilei trifft sowohl auf Vertreter ver-
schiedener sozialer Gruppen als auch auf Repr�sentanten
verschiedener politischer Systeme. F�r jeden
von ihnen stellt die Wissenschaft eine ent- Reaktionen gesell-
schiedene Herausforderung dar. Ihre Reak- schaftlicher Grup-
tionen darauf lassen die unterschiedlichen In- pen auf die neue
Wissenschaft
teressenlagen erkennbar werden. Die neue
b�rgerliche Schicht, als deren Repr�sentant
beispielsweise der Eisengie�er Vanni fungiert, betrachtet die
50 6. INTERPRETATION
Wissenschaft durchaus als Mittel des Fortschritts. Sie ver-
spricht sich von ihr durch technische Verbesserungen der
Produktionsmittel nicht nur eine Steigerung des Profits,
sondern auch die Erringung b�rgerlicher Freiheiten wie
Freihandel und Gewerbefreiheit. In einer republikanischen
Staatsform sto�en gesellschaftskritische Tendenzen hinge-
gen auf erbitterten Widerstand, hier beh�lt die Wissenschaft
blo�en Warenwert. Der reaktion�ren Schicht der Gro�-
grundbesitzer dient sie, wie das Beispiel Ludovicos zeigt,
lediglich als zeitgem��-modischer Inhalt gesellschaftlich er-
forderlicher Konversation.
Vielschichtiger stellt sich die Reaktion der Kirche dar. Sie
ist zwar nicht generell wissenschaftsfeindlich, in ihren
f�hrenden Repr�sentanten erscheint sie aber als politisch-
gesellschaftliche Macht. In Florenz steht offensichtlich auch
der Gro�herzog unter der Vorherrschaft der Geistlichkeit;
widerstandslos liefert er seinen Untertan und langj�hri-
gen Hofmathematiker an die Inquisition aus. Diese Herr-
schaftsrolle bestimmt auch das Verh�ltnis der Kirche zur
Wissenschaft.
Brecht ist als Marxist ein Gegner der Kirche�26, weil sie
den Menschen im ungerechten Diesseits ein besseres Jen-
seits verspricht, sich dadurch auf die Seite der herrschenden
Ausbeutungssysteme schl�gt und politisch-soziale Ver�nde-
rungen verhindert. Dennoch ist ihm wichtig zu betonen, er
wolle in Leben des Galilei keine geh�ssige
Rolle der Kirche
antiklerikale Tendenz�27 darstellen und
den Kampf Galileis um die Freiheit der For-
schung zu einer religi�sen Angelegenheit machen. Die Kir-
che fungiere, auch wo sie der freien Forschung entgegentre-
te, einfach als Obrigkeit�28. Einen Freispruch�29 bedeute
dies allerdings nicht. Auch habe die Kirche keinen An-
6. INTERPRETATION 51
spruch darauf, die menschlichen Schw�chen ihrer Mitglie-
der �berschminkt zu bekommen�.30
Das St�ck zeigt, einer materialistischen Geschichtsdeu-
tung folgend, dass der Konflikt Galileis mit der Kurie in
Wahrheit kein wissenschaftlich-theologischer Streit, son-
dern ein Kampf zwischen reaktion�ren und fortschrittli-
chen gesellschaftlichen Kr�ften war.
Wissenschaftliche und soziale Verantwortung
Die Verantwortung des Wissenschaftlers gegen�ber den
Ergebnissen seiner Arbeit ist das Hauptthema des St�cks.
Es erschlie�t sich wesentlich aus dem Verhalten Galileis,
wiewohl diese Figur sich nicht widerspruchsfrei darstellt.
Einmal scheint unzweifelhaft der Nachweis intendiert, Ga-
lilei habe ohne echte Lebensgefahr der Obrigkeit Wider-
stand leisten k�nnen, da er eine Zeit lang
st�rker gewesen sei als sie; dann w�rde nahe Beurteilung des
Widerrufs
liegen, den Widerruf (wie in der ersten Fas-
sung beabsichtigt) als kluge List zu verste-
hen. Zum anderen ist der Widerruf aber mit der Angst vor
dem k�rperlichen Schmerz� (123) und der Furcht vor dem
Tode (124) motiviert; dann problematisierte das St�ck
prim�r einen pers�nlichen Konflikt seines Protagonisten.
Der innere Widerspruch, dass Galilei die neue Wahrheit
begr�ndet und zugleich verr�t, ist derart freilich nicht auf-
l�sbar.
Entscheidend f�r eine Beurteilung ist,
dass Galilei seinen Widerruf als Verrat Ethos des
Wissenschaftlers
begriffen hat, der Konsequenzen f�r sein
Ethos als Wissenschaftler haben musste.
52 6. INTERPRETATION
Gegen�ber seinem Sch�ler Andrea, der die neue Wissen-
schaftlergeneration verk�rpert und die Discorsi �ber die
Grenze bringen wird, erkl�rt er: Ich hatte als Wissen-
schaftler eine einzigartige M�glichkeit. In meiner Zeit er-
reichte die Astronomie die Marktpl�tze. Unter diesen ganz
besonderen Umst�nden h�tte die Standhaftigkeit eines
Mannes gro�e Ersch�tterungen hervorrufen k�nnen. H�tte
ich widerstanden, h�tten die Naturwissenschaftler etwas
wie den hippokratischen Eid der �rzte entwickeln k�nnen,
das Gel�bnis, ihr Wissen einzig zum Wohle der Menschheit
anzuwenden! Wie es nun steht, ist das H�chste, was man er-
hoffen kann, ein Geschlecht erfinderischer Zwerge, die f�r
alles gemietet werden k�nnen� (126).
Galilei sieht seine Schuld nicht so sehr darin, der wissen-
schaftlichen Wahrheit abgeschworen und sie �ffentlich eine
L�ge genannt zu haben, als vielmehr in seinem gesellschaft-
lichen Desinteresse. Ich halte daf�r, da�
Galileis Schuld
das einzige Ziel der Wissenschaft darin be-
steht, die M�hseligkeit der menschlichen
Existenz zu erleichtern� (125), l�sst der Autor seinen Prot-
agonisten sagen. Weil der mit seinem Widerruf eben dieser
sozialen Verantwortung nicht gerecht geworden ist, bezich-
tigt er ihn des Verrats an seinem Beruf, zwingt ihm die Hal-
tung eines sozialen Verbrechertums�31 auf und n�tigt ihn
zu einer prinzipielle[n] Selbstverklagung�.32
In Galileis Schuldbekenntnis kommt Brechts �berzeu-
gung zum Ausdruck, dass der Wissenschaftler mehr als
andere Menschen �ber Einsichten in zeit�bergreifende
politisch-historische Zusammenh�nge verf�gen m�sse,
an denen er sein Handeln auszurichten habe. Und unge-
achtet aller pers�nlichen Bedrohungen und �u�eren
Zw�nge m�sse von ihm erwartet werden, dass er die ge-
6. INTERPRETATION 53
sellschaftliche Kontrolle �ber sein Wissen behalte, weil
nur er dessen Auswirkungen beurteilen k�nne.
Brecht verurteilt Galilei, weil sein Verhalten diesen An-
spruch nicht erf�llt habe. Durch die Unterwerfung unter
die durch die Kirche repr�sentierte Macht
Soziale Folgen von
wurde, so der Vorwurf Brechts, die Wissen-
Galileis Versagen
schaft f�r Jahrhunderte isoliert und damit
prinzipiell der Verf�gungsgewalt der Herr-
schenden ausgeliefert. Ihre �ffentliche Kontrolle war nicht
mehr gew�hrleistet, weil die wenigsten verstehen konnten
und durften, was die Wissenschaftler ausheckten. Aus dem
Dienst an der Wahrheit war die Unterwerfung unter ihre in-
teressengebundene Ausbeutung geworden.�33
Unschwer l�sst sich erkennen, dass Brechts ganze Argu-
mentation darauf gerichtet ist, in der Verurteilung Gali-
leis das Versagen der Wissenschaftler seiner Gegenwart
vor den politischen Herausforderungen
�berforderung
der Zeit zu treffen. Die den Vorwurf an
Galileis?
Galilei begr�ndende These, es habe in
dessen Macht gestanden, den Geschichts-
prozess umzukehren und durch einen entsprechenden
Offenbarungseid seine naturwissenschaftlichen Erkennt-
nisse f�r immer dem gesellschaftlichen Fortschritt dienst-
bar machen k�nnen, ist allerdings nicht unwidersprochen
geblieben. Sie setzt nicht nur den  anderen Zeitgenossen
nicht mehr so selbstverst�ndlichen  Glauben an die indi-
viduelle Verantwortung des einzelnen Forschers und an
den Fortschritt der Menschheit durch Wissenschaft vor-
aus. Sie verkennt, nach der begr�ndeten Auffassung Gert
Sautermeisters, auch die Macht des modernen Staates, die
kein Einzelner je zu untergraben vermochte. Der Schei-
terhaufen der Inquisition, auf dem ein Giordano Bruno le-
54 6. INTERPRETATION
bendigen Leibes verbrannte, h�tte seine Flammen auch �ber
einem Galilei zusammenschlagen lassen, ohne dass daraus
das Feuer der sozialen Revolution entstanden w�re.�34
Produktive Rezeption
In seinen Schriften zum Theater hat Brecht immer wie-
der auf die aktiv-sch�pferische Leistung des
Dramaturgie
Zuschauers hingewiesen. Die Darstellungen
des Zuschauers
auf der B�hne sollen ihn zur denkenden
Mitarbeit anregen, ihn eingreifendes Den-
ken lehren. Er soll produktiv werden �ber das Schauen
hinaus�35, �ber die Kunst hinaus in die gesellschaftliche Pra-
xis hineinwirken. Das Spiel vom Leben des Galilei zeigt ein
in dieser Intention gestaltetes Modell.
Es l�sst sich leicht denken, dass gegen den Vorschlag eines
hippokratischen Eides der Naturwissenschaftler, den Brecht
durch seinen Protagonisten Galilei unterbreitet, Einw�nde
erhoben worden sind. Denn die Probleme der Aufgabenbe-
stimmung wie vor allem der Grenzen wis-
Problematik des senschaftlichen Forschens w�ren mit ihm al-
hippokratischen
lein nicht gel�st. M�sste der Eid nicht die
Eides
Einrichtung einer moralischen oder poli-
tischen Instanz einschlie�en, die die For-
schung im Sinne einer Vorgabe der von ihr zu verfolgenden
Ziele begrenzt? W�rde dies aber nicht auf eine abermalige
Gerichtsbarkeit hinauslaufen, die der Inquisition zur Zeit
Galileis gleichk�me? Anwendbar scheint der hippokratische
Eid allenfalls auf die F�lle, in denen die Forschung mehr
oder weniger offensichtlich von vornherein einer Menschen
verachtenden oder menschheitsvernichtenden Zielvorgabe
6. INTERPRETATION 55
unterworfen wird. Aber selbst hier ist nicht nur daran zu er-
innern, dass der hippokratische Eid die KZ-�rzte, auf deren
T�tigkeit sich Brecht in einer seiner Anmerkungen zum
St�ck bezieht, nicht an ihren menschenfeindlichen Versu-
chen gehindert hat. Auch die aktuellen Nachrichten �ber
biomedizinische Forschungen, inbesondere jene an em-
bryonalen Stammzellen, mahnen zur Skepsis.
Dass der Eid andererseits nicht reine Utopie bedeuten
muss, zeigen  ungeachtet der Tatsache, ob von Brecht be-
einflusst oder nicht  Reaktionen einer Reihe
Eingreifendes
von Physikern auf die atomare Bedrohung.
Verhalten von
Es gab nachhaltige Bem�hungen gegen den
Wissenschaftlern
ungehemmten Bau von Atombomben, bei-
spielsweise den G�ttinger Appell� von acht-
zehn deutschen Atomphysikern im Jahr 1957 oder die inter-
nationale Konferenz Atome f�r den Frieden� 1958 in
Genf. Es gab aber auch �berlegungen wie die des einfluss-
reichen Philosophen Karl Jaspers von 1961, die eine harte
Konfrontation des Westens gegen den Osten bef�rworteten,
in der Hoffnung, die Gefahr der totalen Selbstvernichtung
w�rde die Menschheit zur Vernunft kommen lassen.
Die historisch konkrete Situation, f�r die das St�ck
Leben des Galilei gedacht war, ist Vergangenheit; als
Spiel, das Ph�nomene unserer politisch-gesellschaftlichen
Wirklichkeit erhellt und m�glicherweise Korrekturen
notwendig erscheinen l�sst, mag es jedoch wirksam blei-
ben k�nnen.
Besonders deutlich wird dies am Problem der sozialen
und ethischen Verantwortbarkeit wissen-
Gegenwartsbezug
schaftlicher Forschung. Gegen�ber dem
Zeitalter Brechts ist dieses Thema des
St�cks wegen einer rasanten und zunehmend brisanten
56 6. INTERPRETATION
Entwickung, auf den Gebieten der Biomedizin, der Gen-
forschung oder der elektronischen Datenverarbeitung
etwa, eher noch dr�ngender geworden. Der Deutsche
Bundestag und die Regierung haben als Reaktion darauf
Ethik-Kommissionen eingerichtet, die Ma�st�be f�r politi-
sche Entscheidungen erarbeiten sollen. Letztlich verdecken
diese Kommissionen aber nur die Ratlosigkeit, die ange-
sichts eines nahezu ungebremsten Fortschreitens� (125)
von Wissenschaft und Forschung allenthalben vorherrscht.
7. Ausformung der Thematik
durch andere Autoren
Im deutschen Drama der Gegenwart finden sich vier St�cke,
die eine �hnliche Thematik wie Brechts Leben des Galilei
haben: Carl Zuckmayers auf dem Fall des Atomspions
Klaus Fuchs fu�endes Spiel Das kalte Licht (1955), dessen
Protagonist westliche Atomgeheimnisse an Russland verr�t,
um ein Machtgleichgewicht zwischen Ost und West herbei-
zuf�hren, Hans Henny Jahnns St�ck Der staubige Regen-
bogen (1961), das ein Pl�doyer gegen jegliche Forschung zu
Vernichtungszwecken darstellt, Friedrich D�rrenmatts Ko-
m�die Die Physiker (1962) und Heinar Kipphardts Doku-
mentarst�ck In der Sache J. Robert Oppenheimer (1964).
W�hrend die Physikerdramen Zuckmayers und Jahnns al-
lenfalls noch literaturhistorisch interessant sind, kann ein
Vergleich mit den beiden anderen, insbesondere mit dem
Drama D�rrenmatts, erhellende Einsichten zum Verst�nd-
nis von Brechts Leben des Galilei beitragen.
D�rrenmatts Kom�die spielt im Sanatorium der buck-
ligen Irren�rztin Mathilde von Zahnd. Dort
halten sich neben nervenleidenden Millio- D�rrenmatt:
Die Physiker
n�ren und anderen Personen aus der noblen
Gesellschaft auch drei ehemalige Physiker
auf: Beutler, der sich als Newton ausgibt, Ernesti, der sich
f�r Einstein h�lt, sowie M�bius, der vorgibt, seine Einge-
bungen von K�nig Salomo zu erhalten. Doch M�bius spielt
nur den Geisteskranken. Er ist in die Irrenanstalt gefl�chtet,
nachdem er erkennen musste, dass die Formel f�r das
System aller m�glichen Erfindungen�, die er gefunden hat,
zur Weltkatastrophe f�hren w�rde, wenn sie in die falschen
58 7. AUSFORMUNG DER THEMATIK
H�nde fiele. M�bius glaubt, durch den R�ckzug ins Irren-
haus seine Forschungen besser verheimlichen zu k�nnen
und hat daf�r auch die Trennung von seiner Familie in Kauf
genommen. Doch die Geheimdienste zweier feindlicher
Machtbl�cke sind bereits auf den genialen Wissenschaftler
aufmerksam geworden. Die eine Seite hat den Physiker
Kilton alias Beutler auf ihn angesetzt, die andere den Phy-
siker Eisler alias Ernesti. Beide Agenten haben versucht,
M�bius zu entf�hren, doch ihre Krankenschwestern hatten
die wahre Identit�t der : Patienten9 entdeckt und wurden
deshalb von ihnen ermordet. Auch M�bius musste : seine9
Krankenschwester, die ihn zu lieben begann, t�ten, um sein
Geheimnis zu bewahren.
Die sich abzeichnende Aussicht, als verr�ckte M�rder f�r
immer im Irrenhaus gefangen zu bleiben, veranlasst Kilton
und Eisler, ihre wahre Identit�t preiszugeben. M�bius f�hrt
ihnen daraufhin mit gro�er Eindringlichkeit das Widersin-
nige wissenschaftlicher Arbeit im Zeitalter totaler Ausbeu-
tung durch die Herrschenden vor Augen: Im Dienste poli-
tischer M�chte k�nne die Physik nur Teil einer globalen
Vernichtungsmaschinerie sein. Er appelliert an sie, aus Ver-
antwortung gegen�ber der Menschheit seine Entdeckungen
vor dem jeweiligen Machtapparat geheim zu halten und
als Verr�ckte� weiterhin bei ihm in der Anstalt zu blei-
ben. Ihre Mission sei ohnehin erfolglos, denn er habe be-
reits die Konsequenz gezogen und sein Wis-
sen zur�ckgenommen�; das hei�t, er habe
Entscheidung
der Physiker die Manuskripte seiner Entdeckungen ver-
f�r den Verbleib
brannt. Sein Fazit ist von ebenso paradoxer
im Irrenhaus
wie zwingender Logik: Nur im Irrenhaus
sind wir noch frei. Nur im Irrenhaus d�rfen
wir noch denken. In der Freiheit sind unsere Gedanken
7. AUSFORMUNG DER THEMATIK 59
Sprengstoff.�36 Und dies bedeutet: Entweder bleiben wir
im Irrenhaus oder die Welt wird eines.�37 Mit dem Argu-
ment, dass es im Kern aber nicht mehr um die Freiheit der
Physik oder um ihre Unterordnung unter die Machtpolitik
eines Landes gehe, dass es vielmehr einzig darauf ankomme,
Vernunft walten zu lassen, um die Welt vor dem Untergang
zu bewahren, gelingt M�bius das Unerwartete, die beiden
auf ihn angesetzten Physiker-Agenten zu seinem Stand-
punkt zu bekehren: Verr�ckt, aber weise.�  Gefangen,
aber frei.�  Physiker, aber unschuldig.�38
Die vern�nftig erscheinende Entscheidung der Physi-
ker erweist sich jedoch als v�llig folgenlos;
denn das dramatische Geschehen nimmt am Die schlimmst-
m�gliche
Schluss die schlimmstm�gliche Wendung�
Wendung�
(D�rrenmatt): Die im Machtrausch und
Zerst�rungstrieb selbst verr�ckt gewordene
Irren�rztin offenbart, l�ngst alles durchschaut und mit den
von M�bius gestohlenen Forschungsergebnissen einen R�s-
tungskonzern aufgebaut zu haben, der ihr die Weltherr-
schaft sichert.
Mit diesem pessimistischen Ausgang seines Physiker-
Dramas, das er gleichwohl als Kom�die verstanden wis-
sen will, ist D�rrenmatt weit entfernt von dem Optimis-
mus, der Brechts literarisches Werk kennzeichnet. Er ver-
zichtet auch darauf, das Theater wie dieser zum Ort der
Diskussion um L�sungsm�glichkeiten zu machen, weil
er an die Ver�nderungsm�glichkeit des Menschen so we-
nig glaubt wie an die Wirkungsm�glichkeit von Kunst.
D�rrenmatts Intention hei�t, die Diagnose zu stellen, oh-
ne die Therapie vorzuschlagen.
Im dramatischen Modell Leben des Galilei zeigt Brecht
hingegen nicht nur, wie er die Wirklichkeit wahrnimmt, er
60 7. AUSFORMUNG DER THEMATIK
will mit diesem St�ck nicht weniger als mit seinen anderen
auch eingreifend in die Wirklichkeit hinein wirken und
diese ver�ndern. Seine harsche Verurteilung
Brechts
Galileis resultiert aus dem Vorwurf, dass
Begr�ndung der
dieser zu solcher Ver�nderung nichts beige-
Schuld Galileis
tragen habe und den Wissenschaftlern seiner
Zeit kein Vorbild gewesen sei. In der Deu-
tung Brechts wurde Galilei schuldig, weil er mit seinem Wi-
derruf seiner sozialen Verantwortung nicht gerecht gewor-
den ist. Durch seine Unterwerfung unter die durch die
Kirche repr�sentierte Macht sei die Wissenschaft f�r Jahr-
hunderte isoliert und damit prinzipiell der Verf�gungsge-
walt der Herrschenden ausgeliefert worden.
In der Selbstkritik, die Brecht seinem Protagonisten am
Schluss immerhin zubilligt, formuliert er seine eigene Kritik
am Versagen der modernen Wissenschaft vor den politi-
schen Herausforderungen der Zeit. Sie ist allerdings in die-
ser Form nur m�glich, weil Brecht, trotz ge-
Brechts genteiliger Erfahrungen w�hrend und nach
Fortschritts- dem Zweiten Weltkrieg, noch an die indi-
optimismus
viduelle Verantwortung des einzelnen For-
schers und an den sozialen Fortschritt der
Menschheit durch die Wissenschaft glaubt.
D�rrenmatt kann den Optimismus Brechts nicht mehr
mitvollziehen. Er fordert die Physiker durch seinen Prot-
agonisten M�bius auf, ihr Wissen zur�ckzunehmen, weil es
f�r sie nur noch die Kapitulation vor der
Wirklichkeit gebe. Sie ist uns nicht gewach-
M�bius Scheitern
in D�rrenmatts sen. Sie geht an uns zugrunde.�39 F�r sich
Physikern
hat M�bius bereits die Konsequenz aus die-
ser Einsicht gezogen: Er verweigert sich und
seine Wissenschaft jeglicher Indienstnahme und geht, als
7. AUSFORMUNG DER THEMATIK 61
Ausdruck einer h�heren, ja h�chsten Vernunft, bis zur
Selbstverleugnung seines Verstandes.40 Nur: Wie das St�ck
lehrt, n�tzt M�bius das alles nichts mehr. Er verf�gt nur
scheinbar �ber die Freiheit, sein Wissen vor der Ausbeutung
durch die M�chtigen zur�ckzuziehen. Tats�chlich versklavt
die Irren�rztin Mathilde von Zahnd nicht nur sein Wissen,
sondern auch ihn selbst, indem sie das Irrenhaus in ein Ge-
f�ngnis verwandelt, aus dem es kein Entrinnen mehr gibt.
Sein h�chst anerkennenswerter moralischer Entschluss er-
weist sich darum am Ende als sinnlos. Da der Irrsinn selbst-
t�tig l�uft, hat der Einzelne, wie mutig er immer handeln
m�ge, keine Eingriffsm�glichkeit mehr.
M�bius hat folglich, auch wenn es anfangs danach aus-
sieht, den freien Entscheidungsspielraum nicht mehr, den
Brecht seinem Galilei noch zubilligt und auf den er den Ver-
ratsvorwurf gr�ndet. Die schlimmstm�gliche Wendung�
in den Physikern bringt diesen entscheidenden Unterschied
signifikant zum Ausdruck. Brecht demonstriert am : Fall9
Galilei seine �berzeugung, dass der wissenschaftliche
Fortschritt nicht aufhaltbar, der Ablauf der Geschichte
rational beeinflussbar und die gesellschaftlichen Verh�lt-
nisse ver�nderbar sind. D�rrenmatt zeigt demgegen�ber
am : Fall9 M�bius, dass der wissenschaftliche Fortschritt
verhindert werden m�sse, weil f�r ihn Chaos und Zufall
allein den Geschichtsprozess regieren
und somit die aus dem Fortschritt resul- D�rrenmatts
tierende Katastrophe nicht verhinderbar Zur�cknahme
Brechts�
ist. In dem  wenn auch gescheiterten 
Versuch, sein Wissen zur�ckzunehmen,
ist M�bius ein Anti-Galilei, sind Die Physiker eine Zu-
r�cknahme Brechts�.
Den Konflikt des modernen Naturwissenschaftlers zwi-
62 7. AUSFORMUNG DER THEMATIK
schen zweckfreier Forschung und politisch-milit�rischer
Aneignung der Ergebnisse thematisiert, zwei
Kipphardt: In der Jahre nach D�rrenmatt, Heinar Kipphardts
Sache J. Robert
Dokumentarspiel In der Sache J. Robert Op-
Oppenheimer
penheimer, dem das Verfahren gegen den
Physiker vor der amerikanischen Atomener-
giekommission zugrunde liegt. Das St�ck diskutiert das
Verh�ltnis von Freiheit und Verantwortung, Schuld und
Loyalit�tsverpflichtung eines Forschers. Kipphardt inter-
essierte an dem Fall Oppenheimer, �hnlich wie Brecht in
seinem Leben des Galilei und D�rrenmatt in seinem
Physiker-St�ck, vor allem die Frage nach dem Ethos des
Wissenschaftlers und der daraus resultierenden verant-
wortungsbewussten Verwendung wissenschaftlicher Er-
kenntnisse zugunsten der Gesellschaft. Er
Kipphardts Kritik kritisiert den Glauben an die Zweckfreiheit
der Zweckfreiheit
der Forschung und l�sst seinen Protagonis-
der Wissenschaft
ten in der Schlussrede, die der historische
Oppenheimer nie gehalten hat, sich fragen,
ob wir Physiker unseren Regierungen nicht zuweilen ei-
ne zu gro�e, eine zu ungepr�fte Loyalit�t gegeben haben,
gegen unsere bessere Einsicht�.41 Dies soll doch wohl
hei�en, dass ein Wissenschaftler sein m�glicherweise ge-
f�hrliches Wissen vor dem Zugriff der M�chtigen sch�t-
zen muss. Die Vision von den Gefahren durch eine ver-
sklavte Wissenschaft, von der Galilei in der vierzehnten
Szene spricht, nimmt Kipphardt auf, wenn er Oppenhei-
mer sagen l�sst: So finden wir uns in einer Welt, in der
die Menschen die Entdeckungen der Gelehrten mit
Schrecken studieren, und neue Entdeckungen rufen neue
Todes�ngste bei ihnen hervor.�42
Oppenheimer zieht in dem Dokumentarst�ck f�r sich die
7. AUSFORMUNG DER THEMATIK
Konsequenz, an Kriegsprojekten nicht mehr mitarbeiten
und sich stattdessen wieder ausschlie�lich der Forschung
widmen zu wollen. Dieser Entschluss erscheint als muti-
ger und allein sinnvoller Schritt eines Wissen-
schaftlers, der seine Verantwortung gegen- R�ckkehr
�ber der Menschheit kennt. Er bleibt aber zur : reinen
Forschung9
mit der ganzen Problematik behaftet, die
m�glich?
schon in den Werken Brechts und D�rren-
matts begegnet. Was hei�t schlie�lich : R�ck-
kehr zur reinen Forschung9 ? Ist wissenschaftliches For-
schen unter den gegebenen Zeitumst�nden eigentlich noch
gutzuhei�en, oder sollte der Wissenschaftler sich nicht statt-
dessen als Widerstandsk�mpfer engagieren oder wie D�r-
renmatts M�bius sich aus der �ffentlichkeit zur�ckziehen
und sein Wissen zur�cknehmen?
8. Autor und Zeit
Bertolt Brechts Lebenszeit fiel in jene H�lfte des vorigen
Jahrhunderts, die den Menschen zwei Weltkriege gebracht
hat. Am Schluss des Ersten wurde er als Zwanzigj�hriger
noch zum Lazarettdienst verpflichtet, den Zweiten erlebte
er vom Ausland her mit, weil ihn das Naziregime f�r vier-
zehn Jahre ins Exil gezwungen hatte. Im Grunde blieben
ihm nur das anderthalbe Jahrzehnt bis 1933 und die neun
Jahre nach seiner R�ckkehr aus Amerika bis zu seinem Tod
f�r eine k�nstlerische Produktion, die von den politischen
Ereignissen nicht beeintr�chtigt oder behindert war. Umso
beachtlicher ist das Werk, das er geschaffen hat.
Brecht, der fr�h zu schreiben begann, zweifelte nie ernst-
haft an seiner Bef�higung zum Dichter, und
Schriftstellerische die Resonanz beim Publikum gab ihm Recht.
Anf�nge
1922 hatte er mit Trommeln in der Nacht sei-
nen ersten Theatererfolg, die Hauspostille,
seine 1927 ver�ffentlichte erste Lyriksammlung, fand er-
freuliche Beachtung und die bejubelte Urauff�hrung der
Dreigroschenoper im Jahre 1928 machte den gerade Drei�ig-
j�hrigen weltber�hmt.
Die zwanziger Jahre, die er �berwiegend in Berlin ver-
brachte, waren f�r Brecht eine intensive Zeit des Lernens
und der Selbstkl�rung. Als Resultat seiner Auseinanderset-
zung mit den aktuellen politischen, wirtschaftlichen und ge-
sellschaftlichen Fragen seiner Zeit  Welt-
Marxistische
wirtschaftskrise, hohe Arbeitslosigkeit, so-
Wende
ziales Elend  wurde er zum Marxisten, und
diese weltanschauliche : Wende9 hat fortan
sein k�nstlerisches Schaffen gepr�gt. Je eingehender er mit
8. AUTOR UND ZEIT 65
der marxistischen Interpretation der politisch-�konomi-
schen Ph�nomene der modernen Gesellschaft vertraut wur-
de, umso mehr wuchs in ihm die Einsicht, dass diese Wirk-
lichkeit mit den traditionellen Formen der Dichtung nicht
mehr beschrieben und dargestellt werden k�nne. So begann
er, insbesondere mit dem Drama und auf dem Theater, in-
tensiv zu experimentieren und erarbeitete als Ergebnis die
Form des episch-dialektischen Theaters. Er ersetzte darin
die bislang dominierende Tendenz zu genussvoller Unter-
haltung durch eine gesellschaftliche, politische und p�dago-
gische Funktion. Weil letztlich nur die Menschen die Ge-
sellschaft �ndern k�nnen, will sein Theater fortan das Leben
beeinflussen; indem es die menschlichen Verh�ltnisse, Ver-
fahren, Verhaltensweisen und Institutionen als ver�nderbar
darstellt, soll es den Zuschauer zum Eingreifen in die Wirk-
lichkeit motivieren und zu ver�nderndem Handeln veran-
lassen.
Die nationalsozialistische Machtergreifung� f�hrte in
Brechts Leben und Werk zu einer harten Z�sur. Marxist aus
�berzeugung, der er war, ohne jemals der kommunistischen
Partei beigetreten zu sein, hatte er sich mit seinen Arbeiten
fr�h den Hass der Nationalsozialisten zugezogen. Unmit-
telbar nach dem Reichstagsbrand am 27. Februar 1933 ent-
zog er sich darum ihrer absehbaren Verfol-
Exil
gung und floh �ber Prag, Wien und Paris
nach D�nemark. Seine literarischen Werke
wurden bei der B�cherverbrennung am 10. Mai 1933 in die
Flammen geworfen.
Nach Ausbruch des Krieges veranlasste ihn der siegreiche
Vormarsch der deutschen Wehrmacht, �fter als die Schuhe
die L�nder� zu wechseln und zuerst nach Finnland, 1941
dann �ber die Sowjetunion in die USA zu fliehen.
66 8. AUTOR UND ZEIT
In der Hoffnung, zur St�rkung der antifaschistischen
Kr�fte in Deutschland beizutragen, sodass sie den Zusam-
menbruch der Diktatur herbeif�hren k�nnten, investierte
Brecht, insbesondere in der ersten Phase des Exils, viel Kraft
in den Kampf gegen den Hitler-Faschismus, was Themen
und Sprache seiner Werke bestimmte. In keinem seiner
Gastl�nder richtete er sich auf Dauer ein, immer blieb die
R�ckkehr nach Deutschland sein Ziel, und diese Grundein-
stellung erhielt ihm auch seine Kraft zu literarischer Pro-
duktion von beachtlichem Ausma�. Er schrieb vor allem
Lyrik und Prosa, aber auch zahlreiche Theaterst�cke. Alle
seine gro�en Dramen  Mutter Courage, Der gute Mensch
von Sezuan, Leben des Galilei, Der kaukasische Kreidekreis
und Herr Puntila und sein Knecht Matti  sind im Exil ent-
standen. Freilich wurden sie nur selten gespielt und konnten
ihre Wirkung erst nach dem Krieg entfalten. Im Exil hat er
auch seine Dramen- und Theatertheorie ausgearbeitet, die
seine Versuche mit einem episch-dialektischen Theater im
Konzept einer nichtaristotelischen� Dramatik zusammen-
fasste.
Nach der R�ckkehr aus dem Exil entschied sich Brecht
f�r den Osten des geteilten Deutschlands.
Entscheidung Seine Option f�r das sozialistische System
f�r den
lie� ihn jedoch nicht �bersehen, dass die
sozialistischen
Idee der sozialistischen Gesellschaft in der
Teil Deutschlands
Realit�t der DDR keineswegs schon umge-
setzt, vielmehr nur erst als Ziel sichtbar war.
Davon sprechen insbesondere die im Umfeld der Ereignis-
se des 17. Juni 1953 entstandenen Gedichte der Buckower
Elegien.
Die letzten Jahre Brechts galten  neben dem Engagement
in der Akademie der K�nste und im PEN-Zentrum  im
8. AUTOR UND ZEIT 67
Wesentlichen der praktischen Theaterarbeit
Arbeitsschwer-
im Berliner Ensemble. Er konzentrierte sich
punkt Theater
auf die Bearbeitung klassischer St�cke (z. B.
von Shakespeare, MoliŁre, Sophokles) sowie
auf die modellhafte Inszenierung der eigenen Werke. Die
Neuinszenierung von Leben des Galilei konnte er aber nicht
mehr zu Ende bringen, er starb noch w�hrend der Pro-
ben am 14. August 1956 an den Folgen eines Herzinfarkts.
Wunschgem�� wurde er am 17. August : in aller Stille9 auf
dem Dorotheenst�dtischen Friedhof neben seiner Wohnung
in der Chausseestra�e beigesetzt.
Kurzbiografie
1898 Eugen Berthold Friedrich Brecht wird am 10. Februar
in Augsburg geboren.
1917 19 Studium der Medizin und der Philosophie in
M�nchen, unterbrochen durch vier Monate Lazarett-
dienst.
1919 Geburt von Brechts und Paula Bi� Banholzers Sohn
Frank (gefallen 1943).
1922 Heirat mit der Operns�ngerin Marianne Zoff (Schei-
dung 1927).
1923 Geburt von Brechts und Marianne Zoffs Tochter
Hanne.
1924 Geburt von Brechts und Helene Weigels Sohn Stefan.
�bersiedlung von M�nchen nach Berlin.
1929 Heirat mit Helene Weigel.
1930 Geburt von Brechts und Helene Weigels Tochter Bar-
bara.
1933 47 Exil mit den Stationen D�nemark (bis 1939),
Schweden (1939/40), Finnland (1940/41), USA (1941
68 8. AUTOR UND ZEIT
1947). 1935 wird Brecht und seinen Kindern die deut-
sche Staatsb�rgerschaft aberkannt.
1947 R�ckkehr aus den USA �ber Paris nach Z�rich.
1949 �bersiedlung nach Ost-Berlin. Gr�ndung des Berli-
ner Ensembles unter der Leitung von Helene Weigel.
Brecht ist als Erster Spielleiter f�r die k�nstlerische
Arbeit des Theaters verantwortlich.
1950 Erwerb der �sterreichischen Staatsb�rgerschaft.
1953 Wahl Brechts zum Pr�sidenten des PEN-Zentrums
(Ost und West).
1954 Das Berliner Ensemble zieht in das Theater am Schiff-
bauerdamm. Brecht wird Vizepr�sident der Deutschen
Akademie der K�nste.
1956 Brecht stirbt am 14. August an den Folgen eines Herz-
infarkts.
Werktabelle
1914 Die Bibel. Erstes, in der Sch�lerzeitschrift Die Ernte
ver�ffentlichtes Drama Brechts.
1923 Baal. Erstes gro�es St�ck Brechts. Es erz�hlt die Ge-
schichte eines asozialen Dichters, w�sten S�ufers und
Landstreichers, der sein Gl�cksverlangen� (Brecht)
hemmungslos und selbstzerst�rerisch auslebt, seine
Mitmenschen ausnutzt und zum M�rder an seinem
Freund wird.
Trommeln in der Nacht. Das St�ck handelt von dem
totgesagten Kriegsheimkehrer Kragler, der sich mit
den Profitmachern der Nachkriegszeit und der Un-
treue seiner Braut Anna auseinander setzen muss. Als
Anna sich wieder zu ihm bekennt, gibt er den Plan auf,
Bertolt Brecht, 1951
Foto: Gerda Goedhardt
70 8. AUTOR UND ZEIT
sich der Revolution anzuschlie�en, und zieht sich in
sein privates Gl�ck zur�ck.
1923 Im Dickicht der St�dte. Drama �ber den Kampf
zweier M�nner in der Riesenstadt Chicago� (Unter-
titel).
1926 Mann ist Mann. Lustspiel� �ber Die Verwandlung
des Packers Galy Gay in den Milit�rbaracken von Kil-
koa im Jahre neunzehnhundertf�nfundzwanzig� (Un-
tertitel) zu einem Kollektivmenschen� (Herbert Ihe-
ring), einer menschlichen Kampfmaschine ohne eigene
Identit�t.
1927 Bertolt Brechts Hauspostille. Eine Sammlung der
(meisten) fr�hen Gedichte Brechts. Parodistisch-sati-
rische Nachahmung eines christlichen Erbauungsbu-
ches in f�nf Lektionen�, das mit dem Rollengedicht
Vom armen B.B. schlie�t.
1928 Dreigroschenoper. Das St�ck mit Musik� von Kurt
Weill war der gr��te Theatererfolg der zwanziger Jah-
re und machte Brecht weltber�hmt. Es aktualisiert ei-
ne Oper aus der Zeit des Barock und handelt vom
Stra�enr�uber Macheath, genannt Mackie Messer, der
mit dem Polizeichef im Bunde steht, auf Betreiben des
Bettlerk�nigs Peachum, seines Schwiegervaters, bei-
nahe an den Galgen kommt und doch gerettet wird.
1929 Der Flug der Lindberghs, sp�ter in Der Ozeanflug
umbenannt, und Das Badener Lehrst�ck vom Einver-
st�ndnis waren Brechts erste Experimente mit der
Form des politischen Lehrst�cks. Zu diesen z�hlen
u. a. noch die Schulopern� Der Jasager und Der
Neinsager (1930) und das Spiel Die Ma�nahme (1930).
In diesen St�cken wollte Brecht nicht die Zuschauer,
sondern die Darsteller (meist Sch�ler) in ein politi-
8. AUTOR UND ZEIT 71
sches Verhalten ein�ben, das auf dem Vorrang des Kol-
lektivs gegen�ber dem Individuum gr�ndete. Am radi-
kalsten ist diese : Lehre9 in Die Ma�nahme realisiert:
Die T�tung eines Genossen wird dadurch gerechtfer-
tigt, dass er die Gemeinschaft, d. i. die kommunistische
Bewegung, gef�hrdet habe.
1930 Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny. Oper� mit
der Musik von Kurt Weill. Seit ein Hurrikan die von
Kriminellen gegr�ndete Stadt bedrohte, herrscht in ihr
das Gesetz der Anarchie, ist alles erlaubt, auch die
Selbstzerst�rung. Das wird in vier Szenen exempla-
risch vorgef�hrt: Essen�, Lieben�, K�mpfen�,
Saufen�. Doch Mangel an Geld� gilt in dieser kapi-
talistischen Gesellschaft als das gr��te Verbrechen�.
1931 Die Mutter. Nach einem Roman von Maxim Gorki
dramatisierte Biografie einer Arbeiterfrau, die sich von
der apathischen, unwissenden Mutter zur bewussten
und aktiven Revolution�rin (in der Zeit des zaristi-
schen Russland) wandelt. Erstes konsequent marxis-
tisch orientiertes St�ck Brechts.
1932 Die heilige Johanna der Schlachth�fe. Erstes St�ck in
der von Brecht entwickelten Form des epischen�,
sp�ter auch dialektisch� genannten Theaters. Johan-
na Dark, Leutnant der Heilsarmee, wird Opfer des
Machtkampfs zwischen den durch eine gro�e B�rsen-
spekulation arbeitslos gewordenen Arbeitern und den
Schlachthofbesitzern Chicagos. Die von ihr angestreb-
te : rein menschliche9 L�sung erweist sich als Illusion,
ungewollt wird sie zur Mithelferin der Repression.
1934 Lieder, Gedichte, Ch�re. Zusammen mit Hanns Eis-
ler erarbeitete Sammlung politischer Lieder f�r den
Kampf gegen den Nazismus.
72 8. AUTOR UND ZEIT
Der Dreigroschenroman. Prosaversion des Stoffs der
Dreigroschenoper. Die R�uberphase Macheaths bildet
hier aber nur die Vorgeschichte zu seiner Karriere als
Gesch�ftsmann, die er mit allen verbrecherischen Mit-
teln organisiert, ohne sich dabei selbst die H�nde
schmutzig zu machen. Die Parallelen zum (aufhalt-
baren) Aufstieg Hitlers sind beabsichtigt.
1936 Die Rundk�pfe und die Spitzk�pfe. Ein Greuelm�r-
chen� �ber Rassenhass und ethnische Verfolgung, f�r
das Hitlers Rassentheorie Modell stand. Die rundk�p-
figen Machthaber des Landes machen die Spitzk�pfe
f�r das wirtschaftliche Elend verantwortlich und ver-
folgen sie. Am Ende tafeln die reichen Rundk�pfe mit
den reichen Spitzk�pfen und die Armen beider : Ras-
sen9 baumeln gemeinsam am Galgen.
1938 Furcht und Elend des Dritten Reiches. Die Szenenfol-
ge zeichnet ein Bild von der Situation der Menschen
unter der nationalsozialistischen Diktatur. Thema ist
die Deformation ihres Lebens durch L�ge, Anpas-
sung, Misstrauen, Feigheit, Angst, Denunziation und
Verrat, die allt�gliche Schande und Erniedrigung.
1939 Svendborger Gedichte. Der in sechs Abschnitte geglie-
derte Zyklus der Gedichte der ersten Exilzeit enth�lt
u. a. die antifaschistischen Texte der Deutschen Kriegs-
fibel und die f�r den deutschen Freiheitssender in
Moskau geschriebenen Deutschen Satiren, aber auch
eine erste Sammlung von Kinderliedern. Den Ab-
schluss bildet das ber�hmt gewordene Gedicht An die
Nachgeborenen.
1940 Fl�chtlingsgespr�che. Dialog zwischen dem Intellektu-
ellen Ziffel, einem Physiker, und dem Metallarbeiter
Kalle im Bahnhofsrestaurant von Helsinki. Beide sind
8. AUTOR UND ZEIT 73
aus Deutschland vertriebene Opfer des Nationalsozia-
lismus. Ihre Gespr�che kreisen um die Heimat und die
Frage, wie es mit dieser Heimat so weit hat kommen
k�nnen.
1941 Mutter Courage und ihre Kinder. Diese Chronik aus
dem Drei�igj�hrigen Krieg� (Untertitel) �ber die
Sinnlosigkeit des Krieges gilt als eines der epischen
Musterdramen Brechts. Die Marketenderin Anna
Fierling, genannt Courage, die sich den Zeiten anpasst
und nach der Devise handelt, dass gut ist, was dem Ge-
sch�ft n�tzt, verliert durch den Krieg ihre drei Kinder.
Doch sie bleibt unbelehrt und zieht weiter mit ihrem
Planwagen von einem Kriegsschauplatz zum anderen.
Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui. Parabelst�ck,
in dem die Geschichte des Hitlerfaschismus von der
Weltwirtschaftskrise bis zur Okkupation �sterreichs
in das Milieu amerikanischer Gangstersyndikate ver-
fremdet ist.
1943 Der gute Mensch von Sezuan. Typischstes Parabel-
st�ck Brechts. Am Verhalten der von drei G�ttern auf
der Suche nach einem guten Menschen entdeckten
Prostituierten Shen Te wird gezeigt, dass es unm�glich
ist gut zu sein und doch zu leben�. Shen Te vermag
ihre G�te nur dadurch durchzusetzen, dass sie sich als
ihr schlechter� Vetter verkleidet und durch ihn ihre
Gesch�fte auf immer brutalere Weise t�tigt. Auch die
G�tter wissen keine L�sung� f�r das Dilemma, diese
ist im Epilog den Zuschauern aufgegeben.
Leben des Galilei.
1944 Der kaukasische Kreidekreis. Eines der konsequentes-
ten und dichterisch gelungensten Beispiele des epi-
schen Theaters Brechts. Das als Spiel im Spiel konzi-
74 8. AUTOR UND ZEIT
pierte Parabelst�ck stellt die Frage, wem der Boden,
den die Bauern bestellen, geh�ren soll. Als Beispiel ei-
ner L�sung spielt eine Theatergruppe die Salomoni-
sche Kreidekreisprobe aus der Bibel. Das Urteil wird
allerdings umgekehrt: Nicht die leibliche Mutter erh�lt
das Kind, sondern die Magd, die die Verantwortung
und Sorge �bernommen hat. Diese soziale Bestim-
mung des Muttertums gilt entsprechend f�r das Eigen-
tum der Bauern.
1948 Herr Puntila und sein Knecht Matti. Volksst�ck�
(Untertitel). In n�chternem Zustand ist Puntila grob,
unausstehlich und hartherzig, menschlich ist er nur im
Rausch. Matti verl�sst ihn, denn Knechte haben es nur
dann ertr�glich, wenn sie erst ihre eignen Herren
sind�.
Kalendergeschichten. Sammlung von acht Erz�hlun-
gen, denen alternierend Gedichte aus dem Zyklus
der Svendborger Gedichte gegen�berstehen. Aufge-
nommen sind au�erdem 39 Geschichten vom Herrn
Keuner.
Kleines Organon f�r das Theater. Essay, in dem Brecht
seine Theorie des episch-dialektischen Theaters dar-
legt.
1950 Neue Kinderlieder. In diesen Texten konkretisiert
Brecht zum ersten Mal nach dem Krieg wieder seinen
Glauben an eine neue sozialistische Wirklichkeit, die
auf humanen Verhaltensweisen und neuen Gef�hlen
und Gedanken beruht.
1951 Die Verurteilung des Lukullus. Oper�. Der Eroberer
Lukullus wird von dem Totenrichter ins Nichts� ver-
sto�en, weil seine Kriege die Menschen ins Ungl�ck
gest�rzt haben.
8. AUTOR UND ZEIT 75
1953 Buckower Elegien. Sammlung von epigrammatischen
Kurzgedichten� (Peter Paul Schwarz), in denen Brecht
den eigenen Standort und die gesellschaftliche und po-
litische Situation der DDR nach dem Aufstand vom
17. Juni 1953 reflektiert. Klage und Betroffenheit �ber
die ostdeutsche Wirklichkeit, die aufgrund einer b�ro-
kratisch erstarrten F�hrung noch nicht zum erstrebten
Ziel der sozialistischen Gesellschaft gelangt ist.
Turandot oder Der Kongre� der Wei�w�scher. Nach
einem Chinesischen M�rchen gestaltetes St�ck �ber
die Verf�hrbarkeit und Anpassung des Intellektuellen
in der Zeit des Nationalsozialismus.
Literaturgeschichtliche Bez�ge und Rezeption
Brechts episch-dialektisches Theater wurde lange Zeit als
das beispielgebende Muster der modernen
Dramatik des zwanzigsten Jahrhunderts Das Konzept
des episch-dialek-
angesehen. Das theoretische Konzept dazu
tischen Theaters
hat er nicht systematisch ausgearbeitet,
sondern in engem Zusammenhang mit sei-
ner praktischen Theaterarbeit entwickelt. Es besteht im
Kern aus einer neuen Dramaturgie des Zuschauers.
Brecht will auf dem Theater Modelle f�r praktikable ge-
sellschaftliche L�sungen zeigen; daf�r muss er den Men-
schen ihre eigene Wirklichkeit erst wieder sichtbar ma-
chen, und zwar als eine Lebenswelt, die ver�nderbar ist.43
Das hei�t, er muss ihnen das Bekannte als fremd zeigen,
damit sie es in einer distanziert-kritischen Haltung wahr-
nehmen und nicht wie im illusionistischen Theater der
aristotelischen Traditionslinie am dramatischen Gesche-
hen emotional beteiligt sind.
76 8. AUTOR UND ZEIT
Die Darstellungsform, mit der Brecht derartige Zuschau-
erreaktionen glaubt erreichen zu k�nnen, ist die Ver-
fremdung�, die inhaltlich durch die Histo-
Verfremdung
risierung und theaterpraktisch durch schau-
spielerische und b�hnentechnische Ma�nah-
men bewirkt wird. Sie hat die Theorie und Praxis des
episch-dialektischen Theaters so sehr gepr�gt, dass sie als
bestimmende Grundstruktur� des Brechtschen Werkes
bezeichnet wurde.
Ziel der Dramaturgie Brechts ist eine Emanzipation des
Zuschauers�44. Anders als das traditionelle : dramatische9
Theater verlangt er von ihm eine erhebliche aktiv-sch�p-
ferische Leistung. Die Darstellungen auf der B�hne sollen
ihn zur denkenden Mitarbeit anregen, ihn eingreifendes
Denken lehren. Er soll produktiv werden �ber das Zu-
schauen hinaus, �ber die Kunst hinaus in die gesellschaft-
liche Praxis hineinwirken, seine im Theater gewonnenen
Einsichten zur Ver�nderung der politisch-sozialen Wirk-
lichkeit nutzen.
In seiner sp�ten Schaffensphase pr�zisiert Brecht die Dia-
lektik auf dem Theater als Genuss und das eingreifende
Denken als Lust. Dadurch kann er Unterhaltung und Be-
lehrung, die beiden Grundfunktionen der Kunst, bruchlos
in sein dramaturgisches Konzept integrieren.
Unterhaltung
Den Katzgraben-Notaten (1953), Anmer-
und Belehrung
kungen zu einem St�ck von Erwin Strittmat-
ter, stellte er das Motto voraus: Es ist nicht
genug verlangt, wenn man vom Theater nur Erkenntnisse,
aufschlussreiche Abbilder der Wirklichkeit verlangt. Unser
Theater muss die Lust am Erkennen wecken, den Spa� an
der Ver�nderung der Wirklichkeit organisieren.�45
F�r Brecht hat die heutige Welt nicht nur �nderungen
8. AUTOR UND ZEIT 77
n�tig, er h�lt sie auch f�r ver�nderbar und be-
Dramaturgie der
trachtet das Theater als ein wichtiges Movens
Ver�nderung
dieser Ver�nderung. In diesem Sinne prak-
tiziert das episch-dialektische Theater eine
Dramaturgie der Ver�nderung�46, versteht es sich als Dra-
ma des gesellschaftlichen Eingriffs.
Als Brecht nach f�nfzehn Jahren Exil : nach Hause9
zur�ckkehrte, war nicht sicher, ob er an seine erfolgreiche
Theaterarbeit in der Weimarer Zeit wieder ankn�pfen k�n-
ne. Zu lange und zu radikal war er von : seinem9 Publikum
abgeschnitten gewesen. Mit dem Ost-Berliner Theater am
Schiffbauerdamm� und dem von ihm begr�ndeten Berliner
Ensemble� schuf er sich dann jedoch ein einzigartiges In-
strument, um seine Werke wie seine Theorie
konsequent an der praktischen Theaterarbeit
Brechts
zu �berpr�fen und zu modifizieren. In den dominierende
Stellung in der
f�nfziger und vor allem in den sechziger
deutschsprachi-
Jahren war Brechts Stellung als B�hnenautor
gen Nachkriegs-
dominierend, seine Autorit�t als Theoretiker
dramatik
unbestritten. Es existierte keine Dramentheo-
rie, die �ber die seine hinausgewiesen h�tte, es
gab kein Werk, das nicht an seinem gemessen worden w�re.
Kein zeitgen�ssischer Dramatiker konnte sich der Ausein-
andersetzung mit Brecht entziehen, und sei es durch Mo-
difikation, durch Widerspruch oder durch Absage�47.
Abgesehen von einer ganzen Generation von DDR-Dra-
matikern wie Peter Hacks, Volker Braun
und Heiner M�ller beeinflusste Brecht Literatur-
geschichtliche
auch die Entwicklung des Theaters in der
Wirkung
Bundesrepublik. Herausragende Beispiele
einer produktiv-kritischen Rezeption fin-
den sich im Werk Max Frischs, der wie Brecht Parabel-
78 8. AUTOR UND ZEIT
st�cke schrieb, sie aber, wie etwa Biedermann und die
Brandstifter, als Lehrst�cke ohne Lehre� gegen ihn ab-
grenzte und, noch intensiver, bei Friedrich D�rrenmatt
mit seiner Kom�dientheorie. D�rrenmatt setzte Brechts
zentraler dramaturgischer Forderung, die Welt sei auf dem
Theater als ver�nderbar� darzustellen, die These entgegen,
dieser alte Glaubenssatz der Revolution�re, da� der
Mensch die Welt ver�ndern k�nne�, sei f�r den einzelnen
unrealisierbar geworden, au�er Kurs gesetzt, [& ] nur noch
f�r die Menge brauchbar, als Schlagwort, als politisches Dy-
namit, als Antrieb f�r die Massen, f�r die grauen Armeen
der Hungernden�.48
W�hrend Frisch und D�rrenmatt Distanz zu Brecht
suchten, kn�pften die westdeutschen Autoren des politi-
schen Theaters der sechziger Jahre mehr oder weniger
ausdr�cklich an Brechts Theaterkonzeption an: beispiels-
weise Martin Walser mit kritischen Zeitst�cken, Heinar
Kipphardt und Peter Weiss mit St�cken dokumentari-
schen Theaters und Franz Xaver Kroetz mittels der Form
des neuen, kritischen Volksst�cks. Wie selbstverst�ndlich
nehmen sie Stilmittel des epischen Theaters auf, seine
Verfremdungsverfahren, seine musikalischen Elemente,
seinen lehrhaft-p�dagogischen Charakter. Vor allem aber
machen sie ernst mit Brechts Anspruch einer eingreifen-
den, gesellschaftliche und politische Ver�nderung bewir-
kenden Kunst.
Brechts Theaterarbeit war also nicht so folgenlos, wie er
es selbst einmal in einer Bemerkung gegen�ber dem Thea-
terwissenschaftler Ernst Schumacher skeptisch zum Aus-
druck brachte, indem er die ber�hmte Zeile aus der Drei-
groschenoper Erst kommt das Fressen, dann kommt die
Moral� als den Satz bezeichnete, der ihm einen dauerhaften
8. AUTOR UND ZEIT 79
Platz in der Literaturgeschichte verschaffen werde. Auch
Max Frischs ber�hmt gewordener Spruch von der durch-
schlagenden Wirkungslosigkeit� des Klassikers Brecht muss
nicht zum Nennwert genommen werden. Zwar hat es, vor
allem in den f�nfziger und sechziger Jahren, vor dem Hin-
tergrund der Ost-West-Konfrontation und des Kalten Krie-
ges Phasen des Widerstands oder der Abstinenz gegen�ber
Brecht gegeben, diese Einstellungen sind jedoch Geschich-
te. Auch heute st��t Brechts Werk weiter auf
das Interesse von Lesern und Theaterbesu- Aktualit�t der
: dramatischen
chern, und keineswegs nur, weil etwa sein
Bilder9 Brechts
vor wenigen Jahren gefeierter hundertster
Geburtstag Anlass zur Wiederentdeckung
gab. Auf die Rezeption seiner Werke verzichten hie�e ei-
nen Fundus menschlicher Erfahrungsm�glichkeiten in den
Wind schlagen�49, den seine literarischen Modelle, nicht zu-
letzt ein St�ck wie Leben des Galilei, noch immer bereit-
halten.
9. Checkliste
1. Welche zeitgeschichtlichen Ereignisse haben Brecht zur
mehrfachen Besch�ftigung mit dem Galilei-Stoff veran-
lasst?
Beschreiben Sie die Auswirkungen der jeweiligen histori-
schen Situation auf die drei Fassungen des St�cks.
2. Vergleichen Sie (evtl. mit Hilfe weiterer Informationen)
die historische Gestalt Galileis mit Brechts dramatischer
Figur.
Warum ist das St�ck keine Lebenschronik Galileis?
Mit welcher Absicht nimmt Brecht in dem St�ck eine
Neubewertung der historischen Figur vor?
3. Beschreiben Sie Galileis wissenschaftliche Arbeitsweise
im St�ck.
Was versteht er unter vern�nftigem Sehen�?
Welche Rolle spielt der Zweifel in seinem Forschungs-
programm?
4. Aus welchen Gr�nden bewirbt sich Galilei um eine Stelle
am Hof von Florenz? Beschreiben Sie die Konsequenzen
dieser Entscheidung.
5. In welcher Weise wandelt sich Galilei vom Helden zum
Anti-Helden? Warum widerruft er?
Erkl�ren Sie Galileis Replik Ungl�cklich das Land, das
Helden n�tig hat� auf Andreas Vorwurf Ungl�cklich
das Land, das keine Helden hat�.
6. Wie definiert Galilei das Ethos des Wissenschaftlers?
9. CHECKLISTE 81
7. Worin besteht Galileis Versagen gegen�ber den eigenen
Anspr�chen?
Erkl�ren Sie, warum Brecht Galileis Widerruf als Ver-
brechen� darstellt?
8. Wie begr�ndet Brecht Galileis Selbstvorwurf, die Wis-
senschaftler h�tten aufgrund seines Widerrufs die histo-
rische Chance nicht genutzt, einen Moralkodex (eine
Art hippokratischen Eid) zu entwickeln?
9. Wie berurteilt Galilei die Folgen dieses Versagens f�r die
Menschheit? Welche Konsequenz zieht Brecht aus Gali-
leis Verhalten f�r seine eigene Gegenwart?
10. Entspricht Brechts Vorwurf der schuldhaft vers�umten
Einflussnahme Galileis auf die Entwicklung der Wissen-
schaft den politisch-sozialen Gegebenheiten der Zeit?
Unter welchen Bedingungen w�ren seine Erwartungen
an die dramatische Figur von ihr erf�llbar gewesen?
11. Das St�ck schlie�t mit einer bedingt optimistischen
Zukunftsperspektive. Beschreiben Sie die Voraussetzun-
gen von Brechts Fortschrittsoptimismus.
12. Beschreiben Sie die Funktion der Kirche in dem St�ck.
Welche Rollen weist Brecht ihren verschiedenen Repr�-
sentanten zu?
Welche besondere Stellung hat der kleine M�nch�?
13. Beschreiben Sie den Konflikt zwischen der neuen Wis-
senschaft und der Religion.
Wodurch unterscheiden sich die Beweisf�hrungen f�r
die Wahrheit des alten und des neuen Wissens?
82 9. CHECKLISTE
Worin besteht die theologische Brisanz des durch Ga-
lileis Forschungen best�tigten kopernikanischen Welt-
bildes?
14. Beschreiben Sie den Konflikt zwischen der neuen Wis-
senschaft und der Gesellschaft.
Welche sozialen Auswirkungen haben die Forschungen
und Entdeckungen Galileis?
Wie reagieren die M�chtigen und Besitzenden  zum
Beispiel Ludovico  auf die absehbaren Folgen des wis-
senschaftlichen Fortschritts?
15. Was macht Andrea zum Repr�sentanten der neuen Zeit?
16. Die k�nstlerischen Gestaltungsmittel Brechts
Wie unterscheidet sich Leben des Galilei in der Gestal-
tung von Ort, Zeit und Handlung von einem klassischen
Drama?
Welche Wirkungen gehen von dem parallelen und kon-
trastiven Aufbau des St�ckes aus?
Was versteht Brecht unter verfremden�?
Wie verwendet er die Verfremdungsmittel in Leben des
Galilei?
17. Was versteht Brecht unter historisieren�?
Beschreiben Sie die Formen der Historisierung in Leben
des Galilei.
18. Welche : Dramaturgie des Zuschauers9 verfolgt Brecht?
Beschreiben Sie die beabsichtigte Wirkung von Verfrem-
dung und Historisierung auf die Zuschauer.
19. Ist Leben des Galilei ein Geschichtsdrama oder eine Pa-
rabel?
9. CHECKLISTE 83
Welche Auswirkungen hat die Dramenform auf die Pro-
blemstellung des St�cks?
20. Zeigt das St�ck eine aktuelle Thematik? Reicht sein
Sinnpotential in die Gegenwart hinein?
21. Friedrich D�rrenmatts St�ck Die Physiker
Erkl�ren Sie den R�ckzug von M�bius ins Irrenhaus.
Welche Begr�ndungen gibt er f�r seinen Entschluss?
Warum scheitert M�bius mit seinem Entschluss, die
Welt vor den Auswirkungen seiner Entdeckungen zu
retten?
Welche Folgen hat die schlimmstm�gliche Wendung�
der Ereignisse des St�cks?
22. Worin besteht die Zur�cknahme Brechts� in Die Phy-
siker?
23. Sind M�bius und Oppenheimer mutige� Wissenschaft-
ler?
24. Vergleichen Sie Brechts Haltung zur sozialethischen
Verantwortung der Wissenschaft mit den Positionen von
D�rrenmatt und Kipphardt.
25. Welche Wirkungen gingen von Brechts dramatischem
Schaffen und seiner Theorie des episch-dialektischen
Theaters auf das Drama und Theater der Gegenwart
aus?
10. Lekt�retipps
Textausgaben
Bertolt Brecht: Leben des Galilei. Frankfurt a. M.: Suhr-
kamp Verlag, 1965 [u. �.]. (edition suhrkamp, 1.)  Text
der 3., sogenannten Berliner Fassung des St�cks. Nach die-
ser Ausgabe wird zitiert.
Bertolt Brecht: Leben des Galilei. In: B. B., Werke. St�cke 5.
Gro�e kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe.
Hrsg. von Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mitten-
zwei, Klaus-Detlef M�ller. Bd. 5. Berlin/Weimar: Auf-
bau-Verlag. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1988. S. 187 289
und 331 449.  Nach wissenschaftlichen Kriterien bear-
beitete, sogenannte historisch-kritische Textausgabe mit
Erl�uterungen zur Entstehung, zu den verschiedenen
Textfassungen, zur Wirkung und mit einem Zeilenkom-
mentar.
Zum Nachschlagen von Sachbegriffen
Metzler Literatur Lexikon. Begriffe und Definitionen.
Hrsg. von G�nther und Irmgard Schweikle. 2., �berarb.
Aufl. Stuttgart: Metzler, 1990.  Vorz�gliches einb�ndiges
Sachw�rterbuch zu allen wichtigen Begriffen.
Theater-Lexikon. Kompaktwissen f�r Sch�ler und junge
Erwachsene. Hrsg. von Lothar Schwab und Richard We-
ber. Frankfurt a. M.: Cornelsen Scriptor, 1991.  Zuver-
l�ssiges und verst�ndlich geschriebenes Nachschlagewerk
�ber die Geschichte des Theaters, Theaterformen, drama-
turgische Begriffe.
10. LEKT�RETIPPS 85
Zur Einf�hrung in das Drama
Asmuth, Bernhard: Einf�hrung in die Dramenanalyse. 5.,
aktualisierte Aufl. Stuttgart: Metzler, 1997.  Vorwiegend
theorieorientierte Darstellung der Aspekte und Elemente
des Dramas von seiner literarischen Form bis zur B�hnen-
auff�hrung.
Zu Bertolt Brecht
Allgemeinverst�ndlich
Hecht, Werner (Hrsg.): Bertolt Brecht. Sein Leben in Bil-
dern und Texten. Mit einem Vorwort von Max Frisch.
Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1978. Frankfurt a. M.: Suhr-
kamp Taschenbuch Verlag 2000. Umf�ngliche, vorz�g-
lich zusammengestellte und kommentierte Bildbiografie.
Hecht, Werner (Hrsg.): alles, was Brecht ist & Fakten 
Kommentare  Meinungen  Bilder. Frankfurt a. M.:
Suhrkamp, 1997.  Aus Anlass des hundertsten Todestages
erschienenes Brecht-Medienhandbuch� mit informati-
ven Materialien zu Brechts dramatischem Werk auf der
B�hne und zu seinen Werken im deutschsprachigen H�r-
spiel sowie in Film und Fernsehen.
Lattmann, Dieter: Kennen Sie Brecht? Stationen seines Le-
bens. Stuttgart: Reclam, 1988. [u. �.].  Aus subjektiver
Perspektive geschriebene knappe, thematisch strukturierte
Biografie, mit Daten zu Leben und Werk und Literatur-
hinweisen.
V�lker, Klaus: Bertolt Brecht. M�nchen: Deutscher Ta-
schenbuch Verlag, 1978.  Sehr informative Biografie, in
der Brechts Leben und Werk ineinander verwoben darge-
stellt werden.
86 10. LEKT�RETIPPS
Literaturwissenschaftliche Darstellungen
Interpretationen: Brechts Dramen. Hrsg. von Walter Hin-
derer. Stuttgart: Reclam, 1995 [u. �.].  Gute Einf�hrung
in die Theatertheorie und das dramatische Werk Brechts
in Form von Einzelinterpretationen zu Baal und den
gro�en zeit�berdauernden B�hnenst�cken.
Knopf, Jan: Bertolt Brecht. Stuttgart: Reclam, 2000.  Kom-
petenter �berblick �ber Brechts Biografie und Gesamt-
werk, mit ausf�hrlicher Bibliografie der Prim�r- und Se-
kund�rliteratur.
M�ller, Klaus Detlef (Hrsg.): Bertolt Brecht. Epoche  Werk
 Wirkung. M�nchen: C. H. Beck, 1985.  Sehr gute, als
wissenschaftliches Arbeitsbuch konzipierte Gesamtdar-
stellung von Brechts Werk, mit einer Einf�hrung in den
zeitgeschichtlichen Hintergrund und in die Rezeption.
Payrhuber, Franz-Josef: Literaturwissen Bertolt Brecht.
Stuttgart: Reclam, 1995 [u. �.].  Einf�hrung in das Ge-
samtwerk Brechts, �berwiegend in Form von Einzelinter-
pretationen.
Zur literaturwissenschaftlichen Interpretation
von Leben des Galilei
Materialien
Erl�uterungen und Dokumente: Bertolt Brecht: Leben des
Galilei. Von Peter Langemeyer. Stuttgart: Reclam, 2001. 
Ausf�hrliche Wort- und Sacherkl�rungen, Materialien
zum Stoff und seiner Geschichte, zu Entstehungsgeschich-
te und den verschiedenen Fassungen, Dokumente zum
Werk auf der B�hne und zur Rezeptionsgeschichte.
10. LEKT�RETIPPS 87
Brechts Leben des Galilei. Hrsg. von Werner Hecht. Frank-
furt a. M.: Suhrkamp, 1981 [u. �.].  Informativer Mate-
rialienband mit einem Fassungsvergleich, Selbstaussagen
Brechts, Dokumenten zur Theaterarbeit und Interpreta-
tionen.
Interpretationen
Knopf, Jan: Bertolt Brecht Leben des Galilei. Sichtbarma-
chen des Unsichtbaren. In: Interpretationen: Dramen des
20. Jahrhunderts. Bd. 2. Stuttgart: Reclam, 1996. S. 7 26.
 Aufschlussreiche, vom Motiv des : Neuen Sehens9 gelei-
tete Interpretation.
Knust, Herbert: Leben des Galilei. Frankfurt a. M.: Diester-
weg 1982.  Grundlagen zur Interpretation und kompak-
ter �berblick �ber die Positionen der literaturwissen-
schaftlichen und theatergeschichtlichen Rezeption, mit
Abdruck repr�sentativer Theaterkritiken.
Sautermeister, Gert: Leben des Galilei. In: Interpretationen:
Brechts Dramen. Hrsg. von Walter Hinderer. Stuttgart:
Reclam, 1995 [u. �]. S. 51 92.  Kenntnisreiche Interpre-
tation auf der Grundlage neuerer Forschungen.
Anmerkungen
1 Bertolt Brecht, Gesammelte Werke. werkausgabe edition suhr-
kamp, Bd. 10, Frankfurt a. M. 1967, S. 1029.
2 Lion Feuchtwanger, Bertolt Brecht, in: Werner Hecht (Hrsg.),
Bertolt Brecht. Leben und Werk im Bild, Frankfurt a. M. 21986,
S. 271 277, hier: S. 271f.
3 Zitiert wird, mit Angabe der Seitenzahl, nach der Ausgabe in
edition suhrkamp, Frankfurt a. M. 1965 [u. �.].
4 Gert Sautermeister, Leben des Galilei�, in: Interpretationen:
Brechts Dramen, hrsg. von Walter Hinderer, Stuttgart 1995
[u. �.], S. 51 92, hier: S. 59.
5 Sautermeister (Anm. 4), S. 59.
6 Wolfgang Hallet, Bertolt Brecht: Leben des Galilei�, M�nchen
2
2000, S. 65.
7 Klaus Detlef M�ller, Bertolt Brecht. Epoche  Werk  Wirkung,
M�nchen 1985, S. 275.
8 M�ller (Anm. 7), S. 276.
9 Sautermeister (Anm. 4), S. 64.
10 Vgl. u. a. Ernst Schumacher, Drama und Geschichte. Bertolt
Brechts Leben des Galilei� und andere St�cke, Berlin 1968.
11 Bertolt Brecht, Gesammelte Werke. werkausgabe edition suhr-
kamp, Bd. 17, Frankfurt a. M. 1967, S. 1109.
12 Vgl. R�my Charbon, Die Naturwissenschaften im modernen
deutschen Drama, M�nchen 1974, S. 151f.
13 Vgl. Friedrich Diekmann, Galilei-Komplikationen�, in: Wei-
marer Beitr�ge 1988, H. 2, S. 213 229. Hallet �bernimmt Diek-
manns Schema in seinen schulpraktischen Kommentar; vgl. Hal-
let (Anm. 6), S. 85.
14 Vgl. Bertolt Brecht, Kleines Organon f�r das Theater, in: Brecht
(Anm. 11), S. 659 708, hier: S. 693ff.
15 M�ller (Anm. 7), S. 228.
16 Bertolt Brecht, Gesammelte Werke. werkausgabe edition suhr-
kamp, Bd. 15, Frankfurt a. M. 1967, S. 294f.
17 Zum Folgenden vgl. den Kommentar in: Bertolt Brecht, Werke,
St�cke 5. Gro�e kommentierte Berliner und Frankfurter Ausga-
be, Berlin / Weimar / Frankfurt a. M. 1988, S. 351.
18 Bertolt Brecht, Arbeitsjournal 1942 bis 1955. Frankfurt a. M.
1993, S. 602.
ANMERKUNGEN 89
19 Brecht (Anm. 11), S. 1110 f.
20 Brecht (Anm. 11), S. 1132.
21 Brecht (Anm. 11), S. 1111.
22 Charbon (Anm. 12), S. 138.
23 Brecht (Anm.16), S. 302.
24 Brecht (Anm. 11), S. 1110.
25 Detlev Sch�ttker, Bertolt Brechts �sthetik des Naiven, Stuttgart
1989, S. 287.
26 Brecht (Anm. 11), S. 1132.
27 Brecht (Anm. 11), S. 1132.
28 Brecht (Anm. 11), S. 1110.
29 Brecht (Anm. 11), S. 1111.
30 Brecht (Anm. 11), S. 1110.
31 Wolfgang Fr�hwald, Eine Moritat vom Ende des Individuums:
Das Theaterst�ck Baal�, in: Walter Hinderer (Hrsg.), Brechts
Dramen, Stuttgart 1984, S. 33 47, hier: S. 40.
32 Sautermeister (Anm. 4), S. 69.
33 Jan Knopf, Der Dramatiker Friedrich D�rrenmatt, Berlin 1987,
S. 113.
34 Sautermeister (Anm. 4), S. 69.
35 Bertolt Brecht, Gesammelte Werke. werkausgabe edition suhr-
kamp, Bd. 16, Frankfurt a. M. 1967, S. 700.
36 Friedrich D�rrenmatt: Die Physiker, in: F. D., Werkausgabe in
drei�ig B�nden, Bd. 7, Z�rich 1988, S. 75.
37 D�rrenmatt (Anm. 36), S.76.
38 D�rrenmatt (Anm. 36), S. 77.
39 D�rrenmatt (Anm. 36), S. 74.
40 Ralf Schnell, Geschichte der deutschsprachigen Literatur seit
1945, Stuttgart 1995, S. 185.
41 Heinar Kipphardt, In der Sache J. Robert Oppenheimer, Frank-
furt a. M. 1964 [u. �.], S. 147.
42 Kipphardt (Anm. 41), S. 146.
43 Vg. Florian Va�en, Bertolt Brecht�, in: Alo Allkemper / Nor-
bert Otto Eke (Hrsg.), Deutsche Dramatiker des 20. Jahrhun-
derts, Berlin 2000, S. 267 286, hier S. 277.
44 Walter Hinck, Alle Macht den Lesern, in: W. H., Von Heine
zu Brecht. Lyrik im Geschichtsprozess, Frankfurt a. M. 1978,
S. 105 124, hier S. 106.
45 Brecht (Anm. 35), S. 774.
46 M�ller (Anm. 7), S. 209.
90 ANMERKUNGEN
47 Walter Hinck, Das moderne Drama in Deutschland. Vom ex-
pressionistischen zum dokumentarischen Theater, G�ttingen
1973, S. 159.
48 Friedrich D�rrenmatt, Friedrich Schiller, in: F. D.,Werkausgabe
in drei�ig B�nden, Bd. 26, Z�rich 1980, S. 82 102, hier S. 96f.
49 Theo Buck, Der kaukasische Kreidekreis. Der Garten des
Azdak. Von der �sthetik gesellschaftlicher Produktivit�t�, in:
Interpretationen Brechts Dramen, hrsg. von Walter Hinderer,
Stuttgart 1995, S. 146 177, hier S. 166.