Audi einen andern Abend habe ich nicht vergessen. Da war ich allein zu Hause, die Tante war nicht da, und es lautete an der Haustiir, und ais ich óffnete, stand da eine jungę, sehr hubsche Damę, und ais sie nach Herrn Haller fragte, erkannte ich sie: es war die auf der Photographie in seinem Zimmer. Ich zeigte ihr seine Tur und zog mich zuriick, sie blieb eine Weile oben, bald darauf aber hórte ich sie mitein-ander die Treppe hinab- und ausgehen, lebhaft und sehr vergniigt in scherzendem Gesprach. Ich war sehr erstaunt, daC der Einsiedler eine Geliebte habe, und eine so jungę, hubsche und elegante, und alle meine Vermutungen iiber ihn und sein Leben wurden mir wieder ungewifi. Aber eine kleine Stunde spater kam er schon wieder nach Hause, allein, mit schwerem, traurigem Schritt, miihte sich die Treppe hinauf und schlich dann stundenlang in seinem Wohnzimmer leise auf und ab, richtig wie ein Wolf im Ka-fig geht, die ganze Nacht bis fast zum Morgen war Licht in seinem Zimmer.
Ich weiC uber dieses Verhaltnis gar nichts und will nur hin-zufiigen: noch einmal sah ich ihn mit jener Frau zusammen, in einer Strafie der Stadt. Sie gingen Arm in Arm, und er sah gliicklich aus, ich wunderte mich wieder, wieviel An-mut, ja Kindlichkeit sein versorgtes, einsames Gesicht gele-gentlich haben konnte, und begriff die Frau und begriff auch die Teilnahme, die meine Tante fur diesen Mann hatte. Aber auch an jenem Tage kam er abends traurig und elend nach Hause; ich traf ihn an der Haustiir an, er hatte, wie manches Mai, unterm Mantel die italienische Weinfla-sche bei sich und safi mit ihr die halbe Nacht in seiner Hóhle oben. Er tat mir leid, aber was war das auch fiir ein trostloses, verlorcnes und wehrloses Leben, das er fuhrte! Nun, es ist genug geplaudert. Es bedarf weiter keiner Be-richte und Schilderungcn, um zu zeigen, dali der Steppen-wolf das Leben eines Selbstmórders fuhrte. Aber dennoch glaube ich nicht, daf5 er sich das Leben genommen hat, da-mals, ais er unversehens und ohne Abschied, aber nach Be-zahlung aller Riickstande unsre Stadt eines Tages verliefi und verschwunden war. Wir haben nie mehr etwas von ihm gehort und bewahren noch immer einige Briefe auf, die noch fiir ihn ankamen. Zuriick liefi er nichts ais sein Manu-skript, das er wahrend seines hiesigen Aufenthaltes ge-•i Imclicn hat und das er mit wenigen Zeilen mir zueignete, mu dcm Bemerken, ich konne damit machen, was ich Wllllc.
I « .u mir nicht móglich, die Erlebnisse, von denen Hallers M.muskript erzahlt, auf ihren Gchalt an Realitat nachzuprii-I. u Ich zweifle nicht daran, daG sie zum gróGten Teil Dich-iimgcn sind, nicht aber im Sinn willkiirlicher Erfindung, noiidern im Sinne eines Ausdrucksver$uches, der tief er-li btc seelische Vorgange im Kleide sichtbarer Ereignisse .1 HMcIlt. Die zum Teil phantastischen Vorgange in Hallers I iiihtung stammen vermutlich aus der letzten Zeit seines litesigen Aufenthaltes, und ich zweifle nicht daran, dali ih-nrn auch ein Stiick wirklichen, auGeren Erlebens zugrunde licgt. In jener Zeit zeigte unser Gast in der Tat ein veran-ilcrtcs Benehmert und Aussehen, war sehr viel auGer Hause, zuweilen auch ganze Nachte, und seine Bticher lagen unbe-mhrt. Die wenigen Małe, die ich ihn damals antraf, schien er auffallend łebendig und verjiingt, einige Małe geradezu vergniigt. Gleich darauf folgte allerdings eine neue schwere I lepression, er blieb tagelang im Bett, ohne Essen zu begeh-ten, und in jene Zeit fiel auch ein auGerordentlich hefti-ger, ja brutaler Zank mit seiner wieder aufgetauchten Ge-llebten, der das ganze Haus revoltierte und fiir welchen I laller tags darauf meine Tante um Entschuldigung gebeten hat.
Nein, ich bin davon tiberzeugt, daG er sich nicht das Leben genommen hat. Er lebt noch, er geht irgendwo auf seinen tniiden Beinen die Treppen fremder Hauser auf und ab, siarrt irgendwo auf blankgescheuerte Parkcttbóden und auf sauber gepflegte Araukarien, sitzt in Bibliotheken und Nachte in Wirtshiiusern oder liegt auf einem gemieteten Kanapee, hórt hinter den Fenstern die Welt und die Men-schen leben und wciG sich ausgeschlossen, tótet sich aber nicht, denn ein Rest von Glaube sagt ihm, daG er dies Lei-den, dies bose Leiden in seinem Herzen zu Ende kosten und daG dies Leiden es sei, woran er sterben miisse. Ich denke oft an ihn, er hat mir das Leben nicht leichter ge-macht, er hatte nicht die Gabe, das Starkę und Frohe in mir zu stiitzen und zu fordem, oh, im Gegenteil! Aber ich bin nicht er, und ich fiihre nicht seine An von Leben, sondern das meine, ein kleines und biirgerliches, aber gesichenes
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