neue. Die Frau begluckwiinschte mich zu meinem guten Aussehen, wahrend mir nur allzu bewufit war, wie sehr ich in den Jahren seit unsrer letzten Begegnung gealtert war; schon bei ihrem Handedruck hatte der Schmerz in den Gichtfingern mich fatal daran erinnert. Ja, und dann fragte sie, wie es denn meiner lieben Frau gehe, und ich mufite ihr sagen, dafi meine Frau mich verlassen habe und unsre Ehe geschieden sei. Wir waren froh, ais der Professor ein-trat. Auch er begriifite mich herzlich, und die Schiefheit und Komik der Situation fand alsbald den denkbar hubsche-sten Ausdruck. Er hielt eine Zeitung in Handen, das Blatt, auf das er abonniert war, eine Zeitung der Militaristen- und Kriegshetzepartei, und nachdem er mir die Hand gegeben hatte, deutete er auf das Blatt und erzahlte, darin stehe et-was iiber einen Namensvetter von mir, einen Publizisten Haller, der ein iibler Kerl und vaterlandsloser Geselle sein miisse, er habe sich iiber den Kaiser lustig gemacht und sich zu der Ansicht bekannt, dafi sein Vaterland am Entstehen des Krieges um nichts minder schuldig sei ais die feindlt-chen Lander. Was das fiir ein Kerl sein miisse! Na, hier kriege der Bursche es gesagt, die Redaktion habe diesen Schadling recht schneidig erledigt und an den Pranger ge-stellt. Wir gingen jedoch zu anderem iiber, ais er sah, dafi dies Thema mich nicht interessierte, und die beiden dach-ten wirklich nicht von ferne an die Móglichkeit, dafi jenes Scheusal vor ihnen sitzen konne, und doch war es so, das Scheusal war ich selbst. Na, wozu Larm machen und die Leute beunruhigen! Ich lachte in mich hinein, gab aber jetzt die Hoffnung yerloren, an diesem Abend noch etwas Ange-nehmes zu erleben. Ich habe den Augenblick deutlich in Erinnerung. In diesem Augenblick namlich, wahrend der Professor vom Vaterlandsverrater Haller sprach, verdichtete sich in mir das schlimme Gefiihl von Depression und Ver-zweiflung, das sich seit der Begrabnisszene in mir ange-hauft und immer yerstarkt hatte, zu einem wtisten Druck, zu einer korperlich (im Unterleib) fiihlbaren Not, einem wiirgend angstyollen Schicksalsgefiihl. Es lag etwas gcgen mich auf der Lauer, fiihlte ich, es beschlich mich von hinten eine Gefahr. Zum Gliick kam jetzt die Meldung, dafi das Essen bereitstehc. Wir gingen ins Speisezimmer, und wahrend ich mich bemiihte, immer wieder irgend etwas ganz
I larmloses zu sagen oder zu fragen, afi ich mehr, ais ich ge-wohnt war, und fiihlte mich von Augenblick zu Augenblick jammerlicher. Mein Gott, dachte ich bestandig, warum strengen wir uns denn so an? Deutlich fiihlte ich, dafi auch meine Gastgeber sich gar nicht wohl fuhlten und dafi ihre Munterkeit ihnen Miihe machte, sei es nun, dafi ich so lah-mend wirkte, sei es, dafi sonst eine Verstimmung im Hause war. Sie fragten mich nach lauter Dingen, auf welche eine aufrichtige Antwort nicht zu geben war, bald hatte ich mich richtig festgelogen und kampfte mit dem Ekel bei jedem Wort. Schliefilich begann ich, um abzulenken, von dem Be-grabnis zu erzahlen, dessen Zuschauer ich heute gewesen war. Aber ich traf den Ton nicht, meine Anlaufe zum Humor wirkten verstimmend, wir kamen mehr und mehr aus-einander, in mir lachte der Steppenwolf mit grinsendem Gebifi, und bcim Nachtisch waren wir alle drei recht schweigsam.
Wir kehrten in jenes erste Zimmer zuriick, um Kaffee und Schnaps zu trinken, vielleicht wiirde uns das ein wenig auf-helfen. Aber da fiel der Dichterfiirst mir wieder ins Auge, obwohl er beiseite auf eine Kommode gestellt worden war. Ich kam nicht los von ihm, und nicht ohne warnende Stim-men in mir zu vernehmen, nahm ich ihn wieder in die Hand und begann mich mit ihm auseinanderzusetzen. Ich war wie besessen von dem Gefuhl, dafi die Situation uner-traglich sei, dafi es mir jetzt gclingen miisse, meine Wirte entweder zu erwarmen, mitzureificn und auf meinen Ton zu stimmen oder aber vollends eine Explosion hcrbeizufiih-ren.
„Hoffen wir“, sagte ich, „dafi Goethe nicht wirklich so aus-gesehen hat! Diese Eitclkeit und edle Pose, diese mit den verehrten Anwesenden liebaugelnde Wiirde und unter der mannlichen Oberflache diese Welt von holdester Sentimen-talitat! Man kann ja gewifi viel gegen ihn haben, auch ich habe oft viel gegen den alten Wichtigtuer, aber ihn so dar-zustellen, nein, das geht doch zu weit."
Die Hausfrau schenkte den Kaffe vollends ein, mit einem tief leidenden Gesicht, dann eilte sie aus dem Zimmer, und ihr Mann eróffnete mir, halb verlegen, halb vorwurfsvoll, dies Goethebild gehóre seiner Frau und werdc von ihr ganz besonders geliebt. „Und selbst wenn Sie objektiy recht hat-
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