Jacobsson G Uber den Ursprung von stalit im Novgoroder Dialekt 1957

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G. Jacobsson: Ü ber den U rsprung von sl'älit' im N ovgoroder D ialekt

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GUNNAR JACOBSSON:

Ü ber den Ursprung v on

s t'ä lit'

im N ovgoroder D ia le k t.

Als zum Novgoroder Dialekt gehörend hat V. F. Solov'jov das W ort
st'älit' mit der Bedeutung 'stehlen' bezeichnet1, das insofern ein­
zigartig ist, als es, so weit mir bekannt ist, in keinem anderen rus­
sischen Dialekt vorkommt und auch in keinem W örterbuch oder
H andbuch angeführt oder behandelt worden ist.

Nicht nur das isolierte Auftreten dieses Wortes, sondern auch

dessen Bedeutung erschweren die Klarlegung seiner Geschichte. Es

ist eine gewöhnliche Erscheinung, dass sich um den Begriff 'stehlen'
eine Menge Ausdrücke scharen, die in stilistischer Hinsicht zur
familiären oder vulgären Sprache gehören oder schlechthin zum Rot­

welsch und zum Slang, deren W ortschatz sich ja oftmals jedem

Deutungsversuch entzieht. Was die russische Sprache betrifft, kann

man sich mit der Anführung einiger Beispiele begnügen: speret',

sp'dlit', sp'ätit', spetit', st'urit', st'üxterit', st'äbrit', stibrit', st'aniit',
st'äpat', st'äuzit', st'äsit'. Von denjenigen, die etymologisiert werden

können, weisen viele die Grundbedeutung 'eine schnelle Bewegung

m achen' auf, wie z. B. 'ziehen', 'rucken', 'hauen', 'schlagen', 'stos-

sen'. Dies ist z. B. der Fall bei st'aniit' von t'anut' 'ziehen', st'äpat'

von t'apat' 'hauen, schlagen', sp'ätit', spetit' von p'ätit' 'zurück-

stossen'. Das aspektbildende Präfix ist meist s-, wobei man sich

natürlich eine separative Bedeutung denken muss.

Es liegt nahe an der Hand, auch das Zeitwort st'älit' in derselben

Weise zu analysieren, obwohl Solov'jov nicht mitteilt, ob es denselben

stilistischen W ert wie die anderen, mit dem Präfix s- gebildeten

Verben für 'stehlen' besitzt. Bei einer solchen Analyse fragt man

sich jedoch, was das Grundverb *t'älit' bedeuten sollte.

Im Russischen gibt es andere Verben auf -'alit', die offenbar in

einem gewissen Zusam menhang mit einsilbigen Verben au f -'at',

urslavisches -§ti, stehen. So haben w irp'dlit' 'spannen, ausspannen',

1

V. F. Solov'jov, O sobennosti govora novgorodskogo ujezda novgorodskoj gubernii

(= Sborn. otd. russk. jaz. i slovesn. Im p. Ak. N a u k 77, N o 7, 1904), S. 53.

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das m itpnu, p'at' (jpnut") 'spannen' zusammengehört. Ferner begeg­
nen w ir einem m'älit' 'fressen', das auf mnu, m'at' 'kneten, drücken'
zurückgeleitet wird. Es scheint, als nähm e Vasmer an, m'älit' wäre

aUs dem Substantiv m'äla 'gieriger Esser, Fresser' entstanden, wel­
ches seinerseits von dem participium praeteriti activi m'al aus dem

Infinitiv m'at' abgeleitet sein sollte1. In formeller Hinsicht ist diese
Erklärung möglich, aber aus semantischen Gründen dürfte eine

andere Erklärung vorzuziehen sein, die auch in. anderen slavischen

Sprachen eine formelle Stütze findet.

.

Das tschechische Verb medliti 'H anf oder Flachs brechen' dürfte

von einem nomen instrumenti ausgehen, das mit dem bei derartigen
Nom ina gewöhnlichen Suffix -dl- direkt von dem Stamm *m§- gebildet
worden ist, also ein *mg-dl-o, für das es zw ar im Tschechischen keine

direkten Belege gibt, aber wohl im russischen m'dlo 'Flachs- oder
H anfbreche' und indirekt in dem tschechischen medlice mit der­

selben Bedeutung. Dasselbe gilt auch mutatis m utandis von dem

polnischen Verb migdlic oder miqdlic 'Flachs brechen'. Auch das
U krainische weist ein entsprechendes Substantiv unter der Form

m'jdlo 'M örserkeule' auf. Die ursprüngliche Bedeutung muss 'eine

H andlung mit dem Gerät *mg-dl-o ausführen' gewesen sein, d. h.

'kneten oder stossen'. Die im Russischen auftretende Bedeutung
'fressen' muss selbstverständlich eine übertragene sein und auf 'das

Essen kneten oder hinunterstossen' zurückgehen. Zum Vergleich

kann ein ähnliches Bild aus dem Schwedischen genannt werden

s ig maten 'sich den W anst vollstopfen'.

Dasselbe Schema gilt auch fü rp'älit'. Aus dem Verb *ping, *pgti

'spannen, strecken' wird ein Substantiv *p§-dl-o 'Gerät, mit dem

m an streckt* gebildet, russisches p'dlo 'Rahmen, Streckrahmen'

(p'dl'cy 'Näh-, Stickrahm en'),' tschechisches pia d lo »nästroj

mu-

ceni«, p a d lo »näfadi, na kterez koze$nici natahuji küze«2; das Verb

*p§-dl-üi muss dann 'strecken mit einem derartigen Gerät', wie das

polnischepiq d lic 'rozpinac skör9, zeby w yschla'3 oder das russische

p'älit' zeigen, bedeutet haben.

_

Noch ein russisches Verb auf -'alit' erweist sich als eine Ableitung

von einem Nomen mit urslavischem *-dl-o : Zdlit' 'stechen' von zdlo

'Stachel', po. Zqdh.

W ir brauchen nicht weiterzugehen. Mit Absicht haben wir uns

1 Russ. etym. Wb., s. v. m'äla.

2 F r. St. K o tt, Cesko-nemecky slovnik, 2, 1880, s. v. piadlo u n d padlo.
3 Slow nik warszawski, s. v. piqdlic.

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auf Verben auf -'alit' beschränkt, obgleich diese selbstverständlich

zur allgemeinen Gruppe der Verben auf -it' gehören, die von Nomina
auf *-dl-o abgeleitet sind, z. B. nfylit' 'seifen' von mylo.

W enn man auf das russische st'älit' dasselbe Ableitungsschema

appliziert,erhältmanalsGrundverbeintnu,t'at'(urslavisch *tg t//schlagen,hauen',ausdemeinNo
sollte mit der Bedeutung 'Schlag- oder Haugerät' und dann das Verb

*tg-dl-iti 'mit einem solchen Gerät schlagen, hauen'. Mit dem Präfix

s- würde dieses Verb dann eine übertragene Bedeutung 'stehlen,

klauen' erhalten, genau ebenso wie das früher erwähnte st'äpat'

von t'äpat' 'hauen, schlagen'. Nun verhält es sich aber so, dass es

nirgends, soweit mir bekannt ist, Belege für ein Substantiv *tg-dl-o
oder ein Verb *tg-dl-iti mit eventuellen Präfixzusammensetzüngen
in den slavischen Sprachen gibt. Das einzige hypothetisch denkbare

W ort ist gerade das russische st'älit', dem man theoretisch die ge­

suchte ursprüngliche Bedeutung zuschreiben könnte. Solov'jöv führt

nämlich einen Reim an:

»Suba, 5uba, subarec,
suba s st'alennyx ovec«1,

wo st'älennyx 'gestohlen' bedeuten sollte. Die Zusammenstellung von

'Pelz' und 'S ch af würde jedoch eine natürlichere Erklärung finden

bei einer anderen Bedeutung des st'älit' als 'stehlen'. In Überein­

stimmung mit dem angenommenen formellen Zusammenhang zwi­

schen tnu, t'at' und st'älit' würde man diesem letzteren eine Bedeu­

tung, die ungefähr dem russischen srezat' oder sostric' entspricht,
geben wollen. Diese speziell gewerbliche Bedeutung des st'älit' sollte

später von den Uneingeweihten nicht verstanden worden sein, welche

st'älit' in dem angeführten Reim in der übertragenen Bedeutung

'stehlen' aufgefasst hätten. Es ist ja eine bekannte Tatsache, dass

derartige Reime oft W örter enthalten, deren Bedeutung man ver­

gessen hat und die später umgedeutet werden. Diese ganze Auslegung

muss jedoch als eitle Theorie abgewiesen werden, da nirgends in

_

den slavischen Sprachen die Bedeutung 'hauen, schlagen oder

schneiden' für st'älit' oder ihm eventuell verwandte Wörter belegt ist.

W enn wir also an der von Solov'jov gegebenen Bedeutung 'stehlen'

für st'alit' festhalten, müssen wir eine andere Erklärung für den
Ursprung dieses Wortes suchen.

1 O p.cit., s. 53.

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Da es scheint, dass viele W örter familiären Klanges durch Reim­

anschluss an früher existierende W örter oder durch Kombination

von zwei oder m ehreren W örtern entstanden sind, könnte man bei
st'älit' eine Vermischung von st'anut' und sp'älit sehen. Diese Erklä­
rung wäre vollkommen glaubwürdig, aber keineswegs bindend und

schliesst auch andere Möglichkeiten nicht aus.

W enn man den Umstand berücksichtigt, dass das W ort nur im

Novgoroder Dialekt vorkommt und dass Novgorod seinerzeit äus-

serst lebhafte Beziehungen zu den nordischen Ländern hatte, liegt
der Gedanke nahe, dass es sich hier um ein nordisches Lehnwort

handelt, da ja das russische st'älit' sowohl seiner Bedeutung wie

seiner Form nach in frappanter Weise mit dem altnordischen W ort
für 'stehlen' übereinstimmt. Die altnordische Form, die hier zunächst

in Betracht kommen dürfte, ist das ostaltnordische stiala, welches

das Resultat einer s. g. a-Brechung eines urnordischen *stelan ist.

Wie bekannt, findet diese jüngere a-Brechung unter gewissen Bedin­
gungen nach dem Abschluss der urnordischen Periode (also etwa
nach dem Jah r 800) und zwar nur auf ostnordischem Gebiet statt1.

W enn w ir annehmen, dass das Novgoroder st'älit' ein Lehnwort ist,

können die soeben erwähnten Tatsachen eine Abgrenzung sowohl

betreffend die Zeit wie auch den Raum bieten. W ir wissen ausserdem,

dass beispielsweise ein älteres altnordisches stiala später in ein

stiala übergeht, welche Form als eine jüngere altschwedische zu
betrachten ist (c:a 1350-1525)2. Die Entlehnung muss also irgend­
wann zwischen 800 und etwa 1300 stattgefunden haben. Doch muss
betont werden, dass die Form stiala neben dem jüngeren stiala
bestanden hat/ aber wenn man an der Lehnworttheorie festhält,
muss das W ort aller W ahrscheinlichkeit nach in den Novgoroder

Dialekt zu der Zeit aufgenommen w orden sein, wo die nordischen
Beziehungen zu der russischen Stadt am lebhaftesten waren. W ir

wissen, dass diese schon im 12. Jah rh u n d ert abzunehm en begannen,

als anstatt dessen die Hansa die H andelsverbindungen mit Novgorod

monopolisierte3.

_

In phonetischer Hinsicht liegt kein H indernis vor anzunehm en,

dass st'älit' auf das altschwedische stiala zurückgeht, aber dies

w ürde in solchem Falle das erste Beispiel eines gebrochenen Diph­

thonges -ia- im Altnordischen ergeben, der im Altrussischen wieder-

1 A. K ock, Svensk ljudhistoria, 1, 1906, S. 123.

2 Id., 2, 1909-11, S. 353.

3 Siehe A d. S tender-P etersen, Varangica, 1953, S. 257.

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gegeben ist1. Der in den nördlichen grossrussischen Dialekten, zu

denen ja die Novgoroder M undart gehört, oft stattfindende Übergang

von a > e in weicher Umgebung, ist bei diesem Wort nicht eingetre­
ten, was nicht erstaunlich ist, da dieser Übergang ja nicht überall

obligatorisch ist2.

Der Verbalaspekt hätte uns eine Andeutung über den Ursprung

geben können. Wäre näm lich das Novgoroder Verb imperfektiv,

müsste die Theorie von einem Präfix s- wegfallen, was die Annahme,

dass es sich um ein nordisches Lehnwort handelt, verstärken müsste.

W äre das Verb aber perfektiv, könnten beide Theorien gleich mög­

lich sein (vergleich germ. *kaupjan entsprechend dem russischen

perfektiven kupiti). Leider erhalten wir bei Solov'jov keine genaue

Auskunft über den Aspekt des Verbs, mit Ausnahme dessen, dass

er es mit russ. ukrast' übersetzt, was auf den perfektiven Aspekt

hindeuten dürfte. Doch in demselben, ja, vielleicht sogar in höherem

Grade möglich wäre es, die Form st'âlennyx im angeführten Reim

als ein Adjektiv aufzufassen, da ja derartige Adjektive gern aus dem

Partizip praeteriti passivi des imperfektiven Aspekts gebildet werden.

Eine treffende Parallele finden wir in dem modernen russischen

kradenyj, z. B. kradenyje vesci oder kradenaja losad', vergleich bei

L. N. Tolstoj prigotovit' mesto dl'a kradenoj losadi (Kazaki).

W enn auch das Vorhergehende zeigt, dass keine formalen H inder­

nisse vorliegen, das Novgoroder st'âlit' als eine Entlehnung aus dem

Altnordischen stiala zu erklären, so fragt m an sich doch zweifelsohne,
warum eine Entlehnung überh au pt stattgefunden hat. Das Altrus­

sische hatte ja Ausdrücke für den Begriff 'stehlen'. Die Antwort
dürfte sein, dass hier keine Entlehnung im absoluten Sinne vorliegt,
da st'âlit' keineswegs das ursprüngliche russische Wort verdrängt

hat. Die Entlehnung berührt nur die stilistische Sphäre und ist w ahr­
scheinlich anfangs auf einen beschränkten Kreis begrenzt gewesen.
Mutmasslich hat st'âlit' einen speziellen stilistischen Charakter be­

sessen, der juridischer Art gewesen sein dürfte. Es liegt im Wesen

der Sache, dass der Begriff 'stehlen' in den schwedischen Land­

schaftsgesetzen frequent ist ebenso wie in der Russkaja Pravda3,

1 C. Thörnqvist, Studien über die nordischen Lehnwörter im Bussischen (= É tu d es

de philologie slave publiées p ar l'I n s ti tu t russe de l'U niversité de Stockholm. 2. 1948),
S. 119.

2 Siehe N . D urnovo, Vvedenije v istoriju russkogo jazyka. Č 1 (— Spisy fil. fak.

Masaryk. univ. v Brně. 20. 1927), S. 112.

3 Vergleich beispielsweise die A rtikel 31, 35, 37, 39 u n d 40 der kurzen P ravda

in der Ausgabe: Pravda Russkaja, 2, sostavili B. V. A leksandrov etc. pod red. B. D.

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eine Frequenz, die eine Russifizierung des altschwedischen stiala in
dem ohne Zweifel stark zweisprachigen Milieu der Skandinaven und

Russen begünstigt haben muss. Dieselbe Erscheinung kann man

auch im Jargon gewisser Gewerbe beobachten, der oftmals Frem d­

wörter enthält, die der eigenen Sprache notdürftig angepasst worden

sind. Diese W örter werden eigentlich n u r im Gewerbekreis gebraucht

und verstanden, w enn sie aber ausserhalb desselben dringen, erhalten

sie einen speziellen stilistischen Klang. So dürfte auch mit st'dlW
der Fall gewesen sein, das seine exklusive Stellung als ein W ort des
Gewerbejargons verloren haben muss, als in Novgorod die Bedeu­

tung der nordischen Kaufleute abnahm und allmählich ganz auf­
hörte. Es muss zu einem Slangwort hinabgesunken sein, das nie

ausserhalb des Novgoroder Dialekts drang. In gewissem Grade
ähnliche Gründe für die stilistische Veränderung und W ertabnahm e
ebenso wie bei st'dlit' liegen auch für das W ort var'ag vor, welches

ja, nachdem es eine Zeitlang 'nordischer, skandinavischer Auf­

käufer, Kaufmann' bedeutete, in gewissen russischen Dialekten die
Bedeutung 'reisender oder w andernder Krämer und Hausierer*

annahm 1.

Die Hauptschwierigkeit bei der obigen Erklärung liegt natürlich

darin, dass das W ort st'dlit' erst so spät belegt ist. Solov'jov sagt

zwar, dass der von ihm angeführte Reim schon »v starinu« existierte,
aber nichtsdestoweniger besteht eine Lücke von mehreren Jah r­
hunderten zwischen dem altschwedischen stiala und dem Novgo­

roder st'älit'. Dieser Mangel an Belegen d arf aber doch nicht allzu

ausschlaggebend sein. In russischen Dialekten kommen Lehnwörter

vor, die, obgleich sie in später Zeit belegt worden sind, nichtsdesto­

weniger zum . Altnordischen zurückgeführt w erden müssen2. Eine
Erklärung wie die oben angeführte, die ein W ort in seinen histori­

schen Zusam menhang einfügt, dürfte einer, die sich nur auf formelle
Spekulationen stützt, vorzuziehen sein.

Grekova. 1947. A rtikel 40 »aie u k rad u tb ovbcu___ « erinnert an Solov'jov's zitierten

R eim ». . . s st'älennyx ovec«.

1 Ad. Stender-Petersen, op. cit., S. 98.

2 Siehe

T hörnqvist, op. cit., z. B. bet', S. 24, br'udgä, S. 28 und andere.


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