Jon Gunnar Jørgensen
Editionen von altnordischen Texten im Norden:
Nordische Heimskringla-Ausgaben
1. Einleitung
Kaum ein Werk der altnordischen Literatur ist im Laufe der Zeit mit so vielen
Editionen bedacht worden wie die Heimskringla. Das Interesse verteilte sich
auf alle drei skandinavischen Länder sowie Island und erstreckt sich vom 16.
Jahrhundert bis in die Gegenwart. Die Ausgaben spiegeln mit aller Deutlich-
keit die fachliche Entwicklung in der Philologie, aber auch die wechselnden
ideologischen Triebkräfte wider. Der gemeinsame Nenner der Ausgaben ist die
Hochschätzung der Heimskringla im Norden. Hervorragende Forscher hatten
für die Editionen reichliche Mittel zur Verfügung, und die Ausgaben verliehen
hohes Prestige. Einige der Ausgaben ragen buchgeschichtlich heraus und re-
präsentieren das Vorzüglichste innerhalb nordischer Buchkunst, sowohl was
Herausgeberschaft als auch was Ausstattung angeht. Dennoch ist nie eine Edi-
tion vorgelegt worden, die auf strenger Manuskriptgrundlage textkritisch erar-
beitet worden wäre. Dies wird auch in diesem Beitrag nicht gefordert. Denn
allem Anschein nach würde eine strenge Quellenanalyse wohl, im Wider-
spruch zur Vorannahme traditioneller Textkritik, aufdecken, dass die erhalte-
nen Handschriften nicht auf einen gemeinsamen Archetyp der einheitlichen
Grundfassung zurückgehen, die das Werk, das wir heute die Heimskringla
nennen, darstellen würde.
2.
Heimskringla
Die Königssagas sind eine Gruppe altnordischer Sagas, die einen König und
seine Funktion als Staatsgründer oder Staatsoberhaupt zum Hauptthema haben.
Diese können in zwei Haupttypen eingeteilt werden – Sagas über einzelne Kö-
nige und Sagas, die sich mehreren Königen widmen. Die Heimskringla gehört
zur zweiten Kategorie. In ihr können wir dem Königsgeschlecht aus ältester
Zeit (dem Ynglingsgeschlecht) bis zu Magnus Erlingsson und der Schlacht bei
Re im Jahre 1177 folgen. Dass die Handlung im Jahr 1177 endet, hängt ver-
mutlich mit dem Umstand zusammen, dass eine ältere Königssaga, die Sverres
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saga, genau an diesem Punkt beginnt. Auf jeden Fall ist diese Zeit bis zum
Tod König Håkon Håkonssons im Jahr 1263 durch jüngere Sagen abgedeckt.
Die Königssagas handeln mit wenigen Ausnahmen von norwegischen Kö-
nigen. Die wichtigste Ausnahme bildet die Knytlinga saga über die dänische
Königsfolge. Die Orknøyingenes saga (Die Saga über die Orkneyer) handelt
von den Jarls (Herzögen) auf den Orkneyinseln und kann gut zu den Königs-
sagas gerechnet werden. Selbst wenn die norwegischen Könige das Rückgrat
der Heimskringla bilden, wird auch den schwedischen und dänischen Königen
viel Aufmerksamkeit gewidmet. Darum hat das Werk in ganz Skandinavien
Interesse geweckt. Ebenso wenig erstaunt es, dass man dem Werk auch in Is-
land mit viel Interesse begegnete, da es, wie die meisten anderen Königssagas,
dort seinen Ursprung hat.
Die große Aufmerksamkeit, die der Heimskringla zuteil wurde, beruht
wahrscheinlich auf einem Zusammenspiel von Thema und hoher literarischer
Qualität einerseits sowie auf Zufällen und der selbstverstärkenden Wirkung der
prestigeträchtigen Editionen andererseits. Dass die Heimskringla, die eines von
mehreren interessanten Sagawerken ist, einen solch zentralen Platz unter den
ersten nachreformatorischen Arbeiten einnehmen sollte, kann teilweise auf
dem Zufall beruhen, dass gute Handschriften vorlagen, als die Renais-
sancehumanisten in Bergen zur Zeit der Reformation Interesse für die Quellen
entwickelten. Die Stellung des Werkes wurde durch seine hohe Qualität und
einheitliche Gestaltung selbstverständlich noch gestärkt. Es war von größter
Bedeutung, dass Peder Claussøn die Heimskringla als Basis für seine Überset-
zungsarbeit benutzte. Obwohl er sich auch auf andere Quellen stützte und au-
ßerdem die Arbeit mit Sagen über spätere Könige fortsetzte, wurde sein Werk
mit Snorre – d. h. Heimskringla – identifiziert.
3. Überlieferung
Eine Reihe von Handschriften aus dem 13. und 14. Jahrhundert enthält die
ganze Heimskringla oder Teile davon. Die Anzahl hängt davon ab, was wir
tatsächlich als Heimskringla-Text einstufen. Die beiden wichtigsten heißen
Kringla und Jöfraskinna, zwei Pergamentbände, die leider dem Stadtbrand in
Kopenhagen im Jahre 1728 zum Opfer fielen. Beide Texte sind jedoch in Ab-
schriften aus dem 17. Jahrhundert ziemlich zuverlässig überliefert.
1
Andere
____________
1
Siehe Jørgensen 2007.
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Manuskripte sind der Codex Frisianus (AM 45 fol),
2
Eirspennill (AM 47fol),
AM 39 fol (fragmentarisch), Gullinskinna,
3
U,
4
und Peder Claussøns Vorlage.
5
Mit Ausnahme von Claussøns Übersetzung basieren praktisch alle Textausga-
ben primär auf der Kringla-Handschrift.
4. Ausgaben
Für eine summarische Übersicht über die Editionsgeschichte können wir die
Ausgaben chronologisch in vier Gruppen einteilen. In der ältesten Gruppe fin-
den wir zwei Übersetzungen ins Dänische, die 1594
6
und 1633
7
erschienen.
Beide basieren auf Übersetzungen, die in Norwegen im Geiste des Renais-
sance-Humanismus gemacht wurden. Die erste ist sehr verkürzt, die zweite
vollständiger, aber beide sind paraphrasierend und verhältnismäßig wenig an
den Grundtext gebunden. Die zweite Gruppe besteht aus zwei großen dreispra-
chigen Ausgaben: der schwedischen Peringskiöld-Ausgabe von 1697–1700
und der dänischen „Kopenhagener Ausgabe“ von 1777–1783. Dies sind die
ersten eigentlichen Quellenausgaben, da sie den Text in der Originalsprache
wiedergeben und sich eng an die bekannten Handschriften halten. Im 19. Jahr-
hundert sind die Ausgaben von der Romantik und im Weiteren von der Ent-
wicklung der wissenschaftlichen Textkritik geprägt. In diesem Jahrhundert
dominieren die Norweger, die vom norwegischen Nationalgedanken inspiriert
sind. Es erscheinen mehrere Übersetzungen, aber auch Ungers Quellenausga-
ben (1868 und 1871) und zuletzt eine große dänische kritische Ausgabe von
Finnur Jónsson. Im 20. Jahrhundert wird das Werk als isländische Literatur
geltend gemacht, zuerst mit einer wichtigen Leseausgabe von Íslenzk Fornrit
____________
2
Die Signatur „AM“ verweist auf die Arnamagnæanske håndskriftsamling (Die arnamagnäani-
sche Handschriftensammlung). Diese war ursprünglich in Kopenhagen, d. h. in der Universität
Kopenhagen, zu Hause, aber Teile davon wurden ab 1970 nach Island überführt, wo eine
Schwesterinstitution etabliert wurde, die nun den Namen „Stofnun Árna Magnússonar í íslens-
kum fræðum“ trägt. In der Hauptsache sind dorthin keine Handschriften mit Königssagas ge-
langt. Die hier besprochenen Manuskripte befinden sich immer noch in Kopenhagen.
3
Gullinskinna erlitt das gleiche Schicksal wie Kringla und Jöfraskinna. Auch davon sind Ab-
schriften erhalten.
4
U gehörte der Universitätsbibliothek Uppsala und ging im Stadtbrand 1702 verloren. Der Text
ist teilweise in Abschriften und in Übersetzung überliefert (Norlandz chrönika och beskriff-
ning, 1670 erschienen. Über diese Ausgabe siehe Lars Wollin, S. 390.
5
Es herrscht große Unsicherheit über Peder Claussøns Textgrundlage. Diese war ziemlich sicher
kompiliert. Bis hin zu einigen Fragmenten von der Håkon Håkonsons saga (die nicht Teil der
Heimskringla ist) sind alle Vorlagen verschollen.
6
Norske Kongers Krønicke oc bedrifft, Kopenhagen 1594, oft „Jens Mortensens krønike“ ge-
nannt.
7
Norske Kongers Chronica, Kopenhagen 1633, gerne „Peder Claussøns Sagenübersetzung“
genannt.
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(1941–1951) und später mit einer gut ausgestatteten Ausgabe auf Neuislän-
disch im Verlag Mál og Menning (1991).
4.1. Jens Mortensens Chronik
Das Interesse für Mittelalterquellen und nordische Geschichte erwachte zuerst
bei den Renaissancehumanisten unmittelbar vor der Reformation. Den altnor-
dischen Sagahandschriften wurde nach dem Erscheinen von Saxos Gesta
danorum (1514) erneute Aufmerksamkeit zuteil. Mehrere Übersetzungen und
Auszüge stammen aus dem Humanistenmilieu in Bergen Mitte des 16. Jahr-
hunderts. Eine dieser Sagaübersetzungen hatte der Jurist [‚lagmaðr‘ (lagmann)]
Mattis Størssøn (gest. 1569) in den 1540er Jahren besorgt.
8
Diese ist in einer
Anzahl Handschriften überliefert,
9
zusätzlich zu einer Handschrift, die der
Ausgabe Norske Kongers Krønicke oc bedrifft (Chronik und Taten norwegi-
scher Könige, Kopenhagen 1594) zu Grunde liegt. Diese Übersetzung ist die
erste gedruckte Ausgabe eines altnordischen Sagatexts. Die Edition besorgte
der Pfarrer Jens Mortensen (gest. 1595) auf Initiative des Historikers und
Reichskanzlers Arild Huitfeldt (1546–1609). Aus der Edition geht nicht her-
vor, dass die Übersetzung von Mattis Størssøn aus dem Bergenmilieu stammt.
Der Herausgeber schreibt auch nichts über den Ursprung des Textes, gibt je-
doch folgende Auskunft wieder: „Oc er den samlit oc vddragen aff Biskop Is-
zleffs Skrift, oc andre Norske Krønicker aff huem veed mand icke“. („Auch ist
er in Auszügen zusammengefasst aus Bischof Iszleffs Schriften und anderen
norwegischen Chroniken, von wem weiß man nicht“).
Der erste Teil, die Ynglinga Saga, ist mehr oder weniger in Gänze wieder-
gegeben; ansonsten ist der Text eher eine kurze Zusammenfassung als eine
Übersetzung. Für die Ausgabe war es von größter Bedeutung, dass sie die erste
war und dass die Gelehrten im Norden durch dieses Buch mit den Quellentex-
ten bekannt wurden. Die ausführliche Übersetzung der Ynglinga Saga machte
das Buch für schwedische Historiker besonders interessant und hat stark dazu
beigetragen, deren Aufmerksamkeit auf die altnordischen Quellen zu lenken.
4.2. Peder
Claussøns
Übersetzung
Kurz nachdem Jens Mortensens Ausgabe erschienen war, führte der Pfarrer
von Agder, Peder Claussøn Friis, eine umfassende Übersetzungsarbeit durch.
Seine Übersetzung der Heimskringla entstand gegen Ende der 1590er Jahre,
____________
8
Siehe Jørgensen 1994, S. 171 f., 186 f.
9
Siehe Sørlie 1962, S. XIV–XXIII.
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und diejenigen der Sagas über die nachfolgenden Könige unmittelbar danach.
Die gesamte Übersetzung wurde 1633 von Professor Ole Worm in Kopenha-
gen herausgegeben (PCl 1633). Die ältesten Sagaausgaben enthalten keine
Auskünfte über die Quellengrundlage des Textes. Sowohl Mattis Størssøns als
auch Peder Claussøns Texte dürften auf mehreren Quellenschriften basieren,
aber sie sind ohne herausgeberische Erläuterungen kompiliert und zusammen-
geflochten. Wie Jens Mortensens Ausgabe knüpft diese Arbeit an die frühe
humanistische Gelehrtentradition an. Das Ziel war die Vermittlung von histori-
schen Erkenntnissen aus alten Quellen, aber die Übersetzer haben sich zu die-
sem Zweck keine wissenschaftlichen Methoden angeeignet. Peders Text ist ein
zusammengesetzter Geschichtsbericht, der in seinem Aufbau an die Sagakom-
pilationen des Mittelalters erinnert. Trotzdem ist ein gewisses Bewusstsein
betreffend Unterscheidung von Sekundärtext und Quellentext zu spüren. Das
war vor der Zeit von Fußnoten, doch Peders eigene Erklärungen und Kommen-
tare stehen in der Regel in Klammern.
Weder Worms Druckmanuskript noch andere Manuskripte von Peders
Übersetzung, die Worms zur Verfügung hatte, sind erhalten. Man kann daher
nicht mit Sicherheit sagen, was der gedruckten Ausgabe von Ole Worms re-
daktioneller Hand zugefügt wurde. Es besteht jedoch kein Zweifel, dass er den
Prolog (nach Laurents Hanssøns älterer Übersetzung) hinzugefügt und die Ge-
schichte ab 1263 bis 1387 weitergeführt sowie den Text am Ende außerdem
mit einigen Tabellen ergänzt hat. Ansonsten schreibt er selbst, dass er den Text
genau wiedergegeben habe. Mit seiner Einleitung – und wahrscheinlich seiner
redaktionellen Bearbeitung – hat Ole Worm das wissenschaftliche Niveau des
Werks wesentlich angehoben. Das Problem war sicherlich, dass er über keine
anderen Quelleninformationen verfügte als diejenigen, die Peder selbst gege-
ben hatte.
Mit Worms Ausgabe von 1633 wurden die norwegischen Königssagas als
zentrales Werk neben den Gesta danorum in der nordischen Historiografie
etabliert. Mit dieser Edition wurde auch der Autorname bekannt, und als Ge-
genstück zu „Saxo“ wurde das Buch, nach der Tradition lateinischer Histo-
rienwerke, allgemein „Snorre“ genannt. Die Ausgabe war für ganz Skandina-
vien von großer Bedeutung. Auch in seinem Heimatland, Island, stieß es auf
Interesse. Es gibt einige Beispiele dafür, dass isländische Schreiber den Text
von PCl 1633 ins Isländische zurückübersetzt haben, um eine entsprechende
isländische Sagafassung wiederherzustellen. Aber nicht zuletzt, weil das Yng-
lingsgeschlecht – das norwegische Königsgeschlecht – seinen Ursprung in Up-
psala hatte, wurde der Ausgabe auch in Schweden große Aufmerksamkeit zu-
teil.
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4.3. Peringskiöld
Im Lauf des 17. Jahrhunderts fand innerhalb der wissenschaftlichen Editorik
eine bedeutende methodische Entwicklung statt. Das spiegelt die nächste Aus-
gabe wider, die zu besprechen ist. Ab 1660 wuchs in Uppsala eine starke Or-
ganisation für historische Dokumentation heran, die später nach Stockholm
verlegt wurde.
10
Eine bedeutende Quellensammlung wurde durch Kauf von
Manuskriptbeständen, das Sammeln von Handschriften in Island und mit Ab-
schriften von Quellen in dänischen Sammlungen aufgebaut. Eine Heims-
kringla-Ausgabe stand ganz oben auf der Prioritätenliste des Antiquitätenkol-
legiums, und Johan Peringskiöld (d. Ä.) war für das Projekt verantwortlich. Er
bekam kundige Hilfe von dem Isländer Gudmundur Ólafsson, der ab 1679 im
Dienste des ‚Antiquitätenkollegiums‘ stand. Das Resultat war eine gut ausge-
stattete Ausgabe in zwei Bänden, der erste erschien 1697, der zweite etwa drei
Jahre später. Die Heimskringla wurde zum ersten Mal in der Originalsprache
gedruckt, und damit erhielten wir eine wissenschaftliche Quellenausgabe in
einem ganz anderen Sinn als bei den Vorgängereditionen. Zusätzlich zu dem
altisländischen Text enthält Peringskiölds Ausgabe Übersetzungen, und zwar
nicht nur ins Schwedische, sondern auch ins Lateinische. Diese Ausgabe nor-
mierte die Bezeichnung „Heimskringla“ als Name des Werks. Dieser Name
war früher als Bezeichnung für die Handschrift „Kringla“ (oder „Kringla
heimsins“) verwendet worden.
Auch Peringskiöld präsentiert einen eklektischen
Text. Als Grundtext hatte
er eine Abschrift der Handschrift Kringla erhalten, die hauptsächlich von dem
Isländer Jón Eggetsson in Kopenhagen hergestellt war.
11
Dies wird in der Ein-
leitung jedoch nicht erwähnt. Spätere textkritische Forschung hat gezeigt, dass
diese Textwahl glücklich war, und die Kringla wurde auch praktisch allen spä-
teren kritischen Ausgaben des Werkes zu Grunde gelegt. Peringskiöld kollati-
onierte den Kringla-Text gegen andere zugängliche Quellen, und auf dieser
Grundlage ergänzte er ihn, offensichtlich nach dem Prinzip ‚alles muss mit‘.
Einzelne Zusätze, die er nur in Peder Claussøns Übersetzung gefunden hatte,
sind in der Übersetzung enthalten und im Text typografisch markiert. Eine
wichtige Nebenhandschrift war das sogenannte Húsafellsbók (Holm papp. 22
fol), eine isländische Königssagakompilation aus dem 17. Jahrhundert. Pering-
skiöld wusste nicht, dass Teile dieses Textes aus PC1 1633 übersetzt waren.
Somit kam Text von Peder Claussøn als Zusatz auch in den isländischen Text
____________
10
Antikvitetskollegiet/arkivet. Siehe mehr darüber in Nilsson 1954 und in Lars Wollins Artikel
im vorliegenden Band, S. 386.
11
Die Abschrift befindet sich in der Sammlung der königlichen Bibliothek in Stockholm mit der
Signatur Holm papp 18 fol. Siehe Jørgensen 2007, besonders S. 137 f.
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hinein – hier nicht typografisch markiert. Peringskiöld bringt keinen kritischen
Apparat und auch keine detaillierte Dokumentation der Texterstellung, aber in
der Einleitung legt er in gewisser Weise seine Quellengrundlage dar, und er
gibt den Quellentext recht gewissenhaft wieder. Diese Edition ist also die erste
quellennahe Ausgabe und die erste Ausgabe, die den Text in der Quellenspra-
che wiedergibt.
4.4. Neue Ausgabe 1757 mit Peder Claussøns Namen
Im Jahre 1757 erschien eine neue Ausgabe von Peder Claussøns Übersetzung.
Jedenfalls sieht es vom Titelblatt her so aus. Schaut man sich den Text aller-
dings genauer an, wird deutlich, dass es sich hier um eine vollständig überar-
beitete Version handelt. Hier findet auch eine editionstechnische Neuerung
Verwendung – nämlich Fußnoten. Der Text ist zudem stilistisch völlig umge-
arbeitet und in Vielem wesentlich verbessert. Am wichtigsten ist, dass die
Skaldenstrophen, die 1633 meist ausgelassen waren, nun in Paraphrasen mit-
einbezogen und in Fußnoten platziert wurden. Verwunderlich ist, dass der
Name des Herausgebers, der hier eine bedeutende Leistung erbracht hat, über-
haupt nicht vorkommt. Alle Ehre wird dem großen Peder Claussøn zuge-
schrieben. Die Textkonstitution dieser Ausgabe wurde noch nicht gründlich
untersucht. Der Herausgeber dürfte kaum auf die Handschriften zurückgegrif-
fen haben, aber er hatte selbstverständlich Peringskiölds Ausgabe von 1697 zur
Verfügung. Die Strophenparaphrasen basieren vermutlich auf Peringskiöld. Es
bleibt jedoch noch zu untersuchen, ob der Prosatext aus anderen Quellen als
der 1633er-Ausgabe ergänzt wurde. Hinter der Ausgabe steht vermutlich der-
selbe Sejer Schousbølle, der wenige Jahre zuvor (1752) Saxo übersetzt hatte
und im gleichen Verlag (A. H. Godiche) hatte erscheinen lassen können.
4.5. Die
Kopenhagener
Ausgabe
Das große Interesse für die nordische Historiografie, das Dänemark und
Schweden im 17. Jahrhundert zeigten, stand offenbar in einem Zusammenhang
mit den Großmachtambitionen der Reiche und ihrer Rivalität untereinander um
die Führung im Norden. Der kühle Empfang, der Peringskiölds Ausgabe in
Dänemark zuteil wurde, kann vor diesem Hintergrund verstanden werden. Die
imposante Ausgabe muss für die Dänen eine große Herausforderung gewesen
sein – eine Herausforderung, die sie lange nicht beantworten konnten. Im Jahre
1777 erschien jedoch der erste Band der sogenannten Kopenhagener Ausgabe.
Diese folgt dem Muster der Peringskiöld-Edition, dreisprachig (isländisch,
lateinisch, dänisch), und ist imponierend, nur noch größer und kostbarer als die
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schwedische Ausgabe. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde sie auch um die
Sagas über die nachfolgenden Könige erweitert. Als sie 1826 endlich zum Ab-
schluss gebracht wurde, zählte sie sechs große Foliobände.
Was Typografie und Ausstattung angeht, ist die Kopenhagener Ausgabe
gewiss ein beeindruckendes Werk. Sie enthält auch Verbesserungen in der kri-
tischen Behandlung des Textes, aber aus moderner fachhistorischer Sicht ha-
ben nicht alle editorischen Eingriffe zum Fortschritt beigetragen. Dass die
Herausgeber keine vollständige Kringla-Abschrift als Grundtext für den
Heimskringla-Teil gefunden hatten, war besonders unglücklich. Die beiden
ersten Drittel basierten auf einer guten Kringla-Abschrift (AM 35 und 36 fol),
während der letzte Teil dieser Abschrift (AM 63 fol) verschollen war. Deswe-
gen legten die Herausgeber dem letzten Drittel eine andere mittelalterliche
Handschrift (Eirspennill, AM 47 fol) zu Grunde. Obwohl dieser dritte Band
erst 1783 erschien, hat man ihm keine Auskünfte über den Grundtext beigege-
ben. In gleicher Weise wie die schwedische Ausgabe wurde auch die dänische
mit Plustexten aus anderen Quellen gespickt. Auch der Plustext von Peder
Claussøn via Húsafellsbók und Peringskiöld wurde gewissenhaft hineinredi-
giert. Der bedeutendste Fortschritt dieser Ausgabe liegt darin, dass die substan-
tielle Textvarianz des Materials in einem umfassenden Variantenapparat or-
dentlich dokumentiert ist.
4.6. Übersetzungen aus der Zeit der Romantik
Grundtvig, Aall und Munch
Mit der Romantik trat ein Umbruch in der Editionsgeschichte mit neuen Ideen
und Strömungen ein. Während die älteren Ausgaben von panegyrischen Kö-
nigshuldigungen getragen wurden, standen nun das Volk und dessen Geschich-
te und Schaffenskraft im Vordergrund. 1818 erschien N. F. S Grundtvigs impo-
nierende Doppelleistung, die Übersetzungen der Heimskringla und der Gesta
danorum. Die beiden Übersetzungen sollten im Zusammenhang gesehen wer-
den als Beitrag des großen Skandinavisten zur Geschichte der Zwillingsreiche.
Die Heimskringla-Übersetzung wurde von Det Kongelige Selskap for Norges
Vel (Der königlichen Gesellschaft für Norwegens Entwicklung) initiiert und
als dänisch-norwegische Zusammenarbeit geplant. Im Kielwasser der Unions-
auflösung 1814 veränderte sich das Arbeitsklima, und Grundtvig beendete das
Projekt allein. In der Einleitung gibt er seiner Verbitterung über den norwegi-
schen Patriotismus deutlich Ausdruck.
In der Übersetzung legt Grundtvig einen neuen Stil an, einen volksnahen
Erzählstil, der an den späteren Märchenstil erinnern kann, und für die Gedichte
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machte er von seinem Dichtergenius Gebrauch und ließ sich von den Volkslie-
dern inspirieren. Das fasste man in Norwegen als eine ‚Verdänischung‘ des
Sagastils auf, was dazu beitrug, dass die Übersetzung beim norwegischen Pub-
likum nicht gut ankam.
Die Kritik, die der Ausgabe in Norwegen entgegengebracht wurde, galt in
erster Linie dem Stil und war nicht sehr substantiell.
12
Die Ausgabe war dä-
nisch und die Kritik war wahrscheinlich mit dieser Tatsache verbunden. Da die
Heimskringla nun als wichtiges Werkzeug für den Aufbau der norwegischen
Nation in Anspruch genommen wurde, war eine volkstümliche Ausgabe auf
Dänisch nicht hinreichend. Das Projekt musste norwegisch sein, obwohl die
Schriftsprache in Norwegen immer noch Dänisch war. Das 19. Jahrhundert
wurde zum Jahrhundert Norwegens auf dem Gebiet der Heimskringla-Studien,
was sowohl Übersetzungen als auch textkritische Studien und wissenschaftli-
che Ausgaben angeht.
Bereits in den 1830er Jahren wurden zwei neue Übersetzungen geplant, eine
von Jacob Aall (publiziert 1837–1839) und eine andere von P. A. Munch. Letz-
tere wurde zurückgestellt und erschien erst 1859. Die Ausgaben zielten offen-
bar auf ein allgemeines Publikum. In beiden Einleitungen wird unterstrichen,
dass die Bücher für den gewöhnlichen Bürger gedacht waren. Aalls gut ausge-
statte Ausgabe hat einen Platz als Monumentalwerk zwischen PCl von 1633
und Storms Übersetzung von 1899 mit der folgenden ‚Nationalausgabe‘
(1900), trägt aber eigentlich nicht weiter zur Textentwicklung bei. Mit den
gründlichen topografischen Kommentaren von Gerhard Munthe ist die Ausga-
be vom Volksaufklärungsgeist geprägt. Die Textgrundlage selbst stammt
wahrscheinlich aus der Kopenhagener Ausgabe.
Munch kannte die verschiedenen Quellentexte und schreibt, dass er der
Übersetzung eine Reihe Handschriften zugrunde gelegt habe, aber auch er geht
nicht weiter darauf ein, welche das waren oder wie er sie verwendet hat.
4.7. Ungers
Ausgaben
Im Laufe des 19. Jahrhunderts fand in der wissenschaftlichen Textkritik eine
bedeutsame methodische Entwicklung statt, und schon bald konnten moderne
wissenschaftliche Forderungen an die Ausgaben gestellt werden. Die intensive
wissenschaftliche Herausgabe von historischen Quellentexten im 19. Jahrhun-
dert in Norwegen kam auch der Heimskringla zugute, unter anderem durch die
beiden Ausgaben von R. C. Unger: Heimskringla 1868 und Codex Frisianus
____________
12
Sowohl Munch wie Aall äußern sich hierzu knapp; Munch in Verbindung mit der Subskripti-
onsausschreibung und Aall in der Einleitung der Ausgabe. Siehe Jørgensen 2007, S. 62–65.
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1871. Die erste basierte auf Abschriften der verloren gegangenen Kringla, kri-
tisch ergänzt aus anderen Handschriften. Das war wahrscheinlich eine bewuss-
te Wahl, da die Kringla als gute Handschrift bekannt war, aber eine Neuerung
war es nicht. Das Neue und Moderne an Ungers Ausgabe war, dass er einen
reineren Kringla-Text präsentierte als die Vorgänger. Auch Ungers Text war
nicht ganz ohne Plustexte, aber seine Absicht war, einen Text zu erstellen, der
die Heimskringla in ihrer möglichst ursprünglichen Gestalt repräsentierte.
1871 gab Unger eine neue Textausgabe heraus, dieses Mal eine rein diplo-
matische Edition der Handschrift Cod. Frisianus (AM 45 fol). Unger hatte
zusammen mit seinen Kollegen R. Keyser und P. A. Munch für diesen Typ
Ausgabe eine hervorragende methodische Sicherheit entwickelt. Da die Editi-
onsprinzipien einfach sind, werden die Ausgaben nicht von der Entwicklung
innerhalb der Textkritik überholt. Ungers Ausgaben aus dem 19. Jahrhundert
sind sehr genau und von so hoher Qualität, dass sie immer noch aktuell sind.
4.8. Gustav Storms Studien
Kurz nach Ungers 1868er-Ausgabe begann Gustav Storm seine textkritischen
Heimskringla-Studien, die in die Abhandlung Snorre Sturlassöns historie-
skrivning (Snorre Sturlassöns Geschichtsschreibung) mündeten.
13
Die Ab-
handlung war die Antwort auf ein Preisausschreiben von Det Kongelige Dan-
ske Videnskaps Selskab (Die Königlich Dänische Wissenschaftsgesellschaft)
im Frühjahr 1870. Sie wurde zu einer bahnbrechenden Pionierarbeit für die
moderne Heimskringla-Forschung und für die Sagaforschung allgemein. Auch
wenn einige Ergebnisse neuerdings bezweifelt und zum Teil verworfen wur-
den, kommt kein Königssagaforscher um diese Abhandlung herum. Storm legt
hier die wichtigsten Argumente dafür dar, dass Snorri wirklich der Verfasser
der Heimskringla war, und er bestätigt und untermauert die Auffassung, dass
Kringla die ‚beste‘ Heimskringla-Handschrift war.
4.9. Finnur
Jónsson
Gustav Storm hatte engen Kontakt zu dem Isländer Finnur Jónsson, dem Pri-
mas der Nordistikforschung an der arnamagnäanischen Handschriftensamm-
lung in Kopenhagen. Unter Finnur Jónssons vielen Editionsprojekten standen
die Königssagas im Mittelpunkt, und in den 1890er Jahren arbeitete er vor al-
lem an der Heimskringla. Hier konnte er sich auf Storms Studien stützen, und
er nahm sich vor, einen auf der Kringla basierten Text zu etablieren, den er mit
____________
13
Storm 1873.
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anderen relevanten Quellen noch abstützte. Die Ausgabe erschien in drei Bän-
den 1893–1900. Weiter erschien 1901 ein Zusatzband mit Deutungen der
Skaldenstrophen. Jónsson überprüfte genau alle zugänglichen Quellen und
beschrieb das Quellenmaterial gründlicher und auf breiterer Basis als je je-
mand zuvor, selbst wenn er sich keine Zeit für die Systematik und Genauigkeit
nahm, die für ein optimales Resultat erforderlich gewesen wären. Als Grund-
text wählte er die genaueste Abschrift der Handschrift Kringla. Er verzeichnete
Varianten aus anderen Handschriften, doch genügt dies modernen Ansprüchen
nicht. Die Auswahl scheint nach persönlichem Ermessen vorgenommen zu
sein und ist nicht konsistent.
Obwohl Finnur Jónsson ein Stemma präsentierte, das er in der Einleitung
erläuterte, scheint es, dass dieses für die Textetablierung nicht von Bedeutung
war. In einem Artikel in Arkiv
14
kritisierte Storm Finnur Jónsson, weil dieser
den Text an Stellen, wo der Variantenapparat ganz klar andere Lesarten unter-
stützt, nicht emendiert hatte. Finnur Jónsson hat die Kritik anscheinend ernst
genommen, denn als er den Text 1911 aufs Neue in einer einbändigen Lese-
ausgabe ohne Variantenapparat herausgab, hatte er sie berücksichtigt, jedoch
ohne dies in der Einleitung zu erklären.
Finnur Jónssons vierbändige Edition ist noch immer eine wissenschaftliche
Standardausgabe. Sie wurde als wissenschaftliche Ausgabe in einer Zeit erar-
beitet, als die textkritische Methode gut entwickelt war. Das hat die Ausgabe
jedoch nicht in dem Maße geprägt, wie zu erwarten wäre. Wenn das Ergebnis
trotzdem vollkommen brauchbar geworden ist, ist das der hohen Qualität der
Haupthandschrift und dem sicheren Ermessen des Herausgebers zu verdanken.
4.10. Die Nationalausgabe 1900
Ende des 19. Jahrhunderts bekam Gustav Storm die Aufgabe, die Heims-
kringla für eine repräsentative, illustrierte Volksausgabe für den neu gegründe-
ten Verlag J. M. Stenersen zu übersetzen. Das Ergebnis war eine Maßstab set-
zende Ausgabe, die 1899 in gediegenem Quartformat, voll illustriert und in
speziell gestaltetem Buchdesign erschien. Mit staatlicher Unterstützung wurde
im Jahr darauf der gleiche Text mit mehr oder weniger den gleichen Illustrati-
onen in einer Auflage von ganzen 70.000 Exemplaren in Oktavformat heraus-
gebracht, nämlich die sogenannte ‚Nationalausgabe‘. Zusätzlich erschienen in
der gleichen Aufmachung 30.000 Exemplare in der Übersetzung von Steinar
Schjøtt ins Neunorwegische. Obwohl Finnur Jónssons große kritische Ausgabe
noch nicht veröffentlicht war, als Storm an seiner Übersetzung arbeitete, war
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Storm 1903.
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ihm Finnur Jónssons Manuskript zugänglich. Stenersens Konzept mit den be-
kannten Illustrationen bildete die Grundlage für Neuübersetzungen und Neu-
ausgaben der Heimskringla in vielen Ländern.
4.11. Neues Interesse in Island
Das starke Interesse an Königssagas und besonders an der Heimskringla, das
sich im 19. Jahrhundert in Norwegen entwickelte, griff auf das Heimatland
Island über. Damit schloss sich der Kreis. In einer Leseausgabe vom Verlag
Helgafell (1944), die Illustrationen und Stenersens Konzept der illustrierten
Ausgabe von 1899 entlehnt, ist die Inspiration aus Norwegen deutlich. 1937
erhielt der Isländer Bjarni Aðalbjarnarson den Doktorgrad an der Universität
Oslo für seine Abhandlung Om de norske kongers sagaer (Über die Sagas der
norwegischen Könige). Neben seiner Stelle als Mittelschullehrer in Haf-
narfjördur in Island begann er mit der Arbeit an einer Heimskringla-Ausgabe
für die Reihe Íslenzk Fornrit (ÍF). Sie erschien in drei Bänden in den Jahren
1941–1951. Íslenzk Fornrit ist ein echtes Kind der ‚isländischen Schule‘, einer
einflussreichen Richtung innerhalb der Sagaforschung mit Björn M. Ólsen,
Sigurður Nordal und Einar Ólafur Sveinsson als Pionieren. Man vertritt dort
die Meinung, dass die Sagas die geistigen Schöpfungen eines bekannten oder
unbekannten (isländischen) Verfassers sind und dass der Herausgeber sich be-
mühen soll, einen Text zu erarbeiten, der dem ursprünglichen am nächsten
kommt. Der Herausgeber muss sich eine Übersicht über alle Textzeugen schaf-
fen, ein Stemma aufstellen und auf dessen Grundlage Textentscheidungen tref-
fen und Emendation vornehmen. Zwar hatte Finnur Jónsson wertvolle Vorar-
beit geleistet, doch hatte er nie eine eingehende textkritische Analyse durchge-
führt. Er hatte wohl die Hauptstruktur im Textmaterial erfasst, aber ein eigent-
liches methodisch basiertes Stemma bekommen wir erst mit Bjarni Aðal-
bjarnarsons Arbeit. Hier werden die Textzeugen in zwei Hauptzweige geteilt,
die X-Klasse und die Y-Klasse, mit Kringla (X) und Jöfraskinna (Y) als den
wichtigsten Repräsentanten der beiden Klassen. Dies ergibt auch die Richt-
schnur für die Textkonstitution. Unter der stillschweigenden und lange undis-
kutierten Annahme, dass die Heimskringla tatsächlich das einheitliche Werk
eines Verfassers ist, hat die Ausgabe von Íslenzk Fornrit einen festen Platz als
gute und zuverlässige Textrestitution. Der Text in Finnur Jónssons 1911er-
Ausgabe unterscheidet sich jedoch nur wenig von dem der Íslenzk Fornrit-
Ausgabe.
Die letzte Neufassung der Heimskringla ist ebenfalls ein isländisches Pro-
jekt des Verlags Mál og Menning. Diese Ausgabe basiert gleichfalls auf Bjarni
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Nordische Heimskringla-Ausgaben
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Aðalbjarnarsons Stemma, aber die Herausgeber haben für die Lakunenfüllun-
gen im ersten Teil einen anderen Grundtext gewählt. Wie gewöhnlich wurde
die Kringla als Grundtext verwendet, aber dort, wo frühere Herausgeber die
Lakunen aus der Jöfraskinna gefüllt haben, fiel die Wahl der isländischen Edi-
toren auf den Codex Frisianus. Vom Stemma her ist dies eine logische Wahl,
denn Frisianus gehört zur gleichen Handschriftenklasse wie die Kringla, zur
X-Klasse, während die Jöfraskinna zur Y-Klasse gehört. Das Auffälligste an
der Ausgabe ist jedoch, dass sie ein neuisländisches Sprachgewand erhalten
hat.
5.
Eine moderne textkritische Edition?
Der Bedarf an einem ‚letztgültigen Heimskringla-Text‘ war nicht ganz gestillt,
auch wenn Finnur Jónsson und Bjarni Aðalbjarnarson gute wissenschaftliche
Textausgaben erarbeitet hatten. In einem strengen kritischen Licht gesehen, hat
auch die Ausgabe von Íslenzk Fornrit ihre Mängel, nicht zuletzt auch deshalb,
weil sie in den Kriegsjahren entstand, als der Herausgeber zumeist keinen Zu-
gang zu den Handschriften hatte und sich in hohem Grad auf ältere Ausgaben
und Faksimiles stützen musste. Das war der Hintergrund für das sogenannte
Heimskringla-Projekt, das im Jahre 1988 an der Universität Oslo seinen An-
fang nahm. Das Ziel war eine neue textkritische Ausgabe, in der alle Textzeu-
gen berücksichtigt werden sollten.
Der Plan für das Heimskringla-Projekt wurde nie verwirklicht. Einer der
Gründe war, dass die neuere Forschung die Grundlage für eine solche Ausgabe
anzweifelte. In ihrer Dissertation von 1977, Kongesagastudier, untersuchte
Jonna Louis-Jensen das Verhältnis zwischen einer Königssagaredaktion, über-
liefert in zwei Mittelalterhandschriften, ‚Hulda‘ und ‚Hrokkinskinna‘, und de-
ren Quellentexten. Hierbei diskutierte sie auch die Genealogie der Heims-
kringla und trug dazu bei, Bjarni Aðalbjarnarsons Ergebnisse in einigen Punk-
ten zu nuancieren und weiterzuführen. Sie kam schnell zu der Einsicht, dass
die genealogischen Verhältnisse widersprüchlich sein konnten, das galt selbst
für Teile der Heimskringla, die im gleichen Kodex überliefert waren. Die Lö-
sung war, jedes Drittel des Werkes für sich zu betrachten. Dieses Verfahren
führte sie in einem Artikel von 1997 weiter, in dem sie in Bezug auf die Text-
geschichte aufsehenerregende Schlüsse zog. Sie brach mit dem ungeschriebe-
nen Gesetz, wonach die Heimskringla ursprünglich als einheitliches Werk ge-
schrieben worden war, und argumentierte, dass die drei Hauptteile nach Snor-
ris Zeit zusammengefügt wurden, vielleicht gerade durch die Handschrift
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Kringla oder deren Vorlage. Wenn Louis-Jensen recht hat, gibt es also keine
Grundlage für die Annahme eines gemeinsamen Archetyps für die überliefer-
ten Textzeugen zu den verschiedenen Teilen des Werkes, das seit 1697 die
Heimskringla genannt wird. Damit entfällt auch die Grundlage für eine solche
Ausgabe, wie sie im Heimskringla-Projekt vorgesehen war.
6.
Was uns die Editionsgeschichte lehrt
Die Editionsgeschichte der Heimskringla ist aus verschiedener Sicht interes-
sant. Sie zeigt, wie sich die editionsphilologischen Instrumente von einer Aus-
gabe zur nächsten Schritt für Schritt entwickeln. Zu den ersten Ausgaben gibt
es kaum Informationen über die Quellentexte. Dies zeigt unter anderem, dass
die Textausgaben ein Werk nicht nur vermitteln und dokumentieren, sondern
auch ein Werk schaffen können. Die Heimskringla ist in der Tat durch eine
lange und reichhaltige Folge von Ausgaben als Werk von Snorri Sturluson
etabliert und konsolidiert worden.
Die
Heimskringla-Ausgaben erstrecken sich über eine lange Zeitspanne. Sie
zeigen daher deutlich, wie dasselbe Werk für verschiedene Zwecke instrumen-
talisiert und als Träger verschiedener Ideen zu verschiedenen Zeiten verwendet
werden konnte. Einleitungen und Vorworte können zugleich interessante Sig-
nale aussenden über die ideologischen Motive, die hinter den Ausgaben stehen
und wechselnde Zeiten und Strömungen widerspiegeln. Die ersten Ausgaben,
sowohl die dänischen wie die schwedische, werden eng mit der Königsmacht
und dem Prestige des Reiches verbunden. In der allerersten Ausgabe (1594)
wird auf moralische Motive großen Wert gelegt, d. h. dass Könige und Fürsten
von der Geschichte lernen können, denn die Welt ist und bleibt die gleiche und
die Geschichte wiederholt sich. Gott unterstützt gute Herrscher, schickt aber
seine Strafe über schlecht regierte Reiche. Die beiden großen dreisprachigen
Ausgaben Peringskiöld (1697) und die Kopenhagener Ausgabe (1777–1783)
sind öffentliche Verlautbarungen, in denen der König in panegyrischen Wen-
dungen gelobt wird, mit der offensichtlichen Absicht, die Position und das
Prestige des Reiches in Europa zu stärken. Mit der Romantik verschiebt sich
der Fokus vom König auf die Nation – auf das Volk. Grundtvig macht die
Heimskringla zum Buch des Volkes. Mit den norwegischen Ausgaben im 19.
Jahrhundert hat das Werk eine deutliche nationale Aufgabe bekommen. Es
wurde zum Werkzeug, um dem Volk seine alte Geschichte bewusst zu machen
und damit die norwegische Unabhängigkeit zu legitimieren. Im letzten Akt
schließt sich der Kreis. Die Heimskringla kehrt heim nach Island und wird als
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Nordische Heimskringla-Ausgaben
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Prachtstück der reichen Mittelalterliteratur des Landes herausgegeben. Die
‚isländische Schule‘ richtet ihr Licht auf die Texte des Mittelalters als Litera-
tur, sodass deren ästhetische Qualitäten nicht von Diskussionen über ihren his-
torischen Quellenwert überschattet werden.
Aus dem Norwegischen von Charlotte Oldani
Abstract
This article traces editions of a central Old Norse work, Heimskringla, from
the first print edition in 1594 up until the present day. Heimskringla was writ-
ten in Iceland during the 13th century and contains a continuous account of
Norway’s history. The historical narrative is linked to Norwegian kings from
the most ancient times until 1177. Ever since its first appearance, the work has
aroused great interest in Denmark, Norway and Sweden, as well as in its home
country of Iceland.
A chronological review of the different editions clearly illuminates the his-
torical development of textual criticism in the Nordic countries. We see how
editors’ textual awareness has evolved, evidenced by the move from com-
municating content in paraphrased form towards the documentation and repro-
duction of texts. At the same time we can trace developments in philological
methods. Editors’ approach to textual criticism becomes gradually more me-
thodical, requirements for documentation and accuracy become more stringent,
and there is the emergence of a critical apparatus with footnotes and com-
ments, eventually joined by lists of variants etc.
We also see clear shifts in the ideologies driving the production of different
editions: early editions were intended as government propaganda, while later
editions reflected a democratic nation-building movement, more recently taken
over by a desire to build a national literary heritage.
An interesting point concerning Heimskringla in particular is that it appears
unlikely, on the basis of modern textual analysis, that the various versions of
the text derive from a common archetype. Accordingly it is unlikely that
Heimskringla, as we know it from the various existing editions, dates from the
time of Storre Sturlasson, as has generally been believed. In this case, different
editions have not only communicated and documented a work, but in fact have
also established it.
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Literaturverzeichnis
Editionen
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sum und Carl Richard Unger. Christiania 1871.
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regum septentrionalium a Snorrone Sturlonide, ante secula quinque, patrio sermone antiquo
conscriptæ. Hrsg. von Johan F. Peringskiöld. 2 Bde. Stockholm 1697–1700.
[Heimskringla.] Heimskringla edr Noregs konungasögor af Snorra Sturlusyni. Hrsg. von Gerhard
Schöning et al. 6 Bde. Kopenhagen 1777, 1778, 1783, 1813–18, 1826. [Bd. 1–3 umfassen
Heimskringla, Bd. 4–6 Sverris saga, Bǫglunga sǫgur og Hákonar saga Hákonarsonar.]
[Heimskringla.] Heimskringla eller Norges Kongesagaer af Snorre Sturlasøn. Hrsg. von Carl
Richard Unger. Christiania 1864–1868 (Det norske Oldskriftselskabs Samlinger 4, 7, 9, 10).
[Heimskringla.] Heimskringla. Hrsg. von Bjarni Aðalbjarnarson. 3 Bde. Reykjavik 1941, 1945,
1951 (Íslenzk fornrit 26, 27, 28).
[Heimskringla.] Heimskringla: Nóregs konunga sǫgur. Hrsg. von Finnur Jónsson. 4 Bde. Kopen-
hagen 1893–1901 (Samfund til Udgivelse af gammel nordisk Litteratur 23).
[Heimskringla.] Heimskringla. Hrsg. von Bergljót Kristjánsdóttir et al. Reykjavik 1991.
[Heimskringla.] Heimskringla: Noregs konunga sogur. Hrsg. von Finnur Jónsson. Kopenhagen
1911.
[Heimskringla.] Norske Kongers Krønicke oc bedrifft: indtil unge Kong Haagens tid, som døde
Anno Domini 1263 / udset aff gammel Norske paa Danske. Hrsg. von Jens Mortensen. Kopen-
hagen 1594.
[Heimskringla.] Norges Konge-Krønike af Snorro Sturlesøn. Übers. von N. F. S. Grundtvig. Ko-
penhagen 1818.
[Heimskringla.] Norges Konge-Sagaer: fra de ældste Tider indtil anden Halvdeel af det 13de Aar-
hundrede efter Christi Fødsel / forfattede af Snorre Sturlassøn. Übers. von P. A. Munch. Kristi-
ania 1859
[Heimskringla.] Snorre Sturlason. Kongesagaer. Übers. von Gustav Storm. Kristiania 1899 (4°). 2.
Ausg. (8°) 1900.
[Heimskringla.] Snorre Sturlason. Kongesogur. Übers. von Steinar Schjøtt. Kristiania 1900.
[Heimskringla.] Snorre Sturlesens Norske Kongers Krønike / oversat paa dansk af Peder Clausen;
og nu paa nye oplagt og formeret […]. [Hrsg. von Sejer Schousbølle.] Kopenhagen 1757.
[Heimskringla.] Snorre Sturlesons norske Kongers Sagaer. Übers. von Jacob Aall. 2 Bde. Kristia-
nia 1838/39.
[Heimskringla.] Snorre Sturlesøns Norske Kongers Chronica / udsat paa Danske aff Peder Claus-
søn […]; nu nyligen menige Mand til Gaffn, igiennemseet, continuerit oc til Trycken forferdi-
get. Hrsg. von Ole Worm. Kopenhagen 1633.
Sonstige Literatur
Jørgensen, Jon Gunnar: Sagaoversettelser i Norge på 1500-tallet. In: Collegium Medievale 6,
1993, H. 2 [1994], S. 169–198.
Jørgensen, Jon Gunnar: The lost vellum Kringla. Kopenhagen 2007 (Bibliotheca Arnamagnæana
45).
Louis-Jensen, Jonna: Kongesagastudier. Kompilationen Hulda-Hrokkinskinna. Kopenhagen 1977
(Bibliotheca Arnamagnæana 32).
Louis-Jensen, Jonna: Heimskringla – Et værk af Snorri Sturluson? In: Nordica Bergensia 14, 1997,
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Nilsson, Gun: Den isländska litteraturen i stormaktstidens Sverige. In: Scripta Islandica 5, 1954, S.
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Storm, Gustav: Textkritiske Bemærkninger til Ynglingatal. In: Arkiv för nordisk filologi 19, 1903,
S. 252–257.
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