Dagmar Mißfeldt
(Hg.)
Morden im
Norden
scanned 2006/V1.0
Kühl und rücksichtslos schlagen die Täter zu. Autoren und Autorinnen aus
Norwegen, Schweden, Finnland und Dänemark sind berühmt für
Hochspannung – lassen Sie sich entführen in ewige Dunkelheit und
zwielichtige Mittsommernächte!
ISBN: 3-596-16529-6
Verlag: Fischer Taschenbuch Verlag
Erscheinungsjahr: 2004
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Buch
Ein Hoch aus dem Norden bestimmt schon seit einiger Zeit die
Kriminalliteratur. Dieser Band enthält die besten
Kriminalgeschichten der Experten für eiskalten Mord aus
Norwegen, Schweden, Finnland und Dänemark. Darunter finden
sich alte Bekannte, aber auch neue Autoren und Autorinnen:
Von Ditte Birkemose bis Aino Trosell wird ein breites Spektrum
an echten und vermeintlichen Verbrechen präsentiert, und es ist
sicher kein Zufall, dass gleich zweimal für die Region typische
Leckerbissen wie Krebse und Hummer aufgetischt werden …
Der nordische Boom hat inzwischen auch Island erreicht,
deshalb wurden auch einige Geschichten isländischer
Autorinnen aufgenommen, die erstmals ins Deutsche übersetzt
worden sind.
Die Herausgeberinnen:
Gabriele Haefs, Christel Hildebrandt und Dagmar Mißfeldt
leben in Hamburg und übertragen nicht nur nordische Literatur
ins Deutsche, sondern sind als Herausgeberinnen ein eingespiel-
tes Team und haben Anthologien zu allerlei Themen
herausgegeben. Zuletzt erschien ›Skål, Admiral von Schneider‹,
skandinavische Geschichten zum Thema Alkohol.
Inhalt
Vorwort....................................................................................................5
Logenplatz Ann-Christin Hensher .........................................................12
Knud und der Kater Ditte Birkemose.....................................................20
Das Klassentreffen Toril Brekke............................................................27
Zwei Männer der Tat Jonny Halberg.....................................................45
Das Meierschloss Viktor Arnar Ingólfsson............................................52
Was geschah in Nummer 7? Margaret Johansen ..................................57
Der offene Brief Edda Magnúsdóttir .....................................................65
Hombre Lars Kjædegaard .....................................................................68
Verwandte alte Bekannte Johanna Helga Halldórsdóttir ......................92
Ohropax Unni Lindell..........................................................................113
Der zufällige Tod eines Direktors Leif Davidsen.................................131
Auf beiden Augen blind Kim Småge.....................................................153
Auge um Auge Björn Hellberg.............................................................171
Die Scheren des Hummers Gert Nygårdshaug ....................................185
Mord in Reykjavik Birgitta H. Halldórsdóttir......................................204
Die Frau, die unsichtbar wurde Unni Nielsen .....................................218
Das Letzte, was sie taten Veums erster Fall Gunnar Staalesen...........227
Nachts allein nach Hause Aino Trosell ...............................................262
Krebsfest in Schwarz Marita Gleisner .................................................279
Ein knackiger Hintern Leena Lehtolainen ...........................................296
Die Abschiedsparty Pentti Kirstilä ......................................................313
Die Wahl des vorsichtigen Mannes Reijo Mäki ...................................321
Kriminell schön Taavi Soininvaara .....................................................330
Zu den Autorinnen und Autoren...........................................................350
Quellenverzeichnis...............................................................................355
Vorwort
Morden im Norden – diese Tätigkeit besitzt in ihrer literarischen
Verarbeitung in ganz Europa einen guten Ruf. Was nicht
überraschen kann. Die Nachkommen der von den Wikingern
heimgesuchten europäischen Völker (die nun wiederum über
diese unerwünschten Gäste eine reichhaltige Literatur
hinterlassen haben) müssen doch erleichtert aufatmen bei der
Erkenntnis, dass die Nachkommen dieser Gäste heutzutage
lieber in ihren eigenen Ländern morden. Und literarisch gesehen
scheint die skandinavische Kriminalliteratur in einer
beeindruckenden Tradition zu stehen. Schon in der
mittelalterlichen Saga-Literatur wird gemordet, was das Zeug
hält. Dabei spielt die Suche nach dem Mörder jedoch keine
Rolle: Alle wissen von Anfang an, wer es war. Die Frage ist
nun: Kann er vor den Verwandten seines Opfers fliehen, die
Sitte und Brauch ihrer Zeit gemäß zu Blutrache verpflichtet
sind? Wie und ob er es schafft, bringt für die Lesenden
Spannung en masse. Auf das Motiv wurde schon vor tausend
Jahren großer Wert gelegt. Dem Mann, der in einer Saga einen
Sklaven enthauptet hat, nur weil der gerade so »passend« da
steht, wird kein besonderer Ruhm zuteil, da für einen Sklaven
niemand Blutrache nimmt. Es kommt keine Spannung auf, und
das Motiv ist nun wirklich wenig überzeugend. Skandinavische
Autorinnen neuerer Zeit halten sich an die alten Vorbilder. Den
norwegischen Nobelpreisträger Knut Hamsun mit Morden im
Norden in Verbindung zu bringen mag abwegig erscheinen, aber
die Lektüre ergibt: Hamsum lässt morden. Abgelegte Liebhaber
werden ebenso bedenkenlos aus dem Weg geräumt wie die
Geschäfte störende Konkurrenten. Bei seiner ebenfalls mit dem
Nobelpreis ausgezeichneten Kollegin Sigrid Undset morden die
Romanpersonen aus den alleredelsten Motiven. Zum Beispiel
5
um den guten Ruf seiner Verlobten zu schützen, bringt Olav
Audunssohn aus dem gleichnamigen Roman deren Liebhaber
um. Danach wird er ungefähr tausend Seiten lang von
grauenhaften Gewissensbissen gequält. Nicht wegen des
Mordes, der Liebhaber hatte nichts anderes verdient, was
machte er sich auch an andrerleuts Verlobte heran, sondern weil
Olav das aus diesem Seitensprung entstandene Kind seiner Frau
als sein eigenes ausgibt und damit die Erbverhältnisse in der
Großfamilie durcheinanderbringt. Das Rachemotiv ist übrigens
auch in der modernen Literatur nicht in Vergessenheit geraten,
wie die Erzählung von Jonny Halberg zeigt.
Bei einer solchen Ahnengalerie – die hier ja wirklich nur
höchst oberflächlich gestreift werden kann – ist es kein Wunder,
dass das heutige Morden im Norden, nun endlich in der
modernen Form des Kriminalromans, international so großen
Erfolg hat. Der Erfolg setzte in den siebziger Jahren ein. Das
schwedische Paar Sjöwall/Wahlöö prägte auf Dauer unser aller
Bild vom skandinavischen Krimi, mit Helden, die altern und
nicht unbedingt sympathisch sind, mit deutlichem Lokalkolorit
und mehr als nur einem Schuss Sozialkritik. Dass sonst nicht
besonders viel Kriminalliteratur aus dem Norden in anderen
Sprachen erschien, wurde einfach übersehen. Tatsächlich aber
lässt sich in der skandinavischen Krimiszene jener Jahre nur
noch ein anderer Name von internationalem Format finden: der
des Norwegers Jon Michelet, wie Sjöwall/Wahlöö in viele
Sprachen übersetzt, mehrfach verfilmt, in Deutschland aber nie
so richtig populär geworden, was sicher daran liegt, dass seine
Krimis hierzulande nur in stark gekürzter Fassung erschienen.
Kim Småge, die erste Autorin im Norden, die Ermittlerinnen
auftreten und gegen eine Mauer aus männlichen Vorurteilen
anrennen ließ, musste sich in der Presse jahrelang die
Bezeichnung »der weibliche Jon Michelet« gefallen lassen,
nahm es aber einigermaßen gelassen hin und als Beweis dafür,
dass das in ihren Romanen gezeichnete Bild der
6
Männergesellschaft eher noch untertrieben war.
Inzwischen boomt die Krimiliteratur im Norden dermaßen,
dass ein Überblick kaum noch zu leisten ist. Wir können die
schwedischen Krimikönige Håkan Nesser und Henning Mankell
erwähnen, die norwegischen Krimiköniginnen Unni Lindell,
Karin Fossum und Anne Holt; wir sehen, dass auch
mittelmäßige Autorinnen zu Bestsellerehren kommen können
(aus purer Höflichkeit wollen wir hier keine Namen nennen),
und die große Überraschung: Als wir vor einigen Jahren den
Band Morde in hellen Nächten zusammenstellten, war es fast
unmöglich, isländische Kriminalgeschichten zu finden.
Isländische Kriminalliteratur gebe es nicht, so wurde uns
beschieden, und die gesellschaftlichen Verhältnisse auf Island
lüden eben nicht zum Schreiben von Krimis ein, dies schrieb die
angesehene isländische Tageszeitung »Morgunblaðið«. Jetzt,
nur wenige Jahre später, hat die isländische Kriminalliteratur
einen internationalen Star, Arnaldur Indriason, und im
vorliegenden Buch stellt sich eine Reihe neuer Autorinnen vor,
die zumeist erstmals ins Deutsche übersetzt worden sind.
Das mit den gesellschaftlichen Verhältnissen blieb im
besagten Artikel ein wenig rätselhaft, auch auf Island wird
gemordet – allerdings ist dort, wie überall, der typische Mord
wenig spektakulär. Gemordet wird aus Eifersucht, im Suff, im
Suff aus Eifersucht oder ohne einen wirklich erkennbaren
Grund, zum Beispiel, weil nach reichlichem Genuss von
schwarz gebranntem Fusel zwei Leute aneinander gerieten, der
eine zum Messer griff und nach Erwachen in der
Ausnüchterungszelle nicht einmal mehr genau wusste, was ihn
so erbost hatte. In einem Zeitungsinterview sagte Kim Småge
auf die Frage, warum sie in ihrem neuen Roman einen Giftmord
vorkommen lässt, obwohl in Norwegen seit über zehn Jahren
schon keiner mehr vorgekommen sei, das liege einfach an der
von ihr geplanten Handlung: Als der Vergiftete sein Leben
aushaucht, dürfen keine Zeugen in der Nähe sein, und da macht
7
sich eine Messerstecherei eben schlecht. Und Anne Holt,
ebenfalls nach dieser wenig inspirierenden Kriminalstatistik
befragt, meinte nur, es langweile sie schon, über solche Morde
in der Zeitung lesen zu müssen, da wolle sie nicht auch noch
darüber schreiben.
Unsere hier vorliegende Auswahl bringt hoffentlich ein breites
Spektrum an echten und vermeintlichen Verbrechen jeglicher
Qualität zusammen. Manche der hier vertretenen Autorinnen
und Autoren sind dem deutschen Publikum bereits bekannt und
vertraut, andere gilt es neu zu entdecken. Manche Namen
fehlen, die wir gern dabei gehabt hätten. Das kann vielerlei
Gründe haben: Einige schreiben einfach keine Kurzgeschichten;
andere hatten keine Erzählung in der Schublade und wollten
eine schreiben, die bei Redaktionsschluss aber noch nicht fertig
war (und hoffentlich irgendwann in einem weiteren Krimiband
erscheinen kann); einige Male fanden wir Geschichten, die
dermaßen frappierende Übereinstimmungen in Mordwahl und
Entwicklung aufwiesen, dass wir eine aussondern mussten. Dass
Island und Norwegen bei der Auswahl besonders gut vertreten
sind, liegt an praktischen Bedingungen: dem bereits erwähnten
neuen isländischen Krimiboom und der Tatsache, dass
Norwegen eine Art Kurzgeschichtenparadies ist, was gerade für
Krimis gilt. Immer wieder erscheinen dort Sammelbände, die
neue Kriminalgeschichten bekannter Autorinnen vorstellen,
sogar Preise für die beste Kriminalgeschichte werden vergeben
(Unni Nielsen ist hierzulande bisher vor allem als
Jugendbuchautorin bekannt – und mit Preisen bedacht, in
Norwegen dagegen heimst sie so ungefähr jeden
Kurzgeschichtenpreis ein, der zu bekommen ist, eben auch für
die hier aufgenommene Geschichte). Auf der anderen Seite des
Skagerraks, in Dänemark, sieht die Lage dagegen ganz anders
aus. So beklagt sich die Zeitung »Weekendavisen«, dass die
Dänen hinsichtlich der Mordmeriten ihren skandinavischen
Schwestern und Brüdern etwas hinterherlaufen. Leif Davidsen
8
hält fast allein noch die Stellung (nein, nein, es gibt noch andere,
aber wen und wie viele?). Zumindest sind wir im südlichen
Skandinavien nicht sehr fündig geworden, hoffen aber, dass sich
diese Balance wieder einpendelt. Und auf den Färöern herrschen
offenbar paradiesische Zustände: Unser Kontaktmann Jógvan
Isaksen, selbst Krimiautor, musste passen – keine Gewalt auf
den Schafsinseln.
Ein Blick über die Ostsee nach Finnland zeigt, dass die Welt bei
den Finnougriern auch nicht in Ordnung ist und sie genauso
häufig ihre Mitmenschen ins Jenseits befördern wie ihre
skandinavischen Nachbarn. Über Morde in hellen Nächten liest
man jedes Jahr pünktlich zu Juhannus (Mittsommerfest) in den
Zeitungen, wenn von unnatürlichen Todesfällen berichtet wird:
Entweder hüpfen die Finnen sturztrunken direkt aus der
möckieigenen Sauna in den dazugehörigen See und ertrinken,
oder sie zücken im Suff ihren Pukko (Finndolch) und stechen
einen vermeintlichen Nebenbuhler ab. Das lässt sich natürlich
wunderbar literarisch verarbeiten. Die ersten Kriminalfälle der
finnischen Literatur, die auf wahren Begebenheiten beruhen,
stammen von einer Frau. Minna Canth (1844-1897),
Journalistin, Dramatikerin, Geschäftsfrau und verwitwete Mutter
von sieben Kindern, beschreibt im Schauspiel Anna-Liisa (1895)
einen Kindsmord, zu dem ein junges Mädchen durch die
gesellschaftlichen Verhältnisse getrieben wird. Hier wie in
anderen Werken übt sie lange vor Sjöwall/Wahlöö starke
Sozialkritik. Nach Minna Canth fand ganz lange kein
nennenswertes literarisches Morden statt. Dennoch wird der
Beginn der finnischen Kriminalliteratur auf das Jahr 1910
festgelegt. Ihr bekanntester Vertreter ist Mika Waltari (1908-
1979). Er erzielte internationale Anerkennung durch seine
historischen Romane, vor allem durch Sinuhe, der Ägypter. Das
Werk wurde sogar 1954 in Hollywood verfilmt. Nach dem
Vorbild der amerikanischen Klassiker Raymond Chandler und
9
Dashiell Hammett verfasste er Kriminalromane. 1938 gewann
Waltari mit dem Roman Kuka murhasi rouva Skrofin? (Wer
ermordete Frau Skrof?) den finnischen Preis in einem
gesamtnordischen Krimiwettbewerb. Seine Karriere als
Krimiautor war allerdings schon nach drei Romanen beendet,
diese zählen aber nach wie vor zu den finnischen
Krimiklassikern. Auch Waltaris Kommissar Palmu ist wie seine
amerikanischen Kollegen der einsame Wolf auf Mörderjagd im
Sumpf des Verbrechens, und die Frauen sind nur schmückendes
Beiwerk im Hintergrund, von Sozialkritik keine Spur. Dabei
bleibt es vorerst auch bei Vertretern der nächsten Generation
wie Matti Yrjänä Joensuu, Pentti Kirstilä und Reijo Mäki, wenn
auch von Sjöwall/Wahlöö inspiriert. Erst Eeva Tenhunen
durchbricht mit ihrer Heldin Liisa, der Hauptfigur ihrer
zahlreichen Krimis, endgültig diese Männertradition. Aber der
Kriminalroman von Frauen ist in Finnland keine
Neuerscheinung. Nach zaghaften Anfängen in den vierziger
Jahren bringen in den folgenden Jahrzehnten Schriftstellerinnen
anderer Genres wie Aila Meriluoto und Eeva-Liisa Männer
verstärkt Frauenkrimis auf den Markt. Neben Sirpa Tabet lässt
auch Anja Snellman ihre Rachegöttinnen gewissenhaft und
grausam im Norden morden. Die finnischen Crime-Ladys
erobern in den neunziger Jahren endgültig das Feld. Leena
Lehtolainen schreibt sich mit ihren Kriminalromanen um die
Kommissarin Maria Kallio an die Spitze der Gattung. Marita
Gleisner ist die erste finnlandschwedische Krimiautorin.
In den letzten Jahren ist die Zahl der Gewaltverbrechen auch
in Finnland gestiegen, und die internationale Kriminalität hat
Fuß gefasst. Diese Entwicklung spiegelt sich in
Kriminalromanen etwa bei Reijo Mäki, Juha Numminen und
Harri Nykänen, ebenso wie beim Krimi-Newcomer Taavi
Soininvaara wider.
Das Gesamtbild des finnischen Kriminalromans der letzten
Jahrzehnte ist bunt: Das Spektrum der Neuerscheinungen reicht
10
vom realistischen Polizeiroman über die
Privatdetektivgeschichte bis hin zum Action-Thriller und sogar
historischen Roman.
Aus all der Vielfalt von Geschichten über das Morden im
Norden haben wir Herausgeberinnen eine kleine, aber feine
Auswahl getroffen in der Hoffnung, dass sie den Lesenden hin
und wieder einen kalten Schauer über den Rücken treibt oder sie
gar das Gruseln lehrt.
Die Herausgeberinnen
11
Logenplatz
Ann-Christin Hensher
Christina Almark war davon überzeugt, dass sie Sebastians Tod
niemals verwinden würde, auch wenn sie gelernt hatte, damit zu
leben. In etwas mehr als zwei Wochen, am 7. Juni, würde es vier
Jahre her sein, dass er von ihrer Seite gerissen worden war.
Noch kurze Zeit zuvor hatte sie endlich Hoffnung gehabt, er
werde sich wieder fangen. Werde dem Leben eine zweite
Chance geben. Es war eine entsetzliche Zeit gewesen, wie sie
sie nicht einmal ihrem ärgsten Feind wünschte. Ein stetiges Auf
und Ab aus Hoffnung und Verzweiflung, endend in einer aus
Versehen eingenommenen Überdosis. Und dann war sie allein
gewesen.
Ein Versehen. Natürlich handelte es sich um ein Versehen.
Christina konnte nicht glauben, dass er es so gewollt hatte. Ihr
geliebter Junge konnte doch keine Todessehnsucht gehegt
haben, auch nicht nach seiner Verwandlung in einen
gebrechlichen Schatten seines früheren Ich. Er war achtzehn
Jahre alt geworden. Eine liebevolle, aber verwirrte Seele. Ihr
Alles. Eine niemals versiegende Quelle grenzenloser Liebe und
bodenloser Verzweiflung.
Sie waren allein gewesen, schon seit seiner Geburt. Sebastians
Vater Valdemar war nur eine belanglose Parenthese, seine
einzige gute Tat im Leben war es gewesen, Christina zu
schwängern. Die Ehe war eigentlich schon zu Ende, noch ehe
der Brautwalzer verklungen war.
Valdemar war pflichtschuldigst zur Beerdigung gekommen.
Sie hatte ihm schweigend den Rücken zugekehrt. Seither hatte
sie kein Wort mehr von ihm gehört. Und das war nur gut so.
Wenn sie schon früher keinerlei Gemeinschaft gehabt hatten,
wozu jetzt damit anfangen, wo ihr einziger Grund zur
12
Kommunikation nicht mehr da war. Besser, sie wühlten nicht in
der alten Asche nach einer längst erloschenen Glut. Valdemar
war ein Taugenichts, auf den sie gut verzichten konnte. Wenn
sie es sich damals hätte leisten können, hätte sie gern auf seine
Unterhaltszahlungen verzichtet, einfach um nichts mehr mit ihm
zu tun haben zu müssen. Mit einem mittelmäßigen Mitglied
einer Tanzkapelle, das das Wort »Treue« nicht einmal
buchstabieren konnte.
Dass sie selbst Scheuklappen getragen und nicht hatte sehen
wollen, dass Sebastian in rasantem Tempo immer tiefer im
Drogensumpf versank, war ihr nur zu bewusst. Sie machte sich
immer wieder Vorwürfe, weil sie die Gefahr zu spät erkannt
hatte. Aber andererseits, als ihr dann endlich die Erkenntnis
gekommen war, hatte sie sich wirklich alle Mühe gegeben, um
ihm zu helfen. Er hatte ihr Versprechungen und Lügen
aufgetischt. Wenn sie nur nicht so unendlich gutgläubig
gewesen wäre, dann könnte er jetzt noch am Leben sein. Sie
fühlte sich grenzenlos schuldig. Im Nachhinein konnte sie nicht
begreifen, wie es ihr möglich gewesen war, die Signale so
vollständig falsch zu deuten, wo er doch jedes Anzeichen von
Sucht gezeigt hatte, das es überhaupt gab.
Als ihr der Ernst der Lage endlich bewusst wurde, mobilisierte
sie ihre ganze Kraft und all ihre Kontakte, um Betreuung für ihn
zu organisieren. Aber es war misslungen. Für immer würde sie
mit der Schuld leben müssen, nicht genug getan, ihm nicht
geholfen zu haben. In der letzten Zeit war er ihr aus dem Weg
gegangen. Vielleicht hatte er Angst gehabt, sie könne seinen
Rückfall bemerken und versuchen, ihn ein weiteres Mal in die
Therapie zu zwingen. Falls die Entzugsklinik ihn überhaupt
genommen hätte. Wahrscheinlich nicht. Alles war so entsetzlich
schnell gegangen. In so kurzer Zeit, dass sie die Tage hätte
zählen können, wenn sie genug Kraft besessen hätte, hatte er
sich abermals aus einem lebensfrohen, wenn auch ein wenig
schüchternen jungen Mann in einen trüben, unzulänglichen
13
Schatten verwandelt.
Nach der Beerdigung hatte sie ihre Stelle als
Narkoseschwester gekündigt. Sie konnte die vielen
teilnahmsvollen Blicke und die zaghaften Tröstungsversuche
nicht ertragen. Jede Erinnerung wurde ihr zur Qual. Ein glatter
Schnitt war die einzige Lösung. Sie bewarb sich in Kalmar um
den Posten einer Schulschwester und wurde auch angenommen.
In dieser Stadt kannte sie keine Menschenseele und, wichtiger
noch, niemand hatte Sebastian gekannt.
Zu der Stelle gehörte auch eine Dienstwohnung. Ein frisch
renoviertes Apartment mit einem kleinen Balkon, auf dem sie
bei gutem Wetter gern nach Feierabend saß. Der Balkon schaute
nach Westen, und deshalb hatte sie Nachmittagssonne. Schon im
ersten Frühling ließ sie den Balkon verglasen und mit
praktischen Schiebetüren versehen, sodass sie selbst bei starkem
Wind draußen sitzen konnte. Es kam vor, dass sie auch im
Winter mit ihrer Kaffeetasse hinausging. Dann allerdings
brauchte sie einen Mantel und eine Wolldecke, die sie über ihre
Beine legte.
An diesem Tag war keine Decke nötig. Die Maiwärme lag wie
ein Deckel über der ganzen Stadt, und die Parks hatten sich
schon in tiefes Grün gehüllt. Die Kinder waren frühlingsmunter
und unkonzentriert. Sie wollten hinaus an die frische Luft und
gaben sich alle Mühe, um der Schule zu entkommen und nach
Hause geschickt zu werden. Aber jetzt, wo es nicht mehr so
wichtig war, entging Christinas Aufmerksamkeit nichts. Sie
betonte häufig, und das nicht ohne Stolz, dass das Kind noch
nicht geboren sei, das sie hinters Licht führen könnte. Sie war
steinhart. Wenn sie kein Fieber hatten und keine akuten
Symptome einer lebensgefährlichen Krankheit aufwiesen, dann
klebte sie ihnen Pflaster auf und stopfte sie mit Aspirin voll. Im
günstigsten Fall durften sie auf dem Sofa den ärgsten
Schulüberdruss wegschlafen, dann wurden sie ins
Klassenzimmer zurückgeschickt. Es bedeutete für Christina
14
seltsamerweise eine gewisse Befriedigung, von jungen
Menschen umgeben zu sein, auch wenn sie dadurch immer
wieder an Sebastian erinnert wurde. Solange sie jedoch nicht
über die Vergangenheit sprechen musste, konnte sie durchaus
weiterleben. Oder zumindest funktionieren.
Es musste die Hitze gewesen sein, die sie auf die beiden
Männer aufmerksam machte, die sich auf der
gegenüberliegenden Straßenseite der Bank näherten. Sie fragte
sich noch, warum um alles in der Welt sie bei diesem Wetter
Mützen trugen, da wusste sie die Antwort auch schon. Sie
wollten die Bank überfallen. Sie zogen sich die Hasskappen in
dem Moment übers Gesicht, als sie die Türen aufschossen.
Christina konnte in der Hand des einen Mannes die Waffe
gerade noch ahnen, dann stürzte sie ins Haus und alarmierte die
Polizei. Danach ging sie wieder auf den Balkon hinaus, um die
Sache zu verfolgen. Schon nach einigen Minuten hörte sie ein
Martinshorn. Kalmar war eine kleine Stadt, in der ein
Banküberfall nicht zur Alltagskost zählte. Zwei Streifenwagen
fuhren in hohem Tempo vor und hielten in einer Art Halbkreis
vor der Bankfiliale. Vor Adrenalin strotzende Polizisten
sprangen heraus, bereit, ihr Bestes zu geben, um die
Gesellschaft zu schützen. Geduckt, doch zugleich geschmeidig
wie eine Katze, näherte einer sich dem Eingang, um sich einen
Überblick über die Vorgänge im Inneren der Bank zu
verschaffen. Christina beobachtete gebannt das Schauspiel von
ihrem Logenplatz aus. Jede Bewegung, jede Veränderung im
Verlauf der Ereignisse schien allein für sie inszeniert worden zu
sein …
Ein innerhalb der Bank abgefeuerter Schuss steigerte die
Spannung. Sofort änderte sich das Szenario draußen auf
durchgreifende Weise. Immer mehr Streifenwagen kamen dazu.
Medienvertreter versuchten, sich vorzudrängen, um Bilder zu
machen und die Sensation auszukosten. Kugelsichere Westen.
Gab es in Kalmar so etwas überhaupt? Geschützte Brustkörbe
15
mit verletzlichen Köpfen über durchtrainierten Schultern. Junge
Polizisten, eifrig wie Statisten in einem Actionfilm. Per
Megafon wurden nun einseitige Verhandlungen aufgenommen.
Christina fiel auf, dass der Beamte, der die Bankräuber zum
Aufgeben überreden wollte, um einiges älter war als seine
Kollegen. Seine gemächliche småländische Aussprache nahm
der Situation ein wenig von ihrem Ernst.
Dann ging ihre Türklingel. Sie brachte es jedoch nicht über
sich, ihren Logenplatz zu verlassen, um aufzumachen.
Ohne Vorwarnung kam einer der Bankräuber aus dem
Gebäude. Vor sich her stieß er eine Frau, die er an der Kehle
gepackt hatte und der er einen Pistolenlauf gegen die Schläfe
drückte. Die Frau schrie vor Angst auf, als sie die vielen auf sie
gerichteten Waffen sah. »Lassen Sie die Geisel los, dann werden
wir uns schon einigen. Machen Sie Ihre Lage doch nicht noch
schlimmer, als sie ohnehin schon ist!«, rief der
Verhandlungsführer.
Wenn sich diese Szene auf dem Fernsehbildschirm abgespielt
hätte, dann hätte Christina zweifellos einen anderen Sender
eingeschaltet. Jetzt aber saß sie wie erstarrt da. Das kann doch
einfach nicht gut gehen. Nie im Leben kommen die lebend da
raus, dachte sie entsetzt.
Diese vielen Waffen. Die Spannung, die Angst und die
Nervosität. Eine unvorsichtige Bewegung, und dann könnte alles
passieren.
Jetzt kam auch der zweite Bankräuber zum Vorschein.
Offenbar hatte die Filiale nicht besonders viel Bargeld
aufbewahrt – die Tasche, die über seiner Schulter hing, sah
jedenfalls fast leer aus. Er schwenkte drohend etwas, das
Christina für eine Automatikwaffe hielt. Plötzlich ging ihr auf,
dass sie auf ihrem Balkon vielleicht doch nicht so geschützt war,
wie sie geglaubt hatte. Trotzdem beugte sie sich vor, um ja
nichts zu verpassen.
16
Brüllend stieß der Bankräuber seine Geisel auf einen
Streifenwagen zu. Er schien außer sich vor Angst zu sein.
Hatten sie denn kein Fluchtfahrzeug? Die Frau stolperte und
entglitt seinem Zugriff. Ein Schuss dröhnte. Gefolgt von zwei
Sekunden erstarrten Schweigens, dann hallten zwischen den
Fassaden wütende Kommandorufe wider. Ein Moment des
Chaos und der Verwirrung. Die beiden Bankräuber und ein
Polizist lagen blutend in einem Inferno aus Lärm und Furcht da.
Die Geisel lehnte sich an einen Mann, der ihr unbeholfen den
Rücken streichelte. Vielleicht war es ihr Mann. In der Ferne
waren die Sirenen von Krankenwagen zu hören. Irgendwer riss
den Bankräubern die Mützen vom Kopf und entblößte ihre
Gesichter. Christina rang um Atem. Großer Gott. Das waren
doch Kinder. Sie waren nicht älter, als Sebastian gewesen war.
Die Abendnachrichten berichteten ausführlich über den
Banküberfall. Alle Welt schien diese Vorfälle kommentieren zu
wollen. Am meisten kam der verletzte Polizist zu Wort. Mit
allem Recht. Er war schließlich der Held des Tages. Einer der
Bankräuber, der neunzehnjährige Henrik Johansson, war auf der
Fahrt zum Krankenhaus gestorben. Der andere, dessen Name
aus irgendeinem Grund nicht bekannt gegeben wurde, hatte nur
leichtere Schussverletzungen davongetragen, hieß es. Christina
fühlte sich von ihren Gewissensbissen wie vernichtet. Wenn sie
sich nicht eingemischt hätte, wäre die Polizei nicht gekommen.
Und dann hätte es keinen Schusswechsel gegeben. Die Jungen
wären mit der Beute entkommen und hätten sich vermutlich
früher oder später verraten. Und dann wären sie festgenommen
worden, aber niemand wäre zu Schaden gekommen. Henrik
würde noch leben. Seine Mutter hätte ihren Sohn nicht verloren.
Die arme Frau.
Der Gedanke an Henrik Johansson ließ ihr keine Ruhe mehr.
Gierig las Christina alles, was über den Banküberfall
geschrieben wurde. Doch schon nach zwei Tagen war der
Vorfall Schnee von gestern und wurde als kurze Notiz ganz
17
hinten in die Zeitung verbannt. Und durch solch eine kleine
Notiz erfuhr sie, wann die Beerdigung stattfinden würde. Sie
spürte, dass sie einfach hingehen musste.
Die Kapelle war voll besetzt und mit jungen Birkenzweigen
schön geschmückt. Der Sarg war weiß. Der erste Choral, der
gesungen wurde, hieß: »Jetzt ist die Blütenzeit gekommen.«
Eine Blütenzeit, die Henrik in dieser Welt nicht erleben würde,
wohl aber im Himmelreich, wie der Geistliche freundlich
verkündete. Denn auch die, die in ihrer jugendlichen Torheit
einen Fehler begangen und gesündigt haben, sind in Gottes
Reich willkommen.
Nach der Trauerfeier versammelten sich alle vor der Kapelle.
Dort umdrängten sie Eltern und Geschwister in traurigen
Gruppen. Jugendliche, die einander umarmten und zu trösten
versuchten. Ob die in Henriks Klasse gegangen waren? In
einigen Tagen hätte er Abitur gemacht. Was hatte ihn zu dieser
sinnlosen Tat veranlasst? Einen bisher nicht vorbestraften
Jungen. Christina hatte gelesen, dass die Jungen die Waffen in
einem Militärdepot gefunden hatten. Ein wahnwitziger Impuls
hatte ihr Leben ruiniert. Eine kindische Fantasie über einen
Luxussommer in Europa war ihnen plötzlich zum Greifen nahe
erschienen.
Was Christina überraschte, war die Haltung der Mutter. Trotz
ihres tiefen Kummers strahlte sie ungebeugten Stolz aus. Sie
schämte sich nicht. Sie wusste, dass sie ihr Bestes gegeben hatte,
und deshalb war es nicht ihre Schuld, dass es so endete.
Christina wusste nicht, ob sie sich in der Schlange der
Kondolierenden anstellen sollte. Was hätte sie sagen sollen?
»Ich saß gerade auf meinem Balkon und habe gesehen, wie Ihr
Sohn erschossen worden ist. Ich war das, die die Polizei
angerufen hat. Im Grunde ist also alles meine Schuld. Können
Sie mir verzeihen?« Unmöglich. Wie hätte sie ihre Schuld
erklären sollen? Sie drehte den Trauernden den Rücken zu und
machte sich auf den Weg zu ihrem Auto. Auf halbem Weg blieb
18
sie stehen, kehrte um und ging zurück. Die Trauergemeinde war
kleiner geworden. Sie waren schon unterwegs zum Café. Für
einen kurzen Moment stand die Mutter allein da. Isoliert in ihrer
Verzweiflung. Das Vakuum, das sie umgab, war zum Anfassen
kompakt. Christina fing ihren Blick ein und sah ein Spiegelbild
ihrer Selbst.
Wie hypnotisiert nahm sie die Hand der Frau und sagte: »Es
tut mir so Leid für Sie. Auch ich habe erst kürzlich meinen Sohn
verloren. Er war so alt wie Ihrer. Wenn ich Ihnen irgendwie
helfen kann, dann würde ich das so gern tun.«
Die Worte kamen ganz von selbst. Tief in den Augen der Frau
glaubte sie einen Funken der Hoffnung zu erkennen.
»Erzählen Sie mir, wie man die Trauer überlebt.«
»Sprechen Sie darüber. Ich glaube, man muss über seine
Trauer sprechen können, wenn man weiterleben will«, sagte
Christina voller Überzeugung. In dem Moment, in dem sie diese
Worte aussprach, wusste sie, dass sie sich selbst erlösen musste
indem sie anfing, über Sebastian zu sprechen. Er war so
unendlich viel mehr wert, als sie ihm in den letzten Jahren
gegeben hatte. Sie hatte kein Recht, die Erinnerung an ihn zu
verschweigen.
19
Knud und der Kater
Ditte Birkemose
Knud saß wie immer vor dem Fernseher im Sessel. Der Sessel
war schon seit vielen Jahren speckig und zerschlissen, aber von
einem neuen wollte er nichts hören, obwohl sie doch die
Ledermöbel ihres Vaters geerbt hatten. Die standen in der
Abstellkammer. Mit einem gereizten Ausruf ließ sie die
Strümpfe in die Waschschüssel sinken, wischte sich die Hände
an einem Geschirrtuch ab und griff zum Kessel. Es war kurz vor
sieben, gleich würden die Fernsehnachrichten beginnen, und er
wollte seinen Kaffee. An diesem Tag war er schlechter Laune.
Es hatte Spaghetti gegeben.
Seit er in Rente gegangen war, hatte er das Leben für sie
unerträglich gemacht. Er setzte nur selten einen Fuß vors Haus;
meistens saß er im Sessel und gab vor, die Zeitung zu lesen,
während er sie in Wirklichkeit so beobachtete, dass es ihr nur
noch unangenehm war und sie erst kürzlich beim Staubwischen
fast die Vase von der Fensterbank geworfen hätte. Deshalb
empfand sie es als Erleichterung, dass er zweimal pro Woche in
seinen Dartsverein ging und sie sich in dieser Zeit ganz normal
verhalten konnte.
Während sie darauf wartete, dass das Wasser kochte, räumte
sie das Geschirr in den Schrank, legte den Wischlappen in
Chlorwasser und öffnete das Küchenfenster. Unten auf dem
Hofplatz flickte Egon Sørensen das Fahrrad seines Enkels. Eines
schmächtigen kleinen Jungen, nicht besonders hübsch und
immer mit zerschrammten Knien, weil er auf seinen dünnen
Storchenbeinen davonstakste und über jeden Strohhalm
stolperte. Vielleicht stimmte in seinem Kopf etwas nicht, er
lachte auch mehr, als er redete, aber was wusste denn sie. Ihr
konnte es ja auch egal sein, aber die anderen aus der
20
Nachbarschaft wollten nicht mit ihm spielen. Kinder waren eben
so, sie schienen Probleme zu wittern, wie die Tiere, die dann
ihre Jungen aus dem Nest stießen. Sie hatte keine Kinder. Knud
hatte keine gewollt. »Es gibt ohnehin schon Idioten genug auf
der Welt«, hatte er immer gesagt. Vor sechsundzwanzig Jahren
hatte sie auf seinen Wunsch hin eine Abtreibung vornehmen
lassen, sie hatte sich einfach nicht wehren können. Eine
verdammte Idiotin, das war sie gewesen. Eine verdammte
Idiotin. Wütend kratzte sie sich am Arm. Monatelang hatte die
Leere an ihr gezehrt, er aber war wie immer gewesen, hatte
gelacht und geredet, als sei nichts passiert. Und jetzt war es zu
spät, das war es schon lange. Sie nahm die Kaffeedose aus dem
Schrank. Vor acht Jahren hatte sie dann die Katze bekommen.
Einen kleinen schwarzen Kater, den sie Sofus genannt hatte. Das
sei kein Name für einen Kater, hatte er gesagt, aber sie hatte
nicht darauf geachtet, sollte er doch sagen, was er wollte. Schon
am ersten Abend legte Sofus sich auf ihren Schoß und war
weich und warm und fühlte sich wunderbar an. Und seither
schlief er bei ihr. Jede Nacht. Knud mochte das Tier nicht, sagte
aber nichts, seine Haltung strahlte es einfach aus. Wenn sie
abends mit Sofus auf dem Schoß dasaß, glotzte Knud sie wütend
an und schien sie für schwachsinnig oder für noch Schlimmeres
zu halten. Aber sie hatte ihn durchschaut. Er war eifersüchtig.
Saß da in seinem verdreckten Unterhemd und glotzte und war
eifersüchtig. Und als der Kater größer wurde, entdeckte sie, dass
Knud sich vor ihm fürchtete. Er hatte echte Angst, wie andere
vor Spinnen, nur fürchtete Knud sich eben nicht vor Spinnen,
sondern vor dem Kater. Das fand sie lustig. Manchmal freute sie
sich fast darüber. Vor allem dann, wenn Sofus vor Knud saß und
ihn aus seinen gelben Augen anstarrte und mit seinem
glänzenden Fell und seinen großen Pfoten aussah wie ein
Raubtier. Trotzdem wollte Knud den großen Tierfreund spielen,
wenn auch nur dann, wenn sie Gäste hatten, was nicht oft
vorkam. Dann aber war er zu heftig, der Kater fauchte ihn an,
21
und Knud war wütend, weil Sofus ihm nicht gehorchte. Aber so
war das eben mit Katzen.
Er glotzte den Fernseher an und grunzte irgendetwas, das sicher
»danke« bedeuten sollte, als sie das Tablett mit Kaffee und
Plätzchen vor ihn hinstellte.
Sie öffnete ein Fenster, da es nach Zigarrenrauch und alten
Socken stank, aber er hasste frische Luft, zumindest in der
Wohnung. Sie zupfte ein verwelktes Blatt von einer Topfblume,
lugte verstohlen zu ihm hinüber und wartete. Dann kam es.
»Es zieht«, bellte er und schlürfte Kaffee.
»Hier muss aber gelüftet werden.« Sie öffnete auch das
Fenster im Erker, verließ das Wohnzimmer und ging zurück in
die Küche. Dort blieb sie vor der Tür stehen und horchte. Sie
hörte, wie er sich aus dem Sessel erhob und zuerst das eine,
dann das andere Fenster unter lautem Fluchen zuknallte. Sie
kicherte und brauchte ihn nicht anzusehen, um zu wissen, wie er
jetzt aussah. Wütend und unzufrieden wie immer, wenn er nicht
seinen Willen bekam. Das lag einfach an ihm, auch wenn er es
in jungen Jahren besser getarnt hatte, jedenfalls zu Anfang. Mit
der Zeit hatte sie ihn dann besser kennen gelernt. Wenn ihm
irgendetwas nicht passte, wenn sie sich weigerte, mit ihm
zusammen »Mittagsschlaf« zu halten oder so, wurde er stumm
und abweisend, ganz, als ob ihr das nicht schon seit langer Zeit
egal wäre. Für wen hielt er sich eigentlich?
Sie wrang die Strümpfe aus und wollte sie schon über dem
französischen Balkon zum Trocknen aufhängen, überlegte es
sich dann aber anders, ging ins Badezimmer, trat vor das
Waschbecken und musterte ihr Spiegelbild. Sie sah jetzt alt und
verhärmt aus, das stand fest, egal, wie hübsch und adrett sie sich
auch kleiden mochte. Ihr Körper war nun einmal so, wie er eben
war. Alt und verhärmt. Aber das konnte ja auch egal sein. Für
wen hätte sie sich schön machen sollen? Für ihn vielleicht …?!
22
Dann richtete sie sich auf und strich ihre Schürze glatt. Früher
hatte sie einmal recht gut ausgesehen. Natürlich war sie keine
Schönheit gewesen, aber ja, sie hatte gut ausgesehen. Und Knud
… Als sie ihn kennen gelernt hatte, hatte er in einem Lager
gearbeitet, als Leiter, wie er sich nannte, und sie hatte sich sofort
in ihn verliebt, das ging fast allen ihren Freundinnen so. Vor
allem der Roten Lise, doch die war nicht sein Typ, denn sie war
zu schlagfertig, auch wenn sie fesch aussah und genug Holz vor
der Hütte hatte, wie man damals sagte, aber das hatte er sich
wohl später noch zunutze gemacht, als sie innerlich ganz leer
geworden war und nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte.
Damals war Knud ein hoch gewachsener dunkelhaariger Mann
mit braunen Augen gewesen, von deren Blick ihr wirklich
schwindlig werden konnte, aber da war sie offenbar nicht die
Einzige. Mit den Jahren schien er mehr und mehr in sich
zusammenzusinken, es ließ sich nicht leugnen, er sah jetzt dick
und vierschrötig aus. Und vor allem langweilig. Aber ihr war
das egal, auch wenn sie manchmal staunen konnte: Früher war
er doch anders gewesen, von der Sorte, die nicht auf Bäumen
wächst. Erst nach ihrer Heirat hatte sie erkannt, dass er Kinder
nicht ausstehen konnte. Anfangs hatte sie mit ihren Freundinnen
darüber gesprochen, und alle meinten, er werde sich an den
Gedanken schon noch gewöhnen, viele Männer reagierten zuerst
so. Jetzt sprach sie mit keiner mehr. Weder darüber noch über
andere Dinge.
Er rief. Ob im Kühlschrank noch kaltes Bier sei. Heb doch
deinen fetten Hintern hoch und sieh selber nach, dachte sie und
verließ das Badezimmer.
In der Küche sah sie den leeren Fressnapf des Katers, sie hatte
es einfach nicht über sich gebracht, den wegzuwerfen. Und jetzt
stand er nutzlos in der Ecke. Wie hatte er das über sich
gebracht? Sie öffnete den Kühlschrank und nahm ein Bier
heraus, Rotes Tuborg, wie immer. Wie hatte er es über sich
gebracht?!
23
Sie erinnerte sich an ihre Hochzeitsreise nach Österreich.
Damals hatte er sie jeden Morgen mit einem kleinen Geschenk
geweckt, einer Flasche Parfüm, einer Creme, und dann der
goldenen Kette, die sie noch immer um den Hals trug. Er hatte
sich wirklich um sie bemüht, anders konnte man das nicht
ausdrücken. Aber er hatte immer etwas zurückgehalten, sie
wusste nicht, was, aber es hatte sie traurig gemacht, vor allem in
den ersten Jahren, wenn sie ihm sagte: »Ich liebe dich«, und er
sich dann schlafend stellte oder einfach antwortete: »ebenfalls«.
War so eine Antwort möglich? Liebte er vielleicht sich selbst,
denn das musste er doch meinen, wenn er »ebenfalls« sagte,
oder was?
Wieder rief er.
»Ich komm ja schon«, murmelte sie.
Er packte die Fernbedienung und schaltete den Fernseher aus.
Dann erhob er sich, reckte die Arme und gähnte. Sie stellte das
Bier auf den Tisch und gab sich alle Mühe, ihn nicht anzusehen,
es würde ja doch nichts ändern, und wozu sollte es auch gut
sein! Sie wusste es schon, kannte ihn in- und auswendig, und
wenn nicht sie, wer denn dann! Bald würde er die Tür zum
französischen Balkon öffnen, sein Bier trinken und hinunter auf
die Straße blicken. Autos und junge Mädchen anstarren. Das
war seine Vorstellung von Freizeitgestaltung.
Ihr fiel auf, dass die Vorhänge gewaschen werden müssten,
denn oben am Fensterrahmen hing ein Spinngewebe, und
deshalb ging sie in die Küche, setzte sich an den Tisch und
starrte Löcher in die Luft. Sie hatte nämlich ihren Entschluss
gefasst, als ihr das Verschwinden des Katers aufgefallen war.
Sie wusste nicht, wie, aber sie hasste ihn, und das reichte. Es
war ein Samstag, sie war in der Stadt gewesen, hatte gelbe
Erbsen und sowohl frischen als auch geräucherten Speck
gekauft, und einen Schnaps hatte es auch gegeben. Als sie nach
Hause kam, war der Kater verschwunden. Knud hatte gesagt, er
sei sicher aus dem Fenster gekrochen und über die Dachrinne
24
weitergelaufen. Um sich danach in Luft aufzulösen. Sie
widersprach energisch. Was war das für ein Unfug, warum hätte
Sofus das tun sollen? Er war daran gewöhnt, dass das Fenster
offen stand … Knud hatte sie blöde angeglotzt und mit den
Schultern gezuckt. Er hatte doch keine Ahnung von Katzen!
Sie hatte überall gesucht, im Keller und im Hinterhof, aber
niemand hatte Sofus gesehen. Am Ende war ihr dann
aufgegangen, dass Knud es gewesen war. Sie hatte keine
Ahnung, was er gemacht hatte, aber er war daran schuld, dass
der Kater verschwunden war, daran bestand kein Zweifel. Es
hätte sie gar nicht gewundert, wenn er ihn vergiftet und dann
irgendwo draußen verscharrt hätte. Trotzdem ließ sie sich nichts
anmerken und schwieg. Für den restlichen Tag war er ganz
normal, und sie verbarg ihren Ekel, als er ihre Wange
streichelte, was er sonst nie tat. Sie ging früh ins Bett und weinte
sich in den Schlaf.
Aber sie hätte die Sache nie geklärt, wenn sie nicht am nächsten
Morgen entdeckt hätte, dass das Gitter des französischen
Balkons auf der einen Seite locker saß. Sofort fiel ihr ein Film
ein den sie irgendwann im Fernsehen gesehen hatte, mit Harvey
Keitel oder vielleicht auch mit einem anderen, aber dann wusste
sie den Namen nicht mehr. Es passierte ganz zufällig, als sie ihre
Bettdecke auslüften wollte, weil die Fenster immer geschlossen
waren und sie schwitzte. Knud lag schnarchend im Bett, wie das
so seine Art war, so oft sie ihn auch bat, sich auf die Seite zu
drehen, weil sie nicht einschlafen konnte, sondern fast die ganze
Nacht hindurch wach lag. Sie untersuchte das Gitter und konnte
den Gedanken nicht unterdrücken, dass es mit irgendeinem
Werkzeug und etwas Kraft doch möglich sein müsste. Anfangs
war es fast eine Art Spiel gewesen, aber sie merkte doch, dass es
nach und nach ernst wurde, denn das Herz hämmerte in ihrer
Brust, fast wie damals, als sie den Film gesehen hatte, und es
war auf irgendeine Weise mindestens ebenso spannend.
25
Am Mittwoch, Knuds Vereinsabend, hatte sie viel zu tun, es
machte wirklich gewaltige Mühe, aber sie war doch fertig, als er
nach Hause kam, und sie dachte, das war wirklich um
Haaresbreite, und über diesen Ausdruck musste sie lachen – um
Haaresbreite.
Er hatte ein wenig gestaunt, als sie ihn mit Tee und Käsebroten
erwartete. Wenn er nur anders gewesen wäre. Aber er war
ziemlich angetrunken und wollte keine »Teeplörre«, wie er das
nannte. Und dann dachte sie, er habe es eben so gewollt. Wenn
er den Kater nicht umgebracht hätte, wenn er freundlich mit ihr
geredet hätte, dann vielleicht …
Vom Wohnzimmer her hörte sie ein Gebrüll. Sie atmete
erleichtert auf und erhob sich. Jetzt war es überstanden.
Das Gitter hing vor der Mauer nach unten. Vorsichtig trat sie
näher und hielt den Atem an. Blut strömte aus seinem Kopf auf
die Straße. Er lag mit dem Gesicht nach unten da, wie im Film,
war das Harvey Keitel gewesen oder dieser andere … sie
erstarrte. Nahm eine Bewegung wahr, auf der Straße, ein Stück
von ihm entfernt. Wie einen kleinen schwarzen Schatten … und
dann stürzte sie zum Erkerfenster, riss es auf und beugte sich
hinaus. Es war Sofus!!!
Der Kater blieb stehen und setzte sich nur einen Meter von
Knud entfernt hin. Sofus schien zu ihr hochzuschauen.
»Dummes Tier«, murmelte sie liebevoll. »Dummes, dummes
Tier.« Die Tränen liefen ihr über die Wangen, der Knoten in
ihrer Brust löste sich, und jetzt weinte sie laut vor Freude. Sie
wischte sich mit der Schürze die Augen. Gott sei Dank …
26
Das Klassentreffen
Toril Brekke
»Das kann doch nicht sein!«, rief Kitt.
Ihre Hand, die den Brief hielt, zitterte.
»Wir sind zu einem Klassentreffen eingeladen, die ganze
Grundschulklasse. Und die Einladung kommt von Sol.«
»Von wem denn sonst«, murmelte Morgan. »Wer könnte denn
sonst auf eine dermaßen hirnrissige Idee kommen?«
»Der Engel Helle«, erwiderte Kitt trocken.
Es war vierzig Jahre her. Damals waren sie vierzehn gewesen,
mit fettigen Haaren und Pickeln. Kitt und Morgan waren als
Einzige in ihrer Heimatstadt an der Küste geblieben. Zwei
Jungen waren zur See gegangen, einer war Pilot bei der SAS,
ohne das ewige Hin und Her zwischen den Erdteilen schienen
sie nicht leben zu können. Ein Mädchen war Diplomatin
geworden, zuletzt hatten sie von ihr gehört, als sie nach Harare
versetzt worden war. Ansonsten konnten sie einen Busfahrer in
der Hauptstadt aufweisen, eine Bauersfrau im Norden, einen
Ingenieur bei einer englischen Firma und einen Tontechniker
beim Rundfunk. Es kam ja vor, dass Kitt und Morgan
irgendwelche Eltern trafen, da sie ja noch in dieser Stadt lebten,
und dass sie ein wenig plauderten und Neuigkeiten erfuhren.
Deshalb wussten sie, dass Helle einen Firmenchef aus der
Segelbranche geheiratet hatte. Von Sol dagegen hatten sie keine
Ahnung. Sols Familie hatte in der Stadt nur eine Brandruine
hinterlassen. Fast vierzig Jahre lang hatte sich auf dem
Grundstück die Wildnis ausbreiten können. Am Ende hatte es
ausgesehen wie ein zwischen den anderen Villen in der Straße
eingeklemmtes Stück Dschungel.
27
Jetzt war der Dschungel verschwunden. An seine Stelle waren
Rasenflächen und Blumenbeete, frisch gepflanzte Obstbäume
und Sträucher getreten. Monatelang waren dort Baumaschinen
und Bauarbeiter am Werk gewesen.
Das neue Haus hatte keine Ähnlichkeit mit dem alten. Früher
hatte hier ein zweistöckiges gelbes Holzhaus im Schweizer Stil
gestanden. Das neue Haus war ein Bungalow mit weiter
Grundfläche und hinten einem kleinen Anbau, es war weiß und
hatte rosa Fensterrahmen. Das Grundstück lag zwischen zwei
Parallelstraßen, und während die alte Auffahrt im Westen des
Hauses gelegen hatte, hatten sie die neue in den Osten verlegt.
Auf diese Weise hatte sie doch das Gefühl, an einem ganz
neuen Ort zu wohnen, das hatte Sol zufrieden überlegt. Und die
Rückkehr hatte sie wirklich glücklich gemacht. Wie ein
fröhliches junges Mädchen hatte sie Waldemar durch die
Straßen und den Hafen geführt. Er war doch noch nie hier
gewesen.
Und wie erwartungsvoll hatte sie sich mit Papier und
Kugelschreiber hingesetzt, um die Namen von fünfundzwanzig
Mitschülerinnen und Mitschülern aufzuschreiben. Sie hatte
unfertige, junge Gesichter vor sich gesehen. Leuchtende Augen
unter Strickmützen. Knochige, zerschrammte Knie.
Der Junge mit den knochigen Knien hatte Morgan geheißen.
Sol war einmal mit ihm und seinen Eltern Beeren pflücken
gegangen. Sie hatten Eimer mit Blaubeeren gefüllt und an einem
kleinen Waldsee Würstchen gebraten. Das Mädchengesicht
unter der roten Mütze hatte einer gewissen Kitt gehört. Einmal
hatten sie zusammen ein Schneehäuschen gebaut und eine Kerze
hineingestellt. Sol konnte sich noch an das rosa Licht der
Flamme erinnern, das durch den Schnee zu sehen gewesen war.
Idylle.
Und sie hatte notiert: Morgan, Sol, Kitt. Der Rest war
mechanisch gefolgt, wie ein Wissen, das viele Jahre hindurch
28
geschlummert hatte. Sechsundzwanzig Jahre lang. Bei ihrer
Einschulung waren noch zwei andere dabei gewesen, aber die
waren unterwegs verschwunden.
Idylle. Die hing zusammen mit dem Duft der Rosen im Garten
ihres Elternhauses. Und der Erinnerung an die Schaukel, die an
einem dicken Ast der Eiche hinter dem Haus hing. Und dem
Gesicht ihrer Großmutter, die ihr durch das Fenster zurief:
»Hallo, Herzchen, hattest du einen schönen Tag?«
Alles stieg in Sol auf, der Duft der Waffeln mit frischer
Erdbeermarmelade, das Gefühl der weichen Schnauze eines
kleinen Pudels an ihrer Hand. Omas Waffeln. Omas Pudel.
Die Großmutter war in dem Frühling gestorben, in dem sie die
Grundschule beendet hatte, dem Frühling, in dem Sol vierzehn
wurde. Die Großmutter war in derselben Nacht gestorben wie
der Pudel, zusammen mit Sols Vater und ihrem kleinen Bruder.
Es war wie ein Fingerzeig Gottes gewesen. Das Feuer. Der
Tod. Wie ein Schwertstreich Gottes: das jähe Ende des Lebens
in der Hafenstadt. Der Umzug, das neue Leben an einem
anderen Ort. Es hatte nur noch Sol und ihre Mutter gegeben, und
sie hatten nicht zurückgeblickt. Dazu waren sie erst später in der
Lage gewesen. Und das, was sie dann gesehen hatten, war das,
was Sol auch jetzt einfiel. Die Waffeln. Die Schaukel.
Die Adresse, an der das Klassentreffen stattfinden sollte, hatte
Kitt und Morgan stutzen lassen. Deshalb waren sie einige
Wochen vorher mit dem Rad ans andere Ende der Stadt
gefahren. Und sie hatten den Bungalow zwischen den
Parallelstraßen liegen sehen. Und das Schild neben der Tür des
Anbaus: Sol Vatne. Psychologin.
Morgan lachte laut. »Meine Rede. Die Leute studieren
Psychologie, um ihre eigenen Traumata in den Griff zu
bekommen!«
»Dann hätten wir allesamt Psychologie studieren müssen«,
29
erwiderte Kitt trocken.
Sie war ebenfalls Psychologin. Und sie hatte unendlich viel
Zeit gebraucht, um die sieben Grundschuljahre zu bearbeiten
und zu begreifen. Es hatte drei Haupträtsel gegeben: Helle, Sol
und die anderen. Und es hatte schon am allerersten Tag
angefangen, als sie das Klassenzimmer betraten und als die
Lehrerin auf die Tafel zeigte. »Wer lesen kann, was hier steht,
soll aufzeigen«, hatte sie gesagt. Sol hatte aufgezeigt. Helle
hatte laut und glücklich gerufen: »Willkommen!«
Aber die Freude darüber, diejenige zu sein, die laut und richtig
rufen konnte, erlosch, als die Lehrerin vorwurfsvoll den Kopf
schüttelte und sich an Sol wandte: »Sag du es, Liebes, wo du
doch so brav aufgezeigt hast!«
Ob wohl alles anders gekommen wäre, wenn das nicht passiert
wäre?
Kitt sah sie vor sich. Helle, sieben Jahre alt. Einen kleinen
Menschen in rosa Rock und Sandalen. Mit knallblauen Augen
und einem von goldenen Engelslocken umrahmten Gesicht. Eine
kleine Prinzessin.
Ihr Vater hatte im Werk gearbeitet. Er hatte seine Tochter
angebetet. Das hatten wohl beide Eltern getan. Und Helle hatte
zwei ältere Brüder, die sie wie ein Maskottchen in der Stadt
herumschleppten.
Sie war also ein geliebtes Kind gewesen. Und vermutlich der
Mittelpunkt ihrer Familie. In erwachsenem Alter hatte Kitt sich
vorgestellt, wie Helles demütigender erster Schultag
weitergegangen war. Sie hatte die erbosten Stimmen gehört,
eine Mutter, einen Vater und zwei Brüder, die die Gefallene
aufhoben. Die Mutter war ja dabei gewesen, schließlich
drängten sich am ersten Schultag in allen Klassenzimmern
hinten die Eltern. Und sie hatten gespottet: »Schule! Pauker!
Snobs! Furien!« Und sie hatten gesagt: »Aber du wirst es ihnen
zeigen, Helle. Du bist schließlich tüchtiger als alle anderen.
30
Niemand wird auf einer von uns herumtrampeln. Und schon gar
nicht die Tochter des Oberlehrers!«
Am nächsten Tag hatte Helle ein Sprungseil mit in die Schule
gebracht. Alle, die Lust hatten, durften springen. Helle schlug
das Seil, zusammen mit irgendeiner anderen. Und immer, wenn
Sol sprang, hatte Helle das Seil gespannt, sodass Sol hängen
blieb.
»So eine ungeschickte Person kann nicht mitmachen, das
musst du doch einsehen«, urteilte Helle. »Vielleicht hast du zu
große Füße!«
Auf diese Weise wurde die Tochter des Oberlehrers zu Sol mit
den großen Füßen. Bald war sie außerdem das Goldkind und die
Schleimepuppe. Zwischendurch war sie das blöde Mondgesicht.
Und das alles hatte Helle mit überaus vernünftiger, altkluger
Stimme erklärt, wie eine Aufzählung von Tatsachen: »Wir
wollen mit keiner Schleimerin zusammen sein, das musst du
doch einsehen.«
»Aber ich schleime doch gar nicht«, protestierte Sol. »Ich
kenne die Lehrerin eben. Ich kenne sie schon lange.«
»Hilft nichts«, sagte Helle. »Man darf keine Lehrerin haben,
die man schon lange kennt. Dann muss man eben auf eine
andere Schule gehen. Alles andere wäre ungerecht.«
»Aber so weit kann sie doch nicht laufen«, hatte eine andere
eingewandt.
Hanne vielleicht?
Die dafür bald bestraft worden war, das fiel Kitt jetzt ein.
Die altkluge, entschiedene Stimme tauchte vor Sols innerem Ohr
auf, als sie in ihrem Bungalow saß und sich das Menü
ausdachte. »Hanne ist leider ein wenig übergewichtig. Das liegt
sicher an dem seltsamen Proviant, den sie in die Schule
mitbringt.«
31
Und die kleine Besitzerin dieser Stimme tauchte in ihrer
ganzen reizenden Erscheinung vor ihr auf. Die Prinzessin. Der
Engel, so hatten sie sie genannt.
So eine gibt es in fast allen Klassen, das wusste die
Psychologin Sol. Eine Schülerin, die deutlicher ist als die
anderen. Schöner. Tüchtiger. Dominant. Dominanz muss nicht
unbedingt negativ sein. Sie kann andere einbeziehen und
freigebig sein, verbunden mit positiver Aktivität.
Sie ließ die altkluge Stimme noch einmal ablaufen: Hanne ist
leider ein wenig übergewichtig. Das liegt sicher …
Sie hatte das Gefühl, die Tür zu einem Guckkasten zu öffnen
und eine Schwelle zu überschreiten. Sol spürte die Sonne, die
ihre bloßen Arme auf dem Weg zwischen Neubausiedlung und
Schulhof wärmte, sie nahm den bitteren Geruch des Ackersenfs
am Wegrand wahr, und sie sah Helle mit den Engelshaaren, die
fragte:
»Was hast du eigentlich auf deinem Brot, Hanne? Das sieht
doch komisch aus.«
»Euter.«
»So was können Menschen doch nicht essen! Überleg doch
bloß, wo es herstammt!«
Dann tauchte vor Sol ein trauriges Jungengesicht auf. Der
Junge hieß Ragnar und hatte beim Schulorchester Trompete
gespielt, bis der Engel ihn davon abgebracht hatte.
»Ich glaube eigentlich, dass du in kein Orchester gehörst«,
hatte sie gesagt.
»Wieso nicht?«
»Du spielst so langsam. In einem Orchester müssen alle gleich
schnell spielen, weißt du.«
Sol lächelte. Es hatte doch gestimmt! Irgendwer war immer
hinter den anderen hergezockelt, es war eine Qual für alle
gewesen. Der Dirigent hatte geschimpft und wütend seinen
32
Taktstock geschwenkt, aber wer eingegriffen hatte, war Helle.
Sie hatte den Schuldigen ermittelt und ihm die Leviten gelesen.
Was wohl aus ihr geworden ist, überlegte Sol, als sie in ihrem
neuen Haus am Computer saß und die Einladung schrieb.
Politikerin vielleicht? Aber nicht auf Landesbasis, das hätte sie
doch gewusst.
In der folgenden Nacht träumte Sol von einem Kuss. Es war
Winter, und sie lief mit einem großen, dunklen Jungen durch
den Schnee. Er hieß Karl-Erik. In der siebten Klasse hatten sie
nebeneinander gesessen. Er hatte dunkle Locken und einen
langen Schal. Dann küssten sie sich, unter einem verschneiten
Baum. Und Karl-Erik hatte ihnen beiden den langen Schal um
den Hals gewickelt. Am nächsten Morgen rannte sie zur Schule,
um ihn zu sehen, um vielleicht auf dem Schulhof seine Hand zu
halten. Doch als sie ihn entdeckte, schaute er in eine andere
Richtung. Er war beschäftigt. Er spazierte Arm in Arm mit dem
Engel über den Schulhof. Im Traum erinnerte Sol sich daran,
wie ihre Enttäuschung in Resignation umgeschlagen war, denn
wenn der Engel einen Jungen wollte, dann hatte keine andere
eine Chance …
War es so gewesen?
Ja, sicher, dachte sie am nächsten Morgen überrascht. Sie hatte
es einfach vergessen. Die ganze Kindheit befand sich hinter
einer Wand. Einer Wand aus Flammen. Sie hatte sie nicht für
wichtig gehalten, in ihrer Selbsttherapie. Sie hatte sich auf den
Brand konzentriert.
Eine kleine Psychopathin, zu diesem Ergebnis war Kitt
gekommen. Ein infernaler kleiner Machtmensch, mit niedlichen
Kleidern in Rosa und Pastell. Freundlich und munter hatte sie
sie alle gelenkt, hatte sie weggeschoben und zu sich gelockt,
hatte gesagt, was ihr passte, hatte verurteilt und gleichsam gute
Ratschläge erteilt. Sie hatte Freund gegen Freund aufgestachelt,
Gruppe gegen Gruppe. Sie hatte sie dazu gebracht, einander zu
33
quälen, einander aufzuziehen, einander sogar Schmerz
zuzufügen. Und meistens war das unter dem Vorwand
irgendeines Wettbewerbs geschehen.
Kitt erinnerte sich an Geheul und Geschrei, an Weinen und
Streit. Helle hatte sich nie gestritten. Sie hatte nur selten die
Stimme gehoben. Sie hatte nur ihre Meinung gesagt, freundlich
und bestimmt. Sie hatte sich nicht am Wettbewerb beteiligt, sie
hatte ihn ausgerufen und als Schiedsrichterin fungiert.
Kitt erinnerte sich an Sols neugierige Miene, als zwei Jungen
einen dritten gezwungen hatten, aus einer am Wegrand
gefundenen Flasche zu trinken. Und ihren forschenden Blick, als
sie einen Wurf kleiner Katzen zu Tode gequält hatten. Einige
andere hatten sich erbrochen. Helle nicht.
Jetzt sind wir erwachsen, dachte Sol. Für einen Moment ging in
ihr auf, dass sie mit dem Klassentreffen vielleicht einen
Hintergedanken verband, mehr als nur die Überlegung, dass es
nett sein könnte, alte Bekannte wiederzutreffen. Vielleicht hatte
sie gehofft, die Leerstellen in ihrer Erinnerung zu füllen.
Dann kam der Tag. Es war ein schöner Spätsommertag. Eine
ihrer Töchter stand mit einem Tablett mit dem
Willkommensdrink bereit, die beiden anderen waren mit
Kochen beschäftigt. Die Gastgeberin selbst empfing die Gäste
gleich am Tor, sie trug eine gelbe Bluse über einem weinroten
Rock.
Bald kam das erste Taxi, gleich darauf noch zwei. Fremde
Menschen stiegen aus, Menschen mittleren Alters, die sich fein
gemacht hatten.
»Ach, wie schön, dich zu sehen!«
»Bist du das wirklich, Sol? Wie gut du aussiehst!«
»Danke gleichfalls.«
»Und dass du uns alle gefunden hast …«
34
»Das war gar nicht einfach. Das Einwohnermeldeamt hat
Wochen gebraucht …«
»Ich kann mich an den schrecklichen Brand erinnern …«
»Das können wir doch alle. So hat sie doch geendet, unsere
Grundschulzeit. Es war einfach grauenhaft. Und natürlich
musstest du uns zusammenrufen, nach allem, was damals
passiert ist. Den vielen Gerüchten …«
»Kommt der Engel eigentlich?«
»Ja.«
»Dass sie sich traut!«
Sol schaute verwirrt in die vielen Gesichter, die unter einer
grauen oder schwarzen, roten oder blonden oder gestreiften
Frisur etwas vage Bekanntes zeigten.
»Gerüchte? Nach dem Brand?«
Aus zusammengekniffenen Augen betrachtete sie die
Menschen, mit denen zusammen sie Kind gewesen war. Frauen
in hellen Sommerkleidern und leichten Schuhen. Männer in
kurzärmligen Hemden. Nur einigen von ihnen konnte sie Namen
zuordnen. Und dann fiel ihr plötzlich ein Bootsausflug zu einer
Insel ein. Raymond wäre fast ertrunken.
»Wieso denn?«
»Ist der Engel hier?«, fragte eine Stimme lauter als alle
anderen.
Sol kniff wieder die Augen zusammen. Konnte Helle
gekommen sein, während sie die Blumen ins Haus gebracht
hatte?
Für einen Moment dachte sie an den ersten Schultag. Helle
war so niedlich gewesen! Und so traurig, weil sie nicht begriffen
hatte, dass sie aufzeigen musste, ehe sie etwas sagte. Sol hatte es
an diesem Tag beim Essen zu ihrem Vater gesagt, die Lehrerin
hätte am ersten Tag nicht so streng sein sollen. Nicht alle hatten
ja einen Oberlehrer zum Vater und wussten deshalb, was sich in
35
der Schule gehörte. Und Sol fiel ein, was sie an diesem ersten
Tag noch gedacht hatte. Sie hatte gedacht, dass sie gern mit dem
Mädchen in dem rosa Kleid befreundet sein wollte. Aber Helle
hatte das nicht gewollt.
Sie sah alles ganz deutlich vor sich, sie saß mit ihren Eltern am
Tisch, sie sprachen darüber, dass die Leute eben unterschiedlich
waren, und dass Helle nicht mit ihr befreundet sein wollte, liege
daran, dass ihre Eltern so unterschiedlich waren. Viele bringen
einem Oberlehrer großen Respekt entgegen, weißt du, hatte ihre
Mutter erklärt. Und deshalb bleiben sie auf Distanz.
Sol musterte die große, schlanke Frau, die eben nach dem
Engel gefragt hatte. Sie hatte kohlschwarze Haare. Hatte eine
aus ihrer Klasse solche Haare gehabt? Vielleicht waren sie
gefärbt. Plötzlich erkannte Sol die andere. Es war Hanne. Die
rundliche Hanne, die Euter auf ihrem Brot gehabt hatte. Jetzt
war sie schlank und elegant. Und Sol sah ihr nach, als sie vor
der Hecke über den Plattenweg ging. Sie ist ein ganz anderer
Mensch geworden, überlegte sie. Hat keine Angst mehr.
Angst?
Morgan betrachtete die Gastgeberin. Am Vorabend hatte er sich
alte Fotos angesehen, um die anderen zu erkennen. Und das war
dann kein Problem gewesen. Er sah zu Sol hinüber, die noch
immer auf der Terrasse stand. Wie eine Galionsfigur, dachte er.
Eine Galionsfigur für das neue Haus. Einmal war er in sie
verliebt gewesen. Wie sein bester Freund. Und auf der
Schlittschuhbahn hatte Karl-Erik nach ihrer Hand gefasst. Aber
dann war etwas dazwischen gekommen. Eine Intrigantin. Eine,
die es nicht ertragen konnte, dass auch anderen Aufmerksamkeit
entgegengebracht wurde.
Fotze, dachte Morgan trocken.
Er dachte daran, wie der Engel nach dieser Episode schlimmer
denn je gegen die Tochter des Oberlehrers gestichelt hatte. Sie
36
hatte sich in den Kopf gesetzt, dass Sol vor den Klassenarbeiten
die Aufgaben immer schon kannte. Am Abend vor einem
Examen brachte Helle einige andere dazu, Sol zu überfallen und
in eine alte Pfadfinderhütte zu schleppen. Die Gefangene war
durchsucht worden, zuerst mit Kleidern, dann ohne.
Splitternackt war sie schikaniert worden, damit sie gestand.
Morgan musste die Augen niederschlagen. Er war auch dabei
gewesen. Er hatte geglaubt, dass sie die Aufgaben kannte.
Natürlich war das nicht der Fall gewesen.
Etwas wuchs in Sol, etwas drohte, ihre Brust zum Bersten zu
bringen. Es kam durch den Anblick der anderen, durch die
ausweichenden Blicke. Sogar, als sie ihr die Hand gegeben
hatten, waren ihre Blicke flüchtig gewesen, als seien sie allesamt
schüchtern und gehemmt oder als schämten sie sich. Und
nachdem sie sie begrüßt hatten, ließen sie sie stehen. Niemand
kam von selbst zu ihr herüber. Als ob niemand sie leiden könnte.
Aber sie war ja auch die Tochter des Oberlehrers gewesen.
Sicher stammte sie von damals, diese Unsicherheit der anderen.
Weil sie so tüchtig gewesen war. Ihr fiel plötzlich ein, dass sie
eine Zeit lang Matheaufgaben ganz bewusst falsch gelöst hatte,
damit … damit Helle sie leiden könnte, denn dann wäre Helle
die Einzige, die alles richtig machte. Und das Gesicht der
anderen wurde deutlich. Nicht niedlich. Nicht schön. Nur
beängstigend voll von … Hohn? Hass?
Sol keuchte auf. Weitere Bilder tauchten auf. Begleitet von
fliegender Hitze, und sie wich zurück, ins Wohnzimmer. Sie
ging weiter in die Küche, wo die Teller mit dem Roastbeef unter
Plastikfolie standen. Eine ihrer Töchter hatte beim
Salatzerschneiden ein Brett mit Selleriestangen übersehen, Sol
packte das Messer und schnitt ein paar Stücke ab. Sie musste an
etwas anderes denken. Sie musste an heute denken. Sie waren
jetzt erwachsen. Dann hörte sie Stimmen und Schritte, die sich
näherten, von der Treppe zur Hintertür bei der Garage. Sie
schlüpfte in die Speisekammer. Ihre Tochter und ein fremder
37
junger Mann kamen an ihr vorbei, und Sol lief die Treppe
hinunter. Dann stand sie wieder im Freien.
Wie früher, dachte Kitt. Sol allein auf der Terrasse. Helle
umgeben von einem Hofstaat. Kitt hatte den Engel durch die
Blätter entdeckt. Sie hatte den Garten noch nicht betreten. Sie
hatte die Gastgeberin noch nicht begrüßt. Sie stand einfach
hinter der Hecke, umgeben von einigen anderen. Unverschämt,
dachte Kitt und hielt nach einer Öffnung zwischen den
Fliederzweigen Ausschau. Und alles war wie früher. Helle in
Rosa und Gelb. Mit wunderschön frisierten Engelshaaren. Mit
denselben hellen, messerscharfen Augen. Und mit derselben
Stimme, wenn auch ein wenig tiefer und etwas heiserer. Um sie
herum standen vier erwachsene Männer und machten Augen wie
Dreizehnjährige. Mit dämlichem Lächeln standen sie da und
nickten schwanzwedelnd zu Helles Geplauder. Und Helle sprach
über den Sommer, der zu Ende ging, und erzählte, wie sie den
verbracht hatte. Als gehörten die Zuhörer zu ihrer Familie,
verbreitete sie sich über Leute, die ihr offenbar nahe standen,
ohne diese Beziehungen genauer zu erklären. Sie fragte die
anderen nicht, was sie so machten, ob sie verheiratet seien und
Kinder hätten. Sie redete einfach nur. Kitt wurde von ihr
vollständig übersehen. Helle redete einfach, über sich, auf ihre
vertrauliche und andere einbindende Weise, und die vier Herren
nickten und lächelten.
»Aber Gerhard wird heute doch sechzig, deshalb kann ich nur
kurz vorbeischauen und muss dann weiter, das versteht ihr
sicher«, sagte sie.
Die sechs standen in einer kleinen Nische neben der Auffahrt,
einem von Flieder eingerahmten Halbkreis. Vor der Öffnung
stand ein Wagen. Dahinter standen noch zwei, und für einen
Moment fragte Sol sich, ob ihre Töchter wohl die
38
Mineralwasserflaschen in den Kühlschrank gelegt hatten, damit
die, die noch fahren mussten, auch etwas Kaltes trinken
könnten. Dann vergaß sie alles über den Gestalten, die sie durch
die Blätter ahnen konnte, und über der Stimme, die redete und
redete. Gleichzeitig kamen die Bilder. Die Erinnerungen. Und
ein plötzlicher Anfall von Kopfschmerzen. Sol musste sich an
einem Baumstamm festhalten, um nicht zu stürzen.
Kitts Anwesenheit brachte die vier Männer offenbar zurück in
die Wirklichkeit. Zwei verschwanden im Garten, die anderen
sprachen jetzt darüber, wer gekommen war und wer nicht. Ein
Name fiel und Helle schlug lächelnd zu: »Aber der arme
Froschkönig hätte sich doch nie im Leben hergetraut. Der mit
seinen Warzenhänden!«
Erst als sie am Tisch saßen, fiel ihnen auf, dass eine fehlte.
Zwischen Thomas und Ragnar war ein Platz frei. »Helle«, stand
auf der Tischkarte.
Sie lag in der Fliedernische zwischen Garage und Haus. Sie
war erwürgt worden, offenbar mit ihrem eigenen Chiffonschal.
»Viele von uns hätten ein Motiv für diesen Mord gehabt«,
erzählte Morgan seinem Vorgesetzten von der Wache.
»Doch nicht nach so vielen Jahren«, sagte der andere.
»Wenn sie etwas gesagt hat, das für irgendwen die
Vergangenheit zum Leben erweckte …«
»Kannst du sie als Mensch beschreiben?«
»Als Kind fehlte ihr jegliches Einfühlungsvermögen.«
»Das Mysterium des geschlossenen Raums«, sagte der
Polizeichef. »Also müssen wir feststellen, was genau alle hier
gemacht haben, in der Stunde zwischen eurer Ankunft und dem
Beginn des Essens.«
39
»Als ich sie verlassen habe, stand sie mit Anders und Kim
zusammen«, sagte Kitt.
»Ich habe sie geliebt«, sagte Anders. »Meine ganze Kindheit
hindurch. In meiner Jugend habe ich alle anderen Frauen mit ihr
verglichen. Die goldenen Haare. Das reizende Gesicht. Der
lebhafte Blick.«
»Ich habe sie geliebt«, sagte Kim. »Ihre Engelslocken. Keine
andere war so sexy und weiblich wie sie. Damals. Und zugleich
… ich weiß nicht. Es war ein ganz besonderes Prickeln. Ein
Gefühl, als wisse sie alles. Als durchschaue sie dich. Sie war
eine Königin.«
»Aber der Brand, damals. Da war doch die Rede von
Brandstiftung. Irgendwer hatte etwas gesehen, einen Schatten an
der Wand … nach einiger Zeit wurden die Ermittlungen
eingestellt. Und ihr seid dann weggezogen, du und deine Mutter,
nicht wahr?«
»Ja«, antwortete Sol.
»Kannst du dich an die Gerüchte von damals erinnern?«
Sie schüttelte den Kopf und schaute den Polizeichef traurig an.
»Aber du musst sie doch gehasst haben!«, sagte Kommissar
Morgan.
»Da siehst du es«, sagte Morgan nach der Vernehmung. »Wie
ich gesagt habe. Sol war damals zu naiv. Sie konnte nicht
begreifen, dass andere so heimtückisch sein könnten.«
»Aber stimmt es wirklich, dass die vierzehnjährige Helle euch
aufgefordert hat, Sols Haus anzustecken?«
»Das stimmt. Sol hatte das beste Examen abgelegt. Außerdem
war sie mit einem gewissen Terje im Kino gesehen worden. Er
war zwei Jahre älter als wir. Das war zu viel.«
»Aber ihr habt es nicht getan?«
»Spinnst du? Irgendwo gab es ja doch eine Grenze.«
40
»Für dich.«
»Für mich und für Niels und Hugo, für Ragnar und Mons.«
»Und die anderen Jungen?«
Morgan schüttelte skeptisch den Kopf.
Sol konnte nicht schlafen. Die Kopfschmerzen wollten sich
nicht legen, es war zum Verrücktwerden. Denk positiv, das hatte
ihre Mutter immer gesagt, wie ihr jetzt einfiel. Ihre Mutter, die
hinter einer Maske verschwunden war. Einer munteren Maske
nach dem Brand.
Hatte der Polizist Recht? Hatte sie Helle als Kind gehasst?
»Weißt du das mit den Kätzchen auch nicht mehr?«, hatte
Morgan gefragt.
Als sie endlich einschlief, kamen die Albträume. Die Bilder
steckten noch in ihr, als sie erwachte, und sie taumelte zur
Toilette und erbrach sich dort. Die niedlichen rotgoldenen
Kätzchen. Der Engel hatte sie ausleihen wollen. Und Sol hatte
sich so darüber gefreut, dass Helle gekommen war, sie hatte in
ihrem Garten gestanden und gelächelt.
Sol drehte die Dusche auf. Sie ließ Wasser über ihr Gesicht
laufen. Es gab Bezeichnungen für Menschen ohne
Einfühlungsvermögen. Ohne Schmerzgefühl. Die Gefängnisse
in den USA wimmelten von solchen Leuten. Und ihr ging auf,
dass es nicht unmöglich war, dass sie in ihrem tiefsten Herzen
den Engel damals gehasst, dass sie dieses Gefühl und seinen
Grund aber zusammen mit den anderen, schlimmeren
Erlebnissen verdrängt hatte. Und durch das viele Lesen und ihre
große fachliche Erfahrung wusste sie, sie hätte die andere töten
können, mit einer Kraft aus der Tiefe, einer Kraft, die durch den
Klang der Stimme hinter dem Flieder in ihr freigesetzt worden
war.
Sie hatte ein scharfes Messer in der Hand gehabt. Ihre Tochter
41
hatte sie später daran erinnert, dass sie rot vor Hitze und total
verwirrt die Treppe zur Küche hochgekommen war, mit dem
scharfen Salatmesser in der Hand. Aber der Engel war doch
nicht erstochen worden!
Diese Cateringfirma, fragte die Polizei. Die haben das Essen
schon lange vor Festbeginn geliefert, nicht wahr?
»Ja. Ja, sie wollten um halb fünf kommen. Meine Töchter
haben mit ihnen gesprochen. Aber …«
»Ja?«
»Sie hatten wohl die Brote vergessen.«
»Die Brote?«
»Die Weißbrote. Baguettes. Susanne hat es gemerkt, und sie
haben das in Ordnung gebracht. Als wir uns zu Tisch gesetzt
haben, war alles in Ordnung.«
Morgan hielt auf dem Parkplatz der Firma, die Essen »zu jeder
Gelegenheit« anbot. Dann ging er ins Büro, um sich zu
erkundigen, wer die letzte Lieferung zum Tatort gebracht hatte.
»Jan Lind und Børre Mangset.«
Lind wurde per Mobiltelefon darüber informiert, dass die Polizei
mit ihm reden wollte. Er hatte schon damit gerechnet. Und war
darauf vorbereitet. Er sprang aus dem Lieferwagen und lief ins
Haus, nicht einmal seine Fahrhandschuhe zog er aus.
Er hatte sich genau überlegt, was er sagen wollte. Dass sie um
Viertel nach sechs zum zweiten Mal bei Sol eingetroffen waren.
Vielleicht um zwanzig nach sechs. Der Aushilfsjunge hatte die
Brote allein ins Haus gebracht. Der Fahrer war beim Wagen
stehen geblieben. Er hatte sich eine Zigarette angezündet. Er
42
hatte zu den fröhlichen Menschen in den Garten geschaut. Nach
drei oder vier Minuten war der Junge zurückgekommen. Dann
waren sie gefahren.
Nicht mehr. Nicht weniger. Das würde er sagen.
Aber mit Morgan hatte er nicht gerechnet.
Die Zeit löste sich auf, als sie in dem kleinen Aufenthaltsraum
mit dem Getränkeautomaten und den Aschenbechern standen.
Die beiden Männer sahen einander an. Beide sahen einen
kleinen Jungen. Morgan sah Jan mit den roten Händen. Den
roten Händen mit den scheußlichen Warzen. Den Warzen, die
nicht verschwinden wollten. Die lebten und sich auf Jans
Händen vermehrten und immer größer wurden. Und die
schrecklich bluten konnten, wie damals, als der Besitzer der
Hände versucht hatte, sie mit einer Rasierklinge seines Vaters
wegzuschneiden.
Und sie hörten eine Mädchenstimme.
»So kannst du nicht rumlaufen, Jan. Deine Mutter muss
einfach einen Fachmann anrufen. Jetzt sehen deine Hände doch
aus wie Frösche. Aber Frösche gehen nicht in die Schule. Die
springen im Schlamm in einem Moor oder einem dreckigen
Tümpel herum …«
Jan Lind ließ sich auf einen Stuhl sinken. Er schaute seine
Fahrhandschuhe an. Darunter waren die Warzen verborgen.
Kein Facharzt hatte helfen können. Und keine Rasierklinge.
Keine Salbe.
»Du warst in unserer Klasse, du«, sagte Morgan leicht
verwirrt.
Der andere nickte kurz. »Bis ich da aufgehört habe.«
»Und wohin bist du dann gegangen?«
»Nirgendwohin. Nicht sofort. Ich hab mich in einer Höhle
verkrochen. Oben bei der Geröllhalde. Bis zu den
Sommerferien. Und dann wurde ich auf eine Schule für
43
Zurückgebliebene geschickt. Aber war ich denn
zurückgeblieben?«
»Da glaube ich nicht«, sagte Morgan.
»Ich hatte nur Warzen«, sagte Jan.
Morgan musterte die schwarzen Lederhandschuhe. Mit ihren
Manschetten.
Und dem Polizisten fiel ein Satz ein, ein Satz, der vor einigen
Tagen in einem Garten gefallen war, über einen Jungen mit
Warzen, einen, der keine Einladung erhalten hatte.
Beide Männer hörten jetzt die Stimme, die diesen Satz
ausgesprochen hatte. Und sie sahen einen kleinen Menschen mit
einem strahlenden Lächeln. Und plötzlich nahmen sie beide den
süßen Fliederduft wahr, obwohl die Fliederblüte schon längst
vorbei gewesen war, an dem Tag, an dem der Wagen der
Cateringfirma zweimal dasselbe Haus hatte aufsuchen müssen,
da jemand die Baguettes vergessen hatte. Aber es hatte noch
einen anderen Tag gegeben, in einer fernen Kindheit. Einen
Sommertag, an dem sie beide in die erste Klasse gegangen
waren, und an dem fünf Jungen von einem Busch in einem
Garten an ihrem Schulweg schöne Blüten abgebrochen hatten.
Und alle waren für Helle bestimmt gewesen. Doch als Jan ihr
seinen duftenden lila Strauß hingehalten hatte, hatte der Engel
seine Hand zurückgezogen, und das Geschenk war auf den
Boden gefallen. Die Warzen könnten durch die Blumen von
dem Jungen auf andere übertragen werden, hatte sie gesagt. Und
Morgan fiel ein, wie sie alle in die Hecke gegangen waren, um
im Kies nach kleinen roten Warzen Ausschau zu halten.
44
Zwei Männer der Tat
Jonny Halberg
Zu Beginn der achtziger Jahre sollte ich mich in Lillehammer zu
meinem Antrag auf Befreiung vom Militärdienst äußern. Ich war
kein Pazifist, aber ich sah keinen Grund, warum ich einen
Dienst ablegen sollte, von dem ich wirklich nichts hielt und der
mir auch nicht als etwas Positives für irgendwen sonst erschien.
Außerdem war ich in Offizierskreisen aufgewachsen, eigentlich
schon fast in einer Garnison, und ich fand siebzehn Jahre
abgeleisteten Wehrdienst mehr als genug. Anderseits machte es
mir Spaß, mit einem Gewehr zu schießen. Ich hatte durchaus
Lust, Jäger zu werden. Und manchmal prügelte ich mich auch.
Gegen Ende des Gesprächs kam dann die Fangfrage, die
immer als eine Art letzter Stolperstein ausgelegt wurde: die
Gegenseite spielte die Gefühlskarte aus. Ich wusste von diesem
Hindernis, aber als es dann kann, konnte ich doch nicht
hinüberspringen. Es lautete so: Wie würde ich mich verhalten,
wenn ich nach Hause käme und feststellte, dass jemand in meine
Wohnung eingebrochen war und gerade meine Familie
umbringen wollte? Wenn ich eine Waffe in der Hand hielte,
würde ich den Einbrecher damit erschießen? Ich wägte lange
Für und Wider ab und sagte dann wahrheitsgemäß, dass ich das
nicht wisse. Ich konnte nicht behaupten, dass ich nicht schießen
würde. Aber ich wusste, wenn ich sagte, dass ich schießen
würde, dann könnte ich mir den Zivildienst abschminken. Einige
Zeit darauf erfuhr ich, dass mein Antrag noch einmal geprüft
werden sollte. Bent, ein Freund von mir, Sozialist und Zyniker,
wurde hinbefohlen, um zu bestätigen, dass ich Pazifist war. Er
war damals Mitglied des Palästinakomitees und wollte Israel als
Staat ausradieren, und er sagte der Kommission: Jonny? Der
würde keinen Finger rühren. Der ist durch und durch Pazifist.
45
Und damit war ich als Zivi anerkannt. Das war der logische
Sprung, der dazu nötig war: Lass die im Stich, die dir nahe
stehen und die du liebst, lass sie sterben, während sie dich dort
stehen sehen. Damit hast du bewiesen, dass du für den Frieden
im Land arbeiten kannst, du Waschlappen.
Wichtig an der Frage war die Demütigung, man sollte sich als
das feigste und jämmerlichste Würmchen sehen, das auf diesem
Planeten jemals geboren worden ist, schließlich wollte man ja in
den Zivildienst, statt im Krieg Menschen zu töten.
Aber trotz dieser idiotischen Problematik grübelte ich oft
darüber nach, wie ich mich verhalten hätte. Natürlich auch, weil
ich nie in diese Lage geriet. Hätte ich gerettet oder gerächt?
Ungefähr fünfzehn Jahre später brach ein junger Typ in meine
Wohnung in Oslo ein und stahl alles, was er an Wertsachen
finden konnte. Neben Stereoanlage, CDs, Schmuckstücken,
Computerspielen, DVDs, Playstation und so weiter verschwand
ein Laptop, den ich mit der Arbeit mehrerer Jahre gefüllt hatte.
Von einigem hatte ich keine Sicherheitskopie. Etwas anderes
waren die Arbeitsjahre, die ich nicht zurückbekam, und nicht
zuletzt war da die Unsicherheit, die mein Sohn, meine Frau und
ich verspürten, nachdem jemand unsere Wohnung aufgebrochen
und verwüstet hatte. Diese Unsicherheit wurde nicht kleiner, als
ich feststellte, dass mehrere von meinen CDs sich in der einen
Stock tiefer gelegenen Wohnung befanden.
Die Erklärung war, dass der dort wohnende Südafrikaner mit
einer Norwegerin einen drogensüchtigen Sohn von neunzehn
Jahren hatte. Er hatte ihre Wohnung aufgesucht, während sie in
Urlaub waren, sie hatten davon nichts gewusst. Seinen
Aufenthalt dort hatte er genutzt, um unsere Wohnung zu leeren.
Seine Stiefmutter berichtete, dass er irgendwo in Oslo wohnte,
wo, wusste sie nicht. Ich konnte mich erinnern, dass er mir
einige Tage nach dem Einbruch im Treppenhaus begegnet war,
46
er kam pfeifend die Treppe herunter und hatte meinen Discman
über den Ohren.
Der Typ war schwarz, und ich wohnte damals in einer Gegend,
in der es viele Afrikaner, Pakistani, Inder und andere
Dunkelhäutige gab. Sie hatten nicht bei uns eingebrochen, aber
schon nach wenigen Tagen war ich besessen von
Rachegedanken und kochte vor Hass auf diesen Schwarzen, der
ganz geplant mir und meiner Frau so viel Ärger bereitet und
dafür gesorgt hatte, dass mein kleiner Sohn Angst hatte, dort zu
wohnen, wo wir nun einmal wohnten. Uns hätte Schlimmeres
passieren können, aber das Gefühl von Hilflosigkeit und
Ohnmacht wurde nicht geringer, und diese Ohnmacht und der
Verdacht, dass seine Tat für den Einbrecher zu keinerlei
Konsequenzen führen würde, ließen meinen Hass auf ihn weiter
wachsen. Ich lief durch Vaterland, Grünerløkka und Grønland
und suchte nach diesem Arsch (auch wenn mir klar war, dass er
ebenso gut in Oslos noblerem Westen wohnen könnte). Ich
wollte diesen Südafrikaner rollstuhlreif schlagen, denn ich
wusste, dass ich niemals das zurückbekommen würde, was er
mir genommen hatte. Ich wollte es aber auch, weil er mich wie
ein kleines Kind behandelt hatte, dem man einfach das
Spielzeug aus den Händen reißen konnte. Außerdem wollte ich
ihn verletzen, um etwas von meinem eigenen Gefühl der
Verletzung zu rächen und um meine Wut zu besänftigen und zu
befriedigen.
Das Problem war, dass ich ihn nicht finden konnte. Statt
Vergeltung gab es weiterhin nur Rachefantasien. Ich fand keinen
Auslauf für meinen Drang. Innerhalb einer Woche war ich zum
eingefleischten Rassisten geworden. Ich glaubte überall, diesen
Neunzehnjährigen zu sehen, aber als ich dann jedesmal
erkennen musste, dass er es nicht war, dachte ich, dass dieser
andere Schwarze, bei dem es sich um einen Äthiopier oder
Ghanaer handeln mochte, durchaus dasselbe anrichten könnte
wie der Südafrikaner oder es vielleicht sogar schon angerichtet
47
hatte. Dass es für mich keine Abrechnung mit ihm gab, dass ich
mich nicht von meinem gerechten Zorn befreien konnte, dass
der Gerechtigkeit nicht Genüge getan wurde, führte zu
Gewaltfantasien und Paranoia. Ich fuhr nachts aus dem Schlaf
und war sicher, dass jemand im Zimmer stand. Ich hörte vor
dem Haus bedrohliche Geräusche. Ich musterte Dunkelhäutige,
die abends zusammen auf der Straße standen, und hatte wirklich
vor, mir eine Handfeuerwaffe zu besorgen. Ich war in meiner
eigenen Stadt zu einem Fremden geworden, einem Eindringling.
Am Ende war es nicht mehr wichtig, dass dieser Südafrikaner
büßen sollte: Ich wollte nur, dass irgendwer büßte, der vielleicht
Ähnlichkeit mit ihm hatte, der möglicherweise dasselbe hätte
tun können wie er.
Eins der gestohlenen Videos war der Film »Taxidriver« mit
der Hauptperson Travis Bickle, den ich so gut zu verstehen
glaubte. Ich verstand seinen Zorn und seinen Drang nach
Gerechtigkeit. und voller Entsetzen und Freude sah ich zu, wie
er durch New Yorks Straßen wanderte, um mit der Gosse
abzurechnen. Er hatte Recht. Und lag zugleich restlos daneben.
Natürlich ist es eine wunderbare Geschichte, Robert De Niro in
der Hauptrolle ist fantastisch, die Regie einzigartig und
richtungweisend, aber gerade dieser kleine Aspekt, dass Travis
so Recht hat und dermaßen schief liegt, sorgt wohl dafür, dass er
uns so sympathisch ist. Sicher, es ist richtig, Gewalt, Übergriffe,
Ausnutzen der Schwachen als etwas so grundlegend Falsches zu
betrachten, dass man dagegen ankämpfen muss. Aber es ist nicht
richtig, dass ein einzelner und leicht gestörter Mann aus dem
Mittleren Westen einfach loszieht und Crackheads abknallt, um
zum Retter Brooklyns zu werden. Er kann nicht der Rächer sein,
der das ausgleicht, was die Opfer von Dealern, Zuhältern,
Einbrechern und Gewalttätern erleiden mussten. Ein solcher
Mann kann weder die Jungfrau aus dem Turm befreien noch den
Drachen töten. Denn obwohl Travis Bickle von denselben
Qualen angetrieben wird wie so viele von uns anderen, und
48
obwohl er zu viel grübelt und sich unerreichbare Ziele setzt, so
besteht doch zwischen ihm und uns ein grundlegender
Unterschied. Während die meisten es beim Überlegen belassen,
ist er so naiv und wirklichkeitsfremd, dass er seine
Vorstellungen in die Tat umsetzen will. Er nimmt die Qualen
wortwörtlich, beschließt, zum Krieg gegen das Elend zu rüsten,
und wird zu einer Einmannarmee.
Wir wissen, dass das Abenteuer dieses halbpsychotischen
Rächers kein gutes Ende nehmen wird. Er tötet am Ende den
Drachen und befreit die Jungfrau, das schon. Dennoch: Ist das
ein Sieg? Der Höhepunkt des Films, die Abrechnung, findet in
einer Mietskaserne statt. Dort bringt Travis mehrere Menschen
um und verursacht ein brutales Blutbad. Wie der klassische
Rächer im Cowboyfilm hat er sich der Übermacht gestellt und
sie bedungen – mit dem kleinen Unterschied, dass Scorsese das
Blutbad als tragischen Albtraum zeigt, sodass es nicht als
unterhaltsamer Höhepunkt oder als Triumph der Rache
durchgehen kann. Zugleich ist es aber genau das. Denn am Ende
liegt Travis als Medienheld im Krankenhaus und hält sich für
den Ritter, der die Prinzessin aus der Not gerettet hat.
Es ist richtig, sich gegen die Übermacht zu wehren, wenn einem
von dieser Übermacht Unrecht geschieht. Die Frage ist nur, wie
wir dann reagieren sollten. Soll ich meinen Leidenschaften
gehorchen und mir einen Revolver zulegen, oder soll ich die
Rache Polizei und Justiz überlassen, die den Verbrecher aller
Wahrscheinlichkeit nach ungeschoren davonkommen lassen
werden? Soll ich einen Vermittlungsausschuss einschalten, wie
bisweilen vorgeschlagen wird? Oder soll ich die andere Wange
hinhalten und innerlich vor Wut und Frustration verglühen?
Vermittlungsausschuss, Revolver oder Wange: Meiner Ansicht
nach erhält die Wirklichkeit ein letztes Wort, bei dem Zweifel
und Überlegungen über das der Rache innewohnende Paradoxon
sich sozusagen in den Schwanz beißen.
49
Einige Wochen nach dem Einbruch in meine Wohnung saß ich
mit meinem Sohn in der Straßenbahn, wir wollten nach Hause
fahren. Den Südafrikaner hatte ich noch immer nicht gefunden.
An der Haltestelle Theresesgate steigt ein heruntergekommener
Mann von Ende zwanzig ein. Seine Turnschuhe sind
verschlissen und verdreckt. Seine Hose ist verschlissen und
verdreckt. Er ist bleich und hohläugig und einwandfrei ein Fixer.
Der Typ setzt sich, zieht eine rote und feminine Brieftasche
hervor, nimmt einen Packen Kreditkarten heraus und vertieft
sich in deren Anblick. Und als ich sehe, wie dieser verkommene
Junkie zu einer Brieftasche greift, die er einer Frau gestohlen
hat, habe ich einfach genug. Ich kann nicht mehr, ich will das
nicht länger hinnehmen. Ich weigere mich, hier zu sitzen und
mir diese elenden und rücksichtslosen und dummen Existenzen
anzusehen, die glauben mit uns anderen, die nicht gemein und
gewissenlos sind, machen zu können, was sie wollen. Ich gehe
nach vorn, rede mit dem Fahrer, und der informiert die Polizei.
Uns wird mitgeteilt, dass sie an der nächstmöglichen Haltestelle
auftauchen wird. Ich habe die Polizei alarmiert. Das ist ein
seltsames Gefühl. Aber ich behalte den Typen im Auge und
versuche zugleich, meinem Sohn zu erklären, was hier passieren
wird. Ich habe nur schreckliche Angst, der Fixer könnte
aussteigen, ehe die Polizei eingetroffen ist. Und plötzlich, vor
einer Haltestelle, springt er auf.
Und ich auch. Er schwankt ein wenig hin und her, starrt aus
dem Fenster, sieht zu, wie die Tür sich öffnet und schließt,
schaut mich an und lässt sich wieder auf seinen Sitz fallen. Ich
nehme ruhig Platz, während mir der Puls in den Schläfen
hämmert.
Auf dem Stortorg steht schon die Grüne Minna. Zwei
Polizisten und eine Polizistin warten daneben. Die überfüllte
Bahn hält an, der Fahrer teilt mit, dass niemand aussteigen darf,
ich dränge mich hinaus, gehe mit meinem Sohn zur Polizei
hinüber, zeige auf die Bahn und sage, dass der Täter ganz hinten
50
sitzt. Wir steigen wieder ein. Die Leute glotzen. »Der da
hinten«, sage ich.
Der Junkie muss mitkommen. Er kapiert einwandfrei nur
Bahnhof. Draußen muss er die Brieftasche vorzeigen. Er zieht
sie hervor und kapiert einwandfrei nur Bahnhof, aber gehorsam
leert er sie und reicht alles dem einen Polizisten.
Der Polizist starrt den Inhalt der Brieftasche verständnislos an.
Und nun sehe ich es. In seiner Hand liegen drei Telefonkarten.
Der Junkie steht mit offenem Mund da. Dann verzieht er
spöttisch sein ausgemergeltes Gesicht und lacht heiser. »Der hat
meine Telefonkarten für Kreditkarten gehalten«, blökt er und
zeigt auf mich. Er nimmt die Karten wieder an sich, lacht
höhnisch und verdreht die Augen. Mein kleiner Sohn starrt mich
an. Die Polizei starrt mich an. Der eine Polizist erzählt, dass
Junkies oft Telefonkarten sammeln. Dafür bekommen sie Geld.
Der andere Polizist klopft mir auf die Schulter. »Wir freuen
uns aber immer, wenn jemand wenigstens guten Willen zeigt«,
sagt er.
51
Das Meierschloss
Viktor Arnar Ingólfsson
Es war Ende Juni, schon früher Nachmittag, und die Sonne
schien bereits den dritten Tag. Die frische Brise, die häufig
durch die Stadt wehte, hatte allmählich nachgelassen, nun
herrschte Windstille. Es war heiß, und das Leben hatte sich um
einen Takt verlangsamt.
In einer engen Wohnstraße im westlichen, alten Teil der Stadt
saß eine junge Frau auf der Treppe eines altehrwürdigen
Zweifamilienhauses. Sie trug einen weiten hellgrauen Rock und
eine kurzärmelige weiße Bluse. Eine helle Jacke hatte sie
ausgezogen und über das glänzende Treppengeländer gelegt.
Das Haus war mit dunklem Sand, der mit Muschelkalk
versetzt war, gemauert, das Dach mit rötlichen Dachziegeln
eingedeckt. Der gepflegte Vorgarten war von der Straße
abgetrennt durch eine hohe Mauer, die auf gleiche Art und
Weise wie das Haus errichtet war. Die Gartenpforte war aus
Eisen und grau gestrichen.
Die junge Frau rauchte. Ihr Gesichtsausdruck war ernst, die
grauen Augen ruhten nachdenklich auf der alten Pforte. Die
Frau war dunkelhaarig und trotz zweier senkrechter
Sorgenfalten hübsch. Sie wartete.
Obgleich das Stadtzentrum nicht weit entfernt lag, war es
ruhig in der Straße, nur wenige Menschen waren auf den
Beinen. Der Gesang der Vögel, das Flattern ihrer Flügel und das
Säuseln der Blätter, wenn sie von Zweig zu Zweig flogen, waren
die einzigen Laute, die man hören konnte.
Ein Wagen, der an dem Haus vorbeifuhr, erweckte die
Aufmerksamkeit der Frau, und sie sah auf.
Der Fahrer fuhr langsam, und schließlich stoppte er das Auto
52
etwas weiter unten in der Straße. Dort stieg er aus und schaute
sich suchend um. Er war untersetzt und schien um die sechzig
zu sein. Die Kleidung, eine schwarze Hose und eine bräunliche
Wolljacke, wirkte reichlich warm für die Jahreszeit.
Schließlich ging der Mann die Straße hinauf in Richtung der
Frau, die ihn aufmerksam beobachtete, während er sich dem
Haus näherte. Er zögerte ein wenig, als er an der Pforte
angelangt war, doch als er die Frau sah, öffnete er sie und ging
in den Garten.
Die junge Frau war jetzt aufgestanden und strich ihren Rock
glatt.
»Guten Tag. Ist es hier, wo ich eine Tür öffnen soll?«, fragte
der Mann, und die Stimme war sanfter als sein Aussehen
vermuten ließ. Das graue Haar war kurz geschnitten, das Gesicht
wettergegerbt und die Haut rau.
»Ja, guten Tag«, gab die Frau förmlich zur Antwort. »Sind Sie
von der Polizei?«
»Ja, bin ich. Ich war gerade auf dem Weg vom Dienst nach
Hause, als ich gebeten wurde, diese Sache noch rasch in
Ordnung zu bringen.«
»Ist dies das Schloss?«, fragte er daraufhin und deutete auf die
gewaltige Haustür.
Die Frau nickte nur.
Der Mann ging vor ihr die Treppe hinauf und setzte sich eine
Brille auf, ehe er sich das Schloss ansah.
»Ja, wollen mal sehen. Dies ist also ein altes Meierschloss. Die
waren schon immer problematisch.«
Die Tür war mit einem Sprossenfenster versehen, in dem sich
neun kleine Scheiben befanden.
Der Mann hielt die Hand vors Gesicht, damit die Sonne ihn
nicht blendete, und versuchte ins Haus zu sehen. Drinnen
befanden sich Gardinen vor dem Fenster, und zwischen ihnen
53
und dem Glas sausten einige Schmeißfliegen umher.
»Sind Sie hier zu Hause?«, fragte der Mann.
»Nein«, antwortete sie bestimmt. »Eigentlich nicht. Mein
Großvater wohnt hier.«
»Hat sich der alte Mann ausgesperrt?«, fragte der Mann dann.
»Weiß nicht«, antwortete die Frau. »Ich glaube nicht. Ich habe
ihn telefonisch einfach nicht erreichen können.«
»Ach so«, sagte der Mann, indem er sich zum Schloss
hinabbeugte. »Haben Sie schon lange nichts mehr von Ihrem
Großvater gehört?«
»Eine Woche … über eine Woche«, antwortete die Frau und
biss sich auf die Lippe.
»Nun ja«, sagte der Mann und sah sich das Schlüsselloch an.
»Schauen wir uns das mal an … Jawohl, dies sind solide
Schlösser.«
Er reckte sich und wischte sich mit dem Ärmel Schweißperlen
von der Stirn.
»Hatte sonst niemand Kontakt zu dem alten Mann?«, fragte er
daraufhin.
»Nein, soviel ich weiß nicht«, antwortete die Frau knapp.
»Na ja … so ist das eben.«
Der Mann steckte die Hand in seine weite Jackentasche und
zog einen Bund mit verschiedenen Dietrichen hervor. Er
betrachtete ihn näher, wählte dann einen Schlüssel aus und löste
ihn vom Bund.
»Hören Sie zu …« Der Mann blickte die Frau an und wollte
etwas sagen, tat sich aber schwer damit, es zur Sprache zu
bringen.
»Haben Sie … Haben Sie angefangen, sich um den alten Mann
Sorgen zu machen?«, fragte er schließlich zögernd.
»Nein, hab ich nicht«, sagte sie spitz und ungeduldig. Sie
54
wollte noch mehr sagen, doch der treuherzige Gesichtsausdruck
des Mannes hielt sie davon ab.
Endlich schlug sie den Blick nieder und sagte leise:
»Ja, doch, es ist so. Ich habe begonnen, mir um ihn Sorgen zu
machen.«
Der Mann beugte sich nun zum Schloss hinunter und steckte
den Dietrich ins Schlüsselloch.
»Wie alt ist Ihr Großvater eigentlich?«, fragte er dabei.
»Er ist dreiundachtzig … oder vierundachtzig.«
»Gibt es niemanden, der sich täglich um ihn kümmert?«
»Doch, er hat eine Haushaltshilfe, die ist aber in Urlaub. Er
kann ganz allein für sich sorgen und wollte keine Ersatzkraft
haben … ich habe versprochen, nach ihm zu sehen.«
»Ja, damit kenne ich mich aus«, sagte der Mann. Er stützte den
linken Arm in die Seite und reckte sich. »Die waren schon
immer schwierig, diese alten Meierschlösser.«
Der Schweiß perlte auf seiner Stirn, und er blickte zum
Himmel.
»Schönes Wetter, nicht?«
Er sah die Frau an, als ob er eine Antwort von ihr erwarte,
doch als sie schwieg, wandte er sich wieder dem Schloss zu und
fügte, wie zu sich selbst, hinzu: »Die Bauern bekommen jetzt
gutes Erntewetter … Wann haben Sie das letzte Mal etwas von
Ihrem Großvater gehört?«, fragte der Mann dann, nachdem
einige Augenblicke vergangen waren.
»Von Mama, sie lebt im Norden, sie hat vor zehn Tagen mit
ihm telefoniert, und daraufhin hat sie mich angerufen und mich
gebeten, nach ihm zu sehen. Ich habe vor einer Woche versucht,
ihn anzurufen, doch da ist er nicht ans Telefon gegangen. Dann
musste ich fliegen – ich arbeite als Stewardess –, und ich bin
erst vorgestern nach Hause gekommen. Heute Morgen hat
Mama mich dann angerufen, denn er hatte den Hörer nicht
55
abgenommen, als sie gestern versucht hatte, mit ihm zu
telefonieren.«
»Könnte er nicht zu irgendwelchen Verwandten gefahren
sein?«, fragte der Mann, der nun wieder damit angefangen hatte,
sich mit dem Schloss abzumühen.
»Nein, Mama wohnt, wie schon gesagt, im Norden, und seine
andere Tochter lebt in Norwegen. Es wohnen keine
Angehörigen hier in der Stadt, außer mir und meinem Bruder,
doch die beiden treffen sich nur selten.«
»Es will einfach nicht funktionieren«, sagte der Mann, indem
er den Dietrich aus dem Schloss zog und ihn verwundert
betrachtete.
»Hören Sie mal, meine Liebe! Würden Sie mir vielleicht einen
Gefallen tun und mir meine Werkzeugtasche, die auf dem
Vordersitz liegt, aus dem Auto holen?«
Sie nickte schweigend und ging die Treppe hinab. Als er ihr
nachsah, während sie zur Gartenpforte hinausging, steckte er
den Dietrich wieder ins Türschloss und drehte ihn. Es ertönte ein
dumpfes Geräusch; er öffnete die Tür und trat ein.
Im Haus herrschte eine Bruthitze, und seine Nase nahm einen
süßlichen Geruch wahr. Er hatte diesen Geruch bereits früher
wahrgenommen … nicht oft, doch oft genug. Er zog eine
Tabakdose aus seiner Tasche hervor und nahm eine Prise
Schnupftabak. Ehe er weiter in die Wohnung hineinging, zog er
die Tür ins Schloss.
56
Was geschah in Nummer 7?
Margaret Johansen
Die triste Pension mit der müden Korridorbeleuchtung, die
taktvoll die abblätternde Farbe an Wänden und Decken verbarg,
war wie ausgestorben. Abgestandene Luft drückte sich um die
Ecken in dem hoffnungslosen Bemühen, nach draußen zu
entwischen. Nahezu alle Bewohner waren über Ostern verreist.
Die meisten davon Studenten. Aber Mia war aus dem Norden
und hatte nicht das Geld für einen Heimflug nur für die paar
freien Tage. Also hatte sie Knabberzeug und ein paar Flaschen
guten Wein gekauft und sich darauf eingerichtet, die Feiertage
in ihrer Fünfzehn-Quadratmeter-Bude zu verbringen. Und sie
hatte brav an ihre Eltern gedacht, die es ihr ermöglichten, »in
der Welt voranzukommen«, wie ihr Vater zu sagen pflegte.
Die Rathausuhr schlug acht.
Jetzt saß sie da und knabberte Schokolade und redete sich gut
zu, dass es völlig in Ordnung war, allein zu sein, es waren ja
auch nur ein paar Tage.
Sie entkorkte eine Flasche Wein, setzte sie an und trank ein
paar Schluck, bevor sie ein Glas hervorsuchte. Gleich wurde
ihre Laune besser. Für die Kleinstadt da oben im Norden war sie
das Mädel mit den guten Zensuren, eine Freude für die ganze
Familie. Sie sollte ihnen Ehre machen mit ihrem Studium in der
Hauptstadt – aber wie so viele andere auch hatte sie gemerkt,
dass es hier von »jungen Talenten vom Lande« nur so
wimmelte, die sich in nichts von allen anderen unterschieden.
Was blieb einem anderes übrig, als sich damit abzufinden,
dass man einer unter vielen war? Immerhin gehörte man dazu,
das war ja auch nicht schlecht.
Sie starrte an die Zimmerdecke mit den Stuckrosetten und den
57
Rissen kreuz und quer. Was die in all den Jahren wohl schon an
Tragödien und Alltagstristesse gesehen haben mochten.
Ein mitgebrachtes dünnes Deckbett lag eingerollt in eine
verblichene Diwandecke wie eine schlaffe Wurst an der Wand.
Der Fußboden war auch schäbig, mit knarrenden Dielen, die
außerdem noch eine Schräge hatten. Verlor man einen Knopf,
dann wusste man, wo man zu suchen hatte – unter dem
Waschbecken. Insofern war es gut zu wissen, in welche
Richtung das Gefälle ging.
Sie hatte ein paar alte Taschenbücher von Agatha Christie
gefunden, ließ sie aber im Moment noch unbeachtet auf ihrem
Schoß ruhen.
Unglaublich, mit welchem Krempel die Leute ihre Bude
ausstaffierten, wenn sie an Fremde untervermieteten.
Sie starrte auf die junge, hübsche Jeanne d’Arc, die erst von
einem Bildhauer und anschließend von einem Fotografen
verewigt worden war, um danach in etwas eingerahmt zu
werden, was den Überresten einer misslungenen Waffel glich.
Es war unangenehm still im Haus.
Nur ein Hausmeister irgendwo in diesem Gebäude – wenn
überhaupt.
Sie nahm einen Schluck Wein, und es kam ihr beinahe so vor,
als hätte Jeanne d’Arc sich ein bisschen bewegt …
O nein, schöne Jungfrau, so leicht jagst du Mia keinen
Schrecken ein.
Sie nahm die Flasche und das Glas und ging über die
knarrenden Dielen zum Sessel am Fenster.
Dort zog es ein bisschen, aber es war der einzige Platz, von
dem aus man das ganze Zimmer überblicken konnte.
War sie etwa nervös geworden?
Über dem Sessel hing MUTTERFREUDEN. Hatte das vorher
58
schon da gehangen, oder war das die Wirkung des Weins? Die
Mutter hatte den Kopf schräg geneigt und blickte zärtlich auf
ihren wonnigen Säugling, der hingebungsvoll auf ihrem Schoß
lag. Ein arrangiertes Idyll, das sie in der guten Stube ihrer
Großmutter oft betrachtet hatte. Ein Anachronismus. Wie
komisch dieser kleine frivole Lendenschurz war, den das Kind
trug, fast so, als sollte er den Anstand wahren.
Es lag vielleicht daran, dass sie zu viele Krimis gelesen hatte,
aber das Zimmer schnürte sich irgendwie um sie zusammen, und
der Korbsessel knarrte warnend. Zitterten ihr nicht sogar ein
ganz klein wenig die Hände?
Dabei stand sie in dem Ruf, eine Frau zu sein, die sich von
nichts einschüchtern ließ. Man sollte eben keine Krimis lesen,
wenn man Ostern allein in einer Pension mit vielen finsteren
Ecken zubrachte.
Das Ticken des dickbäuchigen Weckers war auf einmal so laut.
Mia hatte das Gefühl, kaum Luft zu bekommen, deshalb stand
sie auf und zog die Vorhänge zurück, öffnete das Fenster und
starrte hinunter auf die Straßenlaternen. Deren Lichtkegel
ergossen sich eng begrenzt um die Masten, was die
Verlassenheit der Straße noch unterstrich. Hinter den Gardinen
in einem der anderen Häuser flackerte Kerzenschein, und das
Geklimper eines verstimmten Klaviers drang an ihr Ohr.
Es waren also doch noch andere Leute in der Stadt.
Trotzdem spürte sie die Einsamkeit wie einen kalten Schauer
hereindringen. Sie schloss das Fenster mit einem Knall und zog
die Vorhänge zu.
Aber anstatt sich über die warme, anheimelnde Atmosphäre im
Zimmer zu freuen, fiel es ihr schwer, sich wieder dem Raum
zuzuwenden.
59
Hatte sie die Tür abgesperrt?
Als Mr Allison Miss Bradford erwürgte, hatte sie die
Zimmertür abgeschlossen. Als Polizeiinspektor Brent die Leiche
der alten Lady Twinisborough fand, hatte sie daran gedacht,
auch noch die Kommode vor die Tür zu schieben.
Und sich gleich darauf über sich selbst geärgert.
Wer sollte schon hierher kommen?
Wer sollte schon hierher kommen wollen? Zu ihr?
Hatte sie etwas Verlockendes zu bieten?
Quatsch!
Etwas knisterte, und Mia drehte sich abrupt um. Es war
natürlich der Korbsessel, das hatte sie schon tausendmal gehört.
Sie räusperte sich und zuckte zusammen, als das Echo durch das
große, kalte Zimmer hallte, das ihr plötzlich erstickend heiß
vorkam.
Es klopfte irgendwo!
Aha. Also war doch noch jemand im Haus. Jemand, der
vielleicht Besuch bekam.
Da klopfte es noch einmal. Danach war es eine Weile still. Sie
hielt den Atem an und lauschte. Hörte, wie jemand an einem
Türgriff rüttelte.
Wo mochte das wohl sein?
Bei Nummer 6 oder vielleicht Nummer 7?
Nein, Morten von Zimmer 6 war nach Hemsedal gefahren.
Ganz aufgeregt vor lauter Vorfreude. In Nummer 7 wohnte ein
junges Mädchen, vielleicht war sie zu Hause … Ebenso pleite
wie Mia.
Na, das ging sie nichts an.
Zum Sessel gehen und sich hinsetzen. Entspannen. Ein
heiteres Buch ohne Mord lesen, Pralinen knabbern und …
Jetzt wurde an die Tür gehämmert und jemand rief etwas.
60
Zuerst ärgerlich. Dann ängstlich.
Das Herz raste in ihrer Brust. Sie musste wissen, wer das war,
was das war.
Eine seltsame, süße Erregung kitzelte ihr im Magen, als sie
den Schlüssel im Schloss herumdrehte und hinausspähte in den
dunklen Korridor mit dem Feuerlöscher weit hinten in der Ecke.
Jetzt hörte sie die Stimmen ganz deutlich.
»Da ist bestimmt was passiert, wir sollten doch um acht hier
sein, und da drinnen sind Leute …«
»Und was sollen wir jetzt machen?«
Eine Männerstimme. Eine Frauenstimme.
Mia ging mit entschlossenen Schritten den Korridor hinunter.
Ein junges Paar stand vor Nummer 7.
»Kann ich irgendwie helfen, ich meine, das Hämmern war ja
nicht zu überhören …«
Das junge Mädchen begann nervös zu reden.
»Ja, Entschuldigung, dass wir so einen Lärm gemacht haben,
wir sind nämlich eingeladen zu einer Party hier um acht, und
jetzt ist es fast – ja, schon Viertel nach – und es macht niemand
auf.«
Der Mann unterbrach sie.
»Jetzt reg dich nicht auf, vielleicht ist sie nur eben runter zum
Kiosk gegangen.«
»Aber wir haben doch gehört …«
»Wir können uns verhört haben, oder?«
Mia schlug vor, dass sie den Verwalter oder den Hausmeister
holen sollten.
»Nein, nein«, sagte der Mann, »wir warten lieber noch. In der
Regel gibt es für alles eine natürliche Erklärung«, fügte er tapfer
hinzu und sah die beiden aufgeregten Frauen mit
Beschützermiene an. Dann erstarrte er plötzlich und lauschte
61
angespannt.
Aus dem Zimmer war ein deutliches Stöhnen zu hören, und
Mia straffte die Schultern und sagte, sie werde jetzt jedenfalls
den Hausmeister holen. Denn vielleicht hatte er ja einen
Reserveschlüssel, aber ganz bestimmt hatte er Werkzeug. Und
wenn dort drinnen ein Mensch in Not sein sollte, war es einfach
eine Pflicht …
Der Hausmeister hatte Soße am Kinn und Ärger im Blick. Er
murmelte etwas von hysterischen Weibern und lebhafter
Fantasie, aber Mia ließ nicht locker. In diesen unsicheren Zeiten,
wo die Zeitungen jeden Tag über irgendein Verbrechen
berichteten, konnte er doch unmöglich in aller Ruhe sein
Osterlamm essen, während vielleicht gerade jemand ermordet
wurde.
Er seufzte und bewaffnete sich mit einem riesigen
Schraubenschlüssel und einem kleinen Schraubenzieher, um das
Schloss auszubauen, falls der Schraubenschlüssel nicht reichte.
Leise schimpfend folgte er Mia die Hintertreppe hinauf,
während er an das Fußballspiel im Fernsehen dachte, das er jetzt
verpasste.
Seine Frau sah ihnen ängstlich nach und schloss die
Wohnungstür hinter ihnen sorgsam ab.
Das junge Paar stand mit ernsten Gesichtern da und wartete.
Sie wirkten angespannt und glaubten nun beide, dass etwas nicht
stimmte. Sie hatten deutliches Stöhnen gehört und Geräusche,
die auf einen Kampf hindeuteten. Vielleicht war jemand
geknebelt? Der Hausmeister lauschte ebenfalls und begann
langsam – o Gott, und wie langsam – die Schrauben am
Türbeschlag zu lösen. Die Tür war von innen abgeschlossen,
und der Schlüssel steckte.
Die drei anderen traten an die Wand zurück und hielten den
Atem an.
»Ich sag nur eins, ich kann kein Blut sehen«, sagte der junge
62
Mann, dessen Tapferkeit sich spurlos verflüchtigt hatte.
Es tröstete ihn wenig, dass die beiden Frauen versicherten, er
werde wohl kein Blut sehen, da das Ganze eher auf Erwürgen
hindeutete. Mia war schon wieder in der Welt der Bücher und
beschrieb eifrig die Blaufärbung, die sie sehen würden, falls ihre
Ahnung sich bestätigen sollte.
Nicht gerade ein angenehmer Anblick, aber vielleicht nicht so
schockierend wie Blut.
Hinter der Tür war ein durchdringendes Röcheln zu hören, das
immer lauter und höher klang.
Der Schraubenzieher arbeitete langsam und zäh an dem
Beschlag.
»Nun machen Sie endlich«, schrie der junge Mann. »Sie
können hier doch nicht so herumtrödeln, wo es vielleicht um
Sekunden …«
Da drangen neue Laute aus Nummer 7.
Ungeduldige, aber friedliche.
Es knarrte, es tapste, und dann öffnete sich die Tür einen Spalt.
Ein zerzauster Männerkopf starrte sie wütend an. Er war erhitzt
und außer Atem, und etwas tiefer flatterten lose Hemdschöße
um nackte, mit Gänsehaut überzogene Pobacken.
»Was zum Teufel macht ihr da eigentlich?«, schrie er. »Könnt
ihr die Leute nicht mal am Karfreitag in Ruhe lassen,
verdammt?«
»Doch, schon, aber wir waren hier für acht Uhr eingeladen. Ist
Lille denn nicht da?«
Die vier auf dem Korridor konnten in dem halbdunklen
Zimmer nun ein junges Mädchen ausmachen, das sich ein Laken
um den Körper gewickelt hatte. Ihre Wangen waren erhitzt und
gerötet, die Haare zerzaust und die Augen glänzten.
»O Gott, ihr seid es, ich hatte ja keine Ahnung, dass es schon
so spät ist. Ist es wirklich schon acht? Wartet mal kurz, nur eine
63
Minute … Ach, das ist übrigens Petter, ich wollte gerne, dass ihr
ihn kennen lernt …«
Ihre Stimme zwitscherte ohne Unterlass.
»Hör mal«, sagte Mia beherrscht, »wir dachten, du brauchst
vielleicht Hilfe. Wir haben geklopft und gerufen. Haben
schreckliches Stöhnen gehört …«
»Ich glaub’s ja nicht!«, rief der zweite junge Mann, während
er sich durch die Haare fuhr, »habt ihr denn keinen Funken
Fantasie …?«
Die Schritte des Hausmeisters auf der Hintertreppe waren das
einzige Geräusch, das die darauf folgende Stille unterbrach.
Mia ging zurück in ihr Zimmer und starrte hinunter auf die
feiertagsleere Straße. Auf einmal war ihr, als hätte sie dort unten
Miss Marple gesehen, die mit einem verschmitzten Lächeln zu
ihr hinauf winkte.
Wer hätte das von der Alten gedacht …
64
Der offene Brief
Edda Magnúsdóttir
Sei für immer herzlich gegrüßt, liebe Mutter!
– Ich hatte versprochen, dir zu schreiben, sobald ich mein
Sehvermögen wiederbekäme.
Wie du sicherlich verstehen wirst, konnte ich niemand anderen
bitten, dir diesen offenen Brief zu schreiben.
Jetzt habe ich diese wunderbare Brille bekommen und kann
sowohl wieder die Zeitung lesen als auch wieder unseren
Bæjarfell, den Berg hinter unserem Hof, erkennen.
Ich sah schon so schlecht, dass mein lieber Guðbjörn
begonnen hatte, sich über meine verschiedenen
Unzulänglichkeiten zu beklagen. Wenn seine Strümpfe bald
falsch zusammengelegt, bald nicht zusammenpassend im
Schubfach lagen, fand er, dass ich meine Augen untersuchen
lassen sollte. Das zog sich dann in die Länge, bis er es mit dem
Magen bekam.
– Kannst du dich noch daran erinnern, als ich bei dir und
Guðbjörn zu Besuch war?
Damals warst du besonders zufrieden damit, wie gut ich
Kümmelkringel und Zimtschnecken zu backen verstand.
Mein lieber Guðbjörn findet es noch immer sehr wohltuend,
sich am Abend in die Speisekammer zu stehlen und eine
Schnecke oder ein Stück Kringel zu essen, ehe er zu mir ins
warme Bett kriecht. Ich bin weder bis oben hin zugeknöpft noch
kalt im Bett, liebe Mutter!
– Doch zurück zu meinem lieben Guðbjörn und seiner
Magenkolik.
Eines Nachts wurde mein lieber Guðbjörn furchtbar krank.
65
Er wand sich vor Schmerzen und hatte sowohl unter Erbrechen
wie unter Durchfall zu leiden, wie du, als du auf dem Sterbebett
lagst, liebe Mutter.
Mein lieber Guðbjörn wurde in Eile nach Reykjavik gebracht,
meine Tochter und ich fuhren mit ihm.
Die Ärzte sagten, dass Guðbjörn vergiftet worden sei.
Nach gründlichen Untersuchungen und Verhören gelangte die
Polizei zu dem Ergebnis, dass ich Kümmel mit dem Rest einer
Salbe verwechselt hatte, die mein lieber Guðbjörn nach alter
Gewohnheit in die große Vorratskammer gelegt hatte.
Glücklicherweise konnten die Ärzte meinen lieben Guðbjörn
retten. Ich wurde zum Augenarzt geschickt, der seine Praxis in
dem schrecklichen Betonbau hat, der Kringlan genannt wird,
wenn nicht gar Kümmelkringlan.
Natürlich existiert noch ein anderes Hausungetüm in der Stadt,
das Snúðurinn heißt.
Es war furchtbar, in diesem Kringlan umherzuirren.
Immerhin haben die ringförmigen Gebäude eine Form, die es
verhindert, dass man in ihnen eingesperrt wird.
Anders sieht es mit den schneckenförmigen Gebäuden aus,
man gelangt lediglich in ihrer Mitte hinein, und dort sitzt man
dann bis an sein Lebensende fest.
So wäre es mir beinahe ergangen, als der Bezirksrichter
behauptete, dass ich die Salbe absichtlich an die Kringel
gegeben hätte, die mein lieber Guðbjörn sich gegönnt hatte.
Doch das Gutachten des Augenarztes ob meiner
vorübergehenden Blindheit bewahrte mich davor, in einem der
schneckenförmigen Gebäude eingesperrt zu werden.
Diese Ärzte heutzutage können ganz ausgezeichnet und
achtsam sein.
Ja, nun kann ich fast ebenso gut sehen wie damals, als du es
bei uns mit dem Magen bekamst und die Salbe ebenfalls in der
66
großen Speisekammer verwahrt wurde.
Guðbjörn und mir ist es seit deinem Tod wirklich
ausgezeichnet ergangen, und daher sei für immer herzlich
verabschiedet, liebe Mutter.
Ruhe in Frieden. – Ráðhildur.
67
Hombre
Lars Kjædegaard
Elias bekam vor Sonntagvormittag nicht viel von Mutter oder
Jorge zu sehen.
Mutter war fertig. So fertig, dass sie nicht einmal versuchte, es
zu verbergen. So endete es inzwischen, wenn sie mit den Mädels
ausgegangen war. Junge, Junge, dachte Elias, als er sah, wie sie
herumwankte. Sie erinnerte ihn an etwas, das die Katze schon in
der Mangel gehabt hatte. Je älter Mutter wurde, desto mehr
redete sie von den »Mädels«. Als ob sie Mädchen wären. Sie
waren aber verdammt nochmal Damen, oder, wenn man richtig
deutlich werden wollte, mittelalte Schachteln oder so. Elias war
froh, dass er nicht dabei gewesen war.
Elias dachte darüber nach, ob es wohl Menschen weiblichen
Geschlechts gab, die sich ganz und gar im Klaren darüber
waren, was sie in Wirklichkeit waren. Er fand es peinlich, wenn
Mutter davon sprach, zum Weiberabend zu gehen. Warum
nahmen erwachsene Frauen sich selbst nicht ernst? Entweder
waren sie Mädels oder Weiber, oder vielleicht waren sie auch
verfluchte Schlampen. Warum wussten sie nie, was sie waren?
Jorge war Mutters Freund. Er war Halbbrasilianer und sah gut
aus. Und er war zehn Jahre jünger als Mutter. Jorge hatte kein
Mitleid mit Mutter, und er zeigte es, indem er ziemlich laut
Opern hörte. Es war unerträgliche Musik mit Jammern und
Schreien, und Elias wusste genau, dass das Jorges Art war,
Mutter dafür zu strafen, dass sie ausgegangen war und jetzt
herumlief und Wasser trank und Brausetabletten nahm und
zwischendurch die Augen verdrehte, als könne sie gar nicht
fassen, dass es einem so schlecht gehen konnte. Jorge wirkte
ziemlich cool, und Elias konnte an ihm nichts Auffälliges
bemerken. Jetzt, Sonntagvormittag, glaubte er nicht mehr, dass
68
Jorge ihn gesehen hatte, als Jorge aus dem Haus gekommen war,
in dem die professionellen Mädchen arbeiteten. Das gab Elias
ein ruhiges Gefühl. Denn er hatte Jorge gesehen.
Elias hatte gefrühstückt, während Jorge herumlief und
Verschiedenes erledigte und seine Oper im Wohnzimmer
dröhnte, dass die kleinen, antiken, von einem Architekten
entworfenen Pendelleuchten aus gelblichem Glas über dem
Esstisch fast flatterten.
Elias sah hinüber zu Mutter, die immer noch im Morgenmantel
war und aussah, als wäre sie schon wieder auf dem Weg ins
Bett.
»Durchgemacht?«, sagte Elias zu ihr.
Sie sah hoch, blinzelte mit den Augen und strich sich ihre
zerzausten, lockigen Haare aus dem Gesicht. Ihre Haut war gelb
und sah ein bisschen fettig aus, wie Weißbrot, das darauf wartet,
in den Ofen geschoben zu werden. Irgendwie aufgequollen, aber
auch mit roten Flecken auf den Wangenknochen unter den
Tränensäcken. Sie versuchte ihn anzulächeln.
Die Musik wurde lauter, und Elias konnte sehen, wie Mutter
zusammenzuckte, während die Pauken hämmerten und eine
Frau höher und höher und immer hysterischer sang.
»Du weißt …«, sagte sie, gab aber auf. Sie schaffte es nicht,
die Musik zu übertönen.
Elias stand auf und ging zur Anlage im Regal. Er drückte auf
Stopp. Im Wohnzimmer war vollkommene Stille, und Elias
konnte sehen, wie Mutter aufatmete und die Augen schloss.
Im selben Moment kam Jorge von der Terrasse herein.
»Was?«, fragte er und sah Elias an, als hätte Elias ihn gerufen.
»Was was?«, fragte Elias und sah ihn an.
Jorge ähnelte ihm vom Typ her ein bisschen, dachte Elias. Er
war ein gut aussehender Mann, schlank, mit langen Beinen, an
denen seine Diesel-Hosen gut saßen. Er war »intensiv«, sagte
69
Mutter. Jetzt jedenfalls war er intensiv, und aus irgendeinem
Grund war es Elias scheißegal.
»Du machst meine Oper aus?«, fragte Jorge mit seinem
schwachen Akzent, der manchmal cool klang und manchmal
einfach nur bescheuert. Wie jetzt.
»Meiner Mutter geht’s nicht so gut, Jorge«, sagte er. »Lass es
uns einfach ruhiger angehen, ja?«
Aber Jorge blickte Elias unverwandt an. Ein Bein hatte er ein
wenig seitlich ausgestellt, und eine Hand lag auf der Hüfte.
»Du machst meine Oper aus?«, wiederholte er. Dieses Mal
noch ein bisschen intensiver, dachte Elias. Und weiter dachte er,
geh doch in den Garten, egozentrisches Arschloch.
Elias holte Luft. So was hatte es zwischen ihm und Jorge noch
nie gegeben, und so gesehen war er durchaus gespannt darauf,
wie weit der Südamerikaner gehen würde.
»Ja, ich habe deine Oper ausgemacht, Jorge«, sagte Elias.
»Kannst du nicht sehen, dass es meiner Mutter nicht gut geht?
Entspann dich, okay?«
Ein kleines Lächeln lag auf Jorges Lippen. »Du machst meine
Oper aus und erzählst mir, was ich zu tun habe, Elias?«
Jorge hatte es damit, seinen Namen irgendwie spanisch
auszusprechen. So, dass er sich auf »buenos dias« reimte. Das
konnte er auf eine nette und eine weniger nette Art machen,
genau, wie es ihm einfallen konnte, »ombray!« zu Elias zu
sagen, was »hombre«, Mann, bedeutete und signalisierte, dass
Jorge in Buddy-buddy-Laune war.
Das war er jetzt nicht.
Elias spürte, dass irgendetwas in ihm selbst, ein kleiner
Widerstand oder eine kleine Furcht, nicht mehr da war. Es war
nur ein kleiner Klick, aber es brachte ihn dazu, weiter zu gehen.
Elias stellte sich genauso hin wie Jorge, die eine Schulter ein
wenig angehoben und zu Jorge gewandt, das eine Beine ein
70
Stück vor dem anderen. Er müsste nur noch einen Arm über den
Kopf heben, mit dem vorderen Fuß ein wenig trampeln und
»olé! Flamenco, hombre!« rufen.
Jorge kniff die Augen leicht zusammen, während sein Lächeln
breiter wurde, als könne er einfach nicht glauben, was er sah.
Elias ließ die Parodie fallen. »Jorge, meiner Mutter geht es
schlecht. Du wirst doch verdammt nochmal wann anders Musik
hören können. Oder setz deine Kopfhörer auf, wenn es
unbedingt jetzt sein muss.«
Aber er hatte nicht gesehen, wie zornig Mutters Freund war,
und schaffte es nicht mehr rechtzeitig, die Arme hochzunehmen,
bevor Jorge ganz dicht vor ihm war und ihm die härteste
Ohrfeige verpasste, die er jemals bekommen hatte. Wenn er
überhaupt je eine bekommen hatte. Es knallte nur zweimal in
dem stillen Wohnzimmer, aber so, dass Elias dachte, was zur
Hölle war das? So schnell ging es.
Elias drehte langsam seinen Kopf und sah zu Mutter, die
immer noch mit ihren Haaren und dem Bademantel unter der
Pendelleuchte saß. Sogar der Bademantel sah aus, als wäre er
aus gewesen und hätte die Nacht durchgezecht.
»Jorge …«, sagte sie von dort drüben. »Jorge …«
Aber Jorge ignorierte sie. Er stand einen Meter von Elias weg
und sah ihn fragend an, mit seinem kleinen Lächeln und der
einen hochgezogenen Augenbraue.
Elias wusste, dass seine Mutter aufstehen, herüberkommen
und sich einmischen würde, wenn ihr klar wurde, was Jorge
gerade tat, und er konnte in Jorges Augen sehen, dass sie
genauso einen Schlag abbekommen würde wie er selbst eben.
Elias spürte in sich eine kühle Ruhe.
Er drehte sich zum Regal mit dem CD-Player.
»Gut«, sagte Jorge hinter ihm. »Das war vernünftig, Elias.«
Buenos dias, dachte Elias.
71
Er drückte auf die Lade und nahm die CD heraus.
Jorges Augenbraue hob sich wieder ein wenig, aber das
Lächeln verschwand nicht.
»Leg discos compactos ein«, sagte Jorge.
Elias steckte den kleinen Finger durch das Loch der CD. Er
konnte sehen, wie Jorges Nasenflügel sich ein wenig weiteten,
und er musste an Jorge und Mutter auf dem Sofa denken, wo er
sie an einem Abend gesehen hatte, als er früher von einer
langweiligen Party nach Hause gekommen war. Mutter und ihr
junger Liebhaber in dem feinen Haus, in dem kein Vater mehr
war.
»Leg discos compactos ein«, wiederholte Jorge.
»Du willst jetzt Oper hören?«, fragte Elias und sah Jorge fest
an.
Dieses Mal flüsterte Jorge. »Leg … discos compactos … ein,
und mach an, Elias …«
Es war merkwürdig, aber je wütender Jorge wurde, umso
ruhiger wurde er selbst. Elias nahm die CD von seinem Finger
und warf sie wie ein silbernes Frisbee durch die offene
Terrassentür nach draußen.
»Leg sie doch selbst ein, du lächerlicher Cowboy«, sagte er,
ohne Jorge aus den Augen zu lassen.
Jorge lief Amok. Aber dieses Mal hatte Elias die Arme oben.
Er schützte seinen Kopf, während Jorge auf ihn eindrosch. Elias
sah nach unten. Er konnte seine Mutter schreien hören. Elias trat
mit seinem Absatz so fest er konnte auf Jorges linken Fuß. Jorge
wich einen Schritt zurück und hob den Fuß.
Elias traf seinen rechten Knöchel, Jorge verlor das
Gleichgewicht und machte ein paar stolpernde Schritte nach
hinten, bevor er über einen der geflochtenen Corbusierstühle am
Esstisch fiel und auf Hintern und Ellenbogen landete. Elias sah
seine Mutter an. Sie starrte ein wenig nach oben, als ob sie nicht
72
wirklich glaubte, was im Wohnzimmer geschah. Dann ging
Elias an Jorge auf dem Boden vorbei und ging aus dem
Wohnzimmer hinaus, den Flur entlang in sein Zimmer. Er
schloss die Tür ab.
Es war still im Haus, und Elias entdeckte, dass seine Hände ein
bisschen zitterten. Sein Gesicht prickelte auch noch, da, wo
Jorges flache Hand ihn geschlagen hatte. Das war das erste Mal
seit langem, dass er wünschte, er hätte einen Joint. Er nahm von
dem heftigen Wunsch Abstand, der ihn zu übermannen drohte.
Er merkte, wie sehr es in ihm zog. Lass es ziehen, dachte er, lass
es fast überall ziehen, aber nur fast. Ein Teil von ihm hätte alles
dafür gegeben, den kräftigen, runden Rauch tief in die Lungen
zu bekommen. Ein Teil von ihm würde jeden Preis bezahlen, um
breit werden zu können und eine andere Perspektive zu
bekommen.
Es war nicht leicht.
Aber das musste es auch nicht sein.
Es war okay.
Langsam erlaubte er seinen Gedanken wieder, Form
anzunehmen. Es war, wie aus einem Traum kommen, wie wach
werden. Wo bin ich, und was habe ich getan? Und was werde
ich tun?
Er dachte.
Er hatte das Gefühl, sich weiter gezwungen zu haben, auf
etwas zu, das wichtig war. Sex. Das war es, was ihn dazu
getrieben hatte, in dem Haus anzurufen, in dem die Mädchen
arbeiteten. Das war es, was ihn dazu gebracht hatte, dorthin zu
gehen. Um hineinzugehen. Und Jorge zu sehen – rauskommen.
In Wirklichkeit war es auch genau das – Sex –, was ihn dazu
gebracht hatte, Jorge zu konfrontieren.
73
Gelegentlich hatte er seine Mutter darüber reden hören, den
ein oder anderen mit dem ein oder anderen zu »konfrontieren«.
Sie hatte einmal Lone Schwartz konfrontiert, weil Mutter fand,
dass sie keine loyale Freundin mehr war. »Ich werde sie damit
konfrontieren müssen«, hatte sie gesagt, und Elias hatte darüber
nachgedacht, was es bedeutete, jemanden mit etwas zu
konfrontieren. Nichts Schönes, das konnte er an Mutters Stimme
hören.
Jetzt wusste er es.
Er hatte Jorge konfrontiert, weil Jorge seine Mutter belästigt
hatte. Und das fühlte sich in Wirklichkeit gut an. O Mann, er
wusste, dass er so etwas noch vor nur einem Monat niemals
getan hätte. Und jetzt hatte er es getan. Er betrachtete seine
Hände. Sie zitterten kaum mehr. Er hatte nicht einmal Angst vor
Jorge. Discos compactos, hombre!
Aber … warum hatte er an Sex gedacht?
Mutter und Jorge … Mutter hatte genau gewusst, dass es
vielleicht schwer für Elias war, dass ein neuer Mann ins Haus
gekommen war. Sie hatte keinen Hehl daraus gemacht, dass es
ihr viel bedeutete.
»Er macht mich froh, Elias«, hatte sie gesagt.
Ja, daran hatte er keinen Zweifel. Er hatte sie auf dem Sofa
gesehen. »Er ist ziemlich jung, oder?«, hatte er gefragt, und
Mutter hatte ihre Freude nicht verbergen können.
»Ja«, sagte sie, »er ist ziemlich jung. Aber das spielt keine
Rolle, Elias. Alter spielt keine Rolle, wenn es … einem so
geht.«
Nein, das tat es vielleicht nicht. Aber es bedeutete etwas
anderes für ihn als für sie.
Er ging zur Tür und schloss auf. Er war alt genug. Alt genug,
den stupiden Freund seiner Mutter zu konfrontieren. Alt genug,
um zu probieren, Sex zu haben. Und alt genug, um zu wissen,
74
dass, wenn er den Freund seiner Mutter aus einem Puff kommen
sah, in den er selbst gerade gehen wollte – es war dann allein an
ihm, Elias, dafür zu sorgen, dass die Dinge in Ordnung kamen.
Jorge klopfte gegen drei an. Seit dem Vormittag war kein Laut
im Haus zu hören gewesen.
»Komm rein«, sagte Elias. Er saß auf dem Stuhl am Fenster.
Die Tür ging auf, und Jorge stand in der Öffnung.
»Hallo«, sagte er. Seine Stimme war leise, und Elias konnte
sehen, dass Gewalt und Zorn ihn verlassen hatten.
»Wo ist Mutter?«, fragte Elias. Er stand nicht auf.
»Sie schläft«, sagte Jorge.
»Gut«, sagte Elias.
Der große Liebhaber stand in der Tür, an den Rahmen gelehnt.
Er hatte die Hände hinten in die Hosentaschen gesteckt.
»Ich wollte mich nur entschuldigen«, sagte Jorge und hob
seinen Blick über Elias hinweg, sodass er in den Garten sah.
»Okay«, sagte Elias. Es war überstanden. In ihm war auch
kein Zorn mehr. Es gab nicht wirklich etwas zu sagen.
»Sie hat einen harten Abend gehabt, Elias.«
Ja, dachte Elias. Das war ja der Grund … warum sagte Jorge
ihm das?
»Ich weiß.«
Jorge änderte die Richtung. »Und was ist mit dir, Elias?«
Kameradschaftlich. Hombre.
»Was mit mir?«
»Hast du einen schönen Abend gehabt?«
»Ich? Ja, ich hatte einen prima Abend. Es war ja keiner zu
Hause.«
75
Jorge sah zu ihm hinunter und Elias konnte etwas in seinen
Augen sehen.
»Warst du den ganzen Abend zu Hause? Ganz allein?«
Aha. Elias entschied sich, ihm eine Kleinigkeit zu geben.
»Ich bin ein bisschen mit dem Rad herumgefahren, als es
dunkel geworden war.«
»Okay«, sagte Jorge, und Elias konnte sehen, wie er dachte.
Wenn du jetzt fragst, wohin ich gefahren bin …
»Wo bist du denn hingefahren?«
Elias hielt es zurück.
»Einfach rum. Gerade bis zum Fitnesscenter.«
Er fragte sich, wie dumm Jorge wohl war.
»Hast du niemanden getroffen, den du kennst?«
Elias fiel es schwer, ein Lächeln zu unterdrücken. »Nö.«
Jorge kam ins Zimmer und hockte sich vor die Wand direkt
neben der Tür. Jetzt waren sie auf Augenhöhe.
»Elias … weißt du, was ich mache?«
Elias wartete ein wenig, bevor er sagte: »Nein, nicht richtig.
Meinst du Arbeit?«
Der Südamerikaner nickte. »Weißt du das?«
»Nein. Irgendwelche Geschäfte, oder?«
Jorge nickte wieder. »Ja. Ich arbeite für eine Firma, die
Wasser verkauft.«
»Wasser?«
Jorge nickte immer noch. »Ja, Wasser. Du kennst doch diese
Behälter, die sie in den Büros rumstehen haben? Gekühltes
Wasser?«
»Ja.«
»Die verkaufe ich.«
»Du verkaufst Wasser?«
76
»Ja. Wasser. An Büros und Firmen. Fahre rum, mache neue
Verträge … das ist ein gutes Geschäft.«
»Sicher«, sagte Elias, ohne etwas Bestimmtes damit zu
meinen. Er dachte, warum erzählst du mir das jetzt?
»Wir unterhalten uns so selten, Elias. Das tut mir Leid.«
Elias sah ihn an. Jorge stand auf. »Das wollte ich nur sagen.«
»Okay, cool«, sagte Elias.
Jorge ging raus und schloss leise die Tür hinter sich.
Ja, right, dachte Elias. Wasser.
Er dachte weiter. Er glaubte jetzt, dass Jorge ihn auf der Straße
vor dem Haus der Mädchen gesehen hatte. Er glaubte, dass
Jorge sich nicht sicher war, ob es wirklich Elias war, den er
gesehen hatte. Darum hatte er gefragt, wo Elias gewesen war.
Und dann hatte Jorge gedacht, dass, wenn er Elias gesehen hatte,
Elias ihn vielleicht auch gesehen hatte. Und darum hatte er Elias
erzählt, dass er Wasser verkaufte. Was vielleicht auch richtig
war, aber Elias glaubte nicht daran. Das bedeutete gar nichts.
Während es dunkel wurde, dachte Elias darüber nach, warum
Jorge aus dem Haus der Mädchen rausgekommen war.
Vielleicht war er drinnen gewesen, um mit einem von Tanias
Mädchen Sex zu haben. Oder mit Tania selbst. Für einen
Augenblick machte der Gedanke Elias wütend. Warum zum
Teufel konnte er das nicht für sich haben?
Aber vielleicht, dachte er, vielleicht gab es noch eine andere
Erklärung. Die Art, wie Jorge über Geschäfte gesprochen hatte
… Elias konnte es nicht ganz verstehen. Warum hatte er noch
nie vorher etwas von dieser Wasserfirma gehört? Wie konnte
Jorge Wasser verkaufen und dann überhaupt nie über Wasser
reden? Vielleicht hatte Jorge irgendetwas mit diesem Ort zu tun?
Vielleicht war das sein Geschäft?
Elias versuchte, sich bis zu dem vorwärts zu denken, das mit
ihm selbst zu tun hatte. Wenn Jorge da oben arbeitete, dann war
77
es vielleicht eine dumme Idee gerade dorthin zu gehen, um zu
versuchen Sex zu haben?
Er dachte lange darüber nach. Er versuchte es sich
vorzustellen. Vielleicht war es eine dumme Idee, dorthin zu
gehen. Oder vielleicht war es gerade richtig, dorthin zu gehen.
Langsam war es dunkel geworden.
Die Rezeption im Haus der Mädchen war nur schwach
beleuchtet. Schummerlicht und gedämpfte Musik. Elias stand
vor der Theke. Hinter der Theke stand Tania.
»Hier auf der Karte kannst du sehen, was wir anbieten«, sagte
Tania. »Ist es dein erstes Mal?«
Elias nickte. »Ja.«
Tania nickte auch. Sie wirkte nett. Sie sah aus, als wäre sie um
die dreißig. Sie hatte blonde Haare mit ein paar dunkleren
Strähnen dazwischen. Sie hatte scharfe Sachen an, ein
durchsichtiges Kleid und einen schwarzen Büstenhalter. Elias
konnte ihre sonnenverbrannten, festen Brüste sehen, und er
fragte sich, ob sie echt waren. Sie sahen nicht danach aus. Sie
sahen hart und schwer aus.
Tania erklärte ihm, was die verschiedenen Bezeichnungen
beinhalteten, aber es fiel Elias schwer, die Erklärungen mit
etwas zu verbinden, das er selbst tun sollte.
Er sagte: »Ich will einfach nur gern ausprobieren, wie es ist,
Sex zu haben. Mit einem Mädchen. Ich habe das noch nie
gemacht.«
Tania sah von der Karte auf und lächelte. Sie legte das in
Plastik eingeschweißte Menü beiseite.
»Okay«, sagte sie dann. »Okay. Wir gehen es ganz langsam
an.«
Elias nickte. »Soll ich dann … ein Mädchen aussuchen?«
Er hatte gehört, dass die Mädchen hereinkamen und sich vor
78
den Kunden aufstellten, sodass man selbst aussuchen konnte.
»Bin ich nicht gut genug?«, fragte Tania und riss ihre Augen
auf.
Elias fühlte sich ein wenig beschämt. »Doch … doch,
natürlich. So hatte ich es nicht gemeint. Ich dachte nur, du wärst
die Chefin. Dass du hier die Theke beaufsichtigst.«
»Ich kann mich gern ein bisschen um dich kümmern«, sagte
Tania. »Wenn du Lust hast.«
Er nickte. »Wie viel?«
Er wusste, dass man immer im Voraus bezahlen musste.
Aber Tania sagte: »Lass uns hinterher darüber reden.«
»Okay«, sagte Elias. »Aber, ich habe wirklich Geld dabei.«
»Ja, da bin ich sicher«, sagte Tania. »Sagen wir, wir legen den
Preis hinterher fest.«
»Okay«, sagte Elias. Er schwitzte ein bisschen.
»Du wirst bestimmt mal richtig gut«, sagte sie hinterher. »Du
bist ein hübscher Kerl.«
»Ich heiße Elias.«
»Okay, Elias.«
Sie saß auf dem Bett, während er seine Sachen anzog. Als er
die Hosen angezogen hatte, sah er sie direkt an. »Darf ich dich
etwas fragen?«
Sie hatte sich eine Zigarette angesteckt und lächelte. Sie war
nett, und Elias fühlte sich dankbar. Ihre Haut war braun, und er
war vorsichtig gewesen, um ihre Brüste nicht zu fest zu drücken,
die nicht wie ein natürlicher Teil von ihr wirkten. Er hatte es
zum ersten Mal gemacht. Jetzt wusste er, dass er es wieder
machen könnte – leicht –, aber gerade jetzt lag es schon hinter
ihm.
79
»Natürlich darfst du.« Sie blies den Rauch in die Luft. Es war
dunkel im Raum, abgesehen von dem Licht, das der rote
Lampenschirm neben dem Bett ausstrahlte.
»Es ist vielleicht eine komische Frage, aber ich kann nur dich
fragen, Tania.«
Er sah sie direkt an.
»Frag mich, Elias. Ich werde dir schon antworten. Wenn ich
kann.«
Elias setzte sich ihr gegenüber aufs Bett. Sie lächelte immer
noch, und er konnte sehen, dass sie neugierig war. Er hatte
gehört, dass Nutten kalt und berechnend waren. Aber er war der
Ansicht, dass sogar Nutten waren wie andere Menschen.
Verschieden.
Am Samstag aßen sie alle zusammen. Samstags war Jorge in
aller Regel guter Laune und redete von Familie, während er
kochte.
»In Argentinien isst man lange«, sagte er. »Nicht wie hier. In
Argentinien verwendet man Zeit darauf. Die ganze Familie ist
da, alle helfen beim Kochen. Die Alten sitzen dabei und
bekommen einen Drink. Es ist gemütlich. Ihr Dänen redet so
viel von Gemütlichkeit, Elias, aber in Argentinien, da ist sie
einfach.«
»Cool«, sagte Elias, der davon schon gehört hatte. Jorge
konnte unglaublich guter Laune sein. Dann sollte man alles
Mögliche probieren. Man sollte seine Meinung sagen. Man
sollte keine Angst davor haben zu entspannen und ganz man
selbst zu sein.
Mutter war froh, wenn Jorge froh war. Und am Anfang hatte
das wiederum Elias froh gemacht. Nur zu sehen, dass sie froh
war. Und am Anfang war es gemütlich gewesen. Nicht auf
80
dieselbe Art gemütlich wie damals, als Vater lebte, aber
dennoch.
An diesem Samstag gegen fünf sagte Elias zu Mutter: »Ist es
okay, wenn meine Freundin mitisst?«
Mutter war dabei, eine Aubergine auszuhöhlen, nachdem
Jorge ihr erklärt hatte, wie sie es machen sollte. Sie sah vom
Küchentisch auf. Jorge stand an den anderen Küchentisch
gelehnt, ein Glas Wein in der Hand. Aus dem Ofen roch es nach
Braten.
»Deine Freundin?«, wiederholte Mutter. »Du hast eine
Freundin, Elias?«
»Ja«, sagte er.
Jorge grinste ihn an. »Hombre!«, sagte er und zwinkerte Elias
zu. Von Mann zu Mann.
»Aber, davon hast du ja gar nichts erzählt«, sagte Mutter. Ihre
Überraschung war dabei, einem Lächeln zu weichen. »Natürlich
darf sie mitessen, mein Schatz. Wie heißt sie?«
»Ulla.«
»Ulla?«, wiederholte Mutter, immer noch mit diesem kleinen,
erstaunten Lächeln, als wäre es ganz großartig, dass Elias’
Freundin Ulla hieß.
»Ulla-ulla-ulla«, sagte Jorge und grinste ihn wieder an.
»Aber«, sagte Mutter. »Wo hast du Ulla kennen gelernt? Und
wieso hast du mir nichts gesagt?«
Elias lächelte sie an. »Wie lange warst du mit Jorge
zusammen, bevor du mir davon erzählt hast?«
Ihr Lächeln wurde ein bisschen kleiner. »Na ja … aber das ist
doch was anderes. Du bist doch mein Sohn.«
»Ja, und du bist meine Mutter«, sagte Elias. »Deshalb …«
Jorge sah sie beide von seinem Platz aus an und grinste
wieder.
81
»Familie«, grinste er.
Elias konnte Mutter ansehen, dass sie jetzt nervös war. Zuerst
war sie erstaunt gewesen, dann froh – weil er eine Freundin
gefunden hatte und sie zum Abendessen mitbringen wollte –,
und dann war sie nervös geworden.
Elias’ Herz sank ein bisschen, aber er wusste, dass es so sein
musste. Er ging zum Schrank und nahm einen zusätzlichen
Platzteller heraus, ein zusätzliches Set und ein Gedeck.
Weinglas, Wasserglas. Er deckte den Tisch. Mutter hatte sich
wieder über ihre Aubergine gebeugt. Er konnte sehen, wie sie
versuchte zu denken, versuchte herauszufinden, wie sie sich
verhalten sollte, wenn es nicht sie und Jorge waren – also Jorge
–, die die Show lieferten.
Elias ging um den Tisch herum, während er versuchte sich
vorzustellen, wie es Mutter gehen würde, wenn sie es war, die
ins Wohnzimmer kam und ihn, Elias, mit einem Mädchen auf
dem Sofa finden würde. Er machte sich hart.
Wenn er das aushalten konnte, dann konnte sie es auch.
Konnte sein, dass sie musste. Aber er selbst war auch nervös. Er
ging hinüber zum Küchentisch, an dem Jorge stand, und
schenkte ein Glas Wein ein. Jorge fing seinen Blick auf und
zwinkerte ihm einmal zu.
Er selbst machte Ulla, wie sie in Wirklichkeit hieß, auf. An
diesem Samstagabend war sie ganz gewöhnlich angezogen.
Jeans, Bluse. Sie trug ihre Haare offen. Sie sieht nicht aus wie
eine Nutte, dachte Elias.
Er hängte ihre Jacke an die Garderobe, während sie sagte:
»Bist du immer noch sicher, dass das eine gute Idee ist,
Elias?«
Er lächelte sie an. »Lass uns sehen, was passiert«, sagte er.
Sie lächelte auch. »Es ist dein Geld«, sagte sie.
82
Wie er erwartet hatte, war es seine Mutter, die am heftigsten
reagierte, als sie in die Küche kamen.
Sie reichte ihr die Hand und sagte »Tag, Ulla«, während Elias
sie ansah.
Mutters Lächeln, das sie nur schwer aufrechterhalten konnte,
während ihr Blick von Ulla zu ihm flackerte. »Also, Sie sind
Elias’ … Freundin?«
»Ja«, sagte Ulla. »Und danke, dass ich mitessen darf.«
Es war haargenau so unwirklich, wie Elias gehofft hatte. Er
war siebzehn, und jeder konnte sehen, dass Ulla um die dreißig
sein musste. Er konnte sehen, wie Mutter dachte. Er konnte
sehen, wie sie dachte, dass sie nicht wusste, was sie denken
sollte. Sie sah ihn an, als hätte sie ihn noch nie vorher gesehen.
»Wo habt ihr euch eigentlich kennen gelernt?«, fragte sie
dann, während sie an der Küchentheke zum Wohnzimmer stand.
»Auf einem Fest«, sagte Ulla. »Elias ist ein richtig guter
Tänzer.«
»Ist er das?«, fragte Mutter.
»Ja«, sagte Ulla. »Und er ist ein netter Kerl.«
Mutter lächelte tapfer, dachte Elias.
Jorge war nicht im Raum gewesen, als sie hereinkamen. Jetzt
kam er von der Terrasse, und Elias sah, wie er gleichsam anhielt
und dann seinen Weg über den Wohnzimmerboden fortsetzte.
Es war nur ein kleiner, unsicherer Schritt, als er Ulla entdeckte.
Mutter gab es an ihn weiter. »Jorge, das ist Elias’ Freundin,
Ulla. Ulla, das ist mein Freund, Jorge.« Elias sah, wie sie sich
die Hände gaben. »Hallo Jorge«, sagte Ulla und lächelte.
»Hallo«, sagte Jorge.
Elias sagte nichts. Aber er lächelte und sah die drei an. Er sah
Jorge um die Küchentheke gehen und ihnen den Rücken
zuwenden. Elias folgte ihm mit den Augen und sah, wie er sich
kurz umdrehte. Elias traf Jorges Blick. Jorge starrte ihn mit
83
seinen dunklen Augen an. Elias konnte sehen, dass er nicht mehr
länger in der Stimmung war, in der er jemandem
verschwörerisch zublinzelte.
Sie setzten sich an den Tisch – Elias lächelte Ulla an. Mutter
konzentrierte sich darauf, ein gutes Essen zu servieren. Jorge
schwieg – er war gut darin, zu schweigen. Sein Schweigen
verriet immer viel, wenn man ihn gut genug kannte. Ab und zu
warf er Elias einen verletzten Blick zu, der Elias gut tat. Er hatte
große Lust, Jorge zuzuzwinkern, aber er tat es nicht. Er lächelte
nur.
Mutter – die großen Wert auf eine gute Unterhaltung legte –
sagte zu Ulla: »Und was machen Sie, Ulla? Ja, ich gehe ja nicht
davon aus, dass Sie mit Elias zur Schule gehen?«
Ulla lächelte. »Nein, es ist lange her, dass ich zur Schule
gegangen bin. Ich arbeite in einer Klinik.«
Mutter war vielleicht dabei, die Dinge zu einer Wirklichkeit
zusammenzusetzen, die sie verstehen konnte. Sie nickte. »Eine
Klinik? Was für eine Klinik?«
»Massage«, sagte Ulla.
Erst konnte Elias seine Mutter an Heilung denken sehen, an
alternative Behandlungen – für die sie sich einsetzte –, während
sie nickte. Dann sagte sie, »Okay, eine … Massageklinik?«
Das Wort kam so verwundert, dass Elias fast lachen musste.
»Ja«, sagte Ulla. »Ich bin Intimmasseuse.«
Elias sah Jorge an, der auf seinen Teller hinuntersah, als hätte
all das nichts mit ihm zu tun.
Es war kurz still. Dann sagte Mutter, während sie Elias direkt
ansah, »Elias …«
Er sah sie an, ohne zu lächeln. »Ja?«
Mutter hatte ihr Weinglas abgestellt und sich in ihrem Stuhl
zurückgelehnt. Sie lächelte immer noch ein wenig, aber es war
84
ein Lächeln, das dabei war, etwas anderem zu weichen. Sie
richtete den Blick auf Ulla.
»Ja, Sie müssen entschuldigen, Ulla, aber das ist ein bisschen
schwierig für mich. Sie sind Intimmasseurin, sagen Sie? Und Sie
sind die Freundin meines Elias?«
»Ja«, sagte Ulla. »Das ist richtig.«
Gut, dachte Elias. Ulla war unangefochten. Jetzt sah Mutter
wieder ihn an.
»Elias, stimmt das? Dass du der Freund einer …«, sie sah
wieder zu Ulla hinüber, »ja, nicht weil ich jemanden verurteilen
will, Ulla, aber vielleicht können Sie verstehen, dass es ein
wenig seltsam für mich ist, dass mein siebzehnjähriger Sohn mit
seiner ersten Freundin nach Hause kommt, die sich als weit älter
als er selbst herausstellt und darüber hinaus eine …«
Sie versuchte ein Wort zu finden, das die Wahrheit abdeckte,
ohne sie gleichzeitig selbst zu kompromittieren.
Da kam Jorge ihr zu Hilfe. »Nutte«, sagte er.
Elias sagte noch immer nichts.
Mutter hätte sicher ein anderes Wort gefunden, wenn sie die
Möglichkeit gehabt hätte. Jorges Wort wirkte wie eine Ohrfeige
auf sie. »Jorge!«, sagte sie.
Jorge sah sie böse an, schüttelte kurz den Kopf und sah
hinunter auf sein Essen, während er das Lammfleisch klein
schnitt.
»Das ist schon in Ordnung«, sagte Ulla. »Jorge weiß, wovon
er spricht. Da bin ich mir sicher.«
In diesem Moment hatte Elias ein wenig Mitleid mit seiner
Mutter. Und zugleich war das hier alles, was er sich erhofft
hatte.
Mutter war nicht dumm, oder … Vielleicht war sie kein Genie,
aber sie hatte Antennen. Sie war gut darin, Stimmungen
aufzufangen. Jetzt nahm sie einen schnellen, routinierten
85
Schluck ihres Weines, während sie Ulla anstarrte.
»Was meinen Sie damit?«, fragte sie.
»Was meine ich womit?«
»Damit, dass Sie sicher sind, dass Jorge weiß, wovon er
spricht?«
Ulla zuckte mit den Schultern. »Das … das weiß ich wirklich
nicht.«
Aber Mutters soziale Bemühungen waren verschwunden wie
Nebel in der Sonne. Sie hatte es versucht, aber sie war von dem
Augenblick an verloren gewesen, als Ulla den Raum betrat,
genau wie Elias es gewusst hatte.
Jetzt sah sie ihn an. »Elias, was zum Teufel soll das hier?«
»Was meinst du?«
Sie nahm ihr Glas, schluckte hastig und schenkte nach,
während sie sagte: »Du weißt genau, was ich meine! Was
machst du?«
»Gar nichts. Versuche, mein Essen zu genießen.«
Aber sie war jenseits all ihrer eigenen Ansprüche.
»Du lädst eine Nutte nach Hause zum Abendessen ein, wie ein
Blitz aus heiterem Himmel, und dann erzählst du mir, sie wäre
deine Freundin!«
»Ulla hat mir alles beigebracht, was ich über die Liebe weiß,
Mutter. Also, physische Liebe.«
Sie drehte durch. »Jetzt reicht es, Elias. Ich will das hier nicht
hören! Und – Sie, Ulla – was zum Teufel meinen Sie damit, dass
Jorge weiß, wovon er spricht? Was verdammt nochmal soll
das?«
Ulla sagte: »Ja, das sollten Sie vielleicht Jorge fragen.«
Mutter verstand nicht, was sie erwartete. Sie drehte sich zu
Jorge, zum Ende des Tisches. »Jorge … was meint sie?«
Als wäre sie mitten in einem bösen Traum.
86
Jorge legte sein Besteck hin und lehnte sich zurück. Sein
Gesicht war ausdruckslos, als wäre er in Wirklichkeit ganz
woanders. Er starrte Elias an.
»Woher soll ich das wissen?«, fragte er.
Mutter sagte über den Tisch zu Ulla: »Sie müssen schon sehr
entschuldigen, Ulla, aber hier passiert irgendetwas, das ich
einfach nicht begreife. Ich glaube, Sie dagegen begreifen es sehr
gut. Und wenn Sie etwas zu sagen haben, dann sagen Sie es.
Aber ich kann nicht akzeptieren, dass Sie auf diese Art in mein
Haus kommen und…«
Sie geriet ins Stocken, aber sie wusste, sie war gezwungen
auszureden. Sie schloss für einen Moment die Augen. Ihr Glas
war leer.
Dann öffnete sie die Augen wieder. Sie richtete sich auf. Elias
konnte sehen, dass sie ein bisschen benebelt war. Sie hatte
mindestens drei Gläser Wein sehr schnell nacheinander
getrunken. Sie fing an zu weinen. Dann sagte sie: »Elias …
warum hast du eine Nutte zum Abendessen eingeladen?«
»Warum hast du?«, sagte Elias.
Mutter schaffte es nicht mehr, den Sinn seiner Worte
aufzunehmen, bevor Jorge vom Stuhl aufgesprungen war.
»Jetzt hören wir auf, Elias«, sagte er. »Jetzt bist du zu weit
gegangen, hombre!«
Das war kein kameradschaftliches hombre. Elias sagte: »Nein,
du bist zu weit gegangen, hombre.«
Er wusste, dass es nicht mehr weit bis zur Gewalt war, und
irgendwie sehnte er sich danach.
Jorge ging um den Tisch, während er sagte, sehr laut: »Ich
meine, du solltest deine Freundin jetzt bitten zu gehen. Danke
für den Besuch. Das war eine hübsche Provokation. Aber jetzt,
finde ich, solltest du gehen, Ulla.«
»Ja, aber, warum?«, fragte Mutter. »Warum?«
87
»Weil«, sagte Elias schnell, während Jorge hinter Mutter und
ihm herumging, »weil Jorge …«
Aber er schaffte es nicht mehr.
Jorge packte ihn an der Schulter und zerrte ihn vom Stuhl. Der
Stuhl kippte um, und Jorge schleuderte ihn über den Boden,
während er anfing Elias mit der flachen Hand ins Gesicht zu
schlagen.
»Bringst deine Dreckshure mit nach Hause«, zischte er.
»Okay …« Elias konnte Mutter schreien hören. Er hörte
keinen Laut von Ulla. Er versuchte, an den Argentinier
heranzukommen, versuchte seine Schläge durchzubringen. Er
spürte, wie dieser dünne Mann die Gangart wechselte. Das
waren keine unkontrollierten, flachen Schläge mehr. Elias spürte
jetzt einen anderen Jorge, einen Jorge, der mit Gewalt sehr
vertraut war. Er bekam einen festen Schlag in die Magengrube
und, bevor er sich wieder ganz aufrichten konnte, einen
Fausthieb ins Gesicht. Er schmeckte Blut im Rachen. Er
versuchte sich zusammenzukrümmen, während er den nächsten
Schlag erwartete.
Aber er kam nicht. Er ließ sich auf den Boden fallen. Er sah
auf und sah Jorge weit über sich, unbeweglich. Er sah Ullas Arm
mit einer Pistole, dicht an Jorges Kopf. Er drehte seinen Kopf
eine Spur und sah ihr Gesicht. Sie blickte zu ihm hinunter, und
für einen Augenblick fühlte Elias sich, als wäre sie mehrere
Kilometer hoch und riefe vom Himmel zu ihm herunter.
»Es war eine dumme Idee, Elias. Aber es ist meine Schuld. Ich
hätte niemals kommen dürfen. Du kannst dein Geld behalten.«
Elias schloss die Augen. Er hörte sie da oben weitersprechen.
»Jorge, setz dich.«
Es geschah nichts, und Ulla brüllte: »Setz dich hin!«
Elias schluckte Blut. Er hatte das Gespür für das verloren, was
weiter passieren sollte, was er gedacht hatte, was passieren
88
sollte, was wirklich passiert war und warum. Er wollte
aufstehen. Aber in seinem Kopf drehte sich alles, und er dachte,
dass er sich lieber ein wenig ausruhen sollte, bevor er versuchte
sich zu bewegen.
»Aber ich will gern bezahlen«, sagte Elias. »Ich hatte mir nicht
vorgestellt, dass du es gratis machst.«
Es war eine Woche später, Dienstagabend. Es war nicht viel
los im Haus der Mädchen. Tania sah ihn über die Theke an.
Hinter ihr lief ein Porno im Fernseher. Dort war eine Art
Wartezimmer, wo die Kunden sitzen und in Fahrt kommen
konnten. Aber jetzt war keiner da, und die Models auf dem
Bildschirm stöhnten und strengten sich umsonst an.
Tania – in Arbeitskleidung, die schweren, braunen Brüste im
schwarzen Büstenhalter und darüber das durchsichtige
Nachthemd – sah ihn direkt an, und er konnte ihre Stimmung
nicht deuten.
»Es war meine Schuld, Elias. Ich fasse es nicht, warum zur
Hölle ich mitgemacht habe. Es war nicht gerade eine gute Idee.«
Er zuckte mit den Schultern. »Jorge ist ausgezogen. Es hat
gewirkt. Und du hattest eine Pistole. Mann.«
Tania wirkte heute Abend müde. Sie sagte wieder: »Ich will
kein Geld dafür, Elias. Und die Pistole war nicht echt. Es war
eine Attrappe. Ich fasse es nicht, dass du mich dazu gebracht
hast.«
Elias fühlte sich ausgeschlossen. Er hatte das Geld dabei.
Zweitausend Kronen, wie besprochen. Und jetzt wollte sie es
nicht haben.
»Hast du viel zu tun?«, fragte er.
Sie sah ihn nur an.
»Kann ich dich bezahlen wie neulich?«, fragte er. »Also für
das, was du immer machst?«
89
Sie sah ihn lange an, bevor sie die Tür zum Aufgang öffnete.
Dann nickte sie in Richtung des leeren Zimmers, wo sie das
letzte Mal gewesen waren.
Es ging gut, bis sie über ihm ins Stocken kam.
»Was?«, fragte Elias. Ihre Augen, grau im Licht der Lampe
auf dem Nachttisch, hingen genau vor seinem Gesicht. Er
konnte den Tabak in ihrem Atem riechen.
»Nichts«, sagte sie. »Ich …«
Er dachte daran, wie kalt es plötzlich auf der Haut wurde,
wenn man sich nicht bewegte. Er legte seine Hände auf ihren
Hintern.
Dann merkte er, dass sie weinte.
»Was ist los?«
Sie setzte sich auf. Für einen Moment war es sehr seltsam,
dass sie so auf ihm saß, als hätten sie nie daran gedacht, es zu
tun.
Sie hob sich langsam hoch und Elias wusste, dass es vorbei
war.
Sie saß mit dem Rücken zu ihm auf dem Bett. Ihr Rücken war
nackt und braun vom Solarium.
»Was ist los?«, fragte er. Er setzte sich auf.
Es dauerte einen Moment, bevor sie sich zu ihm umdrehte. Sie
weinte nicht mehr.
»Als du zum ersten Mal hier raufgekommen bist, mochte ich
dich, Elias. Es war nett, mit dir zusammen zu sein. Und du hast
mich dazu gebracht, einen großen Fehler zu machen. Weil es
nett war mit dir und weil du mich davon überzeugt hast, dass
Jorge ein dummes Schwein ist.«
Elias wartete.
Sie sah aus, als würde sie wieder weinen, aber dann sagte sie:
90
»Ich fand, er hätte es verdient. Und das hatte er auch. Aber…
das hier ist nicht deine Welt, Elias.«
»Was meinst du?«
»Das hier ist meine Welt. Meine. Männer, die kommen und
bezahlen. Ich bin zweiunddreißig, Elias. Ich kann nichts. Ich
kann hier liegen, während Männer ihren Orgasmus in mir haben.
Davon lebe ich. Und als du mich nach Hause eingeladen hast
und wir deiner Mutter und Jorge zeigen sollten, wie die Dinge
zusammenhängen …«
»Was dann?«, fragte Elias. Er verstand sie nicht.
Jetzt weinte sie wieder. Ihre aschblonden Haare lösten sich aus
ihrer sexy Frisur, die sie getragen hatte. Ihre Brüste starrten ihn
in ihrer machtvollen, befummelten Üppigkeit an. »Ich fand, es
wäre … schön. Darum bin ich gekommen. Ich wollte gern zu dir
nach Hause, Elias. Weil du nett bist. Und jung. Das mit deiner
Mutter und Jorge, das war mir nicht so wichtig. Ich wollte
einfach gern mit dir nach Hause.« Er hatte nichts zu sagen, aber
er rutschte zu ihr hinüber, auf Knien, legte die Arme um ihren
Hals und zog sie fest an sich.
»Entschuldige«, sagte er. »Entschuldige. So habe ich nicht
gedacht.« Er küsste sie und war erstaunt darüber, wie sie seinen
Kuss erwiderte. Vielleicht weinte sie noch immer ein wenig,
aber sie hielt ihn fest und zwang ihn zurück, und er merkte, wie
es zurückkam – eine ganz andere Stimmung, eine mehr … eine
richtige Stimmung. Zu irgendeinem Zeitpunkt, als sie sich
bewegten und es sich leicht anfühlte, dachte er an Mutter. Sie
hatte wohl Recht. Das Alter war nicht so wichtig.
91
Verwandte alte Bekannte
Johanna Helga Halldórsdóttir
Ich bin viel zu müde, um diesen Tag zu überstehen. Es ist kurz
nach halb acht, ich habe die Kinder soeben in die Schule
geschickt und brauche vor dem nächsten Monatswechsel selbst
nirgendwo auf einer Arbeit zu erscheinen. Jeden Abend besuche
ich einen Lehrgang, in dem es um Disziplin, Selbstständigkeit,
Vertrauen, Pflichten, Führungsstile und so weiter geht. Bevor
mir vertrauensvolle Aufgaben bei der Polizei übertragen
werden, ich die Privatsekretärin und die rechte Hand des
Polizeichefs der Stadt Reykjavik werde. Jetzt erlaube ich mir zu
gähnen, koche mir Kaffee und setze mich mit dem Moggi, der
größten Tageszeitung des Landes, an den Küchentisch. Es steht
nicht mehr darin als sonst auch und meine Gedanken sind dabei,
meine Position in der Welt zu reflektieren und die Realitäten des
Lebens zu verarbeiten.
Allein erziehende Mutter wollte ich nie werden, so wenig wie
ich nie vorhatte, ein Verhältnis mit einem verheirateten Mann
einzugehen oder einen Kapitän zum Ehemann zu haben, der
höchstens zehn Wochen im Jahr zu Hause ist. Der ansonsten
aber draußen auf dem Meer weilte, mit Kerlen, einem Koch und
Fischen. Doch wenn er dann einmal an Land kam, herrschte
ununterbrochen Party, und das gewöhnliche Familienleben hatte
ihm Platz zu machen, ihm, der sich nun an Land befand und
Wein, fröhliche Gesellschaft und eine Ehefrau brauchte, in
dieser Reihenfolge wohlgemerkt. Für seine Kinder interessierte
er sich nicht, und er fand keine Zeit, sich um sie zu kümmern.
Gleichwohl kaufte er ihnen Geschenke und sagte ihnen abends
gute Nacht, wenn er an Land war. Anderes gab es nicht. Meine
liebe kleine Bára Dís und mein lieber kleiner Ægir Már sind
92
jetzt in die Schule gekommen und mit dem Wenigen
ausgestattet, worauf ich in dieser Welt stolz sein kann. Die
hübschesten Zwillinge die man je gesehen hat und von denen
alle außer ihrem Vater Páll entzückt sind. Na ja, Scheiß drauf,
ich gab vor ein paar Wochen auf, heute vor sieben Wochen und
einem Tag, also vor genau fünfzig Tagen, beendete meine Ehe
mit dem Kapitän Páll – der zu der Zeit gerade irgendwo vor der
Küste Australiens war –, sogar am Telefon. Er erwiderte so gut
wie nichts, nachdem er über neun Jahre eine Frau an Land
gehabt hatte und siebenjährige Zwillinge, nein, er wollte nicht
das Auto, nicht das Haus, nichts. Er hatte sich selbst und das war
ihm genug.
Mehr Kaffee, mehr Moggi. Moment mal, was ist denn das? Eine
Sensationsnachricht, dass die Polizei beabsichtigt, einige
ungelöste alte Kriminalfälle wieder aufzunehmen und neu zu
untersuchen. In diesem Zusammenhang werden hier ein paar
berüchtigte Straftaten erwähnt, die ich aus den Nachrichten von
vor etwa fünfzehn bis zwanzig Jahren kenne.
Zum Beispiel die Vergewaltigung einer Gruppe von
Freundinnen aus dem westlichen Teil der Stadt: Die
Vergewaltiger, die nach Aussage der Frauen insgesamt acht an
der Zahl waren, wurden nie gefasst, nicht einer von ihnen. Der
Mord und die Misshandlungen an einem Jungen, von dem
erzählt wurde, dass er zum innersten Ring von Dealern in
Ostisland gehörte, er wurde in einem Schlachthaus aufgefunden,
wobei er halb aus einem Fleischwolf heraushing. Es ließen sich
nicht einmal Fingerabdrücke am Tatort finden, geschweige denn
Leute. Lediglich seine Strickjacke lag ordentlich
zusammengelegt auf dem Boden. Die Ehefrau, von der es hieß,
dass sie die Geliebte ihres Mannes gequält habe, die jedoch nie
gestanden hatte, die Geliebte war laut dieser Nachricht jetzt mit
neuen Angaben gekommen.
Und dann fiel mir das ins Auge: Zwei junge Leute, die am
93
Abhang der Straße Bakkasel starben, als ihr Auto von der Straße
abgekommen war; keine Bremsspuren, es war, als ob sie
geradewegs von der Fahrbahn runtergefahren wären. Das Auto
wurde völlig demoliert, die beiden Männer wurden in Stücke
gerissen. Doch jetzt hatte man das Fahrzeug mit neuen
technischen Mitteln untersucht, man hatte es die ganze Zeit
aufbewahrt, und die Polizei war der Meinung, dass zweifellos
von Sabotage und Mord auszugehen sei, denn an den Bremsen
sei herumgefummelt worden. Ich reibe mir die Augen und bin
jetzt hellwach. Dies sind offenbar alles Fälle, mit denen sich
Angehörige und Opfer nicht abgefunden hatten, und
wahrscheinlich haben sie wegen weiterer Ermittlungen jahrelang
mit der Polizei im Clinch gelegen. Ich muss mich daran
gewöhnen wie die Polizei zu denken, alles unter Vorbehalt zu
sehen, Zeitungen und Informanten anzuzweifeln, meine Ruhe zu
bewahren, ganz gleich, um was es geht. All dies lerne ich
bestimmt gerade als zukünftige Polizeiangestellte und
Kriminalbeamtin. Mein Freund Skúli hat mich für diese
Tätigkeit empfohlen, demnach scheint er zu wissen, wie
gescheit und bereit zu Pioniertaten ich bin. Skúli ist Polizist, seit
ich mich erinnern kann und ich das erste Mal mit ihm geschlafen
habe. Er ist auch der verheiratete Mann, mit dem ich ein
Verhältnis hatte und bei dem ich ruhig schlief, gerade als die
zwei jungen Männer den Abhang der Straße Bakkasel
hinabstürzten. Dundi und Diddi. Keine geringe Trauer in der
Familie, beide waren sie nah mit mir verwandt, und ich erinnere
mich an alles, als ob es gestern passiert wäre.
Ich war achtzehn Jahre alt, und das ganze Wochenende lag vor
mir. Im Winter machte mir die Schule zu schaffen, doch im
Sommer ging alles gut. Ich hatte eine spannende Arbeit in der
Umgebung, gemeinsam mit einer tollen Gruppe von
Jugendlichen und Erwachsenen, sowohl in meiner Gemeinde als
94
auch in Nachbargemeinden. Bälle und Partys an den
Wochenenden. Die letzte Woche war allerdings etwas
anstrengend gewesen. Meine Schwester Inga hatte mich
gebeten, zur Abtreibung mit ihr ins Krankenhaus zu fahren, und
hatte mich schwören lassen, dass ich keinem Menschen etwas
davon sage.
»Ich mache alles für dich«, sagte sie weinend, »nur darfst du
niemandem davon erzählen. Dundi bringt mich um, wenn ich es
erzähle, und er bringt mich auch um, wenn ich es nicht machen
lasse.«
Sie hatte so eine Heidenangst, das Mädchen, dass ich völlig
vergaß, dass sie meine große Schwester war und ich ihre kleine.
Ich tröstete sie, fuhr mit ihr und pflegte sie, als sie hinterher
fast verblutet wäre. Niemand bekam von der Sache Wind. Dundi
war der unglaublichste Scheißkerl, den ich kannte, war als
verkommener Mensch verschrien, verbrauchte die Altersrente
seiner Großeltern und würde sich von ihnen gewiss noch
manches andere unter den Nagel reißen, falls sie nicht
aufpassten. Doch unsere älteren Cousins, Dundi und Diddi, so
unähnlich sie sich sonst auch waren, hingen immer zusammen,
fuhren gemeinsam auf Bälle und dergleichen und boten uns oft
eine Mitfahrgelegenheit an, meiner Schwester Inga und mir und
außerdem Diddis Schwester Dóra, die zu dieser Zeit meine beste
Freundin war.
Der alte Dundi. Er war bei allem ganz bei der Sache, außer bei
der Arbeit und wenn es galt, ein anständiges Leben zu führen. Er
war Dealer, was damals auf dem Land ziemlich ungewöhnlich
war, er hielt junge Mädchen zum Narren, um mit ihnen zu
schlafen, denn nichts war interessant in seinem Leben, es sei
denn, dass er im Vorübergehen jemanden anführen und betrügen
konnte. Meine Schwester Inga war sicherlich nicht die Erste und
nicht die Letzte, die er zur Abtreibung gezwungen hatte und die
dafür eine Zeit lang kostenlosen Stoff erhielt. Dundi liebte es,
mit Menschen und ihren Gefühlen zu spielen und sie auf die
95
eine oder andere Weise von sich abhängig zu machen. Er sah nie
nach Frauen, die ebenso alt waren wie er oder gar älter, und
einmal ging das Gerücht um, dass er schwul sei, da er glaubte,
dadurch besser an die jungen Mädchen heranzukommen, denn er
wollte sie wie Heu haben. Doch wir, die ihn gut kannten,
wussten, dass er nicht schwul war und dass er keine anderen
Gelüste hatte als die, Leute zum Narren zu halten, sie zu
betrügen und zu erniedrigen. Der einzige Mensch auf der Welt,
vor dem er eine gewisse Achtung hatte, war sein Freund Diddi.
Doch wie Diddi sein Freund sein konnte, verstand niemand.
Sie waren Cousins, und es kann gut sein, dass einer der
Verwandten, als die beiden noch klein waren, Diddi gesagt hat,
dass der arme Dundi so in Bedrängnis sei, dass er stets auf ihn
aufpassen und für ihn verantwortlich sein müsse. Vielleicht
damals, wenn man es auch nicht genau weiß, nachdem er Dóra,
Diddis Schwester, die Zöpfe abgeschnitten hatte. Es war zu
Weihnachten, als Dóra fünf Jahre alt war und ihr Sonntagskleid
anhatte und Dundi gerade vierzehn wurde und im Frühjahr
konfirmiert werden sollte. Er wollte ihr einfach nur übers Haar
streichen und sie einlullen, und alle waren darüber verwundert,
wie lieb Dundi mit seiner Kusine umging. Am folgenden
Morgen dann war Dóra ohne Zöpfe, und ihr Vater fand nirgends
seine Pfeife oder sein Prinz Albert, das Rasierwasser, doch
durch die engen Beziehungen zwischen den Familien fand
Dundis Mutter alles wieder. Es war im Puppenkleiderbeutel
seiner vierjährigen Schwester Olga versteckt. Auch die Zöpfe.
Diddi war ein prima Kerl und so eine Art großer Bruder für
mich. Dóra und ich sind gleich alt, und er war genau zehn Jahre
älter als wir. Er war immer ein bisschen verliebt in mich und
ging mit uns Mädchen durch dick und dünn, ganz gleich, welche
Dummheiten wir auch anstellten. Ab und zu bekam er zur
Belohnung einen Kuss und etwas Petting von mir, weil er eben
ein so prima und guter Kerl war. Jedoch niemals mehr, denn ich
war nicht so hingerissen von ihm, dafür war er ein zu Guter.
96
Außerdem war ich so verrückt nach Action und Leben und hatte
keine Lust, mit einem so ruhigen Mann, wie er es war,
herumzuhängen. Dennoch wartete er die ganze Zeit und hoffte,
dass er etwas mehr bekäme als nur, mich nach dem Ball oder
dem Kinoabend nach Hause fahren zu dürfen. Mein Cousin
Diddi war derjenige, der alles von allen wusste, der alle
Geheimnisse für sich behielt und nichts verriet, der uns eine
Flasche beschaffte, weil wir nicht alt genug waren, um ins
Rikið, den staatlichen Alkoholladen, gehen zu können. Ein
netter, ständig arbeitender, verantwortungsvoller Mann, aber
eben uninteressant. Er besaß keine Initiative, kutschierte bloß
das Auto und war dabei.
Dann kam dieser Ball. Ich war achtzehn Jahre alt und zu allem
bereit. Dóra, Inga und ich konnten bei den Cousins mitfahren.
Die Gruppe Stuðmenn im Lokal Miðgarður in Skagafjörður, es
konnte wohl kaum noch volkstümlicher zugehen, fanden wir.
Wir erwarteten eine tolle Stimmung, eine Menge süßer Jungs
und einen heißen Ball. Und wir wurden wahrlich nicht
enttäuscht. Ich geriet sogleich an einen Typen aus Skagafjörður,
doch bemerkte ich bald, dass Dundi nach dem Haar meiner
Schwester Inga griff und vorhatte, sie abzuschleppen.
Verdammt!, dachte ich und bat den süßen Jungen aus
Skagafjörður ein paar Tänze lang zu warten, während ich meine
Schwester suchen wollte.
Ich lief hinaus, ihnen hinterher, doch fand ich sie nirgends. Ich
ging wieder hinein und traf Diddi, ich fragte ihn, wohin sie
gehen wollten. Er zuckte nur mit den Achseln und wollte nicht
mit mir reden, er, der sich für gewöhnlich die Augen ausglotzte,
wenn er auf meine Brüste oder meinen Hintern starrte, und auch
noch glaubte, dass ich es nicht mitbekäme.
»Diddi!«, schrie ich, »wohin sind sie gegangen? Du weißt
bestimmt alles.«
Er sagte, dass er Dundi versprochen hatte, nichts zu sagen.
97
»Und ziehst du diesen Lump mir und meiner Schwester vor?«,
schrie ich wütend, »er vögelt sie jetzt irgendwo für Dope und du
weißt sehr wohl, dass sie gerade erst diese verfluchte
Abtreibung hinter sich hat.«
Diddi zuckte die Achseln und meinte, dass er das doch
schließlich mit allen mache. Darauf wollte er überhaupt nicht
mehr mit mir reden.
»Diddi«, sagte ich, »was ist los mit dir? Findest du das in
Ordnung? Muss ich einen Termin vereinbaren, um mit dir reden
zu können?«
»Nein, nein«, erwiderte er, »ich komme schon, dein Typ hat
sich zwischenzeitlich sowieso ein anderes Mädchen geangelt.«
Ich starrte ihn an und sagte:
»Und? Ob es mir vielleicht egal ist?«
Ihm war es offenbar nicht egal, doch wir gingen zum Auto
hinaus, und ich trank kräftig aus der Flasche, die er mir reichte.
Wir fuhren ziemlich lange herum, und ich spürte, dass ich
betrunken war, als er das Auto anhielt. Ich sagte nichts, wartete
nur darauf, dass er etwas sagte, und dachte darüber nach, ob er
es verstand oder wie er eigentlich veranlagt sein mochte. Ob er
doch eine so große Memme wäre und alles duldete, was den
Leuten einfiel.
Endlich seufzte er auf:
»Sieh mal, Ásta, ich muss über etwas mit dir reden, ich …«,
dann zögerte er …
Mir kam der Gedanke, ihn ein wenig anzumachen, ich rückte
zu ihm rüber und setzte mich mit dem Rücken zum Lenkrad auf
seinen Schoß, doch er sah mich nicht an, schüttelte nur den
Kopf. Ich küsste ihn auf die Wange, umarmte ihn und begann,
seinen Hals zu küssen. Das Unglaubliche geschah, er stieß mich
von sich und sagte:
»Ich wusste es, Scheißweib, ich wusste es, wusste, dass du
98
anfangen würdest, es mit mir zu versuchen und dich wie eine
Nutte aufzuführen …« Ich starrte ihn entsetzt an, sagte aber
nichts.
»So sind die Mädchen«, sagte er darauf.
»Ja«, sagte ich, »du weißt natürlich alles über Mädchen, du
bist ja mit unzähligen Mädchen zusammen gewesen.
Entschuldige, wenn ich dir zu nahe gekommen sein sollte.«
»Ach, du verstehst überhaupt nichts«, sagte er und brachte
seine Kleidung in Ordnung, »wir sind doch verwandt, ich, ich,
ach, es ist ein heilloses Durcheinander«, sagte er, startete den
Wagen, fuhr, was die Karre hergab und setzte mich am
Miðgarður ab.
Danach sah ich ihn nicht mehr. Ich stand wie bestellt und nicht
abgeholt auf der Treppe und fühlte mich leer. Zunächst
bemerkte ich den lächelnden Mann in Polizeiuniform nicht, der
auf mich zukam und rief: »Hei, Süße, irgendeine Schererei in
Gang?«
Ich nickte, nahm den Rest aus der Flasche zu mir und kam
einige Stunden später im Bett des Polizisten Skúli zur
Besinnung. Ich erinnerte mich nur undeutlich an den Ball und
daran, dass meine Schwester Inga mit Dóra und ihrem Freund
nach Hause wollte. Ich starrte Skúli und mich an, wir waren
beide splitternackt, ich stupste ihn an. Er bewegte sich und
betrachtete mich mit halb geöffneten Augen, ich fragte, was ich
hier bei ihm im Bett machte.
»Ich werde es dir zeigen«, sagte er.
Darauf nahm er mich wie erwachsene Männer Frauen nehmen,
ich war erst achtzehn und war völlig hingerissen und voll von
ihm und bekam nicht genug. Ich spürte, dass ich bisher immer
nur mit Jungs zusammen gewesen war.
99
Mein Kaffee ist kalt geworden und auch mir selbst ist eiskalt
davon geworden, die alten Tage aufzufrischen. Ich blättere
weiter zurück in der Zeitung, wo sich eine ausführliche
Besprechung des Falls, des so genannten »Dundi-und-Diddi-
Falls«, befindet. Die offizielle Meinung der Polizei lautete, dass
der Dealer-Ring Dundi getötet habe, als er zu eigenmächtig
wurde und außerdem begonnen hatte, mit ihnen zu spielen, doch
wir, die Dundi kannten, glaubten das nicht. Es musste etwas sehr
Persönliches sein, denn Dundi war dermaßen listig, dass es
unmöglich war, ihn zu erwischen, wenn er es selbst nicht wollte.
Ich glaubte die ganze Zeit, dass ihm jemand in den Rücken
gefallen sein musste, jemand, von dem er annahm, dass er ihn in
der Hand hatte, jemand aus der Familie, ich glaubte zumindest
nicht, dass es ein Unfall am Abhang gewesen war. Ich schenke
mir Kaffee nach und gehe hin und her und fahre zusammen, als
das Telefon klingelt.
»Guten Tag, Ásta, ich bin es, Skúli.«
Die männliche Stimme wärmt mich für einen Moment, dann
sagt er: »Wärst du bereit, in dem Dundi-und-Diddi-Fall eine
Aussage zu machen? Ich weiß, dass ihr euch sehr gut gekannt
habt.«
»Wow«, sage ich, »ich weiß nicht, Mann, ich bin gerade erst
aufgestanden. Mein lieber Freund, erlaube mir, frei zu haben,
zumindest heute.«
»Kein Problem«, sagt er, »aber ich möchte gern jetzt zu dir
kommen.« Er lacht, und wie gewöhnlich widerstehe ich ihm
nicht. Er war mein Geliebter und ich seine Geliebte, seit wir uns
auf der Treppe vor dem Miðgarður getroffen hatten. Niemand
versteht mich so zu befriedigen wie er, er ist der perfekte
Liebhaber, spielt auf mir wie auf seinem Piano, das er liebt, und
lässt mich dann in Ruhe. »Komm und hol dir einen Kaffee bei
mir ab«, sage ich.
100
Dóras Freund Elli ist ein flotter Junge. Er ist der Liebling der
ganzen Familie, außer Dundis, sie ertragen einander nicht.
Dundi kann niemanden ausstehen, der ihm die Show stiehlt. Elli
ist grundanständig und aufrichtig und lässt es die Leute spüren,
wenn ihm etwas gefällt oder auch missfällt. Er macht in der
Stadt eine Lehre zum Maschinenschlosser, doch nun befindet er
sich mit uns anderen bei der Gemeindearbeit, um die ganze Zeit
mit Dóra zusammen sein zu können. Ich verstehe ihn gut, Dóra
ist ein nettes Mädchen und bei jedem beliebt, genau wie ihr
Bruder. Ich bemerke, dass Elli und Diddi besonders gut
miteinander auskommen und dass Diddi sich mehr mit ihm als
mit jemand anderem aus dieser Großfamilie unterhält.
Es ist ein Sommer voller Extreme, Liebe, Wein und Stress.
Dóra und ich machen uns furchtbare Sorgen um meine
Schwester Inga, was dazu führt, dass wir unsere Eltern dazu
bringen, sie im Herbst therapieren zu lassen. Dundi hat sie völlig
ruiniert, seelisch wie körperlich, ihr Selbstvertrauen ist
verschwunden, und der einzige Ausweg, den sie noch sieht, ist,
sich umzubringen.
Als sie starben, weinten wir alle um Diddi, aber ich weiß nicht,
ob irgendjemand um Dundi trauerte. Zumindest nicht wir drei
und auch Elli nicht, der Dundi ins Gesicht geschleudert hatte,
dass er der größte Lump sei, den die Erde jemals hervorgebracht
habe. Das war, nachdem Dundi ein Mädchen vom Lande, die
gerade einmal fünfzehn war und die er zuvor rauschgiftabhängig
gemacht hatte, auf einer Geburtstagsparty, die er sich selbst zu
Ehren veranstaltet hatte, einen Striptease hatte hinlegen lassen.
Er hatte es sie weinend tun lassen und ihr damit gedroht, dass
sie, sollte sie sich ihm widersetzen, keinen weiteren Stoff
bekommen und er ihren Eltern davon erzählen würde, wie es um
sie stehe. Daraufhin hatte er sie die Nacht hindurch an seinen
Freund »verliehen« und dabei auch noch selbst zugeschaut.
Bis auf das mit meiner Schwester Inga ging es mir diesen
101
Sommer über wunderbar. Ich widmete mich mit ganzer Kraft
den Arbeiten draußen an der Luft, amüsierte mich an den
Wochenenden und schlief mit Skúli, wenn sich die Gelegenheit
dazu bot. Für mich war alles rosarot und passte ganz und gar
nicht zu der Tragödie, die nach dem Spätsommerball über uns
hereinbrach.
Die Kinder waren aus der Schule nach Hause gekommen, als
Skúli endlich kam. Er sah kränklich aus und war unrasiert, er
sagte, dass er zur Zeit an zu vielen Aufgaben zugleich arbeite.
Er beklagte sich darüber, Kriminalbeamter zu sein, und sagte,
dass er davon träume, wieder als Streifenpolizist eingesetzt zu
werden, dem auf Bällen im Miðgarður die Aufsicht obliege, um
süße Mädchen auf der Treppe aufzugabeln. Ich lachte schallend.
Er blieb den ganzen Tag bei mir, ich machte eine Aussage
bezüglich des Dundi-und-Diddi-Falls und unterschrieb sie
anschließend. Wir fuhren mit den Kindern in einen Eisladen,
und sie schliefen früh ein. Sie vermissten ihren Vater sehr und
forderten meine ganze Aufmerksamkeit, es war ihnen völlig
gleich, ob jemand meiner Freunde oder Freundinnen zu Besuch
war, sie duldeten keinerlei Konkurrenz, sie wollten stets die
Nummer eins sein.
»Warum bist du denn damals nicht vernommen worden?«,
fragte er.
Ich zuckte mit den Achseln. »Weiß nicht. Vielleicht weil ich in
der Nacht bei dir war, und während jemand Dundi ein schlechtes
alkoholisches Getränk gebraut hat, hatte ich den besten Sex
meines Lebens«, sagte ich ernst. »Es ist auch kein ordentliches
Protokoll von jemand anderem aus der Familie aufgenommen
worden, wenn ich mich recht erinnere«, sagte ich darauf und
blickte in seine eigentümlich grünen Augen.
»Wiederholen wir es«, flüsterte er.
102
»Was denn?«, fragte ich.
»Den guten Sex von damals in der Nacht«, gab er zur Antwort
und schob mich ins Schlafzimmer.
Inzwischen war der Monatswechsel herangerückt, und ich nahm
meine Arbeit im Büro des Polizeidirektors von Reykjavik als
seine erste Assistentin und Privatsekretärin auf. Skúli hatte sein
Büro neben mir, und ich wurde am ersten Tag herzlich
willkommen geheißen. Was nicht verwunderlich war, denn dort
gibt es nur wenige Frauen, und ich bin eine sehr feminine Frau,
habe lange blonde Locken, bin ziemlich mollig und immer gut
gekleidet. Die Männer bekamen sowohl etwas fürs Auge als
auch eine hervorragende Arbeitskraft. Das kann mir niemand
streitig machen, dass ich alle meine Aufgaben mit Sorgfalt
ausführe, niemals aufgebe und mit allem fertig werde. Skúli ist
so ein Mann, der nicht einmal eifersüchtig wird, er findet, dass
ich wahnsinnig flott aussehe, und er weiß sehr wohl, dass sich
niemand mit ihm messen kann, wenn es um Sex geht. Ihm wäre
es sogar gleich, wenn ich ein Liebesabenteuer mit noch einem
anderen hätte. Übrigens kann er wohl auch nicht viel dagegen
haben, denn schließlich hat er eine Frau und drei Kinder. Ich
suche ganz einfach jetzt nicht nach einem Ehemann, habe ich
mich doch eben erst von meinem Mann getrennt.
Meine Eltern hatten überall nach mir gesucht, doch am Ende
fand mich meine Schwester Inga zu Hause bei Skúli. Sie weinte
ununterbrochen. Sie hatte den ganzen Sommer geweint, sodass
es nichts Neues war. Doch nun weinte sie so furchtbar, dass ich
wusste, dass etwas Schreckliches geschehen war.
»Sie sind tot«, flüsterte sie.
»Wer?«, fragte Skúli.
»Diddi und Dundi«, schluchzte sie und sah mich verzweifelt
an. Ich fuhr mit ihr nach Hause, da die Trauer schwer über allem
103
fing, die Trauer darüber, Diddi verloren zu haben und dass sich
dies auf eine so tragische Weise zugetragen hatte. Diddi, der
immer für alle da war, Diddi, der mich im Auto nicht wollte.
Zunächst jedoch empfand ich überhaupt nichts, dann allerdings
kam die Trauer wie ein Erdrutsch, und der erste Gedanke, der
mir in den Kopf schoss, war völlig absurd: Wie wären wir zwei
wohl im Bett gewesen? So intensiv spürte ich die Trauer, und
ich gebe zu, dass ich ihnen beiden nachtrauerte. Diddi vermisste
ich fürchterlich, Dundi bloß deshalb, weil ich nun einmal an ihn
gewöhnt war. Man trauert, denke ich, allem nach, woran man
gewöhnt ist, ob das nun gut ist oder schlecht. Die Polizei kam
und befragte alle, was sie glaubten, was geschehen war, wohin
sie gefahren waren und wo wir gewesen waren. Ein
abgeschlossener Fall, ich denke, sie haben nicht viel mehr
unternommen, als das Auto die Böschung hochzuziehen Und zu
versuchen es wieder zusammenzusetzen.
Es herrschte jetzt viel mehr Strenge und Genauigkeit in den
Ermittlungsarbeiten. Skúli fragte nach allem Möglichen, und ich
gab ihm alle Auskünfte, die ich hatte oder in alten Zeitungen
und Polizeiberichten hatte finden können. Wo meine Schwester
Inga wohnte und wo Dóra, Diddis Schwester, und ihr Mann Elli
wohnten. Nach allem, was ich wusste, waren die beiden noch
immer ein Paar und sehr glücklich miteinander. Unsere Eltern
waren noch alle am Leben, und Skúli wusste natürlich, wo sie
lebten, zu Hause auf dem Lande. Ich teilte ihm alles über Dundi
und Diddi mit, über ihre Beziehungen zu Familienangehörigen,
über ihre Interessen, über ihre Verstecke, erzählte ihm vom
Drogenring in Akureyri, von dem ich glaubte, dass Dundi
vorgehabt hatte, ihn in der Nacht aufzusuchen, denn ihm fehlte
Stoff für sich und die Seinen. Was ich von Dundi hielt? Ich
wusste es nicht, ich dachte zu sehr wie meine Eltern und diese
Großfamilie. Alle sollten das Gefühl haben, zur Familie zu
gehören, ganz gleich, wie jeder dachte, und die Familie zeigte
104
sich verantwortlich für den Einzelnen, nicht umgekehrt. Ganz
gleich also, wie jeder Einzelne von ihnen dachte und was er tat,
niemand wurde abgelehnt. Ich vermochte den Cousin Dundi auf
keinen Fall zurückzuweisen, doch wenn er ein Kerl auf der
Straße gewesen wäre, hätte ich ihn nicht eines Blickes
gewürdigt. Er war ein total armseliger Mensch, der alles und alle
verachtete und alle missbrauchte. Wie die Familie
zusammengesetzt war? Ja, diese drei Familien, in denen meine
Mutter und die anderen zwei Mütter Schwestern waren, das war
die Hauptverbindung, die Väter waren von hier und dort, aber
alle aus Landgemeinden. Diese Familien hatten das Sagen im
Kreis, ansonsten hätte Dundi sicherlich nie etwas ausrichten
können. Diese Familien, die bestimmten, was jeder Einzelne zu
tun und zu lassen hatte, und die darüber befanden, was als gut
galt und was nicht. Kein Familienmitglied nahm bei öffentlichen
Angelegenheiten zu etwas Stellung, ohne vorher die anderen zu
fragen, sodass alle miteinander übereinkommen könnten. Meine
Familie bestand aus meiner Schwester Inga, Mama, Papa und
mir, Diddis Familie setzte sich aus ihm und Dóra sowie aus ihrer
Mutter und ihrem Vater zusammen und Dundis Familie aus ihm,
seinem Bruder Davið und seiner Schwester Olga. Dundi war der
Älteste, die anderen waren viel jünger, sodass er nicht viel Lust
hatte, sie zu peinigen, außer ihre Sachen zu beschädigen, die
Reifen ihrer Fahrräder zu zerstechen und dergleichen mehr.
Dann gab es noch eine Familie, zu der meine Schwester Inga
und ich allerdings keine enge Verbindung hatten. Es war ein
Ehepaar, das einen Jungen hatte, der Axel hieß und ein
Störenfried war, jedoch nichts im Vergleich zu Dundi. Und
selbstverständlich hatten zu Weihnachten, zu Ostern, wenn
jemand getauft oder konfirmiert wurde und was es sonst noch
geben mochte, alle einander zu treffen.
All dies zählte ich gewissenhaft vor Skúli auf.
»Wonach suchst du?«, fragte ich ihn eines Tages.
»Nach dem Mörder«, sagte er mit finsterer Miene, »ich habe
105
das Gefühl, dass irgendein Hirn es so arrangiert hat, dass zu
diesem Zeitpunkt die Bremsen nicht funktioniert haben, dass in
dieser Nacht jemand Dundi angerufen hat, um ihn nach
Akureyri zu locken und am Abhang verrecken zu lassen, und
dass jemand versucht hat, Diddi noch irgendwo anders
hinzulotsen, denn ich glaube nicht, dass er mit Dundi abstürzen
sollte. Alle haben diesen Menschen gemocht, und keiner hatte
mit ihm eine Rechnung offen, nicht einmal verflossene
eifersüchtige Freundinnen, denn er hatte keine, soweit man
weiß. Ich denke, dass Diddi nicht vorhatte zu fahren, denn nach
Aussage von denen, die meinen, sich erinnern zu können, waren
sie beide betrunken, als sie losfuhren, und ich bin sicher, dass
dasselbe Hirn es so gedeichselt hat, dass Diddi gerade nicht
fahren wollte. Aber Dundi hat ihn dazu überredet,
mitzukommen und für ihn zu fahren.«
Ich starrte Skúli erstaunt an.
»Bemerkenswert«, sagte ich bewundernd. »Denkst du, dass sie
gar nicht beide abstürzen sollten? Ich dachte die ganze Zeit, dass
die offizielle Erklärung mit dem Dealer-Ring, der von Dundi
genug hatte, stimmt, und dass Diddi lediglich darin verwickelt
war, da sie ihn ja nicht kannten.«
Ich wurde nachdenklich und fragte Skúli, was er als Nächstes
vorhabe. Er sollte mit aller Kraft an diesem Fall arbeiten, erhielt
dazu die Zeit, die er benötigte, und all das Personal, das er
brauchte. Man hatte soeben eine Gruppe von Leuten aus
sämtlichen Landgemeinden verhört.
»Ich habe deine Schwester im Verdacht«, sagte Skúli und
beobachtete mich genau. Ich geriet aus dem Gleichgewicht und
schüttelte den Kopf.
»Das kann nicht sein, diesen Sommer wäre sie nicht imstande
gewesen, einer Fliege etwas zuleide zu tun, ich habe dir gerade
gesagt, dass sie vollkommen ruiniert war und während des
Herbstes in Behandlung geschickt worden ist.«
106
Skúli nickte.
»Ja, vielleicht hat sie etwas getan, was sie bereute«, sagte er
ruhig.
»Skúli«, sagte ich entrüstet. »Du glaubst doch wohl nicht, dass
meine Schwester Inga am Motor und an den Bremsen des Autos
herumgefummelt hat? Erinnerst du dich noch, wie sehr sie
geweint hat, als sie am Morgen zu uns kam?«
Er zuckte mit den Achseln.
»Ich schließe nichts aus.«
Ich fühlte mich in diesen Tagen so allein in der Welt. Wenn ich
nicht meine Zwillinge Bára und Ægir und ihre Schulbücher
gehabt hätte, dann weiß ich nicht, was passiert wäre. Immerhin
hatte ich die ganze Großfamilie wegen des »Dundi-und-Diddi-
Falls« am Telefon, die von mir erfahren wollte, ob ich etwas
über die Untersuchung und die Entwicklung des Falls wüsste.
Bis auf meine Schwester Inga, Dóra und Elli hatten mich in den
letzten Tagen alle angerufen. Inga befand sich gerade irgendwo
im Ausland auf Reisen, und Dóra und Elli hatten soeben ihr
zweites Kind bekommen, sodass es nicht weiter merkwürdig
schien, dass sie sich nicht meldeten, trotzdem kam es mir etwas
sonderbar vor. In der Nacht träumte ich von meinen Cousins,
den alten Tagen und diesem wunderbaren, heißen, wilden,
furchtbaren Sommer. Eigentlich dachte ich nie an meinen
geschiedenen Mann Páll, mit dem ich ganze neun Jahre lang
zusammen gewesen war, ich hatte begonnen, mich zu fragen, ob
ich gefühlsmäßig vielleicht abgestumpft war.
Eines Morgens dann, als ich bei der Arbeit erschien, saß meine
Schwester Inga bei Skúli im Büro. Ohne anzuklopfen stürzte ich
ins Büro und umarmte sie. Es war so lange her, dass ich sie
gesehen hatte, bestimmt ein Jahr, wenn nicht sogar noch länger.
Sie sah gut aus, und sie drückte mich ebenfalls. Nachdem sie bei
Skúli fertig war, kam sie zu mir rüber und sagte:
107
»Ásta, die haben vor, mich des Mordes an Dundi und Diddi
anzuklagen, glaubst du das?«
Ich blickte sie an und bemerkte die Verzweiflung in ihren
Augen.
»Kannst du nicht etwas unternehmen, Ásta? Um Gottes willen,
tu etwas!«
»Ich weiß nicht, was ich machen soll«, seufzte ich, »was
werfen sie dir denn vor?«
Sie hatte angefangen zu schluchzen, und ich erinnerte mich
daran, wie sehr sie nach der Abtreibung geweint hatte. Plötzlich
kam mir der seltsame Gedanke, dass sie möglicherweise deshalb
nie Kinder bekommen hatte. Was aber nicht zur Sache gehörte.
»Fingerabdrücke, DNA-Nachweise, ich weiß nicht was,
Fetzen aus meiner Strickjacke, die ich immer anhatte. Ich war
oft mit Dundi in seinem Auto, es ist daher nicht weiter
verwunderlich, wenn sie etwas, was mit mir in Verbindung
steht, in seinem Wagen finden, wenn ich auch kaum glaube,
dass sie das nach all den Jahren können. Er hat mich für den
Stoff auf dem Rücksitz gevögelt, ich habe es Skúli gerade
gesagt. Ich verstehe rein gar nichts, Ásta! Sie beabsichtigen
auch, Dóra und Elli festzunehmen, die beiden befinden sich mit
ihren beiden Kindern, wovon das eine noch klein ist, auf dem
Weg hierher. Ásta, unternimmst du etwas?«
In diesem Augenblick kam Skúli herein und führte sie ab. Ich
verbarg das Gesicht in meinen Händen.
In der Nacht träumte ich von dem einen Mal, an dem Diddi
und ich fast miteinander geschlafen hätten. Bei ihm war es
immer nur »fast«, es hatte immer jemanden gegeben, der ihn
irritierte, ihn bedrängte oder ihn für irgendetwas einnehmen
wollte. Dóra, Elli, Diddi und ich hatten in jenem Sommer bei
Dóra und Diddi zu Hause ein paar Gläser zu uns genommen und
waren dann alle betrunken gewesen. Ich kroch in meinen
Kleidern zu ihm ins Bett, und zuerst war er mir noch erfreut und
108
bereitwillig entgegengekommen, dann aber schien es so, als ob
er nicht wüsste, was er tun sollte, sodass ich mir meinen
Pullover auszog und ihn aufforderte, zärtlich zu mir zu sein,
woraufhin er völlig ausrastete. Aber aus dieser Chance wurde
dann ganz und gar nichts mehr, als Dundi plötzlich auftauchte
und ihn aufforderte mitzukommen. Er müsse ihm helfen, neuen
Stoff zu beschaffen, er sei auf »Turkey« und hätte nichts mehr.
So hatte es dann geendet. Mein Gott, ich träumte von Toten.
Was bedeutete das?
Kurz gesagt entwickelte sich der Fall in den folgenden Wochen
dann so, dass die drei, nämlich meine Schwester Inga, Dóra und
Elli, des Mordes an Diddi und Dundi überführt wurden. Sie
gestanden alle. Elli hatte den Motor und die Bremsen des Autos
manipuliert und hatte Dundi von Akureyri aus angerufen. Dóra
hatte alles unternommen, was sie konnte, um Diddi mit zu sich
nach Hause zu bekommen; sie hatte vorgegeben, dass ihre
Mutter ins Krankenhaus gebracht worden sei und dass sie sofort
kommen müssten. Doch alle drei hatten sie Dundis Macht über
Diddi verkannt, und ehe sie sichs versahen, war Dundi bereits
im betrunkenen Zustand mit Diddi losgefahren. O ja, alle drei
hatten ausgesagt, dass sie sauber zu Werke gegangen seien, in
der Absicht, Dundi auszuschalten, damit die Welt ohne ihn
besser werde. Inga meinte, dass sie von Dundi seelisch wie
körperlich zerstört worden sei, Dóra glaubte sowohl ihren
Bruder Diddi als auch ihre verschwundenen Zöpfe
zurückgewinnen zu können, indem sie Dundi loswerden würde,
und Elli wiederum wollte ihnen lediglich dabei behilflich sein,
die Welt von einem Lump zu befreien.
Niemand von ihnen fand es gerecht, für das, was sie getan
hatten, bestraft zu werden. Sie bekamen jeder fünfundzwanzig
Jahre Gefängnisstrafe. Meine Eltern weinten, Dóras Eltern
weinten, und auch ich weinte. Skúli würdigte mich keines
109
Blickes während der Gerichtsverhandlung. Ich hasste ihn, er
hatte soeben meine Familie zerstört.
Ich sah, dass Inga erblasste, als ich ihnen sagte, was sie zu
machen hätten. Selbst hatte ich vor, mich um die Polizisten auf
dem Gelände zu kümmern, das würde ein leichtes Spiel. Ich
nahm meine Freundin Lovísa mit.
Die Polizisten auf Landbällen hielten oft nach beschwipsten
Mädchen und einer verheißungsvollen Nacht Ausschau, und es
war für uns kein Kunststück, Skúli und seinem Freund Jónsi
total den Kopf zu verdrehen. Während Inga, Dóra und Elli
fortgingen und sich an Dundis Auto zu schaffen machten, lagen
Lovísa und ich hinten im Streifenwagen in Skúlis und Jónsis
Armen, mit Polizeimützen auf dem Kopf, und hatten es
wahnsinnig gut. Inga wollte nicht mitziehen, doch erinnerte ich
sie daran, dass ich unseren Eltern jederzeit erzählen könnte, dass
Dundi sie geschwängert und anschließend genötigt hatte, das
Kind abzutreiben. Eine Abtreibung vornehmen zu lassen war
das Einzige in unserer Familie, was man nicht durfte, der
einzige Grund, der ausgereicht hätte, jemanden zu verstoßen. Sie
zitterte, als ich Elli auftrug, was er am Telefon sagen sollte. Ich
wusste, welche Codeworte Dundi und die anderen Dealer
benutzten, besaß alle wichtigen Informationen. Dóra zitterte
ebenfalls, als ich ihr sagte, dass es ihre Aufgabe sei zu
versuchen, Diddi nach Hause zu bekommen und in eine andere
Richtung zu lenken als die, in die Dundi fahre, doch gleichzeitig
prophezeite ich Dóra auch, dass es ihr nicht gelingen werde,
denn ein Mann, der aus dem Bett einer Frau steigt, wenn ihm
dies von einem Junkie und Scheißkerl befohlen wird, ist ein
verkommener Mensch, der jenem Junkie und Scheißkerl hörig
ist wie ein Hund, der versucht, sich von einer Hündin
loszureißen, sobald sein Herrchen ruft. Ich sagte ihnen allen,
dass ich es hervorragend fände, wenn Diddi selbst wähle, mit
seinem Freund Dundi zu verrecken. Eine Frau nimmt es sich
110
nicht zu Herzen, wenn ein Mann wie Diddi, der nichts von
Frauen versteht, sie einmal im Auto draußen auf dem Lande
zurückweist, doch sie rächt sich, wenn es zweimal geschieht,
und ich war mit ihm in seinem Bett bereits gut in Gang
gekommen. Niemand anderer hatte mich jemals abgelehnt,
weder früher noch später. Ich bin ja auch eine attraktive und
gefährliche Frau. Trotzdem tröstete ich sowohl Inga als auch
Dóra, als sie hinter Diddi hersahen, während er in Dundis Auto
einstieg, und ich sah auf die Rücklichter des Wagens, bis er
verschwand. Ich bin also keineswegs ein gefühlloser Mensch.
Mitten in der Nacht ist er zu mir hereingekommen. »Skúli, was
ist?«, flüstere ich ziemlich erschrocken. Empfange ihn, mein
Körper nimmt ihn nach dem Mangel an Interesse in der ganzen
letzten Zeit freudig auf. Er ist kalt, hat nasses Haar und ist
unglaublich sexy, er beginnt auf mir wie auf einem Piano zu
spielen, ist ziemlich grob, doch ich finde es gut so, er dringt in
mich ein, nimmt mich in Besitz, wie in jener Nacht. Ganz
genauso, und ich begreife, dass er möchte, dass ich die gleiche
Freude wie damals erlebe, den gleichen Triumph, denn ich war
es ja, die triumphierte, und noch immer triumphiere ich, denn
alle anderen waren eingesperrt. Ich habe zweimal gesiegt und
bin zweimal mit dem Schrecken davongekommen. Ich schreie
und johle vor Freude, doch im Siegesrausch flüstert er mir ins
Ohr:
»Ich besitze dich. Ich besitze dich das ganze Leben hindurch,
denn ich kenne deine Geheimnisse. Dein Körper gehört mir. Du
kannst mich nicht töten, ohne dass es entdeckt wird, denn ich
habe einen Bericht angefertigt und verwahre ihn an einem Ort,
den du niemals entdeckst. Ich weiß, wer alles organisiert hat,
und ich weiß auch, warum du die beiden töten wolltest.
Niemand weist dich zurück – ist es nicht so? Du hast doch nicht
etwa vergessen, dass du deiner Freundin Lovísa alles erzählt
hast, oder? Auch das Ereignis mit Diddi im Auto. Du hältst dich
111
selbst für so perfekt, dass du nie gefragt hast, wer meine Frau
ist. Es ist nämlich Lovísa, deine ehemalige Freundin. Und jetzt
besitze ich dich ebenfalls, auf immer, und du wirst dein ganzes
Leben tun müssen, was ich dir sage, und auch meine Frau und
meine Kinder erdulden müssen!«
Wir liegen danach eng beieinander, ich sehe in seine grünen
Augen und lächle.
»Du liebst mich, Skúli!«, sage ich und küsse ihn mit kleinen
Küsschen überall, im Gesicht wie am Hals. »Gib’s zu!«
Er gibt es zu und sieht mich mit den gleichen Augen an wie
meine Kinder, wenn ich sie für eine gute Tat lobe. Er schläft ein,
und ein neuer Plan beginnt in meinem Hirn zu entstehen. Ich
habe überhaupt nichts dagegen, mein Leben mit Skúli und
seinem wunderbaren Körper zu verbringen, doch in mein Bild
passen nicht mehr Personen als ich, er und meine Zwillinge.
Ich wecke ihn.
»Skúli, ich habe großes Verlangen nach mehr …«
112
Ohropax
Unni Lindell
Der Polizeikommissar Cato Isaksen hatte seine Mutter endlich
für Ostern bei einer alten Freundin von ihr untergebracht. Das
Altersheim sollte renoviert werden, und die Familien der alten
Leute waren darum gebeten worden, ihre Angehörigen für eine
Woche bei sich oder irgendwo anders unterzubringen. Das war
keine leichte Aufgabe gewesen. Er hatte sich hartnäckig
geweigert, sie zu seiner Familie nach Asker zu holen. Bente, die
meinte, man müsse dann halt die Reise in die Berge streichen,
hatte sich bereit erklärt zu helfen. Der sechzehnjährige Vetle
ebenso. Und Georg, der Vierjährige, den Cato Isaksen nach
einer kurzen Episode mit einer anderen Frau bekommen hatte,
fand es nur spannend, wenn die Oma eine Woche bei ihnen
wohnen würde. Diese Ostern sollte er bei Cato Isaksen
verbringen. Aber dieser selbst konnte dem Gedanken nichts
abgewinnen. Und schließlich hatte er es also geschafft, hatte sie
bei einer alten Freundin aus dem Frauenverband für
Krankenbetreuung untergebracht, die in Stovner wohnte.
An dem Tag, als er sie in dem Hochhaus mit Adresse Stovner
senter 16 ablieferte, trat genau in dem Moment, als Cato Isaksen
seine Mutter und ihre Krücken in das Treppenhaus manövrierte,
eine Frau aus dem Fahrstuhl.
Maren Tangvalds männliche Erscheinung konnte einen schon
erschrecken. Sie hatte ein breites, kantiges Gesicht, einen
kräftigen Mund und buschige dunkle Augenbrauen über zwei
kleinen, böse funkelnden Augen. Die alte Frau Isaksen begrüßte
sie freundlich, streckte ihr die Hand hin und stellte sich vor. »Ich
werde hier für eine Woche wohnen«, erklärte sie. Ihr war nicht
klar, dass es vielleicht nicht so üblich war, einen zufälligen
Mitbewohner im Hochhaus mit Handschlag zu begrüßen. Maren
113
Tangvald schaute die schmächtige Frau und den blonden Mann
mittleren Alters an, der ihr folgte, dann streckte auch sie ihre
grobe Hand vor.
Maren Tangvalds Aussehen stimmte in keiner Weise mit dem
zarten, durchsichtigen Gefühl der Trauer überein, das sie in sich
trug. Das konnten die wenigen, die sie kannten, bezeugen, aber
das nützte nichts. Sie war die schlecht gelaunte Alte des
Treppenaufgangs. Die immer meckerte, die niemand mochte.
Sie lief treppauf, treppab und achtete genau darauf, dass alle ihre
Pflichten auch erfüllten, dass sie die Treppe putzten, wenn sie an
der Reihe waren, und keine Kinderwagen oder Fahrräder ins
Treppenhaus stellten. Und erst vor kurzem hatte sie zwei freche
Jungs geschnappt, mit Ringen in der Nase und grünen Haaren,
die Graffiti auf die Kellerwände sprühen wollten.
Maren Tangvald hatte die Jungs nach Strich und Faden
ausgeschimpft. Sie nannte die Dinge beim Namen, nahm kein
Blatt vor den Mund. Aber im Innersten fühlte sie sich klein und
traurig. Etwas in ihr war vor langer Zeit kaputtgegangen. Die
vorlauten Jungen hätten ihre Enkelkinder sein können – die sie
nie bekommen hatte. Die Jugendlichen kicherten und gaben
freche Antworten.
»Ach, hör doch auf, Uroma!«, rief der eine grinsend.
Maren hatte sich nach ihm umgedreht und die Faust geballt.
»Warte nur ab«, hatte sie gesagt.
Cato Isaksen nahm dankbar die Kaffeetasse entgegen, die die
Freundin seiner Mutter ihm reichte. »Das ist wirklich sehr, sehr
nett von Ihnen, Frau Nordberg«, bedankte er sich von ganzem
Herzen.
»Ach, Quatsch«, wehrte sie ab, »nenn mich einfach Tulla. –
Ich finde es richtig schön, weißt du. Vielleicht erinnerst du dich
114
noch, ich habe einen Sohn, der ist ganz verrückt nach Krimis,
übrigens arbeitet er beim Rundfunk.«
Cato Isaksen nickte. »Doch, ich weiß«, sagte er.
»Nils hätte dich nur zu gern kennen gelernt.«
»Das müssen wir auf ein andermal verschieben«, sagte Cato
Isaksen, während er bereits überlegte, wie er das vermeiden
könnte. Er hatte genug an seiner Arbeit und seinem Privatleben.
Die Position als Ermittlungsleiter in Mordfällen im Polizeihaus
von Grønland fraß all seine Zeit.
Nachdem Kaffee und Kuchen verzehrt waren, vergewisserte er
sich, dass seine Mutter alles hatte, was sie brauchte.
»Ach, guck doch lieber noch mal in meiner Kulturtasche
nach«, bat sie. »Schau nach, ob ich auch alle meine
Medikamente habe, meine Kampferbonbons und die kleine
gelbe Dose mit Ohropax.«
Cato Isaksen beugte sich hinunter und hob die Tasche auf. Er
öffnete sie und kontrollierte alles. »Du hast sogar zwei Dosen
mit Ohropax«, lächelte er. »Das wird ja wohl reichen.« Seine
Mutter erwiderte dankbar sein Lächeln. Als er die Kulturtasche
zurückstellte, nahm er den süßlichen Geruch nach Alter wahr,
der dem Körper seiner Mutter entströmte. Er war froh, als er
wieder im Auto saß, auf dem Weg zurück nach Asker.
Normalerweise überschlug Maren Tangvald die Kulturseiten.
Kultur war für diejenigen, die Zeit und Geld besaßen, nicht für
die, die schon Mühe hatten, jeden Monat ihre Rechnungen zu
bezahlen. Kultur war für Leute mit schönen Schuhen, nicht für
welche wie sie, die ihr ganzes Leben lang ihre Strümpfe gestopft
hatten – und das nicht nur einmal.
Aber ausgerechnet an diesem Tag im Februar fiel ihr eine
Überschrift ins Auge: »Ein Hoch den Frauen, die sich
durchsetzen!« Eine Amerikanerin hatte ein Buch mit dem Titel
115
Bitch geschrieben. Der orangefarbene Umschlag leuchtete ihr
wie eine verlockende Apfelsine entgegen. Ihre Augen huschten
die Zeitungsseite entlang und blieben bei einem Auszug hängen.
»Frauen von heute ist es egal, wer den Abwasch macht. Darum
gibt es keinen Kampf. Was nicht in Ordnung ist, das ist die
Tatsache, dass die Frauen all den mentalen Hausputz machen
müssen, der notwendig ist, damit eine Beziehung funktionieren
kann. Frauen haben sich unzählige Jahre hindurch zurückhalten
müssen, haben vorsichtig sein und mit den Krumen vorlieb
nehmen müssen, die sozusagen ihr Leben vorstellen sollten,
während die Männer einfach sie selbst sind und das tun, was für
sie ganz selbstverständlich ist.«
Maren Tangvald schlug mit der Faust auf den Küchentisch,
sodass der Aschenbecher hochsprang. Sie legte den Kopf zurück
und lachte laut auf. Das hätte von ihr sein können. Ragnvald
machte nur das, was für ihn selbstverständlich war, er war faul,
mürrisch und aufbrausend. Und dann das mit dem Abwasch!
Maren Tangvald war es von Herzen leid, sowohl den mentalen
als auch den realen Abwasch zu machen. Wie viele
Abwaschbürsten hatte sie doch im Laufe der Jahre verbraucht!
Sie beugte sich wieder über die Zeitung und las noch einen
Auszug: »Ich bin so wütend, dass mich nichts daran hindern
kann, das zu tun, was ich will, wann ich will.«
Dann gab es wirklich noch andere, die genauso fühlten. Maren
Tangvald schob den abgenutzten Küchenstuhl zurück und stand
abrupt auf. Sie ging in den kleinen Flur und zog ihren
abgetragenen Mantel vom Haken. Drückte den alten Samthut
auf die grauen Dauerwellen, nahm den Fahrstuhl ins
Erdgeschoss und machte sich auf zum Buchladen im nahe
gelegenen Einkaufszentrum.
Sie konnte sich nicht mehr daran erinnern, welches Gefühl beim
ersten Mal in ihr auftrat. Es war wie eine schleichende
116
Krankheit, wie eine Pest, ein Fieber. Es erfüllte sie mit einer
Mischung aus Hoffnungslosigkeit und Unruhe. Hass, das war es.
Beißender, brauner Hass. Sie hasste Ragnvald. Diesen alten
Quälgeist. Diesen faulen, immer fordernden und schlecht
gelaunten Ehemann, für den sie sich abgemüht hatte, die ganzen
Jahre hindurch versucht hatte, ihn zu lieben. Er konnte keinen
Lärm ab, dann wurde er nur noch wütender und schwerer zu
ertragen.
Maren musste durch die Wohnung schleichen. Wenn sie Essen
kochte, durfte sie nicht mit den Töpfen klappern, und wenn sie
im Stockwerk über ihnen mit Holzpantinen durchs Wohnzimmer
liefen, dann befahl Ragnvald ihr, hochzugehen, um sich zu
beschweren. Er schimpfte auf alles und alle, aber sie war der
Prellbock. Sie war diejenige, die die Nachbarn hassten.
Sie erinnerte sich noch daran, wie sie ihn kennen lernte. Er
war einer der Stahlarbeiter bei Akers Mekaniske Verksted, wo
sie putzte. Putzfrau, so hieß das damals. Näher kommst du dem
Boden im wahrsten Sinne des Wortes nicht.
Es war sein Name, der sie auf ihn aufmerksam machte. Nicht
sein Aussehen, das ganz und gar nicht. Ragnvald Tangvald hieß
er. Das war fünfundvierzig Jahre her. Maren war damals
fünfundzwanzig. Ragnvald dreißig.
Sie seufzte. Sie hatten anfangs in einer alten Wohnung unten
in Vika gewohnt. Nichts Besonderes, nicht groß, aber dennoch
gemütlich. Zunächst hatten sie eine Art Liebe füreinander
gespürt. Maren wohnte gern dort, auch wenn das Leben mit
Ragnvald sich bald als alles andere als glücklich herausstellen
sollte. Böse war er, befahl sie hier- und dorthin. Dirigierte sie,
als wenn sie ein Roboter wäre. Er war eifersüchtig und
aufbrausend. Sie hatte sich damit abgefunden. Fand eigentlich,
dass sie nichts Besseres verdiente.
Dann sollte der Wohnblock abgerissen werden. Das ganze
Viertel dem Erdboden gleichgemacht werden. Das war nun
117
fünfzehn Jahre her. Der Betrieb war bereits geschlossen, und
Aker Brygge wurde gebaut. Mein Gott, was sie alles
kaputtmachten. Da hatten die Arbeiter seit Generationen im
Schweiße ihres Angesichts geschuftet, und dann hoppla, kam
irgend so ein Idiot und entschied, dass der ganze Krempel zu
einem gigantischen Einkaufszentrum aus Glas und Stahl
umgebaut werden sollte. Wohnungen für Millionen von Kronen
sollten gebaut werden, sodass die Reichen aus ihrem Fenster
aufs Wasser starren und sich beim Anblick der Akershus-
Festung den Bauch voll schlagen konnten.
All das ärgerte Maren Tangvald, während sie nun mit siebzig
Jahren im sechsten Stock in einer Wohnung im Stovner Senter
saß, immer noch gemeinsam mit Ragnvald Tangvald.
Die Zeit ist ein ungeduldiger Gast. Bitte ihn zu Tisch, und er
weigert sich, sich zu setzen. Lege ihn in dein Bett, und er steht
auf und setzt sich auf den Stuhl. Schließe die Tür, und die Zeit
öffnet sie und geht. Die Tage vergingen ohne besondere
Vorkommnisse. Sie hatte das Gefühl, immer unsichtbarer zu
werden. Sie wurde viereckig wie der Küchentisch, grau wie das
Linoleum auf dem Fußboden. Die Frau in ihr stellte die
Blumentöpfe auf die Fensterbank und schaute aus dem Fenster.
Aber tief im Innersten der alten Frau flatterte ein kleiner
Geisterwind im Seidenkleid herum und rasselte mit seinen
Ketten.
Und jetzt war bald Ostern. Ragnvald rief aus dem
Wohnzimmer, sie solle ihm eine Tasse Kaffee bringen. Wenn
sie nur einen Balkon gehabt hätten, da hätte sie ihn einfach
drüberschubsen und seinen Gleichgewichtsstörungen die Schuld
geben können. Aber ihn aus dem Fenster zu bugsieren, das
dürfte schwierig sein. Außerdem war sie überzeugt davon, dass
er dabei die neuen Gardinen mitreißen würde, die sie bei Hansen
& Dysvik gekauft hatte, und diese Freude wollte sie ihm nicht
gönnen.
Sie hatte auch an Thallium gedacht. Doch wo sollte sie das
118
herkriegen? Zwar hatte sie einmal bei der nächsten Apotheke
angerufen, aber die hatten sie gleich abgewiesen, obwohl sie
erklärt hatte, dass sie in ihrem Seniorenkurs chemische
Experimente machen wollten. Ihre Gedankenspiele halfen ihr zu
überleben. Natürlich würde sie ihren Mann nicht umbringen.
Das ging doch gar nicht. Ragnvald saß wie üblich in seinem
Sessel und guckte Fernsehen.
Tulla Nordberg und Gyda Isaksen hatten es beide geschafft, ihre
schweren Pelzmäntel anzuziehen. Jetzt warteten sie auf den
Aufzug. Plötzlich wurde die Nachbartür einen Spalt geöffnet,
und ein dünnes Männchen schaute heraus. »Ach,
Entschuldigung«, sagte er. »Ich dachte, es wäre Maren.« Tulla
Nordberg schob lächelnd ihre Freundin vor. »Sie müssen meine
Freundin begrüßen«, sagte sie stolz, »ihr Sohn ist Direktor bei
der Polizei. Er ist oft im Fernsehen.«
»Na, nicht gerade Polizeidirektor«, wehrte Gyda Isaksen ab
und stützte sich auf ihre Krücken, während sie den Mann in der
Türöffnung anstarrte. Sie schien ihn wiederzuerkennen. Die
Augen, die Hände, die Art, wie er lächelte. »Sag mal, bist du
das«, traute sie sich zu fragen, »Ragnvald, bist du das?«
Der Mann guckte sie neugierig an. »Und ich dachte schon,
dass …« Er brach ab, senkte den Kopf, schaute erneut auf und
lächelte gerührt. »Gyda«, stellte er fest und öffnete die Tür
etwas weiter. Keiner von ihnen bewegte sich.
Tulla Nordberg schaute ihn neugierig an. »Ihr kennt euch?«,
fragte sie.
»Aus der Schule«, sagte Gyda Isaksen schnell.
»Aus der Volksschule in Majorstua«, nickte Ragnvald
Tangvald.
119
Die alten Damen schauten sich im Fernsehen den Osterkrimi an.
Gyda und Tulla und auch Maren Tangvald. Wand an Wand
saßen sie. Gyda Isaksen, das Herz unter dem weichen
Angorapullover brennend. Sie waren ein Liebespaar gewesen,
sie und Ragnvald. Es war ein Freudenschock gewesen, ihn
wiederzusehen. Sie war sogar in seine Wohnung gegangen und
hatte kurz mit ihm gesprochen, als seine harsche Frau nicht
daheim war.
Der Fernsehkrimi war eine englische Story und handelte von
der Leiterin einer englischen Mädchenschule, die drei junge
Mädchen umbrachte, eine nach der anderen. Die Serie gefiel
Maren Tangvald. Die letzte Folge sollte am folgenden Tag
laufen, am Ostersonntag. Das sah alles so einfach aus. Die
Leiterin schlug den Mädchen einfach mit einer Portweinflasche
über den Kopf und zog sie dann mit sich in den Park hinaus.
Entkleidete ihren Unterkörper, und schwups, schon glaubte die
Polizei natürlich, dass irgendein Sexualverbrecher unterwegs
war.
Niemand kam auf die Idee, die nette alte Dame zu
verdächtigen. So musste man es machen, die Tat irgendwie
tarnen. Nicht dass sie dachte, Ragnvalds Unterkörper zu
entkleiden, absolut nicht, das würde eher verdächtig wirken.
Dann kam der Ostersonntagabend. Die Stadt war aschgrau,
schmutzig und ruhig. Maren Tangvald saß mit einer Tasse
Kaffee vor sich am Küchentisch. Auf dem Tisch lag eine weiße
Spitzendecke. Sie sehnte sich nach Farben, nach einem Streifen
roter Sonne über den Häuserdächern. Auf der Fensterbank
standen die alten, zerzausten Osterküken. Sie konnte sie nicht
ausstehen, packte sie an den kleinen Köpfen und warf sie in den
Mülleimer. Die Ruhe kreiste um sie in dem kleinen Raum. An
den Fensterscheiben hingen die eingetrockneten Spuren der
Regentropfen. Ihr Leben war fast zu Ende, jetzt waren nur noch
die Reste übrig.
120
Plötzlich lächelte sie vor sich hin. Am Tag zuvor hatte sie
einen Taschendieb zu Boden geworfen. Er hatte versucht ihr die
Tasche zu stehlen, als sie über die Thereses gate watschelte, die
Spikes unter den Stiefeln, um auf dem Eis nicht auszurutschen.
Sie war auf dem Weg gewesen, eine alte Freundin zu besuchen.
Maren Tangvald hatte den Taschendieb niedergestreckt und
ihm die Spikes in den Rücken gedrückt, sodass er vor
Schmerzen aufschrie. Sie wusste nicht, wie alt er war, vielleicht
so um die neunzehn. Zu allem Überfluss hatte er auch noch rote
Haare und Sommersprossen. »Idiot«, hatte sie ihm
hinterhergerufen, als er gebeugt den Fußweg entlanglief und
hinter einer Ecke verschwand. Sie dankte der Autorin von Bitch.
Es nützte wirklich etwas, man musste nur einen Entschluss
fassen.
Sie saß an dem abgenutzten Küchentisch und schaute auf all
die anderen Tausendaugenhäuser, die sich in Reih und Glied
formierten. Hinter jedem gelben Auge wohnten Menschen, die
lebten, die liebten und hassten.
Maren Tangvald fing an zu weinen. Sie spürte, wie die
Einsamkeit wie ein weißes Licht ihren Körper durchzog. Sie
betrachtete ihre traurigen Hände. Die runzligen Hände sahen aus
wie ihr eigener Herbst.
Das Buch lag immer noch vor ihr auf dem Tisch. Das war ihr
mentales Osterei. Im Wohnzimmer saß Ragnvald und guckte
Fernsehen. Er kaute auf seiner sauren Pfeife und rief ihr in
regelmäßigem Abstand Befehle zu. »Hol mir eine Tasse Kaffee,
schmier mir ein Brot. Gib mir ’nen Schnaps, ich will mich kurz
aufs Ohr hauen.«
Sie meinte zu verstehen »Gib mir ’ne Axt, dann kannste mir
aufs Ohr hauen.« Oder besser gesagt: das war das, was sie gern
gehört hätte. Resolut stand sie auf und öffnete die Tür zur
Besenkammer, holte den Werkzeugkasten hervor, öffnete ihn
und nahm den Hammer heraus.
121
Cato Isaksen rief aus den Bergen an, um zu hören, wie es seiner
Mutter ging. Einen Moment lang hätte sie ihm fast von der
Begegnung mit dem Nachbarn erzählt, in erster Linie, weil es
ihn eigentlich auch betraf. Aber dann ließ sie es doch sein. Es
waren inzwischen zu viele Jahre vergangen. Das war alles viel
zu schwierig gewesen. Aber sie meinte schon, dass er ihrer
Stimme anhören konnte, dass sie aufgeregt war, und zwar im
positiven Sinne.
Merkwürdig, wie einfach das ging, dachte Maren Tangvald. Der
Ehemann hatte mit dem Rücken zu ihr in seinem grünen
Ohrensessel gesessen. »Hier«, hatte sie gesagt und ihm den
Hammer auf den Kopf geschlagen, dass es dröhnte. »Bitte
schön«, hatte sie gesagt, »bitte schön, bitte schön, bitte schön.«
Ragnvald Tangvalds Kopf war nach vorn gefallen. Mehrere
dünne Streifen dunklen Bluts waren aus den Kopfwunden
gesickert, übers Gesicht und weiter hinunter auf das gelbe
Hemd, das er trug. Hinterher waren seine Augen aufgerissen
gewesen. Er hatte sie mit einem verwunderten, gläsernen Blick
angestarrt. Und sie wusste, dass er tot war.
Maren Tangvald ging wieder zurück in die Küche. Sie spürte,
wie ihr Herz wie ein kleines wildes Tier in der Brust hämmerte.
Sein Blut hatte winzige rote Sommersprossen auf ihre
blassblaue Bluse gespritzt. Sie riss sie sich vom Leib und
schrubbte die Hände unter dem Wasserhahn vom Blut sauber.
Sie hatte es getan. Das Gedankenspiel war Wirklichkeit
geworden. Die Küche war nicht mehr wie vorher. Das Geräusch
des Hammers tanzte durch die Wohnung. Die Küche war eine
Wüste. Auf dem Tisch lag ein Katalog für Ferienreisen. Das
Bild der jungen braunen Körper auf der Titelseite brachte ihr
inneres Gleichgewicht noch mehr ins Schwanken. Für einen
122
Augenblick schloss sie die Augen. Ragnvalds Gesicht tanzte auf
ihrer Netzhaut. Von Schatten und Blut verzerrt. Die Körper
wogten über dem blauen Meer hin und her, wie Boote mit
Körperteilen anderer Menschen auf dem Rücken. Wenn sie nur
ein Baum gewesen wäre, an dem immer neue Blätter wüchsen.
Maren Tangvald beruhigte sich, genehmigte sich einen
Schnaps. Der Branntwein lief ihr heiß durch den Körper. Jetzt
gab es keinen Weg mehr zurück. Aber seine Stille war fast noch
schlimmer als die gemeinen Kommandorufe, die sie durch
vierzig Jahre begleitet hatten. Sie spürte, wie ihr ein kleiner
kalter Schauer das Rückgrat entlang lief. Die weiße
Spitzendecke auf dem Tisch sah aus wie der Geist eines Toten.
Dann dachte sie an sein Geld, das jetzt ihr gehörte. Bereits als
sie sich kennen lernten, hatte er einen kleinen Betrag bei der
Post stehen. Das Guthaben war synchron mit dem Kind
gewachsen, das sie nie bekommen hatten. Es war ihre Schuld.
Langsam, aber sicher war es zu einer ansehnlichen Summe
angewachsen. Aber etwas davon ausgeben – nein, Ragnvald
doch nicht.
Mehrere Male hatte Maren ihn gedrängt, dass sie sich davon
doch einen Urlaub im Süden leisten könnten, aber das fand er
nur Quatsch. Und nachdem ein Jahr nach dem anderen verging,
erkannte sie, dass das Geld überhaupt nicht benutzt werden
sollte. Er wollte es nur haben, sicher auf dem Goldbuch der
Post. Doch jetzt wollte sie ihre Freundin aus der Thereses gate
einladen. Die einzige Freundin, die sie hatte.
Maren Tangvald wartete, bis es zwei Uhr nachts war, bevor sie
ihren Exmann, wie sie ihn heimlich titulierte, anzog.
Sie zog ihm Mantel, Handschuhe und Straßenschuhe an. Ihn in
den Fahrstuhl zu kriegen war kein Problem. Sie musste ihn nur
hinter sich herziehen.
Als sie jung waren, war er groß und sie klein gewesen. Jetzt
123
war es fast umgekehrt. Sie waren beide in die falsche Richtung
gewachsen. Sie waren buchstäblich voneinander fort gewachsen.
Sie hatte zugelegt, und er war eingeschrumpft. Was jetzt ein
großer Vorteil war.
Sie zog ihn unten aus dem Fahrstuhl heraus, durch die Haustür
und den Fußweg entlang. Der Himmel war schwer von Schnee,
als hielte er eine graue Wut zurück.
Etwas weckte Gyda Isaksen. Sie wusste nicht, was es war. Sie
nahm ihre Krücken und zog sich vom Bett hoch, ging zum
Fenster. Draußen war es dunkel. Es war weit bis zum Boden,
und ohne Brille sah sie alles wie im Nebel. Nach einer kurzen
Weile ging sie so leise sie konnte in die Küche und holte sich
ein Glas Wasser.
Maren Tangvald schaute sich ängstlich um. Es war
vollkommen menschenleer, niemand war am Ostersonntag so
spät in der Nacht noch unterwegs. Alle Restaurants und Kneipen
hatten geschlossen. Sie zog ihn an der Garagenanlage vorbei
und ein Stück die Hauptstraße entlang. Das Geräusch seiner
Schuhe auf dem staubigen Weg verursachte nur ein leises
Knirschen. Plötzlich zuckte sie zusammen. Die beiden
Jugendlichen, die sie vor kurzem im Treppenhaus ausgeschimpft
hatte, kamen ihr ein Stück entfernt entgegen.
Schnell rollte sie Ragnvald in einen kleinen Graben und warf
sich selbst darüber. Sie lag ganz still neben dem toten Körper.
Die Feuchtigkeit des Bodens drang durch ihren Mantel. Das
Licht der Straßenlaterne zeichnete einen gelben Kreis, der sich
ein Stück ihr Bein hoch fortsetzte. Plötzlich wurde es Maren
Tangvald bewusst, dass sie mit der Leiche ihres Mannes neben
sich in einem Graben lag. Wie einen schwarzen Filmstreifen, der
sich rückwärts aus einem kleinen Fenster spulte, sah sie die
Bilder von sich selbst mit dem Hammer immer und immer
wieder. Sie kniff die Augen zusammen. Hörte das Geräusch der
124
Schläge durch ihre Gedanken dröhnen. Einige braune,
zusammengeklebte Blätter bewegten sich vorsichtig in dem
leichten Wind.
Die beiden Jugendlichen blieben kurz vor ihr stehen. Sie standen
mit dem Rücken zu ihr, der eine bemühte sich, eine Zigarette
anzuzünden.
Maren Tangvald öffnete vorsichtig die Augen. Sie konnte die
Jungen dort oben sehen, durch ein paar hohe Grashalme vom
letzten Jahr hindurch. Als der eine Junge plötzlich laut auflachte,
war es, als würde ihr Herz ein paar Schläge überspringen.
Die Angst, was wohl mit ihr geschähe, wenn sie hier entdeckt
würde, lag wie eine giftige Schlange in ihrer Seele.
Aber sie hatte Glück, plötzlich gingen die beiden Jungs weiter,
als ob nichts passiert wäre. Sie hatten sie tatsächlich nicht
gesehen. Maren Tangvald wartete einen Moment, bis die Nerven
sich einigermaßen beruhigt hatten, bevor sie mit viel Stöhnen
und Mühe ihren Exmann wieder auf den Bürgersteig
hochgezogen bekam. Einen Moment lang sammelte sie Kraft
und wartete, bis sie wieder ein wirklicher Mensch wurde. Dann
zog sie ihn weiter mit sich den leicht abschüssigen Hügel
hinunter.
Sie zog ihn am Kindergarten vorbei, weiter in einen kleinen
Seitenweg hinein. Wo sie ihn unter ein paar Kieferngewächse
rollte und seine leere Brieftasche wegwarf, sodass es aussah, als
wäre er ausgeraubt worden.
Als sie zurück nach Hause ging, tanzte ein leichter Nieselregen
im bleichen Schein der Straßenlaternen. Sie war erschöpft, ganz
ermattet von der physischen Anstrengung und dem
Nervendruck. Die Muskeln in ihren Armen und Beinen
schmerzten.
125
Aber als sie im Fahrstuhl hinauf zum sechsten Stock stand,
spürte sie, wie die Kräfte und der Optimismus langsam
zurückkehrten. Ein Lächeln zeigte sich auf ihren Lippen. Mit
alten Damen ist nicht gut Kirschen essen. Und schon gar nicht
mit wütenden, frustrierten alten Damen.
Als sie in die Wohnung kam, zog sie sich schnell aus und nahm
eine warme Dusche. Die alten, weißen Baumwollunterhosen mit
Bein sollten jetzt durch teure Seidentangas ersetzt werden. Das
heißt, wenn sie das ertrug, da diesen String in … Ja, ja, sie sollte
es lieber mit Ruhe angehen. Alles zu seiner Zeit, wie es hieß.
Plötzlich fühlte sie sich sehr müde. Sie horchte auf etwas in
ihrem eigenen Kopf, hörte die Stille wie ein dunkles Meer im
Ohr.
Cato Isaksen war zurück an seinem Arbeitsplatz. Seine Familie
war noch im Gebirge geblieben. Bente hatte nichts dagegen
gehabt, Georg die letzten zwei Tage allein zu haben. »Ich hab
ihn ja lieb«, hatte sie gesagt. Eigentlich typisch Bente. Cato
Isaksen saß im Speisesaal zusammen mit seiner Kollegin Randi
Johansen, als sein ältester Sohn Gard anrief und ihn zum Essen
am gleichen Abend einlud. »Gern«, sagte er sanft und spürte,
wie sehr es ihn freute, dass der Älteste, nach einer schwierigen
Zeit mit Experimenten mit Drogen und Alkohol, jetzt wieder in
der Realität angekommen war. Während er noch am Telefon saß
und mit seinem Sohn sprach, traf eine Vermisstenmeldung ein.
Maren Tangvald meldete ihren Mann gegen zwölf Uhr am
Ostermontag vermisst. Sagte, er wäre am Ostersonntagabend
noch einmal hinausgegangen, sie hatte sich währenddessen
schon schlafen gelegt. Aber jetzt hatte sie Angst, dass ihm etwas
passiert sein könnte.
126
Der Pfarrer war schon um fünf Uhr an ihrer Tür. Der alte
Pfarrer, der so von Trauer und Sympathie erfüllt war, bedauerte
aus vollem Herzen, dass der Ehemann mit einem stumpfen
Gegenstand auf den Kopf erschlagen und dann ausgeraubt
worden war.
Maren Tangvald drückte einige bittere Tränen hervor und ließ
ein paar Sätze über die heutige brutale Gesellschaft fallen. Kurz
darauf kam die Polizei. Cato Isaksen nickte ihr kurz zu. Sie
erkannte ihn sofort wieder. »Ach, Sie sind das«, sagte sie.
Maren Tangvald mochte ihn nicht. Der Pfarrer ließ sie allein,
bat Maren jedoch, sofort anzurufen, wenn etwas sei.
Cato Isaksen lief durch die Räume. Es erschien ihm absurd,
dass dieser Mord hier hatte geschehen müssen, wo seine Mutter
die letzte Woche verbracht hatte. Er hatte den Toten gesehen.
Ein alter dünner Mann mit einem müden Zug um den Mund.
Cato Isaksen war besonders lange neben ihm stehen geblieben.
Er wusste nicht, warum. Aber etwas im Gesicht des Mannes
erinnerte ihn an sich selbst. Es war, als stünde er dort und würde
sich selbst in alter Version sehen.
Maren Tangvalds Gewissen fühlte sich an wie eine Art
Wäscheleine, die von dem einen Dunkel ins andere reichte. Sie
erklärte, sie würde Kaffee kochen. Dabei war sie so nervös, dass
ihr eine Tasse in den Ausguss fiel und zerbrach.
Der Ermittlungsbeamte, der ihr in die Küche gefolgt war,
stand nur da und schaute sie an. »Wir haben schon mit den
Nachbarn geredet«, sagte er, »unter anderem mit Frau Nordberg.
– Ihr Mann ging nicht gerade oft spazieren. Hatte er Probleme
mit den Beinen?«
»Nicht mehr als andere alte Männer«, sagte Maren Tangvald
schnell und trug ein kleines Tablett mit Tassen und Keksen ins
Wohnzimmer. Der Ermittlungsbeamte folgte ihr und setzte sich
auf den grünen Ohrensessel. Sie hatte die Blutflecken
weggescheuert, aber der Stoff war noch etwas feucht. Er
127
bemerkte es nicht. Sie stellte die Tassen und Untertassen auf den
Tisch.
Anschließend besuchte Cato Isaksen seine Mutter und deren
Freundin. Es war schon von vornherein verabredet gewesen,
dass er seine Mutter wieder ins Frognerhjemmet fahren würde.
Die beiden Frauen waren ganz aufgebracht über das, was
passiert war. Seine Mutter schien traurig und deprimiert zu sein.
Tulla Nordberg erzählte, dass Catos Mutter und Ragnvald
Tangvald zusammen in die Schule gegangen waren. »Aber das
kannst du ja selbst erzählen.« Doch die Mutter schüttelte nur
leicht den Kopf. »Nein«, seufzte sie, »da gibt’s nichts zu
erzählen. Ich habe ihn seit fünfundvierzig Jahren nicht mehr
gesehen, habe ihn aber sofort wiedererkannt. Ich war einmal bei
ihm, habe mit ihm eine Tasse Kaffee getrunken. Er hat sich
darüber beklagt, dass seine Frau die ganze Zeit nur
herummeckert. Da hat er von mir eine Packung Ohropax
gekriegt, das war auch schon alles«, erzählte Gyda Isaksen
traurig.
Nachdem die Mutter wieder ins Frognerhjemmet gebracht
worden war, fuhr Cato Isaksen zum Polizeihaus. Auf dem Flur
begegnete er Randi Johansen, die Neues von den Ermittlungen
zu berichten hatte. Cato Isaksen stand draußen im Dunkel und
wartete auf die Kollegen. Sie hatten eine Verhaftung
vorzunehmen. Er schaute auf die Uhr. In anderthalb Stunden
wollte er bei seinem Sohn und seiner Mitbewohnerin draußen in
Asker sein. Was sie wohl für ihn kochen würden? Er hatte
Hunger.
Maren Tangvald öffnete die Tür, als es klingelte. Einen
Moment lang dachte sie, Ragnvald stünde vor ihr. Das schmale
Gesicht, die leicht traurigen Augen, der Zug um den Mund.
»Guten Tag«, sagte Cato Isaksen, »dürfen wir hereinkommen?«
Sie öffnete die Tür ganz und ließ die drei Polizeibeamten
128
herein. Schon in dem Augenblick wusste sie, was kommen
würde. Sie hatten es herausgefunden, Cato Isaksen blieb mitten
im Wohnzimmer stehen. Sein Blick suchte den der alten Frau.
Als sie ihn endlich ansah, hob er seine rechte Hand. »Das haben
wir in seinen Ohren gefunden.« Cato Isaksen streckte die Hand
aus, zwei hellrote Kügelchen kamen auf seiner Handfläche zum
Vorschein.
»Ohropax«, sagte Maren Tangvald erschrocken.
»Ja«, sagte Cato Isaksen. »Die man sich in die Ohren steckt,
um schlafen zu können.«
»Weiß ich auch«, sagte sie und schaute ihn misstrauisch an.
»Ragnvald hat nie Ohropax benutzt. Er hat gar keine gehabt.«
Eine Gewissheit war dabei, sich in ihr hochzuarbeiten. Da gab
es etwas, was sie vergessen hatte. Aber schnell sammelte sie
sich wieder. »Und was ist damit?«, fragte sie. »Es ist doch wohl
ganz normal, wenn ältere Menschen Ohropax in den Ohren
haben.«
»Aber nicht, wenn sie draußen spazieren gehen«, erwiderte
Cato Isaksen und betrachtete sie mit seinen kalten Augen. »Wir
gehen davon aus, dass er ermordet wurde, während er schlief.«
»Nein«, widersprach sie schnell und schob die eine
Kaffeetasse zurecht. »Er hat nicht geschlafen. Er war noch nicht
eingeschlafen.«
Hinterher hätte sie sich die Zunge abbeißen können. Sie
spürte, wie eine gewaltige Kälte ihren Körper durchzog. Maren
Tangvald senkte den Blick. Dann war es also doch dazu
gekommen, dass Ragnvald zum Schluss noch den letzten Stich
bekommen hatte. Dieser Miesepeter, dieser unnütze,
unzuverlässige Schuft von einem Kerl.
»Haben Sie dazu noch etwas zu sagen?« Cato Isaksen war
bereits aufgestanden.
Maren Tangvald zuckte gleichgültig mit den Schultern,
129
während ihr ein leiser Seufzer über die Lippen kam. »Ich habe
vergessen, in seinen Ohren aufzuräumen«, sagte sie ruhig.
»Sie haben was vergessen?«
»In seinen Ohren aufzuräumen!«, wiederholte sie, jetzt etwas
lauter. »So lief es doch immer bei uns, wissen Sie. Er hat nie
hinter sich aufgeräumt, dieser Ragnvald. Niemals! Ich musste
alles tun. Nur gut für die Welt, dass er weg ist«, erklärte sie,
wobei sich ein kleines böses Lächeln in einem ihrer
Mundwinkel aufbaute. Sie begegnete dem kalten Blick des
Ermittlungsleiters Cato Isaksen und senkte den Kopf.
130
Der zufällige Tod eines Direktors
Leif Davidsen
Nachdem Direktor und Aufsichtsratsvorsitzender Kai Baggersen
den Wirtschaftsprüfungsbericht gelesen hatte, schloss er ihn im
Tresor ein, änderte den Code und rief unter Umgehung der
Sekretärin seinen Arzt an, um möglichst schnell einen Termin
bei ihm zu erhalten. Sie waren alte Freunde, und darum konnte
er schon eine Stunde später kommen. Seine Hände zitterten
nicht, obwohl er schwarz auf weiß gesehen hatte, dass die Firma
und damit er selbst bankrott waren und er folglich nicht
weiterleben konnte.
Er hatte verbissen dagegen angekämpft, dass das alte
Steuerberatungsbüro der Gesellschaft ausgetauscht wurde,
schließlich hatten aber selbst seine eminenten Fähigkeiten, den
Aufsichtsrat zu manipulieren, nichts geholfen. Es waren nicht
die Betriebsratsvertreter, die eine erneute Rechnungsprüfung
gefordert hatten. Die waren leicht zu kontrollieren, saßen
unsicher da und wussten nur wenig über das Unausgesprochene
in einem Aufsichtsratsbüro. Enttäuscht hatte ihn, dass die alten
Freunde und Kollegen, die sich nur ein paarmal im Jahr zu
zeigen und wohlwollend zu nicken brauchten, angesichts der
Zahlen zittrige Hände bekommen hatten. Zwar hatte die
zeitweilige Krise inzwischen schon etwas länger gedauert als
berechnet, doch der Umschwung stand unmittelbar bevor. Das
wussten alle. Aber nun würden sie zu der bevorstehenden
außerordentlichen Aufsichtsratssitzung erscheinen und ihre
eigene Haut zu retten versuchen, indem sie ihn opferten und mit
der Verantwortung allein ließen. Eigentlich konnte er es ihnen
nicht verdenken. Er hätte ebenso gehandelt, wenn er nicht auf
dem Stuhl des Vorsitzenden gesessen und damit die Kontrolle
über Tagesordnung, Rednerliste und Informationen gehabt hätte.
131
Die Schlüssel zur Macht.
Er saß an seinem Schreibtisch und sah, wie sich das Licht über
dem Øresund veränderte, als ein Regenschauer plötzlich die
schwedische Küste verdeckte. Durch die dicken Scheiben sah er,
wie die Welt lebte, aber kein Laut drang in das geräumige
Direktorenbüro. Fünfzehn Jahre hatte er an der Spitze des
größten Tennisball-Unternehmens Skandinaviens gestanden,
und wenn irgendwer an seinen Führungsfähigkeiten zweifeln
sollte, brauchte er sich nur die Aktienkurse in der
Wirtschaftsbeilage der Zeitungen anzusehen.
Aber das lag natürlich daran, dass die Investoren nicht den
richtigen Jahresabschluss und die ungetilgten Darlehen kannten,
die wie ein Krebsgeschwür wuchsen und jetzt außer Kontrolle
geraten waren. Sie wussten nichts von den Millionen, die in dem
Immobilienkomplex an der Sonnenküste Spaniens feststeckten,
wo die leeren Wohnungen und nicht eröffneten Läden das
investierte Kapital auffraßen, während die Zinsen wuchsen.
Er streckte die Arme über den Kopf, sah wieder nach Schweden
hinüber und spürte einen Druck in der Brust. Er war in guter
Form, aber zweiundfünfzig Jahre hatten ihre Spuren im
Organismus hinterlassen, und ungebeten tauchte eine
Erinnerung aus der Kindheit auf. Seine Mutter steht im Garten
und ruft ihn zum Essen. Der Wind spielt mit ihrem Haar, und er
liegt so sicher wie ein schlafender Igel in der selbst gebauten
Höhle und will nicht herauskommen.
Er blickte sich im Büro um und schüttelte die Erinnerung ab,
bevor sie von ihm Besitz ergreifen konnte. Das große schöne
Eckbüro mit den gediegenen finnischen Möbeln unter einem
Asger Jorn an der Wand. Plötzlich bewegten sich die Wände
leicht, und wieder war dieser Druck in der Brust da, als ihm die
Galle in den Hals schoss, weil er das Gefühl hatte, dass Leben in
die Wände kam und sie zusammenrückten und das Büro fast auf
132
Besenkammergröße schrumpfen ließen.
Er stand auf und schwitzte. Zog trotzdem die Jacke an. Der
Schauer kam von der schwedischen Küste herangefegt und
prallte mit schnellen klatschenden Lauten gegen die
Panoramafenster. Durch die Tropfen sah er wieder zur
Schwedenküste hinüber, und er stellte sich vor, dass sein Blick
über das Land und bis weit hinein in die tiefen Wälder reichte.
Dann drängte sich eine andere Kindheitserinnerung auf. In den
Fünfzigern war er für drei Wochen in einem Pfadfinderlager in
Schonen gewesen. Ihm fiel plötzlich der Friede ein und wie die
Zeit stillgestanden hatte und gleichzeitig davongaloppiert war.
Ihm wurde leicht unheimlich zumute, so stark war die Wirkung
der ungewohnten Erinnerungen. Sonst dachte er nie an Kindheit
oder frühe Jugend zurück. Er konzentrierte sich auf das Heute,
das Geschäft und die Zukunft.
Er sah sich deutlich als Fünfzehn-, Sechzehnjährigen auf einer
anderen Schwedentour mit seinem besten Freund, konnte sich
aber plötzlich nicht mehr an die Gesichtszüge seiner Kinder
erinnern, als sie klein waren. Dagegen sah er vor seinem inneren
Auge scharfgestochen wie auf einem Farbfoto den großen Elch,
der im Walddickicht gestanden und sie angesehen hatte. Sie
hockten zwischen den niedrigen, würzigen Blaubeerbüschen und
hielten die rot verschmierten Hände ganz still, während sie das
große Tier betrachteten. Es beäugte sie ruhig, hob den Kopf ein
wenig und verschwand im Dickicht, als ob es nur eine
Erscheinung gewesen wäre. Beeindruckt von diesem Erlebnis,
der Größe des Tieres und seiner Ruhe hatten sie lange stumm
dagesessen. Plötzlich schmeckte er auch den Tabak wieder.
Pfeifentabak. Den süßen, weichen, würzigen Geschmack eines
Tabaks, der sich Dark Twist nannte und den sie mit der
glühenden Spitze eines Astes angezündet hatten, den sie ins
Lagerfeuer gesteckt hatten. Sie lagen in ihren Schlafsäcken am
Feuer, während sie sich unterhielten. Er entsann sich nicht mehr
worüber. Bestimmt aber über Mädchen. Es war schon mehr als
133
zehn Jahre her, dass er zum letzten Mal geraucht hatte, aber er
spürte ein Verlangen, so tief, als hätte er gestern erst aufgehört.
Er stand mitten im Zimmer, in seine Erinnerungen verloren,
mit der Angst in der Brust und dem Gefühl der Niederlage in der
Seele. Morgen würden Investoren und Gläubiger entdecken,
dass ihr Vermögen verschwunden war, und mehrere hundert
Menschen ohne Arbeit dastehen. Das würde viele
Auswirkungen auf die Wirtschaft haben. Dansk Tennis A/S galt
als eines der solidesten und bestgeführten Unternehmen des
Landes. Er selbst musste mit Gefängnis rechnen. Die
Aktionärsdarlehen waren sehr belastend. Aber Gefängnis würde
vielleicht eine geringere Strafe sein als die Demütigung, gefehlt
und das Vertrauen anderer Menschen missbraucht zu haben.
Der Entschluss war eigentlich natürlich. Damit wollte er auch
Grethe und die erwachsenen Kinder absichern. Grethe verdiente
zwar ihr eigenes Geld, aber das Gehalt einer Gymnasiallehrerin
war nicht besonders üppig, und die Kinder konnten immer etwas
zusätzlich gebrauchen. Die Lebensversicherung war bezahlt und
unantastbar. Nicht wie all das andere, was er besaß. Das gehörte
ab morgen anderen. Er konnte die Welt mit der Gewissheit
verlassen, dass seine Nächsten abgesichert waren. Das Schicksal
der anderen konnte er nicht länger auf seinen Schultern tragen.
Er schüttelte den Kopf und schwitzte wieder. Warum konnte er
ihre Gesichtszüge nicht vor sich sehen? Warum wollten sie nicht
auftauchen? Warum sah er nur sich selbst, die Pfeife im Mund,
gemeinsam mit Niels am Lagerfeuer in einem schwedischen
Wald, nachdem sie selbst gefangenen Fisch mit einem Appetit
gegessen hatten, der verdrängte, dass er nach Rauch und Asche
des Lagerfeuers schmeckte. Wo war Niels heute? Einst beste
Freunde. Ständig zusammen. Vertraute. Nun ahnte er nicht
einmal, wo Niels wohnte oder was er machte oder ob er
überhaupt noch lebte.
Er wollte nicht schummeln. Er wollte nicht die Bilder auf
seinem Schreibtisch ansehen. Wollte die Gesichter selbst finden.
134
Er atmete tief ein und aus, konnte aber nicht das drückende
Gefühl in der Brust loswerden. Darum gab er schließlich auf und
schaute sich die beiden gerahmten Fotos auf dem Schreibtisch
an: eine schöne, gepflegte Frau in seinem Alter. Zwei
halbwüchsige Mädchen mit hübschen, nichts sagenden
Gesichtern.
Das war seine Familie. Warum wirkten die drei wie
unbekannte Menschen, die es sich auf seinem Schreibtisch
bequem gemacht hatten?
Er holte den Wirtschaftsprüfungsbericht wieder aus dem
Tresor, brauchte sein eigenes Todesurteil aber nicht noch einmal
zu lesen. Geschäfte und Zahlen hatten sein Leben ausgemacht,
Zahlen verstand er besser als Worte, und die Zahlen des
Berichtes ließen keinen Platz für Zweifel. Er schloss ihn wieder
im Wandschrank ein, atmete abermals tief ein und aus und
schwang die Arme, machte ein paar Kniebeugen, streckte sich,
als würde er sich für ein Tennisspiel warm machen. Dann nahm
er den Telefonhörer ab.
»Line. Ich habe eine Besprechung in der Stadt. Du siehst mich
heute nicht mehr. Geh du nur früh.«
»Gut. Hab vielen Dank. Dann hol ich Andreas heute früher
ab.«
»Und, Line?«
»Ja, Kai.«
»Ich komm morgen nicht ins Büro. Ich fahr heute Abend nach
Brüssel. Eine einfache Besprechung morgen.«
»Das steht nicht im Kalender.«
»Das kam plötzlich.«
»Was ist mit dem Ticket, dem Hotel? Soll ich nicht …?«
»Hol du nur Andreas ab. Geh jetzt. Du hattest in letzter Zeit
viel zu tun. Ich bitte Jørgensen, sich darum zu kümmern.«
»Ja aber …«
135
»Mach, was ich sage, Line.«
»Okay. Wenn du es sagst.«
Er sah wieder nach Schweden hinüber. Es war Ende August
und trotz des Schauerwetters eigentlich mild. Gedankenverloren
stand er da, bis er sich sicher war, dass Line gegangen war. Er
spürte den ruhigen Rhythmus der Arbeit in den anderen Büros
des Verwaltungsgebäudes, und drüben in der Fabrikhalle spien
wie seit fast fünfzig Jahren Maschinen Bälle aus. Dann rief er zu
Hause an und sprach auf den Anrufbeantworter, dass er nach
Brüssel müsse. Morgen nach Hause komme. Grethe würde das
akzeptieren. Während ihrer langen Ehe hatte sie sich an seine
Geschäftsreisen gewöhnt, und heute lebte jeder von ihnen wohl
im Grunde genommen sein eigenes Leben, auch wenn sie
einander vertrauten und sich gern hatten und keiner von ihnen
sich ein Leben ohne den anderen vorstellen konnte. Grethe ging
ihrer Arbeit als Lehrerin nach und besuchte mit ihren
Freundinnen gern Kunstausstellungen. Er hatte seine Arbeit und
spielte mit Aufsichtsratskollegen ein wenig Tennis. Sie hatte,
wenn auch notgedrungen, eingesehen, dass die Arbeit den Sinn
seines Lebens ausmachte und dass es ihm schwer fiel, über
etwas anderes verständnisvoll zu reden.
Sein alter, gleichaltriger Freund, der Arzt, sagte dasselbe
nachdem er sein Herz abgehört und ihn ein wenig befragt hatte.
»Du solltest an anderes denken als nur an die Arbeit, Kai.«
»Ach, ich kann bloß ein bisschen schlecht schlafen in letzter
Zeit.«
Poul sah ihn freundlich an, während er das Mogadon-Rezept
ausstellte.
»Ich schreib dir was auf, damit zu schlafen kannst. Und dann
lässt du dir draußen von Linda einen Termin für eine etwas
größere Untersuchung geben. Sie findet für dich schon noch
eine Lücke.«
»Ist es etwas …?«, fragte er.
136
»Nein. Aber ein Check schadet nichts«, sagte der Arzt. Er
reichte das Rezept über den Schreibtisch und fuhr fort:
»Probleme mit der Firma?«
»Es sind schwierige Zeiten für alle.«
»Mein Gott, die ganze Welt spielt doch Tennis! Und alle
müssen Bälle haben.«
Kai nahm das Rezept.
»Die Konkurrenz aus dem Osten ist hart.«
Der Arzt sah auf die Uhr. Kai hatte bemerkt, dass im
Wartezimmer Leute saßen, und wusste recht gut, dass dies hier
ein Gefallen war.
»Vielen Dank, dass du mich dazwischengeschoben hast.«
Der Arzt winkte ab und sagte mit einem Lächeln:
»Bei dem Aktienposten, den ich in deiner Firma hab, muss ich
dafür sorgen, dass du gesund und munter bist.«
Kai spürte sein Herz schneller schlagen und bekam sehr wohl
mit, dass ihn der Freund aufmerksam betrachtete. Er hatte im
Geschäftsleben früh gelernt, dass es bei Verhandlungen wichtig
war, die Körpersprache der Gegenseite zu beobachten. Worte
gingen leicht über die Lippen, wenn man eine kleine
Unwahrheit von sich gab, der Körper aber verriet das meiste,
wenn man kein guter Pokerspieler war.
Er gab schnell die Hand und wandte sich zum Gehen, zögerte
aber an der Tür und fasste dann einen Entschluss.
»Poul. Das, was ich dir jetzt sage, ist ungesetzlich, und ich
kann dafür bestraft werden … nein, unterbrich mich nicht.«
Poul hatte sich erhoben und stand hinter seinem Schreibtisch.
»Ja?«, sagte er.
»Verkauf deine Aktien an Dansk Tennis A/S.«
»Was sagst du da? Warum in aller Welt …? Und ausgerechnet
jetzt. In der letzten Zeit sind sie doch um ein paar Punkte
137
gestiegen, also ist das doch nicht gerade günstig.«
Kai spürte wieder sein Herz schlagen. Den merkwürdigen
Druck in der Brust, den er nicht erklären konnte und der nicht
im Stethoskop zu hören war.
»Poul, mach, was ich sage. Ich könnte für das hier ins
Gefängnis kommen. Aber … ich … Verkauf sie heute. Und
danke. Und auf Wiedersehen.«
Er ging zur Tür hinaus und war verschwunden, bevor Poul
reagieren konnte.
»Soll ich den Nächsten reinschicken?«, erkundigte sich die
Sekretärin einen Augenblick später über die Gegensprechanlage.
»Einen Moment noch«, sagte er.
Er setzte sich wieder und suchte nach der Telefonnummer
seines Maklers.
»Verkauf alle meine Dansk-Tennis-Aktien«, sagte er. »Ist das
heute noch zu schaffen?«
»O ja doch«, dröhnte die unbekümmerte Stimme im Hörer.
Leute, die an der Börse Geld wie Heu machten, waren oft
furchtbar jung, dachte der Arzt, während die energische Stimme
fortfuhr: »Der Börsentag ist ja noch frisch. Aber darf ich fragen,
warum? Hast du irgendwas gehört? In der Stadt gehen nämlich
ein paar Gerüchte um.«
»Nein. Ich brauch nur Geld. Was für Gerüchte?«
»Dass der Halbjahresbericht nicht so gut ist wie erwartet. Der
Überschuss kleiner als errechnet. Könnte in den nächsten Tagen
den Kurs um ein paar Punkte drücken. Aber es werden sich
schon Käufer finden.«
»Verkauf sie heute alle.«
Danach saß er eine Weile da, den Hörer in der Hand. Ertrug
plötzlich nicht den Gedanken, die nächsten Patienten zu sehen,
würde es aber natürlich doch tun. Wie Kai war er erzogen zu
Pflicht, Verantwortung und Vernunft. Sie gehörten zu einer
138
Gesellschaftsschicht, der während des Heranwachsens ständig
gepredigt worden war, dass man sich zusammenzunehmen habe,
dass es schon gehen werde. Sie hatten weder Zeit gehabt für
Jugendaufruhr, noch welchen nötig gehabt. Auch wenn Kai
wohl eigentlich einmal ein wenig für die Linkssozialisten
geschwärmt hatte. Wie so viele andere junge Leute aus
wohlhabenden Familien. Er hatte nie für den Sozialismus
geschwärmt. Das war das Privileg der Oberklasse.
Er seufzte, stand auf und ging zur Sekretärin hinaus.
»Schick den Nächsten nur herein, Linda. Und welchen Termin
hast du Direktor Baggersen gegeben?«
Linda sah auf.
»Keinen. Er hat um keinen gebeten. Bestimmt hatte er es
eilig.«
Aber Kai Baggersen hatte es nicht mehr ganz so eilig. Er
wusste, wenn er erst einmal das Rezept in der Apotheke
abgegeben hatte, würde er schaffen, was geschafft werden
musste. Die Schlaftabletten würde er später abholen.
Er war der Meinung, dass ein leitender Mann der Wirtschaft
beispielgebend sein sollte durch seine persönliche Erscheinung,
seine Haltung und seinen Umgang mit anderen Menschen sowie
durch seine Lebensführung. Er hielt sich in Form und war mit
weißem Hemd und dunklem Anzug stets adrett und gut
gekleidet. Er behandelte die Leute mit Höflichkeit und Achtung
und erwartete, von anderen ebenso behandelt zu werden. Und er
war davon überzeugt, dass die strenge Freundlichkeit, die seinen
Umgang sowohl mit Angestellten als auch mit der Familie
prägte, anderen Menschen Sicherheit verlieh. Aber die meisten
empfanden ihn als distanziert und kühl und eigentlich ziemlich
angsteinflößend. In geschäftlichen Dingen war er zynisch und
rücksichtslos. Die Geschäftswelt war ein Dschungel, das hatte er
früh erkannt. Der Kapitalismus war das beste System. Die
Konkurrenz brachte es aber mit sich, dass die Schwächsten am
139
Ende unterlagen. Er wohnte idyllisch im Norden von
Kopenhagen und hatte ein schönes Sommerhaus bei Skagen,
aber für einen Mann mit seiner Position in der Gesellschaft war
das nur recht und billig. Als Direktorenauto hatte er sich für
einen Saab 900 mit einem V6-Motor entschieden. Weil
Schweden einen großen Platz in seinem Herzen einnahm und
weil er den Saab für ein Auto hielt, das zu dem Image gesunder
Geschäftsmoral und bescheidener, aber qualitätsbewusster
Lebensführung passte, mit dem er sich selbst und seine Firma zu
umgeben versucht hatte.
Er parkte am Pfadfinder-Sportgeschäft und kaufte nach einem
mentalen Merkzettel ein, der in all den Jahren irgendwo in
seinem Gedächtnis gespeichert gewesen zu sein schien.
Seine ruhige Autorität führte dazu, dass ihm der junge
Verkäufer bald wie ein Hund durch das Geschäft folgte,
während er einkaufte und alles zusammenpacken ließ, sodass sie
es schließlich zum Auto hinaustragen konnten. Er gab keine
Erklärung ab, warum er die Grundausstattung für eine kleinere
Expedition in die Wildnis kaufte. Der Verkäufer fragte nicht.
Weil den Kunden ein Panzer umgab, der nicht zu Fragen einlud,
und weil es dem Zeitgeist entsprach, dass Menschen der Natur
huldigten und zu fernen Gegenden der Erde aufbrachen. Der
Verkäufer wusste, dass wohlhabende Menschen die beste
Qualität kauften, auch wenn viele die Ausrüstung
wahrscheinlich nur ein einziges Mal nutzen würden. Also beriet
er freundlich und kompetent. Er war selbst Outdoor-Freak und
empfand einen gewissen Stolz, dass der seriöse Herr im besten
Alter schnell begriff, dass er mit einem Profi sprach und deshalb
seinem Rat vertrauen konnte.
Er kaufte ein Einmannzelt, einen Schlafsack, einen
Spirituskocher, einen Satz Kochtöpfe aus Aluminium, Besteck,
einen Dolch, einen Kompass, Trekkingschuhe, dicke Socken,
einen Anorak, einen dicken blauen Troyer, eine Iso-Matte und
einen Rucksack, in dem alles Platz hatte. Er kaufte nur beste
140
Qualität und bezahlte mit seiner Eurocard.
Danach holte er seine Medizin, fuhr zum »Magasin« und
parkte im Parkhaus des Großkaufhauses. Er kaufte eine
Cordhose, ein rot kariertes Baumwollhemd und eine Garnitur
Unterwäsche. In der Sportabteilung erwarb er eine
zusammenlegbare Angel und einen Satz Haken für
Süßwasserfische und Trockenköder. Zum Schluss kaufte er noch
eine Flasche Whisky, eine Dose Pulverkaffee, Knäckebrot, eine
kleine Salami, eine große Packung geschnittenes Roggenbrot,
drei Dosen Makrele in Tomaten, ein Stück Schnittkäse und
mehrere Tütensuppen.
Er ließ das Auto im Parkhaus stehen und ging den Strøget
hinunter. Der Nachmittag war mild und der Himmel nun fast
blau. Er ging in seiner eigenen Welt. Trug den leichten
Sommermantel über dem Arm. Plötzlich und überraschend hatte
die Sonne nackte Mädchenbeine und junge Brüste unter dünnen
T-Shirts aus dem Regenzeug auftauchen lassen. Er genoss den
kurzen Spaziergang. Normalerweise ging er nicht in der
Arbeitszeit auf dem Boulevard spazieren. Der Druck in der
Brust war nicht mehr da, und er fühlte sich leicht ums Herz,
ging, als würde er schweben. Er bemerkte sehr wohl, dass ihm
mehrere Frauen nachsahen. Das schmeichelte ihm, auch wenn er
wusste, dass sie ihn nicht nur wegen seines markanten Gesichts
attraktiv fanden, sondern auch wegen der Aura aus Macht und
Geld, die ihn umgab. Dänemark war abermals eine Gesellschaft
geworden, in der sich eine Reihe von Frauen gern wieder von
einem Mann versorgen lassen wollte.
Im Tabakgeschäft am Springbrunnen kaufte er eine gute, in
Dänemark hergestellte Pfeife, ein Zippo-Feuerzeug, das der
Verkäufer für ihn füllen musste, eine Tüte Pfeifenreiniger und
eine Packung Dark Twist, auch wenn der Verkäufer eines der
handgemischten Tabakprodukte des Ladens empfahl. Er war
schon lange nicht mehr in einem Tabakgeschäft gewesen. Es
roch gut. Süß und vanilleartig. Schwer und tabakgesättigt, und
141
er fand die Atmosphäre angenehm maskulin.
Er holte das Auto aus dem Parkhaus und konnte eine
dreiviertel Stunde später ohne Wartezeit in Helsingør an Bord
der Fähre fahren, die um 16.30 Uhr ablegte. Eine halbe Stunde
später lenkte er den Saab in Richtung Norden und fuhr in
goldenem Sonnenschein durch Schweden, während er im CD-
Player Vivaldi hörte. Er fühlte sich glücklich und ausgebrannt,
müde und gleichzeitig hellwach. Als ob ein besonders
schwieriges Geschäft nach großem, anstrengendem Einsatz
unter Dach und Fach gebracht worden sei.
Er fuhr, bis ihn die Dunkelheit einholte. Dann hielt er an einer
Cafeteria und aß ein fades Steak mit einer halbgaren
Backkartoffel und Soße direkt aus der Dose. Er konnte das
Personal überreden, ihm eine Thermoskanne mit Kaffee zu
verkaufen, die er mit ins Auto nahm. Er fuhr weiter durch die
Nacht. Der Abstand zwischen den entgegenkommenden
Lichtern wurde größer und größer. Die schwarzen Bäume
schossen an ihm vorbei, und das Fernlicht fing mehr und mehr
schimmernde Tieraugen ein, die wie rote Perlen zwischen den
Stämmen leuchteten, wenn die Straße eine Kurve machte. Er
spürte die Müdigkeit im Nacken, während er im CD-Player
klassische Musik hörte und Kaffee aus einem Plastikbecher
trank. Er versuchte sein Leben zu analysieren, aber die
Gedanken wollten sich nicht einstellen. Stattdessen dachte er an
Grethe und seine Töchter, konnte aber zu seiner Enttäuschung
ihre Gesichter nicht deutlich vor sich sehen. Da konzentrierte er
sich aufs Fahren, bis er nicht mehr dazu imstande war, die
weißen Streifen auf der Straße zu verschwimmen begannen und
sich verdoppelten. Er fand einen Rastplatz, kippte den
Beifahrersitz nach hinten und lag lange mit offenen Augen da
und hörte dem warmen Automotor zu, der in der sanften Kühle
der Nacht knackte. Er hörte den Wind in den schwarzen
Bäumen, und irgendwo im Dunkeln schrie ein Tier, aber das
erschreckte ihn nicht, und schließlich schlief er ein.
142
Er wurde im frühen Morgengrauen wach und geriet für einen
Augenblick in Panik, weil er nicht wusste, wo er war. Und als
sein Bewusstsein den schwedischen Rastplatz registriert hatte,
konnte er sich für einen weiteren Augenblick nicht erinnern,
warum er hier wach wurde und nicht zu Hause oder in einem
guten Hotel.
Als es ihm einfiel, fühlte er sich erleichtert und zugleich
bedrückt, und er tauschte den Anzug gegen die Wanderkleidung
aus, pinkelte am Waldrand, trank den restlichen lauwarmen
Kaffee und fuhr weiter, bis er zu den großen Waldgebieten von
Grimle kam. Er fuhr in Stille, mochte kein Radio hören, und das
einzige Gefühl in ihm war ein schwacher Hunger, den er nicht
gegen Geld in einer der Cafeterias am Straßenrand stillen wollte.
Der Abstand zwischen ihnen wurde auch größer, und allmählich
auch der zwischen den Häusern, und schließlich fuhr er allein
auf einem Schotterweg in den Wald hinein, der sich wie ein
schützender Mantel um ihn schloss.
Er parkte das Auto an einer Lichtung, die an einem Weg lag,
der zu einem kleinen rot gestrichenen schwedischen Holzhaus
führte, das sie einmal in ihrer Jugend gemietet hatten. Er ließ
seinen Anzug auf dem Rücksitz liegen, brachte es aber nicht
über sich, Geld und Kreditkarte hier zu hinterlassen, obwohl er
dort, wo er hinwollte, beides nicht brauchte. Das war zu
unverantwortlich. Diese letzte kleine Verantwortungslosigkeit
würde an Grethe hängen bleiben. Das konnte er nicht ertragen.
Er packte Ausrüstung und Esswaren in den Rucksack, lud ihn
sich auf, kämpfte ein wenig mit den Riemen und ging dann in
seinen neuen Trekkingschuhen an dem Haus vorbei, in dem sie
in ihrer Jugend glücklich gewesen waren. Das Haus stand leer
und war verfallen. Schien nicht mehr genutzt zu werden. Es roch
nach Wald und Fäulnis. Kein widerlicher Geruch. Eher wie
verschrumpelte Äpfel und morsches Holz. Er betrachtete das
Haus eine Weile. Arm waren sie wohl kaum gewesen, eher
genügsam, damals in den frühen Sechzigern, bevor der große
143
Konsum einsetzte. Sie hatten billigen Rotwein getrunken, sich
geliebt, Bücher gelesen, lange Spaziergänge gemacht. An sich
selbst genug gehabt. Das war, bevor die höfliche Distanziertheit
angefangen hatte. War sie mit den Kindern gekommen oder mit
dem Geld? Oder mit seinem Arbeitsdruck? Sie waren verliebt
gewesen. In dem stillen Wald erinnerte er sich an die Kraft
dieses Gefühls. Eine physische Strömung von Liebe, wie er sie
später nie wieder gespürt hatte. Das Gefühl, dass sie allein
ausreichte, um sein ganzes Universum auszufüllen. Dass es
mehr nicht brauchte.
Er sah auf den Kompass, steckte ihn in die Tasche und ging
nach Osten, in den Wald hinein. Im Osten war es am einsamsten
und undurchdringlichsten, und dort gab es einen Fluss. Daran
konnte er sich erinnern. Kein Haus meilenweit. Nur Bäume,
Senken und Leere.
Anfangs schritt er zügig aus. Die Beine waren gut trainiert
nach den vielen Stunden auf dem Tennisplatz, aber die
Schultern taten bald weh, weil sich die Rucksackriemen
einschnitten.
Schweiß lief ihm in die Augen, aber er ging in schnellem
Tempo weiter, und nach einer Weile hatte er seine Müdigkeit
überwunden. Die Schmerzen verschwanden, und die Landschaft
verdrängte die Gedanken an die Vergangenheit. Er lächelte und
fühlte, dass er sich richtig entschieden hatte. Er war auf dem
Weg zurück zu einer Form von Unschuld, die er unterwegs
verloren hatte, von der er aber jetzt wusste, dass sie ihm ein
glücklicheres Leben beschert hätte.
Er ging durch einen Kiefernwald. Der Geruch nach Harz war
intensiv und allgegenwärtig. Die Schuhe knirschten ein wenig,
wenn die Sohlen lautlos auf die dicke Kiefernnadeldecke traten.
Der einzige andere Laut war das gleich bleibende Summen der
Insekten. Die Landschaft öffnete sich, als er aus dem Wald trat
und durch ein Tal ging, das sich abwärts erstreckte.
144
Er schmeckte seinen eigenen Schweiß, der von der Stirn über
Wangen und Nase herablief und sich auf der Oberlippe absetzte.
Die Landschaft im Tal war anders. Die Bäume standen ohne
Nadeln da, tot und kahl. Hier war kein Zeichen von Leben. Er
ging durch die weite Natur, fernab von Menschen, und dennoch
hatte der Tod die Natur befallen. Seine Schultern taten weh, und
der eine Schuh begann zu scheuern. Er ging durch die Stille und
zwischen den toten Bäumen hindurch, und ihm wurde
unheimlich zumute. Angst befiel ihn. Er fühlte sich plötzlich
ganz allein auf der Welt. Als ob ihm träumte, dass alle
Menschen verschwunden seien, und er aus seinem Traum
erwachte und es kein Traum gewesen war, sondern
Wirklichkeit. Ihm flimmerte vor den Augen, und er fing an zu
laufen. Er stöhnte, als er aber seinen Körper zusammenpresste,
wurden die Schmerzen dumpfer und verschwanden. Erst als er
durch das Tal gelangt war und wieder in den Wald kam, hielt er
an und setzte sich. Er lehnte den Rucksack gegen einen Baum
und konnte das Weinen unter Kontrolle bringen. Trocknete mit
dem Handrücken Tränen und Schleim und fing an zu lachen. Er
sah sich plötzlich mit fremden Augen und lachte bei dem
Gedanken, dass Direktor Kai Baggersen allein in einem
schwedischen Wald saß, mit Rotz und Tränen im unrasierten
Gesicht. Wenn ihn einer so sehen würde. Geschäftsfreunde oder
Familienmitglieder. Was würden sie denken? Würde er ihnen
Leid tun? Oder würden sie das Gesicht abwenden, weil es sie
peinlich berührte, wie es uns peinlich berührt, wenn wir mit
ansehen, dass ein Mensch seelisch zusammenbricht?
Er zog den Schleim hoch und war sehr durstig. Er musste den
Fluss finden, sein Lager aufschlagen und tun, was getan werden
musste. Dann fiel ihm der Whisky ein. Mühselig nahm er den
Rucksack ab und kramte die Flasche hervor. Er genoss das
trockene Geräusch, als das Siegel brach, und saß eine Weile da
und roch an der Flasche, als sei es ein feiner Jahrgangswein, erst
dann trank er ein paar Schluck. Es brannte, tat aber auch gut. Er
145
trank noch ein wenig und spürte schnell die Wirkung im Gehirn.
Sein Magen war leer, aber Hunger verspürte er eigentlich nicht.
Gegen den Baum gelehnt, saß er eine Weile am Waldrand und
trank in kleinen Schlucken, während er über das tote Tal blickte.
Völlig reglos saß er da und sah einen großen Elch auf der
Lichtung vorbeischreiten. Wie einen Talisman hielt er die
Flasche ganz still vor sich, und er fühlte sich glücklich, als der
Elch stehen blieb und ihm den großen Kopf zuwandte. Das Tier
blinzelte mit den Augen, drehte wieder den Kopf und ging
langsam weiter. Wie ein kleines Kind folgte er dem Elch mit
den Augen, bis er im Wald verschwand und eins wurde mit dem
Halbdunkel.
Ein wenig betrunken, aber auch feierlich gestimmt, ging Kai
Baggersen weiter. Die Schmerzen, verursacht durch die
Rucksackriemen und die wachsende Blase, waren eigentlich
nicht schlimm. Sie erinnerten ihn nur daran, dass er am Leben
war und unterwegs. Er fing an zu singen. Bruchstücke von
Kirchenliedern, die er in seiner Schulzeit auswendig gelernt
hatte. Geh aus mein Herz und suche Freud. Wem Gott will
rechte Gunst erweisen. Nun danket alle Gott. So nimm denn
meine Hände. An sehr viel Text konnte er sich nicht erinnern,
aber ein, zwei Zeilen einer Strophe genügten ihm. Ihm wurde
leicht zumute. Ein feste Burg ist unser Gott. Stille Nacht, heilige
Nacht. Dann und wann blieb er stehen und nahm einen kleinen
Schluck aus der Flasche, die er in der einen Hand hielt.
So kam er mitten am Nachmittag zum Fluss, der träge und
breit dahinfloss. Nach einem trockenen Sommer ragten große
Felsbrocken aus dem klaren, langsam strömenden Wasser. An
anderen Stellen konnte er sehen, dass der Fluss schwarz, dunkel
und tief war. Große Kiefern und Ahornbäume wuchsen bis ganz
an das Ufer heran, auf der anderen Seite aber hatte man einen
weiten Blick auf eine Lichtung. Er ging am Fluss entlang, folgte
der Strömung, bis er zu einer Biegung kam, von der er in ein
neues Tal hinausblickte, während er dichten Wald hinter sich
146
hatte. Hier blieb er stehen. Er stellte die Flasche hin, nahm den
Rucksack ab und fühlte sich hungrig und glücklich.
Ohne Schwierigkeiten baute er das kleine Einmannzelt auf.
Das war einfach getan: Alles war beisammen, und im
Handumdrehen hatte er das kleine Rundzelt aufgestellt. Er rollte
den Schlafsack auf der Iso-Matte aus, trug ein wenig Brennholz
zusammen und errichtete einen kleinen Holzstoß innerhalb eines
Steinkreises, den er auslegte, bevor er das Feuer mit dem neuen
Zippo-Feuerzeug anzündete. Alles war trocken, und bald
brannte ein kleines Lagerfeuer. An die Gesichter seiner Kinder
konnte er sich nicht erinnern, aber er erinnerte sich ohne
Schwierigkeiten an das, was er während seiner Pfadfinderzeit
gelernt hatte. Er ging zum Fluss hinunter. Das Wasser war klar
und schmeckte gut. Er trank aus seinen hohlen Händen, ging
dann aber zurück, holte den Satz Kochtöpfe und füllte den
größten der drei Töpfe mit Wasser. Er fand einen jungen Ahorn,
dessen Spitze sich gabelte, legte ihn mit seinem Dolch um. Der
Saft erinnerte ihn an seine Kindheit und klebte an den Fingern.
Er teilte den Ahorn in zwei Enden, spitzte das Ende mit der
Astgabel an und trieb es in die Erde, die zuerst hart war, dann
aber weich wurde. Das Feuer knisterte, und er schwitzte in der
Wärme von Sonne und Feuer. Er dachte an nichts, nur an die
praktischen Dinge, um das Lager aufschlagen zu können. Er
musste eine Weile suchen, bevor er noch einen jungen Baum mit
einer Gabelung fand, die an ein Katapult erinnerte. Er schnitt sie
ab und steckte sie auf der entgegengesetzten Seite des Feuers in
die Erde. Dann legte er den dünnen geraden Knüppel in die
Astgabeln. Er passte. Er nahm ihn wieder ab und steckte ihn
durch die Henkel des grauen Kochtopfs, der nun über den
Flammen hing. Er legte mehr Feuerholz auf und betrachtete sein
Werk froh und glücklich. Dann öffnete er eine Dose mit
Makrele in Tomate.
Er ging wieder zum Fluss hinunter und holte in dem kleinen
Kochtopf mehr Wasser. Dann sammelte er noch mehr
147
Feuerholz, setzte sich schließlich und lehnte sich gegen einen
Baumstumpf, auf dem der Rucksack lag. Er betrachtete seinen
Kessel mit Wasser, das langsam zu kochen begann, seine
Whiskyflasche, seinen geordneten, gemütlichen Lagerplatz mit
dem Zelt, dem Schlafsack, dem Roggenbrot, der kleinen Salami,
den Dosen mit Makrele, den Tütensuppen und fühlte sich so
müde und glücklich wie in seinem früheren Leben, wenn er ein
gutes Geschäft abgeschlossen hatte. Oder glücklicher? Denn
hier war die Arbeit nicht auf Kosten anderer gegangen. Hier war
jede Handlung einfach und produktiv, ohne dass Lug und Trug
schon von vornherein eingeplant waren.
Er füllte Pulverkaffee in den kleinen Kochtopf und goss
Wasser darauf, nachdem es zu kochen begonnen hatte. In den
Rest des Wassers schüttete er den Inhalt von zwei Tüten mit
Minestrone. Während alles abkühlte, legte er Salami und Käse
auf eine Scheibe Roggenbrot und schmierte Makrele in Tomate
auf die zweite.
Kai Baggersen aß langsam und mit Genuss, während er Fluss
und Wald betrachtete und hoffte, dass der Elch wieder
auftauchte. Er meinte an nichts zu denken, nahm nur den öligen
Geschmack der Salami auf der zarten Festigkeit des Käses wahr
und die Säuerlichkeit des Tomatensaftes mit dem
Meeresgeschmack der Makrele, die Wärme der Minestrone und
den leichten Biss in das weich gewordene Trockengemüse, die
Kerne des abgepackten Roggenbrotes und das kräftige Aroma
des Pulverkaffees, den er mit einem Schuss Whisky verstärkte.
Die Mahlzeit war ein Genuss. Er konnte sich nicht erinnern, in
den teuersten Restaurants der ganzen Welt besser gegessen zu
haben. Er kaute langsam und gründlich. Der Rauch des
Lagerfeuers stieg gerade empor und störte ihn nicht, da er sehr
trockenes Holz ausgesucht hatte. Der Rauch war fein und weiß
und verführte ihn zum Rauchen. Außer dem Summen der
Insekten und dem Seufzen des Lagerfeuers gab es keine anderen
Geräusche.
148
Er stopfte seine neue Pfeife. Der Tabak war in runde Scheiben
geschnitten und duftete süß und stark. Er schmeckte vertraut und
eigenartig, machte ihn ein klein wenig schwindlig und brannte
auf der Zunge, aber er rauchte eine Weile, während er den Rest
seines Kaffees trank. Er dachte an seine Geschäfte und tat sich
wieder selbst Leid, bevor aber das Selbstmitleid Oberhand
gewinnen konnte, erhob er sich mit der Pfeife im Mund und
räumte auf. Er reinigte die Kochtöpfe im Fluss, steckte die
Angel zusammen und befestigte zwei Angelhaken: Es dauerte,
bis die Knoten richtig gebunden waren. Seine Finger waren mit
der dünnen Nylonschnur nicht vertraut, die Haken stachen ihm
in die Finger, sodass er die Blutstropfen absaugen musste. Aber
schließlich klappte es, und er konnte die getrockneten Köder auf
die Haken spießen. Er warf die Schnur aus und saß und wartete,
gedankenleer. Mücken stachen ihm in den Nacken, und mit der
Zeit begann er sich zu langweilen. Er konnte sich nicht erinnern,
dass Angeln so langweilig war. Es gab doch einen Minister, der
sich dabei erholte? Vielleicht war das eine andere Art des
Angelns. Mit Fliege. Bis zum Hintern männlich im Wasser
stehen und werfen, bis Arm, Angel und Schnur eins wurden und
eine vollendete Kurve bildeten. Er schlief fast ein, aber die
Mücken stachen so verdammt. Er legte die Angel hin, wusch
Gesicht und Hände im kalten Wasser des Flusses. Fühlte sich
schmierig und ein bisschen lächerlich. Ein erwachsener Mann,
der an einem blöden schwedischen Fluss kniet. Das war nicht
gerade die professionelle Art, Krisen zu lösen. Die Natur wurde
überschätzt, dachte er und nahm seine Angel auf. Er rollte sie
ein. Der Köder war weg. Die kleinen Haken leuchteten silbrig in
der Sonne. Er hob die Dose mit Trockenköder auf, verlor dann
aber völlig die Lust und legte die Angel aus der Hand. Er legte
mehr Brennholz auf das Feuer und setzte sich wieder, den
Rücken gegen den Rucksack gelehnt. Die gute Stimmung war
verflogen. Er fühlte sich allein und hatte Angst, und das Feuer
wärmte nicht mehr wie zuvor.
149
Er trank, während sich Dunkelheit herabsenkte. Sein Rachen
brannte von Whisky und Tabak. Besonders von letzterem, doch
er fand den Tabakgeschmack auch stark und gut. Er schmeckte
nach Rauch und Ruß des Lagerfeuers, aber auch nach Zucker
und Jugend. Er fand zurück zu einer Art von Ruhe, und auch die
Wärme kehrte zurück. Aus dem Augenwinkel sah er plötzlich
drei große Schatten. Es waren Elche. Vielleicht zwei große
weibliche Tiere und ein fast erwachsenes Jungtier. Sie kamen
langsam am anderen Ufer daher. Sie verharrten ein wenig und
sahen ihn an, Schatten in der zunehmenden Dunkelheit. Sie
beugten sich hinunter und tranken. Sie warfen ihm einen letzten
Blick zu und gingen dann langsam und furchtlos weiter am
Fluss entlang. Es war ein Augenblick großer Schönheit. In
seiner Betrunkenheit war er davon überzeugt, dass das ein
Zeichen war. Ein Signal an ihn, es sich anders zu überlegen.
Aber welchen Weg sollten seine Gedanken einschlagen? Er
wusste es nicht. Das Beste war, überhaupt nicht zu denken,
sondern seinen Kopf freizumachen von allem anderen als dem
Whisky und dem Tabak, der ihm auf der Zunge brannte.
Irgendwann fing er wieder an, Bruchstücke von Liedern aus
dem Gesangbuch und dem Liederbuch der Volkshochschule zu
singen. Plötzlich fielen ihm die Worte zu Griegs »Von Feinden
umgeben« ein. Er wusste nicht, woher sie kamen, doch dann
entsann er sich, dass er einmal an anderes als an Geld geglaubt
hatte. Er vermisste seine Jugend. Er wollte so gern noch eine
Chance haben. Er wollte nicht wahrhaben, dass jeder im Leben
nur eine Chance hat. Wünschte sich, von vorn anfangen und
alles anders machen zu können. Es war ungerecht, dass der
Mensch nur eine Chance bekam.
Er fing wieder an zu weinen und holte das Tablettenröhrchen
aus der Außentasche des Rucksacks. Er stellte es neben seine
Füße und trank wieder. Er nahm das Röhrchen, hielt es in der
Hand, drehte es, drückte es an die Lippen und küsste es. Dann
trank er wieder aus der Flasche, und plötzlich musste er daran
150
denken, dass er nie zum Angeln gekommen war. Er musste bis
zum nächsten Tag am Leben bleiben, bis es hell wurde und er
im Fluss angeln konnte.
Über die Hälfte der Flasche war leer, als er Grethe und die
Kinder deutlich vor sich sah. Sie standen am Rand des
Lagerfeuers, genau dort, wo das Licht der Flammen in
Dunkelheit überging. Er konnte nicht ihre Körper sehen, nur ihre
Gesichter. Endlich sah er deutlich ihre Gesichter. Zuerst glaubte
er, dass sie über ihn lachten, fühlte sich aber erleichtert, als er
sah, dass sie ihm zulächelten. Sie schüttelten leicht den Kopf
über ihn, aber aus Liebe, nicht aus Verachtung.
Er nahm das Tablettenröhrchen und öffnete es. Er trank wieder
aus der Flasche und fing dann an, die Tabletten in die Flammen
zu werfen. Sie zischten und knisterten, wenn sie sich mit der
weißen und roten Asche mischten. Er warf immer nur eine
Tablette. Jede schälte ein Jahr von seinem Leben, jede löschte
aus seiner Seele ein Unbehagen und eine Schuld. Seine Familie
stand am Rand des Lagerfeuers und lächelte ihm zu, und aus der
Tiefe des Waldes kam der Laut von Tieren, die sich durch die
Nacht bewegten. Er glaubte eine Eule schreien zu hören, aber er
war es selbst, der in die Nacht hinaus schrie, bis das
Glasröhrchen und seine Seele leer waren.
Kai Baggersen war völlig ermattet und betrunken, aber der
Rausch verhalf ihm zu Klarheit. Er verspürte eine große
Erleichterung und gleichzeitig Ohnmacht. Voll angezogen kroch
er in den Schlafsack, zog nur die Stiefel aus, lag auf dem Bauch
und sah in das ersterbende Feuer. Er sah sein eigenes Gesicht in
der rotweißen Glut liegen. Es war hautlos. Gras bedeckte
stattdessen die Knochen. Dann verschwand es. Er wunderte sich,
dass er keine Angst mehr verspürte. Morgen würde er angeln
und den Rest seiner Lebensmittel aufessen, vielleicht noch eine
Nacht im Wald schlafen, bevor er sich auf den Weg zurück zu
seinem Auto machte. Es war nicht zu spät, von vorn anzufangen,
an einem ganz neuen Ort, auf eine ganz neue Weise. Die Welt
151
war noch jung, dachte er und schlief ein, ohne den Biss der
Nymphenzecke zu spüren, die Blut zu saugen begann und dabei
eine merkwürdige Infektion übertrug, die in jenem Sommer
schon mehrere schwedische Orientierungsläufer das Leben
gekostet hatte.
Kai Baggersen merkte nichts. Er schlief seinen Whiskyschlaf,
und ihm träumte, dass er mit Grethe in einem Haus in einem
schwedischen Wald wohnte und in einem Fluss angelte, zu dem
allabendlich die Elche kamen, um zu trinken.
152
Auf beiden Augen blind
Kim Småge
Es ist eine dunkle, stürmische Nacht. Die Polizeibeamtin Anne-
kin Halvorsen lehnt sich in ihrem Sitz zurück und starrt
missmutig in die schwarze Nacht hinaus.
»Es könnte noch schlimmer sein«, brummt ihr Kollege Vang,
der darauf bestanden hatte, zu fahren, »es hätte noch regnen
können.« Always look on the bright side of life. Sie schiebt sich
einen Doc in den Mund, bietet ihm auch einen an.
»Du, Halvorsen, wenn ich bis zum Schichtende dein Rülpsen
anhören muss, dann spendier mir doch lieber Ohropax.«
Anne-kin lächelt vor sich hin, der Vang hat schlechte Laune,
zu wenig Action während dieser Nachtschicht. Höchstens ein
bisschen Geschubse in den Taxischlangen; Leute, die bei diesem
Wetter schnell nach Hause wollen, können Vordrängler in der
Reihe nur schlecht vertragen. Ein paar
Meinungsverschiedenheiten mit zerbrochenem Glas in einem
Straßencafé. Sonst nichts. Die Leute bleiben in ihren vier
Wänden.
Sie fahren den Høyskolebakken hinunter, die breite Baumallee
schwankt im Scheinwerferlicht, die Straßenlaternen tanzen und
zeichnen eine unruhige, wogende Schatten-Licht-Landschaft.
Vang gähnt. Elgeseter bru und Prinsens gate liegen schlafend da,
kein Lebenszeichen außer einem einsamen Taxi. Zu spät für
Nachtbummler und zu früh für die Zeitungs- und Brötchenboten.
Plötzlich schreckt sie eine Stimme auf, es ist die Polizeizentrale.
»Ein Anrufer hat um 04.17 Uhr gemeldet, dass er eine Person
gesehen hat, die ins Dock am Nedre Elvehavn gefallen ist oder
dort verschwand. Der Zeuge ist vor Ort.«
153
»Wir sind in zwei Minuten dort«, antwortet Polizeibeamtin
Halvorsen und hält sich fest, während Vang den Wagen nach
rechts in Richtung Østbyen reißt. Nein, in einer Minute,
korrigiert sie sich selbst. Da erwacht der Rally-Harry in dem
Mann neben ihr.
»Das Dock ist doch nur einen Meter tief«, hört sie ihn sagen,
»aber wenn Leute besoffen sind, dann reicht ja schon eine
Waschschüssel.«
»Wir werden einen nassen Retter und einen kotzenden
Besoffenen finden«, erwidert sie wütend. »Da bleibt doch keiner
untätig stehen, wenn jemand in einem Meter Wasser ertrinkt!«
Er wirft ihr nur schnell einen Seitenblick zu, weiß, wie
empfindlich sie ist, wenn es um Ertrinken geht.
Der neue Stadtteil östlich des Flusses, Nedre Elvehaven, mit
Wohnungen der Luxusklasse, Einkaufszentrum, unzähligen
Restaurants und Skulpturen, die sich im Wasser spiegeln, liegt
wie der Rest der Stadt schlafend da. Aber es weht stark vom
Fluss her. Das Hafenbecken und der Fjord kochen. Als sie um
eine Ecke biegen, spritzt ihnen eine Wasserfontäne auf die
Windschutzscheibe. Vang flucht. Hält den Wagen an, springt
raus.
»Halt die Wagentür fest!«, ruft Anne-kin gegen den Wind, als
ihre Tür aufgerissen wird und mit einem knirschenden Geräusch
über den Anschlagpunkt schlägt. Vang rennt bereits zum Dock.
Anne-kin bleibt eine Sekunde lang stehen, orientiert sich, späht
in die Richtung, in der ihr Kollege Vang davongebraust ist. Sie
sieht keinen triefnassen Retter, es liegt kein durchnässtes,
hustendes Bündel auf dem Asphalt. Das feuchte Trockendock
liegt leer wie immer da, Plantschbecken im Sommer und
Schlittschuhbahn im Winter. Kein Mensch ist zu sehen. Weder
liegend noch stehend. Nur ein ratloser Kollege Vang, der sich
gegen die Windböen stemmt. Da hört sie einen abgerissenen Ruf
154
durch das Brausen der Sturmwogen, sie dreht sich um und späht
in die Richtung.
O verflucht, denkt sie, als sie begreift. Das haben wir
vergessen. Denn an Dock Nummer zwei, dem offenen Dock, das
mit Ebbe und Flut lebt, das nicht abgeschlossen ist, da kann sie
eine Gestalt erkennen. Die Gestalt steht im Windschutz eines
Autos, eines Van, ganz nah am Rand steht der Wagen geparkt.
Und die Gestalt winkt mit den Armen.
Das Wasser schlägt über die Kaimauer und versucht ihr die
Füße wegzureißen, als sie zu ihm läuft. Jetzt nicht ausrutschen
nur nicht ausrutschen. Sie rutscht nicht aus. Die Erleichterung,
als sie entdeckt, dass da vorn zwei stehen, ist groß, riesengroß.
Dann hat er den Typen doch rausziehen können, denkt sie, oder
die Frau. Gut gemacht, verdammt gut gemacht, aus so einem
Mahlstromtopf wie dem Dock da. Sie stolpert fast kopfüber auf
die Leeseite des Vans und ist ungemein dankbar.
Aber die Männer sind nicht nass. Nicht ein einziger Tropfen
rinnt von ihren Gesichtern, von ihren Haaren oder ihren
Kleidern. Sie stehen vollkommen trocken da. Das schüttere Haar
des einen steht zu Berge, der andere hat eine Bürste.
»Da«, stottert der mit der Bürste, »da liegt er.« Und dann zeigt
er hinunter in das Schwimmdock der alten TMV, Trondhjems
Mekaniske Verksted. Oder Trockendock. Wie man nun will. Im
Augenblick ist das Dock nicht besonders trocken. Es kocht wie
eine Flussmündung beim schlimmsten Tauwetter im Frühling.
»Wir konnten nichts machen … wir können doch nicht … o
verflucht, niemand kann da reinspringen!« Der mit den wenigen
Haaren schreit ihr fast ins Ohr. »Wenn ich da reingesprungen
wäre, dann wäre ich null Komma nichts tot gewesen! Ich kann
schwimmen, aber das hier … was sollten wir denn verdammt
nochmal tun? Sind Sie von der Polizei? Er ist nämlich
reingeschubst worden!«
155
Die Polizeibeamtin Anne-kin Halvorsen starrt den Mann an,
dreht sich auf dem Absatz um, sieht, dass ihr Kollege Vang
Verstärkung bekommen hat, ein zweiter Wagen der
Nachtschicht ist von der Zentrale herbeigerufen worden. Sie
kommen gebeugt auf sie und den Van zu, der mit offenen Türen
dasteht.
Sie ruft die Zentrale an.
»Fordere Taucher an«, sagt sie. »Und wir brauchen Licht, viel
Licht. Es liegt wahrscheinlich einer hier auf dem Grund des
Docks. Wir nehmen sofort die Zeugenbefragung in Angriff. Ein
Zeuge behauptet, der Betreffende wäre ins Wasser geschubst
worden.«
»O Scheiße«, hört sie Vang sagen, »Haben Sie die Polizei
alarmiert?«
»Das haben wir beide, er war nur schneller als ich«, antwortet
der Ältere.
Es ist 04.23 Uhr.
Der Zeitpunkt für den Alarm ist für 04.17 Uhr festgestellt
worden. Vang hat die Fahrt in zwei Minuten geschafft, denkt die
Polizeibeamtin Halvorsen. Der Wagen der Østby-Patrouille, der
sich in der ruhigen Villengegend befand, hat es in fünf Minuten
geschafft. Die Entfernungen sind nicht weit in Trondheim. Wir
haben nichts gesehen, denkt sie, niemanden, der weg- oder
hinlief. Sie weiß genau, dass alle Kollegen genauso gedrillt sind
wie sie. Immer ein offenes Auge zu haben für laufende,
schlendernde, wandernde Personen, weg von einem eventuellen
Tatort. Sie gibt Kollege Vang mit einem Kopfnicken zu
verstehen, dass sie sich auf den Jüngeren konzentrieren will, er
muss sich um den anderen kümmern.
»Können wir uns nicht in den Van setzen, hier draußen weht
156
man ja weg.« Der Jüngere ist leicht bekleidet, seine Zähne
klappern. »Ist das Ihr Wagen?«, fragt sie. Beide schütteln den
Kopf.
»Keiner nähert sich dem Wagen«, sagt sie und erntet ein
breites Grinsen, gefolgt von den Worten: »Na, na, Fräulein
Polizei persönlich steht da wohl am Auto, was!« Falls sie von
der Zurechtweisung rot wird, weht der Wind ihr alle Farbe aus
dem Gesicht.
»Ich meinte hinein, keiner steigt in den Wagen«, entgegnet sie
gereizt, sie hat noch nie gut Zurechtweisungen vertragen
können.
»Ich arbeite hier.« Der Jüngere zeigt zu den Restaurants und
Kaufhäusern. »Wir können da reingehen.«
Anne-kin schüttelt den Kopf. »Die Dienstfahrzeuge«, sagt sie,
sieht ein, dass es keinen Sinn hat, draußen in den Windböen die
Befragung durchzuführen. Weder mit Diktiergerät noch mit
Papier und Stift. Vang und sie müssen sich aufteilen. Jeder
macht seine Befragung in einem Wagen.
Markus Berg, achtundzwanzig Jahre alt, Geschäftsleiter des
Restaurants »Nautilus«, Spezialität: Meeresdelikatessen. Es war
verflucht nochmal so viel zu tun, er erwartet am kommenden
Tag, nein, am heutigen, ungewöhnlich viel Betrieb, und deshalb
hat er die Nacht dazu genommen. Hat um halb vier angefangen.
War wegen des Sturms fast nicht ins Haus gekommen.
Wohlbehalten drinnen hatten ihn der Lärm und ein Klappern
dazu gebracht, sich wieder nach draußen zu kämpfen, um zu
überprüfen, ob dort auch keine losen Gegenstände herumflogen,
die die Fensterscheiben zertrümmern könnten. Blumenkübel
beispielsweise. Und da entdeckte er den schwarzen Van, der
direkt am Beckenrand stand. Mit dem Heck zum Wasser. Und
die Heckklappe stand offen. Sperrangelweit offen. Weiter
kommt Markus Berg nicht mit seinen Schilderungen. Er starrt
nach draußen, während sein Handrücken unentwegt über die
157
beschlagene Fensterscheibe wischt. Anne-kin Halvorsen folgt
seinem Blick, sieht den Wagen von der angeforderten
Taucherfirma auf den Platz fahren, sieht ihn scharf bremsen, und
hinten springen zwei Gestalten heraus, die aussehen wie Aliens,
Geschöpfe aus einer anderen Realität. Die Polizeibeamtin
Halvorsen springt heraus, Markus Berg folgt ihr auf dem Fuß.
»Da, da!«, ruft er – zeigt. »Da ist er verschwunden! Genau da!«
Er wedelt mit den Armen. Aus dem Augenwinkel sieht Anne-
kin, dass ihr Kollege Vang seinen Zeugen in dem anderen
Polizeiwagen zurückgehalten hat. Ich bin einfach zu impulsiv,
denkt sie, beruhige dich, bring Markus Berg wieder zurück ins
Auto, ich will ihn zurück haben. Markus Berg hört nicht auf
ihren Befehl, er weigert sich. Das will er sehen. Anne-kin wird
böse, sie faucht, dass sie hier einen Job zu erledigen hat und die
Taucher genauso, weder sie noch Markus Berg kommen weiter,
wenn sie hier stehen und nach Luftblasen ausspähen. Wenn
denn Luftblasen überhaupt in diesem Hexenkessel, in den sie
hineinstarren, überleben könnten. Während sie Markus Berg
wieder zurück ins Auto bugsiert, registriert sie, dass die
Scheinwerfer aufgestellt worden sind, die Seile befestigt, dass
grelle Lichtquellen zusammen mit den Tauchern unter Wasser
verschwinden.
»Weiter«, sagt sie, ihm zugewandt, »was ist noch passiert?
Was haben Sie gesehen?«
»Ich habe ihn gesehen, ganz hinten an der Heckklappe, habe
gesehen, wie er sich gewehrt hat, mit dem ganzen Körper, das
Gesicht nach außen gedreht, dass er … ja, verflucht, er ist
rausgetreten worden!« Sein Atem geht schnell.
»Haben Sie jemanden gesehen?«, fragt Anne-kin, ihr Atem
geht fast genauso schnell.
»Nein, nur ein Bein, das ihm einen Stoß versetzt hat. Und dann
ist er geradewegs ins Dock gefallen.« Markus Berg sieht sie
nicht an, er dreht den Kopf und versucht mitzubekommen, was
da am Kairand vor sich geht.
158
»Haben Sie jemanden weglaufen sehen, jemanden, der sich
vom Van entfernt hat?«
Er schüttelt den Kopf. »Die eine Autoseite war für mich
verdeckt, da war keine Chance zu sehen, ob jemand zwischen
den Gebäuden verschwunden ist.« Anne-kin nickt.
»Und dann habe ich die Polizei angerufen, bin hingerannt und
habe den anderen gesehen, den anderen Zeugen, wie der aus
dem Treppenhaus direkt gegenüber kam. Habe gesehen, wie er
mit seinem Handy herumgefummelt hat, um anzurufen. ›Dann
sind wir zwei!‹, habe ich ihm zugerufen. ›Ja, mein Gott, haben
Sie das auch gesehen?‹, rief er zurück. Und dann seid ihr
gekommen«, schließt Markus Berg ab.
»Sie haben es also aus verschiedenen Winkeln beobachtet? Er
hat es von hinten gesehen, Sie von der Seite?« Markus Berg
nickt. Und er hat nichts dagegen, sich gleich auf dem Revier zu
melden, hektischer Tag hin oder her, wenn er jetzt nur endlich
raus darf und gucken. Polizeibeamtin Halvorsen entlässt ihn.
Der Wind hat sich ein wenig gelegt, sie sieht, dass auch ihr
Kollege Vang fertig ist; er geht auf seinen Wagen zu, will sich
hineinsetzen. Ein Krankenwagen ist angekommen, ein paar
Schattenmenschen kann man bei ihrer Arbeit in und vor dem
Wagen erkennen. Anne-kin Halvorsen lässt ihren Blick über die
Hausfassaden schweifen – noch ist es Nacht im Nedre Elvehavn
in Trondheim. Plötzlich wird ihr Blick von etwas auf einem
Balkon eingefangen. Es ist ein Gesicht, ein weißes, kleines
Gesicht. Der Balkon gehört zu dem gerade frisch renovierten
Studenten-Wohnheim. Die Gestalt, zu der das Gesicht gehört,
sieht aus, als wäre sie in eine Decke gehüllt. Anne-kin geht
näher heran. Sieht, dass es ein Mädchen ist, eine junge Frau. Mit
kreidebleichem Gesicht steht sie da und beobachtet die Schatten.
Geh lieber ins Bett, murmelt Anne-kin, das hier musst du nicht
sehen. Wenn die Taucher etwas finden … Da hebt sich eine
Hand, winkt Anne-kin vorsichtig zu. Danach verschwindet die
159
Gestalt, und kurz darauf summt der Türöffner. Der Flur, in den
Halvorsen eingelassen wird, hat viele Türen. Die beiden stellen
sich gegenseitig vor. »Die anderen schlafen«, flüstert die
Studentin, die Siri Sunde heißt. Aber du nicht, denkt Anne-kin.
Siri Sunde ist vollständig angezogen.
»Ich schlafe draußen«, sagt sie.
»Draußen?« Die Polizeibeamtin Halvorsen schaut sie fragend
an. »Bei dem Wetter?«
»Das ganze Jahr«, kommt die geflüsterte Antwort. »Das ist
mir zur Gewohnheit geworden.« Siri Sunde öffnet die
Balkontür, da liegt ein Schlafsack. Ein Ajungilak, der bis zu
minus zwanzig Grad hält, mindestens.
»Ich musste aufs Klo, deshalb … mein Gott, das war so
schrecklich, wie kann ein Mensch nur so verzweifelt werden!«
Sie schlägt die Hände vors Gesicht, ihr Körper zittert. »Und
ich konnte überhaupt nichts machen! Gar nichts!«
Anne-kin klopft ihr auf die Schulter, sieht, dass sie hier oben
in der ersten Reihe sitzen. »Fang von vorn an«, sagt sie nach
einer Weile, als das Zittern abebbt. Siri Sunde bestätigt die
Zeugenaussagen der beiden Männer, wer zuerst angelaufen kam,
was sie gemacht haben, dass die Polizei gekommen ist. Ja,
danke, das weiß ich, denkt Anne-kin und wirft der Studentin
einen prüfenden Blick zu. »Hast du dein Handy mit hier draußen
oder bist du reingegangen um anzurufen?«, fragt sie.
»Anrufen?« Siri Sunde schaut sie mit großen Augen an. »Aber
das war doch schon zu spät, niemand kann überleben, wenn …«
Anne-kin unterbricht sie, starrt der Frau wütend in die Augen.
»Das heißt, wenn ein Mensch in den Fjord geworfen wird, dann
kommst du gar nicht auf die Idee, Hilfe zu holen?«
»Geworfen?«, wiederholt Siri Sunde. »Er ist nicht geworfen
worden. Da war sonst niemand da. Er ist aus eigenen Stücken
reingesprungen, mit viel …« Sie bricht von allein ab, schnappt
160
nach Luft, starrt über die Schulter der Polizeibeamtin Halvorsen.
Anne-kin dreht sich blitzschnell um. Sieht einen Taucher an der
Wasseroberfläche, das Drahtseil, das eingeholt wird, Stück für
Stück kommt etwas Dunkles zum Vorschein, etwas durchbricht
die Wasseroberfläche. Jemand durchbricht die
Wasseroberfläche. Ein lebloser Menschenkörper. Jäh erstarrt sie.
Denn an dem Körper befestigt, um die Füße, hängt glänzendes,
nasses Metall. »O Scheiße!«, ruft sie aus. »Eine Kette!«
Ein Feuerwehrwagen und noch ein Peterwagen kommen an. Der
Polizeiarzt. Das Gelände wird abgesperrt.
Wiederbelebungsversuche werden gemacht, Sauerstoff und
Herzkompression. Die Uhr zeigt 04.47, der Mann hat
mindestens eine halbe Stunde auf dem Dockboden gelegen.
Trotzdem, die Sanitäter haben schon häufiger Tote wieder zum
Leben erweckt. Sie arbeiten. Und hören erst auf, als ein kurzes
Kopfschütteln des Polizeiarztes sie stoppt. Ab einem gewissen
Zeitpunkt wird es nur noch zu einer Malträtierung einer Leiche
– die Kriminalbeamtin Halvorsen wird diesen Satz von ihm nie
vergessen. Der Standort des dunklen Vans wird skizziert, sie
nimmt zusammen mit Vang eine vorläufige Untersuchung vor.
Eine Windböe packt einen Overall, der hinten im Wagen hängt,
als sie mit Handschuhen und Schuhüberziehern in den Van
krabbelt, versetzt ihr eine klatschende Ohrfeige. Der Overall
riecht nach Pferd. Pferd? Im Handschuhfach finden sie
Führerschein und Wagenpapiere. »Gudmund O. Hagen,
fünfundfünfzig Jahre alt, wohnhaft in Trondheim.« Das
Autokennzeichen stimmt. Zwei Handys, eins abgeschaltet, das
andere mit Tastensperre. Die Bahre mit dem Toten wird in den
Krankenwagen geschoben. Die Kette klirrt kalt, als Gudmund O.
Hagen weggebracht wird, mit dem Polizeiarzt im Gefolge.
Eine Abschleppfirma transportiert den Van in die unterirdische
Garage der Polizeizentrale.
Zurück bleiben der Taucherwagen, erschöpfte Taucher, drei
161
Polizeistreifen und ein Feuerwehrwagen. Die Taucher schreiben
ihren Rapport, unterschreiben und geben Vang eine Kopie. Fast
wäre das Blatt ins Meer geweht, der Wind ist immer noch
aufgebracht. Zwei Securitas-Wachleute kommen zu ihnen
angewatschelt, fragen, was zum Teufel denn passiert sei. Anne-
kin antwortet mit einer Gegenfrage, erkundigt sich nach ihrer
Route, der Uhrzeit, welche Firmen, wann und wo sie stempeln.
Das wird keine große Hilfe sein, sie waren zum betreffenden
Zeitpunkt in Midtbyen. Die Polizeizentrale hat die Taxizentrale
schon lange informiert, es ist an alle Fahrer die Aufforderung
ergangen, sich zu melden, falls sie Personen oder Autos in der
Nähe des Nedre Elvehavn zum genannten Zeitpunkt gesehen
haben. Das Ergebnis ist mager. Es ist eine ungewöhnlich ruhige,
aber stürmische Nacht gewesen. Bevor die ersten Bewohner des
Viertels sich den Schlaf aus den Augen reiben und den
Morgenkaffee in die falsche Kehle bekommen, sind Vang und
Halvorsen zurück in der Zentrale. Die Zeugenaussagen werden
ins Reine geschrieben und noch einmal durchgegangen. Die
Termine für die Befragungen werden festgesetzt. Der Leiter
Sundt sieht wie immer gesund und morgenmunter aus. Ganz
gleich, wie spät es ist, dieser Mann sieht immer frisch gebügelt
aus, denkt Anne-kin wütend. Sie sollte sich auch »eine Ehefrau«
anschaffen, ein bisschen mehr Ordnung in ihr Leben bringen.
Aber im Augenblick möchte sie nur ihre Schicht verlängern,
weiter dabei sein, anwesend sein, wenn die Zeugen kommen.
Der Leiter Sundt kann sie wie ein offenes Buch lesen. Du,
Halvorsen, sagt sein Gesichtsausdruck, du bist auch nicht
unersetzlich, wir haben noch andere Ermittler als dich in unserer
Dienststelle. Geh nach Hause, duschen und schlafen! Anne-kin
knirscht mit den Zähnen, der Gedanke an Schlaf erscheint ihr im
Augenblick absurd. Sie entscheidet sich lieber dafür, einen
leichteren Anfall von Gesichtsausdrucks-Dyslexie zu
bekommen, trinkt eine Tasse Kaffee mit dem Kollegen Vang,
muss aber bald einsehen, dass sie sich selbst nur einen
162
Bärendienst erweist, wenn sie in der Zentrale herumrennt. Es ist
noch Stunden hin, bis der Geistliche bei Frau Gudmund O.
Hagen an der Tür klingeln wird, Stunden bis zu einer sicheren
Identifizierung, Stunden bis zu den Zeugenvernehmungen. Ihr
Chef Sundt grinst, als er seine Polizeibeamtin mit einer
schaukelnden Schultertasche die Kongens gate auf dem Weg
nach Hause überqueren sieht.
Der Verstorbene ist Gudmund O. Hagen. Fünfundfünfzig
Jahre alt. Seit dreißig Jahren mit der gleichen Frau verheiratet,
Sonja, geborene Arntsen, zwei erwachsene Kinder, sie wohnen
außerhalb und sind benachrichtigt. Hagen ist nicht vorbestraft,
nur ein paar Falschparkbußen sind registriert. Geschäftsmann,
Bauunternehmer. Wohnsitz: Nedre Elvehaven. Firmenadresse:
Fossegrenda.
Die Todesursache laut vorläufiger Obduktion: Ertrinken, Fund
großer Wassermengen in der Lunge. Keine offensichtlichen
äußeren Schäden bisher. Spuren schmerzstillender Mittel im
Blut. Die Polizeibeamtin Halvorsen verfolgt konzentriert die
Zusammenfassung. Die Ehefrau ist benachrichtigt, sie hat den
Toten identifiziert, ist zusammengebrochen, ihr wurde
psychische Hilfe in Form eines Pfarrers angeboten, was sie
angenommen hat. Frau Sonja Hagen ist praktizierende Christin.
Sundt leiert die Informationen herunter.
Und was ist mit seiner Firma?, denkt Anne-kin ungeduldig,
was ist mit … »Wir haben sichere Informationen dahingehend,
dass Gudmund O. Hagen pekuniäre Probleme hatte«, fährt der
Hohepriester da vorn fort. Anne-kin muss ein Kichern
unterdrücken. Pekuniäre Probleme! Warum kann Sundt es nicht
beim Namen nennen, nicht sagen, dass der Kerl pleite war,
Konkurs, jede Menge Schulden, das Geld beim Pferderennen
oder beim Spiel an der Börse verschleudert – und total bankrott!
»Und nicht genug damit«, fährt der Prälat fort, »außerdem hat er
einen Kredit aufgenommen, leider an den Banken und
Versicherungsgesellschaften vorbei. Wie hoch der war, wissen
163
wir nicht, aber der Anrufbeantworter auf einem der Handys, die
wir im Auto gefunden haben, enthält eine nur schwach
kaschierte Drohung. Merkwürdigerweise nicht gelöscht.«
Sundt drückt Tasten, verbindet intern, dreht die Lautstärke
hoch, und nach ein paar Klicks und Pieps ist eine leise, aber
deutliche Stimme zu hören. Und die Botschaft der Stimme ist
nicht misszuverstehen. Anne-kin spürt, wie sich eine kalte Wut
in ihrem Körper ausbreitet, sie ballt die Fäuste, trotzdem zittert
sie vor unterdrückter Wut. Du glaubst ja nicht, wie schön sich
das Geräusch von Knie-Scheiben anhört, die zerschmettert
werden, mein Kleiner. Das waren seine letzten Worte, die
letzten Worte der Stimme, des verfluchten Geldeintreibers, der
doch immer wieder davonkommt, den sie nie zu fassen kriegten,
Indizien, ja natürlich, aber nie klare Beweise, jemand, der jede
Menge Verbindungen mit wasserdichten Alibi-Kumpanen hatte.
Ein Teufel, der im Schattenreich operierte, der meinte,
Schmerzensschreie eines armen Kerls auf Drogenentzug
klängen schön!
»Die Stimme ist identifiziert«, sagt Sundt, »sie gehört Lauritz
Borg, wisst ihr, der uns immer wieder entwischt ist.« Sie fühlt,
wie sich eine Hand auf ihre legt. Es ist ihr Kollege Vang. Er
drückt fest zu. »Beruhige dich«, flüstert er und hindert sie so
aufzuspringen. Anne-kin schluckt, der jetzt verkrüppelte Junge
ist zusammen mit Kristian, ihrem Bruder, aufgewachsen. Das
Einzige, was sie über die Täter aus ihm herausgekriegt haben,
war, dass sie doch alle zur Hölle fahren sollten.
Dann spitzt sie erneut die Ohren, ihr Chef Sundt ist noch nicht
fertig. Die weibliche Zeugin, die Studentin Siri Sunde, die bei
dem unmittelbar folgenden Verhör meinte, sie hätte gesehen,
dass der Tote aus freiem Willen gesprungen sei, dass sich keine
anderen Personen in seiner Nähe befunden hätten, kein ihn
tretender Fuß aus dem Wagen, sie ist von ihrer Aussage
abgewichen. Sie nahm an, dass sie wohl zu müde gewesen ist,
vielleicht habe der Sturm, der in den Bäumen getobt und die
164
Straßenlaternen haben schaukeln lassen, ihr einen Streich
gespielt. Die Augen der Polizeibeamtin Halvorsen verengen
sich.
»Außerdem«, fährt Sundt fort, »wenn zwei andere Personen,
die nicht gerade aus dem Schlaf erwacht sind, gesehen haben,
dass der Tote getreten worden ist, dann hat sie wohl
höchstwahrscheinlich falsch gesehen. Ihre eigenen Worte.« Da
haben wir’s, denkt Anne-kin. Wir hätten sie mit ins Revier
nehmen sollen, dann hätte sie keinen Kontakt mit den anderen
gehabt, und die hätten sie nicht überzeugen können, dass sie das,
was sie gesehen hat, ja so gar nicht gesehen habe. Denn wer
hatte in der ersten Reihe gesessen, Siri Sunde oder wer? Pass
auf, Anne-kin, ermahnt sie sich selbst, geh nicht zu selbstsicher
in die Kurven.
»Es gibt keine frisch abgeschlossenen Lebens-, Unfall- oder
Invaliditätsversicherungen«, fährt Sundt fort. »Alle polizeilichen
Aktennotizen über Gudmund O. Hagen liegen bereits Jahre
zurück.«
Na gut, denkt die Beamtin Halvorsen, dann war es also kein
Liebesdienst an Frau und Kindern – erhöhte
Versicherungspolice und dann mit den Schulden an den Hacken
untergehen.
Es stinkt nach Lauritz Borg. Anne-kin fühlt etwas, das man als
rohen, primitiven Jagdinstinkt bezeichnen muss. Endlich kriegen
sie diesen Teufel zu fassen, haben ihn am Haken und können ihn
an Land ziehen.
»Das Auto wird noch näher untersucht«, fährt Sundt fort, »die
Fingerabdrücke sind bereits gesichert. Wir schicken zwei
Kaugummiklumpen noch ins Labor, einer wurde unter dem
Fahrersitz gefunden, einer unter der Lenksäule, und außerdem
zwei Zigarettenkippen aus einem ansonsten vollkommen
sauberen Aschenbecher. Der Overall, der ganz hinten hing, ist
auch interessant.«
165
Aber Halvorsen vergisst Overall und Vangs festen Griff um
ihre Hand, sie würde Sundt am liebsten küssen, nein, die ganze
Welt küssen, denn »das zweite Handy, das gefunden wurde,
gehört Lauritz Borg« hört sie ihren Chef sagen.
»Verflucht, natürlich gehört es mir! Wo zum Teufel habt ihr das
denn gefunden?« Der Mann vor ihr sieht ziemlich wütend und
empört aus.
»In Gudmund O. Hagens Wagen«, antwortet die
Polizeibeamtin Halvorsen freundlich. »Zwischen dem
Reservereifen und einem Werkzeugkasten. Da lag es.
Ausgestellt. Jedenfalls dort.«
Lauritz Borg guckt sie argwöhnisch an. »Nun mal langsam,
meine Kleine«, sagt er ganz sanft.
Die Beamtin Halvorsen nickt, »nun mal langsam, mein
Kleiner«, wiederholt sie. Kollege Vang sitzt dabei und macht
Notizen, er schaut nicht auf. Aber deine Körpersprache, denkt
Anne-kin, signalisiert ganz deutlich deinen Wunsch, ihn zu
vermöbeln, dass ihm die Luft ausgeht. Und das Gleiche
empfinde ich.
»Und Ihre Fingerabdrücke befanden sich auf dem Türgriff, auf
dem Lenkrad, auf dem Sitz, auf dem Radio, auf der Kassette –
was haben Sie dazu zu sagen?«
Lauritz Borg, fünfundvierzig Jahre alt, sieht nicht aus wie ein
Bodybuilder, er ist lang und dünn, fast mager. Statt der
hervorquellenden Kugelmuskeln hat er diese langen, zähen, lang
gestreckten Kulimuskeln. Jetzt ziehen sie sich so fest zusammen
dass sie wie gespannte Metallkabel auf der Haut liegen.
»Vergiss es, Herzchen«, schnurrt er. »Gudmund hat mir seinen
Van geliehen, ich habe Zeugen dafür. Er wollte einen Gaul für
sein Gestüt abholen. Der Wagen war zu klein oder der Gaul zu
groß, jedenfalls kriegte er einen größeren Wagen, und ich habe
ihm diesen zurückgefahren. War nur ein Freundschaftsdienst.«
166
»Sie kannten ihn gut?«, fragt Anne-kin.
»Was man so kennen nennt, eine Hand wäscht die andere, wie
man so sagt.« Er lacht über seine eigene Formulierung.
»Dann haben Sie Gudmund O. Hagen keine Kette um die
Beine gewickelt, weil er nicht ›liquide‹ war, und ihn dann ins
Dock gestoßen?«
Kollege Vang springt auf seinem Stuhl hoch, verflucht Anne-
kin, die alle Regeln bricht, sich wie so ein blöder Privatdetektiv
aufführt. Zwei schmale Augen wenden sich Vang und Halvorsen
zu:
»Ich glaube, mein Herzchen, dass ich jetzt lieber meinen
Anwalt dabei haben möchte, bevor die Mutter Theresa noch auf
weitere Ideen kommt. Ich habe ein hieb- und stichfestes Alibi.
Das riecht hier nach Verschwörung.«
»Ihr Anwalt kann Sie in der Zelle besuchen. Unten im Keller.«
Sie hält ihm ein Blatt Papier vor die Nase. »Vierzehn Tage
Untersuchungshaft«, und springt schnell zurück, als der Schlag
kommt. Ins Verhörzimmer kommen zwei solide Beamte, und
mit einem deftigen Fluch wird der Geldeintreiber Lauritz Borg,
der Kniescheibenzertrümmerer, in die Zelle gebracht.
Das Labor bestätigt die vorläufige Analyse des zugesandten
Materials, zwei Zigarettenkippen und ein benutztes Kaugummi
stimmen positiv überein mit Lauritz Borgs DNA.
Fingerabdrücke und Handymitteilung sind durch eigene Leute
aus Trondheims Polizeidistrikt bereits positiv identifiziert
worden. Alles »gehört« dem Untersuchungshäftling. Die »hieb-
und stichfesten« Alibis stellen sich als eine mehr oder weniger
feste Geliebte heraus. Die behauptet, er hätte in der betreffenden
Nacht neben ihr geschlafen. Ob sie denn auch geschlafen habe?
Ja, natürlich. Kriminalbeamtin Anne-kin Halvorsen hört die
Botschaft. Sie holt tief Luft. Atmet wieder aus. Weiß, dass sie
Siri Sundes korrigierte Zeugenerklärung nicht gründlich genug
167
durchgegangen sind. Die beiden anderen Zeugen weichen
keinen Deut von ihren Erklärungen ab.
Anne-kin Halvorsen hat ein unangenehmes Gefühl in der
Magengegend. Sie hört nicht auf ihren Bauch, hört lieber auf
eine immer wiederkehrende Stimme, die sagt: Du glaubst ja
nicht, wie schön sich das Geräusch von Kniescheiben anhört, die
zerschmettert werden, mein Kleiner.
Anne-kin und ihr Kollege Vang trinken zusammen ein Bier.
Lauritz Borgs Verteidiger hat in allen Punkten verloren. »Ein
Drecksack weniger an der frischen Luft«, grunzt Vang und
trinkt aus.
»Die nächste Runde geht auf mich«, sagt Anne-kin und geht
zum Tresen, will sich an einer Gruppe fröhlicher Jugendlicher
vorbeizwängen. Sie schnappt Bruchstücke ihres Gesprächs auf,
es sind Studenten, sie haben irgendein Teilexamen bestanden.
Sie entdecken sich gleichzeitig, Siri Sunde und sie. Anne-kin
nickt, geht zu ihr, ihr Nicken wird erwidert. Eine Zunge huscht
über trockene Lippen, zwei Augen bohren sich in Anne-kins.
»Er ist nicht gestoßen worden, er ist ganz allein gesprungen.«
Die Stimme ist leise, aber deutlich. Zwei Frauen stehen einfach
da und starren sich an. Lange.
»Ich verstehe das Geschwafel Betrunkener nicht, wenn du
etwas mitzuteilen hast, dann komm doch morgen aufs Revier.
Okay?« Anne-kin spuckt die Worte aus. Die andere schaut sie
an, eine stumme Ewigkeit lang klebt ihr Blick an Anne-kins
Lippen. Und mit einem fast unmerklichen Kopfschütteln dreht
sie der Polizeibeamtin den Rücken zu. Und geht.
»War das nicht die Zeugin, mit der du da geredet hast?« Das
ist Kollege Vang. »Die sah aber ziemlich ernst aus, gab’s was
Besonderes?«
»Die Lady hatte zu starke Schlagseite, als dass ich hätte
verstehen können, wovon sie redet«, murmelt Anne-kin.
168
»Schlagseite? Ich finde, sie sah überhaupt nicht angetrunken
aus«, widerspricht er und sucht mit den Augen nach dem
gefüllten Bierglas. Findet es nicht. Brummt etwas über
vergessliche Frauenzimmer. Geht es holen.
Schlagseite? Ich bin diejenige, die Schlagseite hat.
Sie sieht ein Overallbein vor sich, das im Wind hin und her
weht. Ein leeres Bein, das aus der offenen Heckklappe des Vans
herausflattert, als Hagen mit seinen Schulden ins Wasser
springt. Ein genau inszenierter Abgang, sorgfältig geplant, er
wollte dabei nicht allein sein, ein anderer sollte mit ihm
zusammen untergehen. Vergib mir, Sundt, denkt die Polizistin
Halvorsen, kneift aber die Augen fest zusammen. Ich will nicht
sehen. Will einfach nicht.
In einer Arztpraxis räumt ein Arzt, der bald pensioniert wird,
Patientenakten und anderes zum Makulieren weg. Er nimmt sich
die oberste Mappe, die Mappe des verstorbenen Gudmund O.
Hagen. Sie ist nicht besonders dick. Er bleibt mit ihr in der Hand
sitzen, braucht sie nicht zu lesen, er kennt den Inhalt.
»Eine Blinddarmentzündung im Herbst 1969, operiert und
auskuriert im Frühling 1970, Knöchel verstaucht im Winter
1975, Influenza in dem schlimmen Grippewinter 1982,
Antibiotika verschrieben, zwei Wochen widerstrebend krank
gemeldet, entzündeter Finger, der 1991 aufgeschnitten und
behandelt werden musste.«
Das war alles. So weit. Bagatellen. Alles Dinge, mit denen ein
erwachsener Mann im Laufe seines Lebens rechnen muss. Die
Gesundheit in Person. Wenn da nicht das Letzte wäre …
Du bist ertrunken, Gudmund, denkt der Arzt. Du bist
ertrunken, bevor deine drei, höchstens vier Monate verstrichen
waren. Du bist dreimal mit Chemotherapie behandelt worden,
die letzte Kur hattest du gerade hinter dir. Deine lymphatische
Leukämie war von der bösartigen Variante. Er streicht sich
169
übers Haar, zieht den Bericht der Gerichtsmediziner hervor.
Liest. Nickt. Klar, dass sie nichts gefunden haben, die
Chemotherapie hat dafür gesorgt, dass du symptomfrei warst.
Erst mal. Die Krankheit hätte nach zwei, drei Monaten wieder
zugeschlagen. Und das wäre dann das Ende gewesen. Eine neue
Therapie hätte nichts genützt. Und du warst zu alt für eine
Knochenmarkstransplantation. Das war der Bescheid, den wir
geben mussten. Und dann hast du mir den Finger auf die Brust
gelegt und mich drum gebeten, meine Schweigepflicht als Arzt
nicht zu vergessen. Er bleibt sitzen, schaut aus dem Fenster,
umklammert die Mappe. Nein, denkt er, die Polizei braucht das
hier nicht. Sie haben deinen Mörder gefunden. Aber Sonja soll
es wissen, vielleicht kann das ihre Trauer etwas lindern. Ich
werde die Schweigepflicht brechen, die ich dir gegeben habe,
Gudmund. Ihr zuliebe.
Das zerrissene Papier knirscht, als der Aktenvernichter seine
Zähne in Gudmund O. Hagens Mappe schlägt.
170
Auge um Auge
Björn Hellberg
Der Tag war da, und schon als ich das Schlafzimmerfenster zum
Lüften öffnete, war mir klar, dass er einfach strahlend werden
würde. Die Sonne brannte vom Himmel, kein Wölkchen war zu
sehen. Die Sicht war gut, und ich gönnte mir eine Minute extra
an dem weit geöffneten Fenster.
Fast wollüstig sog ich die Luft ein, wurde erfüllt von reiner
Lebenslust.
Ich zog das herzhafte Frühstück in die Länge, bestehend aus
Grapefruit, Ei, Schinken und weißen Bohnen, zwei Scheiben
Knäckebrot mit Cheddarkäse, einem Glas Orangensaft, ein paar
Tassen Kaffee und der Lokalzeitung.
Nach der Dusche zog ich mich sommerlich leicht an:
beigefarbene Hose, ein weißes, kurzärmeliges Hemd, Strümpfe
und Sandalen. Damit war ich für die kurze Reise zum Sydstrand
gerüstet. Ich hatte den Platz übrigens bisher zu jedem Jahrestag
aufgesucht, warum sollte ich der Gewohnheit ausgerechnet in
diesem Jahr nicht nachgehen, wo doch Jubiläum war und alles?
Dreißig Jahre waren seitdem vergangen.
Dreißig!
Der Gedanke kann einen schwindlig machen, einen über die
Vergänglichkeit von allem nachdenken lassen.
Ich habe eigentlich das Gefühl, als ob es noch gar nicht so
lange her ist, vielleicht, weil ich es ständig mit mir trage. Es
lässt mir keine Ruhe, es zehrt und drängt sich auf, unaufhörlich.
Ich kann alles vor meinem inneren Auge sehen, die
schrecklichen Sekunden von neuem erleben, die Spur des
plötzlich auftretenden, schrecklichen Schocks.
171
Wie gesagt, das ist eine Tradition, die ich pflege. Ganz gleich,
welches Wetter, ich bin immer genau an diesem Tag ans Meer
gefahren, jahraus, jahrein. Regen und Wind haben mich nie
abgeschreckt, aber meistens war es sowieso gutes Wetter,
manchmal direkt herrlich.
Der Juli hat einen unverdient schlechten Ruf in unserem Land.
Ich weiß, wovon ich rede. Denn gestern Abend, als ich in
meinen Tagebüchern nachgeschaut habe, fand ich, dass es an
dem Jahrestag bei weit mehr als der Hälfte der Fälle warm und
sonnig gewesen ist. Und nur zweimal fand ich die Notiz: starker,
anhaltender Regen.
Nur schade, dass wir nicht offen die Möglichkeit hatten, zu
zeigen, was wir füreinander fühlten.
»Bald«, versprach sie, »halte noch ein bisschen durch, dann
machen wir reinen Tisch und gehen zu meinem Vater.«
Wir waren uns einig darin, uns gleich nachdem wir ihrem
Vater unsere Beziehung gebeichtet hatten, zu verloben, es gab
keinen Grund, ihre nächsten Angehörigen in dieser Beziehung
vor vollendete Tatsachen zu stellen.
Das wäre absolut nicht in Ordnung gewesen.
Mit offenen Karten spielen, das war immer schon meine
Devise gewesen. Dass ich von diesem Prinzip bei meinen
heimlichen Treffen mit Linda abwich, hatte seinen zwingenden
Grund und widersprach meiner innersten Überzeugung.
Höchstwahrscheinlich würden wir unsere Verlobungsringe
irgendwann im Sommer wechseln. So war es geplant.
Der April begann ebenso schön, wie der März zu Ende
gegangen war. Aber dann kam der erste Rückschlag: Linda
sollte mit ihren Eltern und ihrem kleinen Bruder nach Jerusalem
fahren. Die Reise war kurzfristig geplant worden, und Eilert
172
Tjernberg befahl seiner Frau und seinen beiden Kindern fast
mitzukommen, ohne sich darum zu kümmern, ob sie überhaupt
wollten oder nicht.
»Da habe ich gar keine Wahl«, sagte Linda, als wir
nebeneinander in meinem Bett lagen und nach einem dieser
fantastischen Zusammensein, auf die zu verzichten ich mir kaum
vorstellen konnte, nach Atem rangen.
Natürlich war ich enttäuscht bei dem Gedanken, Linda zwei
Wochen lang nicht sehen zu können. Die Sehnsucht würde nur
schwer zu ertragen sein, aber was sollte ich machen?
Sie hatte sich entschieden (oder besser gesagt: ihr tyrannische
Vater hatte für sie entschieden), und zu versuchen sie zu
überreden, doch zu Hause zu bleiben, wäre sinnlos und
vielleicht sogar dumm.
Wer war ich denn schon?
»Es handelt sich doch nur um vierzehn Tage«, betonte sie.
»Dann komme ich wieder zur dir zurück.«
Zurück kam sie.
Aber nicht zu mir.
Wenn wir uns sehen wollten, hatte immer sie den Kontakt
aufgenommen, um das Risiko zu vermeiden, dass jemand in
ihrer Familie Verdacht schöpfen könnte.
Die beiden Wochen schlichen unerträglich langsam dahin,
aber dann kam der lang ersehnte Tag, an dem Familie Tjernberg
von ihrer Israelreise zurückkehren sollte.
Ich rechnete damit (oder hoffte es zumindest), dass Linda mich
noch am gleichen Abend anrufen würde, aber dem war nicht so.
Vielleicht waren sie erst sehr spätabends angekommen, dachte
ich und betäubte meine Enttäuschung mit ein paar Starkbieren in
der nächsten Kneipe.
Obwohl ich mir sonst nicht viel aus Bier mache. Ich pflege
sowieso nur einen sehr sparsamen Umgang mit Alkohol, habe
173
nie die Leute verstehen können, die ohne jeden Gedanken an die
Qualen des folgenden Tages den Schnaps in sich hineinschütten.
Auch am nächsten Tag ließ sie nichts von sich hören, und am
Abend hielt ich die Ungewissheit nicht länger aus.
Ich tat das, was wir beschlossen hatten, was ich nicht tun
sollte: Ich rief sie an.
Ihre Mutter war am Apparat, und ich murmelte eine
Entschuldigung, dass ich mich verwählt hätte.
»Macht doch nichts«, sagte Frau Tjernberg. »Das ist mir auch
schon passiert.«
Sie hatte wie eine etwas ältere Version der Tochter geklungen,
was meine Sympathie ihr gegenüber weckte. Sicher hatte die
arme Frau ein armseliges Leben zusammen mit ihrem
dominierenden Ehegatten. Ihr Los war nicht gerade
beneidenswert.
Es gab keinen Grund für mich, ihr wegen der unversöhnlichen
Attitüden des Propstes böse zu sein. Aber sie musste selbst die
Konsequenzen tragen, wenn sie so ein Individuum heiratete.
Beim zweiten Versuch – ein paar Stunden später – hatte ich
das Glück, Lindas Stimme ans Ohr zu kriegen.
Das erfüllte mich zunächst mit der schönsten Musik, aber als
sie hörte, wer dran war, schien sie ziemlich erschrocken zu sein.
Mir war sofort klar, dass jemand in der Nähe war, der dem
Gespräch zuhörte – vielleicht ja der Propst selbst. Er schien die
vollkommene Kontrolle über alles in seinem Haus zu fordern.
Nach dem ersten Schreck besann Linda sich und tat, als
spräche sie mit einer Schulfreundin. Sie nannte mich Anna, und
ich spielte mit. Sprach leiser und versuchte außerdem die
Stimme heller klingen zu lassen, für den Fall, dass der Propst
direkt neben ihr stünde.
In verdeckten Phrasen gelang es uns Zeit und Ort eines
Treffens zu verabreden.
174
Es kam mir der Gedanke, dass sie ziemlich verschlagen sein
konnte, wenn es erforderlich war. Sie tat vollkommen
unbeschwert, als würde es sich tatsächlich um ein gänzlich
unverfängliches Gespräch handeln.
Pünktlich fand sie sich am verabredeten Ort ein, und ich
platzte fast vor Glück, als ich sie sah. Die zwei Wochen in Israel
hatten ihre Schönheit noch verstärkt. Ihr Gesicht und ihre
nackten Arme und Beine hatten eine attraktive Bronzetönung
bekommen. Ich wollte mit den Fingern in ihr langes, blondes
Haar fassen, ihre Brust betasten, ihre Augenlider mit den langen,
dichten Wimpern küssen.
Aber dann merkte ich schnell, dass etwas nicht stimmte. Zwar
ließ sie sich von mir umarmen, zwar erwiderte sie meinen Gruß.
Aber ihre Zurückhaltung erschien pflichtbewusst und ließ die
frühere Wärme vermissen.
Sie war ganz einfach reserviert. Ich dachte, das könnte an einer
gewissen Scheu liegen, da wir uns eine ganze Weile nicht
gesehen hatten, und war überzeugt, dass sie bald auftauen
würde.
Leider irrte ich mich da.
Linda hatte sich verändert. Und nach einer Weile bekam ich
wirklich die kalte Dusche: Linda weigerte sich, mit mir zu
schlafen.
Und das, ohne ihr Nein zu begründen.
Ich kannte sie nicht mehr wieder.
Wo war das warme, lebenslustige Mädchen, das ich liebte,
geblieben?
Und woher kam diese abweisende Haltung?
Ich fragte natürlich, was passiert sei, fragte geradewegs,
warum sie so anders sei als früher.
Aber sie gab mir für ihr eigentümliches Benehmen keine
Begründung.
175
»Ich kann noch nichts sagen«, erklärte sie. »Aber vertrau mir.
Gib mir ein bisschen Zeit, dann wirst du alles erfahren. Und
bitte, dräng mich nicht. Mach es mir nicht schwerer, als es
sowieso schon ist.«
Natürlich war ich unglaublich enttäuscht, hatte ich doch die
Minuten bis zu ihrer Rückkehr aus Israel gezählt.
Aber ich gehorchte, beunruhigte sie nicht weiter mit Fragen,
die mir auf der Zunge brannten.
Sie hatte sicher ihre Gründe, und wenn die Zeit reif war,
würde ich erfahren, was sie eigentlich bedrückte. Es ging nur
darum, Geduld zu bewahren, so schwer und mühsam das auch
war.
Als sie mich verließ, spürte ich große Furcht, aber ich war
immer noch naiv genug anzunehmen, dass sich alles zwischen
uns schon regeln würde. Und apropos Gutgläubigkeit: Es kam
mir nie in den Sinn, dass sie einen anderen getroffen haben
könnte.
Sie hatte mir ja ihre Liebe erklärt, wir wollten uns im Sommer
verloben.
Alles würde wieder gut, redete ich mir ein, wenn ich ihr nur
ein wenig Zeit ließe. Vielleicht hat sie Probleme mit ihrem
Vater. Ich muss nur Geduld haben, dann wird sich sicher alles
klären.
Dachte ich in meiner Einfalt.
Die Tage verstrichen ohne ein Lebenszeichen von ihr.
Dann kam der tödliche Schlag.
Eines Tages – es war Mitte Mai – sah ich die Anzeige in der
Lokalzeitung.
Sofort stieg der Schreck in mir auf, wie eine klebrige Übelkeit.
Meine erste Reaktion war, auf die Toilette zu eilen und mich zu
übergeben.
Immer und immer wieder las ich die unfassbaren Worte:
176
Ihre Verlobung geben bekannt:
Linda Tjernberg, stud. theol. und Jan-Eric Hessler, mag. phil.
Frejalund, 19. Mai 1973
Wie grausam kann ein Mensch sein?
Mir zuerst ewige Treue zu versprechen – und mich dann fallen
lassen, als wenn nichts gewesen wäre, und sich in die Arme
eines anderen werfen.
Die erste Bestürzung ging in regelrechte Raserei über.
Er – Jan-Eric Hessler, mag. phil. – war also gut genug vor den
Augen des Papas, des Herrn Propstes. Ein einfacher
Automechaniker war dagegen niemand, den man vorzeigen
konnte.
Und was hatte dann all ihr Gerede über Verlobung und ewige
Treue bedeutet? Ich hörte in mir ihre Stimme, immer und immer
wieder:
»Ich werde dich nie im Stich lassen. Auf mich kannst du dich
verlassen.«
Aber sie hatte mich im Stich gelassen. Auf die schändlichste
Art und Weise. Und dann hatte sie kein Wort gesagt, hatte mich
hinter meinem Rücken betrogen. Sie hatte nicht einmal Anstand
genug, sich zu trauen, es mir direkt ins Gesicht zu sagen.
Stattdessen zog sie es vor, sich zu entziehen und ihre
Verantwortung nicht wahrzunehmen.
Man musste kein Einstein sein, um zu begreifen, was
geschehen war: Linda hatte diesen Jan-Eric Hessler natürlich in
Jerusalem getroffen und schnell das Objekt ihrer Begierde
ausgetauscht, als sie begriff, dass es sich hier um jemanden
handelte, den sie mit gutem Gewissen der übrigen Familie
präsentieren konnte.
Sie waren bereits in Jerusalem zusammengekommen. So viel
177
war klar wie Kristall. Linda liebte es zu lieben, und sie war
niemand, der unnötig Zeit vergeudete. Sicher hatte sie
irgendwelche Ausreden gefunden, um der Überwachung ihres
Vaters zu entgehen und ihren Stier heimlich zu treffen, sicher
mit einem Eifer, der den übertraf, den sie im Zusammensein mit
mir gezeigt hatte.
Aber ich musste mir eingestehen, dass es schrecklich weh tat
sie mir in den Armen eines anderen Mannes vorzustellen. Und
es tat weh zu akzeptieren, dass ich zurückgewiesen worden war.
Das Gefühl der Unterlegenheit war unangenehm bis hin zur
Erniedrigung.
Doch vielleicht war es am besten, dass es so geschah – trotz
allem. Schnell verstand ich, dass ich niemals so einer falschen
Frau hätte glauben dürfen, fragte mich, wie es ihr so einfach
hatte gelingen können, meine Urteilskraft außer Kraft zu setzen.
Um meine Neugier zu befriedigen, holte ich einige
Informationen über meinen Nachfolger ein. Jan-Eric Hessler
erwies sich als ein großer, dunkelhaariger Mann mit ziemlich
alltäglichem Aussehen – ich hatte zumindest einen etwas
besseren Geschmack von Linda erwartet, aber schließlich war es
ja ihre Entscheidung.
Und Hessler hatte ja das, was mir fehlte: einen Titel, der dem
Herrn Vater Propst imponierte.
Ich bekam bald heraus, dass er in der Sommervilla seiner
Eltern am Sydstrand wohnte. Allein.
Das heißt: Er bekam natürlich den ein oder anderen
Abendbesuch …
Nach einer Weile war ich es leid, ihn zu beschatten. Ich
beschloss, sowohl ihm als auch Linda den Rücken zu kehren,
und hoffte, sie nicht wieder sehen zu müssen.
Aber unser Ort ist nicht groß, und eines Vormittags stießen
Linda und ich aufeinander – ironischerweise vor der Bibliothek
– ausgerechnet hier.
178
Es war natürlich reiner Zufall und in keiner Weise von meiner
Seite aus geplant gewesen.
Sie entdeckte mich von weitem und machte zunächst
Anstalten, die Straßenseite zu wechseln. Dann sah sie ein, dass
das zu demonstrativ wäre, und beschloss das Unvermeidliche
durchzustehen.
Wir blieben ein paar Meter voneinander entfernt stehen, und es
war offensichtlich, dass ihr die Situation peinlich war. Der
Anblick freute mich. Ich wollte sie leiden sehen für all die
Qualen, die sie mir so herzlos zugefügt hatte.
Dass es Linda peinlich war, daran bestand kein Zweifel. Sie
stand da, rotwangig und verlegen, und wartete, dass ich den
ersten Schritt täte. Offenbar hatte sie noch so viel Anstand im
Leib, dass sie sich dafür schämte, wie sie mich behandelt hatte.
Und ich machte den ersten Schritt.
»Herzlichen Glückwunsch sollte ich wohl sagen«, erklärte ich
und versuchte die Stimme neutral zu halten. »Zur Verlobung.«
»Danke«, erwiderte sie und wich meinem Blick aus, als hätte
er sie verbrannt.
»Das ging ja schnell.«
»Ach, eigentlich gar nicht so schnell. Wir haben uns schon …
na, ist ja auch egal.«
Ich sagte nichts, wartete auf die Fortsetzung.
»Du musst verstehen«, sagte sie und begann nach Worten zu
suchen, »dass du und ich … dass wir zwei …«
Ich lächelte sie an.
»Du brauchst nichts zu erklären, Linda. Ich bin dir nicht
böse.«
Zuerst sah sie mich ungläubig an. Dann konnte ich sehen, wie
sich die Erleichterung über ihr niedliches, falsches Gesicht
ausbreitete. Dass ich in meiner Niederlage so großzügig sein
konnte, hatte sie wohl nicht erwartet.
179
»Ist das dein Ernst?«
»Aber natürlich. Ich bin nicht derjenige, der A sagt und B tut«,
sagte ich und hoffte, sie würde die Ironie verstehen.
»Natürlich hatten wir es eine Zeit lang sehr schön, du und ich,
aber das wäre doch nie auf Dauer gut gegangen. Das war nie
ernst gemeint. Zumindest nicht von meiner Seite. Wir haben
einfach nicht zueinander gepasst.«
»Kann schon sein«, log ich, um sie zu beruhigen.
»Schön, dass du es so aufnimmst.«
»Ich finde auch, dass wir es sehr schön gehabt haben, aber das
ist nun einmal vorbei. Noch einmal: Ich gratuliere zur
Verlobung und wünsche dir alles Gute. Ich hoffe, ihr seid
glücklich zusammen, du und … wie heißt er noch mal, Sven-
Eric?«, fragte ich, machte bewusst den Fehler.
»Jan-Eric. Doch, das werden wir sein«, versicherte sie.
Sie zögerte einen Moment und sog in einer Art die Unterlippe
ein, die ihre Verletzbarkeit betonte. Diese kleine Veränderung
der Mimik brachte meinen Magen dazu, sich
zusammenzuziehen.
Ich wartete die Fortsetzung ab, die garantiert kommen würde
Und schon sagte sie:
»Du wirst sicher eine andere finden.«
Keine wie dich.
»Sicher«, sagte ich leicht dahin und nickte ihr zu.
Danach trennten wir uns, gingen beide unseres Weges.
Und der Sommer kam.
Eines strahlend schönen Tages hörte ich von dem Unfall.
Der Fahrer war offenbar ins Schleudern geraten, von der
Straße abgekommen und mit dem Wagen bei ziemlich hoher
Geschwindigkeit einen Abhang nördlich vom Sydstrand
hinuntergestürzt. Laut Zeugenaussage war das Fahrzeug gegen
180
eine große Eiche geprallt, danach gegen eine Steinwand, wo es
explodierte.
Die Wagenteile waren hoch in die Luft geworfen worden, und
die Flammen hatten das Laub einiger Birken hinter der Mauer
versengt. Die verbrannten Opfer konnten als Linda Tjernberg
und Jan-Eric Hessler identifiziert werden, und es wurde
festgestellt, dass er den Wagen gefahren hatte.
Die Leute redeten mehrere Tage lang von dem schrecklichen
Unfall.
»Und dabei wollten sie doch nach Silvester heiraten. Was für
ein grausames Schicksal!«
Ich befand mich an einem anderen Ort, als sich der Unfall
ereignete, aber als ich nach Hause kam, fuhr ich natürlich zur
Unglücksstelle, um zu sehen, was geschehen war.
Vor dreißig Jahren war es also, auf den Tag genau.
Das Ereignis wurde als Unfall abgeheftet. Vielleicht gab es
den Verdacht einer Sabotage, was weiß ich? Auf jeden Fall
drang nichts in dieser Richtung an meine Ohren. Die Polizei
fand nichts, was auf ein Verbrechen hindeutete – vielleicht
arbeiteten sie auch einfach nur schlampig.
Wenn es Spuren gegeben hat, die darauf hindeuteten, dass
jemand sich an dem Auto zu schaffen gemacht hatte, dann
kamen sie nie an die Öffentlichkeit.
Das weiß ich genau, da ich den Verlauf mit höchster
Aufmerksamkeit verfolgte.
Viele Jahre später las ich einen Artikel darüber, dass der
fleißige Kommissar Sten Wall versuchte, alte, ungeklärte Fälle
zu erforschen. Er ist Junggeselle, der sich offensichtlich ganz
von seiner Arbeit fressen lässt. Nicht genug damit, dass er den
lieben langen, arbeitsreichen Tag seine Nase ins kriminelle
Elend steckt – auch während seiner Freizeit widmet er sich also
noch Dingen, die die Polizei nie hat aufklären können.
181
Es gibt immer noch verrückte Enthusiasten.
Ob dieser Wall sich um den Autounfall kümmern würde?
Kaum anzunehmen.
Es geschah auch nichts Neues.
Und die ursprüngliche Theorie stand: Der Fahrer war
bedauernswerterweise von der Straße abgekommen, was
schreckliche Konsequenzen nach sich zog.
Zwei junge Leben wurden gleichzeitig ausgelöscht.
Überhöhte Geschwindigkeit war bereits zu dieser Zeit ein
Übel, schon vor dreißig Jahren.
Ich schaute auf die Armbanduhr.
Zeit loszugehen. Ich versuchte, wenn irgend möglich, den
Platz ungefähr zu dem Zeitpunkt aufzusuchen, an dem Jan-Eric
Hessler sich und seine junge Verlobte zu Tode gefahren hatte.
Die wenigen Kilometer waren schnell geschafft.
Es gab ziemlich viel Verkehr auf den Straßen. Sydstrand war
ein beliebtes Ziel für Badelustige, und die Leute kamen von weit
her, um die größte Badewanne des Landes zu besuchen. Ich
selbst war nie so begeistert davon gewesen, mich in diesem
Gedrängel von Einheimischen und Touristen herumschubsen zu
lassen, nur um Salzwasser auf die Haut zu bekommen. Aber ein
paar Gastspiele im Sommer wurden es trotzdem.
Und warum sollte ich nicht gerade heute einmal ins Wasser
springen. Die Badehose lag in einem Leinenbeutel auf dem
Beifahrersitz, falls ich Lust dazu kriegen würde.
Und wenn die Sonne so heiß brannte wie heute, musste das
Wasser auch ziemlich warm sein.
Ich bin reichlich wasserscheu und kann es nicht ertragen wenn
das Wasser so kalt ist, dass der ganze Körper fast erstarrt, aber
heute hatte es gut und gern über zwanzig Grad in den Wellen.
Dann war ich da.
182
Hier war es, genau hier, wo der Wagen von der Straße
abgekommen war.
Die Eiche stand noch da.
Die Mauer auch.
Das Auto mit den verkohlten Leichen war seit dreißig Jahren
nicht mehr da.
Ich parkte und stieg aus, wanderte zum Unfallort hinüber.
Wie schade, dass ich keine Gelegenheit hatte, dabei zu sein,
als es passierte.
Nicht, dass jemand irgendeinen Verdacht mir gegenüber hätte
hegen können, obwohl ich in meiner Eigenschaft als Mechaniker
natürlich einiges von Autos und Motoren verstand und mir so
einiges Teufelszeug hätte ausdenken können, wenn ich es nur
gewollt hätte. Soweit ich bemerkt hatte, gab es niemanden, der
wusste, dass Linda und ich eine heimliche Liebschaft gehabt
hatten, aber vollkommen sicher konnte man da nicht sein. Sie
konnte sich ja bei jemandem verplappert haben, und dieser
Jemand konnte daraus merkwürdige Schlüsse dahingehend
ziehen, dass etwas Hässliches passiert sein könnte.
Falls das geschah, war es das Beste, sich vom Unfallort fern zu
halten.
Denn wenn die beiden jungen Menschen Opfer einer Sabotage
gewesen wären, dann würde die Sache natürlich in einem ganz
anderen Licht dastehen.
Hatte doch dieser Jan-Eric Hessler vollkommen rücksichtslos
Linda einem anderen Mann weggeschnappt, dem sie ihre Liebe
und Treue geschworen hatte.
Wenn dann jemand seinerseits dafür Hesslers Leben nahm,
war das eigentlich nicht mehr als gerecht. Ein Diebstahl gegen
den anderen.
Aber mir ist durchaus bewusst, dass die Polizei derartige
Überlegungen beiseite wischen würde. Jetzt musste ich
183
weiterfahren. Ich glaube, es wird doch ein Bad heute werden.
Um ein Jubiläum zu feiern. Schließlich ist es ein so herrlicher
Sommertag.
184
Die Scheren des Hummers
Gert Nygårdshaug
Die Sauce könnte man zum Beispiel Montagnaise nennen,
dachte Fredric Drum und blinkte für die Ausfahrt zur Snarøya.
Er war bestens gelaunt, nieste dreimal und schob die Ouvertüre
des »Tannhäuser« in den CD-Player. Mit dröhnendem Wagner
und dem Gedanken an eine sehr exquisite Moltecremesauce,
serviert zu einem Schneehuhnbraten, war er unterwegs, um
einen freien Abend fern von seinen eigenen Kochtöpfen in der
»Kasserolle« zu genießen, Oslos kleinstem und bei weitem
besten Restaurant, mit drei Sternen im Michelin. Fredric Drum
ließ sich den Wagner unter die Haut gehen. An diesem
Dienstagnachmittag wollte er raus auf die Snarøya, in eine
kleine, intime Gourmet-Runde, die sein guter Freund Joakim
Hegg anberaumt hatte.
Das Hegg-Anwesen war sehr schön gelegen, und als Fredric in
die Einfahrt einbog, musste er wieder an die Bedingung denken,
die seinem Freund Joakim gestellt worden war, als er Alina
Hegg heiraten wollte: Er musste den Namen Hegg annehmen, er
konnte nicht Larsen heißen, wenn er die Verantwortung für
diesen traditionsreichen Familienbesitz übernehmen wollte, das
hatte sein Schwiegervater, der alte Oscar Hegg, der
Nachbarschaft, ja fast der ganzen Snarøya klar gemacht, bevor
der Prostatakrebs ihn in das Reich des Schweigens
hinübergezogen hatte. Oscar Hegg war stockkonservativ
gewesen, schwierig, mürrisch und laut sein Leben lang, und
niemand konnte verstehen, dass Alina, sein einziges Kind, von
ihm abstammte. Alina war weich, lieb und mild wie eine
Junibrise.
So hatte also Joakim seinen Namen geändert. Es spiele keine
Rolle, hatte er gesagt, solange er nur Alina bekäme und sie
185
zusammen Joakims Traum realisieren könnten: ein kleines,
gemütliches Gourmet-Restaurant hier draußen zu eröffnen, hier
auf diesem Anwesen, direkt am Wasser mit einer schönen
Aussicht über den Fjord. Jetzt gab es hier keine Flugzeuge mehr,
und aus Snarøya war eine friedliche Perle geworden.
Fredric stieg aus dem Auto und nickte vor sich hin. Der Duft
der Rhododendronblüte vermischte sich mit dem Geruch von
Tang und Teer. Die See, das Wasser hier draußen, war rein. Er
nickte wieder und konnte Joakims Plänen nur von Herzen
zustimmen; diese Lage war perfekt für ein kleines und sehr
exklusives Lokal. Der Umbau des Bootshauses mit kleinen
Terrassen, als ob der Winter durch Glaswände und -dächer
ausgesperrt würde, würde die Natur des Anwesens und die
übrige Architektur kaum stören.
Er machte einen schnellen Spaziergang durch den Garten und
hinunter zu den Felsen am Wasser, bevor er seine Ankunft
verriet. Wege aus Naturstein, umkränzt von allen möglichen
Zierpflanzen von Rosenbüschen bis zu Heidekraut, machten das
Anwesen außergewöhnlich schön. Fredric blieb unter einem
ungarischen Fliederbusch in voller Blütenpracht stehen und
genoss seinen Duft. Er schloss die Augen. Weißwein aus
Penedés, dachte er. Ein tiefer, gelber Torres-Wein eines guten
Jahrgangs, so war der Duft. Dann ging er hinauf zum
Hauptgebäude.
Plötzlich blieb er stehen und starrte eine kleine, graue Skulptur
an, die zur Hälfte unter einem gestutzten Hegg-Baum, einer
Traubenkirsche, verborgen war. Er kniff seine Augen zusammen
und betrachtete die Skulptur forschend. Danach beugte er sich
unter die Zweige und befühlte die kleine Steinfigur. Konnte er
sich irren? Nein, das war unmöglich, er konnte sich nicht irren.
Das war ein echter Meerfenchel-Gnom.
Er fühlte, wie ihm ein kalter Schauer den Rücken herunterlief.
Das war das erste Mal, dass Fredric Drum einen Meerfenchel-
Gnom in einem norwegischen Garten gesehen hatte.
186
»Willkommen, Fredric, du bist der erste Gast!« Joakim grinste
breit und gab seinem Freund einen warmen Händedruck.
»Wirklich gut, dass du mal für einen Abend von der
›Kasserolle‹ weggekommen bist. Aber du weißt, dass ich etwas
Angst davor habe, dir Essen zu servieren.«
Fredric lachte und nahm das angebotene Glas mit selbst
gemachtem Krähenbeerenlikör. Er duftete nach Wald und
Gebirge.
»Gutes Bouquet, was?« Joakim war sichtlich stolz.
»Alina?«, fragte Fredric.
»Sie musste leider nach England fahren. Hat das Flugzeug
heute Vormittag genommen. Das Theater geht ihr vor alles
andere, du kennst Alina ja. Diesmal ist es ein viertägiger
Pantomimekurs.«
»Aha«, nickte Fredric.
Die beiden Freunde setzten sich raus auf die große
Südterrasse. Joakim sah auf die Uhr. Der Rest der Gäste musste
jeden Augenblick kommen.
»Die Wunderessenz ist übrigens fertig«, sagte Fredric und
griff in seine Jackentasche.
»Was sagst du da?! Fertig? Jetzt schon?« Joakim sprang auf,
und sein jungenhaftes Gesicht leuchtete vor Eifer.
Aus seiner Tasche fischte Fredric ein kleines Fläschchen mit
Korken und Pipette. Es hätten Augentropfen sein können oder
Nasentropfen, aber es war etwas ganz anderes.
»Habe ich heute von Professor Armand bekommen. Sehr
konzentriertes Zeug. Der Korken darf um Himmels willen nicht
hier geöffnet werden; der Professor hat mir eine ganze Reihe
von Anweisungen über den Gebrauch gegeben. Wir machen das
unter vier Augen nach dem Essen.«
Joakim saß da und drehte das Fläschchen zwischen seinen
187
Fingern, während er die Flüssigkeit innerhalb des Glases
bewunderte. »Revolutionär«, flüsterte er, »das kann sich
wahrhaftig als revolutionär erweisen.« Er steckte die Flasche in
seine Tasche. Dann klingelte es an der Tür.
Wenn man Fredric und den Gastgeber selbst mitrechnete,
würden sechs Personen am Tisch sitzen. Der Sinn der
Veranstaltung war, dass Joakim Hegg ein Menü ausprobieren
wollte, das später in dem geplanten Restaurant angeboten
werden sollte. Die Gäste sollten Kenner sein, daher stutzte
Fredric etwas, als er Yaki Oones gegenüberstand, einer sehr
schönen Frau, ursprünglich aus Neuseeland mit Maori-Blut in
den Adern. Yaki Oones war Joakims langjährige Geliebte, aber
es war mindestens zwei Jahre her, seit Fredric sie zuletzt
gesehen hatte. Sie war nicht für ihre besondere Vorliebe für
Essen bekannt, sondern eher für ihr Interesse an allem, was beim
Verbrauch von Kalorien half. Sie betrieb ein Fitness-Studio in
Skøyen.
Außer Yaki Oones war da natürlich noch der so genannte
»Sergeant« Aronsen, der berüchtigte Gourmet, dessen
Vornamen niemand kannte, der aber der Schrecken aller
Küchenchefs war. Seine Würde war Aufsehen erregend, und mit
seinem Spitz und Schnurrbart sah er aus, als sei er der
Rollenliste eines Ibsen-Dramas entstiegen. Man sagte, dass sein
Gaumen so feinfühlig sei, dass er zwischen kubanischem und
haitianischem Puderzucker in einem Parfait unterscheiden
könne. Wenn man für ein Menü die Anerkennung von
»Sergeant« Aronsen bekam, konnte man sich seines Erfolgs
sicher sein.
Die beiden letzten Gäste waren Fredric unbekannt: Stephan
Finne und Petter Bardal. Beide waren Männer in den Vierzigern,
Bewohner von Snarøya und wussten gut über Joakims
188
Restaurantpläne Bescheid. Petter Bardal war der nächste
Nachbar des Hegg-Anwesens; er war Architekt und engagierte
sich stark für die Zukunft von Snarøya, nachdem jetzt der
Flugplatz verlegt worden war. Aber Fredric runzelte unmerklich
die Stirn, als er hörte, dass Stephan Finne, der einige hundert
Meter weiter unten wohnte, auch Restaurantpläne schmiedete.
Konnte es hier draußen Platz für zwei Lokale geben?
Verstohlen betrachtete er Finne: ein dünner, hohlbrüstiger
Mann mit einer Adlernase und einem etwas flackernden Blick.
Kein typischer Liebhaber von gutem Essen, dachte Fredric, aber
der Schein konnte trügen. Seine Stimme hatte jedenfalls etwas
Versöhnliches an sich; sie war fett, fast pavarottisch, und löste
in Fredric Assoziationen von einer etwas gehaltvollen
Biberschwanzsauce aus, so wie der Mann jetzt dastand und mit
Yaki Oones redete.
»Das wird die Hölle«, sagte Petter Bardal, der Architekt, so
laut, dass alle, einschließlich der Gastgeber selbst, es hören
konnten. »Das wird die Hölle mit zwei Restaurants hier
draußen!«
»Dieser Drecksack nutzt mich aus, Fredric«, sagte Yaki
Oones.
Sie und Fredric gingen einige Stufen hinab zu den Felsen am
Wasser und dem Bootshaus. Die Gäste waren auf dem Anwesen
sich selbst überlassen, während der Gastgeber letzte Hand an die
Mahlzeit legte, die in einer knappen Stunde in dem kleinen
Esszimmer serviert werden sollte.
»Nutzt dich aus? Joakim?« Fredric blieb stehen.
»Ja, was glaubst du denn, warum er mich eingeladen hat?
Essen – ha-ha –, er weiß, dass ich auf sein Essen pfeife, aber
auch, dass ich zu allem anderen, was er zu bieten hat, nicht Nein
sagen kann. Sobald diese Alina, sein Porzellanpüppchen, aus
seinem Blickfeld verschwunden ist, ruft er mich an. Und ich
blöde Kuh kann nicht Nein sagen. Aber jetzt ist Schluss damit.
189
Ende. Finito. Meine Maori-Großmutter hat mir gewisse Tricks
beigebracht.«
Die schöne Frau biss die Zähne zusammen, und Fredric konnte
Funken in ihren braunen Augen erahnen. Der Maiabend war
plötzlich nicht mehr so angenehm, und der Meeresduft wirkte
auf einmal herb.
»Hallo, da unten! Joakim hat endlich sein Menü bekannt
gegeben!« Stephan Finne kam auf sie zu und schwenkte ein von
Hand beschriebenes Blatt Papier. Die drei setzten sich auf eine
Bank am Bootshaus.
»Aha«, murmelte Fredric und las das Menü laut vor:
»Saiblings-Carpaccio in Limonensauce mit Fischrogen.
Frittierter Hummer mit in Ingwer mariniertem Kürbis.
Waldvogel-Paté mit Haselnüssen. In Sahne gekochtes
Seewolffilet, eingerollt mit Kapern und Estragon, serviert mit
Mandelkartoffelpüree. Molte-Sorbet und Kirschsahnetorte. Das
klingt ja viel versprechend!«
Yaki Oones schnaubte. »All dieses überkandidelte Essen!«
Stephan Finne trommelte nervös mit den Fingern auf die Bank,
sein Blick zuckte unruhig über den Fjord. »Es gibt Zutaten«,
sagte er mit seiner etwas fetten Stimme. »Zutaten, die Joakim
noch gar nicht entdeckt hat. Damit kriege ich ihn, dann werden
wir schon sehen, wohin sich im Laufe der Zeit die Gäste
wenden. Ich habe seit fünf Jahren an meinen Plänen für das
Restaurant gearbeitet. Und dann kommt er daher und haut
ordentlich auf den Putz. Das hätte der alte Oscar Hegg noch
mitkriegen sollen. Ich dachte, das Hegg-Anwesen sei gegen
kommerzielle Veränderungen geschützt.«
»Was ist mit Petter Bardal? Er ist sicher auch nicht besonders
glücklich über Joakims Pläne?« Fredric versuchte, die
schlimmsten Konflikte zu bereinigen, bevor die Mahlzeit
begann.
»O nein. Petter unterstützt mein Projekt. Ein Lokal draußen
190
bei mir ist völlig in Einklang mit seinen Visionen über die
Zukunft von Snarøya.«
Yaki Oones stand auf und verließ die Bank. Sie verschwand in
der Zypressenplantage auf der Westseite des Anwesens.
Fredric stutzte. Zwei Lokale. Konkurrenz. Warum hatte
Joakim diese beiden eingeladen, die dermaßen gegen seine
Pläne waren? Um ihnen zu zeigen, was er konnte? Sie zu
entmutigen? Fredric hatte geglaubt, dass dies ein gemütlicher
Abend werden würde, davon konnte wohl jetzt keine Rede mehr
sein.
Er erhob sich von der Bank.
»Hast du übrigens schon Joakims Hummerbrunnen gesehen?«,
fragte er Finne.
Der Blick des Mannes wurde noch unruhiger, sein Adamsapfel
stieg auf und verschwand wieder unter seinem Kragen, während
er den Kopf schüttelte.
»Komm mit«, sagte Fredric.
Sie gingen hinunter zu den Felsen am Meer, kletterten über
eine Steinmauer und standen plötzlich an einem tiefen
natürlichen Gletschertopf im Fels. Unten am Grund des
Gletschertopfes, der fast drei Meter tief war, ergoss sich das
Meerwasser durch einen kleinen Spalt hinein. Auf den ersten
Blick sah es so aus, als sei der Grund von schwarzen, ovalen
Steinen bedeckt, aber die Steine bewegten sich. Es waren
Hummer. Der Gletschertopf war ein perfekter Hummerbrunnen.
Der Spalt, durch den das Seewasser einströmte, war zu schmal,
als dass die Hummer hätten fliehen können, aber er sorgte
ständig für frisches Wasser. Bei Niedrigwasser betrug die Tiefe
einen knappen halben Meter.
»Praktisch, nicht wahr?« Fredric versuchte, munter zu wirken.
Stephan Finne stand leichenblass da und starrte hinunter in den
Gletschertopf. Dann ballte er die Fäuste und zischte, während er
191
den Blick von Fredric abwandte.
»Verdammter Mistkerl! Alinas Mutter ist in diesem Loch
verunglückt!«
Nach dieser Information und dem hässlichen Fluch von einem
Menschen, der insgesamt sehr unangenehm war, zog Fredric
sich endgültig zurück. Er ließ Finne am Hummerbrunnen zurück
und ging die Treppe auf der Ostseite des Anwesens hoch. Er
erblickte kurz den Architekten Bardal, der allein zwischen
einigen Büschen stand und ein paar Steine in seinen Händen
wog. Es war immer noch eine knappe halbe Stunde Zeit, bis die
Mahlzeit beginnen sollte.
Fredric versuchte, die Stimmung zurückzugewinnen, die er im
Auto auf dem Weg hierher empfunden hatte. Hatte er nicht eine
neue Saucenkreation entwickelt? Montagnaise? Aber all seine
guten Gefühle waren verschwunden, die Düfte und Geräusche
des Frühlings konnten nicht mehr zu ihm vordringen, die
Mahlzeit des Freundes wirkte fern. Die Menschen um ihn herum
benahmen sich nicht, wie sie es sollten, wenn sich Freunde zu
einer guten Mahlzeit treffen.
Freunde? Warum hatte Joakim diese Menschen eingeladen?
Zwei neidische Nachbarn und eine alte Geliebte. Sowie den
»Sergeant« Aronsen. Der alte, schlecht gelaunte Feinschmecker
schien Fredric plötzlich der einzige Lichtblick in dieser
Versammlung zu sein. »Sergeant« Aronsen war einfach er
selbst.
Er fand Aronsen neben der gestutzten Traubenkirsche. Er
stand da und schnaubte wie ein gestrandetes Walross, während
er anscheinend den Duft des fast verblühten Baumes genoss.
»Duftet der gut?«, begann Fredric lächelnd.
»Duftet!«
»Sergeant« Aronsen war rot im Gesicht, während sein
192
Brustkorb beim Einatmen zu fast der gleichen Größe wie seine
Wampe anschwoll. Dann entließ er die Luft aus der Lunge, dass
die Schnurrbarthaare vibrierten.
»Glauben Sie vielleicht, ich stehe hier und rieche an alten
Traubenkirschblüten, hä?«
»Nein, sie sind vielleicht nicht …«
»Idiot! Das ist reine, schiere Blasphemie!« Sein Brustkorb
schwoll wieder an, und ein erneuter Orkan ließ das Laub in der
Nähe erzittern.
Fredric begriff nichts, wurde der alte Kerl von Asthma
geplagt? Dann folgte er Aronsens Blick und erstarrte. Der
Meerfenchel-Gnom. Diese hässliche kleine Skulptur unter der
Traubenkirsche. Eine Art Gartenzwerg mit einem Gesicht, das
einen Ausdruck hatte, der an eiskalten Spott und Hass erinnern
konnte. Meerfenchel-Gnome waren so. Kein Meerfenchel-Gnom
war ein schöner Anblick.
»Sergeant« Aronsen zog sich von der Traubenkirsche zurück,
ging direkt auf Fredric zu und stieß ihm seinen riesigen
Zeigefinger in den Bauch.
»Sie wissen doch wohl, dass sich die Meerfenchel-
Bruderschaft von anderen geschlossenen Orden, wie zum
Beispiel den Freimaurern und den Rosenkreuzern,
unterscheidet? Die Mitgliedschaft vererbt sich. Und sie stellen
den hässlichen Gnom an Orte, die sie als heilig betrachten.
Genau das, Drum, hatte ich geahnt! Das war der Grund,
warum ich die Einladung angenommen habe. Der alte Oscar
Hegg war ein Bekannter von mir. Dass er ein Meerfenchel war,
hätte ich erraten können. Jetzt weiß ich es. Joakim Larsen kann
leider nie ein Hegg werden. Er hat hier draußen nichts zu
suchen! Ich muss dafür sorgen, dieses Projekt von ihm
umgehend zu unterbinden, verstehen Sie das, Herr Drum?« Der
Alte setzte seinen gewaltigen Körper in Bewegung und
verschwand oben in Richtung Hauptgebäude.
193
Fredric kam nicht mehr dazu zu sagen, dass er zu verstehen
begann. Aber als er wirklich alles begriffen hatte, war es zu spät.
Fredric blieb voller düsterer Gedanken auf einer Bank
unterhalb der Südterrasse sitzen. Er sagte den anderen vier
Gästen nichts. Zehn Minuten, bevor das Essen serviert werden
sollte, ging er hinauf zum Hauptgebäude, um Joakim davor zu
warnen, allzu große Erwartungen zu hegen, dass das Essen auf
positive Resonanz stoßen würde.
Der Tisch im Esszimmer war wunderschön für sechs Personen
gedeckt. Die Weine standen in Reih und Glied zum Lüften auf
einem eigenen Tisch.
Ansonsten war es völlig still im Haus.
Fredric ging schnell in die Küche. Ein übler Geruch schlug
ihm entgegen, als er die Tür öffnete. Auf dem Herd stand eine
Kasserolle mit Sauce und kochte über. Sie hatte schon eine
Weile gekocht, und der Inhalt brannte sich gründlich in die
Kochplatte ein. Eine größere Kasserolle stand daneben und
kochte sprudelnd vor sich hin. Wasser. Der Dampf verbreitete
sich wie eine Wolke in der Küche und verstärkte noch den
Geruch der angebrannten Sauce.
Fredric setzte die Kasserolle ab und drehte den Herd ab.
»Joakim!«, rief er. Aber der Gastgeber war verschwunden.
Er rief im ganzen Haus nach ihm, bekam aber keine Antwort.
Dann ging er auf die Terrasse hinaus.
»Joakim!«, brüllte er über das Anwesen.
Die vier Gäste kamen aus allen Richtungen auf das Haus zu.
»Sergeant« Aronsen, immer noch rotgesichtig, aber mit einer
fragenden Miene. Stephan Finne, verkrampft und ausgezehrt, als
ob er unter großen Qualen litte. Petter Bardal, außer Atem, war
er gerannt? Yaki Oones sah aus, als ob sie gerade geweint hätte.
Ihre Augen waren geschwollen, und die Schminke lief ihr in
dunklen Streifen die Wangen runter. Sie versuchte, das zu
194
verbergen, indem sie nach unten blickte.
»Joakim ist verschwunden«, sagte Fredric knapp.
Sie fanden ihn fünf Minuten später. Joakim Hegg lag unten im
Hummerbrunnen, im Gletschertopf. Es war ein schrecklicher
Anblick. Über seinen ganzen Körper krabbelten zwei Dutzend
wütende Hummer; sie hieben und zerrten an Fleisch und
Kleidung, und das Wasser war rot gefärbt. Die rote Farbe
breitete sich durch den Spalt im Felsen bis in den Fjord hinaus
aus. Große Stücke Fleisch wurden von dem toten Körper dort
unten abgerissen. Fredric Drum musste sich abwenden.
Noch nie hatte er gesehen, dass sich Hummer so aufführten.
»Das ist eine der schlimmsten Verstümmelungen durch
Meeresgetier, die ich je gesehen habe! Wie ist es bloß möglich,
dass sich Hummer so aufführen können?«
Skarphedin Olsen von K
RIPOS
richtete die Frage an seinen
Neffen Fredric Drum, der mit dem Ermittler hatte unter vier
Augen sprechen können, während die anderen Gäste bis auf
weiteres im Esszimmer unter Bewachung interniert worden
waren. Es bestand der Verdacht, dass es sich um ein Verbrechen
handelte.
Fredric starrte einen imaginären Punkt an der Wand an. »Das
liegt an einem sehr speziellen Hormonpräparat«, sagte er leise.
»Das Fläschchen, das ihr zerbrochen in Joakims Tasche
gefunden habt, war voll. Ein Tropfen von dieser Substanz ist
genug, um einen Hummer völlig wild zu machen. Er wird
aggressiv und frisst alles, was ihm in den Weg kommt.«
»Und woher stammt diese Substanz?«, fragte Olsen streng.
»Aus einem privaten Labor. Ein Freund von mir, Professor
Armand, hat lange daran geforscht. Bekanntlich nimmt ein
Hummer in Gefangenschaft kein Futter zu sich; daher wächst er
auch nicht. Eine Methode, den Hummer zum Fressen zu
bringen, hätte die Zuchtmöglichkeiten revolutioniert. Joakim
195
Hegg sollte diese Substanz an seinen Hummern testen. Ich gab
ihm die Flasche vor zwei Stunden. Einen Tropfen täglich in den
Brunnen sowie reichlich Futter.«
»Dann hat er die Wirkung ja wahrhaftig zu spüren
bekommen.« Skarphedin Olsen zog seine Mundwinkel hoch,
aber es wurde kein Lächeln daraus. »Obwohl er bestimmt nichts
gespürt hat. Er war schon tot. Das Fläschchen ist unbeabsichtigt
bei dem Sturz zerbrochen. Mord.«
Das Wort donnerte auf Fredric ein. Mord? Sein Freund Joakim
war ermordet worden? Er fror.
Die K
RIPOS
-Techniker und der Arzt hatten nur einige Minuten
gebraucht, um festzustellen, dass Joakim Hegg mit einem
stumpfen Gegenstand auf den Kopf geschlagen worden war,
vielleicht mit einem Stein, bevor er in den Gletschertopf
hinuntergestürzt war. Die routinierten Ermittler verstanden
etwas von ihrem Fach.
»Aber was wolltest du mir eigentlich unter vier Augen sagen?
Bilde dir bloß nicht ein, dass du weniger verdächtig bist als die
anderen. Die erste Stunde hier, mit allen zusammen, wird den
Mörder entlarven. Ich habe meine Methoden.« Olsen sah Fredric
scharf an. Fredric erwiderte seinen Blick genauso scharf.
»Und ich habe meine Methoden«, sagte er.
Dann bat er den Ermittler, ihm genau zuzuhören.
Die Polizisten hatten sich zurückgezogen, raus auf die Terrasse.
Fredric hatte erreicht, dass es so gemacht wurde, wie er wollte.
Skarphedin Olsen, der selbst für die Anwendung
unkonventioneller Methoden bei den Ermittlungen bekannt war,
hatte seine Idee übernommen. Jetzt saß er in einem Sessel am
Kamin im Esszimmer, um an dem Schauspiel teilzuhaben. Er
beabsichtigte, sofort die Regie zu übernehmen, falls das Drama
außer Kontrolle geraten sollte.
196
Die vier Gäste wurden gebeten, sich an den Tisch zu setzen.
Die Stimmung war, gelinde gesagt, bedrückt, um nicht zu sagen
gereizt, als Fredric Drum herumging und Weißwein in die
Gläser goss.
»Was soll denn das verdammt nochmal bedeuten!«
»Sergeant« Aronsen polterte wie ein mittelschweres Gewitter.
»Das ist doch der reine Wahnsinn!« Trotzdem konnte er sich
nicht beherrschen, sondern hob das Weißweinglas an seinen
Schnurrbart, schnüffelte, rollte mit den Augen und murmelte
voller Anerkennung vor sich hin. Stephan Finne zitterte ganz
offensichtlich; sein magerer Körper bebte, und er starrte
hypnotisiert auf einen Punkt auf dem Tischtuch, weit von seiner
Umgebung entfernt.
Yaki Oones weinte geräuschlos, während sie ihr Gesicht in der
Serviette verborgen hielt.
»Das ist ein Komplott! Dieser Fredric Drum ist verdammt
nochmal pervers, jetzt will er die makabre Seite der feinen
Küche austesten! Nachdem er einen guten Freund ermordet hat.
Er hat das getan, glaubt mir!«, knurrte Petter Bardal und leerte
sein Weinglas in einem Zug.
Fredric war in der Küche.
Vier Leute am Tisch.
Stille, nur Aronsens Stuhl, der unheilschwanger knarrte.
Fredric Drum kam aus der Küche. Er brachte eine große Platte
mit dampfendem, frisch gekochtem, rotem Hummer herein und
stellte sie auf den Tisch. Vier Augenpaare starrten entsetzt auf
die Hummerplatte. Einige Sekunden lang saßen alle wie erstarrt
da.
»Nein, das geht jetzt aber zu weit!« Petter Bardal erhob sich
halb von seinem Stuhl.
»Setzen Sie sich, Bardal!« Fredrics Stimme klang wie ein
Peitschenhieb. Bardal sank auf seinen Stuhl zurück. Stephan
197
Finne schluckte und schluckte, als ob er jeden Moment anfangen
würde, sich zu übergeben. »Sergeant« Aronsens Gesichtsfarbe
war röter als der Hummer auf der Platte, Yaki Oones genauso
bleich wie die Serviette, die sie die ganze Zeit zerknüllte.
»Es ist mein voller Ernst«, sagte Fredric so ruhig wie er
konnte. »Joakim ist ermordet worden. Einer von uns kann das
getan haben, das wollen wir jetzt auf eine einfache Weise
herausfinden.« Vorsichtig brach er die Scheren der Hummer ab
und legte eine Schere auf jeden Teller. Auch auf seinen eigenen.
Fünf Scheren, denn sie saßen jetzt zu fünft am Tisch. Der
sechste Platz war leer geblieben.
»Der Ermittler Olsen hat erfahren«, fuhr er fort, »dass wir uns
alle fünf an verschiedenen Orten aufhielten, als Joakim in den
Brunnen fiel – gestoßen wurde, als er zu den Hummern
unterwegs war. Keiner kann dem anderen ein Alibi geben.
Insofern sind wir alle fünf in diesem frühen Stadium der
Ermittlungen gleich verdächtig, aus der Sicht der Polizei. Es ist
ihnen nicht gelungen, irgendeinen von uns auszuschließen.«
Dann kniff er die Augen zusammen und hob mit einer schnellen
Bewegung seine eigene Hummerschere von seinem Teller.
Dabei zuckten die anderen unwillkürlich auf ihren Stühlen
zusammen, als ob die Delikatesse jederzeit zum Angriff
übergehen könne.
»Diese Scheren haben dazu beigetragen, unseren guten Freund
zu misshandeln.« Er sprach leise, betonte aber jedes Wort.
»Immer noch können diese Scheren misshandeln. Eine
bestimmte Person misshandeln: den Mörder. Nur den Mörder.
Für alle anderen außer dem Mörder sind diese Scheren
vollkommen ungefährlich.«
Bardal runzelte die Stirn und starrte leicht verwundert seine
Hummerschere an. »Sergeant« Aronsen grunzte etwas
Unverständliches. Stephan Finne war wieder völlig weggetreten.
Yaki Oones riss sich zusammen und sagte mit brüchiger
Stimme: »Ist das irgendein – psychologisches Spiel – Fredric –
198
ich glaube nicht? –«
»Nein«, sagte Fredric, »das ist kein psychologisches Spiel.
Kurz gesagt: Ich habe Joakim eine Flasche mit sehr
konzentrierten Hummergeschlechtshormonen gegeben, direkt
nachdem ich hier ankam. Diese Substanz, diese Flüssigkeit,
sollte verwendet werden, um zu testen, ob Hummer in
Gefangenschaft fressen können und damit auch wachsen
würden. Eine Erfindung, die sehr profitabel hätte werden
können, wenn sie wirkte. Als Joakim in den Gletschertopf fiel,
ist das Fläschchen beim Sturz zerbrochen, und der Inhalt machte
die Hummer völlig wild. Sie liefen Amok. Die Wirkung der
Substanz war sehr stark, das haben wir ja alle sehen können.
Aber …«
Fredric machte eine kleine Pause, feuchtete sich die Lippen
mit etwas Wein an und fuhr fort:
»Die Tropfen haben noch eine andere Wirkung. Wenn eine
Person die Luft einatmet, in der sich einige dieser
Hormonmoleküle befinden, und hier ist tatsächlich die Rede von
mikroskopisch kleinen Mengen, dann wird der Betreffende eine
vorübergehende sehr starke Allergie gegen Hummer entwickeln.
Diese Allergie wird mindestens vierundzwanzig Stunden
anhalten; sie führt zu Ausschlag, Übelkeit und Durchfall. Die
Symptome kommen schnell zum Vorschein und sind sehr
offensichtlich, um es mild auszudrücken.«
»Sie meinen also …« Petter Bardal brach mitten im Satz ab.
»Genau«, sagte Fredric, »das meine ich. In den Sekunden,
nachdem das Fläschchen in Joakims Tasche zerstört wurde,
muss die Luft um den Gletschertopf herum voll von diesen
Hormonmolekülen gewesen sein. Das bedeutet also, falls einer
von uns fünf in der Nähe dieses Ortes gewesen sein sollte, als
gerade die Flasche zerbrach, dann wird diese Person jetzt ernste
Probleme mit dem Verzehr von Hummerfleisch bekommen. Der
Polizeiarzt ist zur Stelle, sodass er bei einem akuten
199
Allergieanfall sofort helfen kann. Bitte sehr, in Joakims Namen
heiße ich alle willkommen an der Tafel! Die Scheren sind
aufgebrochen, also bleibt uns nur noch, das milde
Hummerfleisch zu genießen.«
Ohne die anderen anzusehen, nahm Fredric seine eigene
Hummerschere und saugte das Fleisch aus. Er holte alles
Essbare heraus.
Die anderen taten zögernd das Gleiche.
Danach starrten sich alle gegenseitig an.
Keine Reaktion. Niemand kippte um vor Übelkeit, bekam
Atemnot oder heftigen Ausschlag.
Ein schriller Piepston durchschnitt plötzlich die Stille im
Raum. Skarphedin Olsen griff nach seinem Handy und sprach
leise hinein. Er nickte vor sich hin. Dann stand er auf und kam
an den Tisch.
»Ja, ja, Fredric. Das war ja eine interessante Mahlzeit. Aber sie
hat uns von K
RIPOS
nicht viel Neues gebracht. Der Arzt wird
hier anscheinend nicht gebraucht, wie es aussieht? Aber
trotzdem hast du in einer Sache Recht, Fredric, es hätte noch ein
Gast hier sein sollen. Deshalb solltet ihr die Mahlzeit noch ein
bisschen ausdehnen, Leute, es wird nicht lange dauern, bis noch
jemand kommt, der eine Hummerschere probieren will.« Der
Ermittler kniff seine Augen zusammen und klopfte fest auf den
Kaminsims.
Fredric spürte, dass ihn allmählich die Kräfte verließen. Die
Anspannung war groß gewesen; Joakims plötzlicher Tod und
die Rolle, die er auf sich genommen hatte, um ihn aufzuklären,
erschöpften ihn. Bisher war alles gelaufen, wie er es erwartet
hatte; jetzt konnte sich erweisen, dass auch seine letzten
Annahmen richtig gewesen waren.
Die Stimmung um den Tisch wurde plötzlich leichter. Jetzt
unterbrachen sich alle gegenseitig, die Gläser klirrten, und
Stephan Finne verschüttete Wein auf das Tischtuch. »Sergeant«
200
Aronsen machte sich über die Hummerschwänze her und aß mit
großem Appetit.
Dann konnten sie hören, dass eine Autotür in der Einfahrt
zuschlug. Alle wandten sich zur Tür, als zwei Polizisten mit
einer jungen Frau hereinkamen.
»Alina!« Petter Bardal stockte der Atem. »Du solltest doch
…«
»Ich habe mich verspätet – habe auf das Abendflugzeug
gewartet, als die Polizei kam – und mir erzählte – ach, so
grauenhaft – mein geliebter – Joakim!«
Ihre Trauer und ihre Tränen wirkten echt.
Die Blicke von Fredric und »Sergeant« Aronsen trafen sich
plötzlich. Der Alte erhob das Glas, kniff die Augen zusammen
und murmelte, sodass Fredric es kaum hörte: »Der Meerfenchel-
Gnom, nicht wahr?«
Fredric nickte.
Jetzt ging alles ganz schnell und dramatisch. Sehr bestimmt
wurde Alina Hegg vom K
RIPOS
-Ermittler an den Tisch geführt.
Dort forderte man sie auf, ein Stück Hummerfleisch zu essen.
Danach sollte sie der Polizei erklären, warum sie nicht, wie
geplant, das Nachmittagsflugzeug nach London genommen,
sondern bis zum Abendflugzeug gewartet hatte.
Alina Hegg war eine gute Schauspielerin.
Die Rolle als Trauernde und Verwirrte gelang ihr fast perfekt.
Auch der hasserfüllte Blick, den sie Yaki Oones zuwarf, wirkte
echt. Alles war ein gelungenes Theater, bis sie den ersten
Hummerbissen heruntergeschluckt hatte und ein Weinglas zum
Mund heben wollte. Da brach die Wirklichkeit ein. Es gab keine
weiteren Rollen mehr. Der Polizeiarzt wurde herbeigerufen, und
Alina Hegg bekam eine starke Antihistaminspritze. Die
Gesellschaft war vorbei.
201
»Wie ich schon sagte: Die Mitgliedschaft in der Meerfenchel-
Bruderschaft ist erblich«, sagte »Sergeant« Aronsen und hielt
einen sehr dicken Zeigefinger vor Fredrics Gesicht. Obwohl er
normalerweise auf den öffentlichen Nahverkehr schwor, hatte er
Fredrics Angebot, ihn in die Stadt mitzunehmen, angenommen.
Fredric nickte und versuchte sich auf das Fahren zu
konzentrieren. Aronsen fuhr fort:
»Alina musste deshalb eine Meerfenchel sein. Sie hatte von
klein an eine Gehirnwäsche bekommen. Und die hässlichen
Gnome zeigen, dass Oscar Hegg und seine Vorfahren das Hegg-
Anwesen als heilig betrachteten. Ein Restaurant hier hätte
sowohl das Heiligtum als auch alles, wofür die Meerfenchel
stehen, verspottet. Verstehen Sie, was ich sage, Junge?«
»Ich verstehe schon«, nickte Fredric. »Ich habe es begriffen,
als ich den Gnom sah. Ich verstand, dass etwas Schlimmes
geschehen konnte. Ich war mir fast sicher, dass Alina diejenige
war, die Joakim getötet hatte, und als keiner der anderen von
dem Hummer krank wurde, war ich überzeugt. Aber ich weiß
nicht, ob sie ihren Mann mit einem schweren Gegenstand
erschlagen hätte, wenn Joakim sich nicht damit durchgesetzt
hätte, den Hummerbrunnen ausgerechnet in der Gletschermühle
anzulegen, in der ihre Mutter zu Tode stürzte, als Alina drei
Jahre alt war.«
»Tja«, seufzte »Sergeant« Aronsen. »Wir können wohl
feststellen, dass es die Kombination Meerfenchel und Todesort
der Mutter als Hummerbrunnen war sowie die Eifersucht
gegenüber dieser Yaki Oones, die aus Frau Hegg eine
kaltblütige Mörderin gemacht hat.«
Fredric nickte stumm. Er fuhr an der Aker Brygge von der
Autobahn ab. Dann sagte er:
»Aber wir können auch sagen, dass Joakim sein Größenwahn
zum Verhängnis geworden ist. Diese Gesellschaft heute Abend
– mit all diesen Menschen, die ihn hassten. Eine klassische
202
Grundsituation für einen Mord. Ich bin sicher, dass er das als
eine reine Machtdemonstration so eingerichtet hat; keiner sollte
glauben, dass er über ihn siegen könne. Aber – können wir nicht
über etwas anderes sprechen?«
»Wie wäre es mit – Saucen?« Der alte Feinschmecker
schnalzte mit der Zunge. »Hat Herr Drum irgendwelche
spannenden Kreationen in der Mache?«
»Montagnaise«, antwortete Fredric. »Kommen Sie nächste
Woche mal in der ›Kasserolle‹ vorbei, dann sollen Sie eine
Sauce kennen lernen, wie Sie noch keine geschmeckt haben.«
»Quatsch«, schnaubte »Sergeant« Aronsen. »Ich habe schon
alles geschmeckt. Absolut alles, Junge.«
Pause.
»Montagnaise, sagten Sie?«
203
Mord in Reykjavik
Birgitta H. Halldórsdóttir
Ich befand mich in einem alten Haus in der Stadtmitte
Reykjaviks. Ein paar Minuten zuvor war die Polizei gerufen
worden, da hier ein Mord begangen worden war.
Der Anblick war schrecklich. Es war die Leiche eines
verhältnismäßig jungen Mannes von hellem Äußeren,
vermutlich um die dreißig. Ich vermutete, dass er ein gut
aussehender Mann gewesen war. Der Mörder war grausam zu
Werke gegangen. Der Leichnam war mit einem Nylonstrick an
einem breiten Bett festgebunden und ordentlich geknebelt
worden. Beide Augen waren ausgestochen, und es war
offensichtlich, dass dies gemacht worden war, während der
Mann noch lebte. Außerdem hatte man ihm ins Herz gestochen,
und ich nahm an, dass das seinen Tod verursacht hatte. Eine
blutige Bettdecke lag über den unteren Teil des Körpers
ausgebreitet. Auf den ersten Blick war keine Mordwaffe zu
entdecken.
Mit geschulten Augen sah ich mir den Tatort an. Mein Kollege
Baldur stand neben mir, und ihm war ebenso zumute wie mir.
Noch nie hatten wir so etwas erlebt. Das Bettzeug war
blutverschmiert, auf dem Fußboden befand sich eine Blutlache.
Wir traten vorsichtig näher, jetzt kam es darauf an, sich
vorzusehen.
Der Mann, der den Mord gemeldet hatte, ging hinter uns auf
und ab, er sah aus, als ob er sich gerade in die Hosen machen
wollte. Ich wäre darüber nicht erstaunt gewesen. Es war einfach
abscheulich. In der Ecke lag eine zusammengebrochene junge
Frau und weinte. Sie hatte Blut an den Händen, und ich blickte
den Mann an, der uns den Mord mitgeteilt hatte.
204
»Wer ist sie?«
Der Mann, der sich als Ingenieur Gunnar Danielsson
vorgestellt hatte, räusperte sich.
»Sie wohnt im Nachbarhaus und hat ihn offenbar so
vorgefunden, denn ich habe die Schreie bis zu mir herauf gehört,
nachdem sie ins Haus gekommen ist.«
»War das Haus denn unverschlossen?«
Man merkte, dass es ihm nicht behagte, darüber zu sprechen.
»Sie besaß einen Schlüssel. Sie und der Ermordete hatten ein
Verhältnis miteinander. Ihr Ehemann ist Autoschlosser von
Beruf und schlägt sie grün und blau.«
Ich nickte.
»Und der Tote hieß?«
»Jón Jónsson. Er war Lehrer und hat die letzten drei Jahre in
diesem Haus gewohnt.«
Ich hörte, wie mein Kollege Baldur telefonierte und unsere
Spurensicherung anforderte, und beschloss zu warten, bis sie
käme. Indessen wusste ich nicht genau, was ich mit der Frau
anstellen sollte, die offenbar einen Nervenzusammenbruch
bekommen hatte. Wir müssten sie zum Verhör auf die Wache
bringen, sobald wir so weit wären. Ich sah Gunnar an.
»Ich möchte Sie dann bitten, so bald wie möglich aufs
Polizeirevier zu kommen, um Ihre Aussage zu machen.«
Er nickte und schien kurz davor zu sein, in Ohnmacht zu
fallen.
Ich betrachtete den Toten. Offene blutige Augenhöhlen
starrten mich an, doch ich versuchte, nach Möglichkeit nicht
daran zu denken, wie furchtbar der Mann gelitten haben musste.
Baldur nahm Handschuhe, streifte sie sich über und hob die
Bettdecke hoch. Er schnappte nach Luft, und Gunnar schrie auf
und stürmte hinaus. Ich rechnete nicht damit dass er weit käme,
ehe er sich übergeben würde. Die Genitalien des Toten waren
205
abgeschnitten worden. Sie lagen wie Blutstücke zwischen den
Knien der Leiche. Mir kam nicht der Gedanke, dass dies nach
seinem Tod gemacht worden sei.
Ich stieß Baldur an und richtete meinen Blick auf die junge
Frau. Es war nicht nötig, dass sie dies mitbekäme, wenn sie
denn nicht selbst die Verursacherin war. Durch meine Arbeit bei
der Polizei hatte ich gelernt, anfangs niemandem zu trauen. Ich
eilte zu ihr und kniete neben ihr nieder.
»Sind Sie imstande, mit mir nach draußen zu kommen?«
Die Frau blickte mich an, ihre Augen ließen eine tiefe Trauer
und ein unbeschreibliches Entsetzen erkennen. Sie heulte
erbärmlich.
»Wer tut so etwas?«
Darauf wusste ich keine Antwort. Ich nahm sie unter den Arm
und half ihr auf die Beine. »Kommen Sie mit mir und
verschaffen Sie sich ein wenig frische Luft!« Die Frau wankte
auf den Beinen, schleppte sich aber trotzdem mit mir hinaus. Ich
setzte mich mit ihr auf eine Bank neben dem Haus und
betrachtete sie. Sie war hübsch, besaß himmelblaue Augen und
dunkelblondes Haar, das mit Strähnen in wenigstens vier Farben
versehen war. Sie trug eine Jeans und eine eng anliegende
ärmellose Jacke, die ihren schlanken und mädchenhaften Körper
gut zur Geltung brachte. Ich zündete zwei filterlose
Camelzigaretten an und reichte ihr eine. Es war, als ob sie
plötzlich zur Besinnung käme, sie ergriff die Zigarette mit
dankbarer Hand. Ich räusperte mich.
»Ich heiße Anna Káradóttir und arbeite bei der Kripo. Mögen
Sie mir sagen, wie Sie heißen und was Sie in diesem Haus
machen?«
Einen Augenblick schien es, als ob sie nicht recht zuhören
würde, doch nach ein paar Zügen schien sie sich zu entspannen.
»Ich heiße Alma und wohne im Haus nebenan. Ich arbeite in
der Bücherei und hatte mir vorgenommen, auf einen Sprung bei
206
Jón vorbeizuschauen, ehe ich zur Arbeit fahre. Mein Mann ist
Autoschlosser und auf der Arbeit. Er ist ein wenig älter als ich
und wahnsinnig eifersüchtig, deshalb treffe ich meine Freunde,
wenn er arbeitet.«
Ich drückte die Zigarette aus und dachte darüber nach, ob sie
ein wenig naiv sei oder ob sie vielleicht glaube, dass ich keinen
Verstand besitze.
»Sie und Jón hatten, wie sagt man, ein Verhältnis?«
Sie nickte und richtete den Blick auf ihre Hände. Es befand
sich Blut an ihnen.
»Haben Sie Jón ermordet?«
Sie starrte mich erschrocken und feindselig zugleich an.
»Sind Sie verrückt? Ich hatte vor, ihn zu heiraten, sobald ich
von Páll geschieden wäre. Er ist bloß so irrsinnig schwierig.«
»Schlägt er Sie?«
Sie antwortete nicht, doch ich sah es ihr an, dass es so war. Ich
seufzte. Mittlerweile war unser Spurensicherungsteam
erschienen. Jetzt ging es richtig los. Ich war froh darüber, wenn
die folgenden Tage auch wohl nicht gerade erfreulich bei uns
werden würden.
»Warum sind Sie so blutig an den Händen?«
Sie begann zu weinen.
»Als ich ihn so sah, da dachte ich zuerst, dass er vielleicht gar
nicht tot sei, doch er war es, und ich glaube, dass ich laut
geschrien habe. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, doch dann
kamen Sie.«
Sie war im Begriff, aufs Neue zusammenzubrechen, und ich
winkte unserer Krankenschwester herzukommen, sie würde sie
wieder in einen vernehmbaren Zustand versetzen.
Ich war bereits lange Zeit bei der Polizei beschäftigt, wovon
ich die vergangenen Jahre gemeinsam mit Baldur in einer
besonderen Abteilung, in der ich Chefin war, gearbeitet hatte.
207
Wir bekamen schwierige Fälle und oft umfangreiche
Ermittlungsarbeiten aufgetragen. Bei uns hatten wir ein
besonders gut geschultes Spurensicherungsteam, dem ich
vollkommen vertraute. Es gab nur wenig, was den erfahrenen
Augen seiner Mitarbeiter und der guten Technik entging. Im
Team befand sich ebenfalls eine Krankenschwester, die
besonders für den Umgang mit Opfern von Triebtätern
ausgebildet und gleichermaßen eine Spezialistin in der
Schockbehandlung war. Es erwies sich als sehr günstig, sie
dabei zu haben, denn häufig hatten wir es mit Menschen zu tun,
denen ein furchtbares Lebensschicksal irgendeiner Art
zugestoßen war.
Baldur kam zu mir.
»Zum Teufel aber auch, ist das ein perverser Kerl!«
Ich nickte.
»Ich denke, dass mir eine solche Schweinerei noch nie zu
Gesicht gekommen ist. Doch sollen wir das nicht lieber den
anderen überlassen? Ich halte es jetzt für angebracht, jenen
Nachbarn zu vernehmen, der in dieser Angelegenheit zum
Hahnrei gemacht worden ist. Die gleiche alte Geschichte, stets
sind es Dreiecksbeziehungen, die nicht aufgehen, ohne dass
jemand verletzt wird.«
»Ich glaube, das ist nicht so einfach, wie du vielleicht denkst.«
Ich zuckte mit den Achseln.
»Das wird sich noch herausstellen, doch wir müssen mit dem
Automechaniker sprechen.«
»Ich habe nach ihm schicken lassen, er wartet hoffentlich auf
der Wache, wenn wir zurückkommen.«
»Was hast du sonst noch erfahren, während ich mich mit der
Frau unterhalten habe?«
Er stöhnte.
»Soweit ich es sehe, haben zur Zeit nur zwei Personen im
208
Haus gelebt. Dieser Gunnar wohnt im Dachgeschoss und kam
gerade aus Ísafjörður zurück. Und dann hat dieser arme Jón im
Erdgeschoss gewohnt.«
»Was ist mit dem Keller?«
»Im Keller haben junge Leute gewohnt, doch die sind vor
einer Woche ausgezogen. Und die neuen Mieter werden erst im
nächsten Monat erwartet.«
»Wie gesagt, ein günstiger Zeitpunkt, um Jón umzubringen.
Gunnar in Ísafjörður und der Keller unbewohnt. Offenbar war
irgendein Bekannter am Werk.«
Der Tag war bereits fortgeschritten. Ich war drauf und dran,
mangels Nikotins und Koffeins einen Kollaps zu bekommen, als
ich mich endlich mit einer Kaffeetasse hinausschleichen und
eine Zigarette rauchen konnte. In Zeiten wie diesen war
überhaupt nicht daran zu denken, zu essen oder sich auszuruhen.
So viel hatten wir im Laufe der Zeit gelernt, dass jede Minute,
die uns von der Tatzeit entfernt, die Aussichten vermindert, den
Mörder zu finden. Ich hatte mir bislang noch kein Urteil
gebildet, und insofern war noch vieles unerledigt.
Wir hatten Leute hinausgeschickt, um die Anwohner der
Straße zu verhören, doch es schien letzte Nacht niemand etwas
Ungewöhnliches bemerkt zu haben. Die Nachricht vom Mord
hatte sich verbreitet, bei den Medien lief jetzt alles auf
Hochtouren. Zum Glück vermochten wir immer noch für uns zu
behalten, wie die Leiche zugerichtet war, und das war ein großes
Plus.
Wir hatten Almas Ehemann, diesen Autoschlosser Páll,
vernommen. Er war ein großer und stämmiger Kerl, der ernst
aussah und sich ziemlich unkooperativ verhielt. Er fluchte viel,
sagte, froh darüber zu sein, dass Jón tot sei, getötet aber habe er
ihn nicht.
»Ich kann Männer nun einmal nicht leiden, die meine Frau
209
bumsen«, hatte er barsch gesagt, und es war klar, dass er Jón
hasste. Doch die Frage war, hasste er ihn stark genug, um dieses
grauenvolle Verbrechen zu begehen?
Páll gab zu, von dem Verhältnis zwischen Alma und Jón
gewusst zu haben; auch gab er zu, seine Frau geschlagen zu
haben, er bestritt es aber entschieden, jemals Jóns Wohnung
betreten, geschweige denn ihm etwas angetan zu haben. Wir
brachten viel Zeit damit zu, entscheidende Fragen zu stellen,
doch es kam nichts dabei heraus, was wir ihm wirklich hätten
anhängen können. Páll besaß ein Alibi, denn er war auf der
Arbeit gewesen, Alma war somit also unsere einzige Zeugin,
zumindest glaubten wir das.
Gunnar kam aufs Revier und schien sich etwas erholt zu
haben. Gleichwohl spürte ich, dass ihn ein großes Schuldgefühl
darüber plagte, sich zu einer Zeit in Isafjörður aufgehalten zu
haben, während jemand gerade seinen Nachbarn zu Tode
folterte. Er selbst hatte eine Freundin im Westen, die bestätigte,
dass er dort gewesen und wann er von ihr losgefahren sei. Es
war offensichtlich, dass Gunnar und Jón sich gut verstanden
hatten. Jeder hatte bei dem anderen Kaffee getrunken, sie hatten
sich zusammen Kinofilme angesehen und gemeinsam ein Bier
getrunken, ganz wie es sich für gute Nachbarn ziemte. Das
Einzige, was Gunnar nicht zu gefallen schien, war das
Verhältnis zwischen Jón und Alma. Er meinte, dass es
angefangen habe, als Alma einmal vor ihrem Mann geflüchtet
war, halb bekleidet und mit einem blauen Auge, und bei Jón an
die Tür geklopft hatte. Er hatte Mitleid mit ihr gehabt und das
Bedürfnis, sie zu beschützen und diesem Gewalttäter zu
entreißen, den sie dummerweise geheiratet hatte. Ich wusste aus
eigener Erfahrung, dass Beziehungen auf die sonderbarste
Weise beginnen und die Menschen ihre Gefühle nicht immer
kontrollieren können. Doch dieser Mord war viel mehr als nur
ein Mord. Es war die Grausamkeit, die ihn so besonders machte,
und mir wurde ganz übel, wenn ich daran dachte, was
210
tatsächlich geschehen war. Es gab so viele Fragen, die mir im
Kopf herumschwirrten. Wer vermochte den Mann zu fesseln
und zu knebeln? Es gab keinerlei Anzeichen von
Handgreiflichkeiten, keine zerbrochenen Möbel, nirgends gab es
Hinweise auf eine Schlägerei. Der Mann musste sich doch
gewehrt haben! Es legt sich niemand in sein Bett, um sich
ordentlich fesseln und knebeln zu lassen und dann darauf zu
warten, dass ihm die Augen ausgestochen und die Genitalien
abgeschnitten würden. Meine Gedanken drehten sich im Kreis,
ich zündete mir eine weitere Zigarette an.
Baldur kam zu mir.
»Ich wusste, wo ich dich finden kann.«
Ich grinste.
»Draußen, um ungestört eine zu rauchen, da scheint der Kopf
am klarsten.«
»Ich habe den Haftbefehl für Páll erhalten. Damit haben wir
ihn die nächsten vierundzwanzig Stunden. Somit tötet er in
dieser Zeit seine Frau nicht.«
Ich nickte.
»Gut. Du machst weiter, ich muss für einen Augenblick weg.«
Baldur tippte mich an.
»Na, weiß meine Kollegin schon, wer der Mörder ist?«
Ich seufzte nur.
»Vielleicht, ich mache nur einen kurzen Besuch.«
Mir war komisch zumute, als ich vom Polizeirevier losfuhr.
Ich wusste, dass dieser Fall aufgrund seiner Abscheulichkeit
einer der unvergesslichen würde. Wir waren an vieles gewöhnt,
und ich hatte schon so manches gesehen. Morde waren zwar
kein tägliches Brot in Island, aber dennoch zu zahlreich. Auch
hatten wir die Leute oft fürchterlich verstümmelt zu Gesicht
bekommen. Ich erinnerte mich an einen Mann, der versucht
hatte, seine Frau anzuzünden, an Leichen, die lange Zeit gelegen
211
hatten und verwest waren, bevor sie gefunden worden waren, an
einen Mann, den wir von der Straße abspachteln mussten,
nachdem ein Trailer ihn überfahren hatte. Doch ich hatte noch
nie etwas gesehen, das diesem gleichkam.
Ich war in die Straße gekommen, wo der Mord verübt worden
war, und etwas bedrückte mich. Vielleicht war es verrückt von
mir, allein zu fahren, doch ich hatte diesen Entschluss nun
einmal gefasst. Ich musste es so machen. Ich betrachtete das
Haus, das jetzt mit einem gelben Band der Polizei abgesperrt
war. Doch diesmal führte mein Weg nicht dorthin. Ich hielt das
Auto an, stellte den Motor ab und stieg aus.
Es herrschte herrliches Wetter, und ich dachte darüber nach,
wie es möglich gewesen war, eine Tat wie die der
vorausgegangenen Nacht auszuführen. Jetzt war alles so
friedlich in dieser kleinen Straße, die Vögel sangen in den
Bäumen, vereinzelte Blätter fielen herab. Der Herbst stand
bevor, doch über allem lag eine unbeschreibliche Schönheit.
Ich schaute mir das Haus an, das ich besuchen wollte. Ein
kleines nettes, blau gestrichenes Wellblechhaus, mit einem
schönen Garten rundherum. Man sah es ihm nicht an, dass sich
darin das Böse verbarg. Ich ging an die Tür und läutete. Nach
einer Weile öffnete Alma. Sie schien überhaupt nicht erstaunt
darüber zu sein, mich zu sehen. Sie war totenblass, doch viel
besonnener als bei unserem letzten Kontakt. Es war
offensichtlich, dass sie gerade aus der Dusche kam. Das Haar
war noch nass und stand in alle Richtungen, sie hatte sich andere
Kleidung angezogen. Sie bat mich herein.
Wir kamen in eine kleine holzvertäfelte Küche mit niedlichen
Figuren im Fenster. Drinnen alles blitzblank, es war offenbar,
dass Alma eine gute Hausfrau war. Wir nahmen beide am
Küchentisch Platz, sie schob mir einen Aschenbecher und eine
Kaffeetasse hin, doch mir war jetzt nicht nach Kaffee. Eine
212
lange Zeit über sagte keine von beiden ein Wort. Schließlich
raffte ich mich auf.
»Sie wussten, dass ich kommen würde.«
Sie nickte.
»Haben Sie ihn ermordet?«
Wiederholt nickte sie, und ich fand, dass sie noch mehr
erblasste.
»Sie müssen ihn gehasst haben.«
»Ich hasse mich.«
»Wollen Sie mir erzählen, was passiert ist?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Nein, es reicht für Sie, dass ich den Mord gestehe.«
Einen Augenblick lang sah sie mich feindselig an, doch dann
entspannte sie sich.
»Ich hatte vor, Páll dafür im Gefängnis schmoren zu lassen,
doch die Rechnung geht wohl nicht auf.«
»Nein.«
»Woher wussten Sie, dass ich es war?«
»Außer einer Geliebten ist niemand imstande, einen Mann
dazu zu bewegen, sich ans Bett festbinden und knebeln zu
lassen. Falls Páll es getan hätte, so hätte es Spuren von einem
Handgemenge geben müssen, von irgendetwas, doch es gab
nichts. Das war die einzig denkbare Erklärung.«
Alma schaute in die Luft.
»Ich habe mich nur danach gesehnt, frei zu sein. Die beiden
loszuwerden.«
»Hatten Sie den Mord geplant?«
Sie zuckte mit den Achseln.
»Ja, ich hatte ihn bloß noch nicht ausgeführt. Allerdings hatte
ich nicht vor, ihn zu quälen, aber das ist nun einmal geschehen.«
213
Mir ging es nicht gut. Vor meinem inneren Auge schwebte das
Bild vom ersten Anblick. Der Kopf ohne Augen, die
abgeschnittenen Genitalien und das Blut, das sich überall
befand.
Alma zündete sich eine weitere Zigarette an, ich sah, dass ihre
Finger ein wenig zitterten. Es war unglaublich, dass diese
feinen, wohlgepflegten Hände diese Tat begangen haben sollten.
»Was ist mit der Mordwaffe?«
Sie erhob sich, und ich folgte ihr ins Badezimmer, das
ziemlich klein war. An der einen Wand hingen zwei Schränke,
einer für sie und einer für ihn. Es befanden sich Bilder von
Männern und Frauen an den Türen. Sie öffnete den Schrank, der
für den Mann vorgesehen war, und wies mich auf ein Fach mit
Handtüchern hin.
»Ich hatte vor, euch dies bei Páll finden zu lassen. Er ist ein
teuflisches Vieh und hätte es verdient, irgendwo zu verrotten.«
Sie nahm ein Werkzeug mit einer scharfen Spitze heraus, von
dem ich nicht wusste, wozu es dienen sollte. Sowohl an dem
Gegenstand wie an dem Handtuch befand sich geronnenes Blut.
Ich nahm beides entgegen und legte es in eine Plastiktüte. Alma
kicherte.
»Das wird verwendet, um Reifen zu schneiden, es ist
ungemein scharf.«
Mir hatte es die Sprache verschlagen. Die Frau musste schwer
gestört sein, es war am besten für mich, sie baldmöglichst aufs
Polizeirevier zu bringen.
»Wie kam es, dass Sie Ihre Meinung geändert haben?«
Sie zuckte mit den Achseln.
»Ach, halt so. Es ist ganz unmöglich. Sie hätten doch niemals
aufgehört, in meinem Fall zu ermitteln, ich habe das gespürt.
Zum Teufel, es ist mir außerdem völlig gleich, ich werde die
beiden auch so los.«
214
»Komm, wir gehen.«
Wir gingen zusammen ins sonnige Wetter. Alma nahm
schweigend in meinem Auto Platz und legte den Sicherheitsgurt
an. Sie wirkte ziemlich entspannt, ich ging daher nicht davon
aus, dass sie Widerstand leisten würde. Deshalb beschloss ich,
ihr keine Handschellen anzulegen. Es war stets das Beste, wenn
die Leute freiwillig mitkamen. Außerdem würde ihr ein solches
Benehmen vor Gericht zugute kommen, was sie ja gebrauchen
konnte, denn sie besaß nicht gerade viel zu ihrer Entlastung.
Ich fuhr ab. Es herrschte wenig Verkehr, das Wetter war
herrlich, und das, was man sehen konnte, war so unschuldig und
unbedarft. Kinder beim Spiel, ein Herr auf einem Spaziergang
mit seinem Hund, alte Frauen auf einer Bank sitzend, kichernde
Jugendliche. Gewöhnlicher Alltag in Reykjavik, gerade das, von
dem ich fand, dass es die Stadt so faszinierend machte. Doch
was war mit mir und Alma? Es hatte nicht den Anschein, dass
ich soeben eine rücksichtslose Mörderin aufs Polizeirevier
brächte.
Wir sahen eher nach zwei Freundinnen aus, die außer Haus
gingen, um einzukaufen. Ich seufzte. Es war sicherlich nicht
immer alles so, wie es den Anschein hatte.
»Was geschieht mit mir?«
Ich fuhr zusammen und sah Alma an.
»Ich weiß es nicht. Vorerst begeben Sie sich zur
Protokollaufnahme und kommen dann in Untersuchungshaft.
Darauf, davon gehe ich jedenfalls aus, erfolgt die
Haftfähigkeitsuntersuchung, und anschließend kommen Sie vor
Gericht, falls Sie daraus heil herauskommen.«
Sie lachte kalt.
»Heil, wer ist schon heil?«
»Ich weiß es nicht.«
Ich war froh, als ich da war. Ich empfand es als bedrückend,
215
mit der Frau zusammen zu sein. In meinem Geist befand sich
ein festes Bild der übel zugerichteten Leiche. Ein Bild, das man
nur allmählich vergessen würde. Ich verstand es nicht. Schon
wollte ich fragen, wie warst du nur dazu imstande, das zu tun,
doch ich durfte es nicht. Es war nicht meine Sache zu urteilen,
ich sollte den Fall lediglich aufklären, und nun endete meine
Aufgabe bald. Das Team von der Spurensicherung würde
weitere Untersuchungen in ihrer Wohnung vornehmen, ihre
Aussage würde zu Protokoll genommen werden. Dieser
Mordfall war zu einfach, als dass es möglich wäre ihn zu
vermasseln. Außerdem wusste ich, dass sie die Wahrheit sagte.
Sie war keine Mitwisserin. Sie hatte diesen Mord begangen.
Als wir auf die Wache gingen, schien Alma noch immer ruhig
und besonnen zu sein. Baldur kam mir entgegen, in seinem
Gesicht stand eine Frage geschrieben. Ich nickte.
»Sie hat gestanden.«
Ich öffnete die Zellentür. Páll saß mit den Händen im Schoß
auf dem Bett. Ich konnte nicht anders, als ihn zu bemitleiden.
Dieser Rohling, der zweifellos vieles auf dem Gewissen hatte,
war trotzdem bemitleidenswert. Er blickte mich an, doch der
Gesichtsausdruck sagte nichts.
»Sie können gehen.«
»Wo ist Alma?«
Ich sah ihm an, dass er es die ganze Zeit gewusst hatte.
»Warum haben Sie mir heute nichts gesagt?«
»Sie haben mir nicht die richtigen Fragen gestellt. Sie haben
gefragt, ob ich den Mann ermordet hätte, nicht, ob ich wüsste,
wer es getan hat. Sie haben gefragt, ob ich heute Nacht zu Hause
gewesen sei, Sie haben mich nicht nach ihr befragt.«
Ich stöhnte.
»Sie hat gestanden.«
»Meine arme Alma.«
216
Er ging an mir vorbei, und ich starrte ihm nach, während er die
Polizeistation verließ. Ich verstand ihn nicht. Ich spürte, dass die
Erschöpfung mich erfasste, die überwältigende Müdigkeit, wenn
etwas Übles passiert ist und nichts es zu ändern vermag. Dieser
Fall war zwar abgeschlossen, doch mir ging es dennoch
schlecht. Ich verstand die Grausamkeit nicht, verstand nicht, wie
das Böse die Oberhand im Leben der Menschen gewinnen
konnte. Verstand nicht, warum die Welt so grausam war. Es gab
so vieles, was ich in dieser Welt nicht verstehen konnte und
auch nie verstehen würde.
217
Die Frau, die unsichtbar wurde
Unni Nielsen
Während die Dunkelheit aufsteigt, merkt sie, dass es ihr kalt den
Rücken herunterläuft, trotz der Hitze. Die Dunkelheit kommt
hier viel zu schnell. Und die Nacht ist viel zu schwarz.
Undurchdringlich steht die Nacht hinter dem Lichtkegel, stumm,
bedrohlich, wie ein ruhendes Raubtier. Sie hat es nie geschafft,
sich daran zu gewöhnen. Sie stammt aus einem Land mit
blonden Nächten, in dem die Dämmerung langsam kommt.
Anne hält das Glas fester. Es werden jetzt immer ein paar Gläser
zu viel.
Um diese Zeit sind fast keine Leute in der Bar. All jene, die
hier vor Mittag reinschauten, sind schon nach Hause gegangen.
Die anderen, die die ganze Nacht zusammensitzen mit ihrem
Kartenspiel und den Würfeln, strömen erst später langsam ein.
Die Nachtmenschen, die irgendwo auf die Dunkelheit warten.
Bald werden sie kommen und Anne mit ihren Stimmen und
Bewegungen umschlingen.
Sie sitzt ganz hinten in der Ecke. Dort sitzt sie immer, möglichst
weit weg vom Grammofon. Es ist vielleicht die letzte Bar auf
der ganzen Welt mit einem Kurbelgrammofon. Alles braucht
seine Zeit in Afrika, alles bleibt noch lange erhalten, selbst wenn
es andernorts längst vorbei ist. Sie wünschte, das Grammofon
würde aufhören, diese idiotische Musik auszuspucken. Doch das
tut es nicht. Yeboa hinter der Bar stellt es selbst an, wenn
niemand anderes es tut.
»Stay with me till morning comes.«
218
Der Mann auf dem Barhocker wirkt angespannt. Seine Finger
sind dauernd in Bewegung. Jetzt fragt er, ob Yeboa erklären
könne, wie die Musik in den Grammofonkasten gekommen sei.
Yeboa lächelt. »Es ist wohl eine Kraft, die kommt. Vielleicht
liegt sie in meinen Händen, und wenn ich kurble, kommt die
Musik raus.«
Der Mann auf dem Barhocker hat unwahrscheinlich helle
Augen, blau, fast farblos. Wenn ein Kind mit solchen Augen in
den Dörfern geboren würde, denkt Yeboa, hätte es sicher nicht
leben dürfen. Die Menschen hätten Angst vor ihm gehabt. Der
Mann mit den hellen Augen ist der Chef der Wachmannschaft
der Holzgesellschaft. Einmal schlug er einen Einbrecher nieder,
ohne auch nur die Hände zu ballen. Die Leute erzählen, er sei
Söldner in Ostafrika gewesen.
Anne dreht und dreht das Glas in ihren Händen. Der Mann auf
dem Barhocker hat sich zu ihr umgedreht. Ihr läuft es wieder
kalt den Rücken herunter. Etwas ist mit seinen Augen. Sie
schaut auf ihr Glas, versucht, jeden Kontakt zu vermeiden. Der
Mann passt hier nicht her, das wird es sein. Aber sie kamen aus
demselben Land, ewig lange ist es her, ein Land, in dem die
Dunkelheit weniger angsteinflößend ist als hier. Da sie um jeden
Preis nicht an das Land erinnert werden möchte, hat sie
versucht, ihm aus dem Weg zu gehen, aber man kann nirgendwo
anders hingehen als hierher. Warum kommen nicht bald mehr
Leute? Anne sieht auf die Uhr. Es dauert noch viele Stunden, bis
sie zurück ins leere Haus gehen kann. Draußen wartet der
Chauffeur, schlafend, im Landrover. Sie kann sich also so
betrinken wie sie möchte. Der Chauffeur wird sie einsammeln
und nach Hause verfrachten, heute Abend wie an allen anderen
Abenden. Bald, nach noch einigen Drinks, wird die Schwere
leichter werden, die die Dunkelheit zu etwas Dichtem,
Lähmendem um ihren Körper presst. Dann kann sie heim in das
leere Haus gehen. In zwei Tagen kommt Jón aus dem
Landesinneren zurück. Die meiste Zeit ihres Lebens verbringt
219
sie damit zu warten, dass Jón nach Hause kommt. Bevor die
Kinder zurück nach Europa reisen mussten, um eine Ausbildung
zu machen, war es leichter. Jetzt kann sie auch mit ihnen nicht
mehr richtig reden. Selbst musste sie nie eine Ausbildung
machen. Sie winkt nach Yeboa. Er kommt mit einem doppelten
Whiskey, bleibt an ihrem Tisch stehen.
Der Mann auf dem Barhocker wird langsam betrunken. Er
wirkt heute nicht ganz wie sonst, und das macht ihr Sorgen, sitzt
wie eine kleine, murrende Unruhe im Zwerchfell. Sie macht sich
um zu vieles Sorgen, ja das tut sie. Vielleicht langweilt auch er
sich nur. Sie nimmt noch einen Schluck Whiskey.
»Worauf wartest du, Yeboa?«
Er tut so, als ob er sie nicht verstünde.
»Ich warte auf den Regen, Ma’am. Alle auf dem Land warten
jetzt auf den Regen.«
»Das habe ich nicht gemeint, das verstehst du doch wohl?«
»Selbstverständlich, Ma’am. Sie haben vergessen zu bezahlen.
Ich dachte nicht, dass ich Sie daran erinnern müsste.«
Immer dieses ›Ma’am‹, jetzt etwas deutlicher, um einen
Abstand zu markieren. Sie will es nicht, aber dennoch hat sie
plötzlich Tränen in den Augen. Yeboa macht einen kleinen
bedauernden Schnalzlaut mit der Zunge, genervt, aber
gleichzeitig doch sanft.
»Wenn Sie warten möchten«, sagt er leise, »heute ist
Freitagabend, da wird es spät, bis ich hier fertig werde. Aber Sie
können danach bei mir schlafen. Versuchen Sie es nicht bei dem
mit den weißen Augen. Und trinken Sie jetzt nicht mehr
Whiskey, das ist nicht gut für Sie.«
»Er hat einen Namen.«
»Wer, Ma’am?«
»Er mit den hellen Augen. Er heißt Jørgen.«
»Jørgen?« Yeboa probiert das merkwürdige Wort, lacht
220
freundlich, dreht sich um und geht.
Anne sitzt ganz still, verblasst langsam, bis sie fast eins mit
der Wand wird. Vierzig Jahre Übung hat sie im Stillsitzen und
langsamen Verblassen, bis sie eins mit der Wand wird. Eines
schönen Tages wird es geschehen, sie wird in ihr verschwinden,
und nach einer langen Zeit würde der eine oder andere daran
denken, dass sie dort gesessen hatte und sich fragen, was aus ihr
geworden war.
Anne lacht plötzlich laut, mitten in die Stille hinein. Die zwei
an der Bar, Jørgen und Yeboa, sehen erschrocken zu ihr hin. Sie
fühlt sich erleichtert. Eigentlich ist es ganz leicht. Genau dafür
bezahlt sie Yeboa manchmal, um sichtbar zu werden, sich
lebendig zu fühlen, wenn auch nur für ein kleines Stückchen
Zeit, bis sie wieder verschwindet. Es saust schwach in ihrem
Kopf. Die Schwere beginnt leichter zu werden.
Die beiden haben zusammen an der Bar gestanden und leise
miteinander gesprochen. Anne hat gedankenverloren dagesessen
und vergessen, wo sie war, vergessen, dass sie überhaupt
anwesend waren. Das Grammofon blieb still, Gott sei Dank. Das
leise Gemurmel der Stimmen hat die Unruhe im Zwerchfell
gedämpft, menschliche Stimmen, etwas zu leise, etwas zu
undeutlich, als dass sie die Worte hätte verstehen können. Jetzt
sehen sie sie an, die Gesichter sind merkwürdig glatt, wie
Masken. Vielleicht ist es der Whiskey, sie kann sie irgendwie
nicht ganz deutlich sehen. Jetzt geht Yeboa um die Bar und setzt
die Musik wieder in Gang: »Stay with me till morning comes.«
»Zum Teufel«, sagt Jørgen, während sich der Raum mit
Geräuschen füllt. »Ich hatte vergessen, dass sie dort sitzt. Sie
kann jedes Wort gehört haben, das wir gesagt haben. Was
machen wir jetzt?«
Yeboa winkt ab und gibt ein paar bedauernde Klicklaute mit
221
der Zunge von sich.
Es ist wohl nicht notwendig zu antworten. Jørgen muss doch
wissen, was zu tun ist, oder?
Ihre Schultern sind etwas nach vorn gebeugt, und sie starrt auf
die Tischplatte. Deshalb bemerkt sie Jørgen nicht, als er den
Boden überquert. Sie bemerkt überhaupt nichts. Der Schlag
gegen ihren Hals ist nicht mal besonders kräftig. Das ist auch
nicht notwendig. Er hat es schon viele Male zuvor gemacht,
weiß genau, wie es gemacht werden muss. Durch ihren Körper
gehen einige Zuckungen, bevor sie wie eine Schlenkerpuppe
zusammenfällt.
»Ich muss dein Auto nehmen«, sagt Jørgen, »die Waffenkisten
liegen ja schon im Pajero.«
Yeboa zuckt mit den Schultern. Jeden Moment können jetzt
Leute kommen.
Eben war es noch ein lebloser Körper, jetzt ist es nur noch ein
leerer Stuhl. Die Frau, die hier sitzen sollte, bis er Feierabend
hätte, existiert nicht länger, ist nur eine Schlenkerpuppe, mit
einem Kopf, der in einem merkwürdigen Winkel hin und her
schwang, als Jørgen sie hochhob. Yeboa hört draußen Stimmen
und beeilt sich, wieder hinter die Bar zu kommen. Alles ist wie
sonst, bis auf den leeren Stuhl. Ihn wird man nicht verdächtigen.
Das Einzige, das er jetzt tun muss, ist warten. Jørgen wird mit
seinem Landrover zurückkommen, sich in den Pajero setzen und
die Waffenkisten zum Treffpunkt fahren. Er wird sich nur ein
wenig verspäten. Das wird nichts ausmachen. In diesem Land
kann »twelve o’clock sharp« alles zwischen Mitternacht und
Sonnenaufgang bedeuten. Er muss nicht weiter darüber
nachdenken. Es ist nicht seine Schuld, dass Leute hierher
kommen und zu viel reden. Er war es ja nicht, der zugeschlagen
hat. Er will nichts anderes als hinter der Bar stehen und sich um
seine Angelegenheiten kümmern.
222
Doktor Peabody ist immer zuerst an der Bar. Genau um neun
Uhr nimmt er den ersten Gin und Bitter zu sich. Nicht vorher,
aber auch nicht einen Augenblick später. Vier Tage später auf
dem Polizeirevier wird er ganz überzeugt sagen, dass es neun
Uhr war. Ob Frau Hansen auch dort saß? Das glaube er schon.
Das tue sie doch immer. Nein, er könne nicht sagen, dass er
bemerkt habe, wann sie gegangen sei. Sie muss sich verlaufen
haben, auf den Steg gekommen sein, gestolpert und in den Fluss
gefallen, die Ärmste. Es ist ja in diesem Land so dunkel in der
Nacht. Ach ja, es sei ja nicht so, dass er etwas Schlechtes über
einen Menschen sagen wolle, jeder habe mit dem Seinen zu tun,
das sei immer seine Meinung gewesen. Aber es sei ja nun nicht
gerade ein Geheimnis, dass sie … tja … etwas zu tief ins Glas
schaute?
»Alle Menschen haben sie ja gesehen«, sagte Yeboa mild. »Ja,
ich habe ihr Drinks serviert, Whiskey, das war es, was sie
trank.« Ob sie besonders betrunken an dem Abend gewesen sei?
Das glaube er nicht. »Sie muss ja noch aufrecht gegangen sein,
da sie sich doch verlaufen hat, meine ich. Sie verstehen,
manchmal muss ich ihren Chauffeur bitten, reinzukommen und
sie zu holen, um es mal zu sagen, wie es ist. So ein Abend war
es nicht.
Übrigens, warum fragen Sie nicht die anderen? Die Bar war ja
voll von Leuten. Ich hatte viel zu tun. Es ist nicht so leicht, alles
mitzubekommen.«
»Ich habe bereits die anderen befragt«, sagt der Polizeibeamte.
»Sie erinnern sich nicht. Sie haben nicht bemerkt, wann sie ging.
Es gibt nicht mal einen, der ganz sicher sagen kann, ob sie
genau an diesem Abend überhaupt da war. Und gestern und
vorgestern, sie wussten nicht mal, dass sie weg war. Alle
glaubten, dass sie da war, weil sie doch immer da ist, sagen sie.
223
Sie sind ganz erschrocken, wenn ich ihnen erzähle, dass sie
letzten Freitag gestorben ist.«
»Aber ihr Chauffeur?«, fragt Yeboa.
»Ja, der erinnert sich in der Tat, dass er sie am Freitag zum
Club gefahren hat«, antwortet der Polizeibeamte trocken. »Aber
nicht, sie nach Hause gefahren zu haben. Er hat ein Nickerchen
gemacht, während er wartete, sagt er, und als er aufwachte, war
sie weg.«
»Das machen sie immer.«
»Was denn?«
»Ein Nickerchen, solange sie warten, die Chauffeure, draußen
in der Auffahrt.«
»Ja klar. Der Chauffeur glaubt, sie sei mit einem anderen nach
Hause gegangen. Ja, das sei auch schon früher passiert, leider,
dass sie ein paar Tage weggeblieben sei, der Mann sei ja so viel
auf Reisen. Ich sage immer, wenn alle Menschen eine gute,
altmodische Moral wie früher hätten. Na ja, das ist doch ein
Beispiel, wie es gehen kann.«
Yeboa runzelt die Stirn. »Sie war ja ganz allein im leeren
Haus«, sagt er mitfühlend. »Es kann nicht gut sein für einen
Menschen, so viel allein zu sein. Ich verstehe die Leute aus
Europa nicht, Sir, sie kümmern sich überhaupt nicht
umeinander. Das ist keine schöne Geschichte, ganz Ihrer
Meinung. Aber gibt es da mehr zu sagen?«
»Es gibt zu viele Dinge, die nicht stimmen«, antwortet der
Polizeibeamte geduldig. »Zuerst einmal ist sie nicht ertrunken,
sie brach sich das Genick und war tot, bevor sie ins Wasser
gefallen ist. Und dann hatte sie an dem Tag eine Menge Geld
abgehoben. Als wir sie fanden, war nur ein bisschen Kleingeld
in ihrer Tasche. Sie hielt immer noch die Tasche fest, als wir sie
fanden.«
»Das machte sie immer, das war eine Angewohnheit von ihr.«
224
»Was denn?«
»Sie saß immer da und klammerte sich an ihre Handtasche.«
Yeboa kann sie plötzlich wieder sehen, nicht den toten Körper,
sondern sie, wie sie sich an ihre Handtasche klammert. Ganz
deutlich sieht er sie. Das hat er eigentlich zuvor nie richtig getan
»Und dann ist da noch der Ring«, sagt der Polizeibeamte.
»Der Ring?«
»Er war ziemlich wertvoll, Gold mit Diamanten, er tauchte im
Pfandhaus unten in der Stadt auf. Ihr Mann hat ihn
wiedererkannt.«
Yeboa erinnert sich auch an den Ring, es kam vor, dass sie ihn
drehte und wendete. Es ist ganz merkwürdig, wie deutlich er den
Ring sehen kann. Yeboa versteht nicht, woher die Wut kommt.
Sie kommt ganz plötzlich, steigt und steigt, rauscht in den
Ohren, stärker und stärker, drängt. Er umgreift die Kanten der
Bar mit aller Kraft. Die Wut ist jetzt Schmerz, reiner, weißer,
stechender Schmerz genau unter der Stirnhaut. Sie drängt und
will raus.
»Ich verstehe nicht, dass er das Geld und den Ring nehmen
musste«, sagt Yeboa. »Aber das sage ich ja, wenn ein Kind mit
solchen Augen in den Dörfern geboren wäre, hätten sie es
niemals leben lassen.«
»Was um alles in der Welt redest du da?«, fragt der
Polizeibeamte.
»Er hätte nicht das Geld und ihren Ring nehmen sollen. Es
reicht doch, dass er sie erschlagen hat?«
»Grundgütiger, von wem sprichst du? Sein Name, kennst du
ihn?«
»O ja!«, bricht es aus Yeboa raus. »Sie hat ihn mir gesagt, Sir.
Er hat einen Namen, sagte sie. Jørgen heißt er. Er ist der Chef
der Wachmannschaft der Holzgesellschaft. Er hat viel an dem
Abend geredet. Und dann war es so, als ob sie verschwunden
225
sei, Sir, für eine ganze Weile. Wir bemerkten sie erst wieder, als
sie anfing, in ihrer Ecke zu lachen. Ich hatte nicht vor, das
jemandem zu erzählen. Ich habe genug mit meinen Sachen zu
tun, Sir. Aber er hätte nicht das Geld und den Ring nehmen
sollen. Sie nahmen alles, Sir. Sie nahmen unsere Bäume, sogar
den Namen von dem Dorf haben sie genommen. Leute, die
Namen und Bäume stehlen und das, was die Toten mit sich
nehmen sollen, was sind das nur für Menschen, können Sie mir
das sagen, Sir? Ich erinnere mich gut an den Ring. Ich bin mir
sicher, sie hätte ihn gern behalten. Das ist alles, Sir. Jetzt habe
ich nichts mehr zu sagen.«
Yeboa wendet sich vom Polizeibeamten ab, streicht mit den
Händen fast liebevoll über den Grammofonkasten und kurbelt:
»Stay with me till morning comes.«
226
Das Letzte, was sie taten
Veums erster Fall
Gunnar Staalesen
1
Manche Fälle löst man an einem Tag. Für andere braucht man
fünfundzwanzig Jahre. Mein allererster Fall gehörte zu
Letzteren. Es war das Jahr, in dem Saigon kapitulierte und es in
Norwegen verboten wurde, Reklame für Alkohol und
Tabakwaren zu machen. Die UNO hatte das Jahr zum
internationalen Jahr der Frau erklärt, und es gab wenige Männer,
die sich ohne Gesundheitsschuhe und Samthosen auf die Straße
trauten. The Marlborough Man
war am Ende, in jeglicher
Hinsicht.
Ich hatte alles, was ein Privatdetektiv brauchte, der etwas auf
sich hielt. Ich war dreiunddreißig, glatt rasiert, einsachtzig groß
und achtundsechzig Kilo schwer. Mein Haar war dunkelblond
und gerade so lang, dass ich ein paar potenzielle Kunden damit
abschreckte. Ich ging zwei- bis dreimal die Woche joggen, und
meine Kondition ließ nichts zu wünschen übrig. Ich war gesund
und munter und bereit für neue Aufgaben. Das Problem war nur,
dass niemand von mir wusste. Es war ein wechselhaftes Jahr
gewesen, sogar für meine Verhältnisse. Meine Karriere beim
Jugendamt hatte ein abruptes Ende genommen. Im Mai hatte ich
einen Dealer fast totgeprügelt, nachdem ich ihn im Bett mit
einer meiner jüngsten Klientinnen gefunden hatte. Im Juni
wurde ich vor meinen Abteilungsleiter Johnsen zitiert, der mir
mit trauriger Mine vorgeschlagen hatte, ich solle doch eine
Beurlaubung beantragen. »Ich glaube, du brauchst das, Varg«,
227
hatte er gesagt.
»Einen richtig schönen, langen Urlaub …« Nachdem ich ein
paar Tage nachgedacht hatte, reichte ich meine Kündigung ein.
Niemand protestierte. So ist das, wenn man in seinem Beruf
hohen Respekt genießt.
Im Laufe des Sommers bekam ich Büroräume im Strandkaien
angeboten. Ich hatte dem Hausbesitzer einmal einen so großen
Dienst erwiesen, dass er sich immer noch an meinen Namen
erinnerte. Wenn ich den Job als Hausmeister hätte haben wollen,
hätte ich ihn gleich dazubekommen, aber ich lehnte dankend ab.
Ich hatte andere Pläne für mein Leben.
In den letzten Julitagen renovierte ich das Büro. Im August
meldete ich die Firma als Einmannunternehmen an und setzte
eine kleine Annonce in die billigste der vier Tageszeitungen der
Stadt. Den Telefonbucheintrag schaffte ich erst im Jahr darauf,
und die Annonce hatten nur wenige registriert. Dass es still war
im Büro, war also nicht verwunderlich.
Ich verbrachte meine Zeit damit, über das Leben
nachzudenken, und ich hatte genug zu grübeln. Es war nicht
einmal eine Woche her, dass ich meine Mutter beerdigt hatte.
Noch stärker als vorher hatte ich das Gefühl, mich auf einer
einsamen Insel zu befinden, von allem und allen verlassen, ohne
dass mich jemand gefragt hatte, welche drei Lieblingsbücher ich
mitnehmen wollte. Und damit nicht genug. Es war schon ein
Jahr her, seit meine Ehe mit Beate geschieden wurde. Sie hatte
einen neuen Mann gefunden, und Thomas hatte einen Stiefvater
bekommen. Ich selbst hatte auf ein neues, verlockendes Leben
draußen unter den Wölfinnen gehofft, aber bis jetzt schnappte
noch niemand gierig nach meinen Hosenbeinen, abgesehen von
mindestens einem Kreditor.
Es war nicht zu verleugnen: Ich befand mich in einer Art
emotionalem Niemandsland, mitten zwischen den
Schützengräben, ohne dass jemand auf mich zielte. Immerhin
228
war ja die Sicht auch schlecht, in diesem dunkelsten aller
September. Noch wussten wir es nicht, aber die
Pessimistischsten unter uns ahnten es schon: Am Ende des
Monats wartete der damalige Niederschlagsrekord. Über längere
Zeiträume klatschte der Regen so heftig gegen meine
Fensterscheiben, dass ich eher das Gefühl hatte, ich befände
mich in einem U-Boot als im dritten Stock über dem
Strandkaien. Wenn es so weiterginge, würden den
Markthändlern noch Kiemen wachsen. Mein allererster Klient
sah denn auch aus, als suche er eher Schutz vor dem Regen als
einen Privatdetektiv. Es platschte draußen im Wartezimmer. Ich
hörte, wie er sich kräftig räusperte, bevor er hart an den
Türrahmen klopfte und den Kopf durch die Öffnung steckte. Ein
Ertrunkener hätte kaum lustiger aussehen können. Er war
barhäuptig durch den Regen gegangen, trug einen
verschlissenen Mantel und weite graue Hosen, die ihre besseren
Tage damals auf dem Ständer bei der Heilsarmee gesehen
hatten, wo er sie für einen Heiermann gekauft hatte. Das dunkle
Haar klebte an seiner Kopfhaut, und er starrte mich mürrisch an,
als sei das Wetter meine Schuld. »V. Veum, sind Sie das?«
»So steht es auf dem Schild«, sagte ich, ohne große
Hoffnungen in das Gespräch zu setzen.
»Und Sie – finden Sachen raus und so?«
»So sollte es sein, ja.«
»Dann müssen Se mir erst mal erzählen … Sind Sie schon mal
um hunderttausend beschissen worden?«
»Ich habe niemals auch nur annähernd hunderttausend
besessen.«
»Na, seien Se froh. Is die reinste Hölle.«
»Aber Sie – hatten also das Vergnügen?«
»Ja, aber hat nich lang gedauert. Weder das Vergnügen noch
die Hunderttausend. Wir haben gefeiert, und weg war er, der
Olai und das ganze Vermögen.« Er kniff ein Auge zu und starrte
229
mich mit dem anderen an, als wolle er mich schärfer stellen.
»Ob Se den wohl finden können? Den Olai?«
»Vielleicht sollten wir noch mal am Anfang anfangen?« Ich
nickte zum Klientenstuhl, den er somit die Ehre hatte,
einzuweihen.
»Wollen Sie sich nicht setzen?«
Er betrachtete den Stuhl misstrauisch, schielte dann zu mir
herüber und streckte seine Hand aus. »William Larsen, aber se
nennen mich bloß das Auge, hab nie begriffen, wieso.«
»Ach nein? Aber nehmen Sie doch Platz. Eine Tasse Kaffee?«
»Das wär gut!«
Ich stand auf, füllte den Wasserkocher und stöpselte dann den
Stecker ein. »Ich werde Ihnen einen richtigen Kaffee machen,
zur Feier des Tages.«
»Feier?«
»Ja, aber vergessen Sie’s. Fangen Sie lieber an zu erzählen.«
»Ich kenn ihn schon, seit wir zur See gefahren sind. In den
Osten, Australien, die Staaten – you name it.«
»Ich bin auch mal zur See gefahren.«
»Nee, echt?«
»Wie heißt dieser Olai weiter?«
»Risøy, Olai Risøy.«
Ich notierte; wenn vielleicht auch nur, um Eindruck zu
machen.
»Dann sind wir beide an Land gegangen. Das heißt, der Olai
ist irgendwie immer noch auf See, als Maschinist auf der Askøy-
Fähre. Wenn er frei hat, nimmt er Handwerksjobs an. Gießt
Estriche, macht Tischlerarbeiten … Is vielseitig, der Olai.«
»Und Sie selbst?«
»Ich such mir eher zufällige Jobs, am Kai und so, wissen Se.
Frag mich langsam, ob ich nich wieder rausfahren soll. Aber
230
okay. Jetzt geht’s los. Der Olai und ich, wir spielen seit Jahren
Lotto zusammen. Jede Woche füllen wir unsere Scheine aus,
nach einem System, das wir selbst entwickelt haben. Wir treffen
uns jeden Montag. Kippen ein paar Halbe und füllen zusammen
die Lottoscheine aus. Im Børsen, hier um die Ecke.«
»Aha.« Er brauchte mir nicht zu erzählen, wo das Børsen war.
Ich hatte da eine Dauerkarte.
»Und jetzt, letzten Samstag, ham wir voll ins Schwarze
getroffen.«
»Zwölf Richtige?«
»Zwölf Richtige mit Sahnehäubchen, kann ich Ihn’ sagen! Der
einzige Zwölfer.«
»Also ein guter Gewinn, was?«
»Aber hallo! Zweihunderttausend! Wie viele
Jahreseinkommen sind das?«
»Tja, fragen Sie mich nicht, dafür brauch ich einen
Rechenschieber.«
»Und die Hälfte davon war meins. Klar, dass wir gefeiert ham,
oder?«
»Klar, hätte ich auch gemacht.«
»Wir ham echt nix ausgelassen.«
»Aha?«
»Sie kennen doch sicher das Lied von Jakob Sande. Wir ham
es oft auf See gesungen, wenn wir inner Bar warn. – Zwei
Bauern, so erzähl’n sich die Leut …«
»… waren nie nüchtern, gestern wie heut. Hab ich schon mal
gehört, ja.«
»Und bei uns kam morgen und übermorgen auch noch dazu.
Und den dritten kann ich voll unterschreiben: Sie wussten nicht
mehr, was geschehen war.«
231
»Aber es heißt im Lied auch: dann gingen sie in den Fjord
baden.«
Wieder starrte er mich an, das eine Auge geschlossen. »Sie
könn’ Ihre Klassiker, Veum. Und der Sande, der war gar nich so
blöd, als er geschrieben hat: Und das war das Letzte, was sie
taten.«
»Vielleicht sollten wir die Literatur mal wieder verlassen und
uns der Wirklichkeit zuwenden … Was ist passiert?«
»Fragen Se mich lieber, was nich passiert is! Was passiert is,
das sollen Sie ja grade für mich rausfinden. Aber was nich
passiert is, is Folgendes. Wir haben uns jede Woche
abgewechselt mit dem Scheine unterschreiben, und diese Woche
gingen sie auf seinen Namen. Das Geld sollte von Norsk
Tipping in Hamar auf sein Konto überwiesen werden, und dann
wollten wir zusammen zur Bank und die Hälfte an mich
überweisen. – Hunderttausend, Veum! Stellen Se sich mal vor!
Ich hab mich gefühlt wie ’n reicher Mann!«
»Das würde ich …«
»Aber dann is er halt verschwunden – hat sich einfach in Luft
aufgelöst.«
Ich beugte mich nach vorn. »Ach, wirklich? Erzählen Sie!«
Er sah mich düster an. »Da is nicht viel mehr zu erzählen. Den
einen Tag war er noch da. Den andern Tag war er
verschwunden. Ich fand es schon irgendwie komisch, dass ich
nix von ihm gehört hab. Und nach ein paar Tagen bin ich dann
zu ihm rausgefahren. Kleine Dachwohnung im Trangesmauet,
draußen in Verftet.«
»Ich weiß, wo das ist.«
»Aber da war er nich. Der Vermieter hatte ihn seit ein paar
Tagen nich mehr gehört, hat er gesagt. Dann hab ich seine
Schwester angerufen. Ja, nich, dass ich se schon mal getroffen
hätte, aber er hat oft von ihr geredet – eben dass er nich fein
232
genug war für sie und den Kerl, mit dem sie verheiratet is,
obwohl der auch nich mehr war als ’n ganz gewöhnlicher
Bankangestellter. – Nee, Olai, hat se gesagt, als würd ich sie
nach ’nem entfernten Verwandten fragen. Den hätt se seit
Weihnachten nich mehr gesehn, da hätten se alle zusammen
gegessen. – Aber ich hab nich aufgegeben. Ich bin in den
Tabakladen, wo wir immer unsere Lottoscheine abgeben, aber
da war er auch nich gewesen, ham se da gesagt. Der hat große
Augen gemacht, sag ich Ihnen, der Mann, der den Laden führt. –
Was sagst du? Habt ihr gewonnen? Wie viel denn? – Und dann
is mir das mit der Kontaktannonce eingefallen.«
»Kontaktannonce?«
»Ja, Sie wissen schon. Als Olai vierzig wurde, das is erst paa
Wochen her, da meinte er, nu wär’s mal Zeit, selber aktiv zu
werden. Also is er zur Zeitung und hat ne Annonce aufgegeben
… Ja, ich hab se sogar ausgeschnitten.«
»Warum das denn?«
»Man weiß ja nie. War vielleicht gut, se zu haben, wenn ich
mal selber so was versuchen wollte. Ich mein … Ich könnte
schon auch gut ne Frau brauchen.«
»Mmh«, stimmte ich ihm zu, ohne persönlich zu werden.
Er steckte die Hand in die Innentasche seiner Jacke und holte
eine alte, schlappe Brieftasche hervor. Mit zitternden Fingern
zog er einen kleinen Zeitungsausschnitt heraus und reichte ihn
mir über den Schreibtisch. »Und geschämt hat er sich auch nich.
Hat es jedem Idioten erzählt, der es hören wollte. Kein Mensch
im Børsen, der nix davon wusste, jedenfalls.«
Ich sah mir die Annonce an. »Aber hat er Antwort
bekommen?«
»Tja, das steht in der Geschichte nich drin.« Er sah düster auf
den kleinen Papierschnipsel in meinen Fingern.
Der Text war nicht lang.
233
S
CHLUSS MIT DER
E
INSAMKEIT
? Ferien im Süden? Mann in den
besten Jahren sucht weibl. Bekanntsch. 25-45. Reisefreudig und
mit Lust auf alles, was das Leben zu bieten hat!
Chiffre Nr. 18910
»Wahrscheinlich hat er genau das getan«, sagte ich. »In den
Süden reisen.«
William Larsen stand abrupt von seinem Stuhl auf und schlug
so heftig mit der Faust auf meinen Schreibtisch, dass sowohl ich
als auch das Telefon einen Satz machten. »Das sag ich Ihn
Veum, wenn der mit meinem Gewinn abgehauen is … Dann
bring ich ihn um!«
2
Veums erster Fall, dachte ich selbstironisch, als ich den
Regenschirm aufspannte, meinen Mantel zuknöpfte und leicht
vornübergebeugt in die Stadt hineinging. Ich fühlte mich wie ein
von Noah Zurückgelassener, der auf dem Kai stehen blieb, als
die Arche mit allen anderen an Bord um Kvarven herum
verschwand. William Larsen hatte mir feierlich einen
ordentlichen Bonus versprochen, wenn ich bloß seinen
Lottokumpel fand, sobald der Gewinn in die richtigen Hände
gekommen wäre. Als ich ihn fragte, warum er mit der
Geschichte nicht zur Polizei gegangen war, hatte er mich nur
verwundert angesehen: »Die Bullen? Was glauben Se denn,
warum ich zu Ihnen komme?« – »Na ja … Ich beklage mich
natürlich nicht, aber es wäre doch vielleicht effektiver.«
»Effektiver?«, hatte er mit Hohn in der Stimme geantwortet,
und mehr Energie hatte ich nicht in die Sache gesteckt.
Ich hatte gefragt, ob er ein Foto von Olai Risøy hatte. Das
234
hatte er nicht, aber er hatte mir eine Art Beschreibung gegeben:
Knapp über vierzig, um die einsachtzig, kräftig gebaut und
dünne blonde Haare. Auf dem kurzen Weg zu der kleinen
Boutique in der Skostredet, wo seine Schwester, Astrid Lunde,
als Verkäuferin arbeitete, kam ich an ungefähr zehn Leuten
vorbei, auf die diese Beschreibung zutraf.
Es war ein Boutique für junge Frauen mit erwachsenen
Scheckheften, oder auch umgekehrt. Aus der Stereoanlage
ertönte ABBA mit ihrer neuesten Landplage »S.O.S.«, als ich
hereinkam, und in gewisser Weise hatte ich vielleicht auch das
Bedürfnis, ein solches Signal auszusenden. Ich hatte mich an
solchen Orten noch nie zu Hause gefühlt; am wenigsten, wenn
ich allein kam.
Die Frau, die lässig hinter der Kasse stand, trug lange,
geblümte Leggins und eine lila Bluse, durch die man deutlich
einen eine Schattierung dunkleren und sehr dekorativen BH
hindurchschimmern sah. Ihr leuchtend rotes, krauses Haar und
der weiße Pfannkuchenteig, mit dem sie ihr Gesicht dekoriert
hatte, waren offenbar ein Versuch, sie jünger aussehen zu
lassen, aber sie konnte mich nicht hinters Licht führen; sie war
mindestens zwei Wochen älter als ich.
»Astrid Lunde?«
Sie sah mich skeptisch an. »Ja?«
»Mein Name ist Veum. Ich stelle ein paar Nachforschungen an
wegen Ihres Bruders.«
»Nachforschungen?«
»Olai Risøy. Sie können bestätigen, dass das Ihr Bruder ist?«
Sie verdrehte die Augen. »Es hat keinen Sinn, es abzustreiten.
Woher kommen Sie? Vom Finanzamt?« Jetzt hörte ich den
kaum erkennbaren Dialekt unter ihrer polierten Sprache; ein
winziges Schleifen der R’s, das sie früher sofort als ehemalige
Inselbewohnerin identifiziert hätte.
235
»Nein, ich … Er soll verschwunden sein, mit einem größeren
Geldbetrag.«
»Einem größeren Geldbetrag? Olai? Der hat doch nie …
Sagen Sie mal, wer sind Sie eigentlich? Kommen Sie von der
Polizei?«
»Nein, nein. Ich bin Privatdetektiv. Olai und ein Kumpel
haben einen größeren Betrag im Lotto gewonnen, und jetzt ist er
verschwunden. Ihr Bruder.«
Sie starrte mich an. Ihr Blick war blau wie das Meer, dort, wo
sie herkam, und wenn man sich nach vorn beugte, konnte man
vielleicht einen kurzen Blick in die Tiefen erhaschen, in die sie
einen vielleicht geführt hätte, hätte man nur eine dickere
Brieftasche gehabt. »Ein Lottogewinn? Wie hoch denn?«
»Ungefähr zweihunderttausend, heißt es.«
»Zweihunderttausend?«
»Sie haben keine Ahnung, wo er sich aufhalten könnte?«
»Nein, ich … Wir haben nicht so viel miteinander zu tun.«
»Zu Hause ist er jedenfalls nicht. Ihre Familie hat nicht
vielleicht einen Hof oder so was?«
»Na ja, Hof …« Sie zögerte, als wolle sie nur ungern verraten,
woher sie kam. »Da ist natürlich das Haus, in dem wir
aufgewachsen sind.«
»Und wo ist das?«
»Bei Kolbeinsvik, wenn Ihnen das was sagt.«
»Ich finde es auf der Karte. Und Ihr Mann? Der hat sicher
auch nichts von ihm gehört, oder?«
»Harald? Ausgeschlossen! Die beiden sprechen völlig
verschiedene Sprachen.«
»Das kann ich mir denken. Er arbeitet bei der Bank,
stimmt’s?«
Der Fjord fror vor meinen Augen zu. »Und was hat das mit
236
dem Ganzen zu tun?«
»Na ja, ich dachte mir … Wenn Ihr Bruder Rat gebraucht
hätte, was er mit diesem überwältigenden Betrag tun sollte, den
er gewonnen hat …«
»Dann glaube ich kaum, dass er Harald um Rat gefragt hätte.«
»Nein?«
»Nicht einmal, wenn es um Leben und Tod gegangen wäre.«
»Na ja … So ernst war es wohl nicht.«
Als ich ging, war ABBA bei einem anderen Song angelangt:
»I do, I do, I do, I do, I do«, sangen sie jetzt, wie um ganz
sicherzugehen, dass wir es auch mitkriegten.
3
Bevor ich nach Austevoll fuhr, klapperte ich die beiden anderen
Orte ab, die William Larsen erwähnt hatte.
Der untere Teil des Trangesmuget hatte seinen Namen »Enge
Gasse« zu Recht. Wenn man mitten auf der Gasse stand, konnte
man problemlos die Hauswände auf beiden Seiten berühren.
Olai Risøys Hauswirt, Fredrik Andersen, sah aus, als habe er
sich der Umgebung angepasst: klein und flink, wie ein Wiesel
auf der Jagd über die Ufersteine. Er war an die Siebzig, hatte
flinke, wache Augen und gerade so viel Sinn für die
unerwarteten Dinge des Lebens, dass er mit Freuden mit mir in
Risøys Wohnung unter dem Dach hinaufstieg, und wenn es nur
war, um zumindest sicherzugehen, dass sein Mieter nicht in aller
Stille verschieden war, ohne seinem Hauswirt davon Mitteilung
zu machen.
»Ich habe seit einer ganzen Woche kein Geräusch mehr von
ihm gehört«, erklärte er.
»Fanden Sie das denn nicht merkwürdig?«
237
»Tja, jetzt, wo Sie es sagen …«
Wir waren auf dem Dachboden angekommen, der ungefähr in
der Mitte unterteilt war.
»Geräumig ist es hier nicht«, sagte Andersen, nachdem er
angeklopft hatte. »Nur dieses Zimmer, und das WC ist da
drüben, im Anbau.« Er zeigte auf eine grüne Tür links von uns.
»Vielleicht sollten wir da auch nachsehen.«
Als auf das Klopfen niemand antwortete, holte er den
Schlüssel heraus, steckte ihn aber nicht ins Schloss, wie um zu
unterstreichen, dass er niemals ohne Aufforderung anderer die
Wohnungen seiner Mieter betreten würde. Ich nickte zur Tür.
»Ja, dann …«
»Ja.« Er fasste Mut und schloss mit widerwilligem
Gesichtsausdruck die Tür auf.
Er hatte Recht, hier war nicht viel Platz. Es dauerte zehn
Sekunden, dann hatten wir festgestellt, dass der Raum leer war.
Das Tageslicht fiel durch ein Fenster in der Dachschräge ins
Zimmer. Der Regen trommelte heftig an die Scheibe, aber kein
Tropfen schien hereinzusickern. Die Einrichtung war einfach:
ein Bett, zwei Stühle und eine Kommode. Das Bett war nicht
gemacht. Auf dem Tisch stand eine Tasse mit einem
eingetrockneten Rest Kaffee, neben der Tasse lag ein offener
Briefumschlag. Die Aufschrift verriet, dass Risøy zumindest
eine Antwort auf seine Annonce bekommen hatte. Chiffre Nr.
18910 stand auf einem maschinengeschriebenen Etikett, wie
man sie sicher bei der Zeitung ausgehändigt bekam.
Ich untersuchte den Umschlag vorsichtig. Er war leer. Den
Inhalt hatte Risøy mitgenommen – wohin auch immer.
Sonst war in dem Zimmer kaum etwas Interessantes zu finden.
Unter dem Bett stand ein roter Plastikkasten mit lauter leeren
Bierflaschen. Auf der Kommode stand ein gerahmtes, leicht
verblasstes Foto von einem dicklichen jungen Mann in dunklem
238
Anzug. Ich zeigte darauf.
»Risøy, vermute ich.«
Andersen beugte sich vor. »Ich denke schon, ja. Vor ziemlich
vielen Jahren.«
»Konfirmationsfoto vermutlich.«
»Aber das Gesicht ist dasselbe. Nicht zu verwechseln.«
Ich versuchte, mir die Gesichtszüge einzuprägen und
fünfundzwanzig Jahre dazuzudenken, aber es hatte keinen
besonderen Ausdruck. Es war ein rundes Mondgesicht, und das
zaghafte Lächeln war verhalten und skeptisch, als sei ihm die
Situation beim Fotografen höchst unangenehm gewesen.
Viel mehr gab das Zimmer nicht her.
Mit dem Raum, den der Hauswirt WC nannte, war es nicht
anders. Die Toilette sah aus, als hätte sie schon viele Mieter
erlebt, und nichts deutete darauf hin, dass sie in den letzten
Monaten sauber gemacht worden war.
Ich sah Andersen an. »Es rauscht sicher in den Rohren, wenn
hier gespült wird, oder?«
»Die reinsten Niagarafälle, junger Mann. Deshalb bin ich so
sicher. Das letzte Mal, dass ich gehört habe, dass er zu Hause
war, das war Sonntagabend, gleich nach der Sportschau. Gleich
danach ist er weggegangen, und danach ist er nicht mehr zu
Hause gewesen, das kann ich fast garantieren.«
»Und das war das Letzte, was sie taten«, murmelte ich.
»Was?«
»Ach, nichts …«
Von Verftet aus war der Weg nicht weit zu dem kleinen
Tabakwarenladen, wo Olai Risøy immer seine Lottoscheine
abgegeben hatte.
Die Frau hinter dem Tresen war von der patenten Sorte; eine
üppige Blondine Mitte dreißig, mit Leuchtfeuern im Blick und
weichen Dünungen unter der Bluse. Durch die offene Tür zum
239
Hinterzimmer konnte ich einen kleinwüchsigen Mann erkennen.
Er saß an einem kleinen Tisch und drehte sich eine Zigarette,
während sein Blick misstrauisch in meine Richtung ging, als
fragte er sich, ob ich es auf die Blondine oder auf den
Kasseninhalt abgesehen hatte, wenn nicht sogar auf beides.
Während des gesamten folgenden Gesprächs ließ er mich nicht
eine Sekunde aus den Augen.
Ich streckte meine Hand aus. »Guten Tag. Ich heiße Veum.«
Ihre Hand war auffallend klein, als gehöre sie eigentlich
jemand anderem. »Elisabeth … Rødland.«
»Es geht um jemanden, der hier oft Lotto spielt. Olai Risøy.«
Ihre Augen weiteten sich unmerklich. »Ja? Was ist mit ihm?«
»Kannten Sie ihn?«
»Na ja, kennen … Mein Mann und ich …« Sie wies mit einem
kleinen Nicken zu dem Mann im Hinterzimmer. »Risøy hat uns
ein bisschen hier im Haus geholfen. Wir wohnen hier, wissen
Sie, im ersten Stock, und in einem so alten Haus … Risøy hatte
geschickte Hände.«
»Gegen Bezahlung natürlich, oder?«
»Ja, ja. Natürlich.« Dann schien sie plötzlich besorgt. »Sagen
Sie, Sie kommen doch nicht vom Finanzamt, oder?«
Sie war die Zweite an diesem Tag, die mich das fragte.
Vielleicht sollte ich meine Frisur ändern. »Nein, nein«,
beruhigte ich sie. »Aber die Sache ist die … Sie haben nicht
zufällig eine Ahnung, wo er abgeblieben sein könnte?«
»Abgeblieben? Ist er etwa doch nicht gefahren?«
»Gefahren?«
Sie beugte sich vor, und ich nahm einen leichten Duft wahr,
der vage an reife Kirschen erinnerte. »Mir hat er gesagt, er
wollte eine lange Reise machen. Eine Reise, die sein ganzes
Leben dauern könnte, hat er gesagt.«
»Sein ganzes Leben? Hat er sich so ausgedrückt?«
240
»Mmh.«
»Wegen seines großen Gewinns?«
»Das wissen Sie also?«
»Das ist ja gerade der Grund, warum sich ein paar Freunde
von ihm jetzt Sorgen machen.«
»Ach was! Von wegen Sorgen machen! Die sind doch
bestimmt nur hinter seinem Geld her.« Sie kam noch ein wenig
näher. »Ich kann Ihnen erzählen … Man sieht eine ganze
Menge, wenn man hier hinterm Tresen steht, und es sind nicht
immer Engel, die plötzlich die besten Freunde von jemandem
werden, der gerade das große Los gezogen hat.«
»Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?«
»Risøy? Lassen Sie mich nachdenken … Dienstag, glaube ich.
Er war kurz hier und hat Zigaretten gekauft. Er war schon
ziemlich gut geräuchert, wenn Sie mich fragen, hat nach feinen
Getränken gestunken und geschwankt wie ein Affe. Und da hat
er es mir erzählt. – Ich gehe auf eine lange Reise, Frau Rødland,
hat er gesagt. Hat mich immer gesiezt, obwohl er hier schon
fester Kunde war, seit er vor vielen Jahren auf der Askøy-Fähre
anmusterte.«
»Und Ihr Mann? Könnte der was wissen?«
Sie dämpfte ihre Stimme noch ein bisschen und verdrehte die
Augen. »Nein, nein. Er …«
Hinter ihr bewegte sich etwas. Der kleine Mann aus dem
Hinterzimmer war in der Türöffnung erschienen. »Worum
geht’s denn, Lisbeth?«
»Nichts Besonderes. Wir tratschen nur ein bisschen, der junge
Mann und ich.«
Der Blick, den er mir zuwarf, kam direkt aus der Kühltruhe.
»Und worüber?«
»Olai Risøy«, sagte ich.
241
Der Name stimmte ihn nicht gerade herzlicher. »Was ist mit
ihm?«
»Ich höre, er hat einen ordentlichen Gewinn gemacht.«
»Na und?«
»Tja … Sie haben ihn in den letzten Tagen nicht gesehen?«
»Warum sollte ich?«
»Tja, Sie wissen ja … Ein Tor kann mehr fragen, als zehn
Weise beantworten können, und was das angeht, sitzen wir
offenbar alle drei in einem Boot.«
Er machte eine Bewegung mit der Unterlippe, die deutlich
zeigte, wie viel er von mir hielt. Dann drehte er sich langsam um
und ging an seinen Ausgangspunkt zurück. Hinter ihm stand
eine Wolke von Rauch, als hätte er seine Kupplung zu sehr
gequält.
Seine Frau beugte sich noch etwas weiter über den Tresen.
Wenn sie so weitermachte, würde sie am Ende darauf liegen.
»Er ist ja soooo eifersüchtig«, flüsterte sie.
»Das verstehe ich gut«, antwortete ich, während ich meinen
Blick tief zwischen ihre Dünungen eintauchen ließ.
»Nun werden Sie man nicht frech«, sagte sie, mit einem
erwartungsvollen kleinen Lächeln.
Aber ich musste passen. Mehr konnte ich ihr nicht bieten. Ich
hatte noch ein paar Besuche zu machen.
Bei der Bank waren sie so abweisend, wie nur eine
Kreditanstalt es sein kann. – Nein, solche Informationen gäben
sie nicht heraus, sagte die Dame an der Rezeption. – Inwieweit
einer ihrer Kunden in der letzten Woche einen größeren
Lottogewinn abgehoben hatte, darüber waren sie absolut nicht
verpflichtet, Auskunft zu erteilen. Ganz im Gegenteil. Und nicht
zuletzt – wie sie hinzufügte – bei Nachfragen von höchst
inoffiziellem Charakter wie dieser.
Ich setzte mein allerentwaffnendstes Lächeln auf. »Ist Herr
242
Lunde im Hause?«
Damit hatte sie nicht gerechnet. »Wer?«
»Harald Lunde. Arbeitet er nicht hier?«
»Doch, aber … Er ist gerade zu Tisch.«
»Solche Informationen geben Sie also doch heraus?«
Sie würdigte mich nicht einmal einer Antwort.
4
Austevoll bei sonnigem Postkartenwetter war eine Sache; bei
Südwind und strömendem Regen war es etwas ganz anderes.
Der Regen prasselte so heftig auf die Windschutzscheibe meines
Morris Mini, dass ich mehrmals den Impuls hatte, die
Seitenfenster herunterzukurbeln und den Arm hinauszustrecken,
um den Scheibenwischern meine Unterstützung anzubieten.
Mein erster Halt war im Alters- und Pflegeheim in Storebø.
Eine freundliche Angestellte zeigte mir den Weg zu der gut
achtzigjährigen Magda Risøy, während sie mir erklärte, dass die
Dame sehr schwerhörig sei und es für Menschen, die sie nicht
von früher kannte, fast unmöglich sei, Kontakt zu ihr zu
bekommen.
»Ist ihr Sohn in letzter Zeit hier zu Besuch gewesen?«
»Ja, allerdings … Vor knapp einer Woche. Mittwoch,
Donnerstag muss es wohl gewesen sein, glaube ich. Er kam, um
sich zu verabschieden, hat er gesagt.«
»Verabschieden?«
»Ja, das habe ich auch gefragt. Aber ich bekam nur zur
Antwort, dass er beschlossen hätte, ins Ausland zu reisen, auf
unbestimmte Zeit sozusagen.«
»Und seine Schwester, sehen Sie die manchmal hier?«
Ihr Mund zog sich einen Deut zusammen. »Nicht oft. Das
243
muss man wohl sagen dürfen. Eher selten, besser gesagt.«
Sie hatte Recht, was ihre Prophezeiung bezüglich Magda
Risøy anging. Zwanzig Minuten lang versuchte ich vergeblich,
ihr zum Besuch ihres Sohnes ein paar Fragen zu stellen.
Schließlich bekam ich zumindest etwas aus ihr heraus, das ich
beschloss, als Zustimmung zu betrachten, ihr altes Zuhause in
Kolbeinsvik aufzusuchen. Aber der Schlüssel läge beim
Nachbarn, sagte sie. Sie selbst würde ihn nie wieder brauchen.
Es glitzerte silbrig in ihrem blanken Blick, und sie konnte ein
Seufzen nicht unterdrücken, um dann demonstrativ die Augen
zu schließen und mir zu verstehen zu geben, dass die Audienz
beendet sei.
Ich fuhr weiter; erst in Richtung Süden, dann nach Westen.
Es war ein windgepeitschtes Stück Norwegen, in dem sich nur
die großen, purpurfarbenen Flecken der Heidesträucher von der
sonst grauen Landschaft abhoben. Austevoll lag wie in
Embryostellung da, bereit, in die Nordsee hinausgestoßen zu
werden. Draußen über Litlakalsøy erhob sich eine graue
Wolkenwand aus dem Meer. Der Skoltafjord sabberte aus den
Mundwinkeln, und ich dachte, dass es hier wohl am besten
wäre, einen angemessenen Abstand von den Klippen zu halten.
Die wilden Schafe hatten das einzig Richtige getan, als sie sich
dicht unter den Felsen um Kolbeinsvik zusammengedrängt
hatten.
Zehn Sekunden nachdem ich aus dem Wagen gestiegen war,
war ich völlig durchnässt. Ich ging zum nächsten weißen Haus
und klopfte an. Die Tür ging so schnell auf, dass die Frau mit
dem erschrockenen Gesicht direkt dahinter gestanden sein
musste. Sie starrte mich
durch den schmalen Türschlitz an. »Wir
brauchen nix!«
»Ich bin auch nicht gekommen, um etwas zu verkaufen. Aber
Frau Risøy hat gesagt, der Schlüssel zu ihrem Haus sei bei
Ihnen.«
244
Sie sah deswegen nicht weniger erschrocken aus. »Nja …«
»Darf ich etwas fragen?«
»Fragen?«
»Olai Risøy … Ist es lange her, seit Sie ihn zuletzt gesehen
haben?«
»Nnnee«, sagte sie langsam. »Aber es is jetzt doch schon paar
Tage her.«
»Genau. Ich habe versprochen nachzusehen, ob alles in
Ordnung ist.«
»Aber er hat seinen eigenen Schlüssel.«
»Schon, aber mich hat ja auch seine Mutter geschickt.«
»Na ja, wenn Se im Altersheim warn und mit der Magda
geredet ham, dann isses wohl …«
Sie schloss abrupt die Tür und verschwand. Nach einer Weile
öffnete sie sie wieder und reichte mir den Schlüssel. »Hier.«
»Ich danke I–«
Aber sie hatte die Tür schon wieder geschlossen. Ich zuckte
mit den Schultern und ging den Weg zum Meer hinunter, wie sie
es mir im Altersheim erklärt hatten.
Das gesamte Grundstück sah verlassen und vernachlässigt aus.
Salweidengestrüpp und kleine Birken wucherten wild, und die
alten Blumenbeete waren längst von Unkraut überwuchert, an
manchen Stellen über einen Meter hoch. Das Haus war weiß
gestrichen, aber es hatte in jeder Hinsicht schon bessere Tage
gesehen. Die Wandbretter trugen eine grüne Patina und eine
Dachrinne hing herunter, sodass das Wasser wie eine Fontäne
über die zugewachsenen Fliesen vor dem Eingang spritzte.
Ich ging in einem Bogen um den Wasserstrahl herum – als ob
das noch einen Unterschied machte – und klopfte an.
Das Resultat war wie erwartet. Niemand öffnete. Nach einem
erneuten und ebenso vergeblichen Versuch benutzte ich den
245
mitgebrachten Hausschlüssel und schloss die Tür auf.
Ich schnupperte vorsichtig, nahm aber keinen Unheil oder Tod
verkündenden Geruch wahr. Langsam ging ich von Raum zu
Raum. In gewisser Weise erinnerte es mich an die
Dachwohnung in Verftet. In einer Schlafkammer gab es
deutliche Zeichen, dass hier jemand übernachtet hatte, ohne
nachher das Bett zu machen. In einer Plastiktüte auf der
Küchenanrichte fand ich Eierschalen, ein paar leere Suppentüten
und Dosen.
Von dort aus ging ich in das kleine Wohnzimmer, das nach
Westen hin lag. Sofort fiel mein Blick auf zwei geöffnete
Briefumschläge. Beide waren adressiert an Chiffre Nr. 18910,
aber mit zwei verschiedenen Handschriften.
Ich sah in beide Umschläge. Der eine war leer. In dem anderen
lag ein zusammengefalteter Brief.
Vorsichtig faltete ich ihn auseinander und las:
Lieber Olai! Ich habe mit großem Interesse Ihre Annonce in
Bergens Tidende gelesen, und ich hatte sofort das Gefühl, dass
das hier der Richtige war und ich jetzt zum Füller greifen
musste. Es war, als hörte ich eine Stimme in mir: Hier ist er,
Berit. Auf den du gewartet hast, so viele Jahre. Ich bin 38 Jahre
alt und habe ein unsichtbares Leben geführt. Ich arbeite im Büro
einer Versicherungsgesellschaft, habe für die Arbeit gelebt und
nie eine feste Beziehung gehabt, obwohl es sicher möglich
gewesen wäre, wenn ich nur gewollt hätte. Aber es hat
irgendwie auch nie gefehlt. Ich reise auch gern. Jeden Winter
bin ich im Süden, und wenn ich diesen Winter mit Ihnen
kommen könnte … Was könnte wohl besser sein? Schreiben Sie
ein paar Worte mehr über sich selbst. Die Adresse finden Sie
oben. Ich warte voller Spannung.
Ihre Berit Lofthus
246
Ich zögerte einen Moment, bevor ich beschloss, beide
Umschläge mitzunehmen. Warum hatte er den Inhalt des einen
Briefes mitgenommen und den von Berit Lofthus liegen lassen?
Vielleicht einfach, weil er die andere ihr vorgezogen hatte? Und
was war in dem Fall verkehrt an diesem Brief? Er wirkte doch
durchaus vertrauenswürdig, zumindest vielleicht als passende
Reservelösung, falls das andere schief ginge.
Bevor ich wegfuhr, gab ich den Schlüssel wieder ab. Die Frau
riss ihn an sich, als bedauerte sie es, ihn sofort herausgegeben zu
haben. Es schien fast, als hätte sie ein schlechtes Gewissen. Die
Fährstrecke zwischen Huftarøy und Krokeide ist dafür bekannt,
eine der stürmischsten der Gegend zu sein. Diesmal war der
Seegang so heftig, dass es genauso schwer war, eine Tasse
Kaffee zu trinken, ohne sich zu bekleckern, wie einem
Finanzbeamten ein Lächeln abzuluchsen. Ich machte nicht
einmal den Versuch. Außerdem hatte ich auch mehr als genug
damit zu tun, mich an die Tischkante zu klammern.
Ich war froh, als ich wieder festen Boden unter den Reifen
hatte, aber auch das sollte sich als gar nicht unproblematisch
herausstellen. Bei der Hamre-Brücke schwappte das Wasser so
stark über die Straße, dass ich nur mit Mühe vorbeikam. Von der
Spitze der Vallaheiene konnte ich nur andeutungsweise Nesttun
durch den Regenschleier erkennen.
Ich bog zum Elvenesvegen ab, wo ihren eigenen Angaben
zufolge Berit Lofthus wohnte, in einem der Wohnblöcke, die mit
der Front nach Bjørkåsen hin standen. Ich parkte vor dem
Hochhaus, ging in den zweiten Stock hinauf und drückte auf den
Klingelknopf neben ihrem Namensschild. Ich sah auf die Uhr.
Viertel nach sechs.
Berit Lofthus erwies sich als eine blonde kleine Frau mit
blauem Blick, den sie selten höher als zu meiner Halsgrube hob,
als käme meine Stimme von dort. Als ich ihr mein Anliegen
vorgetragen hatte, wurde sie zuerst rot, dann bleich und dann
irgendetwas dazwischen: ein blondes Schneewittchen mit
247
flammenden Wangen. »Es war nicht so gedacht – dass jemand
anders …«, sagte sie leise, bevor sie mich widerstrebend in ihre
Wohnung ließ – nicht weil sie es gern tat, sondern aus Sorge
darüber, was die Nachbarn wohl denken würden, vermutete ich.
»Ich habe nie eine Antwort bekommen«, sagte sie sofort, als
wir das gepflegte, makellose Wohnzimmer betraten, dessen
Möbel so glatt poliert waren, dass man sich darin spiegeln
konnte.
»Überhaupt keine?«
»Nein. Sie müssen nicht denken … So was tue ich
normalerweise nicht.«
»Solche Briefe schicken?«
»Auf solche Annoncen antworten. Es war tatsächlich das erste
Mal.«
»Und was hat Sie dazu gebracht, dieses Mal?«
»Ich weiß es nicht, aber … Da war etwas an … Man gibt ja die
Hoffnung niemals ganz auf, oder?«
»Hoffentlich nicht.«
»Sind Sie …«
»Verheiratet? Nein.«
»Gern auf Reisen – in den Süden, wollte ich sagen.«
»Nein, auch das nicht.«
Eine oder zwei Sekunden hob sich ihr Blick ganz hinauf und
begegnete meinem, blau und blank. »Tja, dann …«
»… haben wir zumindest das nicht gemeinsam.«
»Nein.«
»Sie arbeiten bei einer Versicherung?«
»Warum fragen Sie danach?«
»Tja, ich weiß es nicht. Aber er hätte wohl eine Versicherung
brauchen können – der Mann, an den Sie geschrieben haben.«
248
»Wieso?«
»Er hat einen Haufen Geld gewonnen, vor einer knappen
Woche, und danach hat ihn niemand mehr gesehen.«
»Oh, aber dann …«
»Ich bin mir nicht sicher, ob er nicht doch in den Süden
geflogen ist. Ohne Sie …«
»Mit einer anderen – vielleicht?«
Ich sah sie nachdenklich an. »Ja. Vielleicht.«
5
Veums erster Fall, wiederholte ich im Stillen vierzehn Tage
später, mit aller mir zur Verfügung stehenden Selbstverachtung.
– Ein richtiges Fiasko … Aber ich war nicht allein auf der Welt.
Von meinem Bürofenster aus konnte ich das Resultat eines
anderen Fiaskos sehen: den Stau von Åsane. Den letzten
Zeitungsartikeln zufolge begann der Stau dort jetzt gegen halb
sieben Uhr morgens. Sogar die Busse brauchten weit über eine
Stunde bis in die Stadt. Wer viel Zeit brauchte, um über sein
Leben nachzudenken, der sollte nach Åsane ziehen. Aus anderen
Gründen nicht unbedingt.
Der Fußballverein Brann, der nach dem 3:1-Sieg über Molde
am Anfang des Monats mit um die Meisterschaft kämpfte, hatte
der Tradition treu bleibend die folgenden Spiele verloren und
raste jetzt die Tabelle wieder abwärts. Aus dem Pokal waren sie
längst ausgeschieden.
Es war das Beste, nicht zu viel zu erwarten. – »Das is nämlich
gefä’lich«, wie Ludvig im norwegischen Filmerfolg des Jahres,
Flåklypa Grand Prix, sagte. Und es hatte immer noch nicht
aufgehört zu regnen.
Ich hatte mehrmals Besuch von William Larsen gehabt, hatte
249
ihm aber nichts anderes bieten können als das, was ich nach der
ersten Runde herausgefunden hatte. – Olai Risøy war spurlos
verschwunden, und es lag weit außerhalb meiner Möglichkeiten,
ihn wieder zum Vorschein zu bringen.
»Aber wo isser bloß hin?«
»Der Süden ist immer noch der heißeste Tipp, aber Sie wissen
ja ebenso gut wie ich, dass der Süden größer ist, als wir alle
wissen. Wenn man runterfliegen und unter jedem Sonnenschirm
nach ihm suchen wollte, dann brauchte man massenhaft Zeit und
ein dickes Bankkonto. Und wir beide haben weder das eine noch
das andere.«
»Ich fürchte, ich hab nich mal genug, um Ihn’ das zu bezahlen,
was Sie schon gemacht haben.«
»Ist schon in Ordnung. Aber machen Sie es sich nicht zur
Gewohnheit. Ich möchte in diesem Beruf ehrlich gesagt auch
überleben.«
Bei ein paar Gelegenheiten hatte ich mit Astrid Lunde und
ihrem Mann Harald gesprochen. Am Ende konnte ich sie davon
überzeugen, zur Polizei zu gehen. Ein paar Tage später erschien
eine Vermisstenmeldung in der Zeitung.
Wenn ich dem glauben sollte, was in den darauffolgenden
Tagen in den Zeitungen stand, hatte es nur wenige Reaktionen
auf die Suchmeldung gegeben. Jemand hatte den Vermissten auf
der Fähre von Krokeide nach Huftarøy gesehen, und dagegen
war so weit nichts zu sagen. Ein Bekannter von ihm war sich
ganz sicher, dass er ihm vor wenigen Tagen um zwei Uhr nachts
auf der Straße begegnet war. Er hatte allerdings gestutzt, weil
Risøy nicht auf seinen Gruß reagiert hatte. Andere
Beobachtungen von der Fähre zwischen Kvanndal und
Kinsarvik und aus dem Nachtzug nach Oslo waren weitaus
vager. Vierzehn Tage später las ich, dass ein Tourist meinte,
Risøy an einem Strand tief im Süden Spaniens, in der Nähe von
Málaga, gesehen zu haben – eine Information, die William
250
Larsen nicht gerade erfreute.
Dann versiegte der Strom der Rückmeldungen. Es gab andere
wichtige Themen, sowohl für die Polizei als auch für die
Zeitungen. Man meinte, es sei nicht schwer, sich vorzustellen,
was passiert war. Der überwältigende Lottogewinn hatte Olai
Risøy völlig überfordert. Ohne weitere Familie als seine
Schwester und seine alte Mutter gab es nichts, was ihn an sein
Heimatland band. Als ehemaliger Seemann hätte er sich überall
niederlassen können, weit außerhalb der gewöhnlichen
norwegischen Touristenziele. Trotzdem wurde ich das
unangenehme Gefühl nicht los, dass die Lösung des Rätsels sich
noch immer in Bergen befand. Ich musste es einfach zugeben:
Veums erster Fall war eine ungewöhnlich schlechte Reklame für
mein Büro gewesen.
William Larsen traf ich noch gelegentlich, wenn ich nach
Feierabend noch auf ein Bier oder zwei ins Børsen ging. Ab und
zu kamen wir ins Gespräch, und meistens kamen wir dann auch
auf Olai Risøv zu sprechen. Irgendwann Ende der achtziger
Jahre verschwand Larsen plötzlich. Als ich seine Trinkkumpane
nach ihm fragte, hieß es, er sei nach Sogn gezogen, wo er
ursprünglich herkam. – »Er hat es hier nicht mehr ausgehalten«,
hieß es. – »Es war einfach zu hart für ihn.«
1994 las ich seine Todesanzeige in der Zeitung. Ein halbes
Jahr, nachdem ich zum ersten Mal dort gewesen war, betrat ich
zufällig den kleinen Tabakladen in Nøstet, um eine Zeitung zu
kaufen. Der Mann, der mich bediente, war dunkelhäutig und
höflich, und als ich ihn nach seinen Vorgängern fragte, lächelte
er breit und erzählte mir, sie hätten den Laden verkauft und
seien ins Ausland gegangen.
»Verkauft? Und wann?«
»Im Oktober.«
»Wissen Sie, wohin sie gegangen sind?«
»Portugal oder Spanien, meinten sie. Herr Rødland, dem der
251
Laden gehörte, hatte Psoriasis, und da unten scheint die Sonne,
wie Sie wissen, öfter als in Bergen«, sagte er mit einem
strahlenden Lächeln, wie um zu unterstreichen, dass ihm der
ganze Regen überhaupt nichts ausmachte.
»Und … Was ist mit dem Rest des Hauses?«
»Da wohne ich mit meiner Familie!«, strahlte er, ein
vollkommen glücklicher Mann, wie es schien.
Nun waren die Rødlands nicht die Einzigen in dieser
merkwürdigen Geschichte, die zu Geld gekommen waren. Von
seinem unbekannten Aufenthaltsort aus schien Olai Risøy
Goldstaub über alle gestreut zu haben, die ihn kannten, alle
außer William Larsen wohlgemerkt. Ganz am Rande eines
anderen Falles, in dem ich ermittelte, traf ich seine Schwester
wieder, im Frühjahr 1983. Es ging um einen ziemlich
ausgeklügelten Immobilienschwindel, wo ich – kraft meiner
scheinbaren Anonymität – als Vermittler auftreten durfte. Eine
der Spuren führte mich nach Strøno, westlich von Os. In einem
der betroffenen Häuser, einem protzigen Sommerhaus mit
Schwimmbad, dessen Schiebetüren zum Fjord hin geöffnet
werden konnten, wenn das Wetter es zuließ, stieß ich auf eine
leicht bekleidete Astrid Lunde. Wäre ihr leuchtend rotes, immer
noch krauses Haar nicht gewesen, hätte ich sie kaum
wiedererkannt. Sie verwirrte mich auch so schon genug, in
ihrem kornblumenblauen Bikini.
»Wir sind uns schon einmal begegnet«, sagte ich.
Sie sah mich fragend an. »Tatsächlich?«
»Im Zusammenhang mit dem Verschwinden Ihres Bruders.«
»Ja, jetzt erinnere ich …« Sie warf mir einen kurzen Blick zu,
dann glitt der Blick zum Fjord hinaus, wo sie direkt auf das
Inselreich ihrer Kindheit schaute, Austevoll. »Der arme Olai.
Wir wissen immer noch nicht, was passiert ist.«
»Sie haben nie wieder von ihm gehört?«
252
»Nein, wir … Woher denn auch?«
»Tja, wenn Sie mich fragen, frage ich Sie.« Ich sah mich um.
»Aber Sie sind – zu Geld gekommen, sozusagen?«
»Ja. Harald hat ein paar äußerst günstige Investitionen getätigt,
zum richtigen Zeitpunkt.«
»Und wann war das?«
»Vor ein paar Jahren …«
Auch Berit Lofthus musste das Leben wohlgesonnen gewesen
sein. Jedenfalls beobachtete ich sie eines Abends in einem der
besseren Restaurants der Stadt, wo ich selbst mit einem Klienten
aus der Versicherungsbranche saß, der die absolute Kontrolle
über sein Spesenkonto hatte. Sie trug ein sehr elegantes,
einfaches schwarzes Kleid, das einen scharfen Kontrast zu ihrem
blonden Haar bildete. Sie setzte sich an einen Nachbartisch, in
Gesellschaft eines Mannes, der mindestens zehn Jahre jünger als
sie zu sein schien. Soweit ich es sehen konnte, genossen sie
Weine der besten Jahrgänge, und die Mahlzeit, die sie
verzehrten, stand der, die der Versicherungsmann und ich uns
eifrig einverleibten, in nichts nach. Sie schien munter und
gesprächig, und von der Schüchternheit, die ich damals im
Elvenesvegen an ihr wahrgenommen zu haben meinte, war
wenig geblieben.
Ich sprach sie nicht an, aber am nächsten Tag schlug ich im
Telefonbuch ihre Adresse nach. Sie war in eine weitaus
mondäne Gegend gezogen und wohnte jetzt in Hop, in einer der
Straßen, in denen man nur wohnen durfte, wenn man Mitglied
des Norwegischen Arbeitgeberverbands war. Auch sie musste in
der Zwischenzeit einige günstige Investitionen getätigt haben.
Vielleicht hatte sie mit ihrem nächsten Antwortbrief mehr
Erfolg gehabt, oder sie war auf andere Weise erfolgreich
gewesen.
Später kamen neue Fälle. Einige davon löste ich, andere nicht.
Mit der Zeit versank Olai Risøys Verschwinden immer tiefer in
253
meinem Gedächtnis. Trotzdem tauchte der Gedanke an ihn
immer wieder auf, in immer größeren Abständen allerdings: und
wenn auch nur aus dem Grund, dass er mein allererster Fall
gewesen war – und einer von denen, denen ich nie auf den
Grund gekommen war.
Bis eines Tages …
6
Es war ziemlich genau fünfundzwanzig Jahre her, dass ich den
Auftrag bekommen hatte.
Die Welt hatte sich verändert. Die Autoschlangen von Åsane
waren Geschichte, Flåklypa Grand Prix ein interaktives
Computerspiel, und in diesem Herbst regnete es im Østlandet
mehr als in Bergen. Viel mehr.
Aber nicht alles hatte sich verändert. Ich hatte noch immer
mein Büro im Strandkaien, und ich wartete immer noch lange
auf neue Kunden.
Ich war alles, was ein selbstbewusster Privatdetektiv mittleren
Alters sein sollte. Ich war immer noch einsachtzig groß, vier
Kilo schwerer als damals, aber noch immer recht gut in Form.
Mein Haar hatte graue Strähnen. Freundliche Damen strichen
darüber und nannten es »Salz und Pfeffer«, aber auch das kam
immer seltener vor.
Ein neues Jahrhundert war angebrochen und es warteten neue
Aufgaben. Es war einer der Tage, an denen es nicht viel anderes
zu tun gab, als genauestens die Zeitung zu lesen. Sonst hätte ich
mich kaum so sehr in das Spätsommerinterview mit dem neuen
jungen Tourismusbeauftragten der Stadt vertieft, mit einem
liebenswürdigen Foto, das bei Sonnenschein vor dem SAS-
Hotel auf Bryggen aufgenommen worden war. Sein breites
Lächeln verriet, dass die diesjährige Saison die Erwartungen
254
erfüllt hatte: The Gateway to the Fjord stand immer noch weit
offen, und dass die Stadt in diesem Jahr zu einem Neuntel
europäische Kulturstadt gewesen war, hatte auch nur die
Kulturjournalisten aus der Hauptstadt davon abgehalten, sie
außerhalb der Saison zu besuchen.
Aber es war nicht der zufriedene Tourismusbeauftragte, der
mein Interesse weckte. Es war die reife Frau, die direkt hinter
ihm gerade aus dem Hoteleingang trat. Sie trug ein geblümtes,
farbenfrohes Sommerkleid, und ihr Haar war hellblond, fast
weiß in dem scharfen Sonnenlicht.
Sie kam mir sofort bekannt vor, aber es dauerte noch eine
Weile, bis meine Suchmaschine fündig wurde, und dann führte
kein Weg mehr an ihr vorbei: Warum auch nicht? Jedenfalls
hatte ich dabei nichts zu verlieren.
Unten auf dem Markplatz kaufte ich mir ein Pfund Pflaumen
und noch eine Zeitung, für den Fall, dass ich lange würde warten
müssen. In der Hotellobby setzte ich mich auf eines der
bequemen Sofas, auf das Schlimmste gefasst. Meine Ankunft im
Voraus anzumelden kam nicht in Frage. Das hatte ich im Laufe
all dieser Jahre immerhin gelernt.
Ich hatte Glück. Anderthalb Stunden später kam sie von der
Straße herein. An den Händen trug sie mehrere gut gefüllte
Einkaufstüten aus einem der exklusivsten
Damenkonfektionsgeschäfte der Stadt. Sie ging direkt zur
Rezeption, und ich hörte, wie sie fragte, ob ihr Mann
ausgegangen sei. Das war er nicht. Als sie Kurs auf den
Fahrstuhl nahm, stellte ich mich ihr mitten in den Weg.
Sie sah mich ohne irgendein Zeichen des Wiedererkennens an.
Wie alt mochte sie jetzt wohl sein? Fünfundfünfzig, oder an die
sechzig? Aber sie hatte sich gut gehalten. Ihre Haut hatte den
dunklen Teint gegerbten Leders, den man nur durch einen sehr
langen Aufenthalt in der Sonne erreichen kann, und sie war sehr
diskret geschminkt.
255
Ich lächelte leicht. »Entschuldigen Sie, aber sind Sie nicht
Frau Rødland?«
Sie starrte mich zurückhaltend an. »Doch.«
»Wir sind uns schon einmal begegnet, vor ungefähr
fünfundzwanzig Jahren.«
»Ach ja?«
»Ich weiß nicht, ob Sie sich erinnern?«
Sie legte den Kopf einen Deut in den Nacken und maß mich an
ihrem Nasenrücken, bevor sie antwortete: »Nein.«
»Das war in dem Jahr, als Sie und Ihr Mann das Geld machten,
um es mal so auszudrücken.«
Sie sah an mir vorbei, mit ungeduldiger Miene. »Ich weiß
nicht, ob ich …«
»Mein Name ist Veum, und ich habe damals Ermittlungen
angestellt, die das Verschwinden eines gewissen Olai Risøy
betrafen.«
»Ach ja – das … Jetzt erinnere ich mich, vage.«
»Dann lassen Sie mich Ihrem Gedächtnis auf die Sprünge
helfen. Olai Risøy hatte einen großen Lottogewinn gemacht,
daran erinnern Sie sich sicher. Meine Ermittlungen führten mich
durch seinen kleinen Bekanntenkreis, aber abgesehen von
seinem Lottokumpel William Larsen gab es, soweit ich weiß,
niemanden, der von seinem großen Gewinn eine Ahnung hatte.
Keiner außer Ihnen, der Annahmestelle, wo er immer seine
Scheine abgab.
Dann verschwand er spurlos, und damit meine ich – ohne die
allergeringste Spur.
Weniger als einen Monat später haben Sie und Ihr Mann den
Laden verkauft, sind ins Ausland gezogen und offensichtlich,
wie schon gesagt, zu Geld gekommen.«
Bei ihrer Hautfarbe konnte sie nicht blass werden. Es war eher
eine Art Grünton, der unter dem Firnis durchschimmerte. »Wir
256
haben doch verkauft …«
»So viel haben Sie für das kleine Haus nicht bekommen. Sie
müssen auch andere Einkünfte gehabt haben, immerhin haben
Sie sich ein Haus in Spanien gekauft – oder wo es noch war –
und sich da für den Rest Ihres Lebens niedergelassen.«
»Für zweihunderttausend?«
»Sie erinnern sich also an den Betrag?«
Einen Moment lang war sie aus der Fassung geraten. »Ja, ich
… Das war schließlich viel Geld, damals.«
»Ja, allerdings. Kein schlechter Anfang jedenfalls. Und, was
weiß ich? Vielleicht haben Sie ja da unten einen neuen Laden
aufgemacht. In diesen Breitengraden spielen die Leute ja sicher
auch Lotto und so was, oder nicht?«
»Wovon mein Mann und ich leben …«
»Das Einzige, was ich gerne wüsste, ist … was haben Sie mit
der Leiche gemacht?«
Ihr Blick flackerte. Dann fand er plötzlich etwas, das er
fixieren konnte. Hinter mir hörte ich das Geräusch der sich
öffnenden Fahrstuhltür.
Sie versuchte, ihn zu warnen, aber es war zu spät. Ich war
schon dabei, mich umzudrehen.
Der Mann, der aus dem Fahrstuhl trat, war gut über sechzig,
ebenso braun gegerbt wie sie, aber nicht ganz so leicht zu Fuß.
Sein Körper war massiv, sein Atem ging in schweren Zügen,
und sein Blick hatte etwas Blasses und Durchsichtiges, das
verriet, dass er längst alle Hoffnung hatte fahren lassen.
Dennoch hatte er sich nicht sehr verändert. Trotz seines Alters
erkannte ich ihn sofort wieder, von dem alten
Konfirmationsfoto.
Als er stehen blieb, reichte ich ihm die Hand. »Olai Risøy,
wenn ich mich nicht irre?«
Er starrte mich an. »Und wer sind Sie, bitte?«
257
»Wir sind uns nie begegnet, aber mein Name ist Veum.«
Nach einer leisen Erklärung von Elisabeth Rødland nahmen
wir in der Sitzecke Platz; er zurückgelehnt, sie auf der Kante des
Sessels, bereit aufzustehen und zu gehen, sobald es nötig sein
sollte. »Sie wussten, was Sie taten«, sagte ich, »als Sie
fünfundzwanzig Jahre gewartet haben, bevor Sie sich wieder in
Norwegen zeigten.« Sie sagte schnell: »Er – ist nicht gesund.
Das hier war die letzte Chance.«
»Der Fall ist verjährt. Sie können alle Karten auf den Tisch
legen, wenn Sie wollen, und ebenso frei wieder nach Spanien
zurückreisen, wie Sie hergekommen sind.«
»Es ist nicht, wie Sie glauben«, sagte sie. »Olai und ich, wir …
Es war schon lange vor – dem Gewinn so. Der hat uns nur die
Möglichkeit geboten, eine goldene Gelegenheit …«
»Wozu? Ihren Mann umzubringen?«
»Wegzukommen.«
Olai Risøy sprach langsam und umständlich und wählte seine
Worte mit Sorgfalt. »Ich habe Elisabeth und ihrem Mann
geholfen, den Fußboden in ihrer Speisekammer neu zu gießen,
im Jahr davor. Und da ist es passiert.«
»Was ist passiert?«
»Dass wir uns ineinander verliebt haben.«
Ich versuchte, zurückzudenken. »Aber – trotzdem haben Sie
diese Kontaktanzeige aufgegeben?«
Wieder nahm sie das Wort. »Das war ein Teil des Plans. Wir
hatten vor, zu verschwinden, jeder für sich, und uns dann zu
treffen – da unten. Wir mussten einfach Verwirrung stiften,
falsche Spuren legen … Aber wir hatten niemals vor, ihn – ihn
zu töten!«
»Nein?«
»Nein! Aber … Olai hielt sich in Austevoll versteckt, und
dann … Nils hatte Verdacht geschöpft. Als Olai anrief, hab ich
258
ihn gebeten, in die Stadt zu kommen. Es kam zu einer
Auseinandersetzung und – dann ist es passiert.«
»Ihr Mann – kam ums Leben?«
Sie nickte nervös. »So können Sie es ausdrücken. Aber … Er
war kein guter Mann. Er hatte mich viele Jahre misshandelt und
terrorisiert mit seiner grundlosen Eifersucht!«
»So völlig grundlos denn doch nicht, oder?«
»Doch, denn es war umgekehrt! Weil sowieso die ganze Zeit
der Verdacht über mir schwebte … Und außerdem, als ich Olai
traf …«
»Ja? … Was passierte?«
»Die näheren Details will ich nicht … Aber als das Unglück
erst einmal passiert war … Wir hatten keine nahen Verwandten.
Und meistens habe ich im Laden bedient. Niemand schien ihn
zu vermissen. Als wir verkauft haben, ist Olai in seine Rolle
geschlüpft. Ansonsten hielt er sich im Haus, ging nur nachts
nach draußen. Als sich das Ganze beruhigt hatte, haben wir den
Verkauf vorbereitet. Der Mann, an den wir verkauft haben … Er
hat keinen Moment lang Verdacht geschöpft.«
Ich wandte mich wieder an Risøy. »Und Sie haben in dem
Herbst noch einen weiteren Betonboden gegossen?«
»Sozusagen, ja.«
Sie stand abrupt auf. »Nein – sag nichts mehr!«
»Nein, du hast Recht, Liebes. Jemand könnte auf die Idee
kommen …«
Sie blieb stehen. »Ich glaube, wir haben jetzt genug geredet.
Wir haben noch anderes zu tun.«
»Ja.« Er rappelte sich schwerfällig auf.
Noch einmal begegnete ich seinem Blick. »Wenn Sie wüssten,
wie oft ich in den letzten fünfundzwanzig Jahren an Sie gedacht
habe …«
259
Er starrte glasig zurück. »So?«
»Es war mein allererster Fall, und ich habe ihn nie gelöst – bis
heute.«
»Tja …«
»Und was ist mit Ihrem alten Kameraden, William Larsen, den
Sie um einen Gewinn von hunderttausend gebracht haben? Das
war verdammt viel Geld, damals.«
Sein Blick ging in die Ferne. »William … Ich wollte ihm fast
einmal eine Karte schicken, aber … Es blieb bei der Idee.«
»Das war sicher das Beste.«
»Wie geht es ihm? Wenn er noch …«
»Nein, er ist tot.«
»Besser so, vielleicht. Für ihn. Ich gehe bald denselben Weg
wie er.«
»Dann treffen Sie sich ja vielleicht wieder? Eine Lottorunde
im Himmel, das wäre doch etwas, oder? Aber andererseits … Es
fragt sich, ob er noch einmal das Risiko eingehen würde, Ihr
Kompagnon zu sein.«
Er sah mich schwermütig an. »Nein, das stimmt wohl … Na,
dann adieu, Veum – so heißen Sie doch?«
»Ja, adieu – und danke für die Begleitung, all diese Jahre.«
Viel mehr war nicht zu sagen. Ich blieb einen Moment stehen,
während sie im Fahrstuhl verschwanden. Was auch immer sie
noch vorhatten; zu allererst brauchten sie jetzt eine Zeit für sich,
allein mit ihren Erinnerungen – ja, vielleicht sogar mit einer gar
nicht so kleinen Prise schlechtem Gewissen. Ich selbst
unternahm ein Allerletztes in diesem Fall. Ich schickte ein paar
Wochen später einen Brief an seine Schwester und erzählte ihr
das Ganze in groben Zügen. Aber ich bekam nie eine Antwort.
Vielleicht gefiel ihr das, was ich zu erzählen hatte, auch nicht.
Oder es war ihr egal, nach all den Jahren.
260
Für alle Fälle schrieb ich einen ausführlichen Bericht für mein
eigenes Archiv. Ich zögerte ein wenig, bevor ich mich
entscheiden konnte, unter welchem Stichwort ich ihn ablegen
sollte. Schließlich nahm ich doch das Naheliegendste: ERSTER
FALL. Ich war froh, auch unter diesen »Abgeschlossen« und
dann das Datum schreiben zu können, auch wenn es
fünfundzwanzig Jahre zu spät war.
Wenn ich später an dem kleinen Haus in Nøstet vorbeikam, in
dem der Tabakladen gewesen war, der vor mehreren Jahren
durch einen Kebabladen ersetzt wurde, musste ich immer wieder
an den Mann denken, der im Keller ruhte, unter einem
Betonboden, der vor fünfundzwanzig Jahren neu gewesen war,
aber dennoch eines schönen Tages reif für eine Erneuerung sein
würde. Bis dahin schlief er sicher.
261
Nachts allein nach Hause
Aino Trosell
Nie würde sie den Anblick vergessen, nie. Sie hatte die
Abendmesse besucht und anschließend hatte sie mit Fanny bei
Emil und Jon Tee getrunken. Danach hatte sie bestimmt eine
halbe Stunde lang mit Fanny vor deren Haustür gestanden und
sich unterhalten, ehe sie weiterradelte. Als sie in den kleinen
Park einbog, lag er plötzlich wie eine Jesuskrippe vor ihr,
taghell von starken Scheinwerfern erleuchtet und im
Hintergrund Polizisten und ihre Wagen mit den wirbelnden
Blaulichtern. Sie hatte den Hügel abwärts so viel Tempo gehabt,
dass sie erst kurz vor der Absperrung zum Halten kam. Sie
konnte es sehen, ehe man sie wegscheuchte.
Die Tote lag auf dem Rücken, die Zunge hing aus dem Mund,
und die Augen waren so weit aufgerissen, als würden sie gleich
aus den Höhlen treten. Auch die Beine waren gespreizt, und der
Unterleib war nackt. Obwohl Frost war.
Katarina erkannte sie sofort. Sie waren im gleichen Alter, sie
kannte sie aus der Kindheit, obwohl sie nicht in denselben
Kindergarten gegangen waren, und jetzt arbeitete sie sicher im
Badepalast. Hatte dort gearbeitet. Sie war schließlich tot.
Katarina war sechsundzwanzig Jahre alt und hatte vorher noch
nie einen toten Menschen gesehen. Ein Polizist führte sie sanft,
aber bestimmt fort, sie sei so schnell da gewesen, dass man noch
nicht dazu gekommen sei, alle Sperren aufzustellen, doch jetzt
solle sie einfach nach Hause fahren, morgen werde bestimmt
alles in der Zeitung stehen, dann werde sie Bescheid wissen.
»Ich kenne sie«, stammelte sie, »ich meine, ich weiß, wer das
da ist, wir sind gleich alt.«
262
»Fahren Sie jetzt nach Hause«, wiederholte der Polizist,
»versuchen Sie zu vergessen, was Sie gesehen haben, den
kriegen wir bald, jetzt ist er endgültig zu weit gegangen.«
Der Albtraum war also nicht zu Ende, im Gegenteil, das war
erst der Anfang gewesen. Ein Vergewaltiger lief seit einem
halben Jahr frei herum, und jetzt war er auch noch zum Mörder
geworden.
Dreimal waren in der Stadt Frauen vergewaltigt worden und
die Stimmung grenzte schon an Hysterie. Die Vergewaltigungen
wurden mit äußerster Brutalität begangen, und die Frauen waren
mit gebrochenen Rippen und zerfetzten Genitalien ins
Krankenhaus eingeliefert worden. Jetzt war also ein
entscheidender Wendepunkt im Vorgehen des Vergewaltigers
eingetreten, er hatte eine Grenze überschritten. Was er getan
hatte, war unwiderruflich. Jetzt konnte alles Mögliche passieren.
Als sie zu Hause in ihrer sicheren Wohnung ankam,
kontrollierte sie zum ersten Mal im Leben die Wandschränke
und guckte unters Bett. Sie wohnte im fünften Stock, es konnte
sich also niemand über den Balkon Zutritt verschaffen, doch
sicherheitshalber überprüfte sie alle Fenster und vergewisserte
sich, dass die Balkontür verschlossen war. Die Haustür hatte
Sicherheitsgitter und ein Chubbschloss. Sie war geschützt.
Es dauerte ein paar Wochen, bis der entsetzliche Anblick zu
verblassen begann und sie wieder nach Hause kommen konnte,
ohne gleich die Wohnung nach potenziellen Mördern zu
durchsuchen.
Die Kirche war ihre feste Anlaufstelle, dort hatte sie ihre
Freunde und ihr soziales Leben. Die Kirche war ihre Familie
und ihre ganze Geborgenheit. Sie war im Kirchenvorstand und
sang im Chor. Ihre Beziehung zu Gott bestand aus Liebe ohne
Schnörkel. Ihr Leben war gut.
Der Vergewaltiger hatte die Stadt nach wie vor eisern im
263
Griff. Kein Mensch fühlte sich sicher, die Männer sahen sich
schuldbewusst alle in einen Topf geworfen, und die Frauen
hatten Angst, sobald sie allein waren. Auch in der Kirche
wurden die schrecklichen Verbrechen diskutiert. Die Polizei
hatte wenige oder keine Spuren vom Täter. Natürlich gab es
Spuren: in Form von Sperma, Hautpartikeln und einzelnen
Haaren unter den Nägeln der Opfer. Doch die Antwort der
Analyse der DNA warf eine Frage auf: Ist er es? Da der Täter
nicht in der Kartei der Polizei war, ergab sich nie die Frage, die
zur Antwort hätte passen und somit die Stadt aus der
Umklammerung des Terrors hätte befreien können.
Viele Abende vergingen damit, dass sie viele Kannen Tee
tranken. Meistens mit Emil, Jón und Fanny, und meistens saßen
sie zu Hause bei Emil und Jón und redeten. Sie waren keine
zwei Paare. Sondern vier Freunde. Eine zarte und kaum
wahrnehmbare Erwartung lag bei ihren Verabredungen in der
Luft, doch die Freundschaft war gerade jetzt das Wichtigste. Zu
gegebener Zeit würde jemand den entscheidenden Schritt tun.
Nicht aus romantischen, sondern aus Gründen der Sicherheit
brachten Emil und Jón Katarina und Fanny nach dem
Vorkommnis im Park nach Hause. Treu wie Hofhunde radelten
die beiden Männer neben ihnen her und blieben so lange vor der
jeweiligen Haustür stehen, bis sie sahen, dass im richtigen
Fenster das Licht anging und eine Hand winkte.
Katarina entspannte sich. Bei Tageslicht hatte sie keine Angst.
Außerdem hatte sie einen kurzen Weg zur Arbeit. Die Tätigkeit
in der Kirche brauchte sie dank der fürsorglichen Abendrituale
der beiden Freunde auch nicht zu vernachlässigen.
Immer schon hatte sie Sport getrieben, und jetzt machte sie
zusätzlich Krafttraining. Das gab ihr ein gutes Gefühl. Sogar
psychisch wirkte sich die physische Kraft bei ihr aus, sie wurde
264
sicher und ruhig. Alles würde gut werden. Und eines Tages
würde Emil seine Hand nach ihrer ausstrecken und sie etwas zu
lange festhalten.
Fanny und Jón würden auch ein Paar werden. Aber damit hatte
es keine Eile. Sie wussten alle vier, dass nach diesem Tag nichts
mehr so sein würde wie früher. Sie waren füreinander bestimmt.
Sie hatten sich füreinander aufgehoben. Sie trieben sich nicht
herum und probierten nicht alles Mögliche aus, sodass an dem
einen Tag alles besudelt wäre. Sie trafen zuerst ihre
Entscheidung. Danach ließen sie ihre Seelen und Körper von
Gottes schönsten Gefühlen erfüllen. Und diese Liebe würde ein
Leben lang halten, bis dass der Tod sie schiede.
Fanny war ihre beste Freundin, mit ihr konnte sie über alles
reden, über fast alles. Fanny arbeitete in einer Kindertagesstätte
und war ungezwungener und fröhlicher als sie, Katarina. Fanny
betreute mit zwei Kolleginnen fünfundzwanzig kleine Knirpse,
sie trug große Verantwortung. Katarina beneidete sie nicht. Sie
selbst war Laborantin, was ebenfalls eine große Verantwortung
bedeutete – ihr durften keine Fehler unterlaufen –, dennoch kam
ihr die Arbeit wie eine Verwaltungstätigkeit vor. Sie musste
nicht immer gut gelaunt sein, Hauptsache, sie war genau und
gründlich. Dass Untersuchungsergebnisse vertauscht wurden,
war ihr unbegreiflich. Sie ging systematisch vor, weder pokerte
sie, noch überließ sie irgendetwas dem Zufall. Gott hielt seine
schützende Hand über sie, sodass sie keine Katastrophe auslöste.
Doch er tat es nur, wenn sie selbst Verantwortung übernahm,
und damit war sie sehr einverstanden. Gott war eine
Aufforderung: Liebe deinen Nächsten! Eigentlich war alles
ziemlich einfach. Sollte Emil sie fragen, ob sie ihn heiraten
wolle, dann würde sie Ja sagen. Er tat ihr gut, weil er immer so
fröhlich und darauf bedacht war, dass auch sie fröhlich war, und
er würde ihren Kindern ein guter Vater sein. In dieser Hinsicht
war er eine verwandte Seele von Fanny. Aber an ihr, Katarina,
war er interessiert, das wusste sie. Jón wiederum war ein
265
bisschen so wie sie selbst, etwas schwermütiger, grüblerischer.
Für Jón hatte sie nur schwesterliche Gefühle, sie verstand ihn.
Und sie verstand ihn allzu gut, somit kam nicht der notwendige
Funke auf, den Ungleichheit entzünden konnte.
Manchmal träumte sie von einer Doppelhochzeit. Doch noch
war es zu früh, noch steckten ihre potenziellen Beziehungen in
den Windeln.
Eines Abends, als Emil sie wie immer zur Haustür begleitet
hatte, beugte er sich übers Fahrrad und küsste sie. Sie ließ es
geschehen und lächelte ihn an. Auch das, ja. Sie würden eines
Tages Sex miteinander haben, wenn sie ein richtiges Paar
geworden waren, wenn sie sich entschieden hatten. Gott war auf
ihrer Seite.
Sie zitterte. An dem Tag musste sie es ihm erzählen. Oder
nicht? Konnte sie es einfach bleiben lassen und so tun als sei
nichts geschehen? Aber würde sie die Kraft haben, das
Geheimnis die Ehe hindurch, ein Leben lang für sich zu
behalten? Aber was, wenn er andererseits seine Hand von ihr
nehmen würde, wenn sie es ihm erzählte?
Sie glaubte es nicht. Er war liebevoll und warmherzig. Er
würde sie nicht verurteilen. Außerdem war sie per Definition
unschuldig.
Die Gefühle sagten ihr etwas anderes. Sie war ganz und gar
nicht unschuldig, sondern schuldig und die Allerschmutzigste.
Auch wenn sie damals erst vierzehn war.
Vierzehn Jahre alt war sie gewesen und hatte sich falsch
verhalten, war falsch gewesen, hatte das Falsche gesagt und so
viele Fehler wie möglich gemacht, weil sie diese starken
Gefühle, diese besinnungslose Verachtung und den Hass anzog.
Mit einer Pipette gab sie vorsichtig je drei Tropfen
Kochsalzlösung in zehn verschiedene Reagenzgläser. Sie war
allein im Labor. Sie ließ sich von der ganzen Kraft der
Erinnerung mitreißen. Von der Erinnerung, wie sie ihre
266
Unschuld an einen Mann verlor, der in der Nachbarschaft
wohnte und behauptete, sie würde einen Hundertkronenschein
bekommen, wenn sie seine Küche putzte.
Hinterher bekam sie den Hunderter. Als wäre sie eine
Prostituierte gewesen. Und enttäuscht war er obendrein. Sagte,
er habe nicht gewusst, dass sie noch Jungfrau gewesen sei,
dadurch war es anstrengend für ihn.
Ihre Unterhose wurde blutig, und es lief eine Art Schleim aus
ihr. Sie erinnerte sich, wie sie nach Hause schlich, fast
gekrümmt, sie hatte Schmerzen. Die Unterhose stopfte sie in
einen leeren Milchkarton, den sie anschließend in den
Müllschlucker warf.
Niemand durfte je davon erfahren. Sie sah ihn manchmal. Er
tat, als sei nichts. Er hatte schließlich nichts gemacht. Er hatte
keine Gewalt angewendet, musste bloß etwas rechthaberisch
und energisch auftreten, er war schließlich so viel älter. Sie hatte
es erst begriffen, als es zu spät war, als es schon weh tat und er
fluchte. Weil es so anstrengend war und weil sie nicht die
geringste Ahnung hatte, wie das ging. Er hatte ihr ein Wissen
aufdrängt, von dessen Existenz sie nichts wusste. Sie stellte den
Ständer mit den Reagenzgläsern in den Laborkühlschrank und
machte einige Notizen. Das war doch über zehn Jahre her, das
war jetzt Vergangenheit. Sie würde es Emil erzählen, wenn er
um ihre Hand anhielt, dann konnte er selbst urteilen, ob sie eine
Schlampe war oder dieser Nachbar ein Päderast.
Die Gemeinde war am Ende ihre Rettung gewesen. Ihre
Altersgenossen hatten eine Fete nach der anderen gefeiert, doch
sie war Jesus an einem wunderbar warmen Winterabend
begegnet, als das Lied sie anonym zum Himmel emporhob,
sodass sie sich bedingungslos und ohne Furcht hingeben konnte.
So bekam sie endlich eine Zugehörigkeit, wie eine große
Umarmung, und allmählich sogar Freunde, und sie dachte, das
Geschehene habe vielleicht seinen Sinn gehabt, ja, sicher hatte
Gott einen Plan, wenn er sie dieser Prüfung unterwarf.
267
Sie band sich einen Mundschutz um und begann unter einem
Abzug zu arbeiten. Ihre Arbeitskollegen kehrten von der Pause
zurück. Ja, bestimmt hatte auch das seinen Sinn, dass sie in so
jungen Jahren ohne Gewalt vergewaltigt wurde. Gott liebte sie,
er wusste, was er mit ihr auch in der allerschwersten Prüfung
vorhatte, wenn die Zeit gekommen war, würde sie es erfahren.
Die Antwort ließ nur drei Tage auf sich warten. Sie saßen wie
immer bei Emil und warteten auf Tee und Kuchen. Er war
Muffins kaufen gegangen, und Fanny fiel plötzlich ein, dass sie
ihr Handy in der Kirche vergessen hatte. »Wenn ich mich beeile,
schaffe ich es noch, bevor der Wachmann Feierabend macht«,
sagte sie und warf sich die Jacke über. »Ich komme mit«, meinte
Jón, doch sie schnitt nur eine Grimasse, gefolgt von einem
Lächeln, und verschwand die Treppe hinunter, ehe sie etwas tun
konnten. Es waren nur fünf Minuten bis zur Kirche, wenn man
die Abkürzung nahm, es war nur ein Katzensprung. Jón und sie
schauten sich im Fernsehen weiter den interessanten
Dokumentarfilm an, Emil kam dann irgendwann mit herrlich
duftenden Muffins vom Kiosk, und sie beschlossen, auf Fanny
zu warten, ehe sie den Tee einschenkten.
Als die Sendung zu Ende war, begannen sie sich zu wundern.
Jón wählte ihre Handynummer. Aber es war nach der Messe
immer noch abgeschaltet.
Sie sagten kein Wort, sondern zogen die Mäntel an und
machten sich auf den Weg, um sie abzuholen. Lachen und
Scherzen aber waren ihnen vergangen, als hätten sie es schon
geahnt.
Der Wachmann war noch beim Abschließen. Nein, er hatte
Fanny nicht gesehen.
Sie fanden das Mobiltelefon, es lag auf der Bank, in der sie
gesessen hatte.
Die Abkürzung, ja. Jetzt hatten sie es nicht mehr so eilig,
268
sondern durchstreiften den kleinen Park langsam. »Man könnte
eine Taschenlampe gebrauchen«, sagte Emil. Katarina traute
sich kein Wort zu sagen aus Angst, sie könnte anfangen zu
weinen.
Sie lag gut sichtbar, wenn man nur vom Weg abwich. Sie lag
ausgestreckt unter einem Baum, und Katarina war es, die sie
fand. Die Augen waren aus den Höhlen gequollen, ebenso die
Zunge. Sie hatte noch immer die Jacke an, doch am Unterleib
war sie nackt.
In der Notaufnahme, nur wenige Stunden später, fällte sie ihre
Entscheidung. Während das Pflegepersonal sie umsorgte und
von ihrem Schock sprach, arbeitete ihr Gehirn mit eiskalter
Präzision. Diesem Werkzeug des Teufels würde jetzt der Garaus
gemacht. Jetzt wusste sie, welche Aufgabe Gott für sie
bereithielt.
»Sie müssen weinen«, sagte die Ärztin, »weinen Sie! Sonst
stößt es Ihnen sauer auf und hinterlässt fürs ganze Leben Narben
auf der Seele.«
Scher dich zum Teufel, dachte sie roh, als hätte sie schon mit
allen Normen der Gemeinde gebrochen. Und ihr fiel nichts
anderes als nur Flüche ein, und am Ende sprach sie sie laut aus,
immer mehr. Aber die Ärztin schien nicht erstaunt. »Gut«,
meinte sie nur, »raus mit dem Scheiß, Sie haben Ihre beste
Freundin erwürgt liegen gesehen, Sie müssen reagieren.«
Endlich entließ man sie, und sie konnte heimfahren. Emil und
Jon waren weiß wie die Wand, boten aber trotzdem an, sie nach
Hause zu bringen. Sie sagte, das sei nicht nötig.
Sie hatte bereits ihre Entscheidung gefällt. Der Teufel hatte
jetzt zum letzten Mal zugeschlagen, jetzt würde er geschnappt
werden.
269
Nach der Beerdigung weihte sie Emil und Jon in ihren Plan ein.
Es war sehr einfach. Auch unter Fannys Nägeln hatte man
Hautpartikel gefunden, auch Sperma in ihrer Scheide. Die
Antwort lag vor. Fehlte nur noch die Frage: Ist er es?
»Und ich kann die Frage liefern«, stellte Katarina fest. »Ihr
könnt mich nicht aufhalten, alle Überredungsversuche sind
zwecklos. Aber ihr könnt mich unterstützen oder mich machen
lassen.«
Ihre abwehrende Haltung zeigte Wirkung. Sie waren
schließlich nach wie vor die besten Freunde. Emil schaute ihr
besonders lang in die Augen. »Dir darf nichts passieren«, sagte
er. »Mir wird nicht mehr passieren, als ich selbst zulasse«,
antwortete sie, wobei sie sich gleichzeitig in den eigenen
Oberarm kniff, »du weißt, wie gut durchtrainiert ich bin.«
Leider war nicht nur ihr allein der glänzende Plan eingefallen.
Die Polizei hatte ebenfalls eins und eins zusammengezählt und
erkannt, dass der Mörder schnell und gefühlskalt zuschlug und
dass auch der kleinste Park der nächste Tatort sein konnte. Also
wurden alle Grünanlagen intensiv und verdeckt überwacht.
Außerdem nahm die Hysterie gigantische Ausmaße an, keine
Frau wagte sich überhaupt noch nach Einbruch der Dunkelheit
auf die Straße. Restaurants und Kneipen klagten über
ausbleibende Gäste, die brutalen Verbrechen machten mehrere
Wochen lang Schlagzeilen auf den Titelblättern.
Doch selbstverständlich beruhigte sich die Lage im Lauf der
Zeit wieder. Die Psyche des Menschen ist rational, und die Zeit
heilt alle Wunden. Er ist wohl woanders hingezogen, dachte
man, jetzt ist ein halbes Jahr nichts passiert, aber vorher jeden
zweiten Monat, wahrscheinlich sitzt er in der Klapse oder ist tot.
Ja, er hat sich wohl das Leben genommen, vielleicht hat die
Polizei schon die Ermittlungen eingestellt, nachdem ein
Selbstmörder alle Anzeichen von Schuld aufgewiesen hatte.
Die Frauen waren immer noch vorsichtig, aber es füllten sich
270
die Attraktionen des Abends wieder, und nun gab es eine
weitere junge Frau, der man an den Bartresen der Stadt
begegnen konnte, und sie hatte einen gesunden Zug am Leibe.
Jedenfalls machte es den Eindruck. Die Gäste wurden
vertraulicher, und sie lachte laut, ihr vulgäres Auftreten war fast
unangenehm. Sie wurde oft in Ruhe gelassen. Auch wenn sie
jemand anmachte – denn sie sah gut aus –, so schwankte sie
nachts immer allein nach Hause.
Und immer hatte sie in irgendeinem Park etwas zu erledigen.
Tat, als müsse sie pinkeln. Rein und raus aus den verschiedenen
Parks, halbe Nächte, hoffte beobachtet zu werden. Ja. Sie würde
die Frage liefern.
Zur bereits gegebenen Antwort. Sie würde einen ganzen Kerl
voller DNA anziehen. Sodass sie sich aussuchen konnten, wo sie
die notwendige Probe entnehmen wollten.
Sie hatte keine Angst. War nur entschlossen. Sie war sogar
bewaffnet, sie hatte einen kleinen schweren Totschläger aus Blei
in der Manteltasche, das leiseste Rascheln, und sie würde ihn
wie einen Diskus gegen den Angreifer schleudern, das hatte sie
sich überlegt, er wäre auf so etwas nicht gefasst, so wie sie vom
Alkohol benebelt zu sein vorgab. Sie würde ihn mit dem
Totschläger zu Boden schicken und dann filzen, um seine
Identität festzustellen. Der Rest war reine Polizeiroutine, eine
Anzeige, eine Untersuchung, fehlende Alibis und am Ende
Rechtsanspruch auf Ablieferung einer Probe zur DNA-Analyse.
Sie wusste, wie gefährlich das Spiel war, das sie trieb.
Womöglich war er Athlet, vielleicht schneller und leiser, als
sie sich vorstellte. Er war vielleicht gerissener als sie. Er hatte
sie bestimmt schon gesehen, wartete aber ab, ließ sich Zeit, bis
er zuschlug. Er lauerte auf etwas.
Sie wusste nicht, worauf. Aber sie war sich sicher, dass er sie
beobachtete, dass er nur den richtigen Augenblick abpasste.
271
Die ganze Zeit waren Emil und Jon in der Nähe. Sie machten
sich um sie große Sorgen und versuchten sie zu beobachten,
ohne dass sie es merkte, was nicht einfach war. Einige Male
hatten sie ihre fürchterlichen Wutausbrüche zu spüren
bekommen. Sie hatten Angst, ihre Freundschaft zu verlieren.
»Wir können doch wohl auch in die Kneipe gehen«, versuchten
sie zu erklären. »Trinkt doch«, provozierte sie, »zeigt doch mal,
was für große Saufbolde ihr seid.«
Doch sie vertrugen Alkohol schlecht und fielen auf wie Spatzen
im Spiel der Kraniche. Katarina lachte ordinär, als Jon schlecht
wurde und Emil gezwungen war, ihn nach Hause zu chauffieren.
Da war sie die beiden los.
Als der Herbst in den Winter überging, war in der Stadt alles
fast wie früher. Doch Katarina hatte nicht vergessen, dass sie zu
dieser Jahreszeit zum ersten Mal das Werk des Mörders gesehen
hatte, als sie durch den Park geradelt war.
Darum setzte sie ihre nächtlichen Wanderungen durch die
verschiedenen Parks der Stadt fort, mehrere Abende in der
Woche. Sie war besessen.
In dünnen Strumpfhosen, hochhackigen Schuhen und im
Minirock lief sie durch die Dunkelheit, als sei das die
natürlichste Sache von der Welt, die einzigen Menschen, die ihr
begegneten, waren vereinzelte, erstaunte Hundebesitzer. Sogar
die Hunde sahen aus als frören sie und zogen an der Leine, um
schnell wieder zurück nach Hause ins Warme zu kommen.
Schließlich hielt der Winter die Stadt mit eisigem Griff
umklammert, die Temperatur sank auf unter minus zwanzig
Grad, und Schnee fiel, Massen von Schnee.
Sie hatte so getan, als ließe sie sich in der Kneipe Black Velvet
volllaufen und torkelte jetzt den Bürgersteig entlang. Sie sah,
wie der Türsteher ihr besorgt nachblickte, und befürchtete, er
272
würde ihr folgen, um sie vor dem möglichen Erfrierungstod zu
retten. Doch er blieb zum Glück stehen, hatte sich schließlich
um seinen Job zu kümmern.
Sie hatte einen Heimweg von einem Kilometer vor sich, und
die Hälfte der Strecke konnte sie durch den großen Stadtpark
laufen.
Sie sah schon, wie die Bäume über den nächsten Mietshäusern
aufragten. Der Wind heulte, und der Schnee hatte sich auf dem
Bürgersteig aufgetürmt, sodass man selbst in vollkommen
nüchternem Zustand nur schwer vorankam.
Sie trug eine schwarze Strumpfhose, lange, aber dünne Stiefel
einen Minirock und einen synthetischen Leopardenpelz. Nichts
auf dem Kopf. Sie sah wie eine richtige Nutte aus. Fehlte nur
noch der Beobachter, die Straßen waren menschenleer. Das
Unwetter und die Kälte hatten auch die allerabgehärtetsten
Kneipengänger heimwärts getrieben.
Im Park war ein Vorwärtskommen wahrscheinlich noch
schwieriger. Sie stapfte durch den Schnee, und es war nicht
einfach, die Betrunkene zu spielen. Vielmehr sah sie wohl wie
eine Geisteskranke aus, die sich zwischen die wahnsinnig
peitschenden Bäume und den wirbelnden Schnee begab. Sie
zitterte vor Kälte, und die Beine fühlten sich taub an, auch die
Finger, Zehen, das Gesicht. Das Make-up brannte in den Augen,
sie rieb es fort, schaute bestimmt aus wie eine Idiotin, aber hier
sah sie niemand. Sie könnte sich glücklich schätzen, wenn sie in
dieser Nacht überhaupt zu Hause ankam. Auszugehen war eine
schwachsinnige Idee gewesen, sie hatte doch den Wetterbericht
gesehen, sie hätte es besser wissen müssen. Bitter bereute sie
ihre unerschütterliche Haltung, wenigstens etwas Verstand im
Kopf musste man doch haben, zumal wenn man Jagd auf
Mörder und ihre DNA machte. Kein Mensch setzte in so einer
Nacht einen Fuß vor die Tür. Bloß sie dumme Gans. Sie
schluchzte, ja, sie weinte. Weil sie fror, weil sie so allein war,
weil sie nicht wusste, ob sie es überhaupt schaffen würde, bei
273
diesem schrecklichen Wetter den ganzen Weg nach Hause zu
gehen. Aber wenn sie sich zum Ausruhen hinsetzte, war alles
vorbei, das war ihr klar. Schließlich weinte sie um Fanny. Zum
ersten Mal kam die Trauer hoch. Und die wird mich das Leben
kosten, dachte sie. Ihre beste Freundin, Fanny mit den lustigen
Eichhörnchenaugen, dem ansteckenden Lachen, der herzlichen
Fürsorglichkeit. Fanny, die für sie wie eine Mutter und
Schwester gewesen war, die alles für sie gewesen war. Sie nie
mehr sehen zu dürfen. Das Weinen schüttelte sie.
Am Ende hockte sie sich hin. Das war schön. Etwas im
Windschatten hinter einem Baumstamm. Sie war so müde und
fühlte nirgends mehr etwas. Trotzdem zitterte sie und konnte
nichts dagegen tun. Ich will mich nur kurz ausruhen, dachte sie.
Aber hinter dem Gedanken steckte etwas anderes: Ist egal,
niemand wird mich vermissen, wenn ich tot bin. Doch, vielleicht
Emil, armer geduldiger loyaler Emil, der hofft, wir würden eines
Tages heiraten. Jetzt muss er sich eine andere suchen. Nein, sie
musste weitergehen. Es war noch nicht Zeit zu sterben. Das zu
tun war gegen Gottes Gebot. Andererseits hatte sie schon mehr
gesündigt als alle anderen, was spielte es also noch für eine
Rolle.
Trotzdem stand sie auf und kämpfte sich gegen den Wind
weiter vorwärts. Mit eisernem Willen würde sie es nach Hause
schaffen. Wenn denn ein eiserner Wille ausreichte. Gegen diese
fundamentale Dummheit, diesen sündigen Hochmut, für wen
hielt sie sich eigentlich?
Plötzlich hörte sie durch das Heulen des Windes ein Geräusch.
Das Brummen eines Motors. Und eine Stimme. »Katarina!
Katarina!«
Und Licht. Scheinwerfer. Ein Auto war in den Park gefahren
und hatte neben ihr angehalten. Als sie den Fahrer erkannte,
brach sie in Tränen aus. Danke, lieber Gott!
Emil war da. Er hatte sich den Wagen der Gemeinde geliehen,
274
und die Scheiben waren nicht vereist, das Auto war warm,
bereit, sie aufzunehmen. Schnell sprang er heraus und führte sie
zur Beifahrerseite. »Der Sitz ist beheizt«, sagte er fürsorglich,
»bald wird dir warm, wirst gleich sehen.« Die Belüftung blies
ihr einen tropischen Wind, herrliche Wärme ins Gesicht.
Er setzte sich wieder hinters Steuer und schloss die Tür. Das
Heulen des Windes verstummte und wurde von einem ruhigen
Blues aus dem Autoradio abgelöst. »Woher wusstest du?«,
flüsterte sie erleichtert.
»Du hättest an so einem Abend nicht aus dem Haus gehen
dürfen«, warf er ihr vor, »das war dumm von dir, sehr dumm.«
Sie nickte. »Ich dachte, ich muss sterben«, sagte sie. »Durch
meinen eigenen Übermut, ich dachte, ich würde meine Strafe
bekommen.«
In dem Augenblick hörte sie ein leises Klicken.
»Was war das?«
»Die Zentralverriegelung, Liebling.«
Liebling? Sie hatte nicht die Kraft, über die neue Anrede
nachzudenken, dass sie plötzlich so intim mit ihm war, sein
Liebling geworden war. Sie war einfach nur erleichtert.
Er fuhr aus dem Park und weiter nach Norden in ihren Stadtteil.
Langsam taute sie auf. Schaute sich in dem wohl vertrauten
Gemeindeauto um, in dem sie altersschwache Kirchgänger
immer abholten. Wie eine rettende Flotte in stürmischer See,
diese gesegnete Wärme. Und dieser gesegnete Mann, ihr Emil.
Das Licht des reflektierenden Schnees draußen glänzte in seinen
Augen, er lächelte still, sah sie an.
Sie erwiderte das Lächeln. Bald waren sie da. Die Straßen
waren nicht geräumt, und es lag so viel Schnee, dass man nicht
an den Rand des Bürgersteigs fahren konnte. Doch andererseits
war kein Verkehr. »Du kannst mich hier rauslassen«, sagte sie,
275
»ich steige auf der Straße aus. Ich winke, wenn ich oben bin.«
Doch er hielt nicht an. Sondern fuhr an ihrem Haus vorbei.
»Halt, Emil, jetzt bist zu weit gefahren.«
Er schien sie nicht zu hören.
»Emil, wo fährst du hin?«
»Zu einem neuen Park. Zu einem, den du bei all deinen
nächtlichen Wanderungen ausgelassen hast.«
Er lächelte ihr wieder zu. Doch das Lächeln war anders, kalt
und anzüglich. Oder bildete sie sich das nur ein?
»Ein anderer Park, Liebling. Variation und Erneuerung, you
know.«
Die Erkenntnis tat körperlich weh. Gewichte schwer wie Blei
fielen in ihrem Körper – ein anderer Park! Konnte es wahr sein,
konnte er es sein?
Bange schielte sie zu ihm hinüber. Er grinste jetzt übers ganze
Gesicht und fuhr zügig durch die Stadt. Seine Worte waren nur
in eine Richtung zu deuten. Oder erlaubte er sich einen Scherz?
Nein, der Emil, den sie kannte, würde sich nie zu einem
solchen Scherz hinreißen lassen. Neben ihr saß ein Fremder, ein
Mann, den sie nicht kannte.
Sie wusste nicht, dass Gefühle körperlich so weh tun konnten.
Die Muskeln schmerzten, der Kopf dröhnte, ihr Emil, das durfte
nicht wahr sein!
Doch die Worte hingen unerbittlich in der warmen Luft. Er
hatte es gesagt. Er war es.
»Du kannst es trotzdem machen«, flüsterte sie. »Du musst mich
nicht umbringen, oder?«
Ein Schnauben war seine Antwort. »Das ist es gerade«, sagte
er dann. »Dass du so eine Schlampe bist, was für ein Glück, dass
276
es herausgekommen ist. Und mit dir wäre ich fast den heiligen
Bund der Ehe eingegangen.«
»Was habe ich getan?«
»Guck dich an!«
»Du weißt doch, warum. Und Fanny? Was hatte sie getan?«
»Du musst blind gewesen sein. Hast du ihre Blicke vergessen,
ihr Lachen, wie sie sich bewegte?«
»Sie war süß, Emil, ist das ein Verbrechen?«
»Sie hatte selbst Schuld. Sie hätte es wissen müssen. Doch sie
hat beschlossen, sich zur Schau zu stellen und die Leute
durcheinander zu bringen.«
»Das hat dich angemacht?«
»Was für ein Ausdruck. Typisch für dich. Ich war verzweifelt.
Ich strafe – so wie ihr darum bettelt, bestraft zu werden.«
Sein Gesicht war jetzt vollkommen verändert. Die schwache
Beleuchtung vom Armaturenbrett unterstrich zusätzlich seinen
grotesken Gesichtsausdruck. Die Erkenntnis wie bleischwere
Gewichte in ihrem Körper. Eine innere Kälte jetzt, viel
schlimmer als die äußere. Eine glasklare Anwesenheit im Jetzt.
Sie legte den Sicherheitsgurt an, registrierte, dass er nicht
angeschnallt war. Bleischwere Gewichte im Körper, der bleierne
Totschläger in der Hand, er bog auf den großen Friedhof ein,
aha, das war also der Park, sie schleuderte das ganze
Bleigewicht direkt gegen seine ungeschützte Schläfe. Und dann
wurde es schwarz.
Eine Woche später wusste sie, dass ein ganzer Kerl voller DNA
zufriedenstellend abgeliefert worden war, er überleben und seine
Strafe bekommen würde.
Sie selbst würde lernen, mit ihrer Einsamkeit zu leben und
ohne die Geborgenheit, die Gott spendet. Seinen Schutz gab es
nirgendwo, nicht mal in seiner heiligen Gemeinde. Eine
277
Aufforderung war er nach wie vor, doch von unergründlicher,
schmerzlicher Art. Die Liebe, die sie für das Ziel gehalten hatte,
musste sie selbst erschaffen, jemandem zu geben versuchen,
obwohl sie aus Mangel an dieser Wärme selbst schwere
Erfrierungen erlitten hatte. Das half nichts. Sie musste selbst
lieben und nicht warten, bis jemand kam und sie erlöste.
Ein bisschen zufrieden war sie dennoch, weil sie eine Reihe
von Frauen vor einem gewaltsamen Tod gerettet hatte, die
eiserne Umklammerung der Gewalt nachgelassen und gerade in
diesem Augenblick niemand mehr Angst hatte.
278
Krebsfest in Schwarz
Marita Gleisner
Ich holte die große schwarze Servierplatte heraus, hielt aber in
der Bewegung inne und zog den Duft von frisch gepflücktem
Dill ein, einfach herrlich. Ich wollte gleich die aufgetauten
Krebse zu einer Pyramide auf der Platte schichten und sie ganz
oben mit schönen Sträußen von Dillkronen garnieren, als ich
feststellte, dass die Krebse noch leicht gefroren waren.
Vorsichtig löste ich sie voneinander, damit keine Schere
abbrach, und reihte sie zum Abtropfen einen nach dem anderen
auf Küchenpapier auf. Da kam Johan in die Küche.
»Du willst doch nicht etwa den Tisch mit schwarzen Tellern
decken?«, fragte er in energischem Ton.
Ich schaute hinunter auf die Arbeitsplatte. Was war mit Johan
los? Ich hatte das Gefühl, wenn ich die große weiße Platte
herausgeholt hätte, wäre das auch nicht recht gewesen. Ich
starrte auf seine Schuhe und biss mir auf die Lippe. Ich ließ den
Blick seine dunkle Cordhose und das grau gestreifte Hemd
hinaufwandern. Er war groß und elegant, ein Mann mit
dunkelbraunen Augen und blondgelocktem Haar, immer gut
gekleidet. Jetzt war der Mund ein krummer Bleistiftstrich, und
Johan schüttelte den Kopf wie ein störrisches Kind. Er seufzte,
sagte aber nichts weiter. Er machte auf dem Absatz kehrt und
ging hinaus. Ein schwacher Duft von Rasierwasser blieb zurück
und mischte sich mit dem vom Dill.
Da war was. Ich hatte das im Gefühl. Er war genauso wie
damals, als wir noch in Åbo wohnten, bevor wir herzogen.
Damals hatte er angefangen an mir herumzumeckern und hatte
Rasierwasser benutzt, obwohl es Samstag und er zu Hause war.
Es konnte doch wohl nicht sein, dass er wieder … Nein, daran
wollte ich nicht denken. Wir waren umgezogen, um dem
279
Klatsch zu entfliehen, und wir konnten nicht noch einmal
umziehen. Johan hatte keine andere. Ich musste es mir immer
wieder sagen Johan war nur müde und überarbeitet.
Ich stellte die schwarze Servierplatte zurück und holte die
weiße heraus. Das rote Tischtuch würde sich nicht genauso gut
zu den weißen Tellern machen, aber es war wichtig, dass Johan
an diesem Abend gute Laune hatte. Johan war charmant und
freundlich. Alle mochten ihn. Er wollte Menschen um sich
haben, und darum hatte er Elin und Gustav zum Krebsfest
eingeladen. Wäre es nach mir gegangen, hätten wir zu Hause
allein vor dem Fernseher gesessen und einen Film geschaut.
Verglichen mit Johan war ich langweilig, eine kleine graue
Maus.
Ich legte die Decke auf den Tisch und holte die Gläser heraus.
Ich spülte sie unter heißem Wasser ab und polierte sie mit einem
Leinentuch. Beim Falten der Servietten schaute ich aus dem
Fenster und sah, dass Johan auf dem Weg ins Haus war. Sein
Handy klingelte, und er ging ein paar Schritte zurück. Als er das
Gespräch annahm, stand ich schon mit dem Ohr an der
Lüftungsklappe.
»Du bist also zu Hause«, sagte er sanft.
Mir war klar, dass er mit einer Frau sprach. Sie erzählte
offensichtlich, wo sie gewesen war und was sie gemacht hatte,
denn er stand lange stumm da und erwiderte nichts weiter als:
»Jaja, jaja.«
»Nein, das geht nicht«, sagte er in einer tieferen Stimmlage,
und ich hörte, wie er einen Stein wegkickte, sodass er gegen den
Holzschuppen flog.
Seine Stimme klang enttäuscht, und ich konnte nicht
heraushören, ob er nur so tat oder ob er wirklich enttäuscht war.
»Birgitta gibt ein Krebsfest«, erklärte er und seufzte
demonstrativ.
Doch die Anruferin gab sich mit der Antwort nicht zufrieden.
280
»Elin und Gustav«, sagte er.
Ich hörte, wie er nervös auf dem Kies auf und ab ging.
»Natürlich, natürlich«, erwiderte er.
Dann musste er sich umgedreht haben, denn das Einzige, was
ich hörte, war: »Wie immer« und »nach Mitternacht«.
Danach blieb er stumm, und ich, die glaubte, sie hätten das
Gespräch beendet, ging so schnell durchs Zimmer zur
Kommode, dass ich mir den kleinen Zeh an einem Stuhlbein
stieß. Es tat weh, und ich hätte am liebsten laut aufgeschrien.
Mein Gesicht wurde heiß, und ich zog schnell die oberste
Schublade mit dem Besteck auf. Ich wühlte nach den
Krebsmessern, während ich zur Tür schielte, doch Johan kam
nicht. Da humpelte ich zum Fenster und sah, dass er noch immer
auf dem Hof auf und ab wanderte, das Mobiltelefon am Ohr. Er
sagte nicht viel. Sie war es, die sprach.
Plötzlich hätte ich mich am liebsten übergeben. Ich hatte das
Gefühl, ich müsste mich davonschleichen und frische Luft
schnappen, darum riss ich den gerippten Strickpullover vom
Haken und schlüpfte durch die Küchentür hinaus.
Die Sonne brannte heiß. Sanfter Wind kam vom Meer, aber ich
hätte den Pullover nicht mitzunehmen brauchen. Bei der
Mülltonne bog ich auf den Waldweg ein und stellte fest, dass die
Blaubeeren reif waren. Ich hätte einen Korb mitnehmen sollen.
Mir war danach, Beeren zu pflücken, sie für den winterlichen
Bedarf einzukochen und zu entsaften, und nicht danach, Johans
Krebsfest auszurichten. Ich wollte mit dem Ohr zurück an die
Lüftungsklappe. »Wie immer« und »nach Mitternacht«, hatte er
gesagt. Was meinte er damit? Bei der bloßen Vorstellung, er
träfe sich mit einer anderen, während ich schlief, begann mein
kleiner Zeh zu schmerzen. Mir war rasch klar, dass ich mich
verhört haben musste. Es war nicht logisch, dass er sich mit
281
einer aus dem Dorf traf. Hier auf dem Berg wohnten nur
Kjerstin Ekdahl und wir. Kjerstin war allein, seit ihr Mann
Martin ausgezogen war.
Als ich über sie nachdachte, kam ihre schwarze Katze Frida
auf mich zu und begann sich auf dem Weg zu wälzen. Frida war
eine gutmütige, dicke schwarze Katze mit schön glänzendem
Fell. Martin hatte sie Kjerstin überlassen, weil seine neue Frau
allergisch war. Ich bückte mich und streichelte sie. Frida kam
oft zu mir, wenn ich allein war. Ich glaube, dass sie merkte, dass
Johan Katzen nicht mochte. Er sagte, sie brächten Tod und Pech,
aber ich glaube, er behauptete das nur, weil er Angst vor Katzen
hatte. Frida schien nicht genug kriegen zu können, darum nahm
ich sie auf den Arm und sie warf gleich ihren Motor an und
schnurrte an meiner Wange. Die Katze war süchtig nach
Gesellschaft. Hatte Kjerstin keine Zeit für sie? Und mir fiel auf,
dass Kjerstin sich lange nicht mehr hatte blicken lassen.
Ich wollte bis zum Felsvorsprung beim Kliff gehen und übers
Meer schauen, besann mich aber und ging stattdessen den Weg,
der hinter Kjerstins Haus entlangführte. Und ganz ohne Grund
blieb ich im Schutz der dichten Fichte stehen und spähte.
Kjerstin merkte nichts. Sie saß vor dem Haus in einem weißen
Plastikstuhl mit dem Rücken zu mir. Ihr blondes Haar glänzte in
der Sonne. Sie fuchtelte heftig mit der linken Hand in der Luft
herum. Sie sprach in ihr Mobiltelefon.
Bestimmt tratscht sie, dachte ich und spürte, dass der kleine
Zeh anschwoll. Der Fuß hatte kaum noch Platz im Schuh.
Kjerstin war bekannt dafür, dass sie allen Klatsch der Gegend
aufbauschte und weitergab. Kjerstin schmückte alles so aus,
dass belangloser Tratsch zu solcher Größe anwuchs, dass man
ihn als sensationelle Neuigkeit weitererzählen konnte. Nichts im
Dorf entging ihr. Sie wurde von denen geliebt, die alles wissen
wollten, und von jenen gehasst, die etwas zu verbergen hatten.
Und mir kam der Gedanke, dass sie bald vor jeder Gartenpforte
mit ihrem blauen Volvo Halt machen und erzählen würde, dass
282
Johan eine andere hatte. Vielleicht wusste sie schon, wer die
andere war.
Ich öffnete den Ofen und holte die Auflaufform mit dem
vorgebackenen Teig heraus. Ich brutzelte Champignons und
legte den Boden der Form damit aus. Anschließend zerbröckelte
ich Edelpilzkäse und streute eine Schicht darüber. Ich verquirlte
die Eier mit Milch und füllte die Form bis zum Rand auf.
Während alles im Ofen garte, duschte ich schnell und dachte,
dass die Frau, mit der Johan gesprochen hatte, Elin und Gustav
gekannt haben musste. Johan hatte ihre Vornamen genannt,
nicht »ein paar Bekannte« oder »die Forsmans« gesagt. Er hatte
»Elin und Gustav« gesagt, also wohnte sie im Dorf. Ich kannte
die Frau, auch Kjerstin kannte die Frau.
Als ich die Krebse zu einer Pyramide auf der weißen
Servierplatte aufschichtete, wusste ich, dass das Schlimmste sein
würde, wenn die Leute im Dorf von der Sache erfuhren. Dann
wäre es wieder so peinlich wie in Åbo, als Johan etwas mit dem
Aushilfsmädchen hatte. Ich konnte noch immer nicht fassen, mit
wie wenig Bedacht er seine Geliebte ausgesucht hatte. Ich ging
ins Badezimmer, bürstete die Haare und wickelte sie auf. Ich sah
es vor mir, wie Johan meiner Mutter, die damals noch lebte,
erklärt hatte, dass wir meinetwegen hierher gezogen waren. Er
hatte erzählt, er habe eine schlechter bezahlte Arbeit
angenommen, nur damit es mir hier auf dem Lande besser ging.
Doch meine Mutter hatte ihn durchschaut, oder zumindest war
ihr etwas aus Åbo zu Ohren gekommen. Bei der
Testamentseröffnung stellte sich heraus, dass sie es so abgefasst
hatte, dass Johan durch eheliche Gütergemeinschaft kein Recht
an dem Haus hatte. Verließ er mich wegen einer anderen, durfte
ich wenigstens das Haus behalten. Aber das war ein kleiner
Trost. Ich wollte auch Johan behalten.
Ich nahm die Wickler aus dem Haar und bürstete es wieder
glatt. Es war glanzlos und hatte gespaltene Spitzen. Ich brauchte
283
mich gar nicht im Spiegel zu betrachten, um zu wissen, dass
meine Nase schief und meine Augen zu klein waren. Ich hatte
eine fettige Haut, die immer glänzte. Trotzdem wollte ich Johan
für mich allein. Und ich war mit den Gedanken wieder bei
Kjerstin. Als ich spähend hinter der Fichte gestanden und ihr
blondiertes Haar gesehen hatte, war mir ein Gedanke
gekommen, aber der hatte sich gleich wieder verflüchtigt. Ich
versuchte ihm nachzuspüren, aber er fiel mir nicht mehr ein.
Stattdessen erinnerte ich mich an Kjerstins freundlich
einschmeichelnde Art, nachdem wir hergezogen waren. Ich hatte
erzählt, dass ich vorhatte, demnächst ein Geschäft für
Unterwäsche zu eröffnen. Ich hatte ihr geglaubt, als sie
versprach, es niemandem weiterzuerzählen. Doch schon am
nächsten Tag hatte man mich auf der Post und im
Lebensmittelladen gefragt, wann ich denn mein Geschäft
eröffnen wolle. Kurz darauf hatte Kjerstins Arbeitskollegin
meine Idee geklaut und ein Geschäft mit Unterwäsche
aufgemacht.
Ich wollte Kjerstin zur Rede stellen. Ich wollte ihr die
Meinung sagen, aber genau an dem Abend war Martin
ausgezogen, und Kjerstin saß in unserer Küche und weinte, als
ich aus der Stadt kam. Also sagte ich kein Wort. Johan musste
ihr beim Brennholzmachen helfen, und bei starkem Wind
musste er mit ihr aufs Wasser rudern und ihre Netze bergen. Es
kam in Kjerstins Gesellschaft zu so vielen Stunden voller
Tränen, dass ich in meinem eigenen Haus bald keine Ruhe mehr
hatte. Kjerstin spielte die Märtyrerin und heulte wie ein
Schlosshund. Bald konnte ich nachts nicht schlafen, und Johan
fand, ich sollte es einmal mit einem Schlafmittel probieren. Der
Vorschlag war gut, denn ich war einigermaßen aufgewühlt.
Eines Nachts hatte ich vergessen, meine Schlaftablette zu
nehmen, und erwachte in der Wolfsstunde. Johan hatte sich auf
einen nächtlichen Spaziergang begeben, und obwohl er eine
Stunde später zurück war, hatte ich mir Sorgen gemacht. Danach
284
sorgte Johan dafür, dass ich jeden Abend meine Schlaftablette
nahm.
Elin und Gustav kamen angeradelt, und Gustav lobte den guten
Duft von Dill, und Elin meinte, ich sähe hübsch aus in meinem
blauen Kleid. Johan schaltete seufzend sein Handy aus und
versprühte seinen Charme, während er drei Drinks einschenkte.
»Schlafmittel und Alkohol sind keine gute Mischung«, sagte
er zu Elin und Gustav und erklärte ausführlich, wie schwer ich
Schlaf fand. Er war sehr freundlich und nannte mich Liebling,
dennoch ließ er es so klingen, als sei ich nervenkrank oder
hysterisch. Er vergaß meinen Drink. Ich musste mir selbst eine
Cola mit Eis holen. Als ich zurück war, bildete ich mir ein, Elin
und Gustav schauten mich forschend an.
Der Wind war abgeflaut, und der Abend wurde warm. Wir
ließen die Terrassentür geöffnet, und während ich das Essen
auftrug, betrieb Johan draußen auf der Terrasse mit Elin und
Gustav Small Talk. Gustav rühmte die Aussicht.
»Aber Kjerstin hat eine noch bessere Aussicht«, sagte Johan.
»Hier verdecken die Bäume das meiste. Kjerstin sieht das
ganze Meer.«
Ich fragte mich, ob er tatsächlich auf ihrer Terrasse gesessen
hatte oder ob es so war, wie er behauptete.
»Fäll zwei Bäume, dann siehst auch du das Meer«, schlug
Gustav vor.
Da fiel mir gerade ein, dass die Frau, die Johan angerufen
hatte, zu der neugierigen Sorte gehörte. Sie war wie Kjerstin.
Das war der Gedanke, der mich angeflogen hatte, als ich
spähend hinter der Fichte stand. Zugleich fiel mir ein, dass
Johan bestimmt gern die Hälfte des Hauses besitzen würde, in
dem er wohnte.
285
Es dämmerte schon, und leichter Nebel war übers Wasser in die
Bucht gezogen. Ich goss den anderen Schnaps aus einer
beschlagenen Flasche ein und schenkte mir Cola nach. Bald
waren Johan und Gustav aufgekratzt, gesprächig und stimmten
hin und wieder ein Trinklied an. Ich spürte, dass ich kurz vorm
Eingehen war. Außerdem tat der kleine Zeh heftig weh. Wäre
ich allein gewesen, hätte ich mir einen Umschlag mit Eis
gemacht. Ich stellte die Teller zusammen und trug die
Servierplatte hinaus. Elin fiel bestimmt auf, dass ich humpelte,
und wollte behilflich sein, doch Johan wies darauf hin, dass Elin
und Gustav unsere Gäste seien und bei ihm sitzen mussten.
Während ich Kaffee kochte, klaubte ich die Krebsschalen
zusammen und warf sie in die Mülltüte. Ich knotete sie zu und
dachte daran, wie es morgen riechen würde, wenn ich die Tüte
nicht hinaustrug.
Auf der Küchentreppe fielen mir die Elstern ein, die die Tüte
in den frühen Morgenstunden zerpflücken und den Abfall
verteilen würden. Ich zwängte also den kleinen Zeh in einen
Schuh und ging mit der Tüte zur Mülltonne. Obwohl der Fuß
weh tat, humpelte ich den Weg weiter bis zum Felsvorsprung
unterhalb unseres Hauses. Johan und Gustav waren
wahrscheinlich draußen auf der Terrasse, doch sie würden mich
nicht sehen. Ich schaute nach oben. Gustav hatte Recht. Die
Bäume verdeckten die Aussicht. Fällten wir zwei, würden wir
das ganze Meer, den Felsvorsprung und das Kliff sehen, das
steil ins Meer auf eine Klippe abfiel.
In Gedanken versunken ging ich weiter und erschrak fast, denn
auf dem Felsvorsprung, der zu unserem Grundstück gehörte, saß
Kjerstin auf ihrem weißen Plastikstuhl und belauschte heimlich
das Gespräch da oben. Frida saß ein Stück weiter. Ich fragte
mich, woher Kjerstin wissen konnte, dass wir ein Krebsfest
gaben, doch nur einen Augenblick lang dachte ich das, denn
plötzlich wurde mir klar, wer es ihr erzählt hatte. Mir war alles
286
klar, und ich schaute mich um. Nicht ein Boot bewegte sich
draußen auf dem Meer.
»Prost«, sagte Johan in dem Augenblick, da ich mich an sie
heranschlich.
»Wo warst du?«, fragte Johan misstrauisch.
»Bei der Mülltonne«, antwortete ich.
Johan holte eine Flasche Cognac und drei Gläser. Ich stellte
die schwarzen Kaffeetassen auf den Tisch und stellte mich für
sein übertriebenes Flüstern taub: »weiße Tassen«. Ich war ruhig
und stellte auch die Schokoladentorte um auf die schwarze
Servierplatte. Hätte ich schwarze Servietten gehabt, hätte ich
auch die hingelegt. Jetzt mussten welche aus Papier mit weißen
Lilien auf goldfarbenem Grund reichen.
»Ich nehme etwas Cognac«, sagte ich, und Elins wie Gustavs
Gesicht hellte sich auf, und sie lächelten, Johan aber meinte
entschieden: »Nein.« Elin und Gustav lobten die Torte und
nahmen noch ein Stück. Johan begann bald auf die Uhr zu
schielen, und Elin merkte es. Sie wollte aufbrechen, aber ich
widersprach: »Es ist so schön, dass ihr hier seid. Bleibt doch
noch ein bisschen.«
Wir saßen lange beisammen. Die Sommernacht am
Bottnischen Meerbusen war warm wie am Mittelmeer. Wir
wären wohl noch länger sitzen geblieben, aber als Johan den
Cognac wegschloss, standen Elin und Gustav auf. Sie bestiegen
ihre Fahrräder, um nach Hause zu radeln, und Johan ermahnte
mich, meine Schlaftablette einzunehmen.
»Ich räume schnell ab«, sagte ich und machte mich daran,
Tassen und Gläser zusammenzustellen.
»Wir lassen den Abwasch stehen«, meinte er.
»Wir lassen nichts stehen«, widersprach ich, obwohl ich sah,
dass Johan verärgert war.
287
Ich reihte das Geschirr in der Spülmaschine auf und steckte die
Tischdecke und die Servietten in die Waschmaschine. Ich tat, als
drückte ich eine Schlaftablette aus der Folie und saß eine Weile
mit dem Glas in der Hand im Wohnzimmer auf dem Sofa. Johan
verfolgte mich mit Blicken. Ich führte die Scheintablette zum
Mund und gab vor zu schlucken. Ich hätte nach der Aussicht
von Kjerstins Terrasse fragen können, verkniff es mir aber. Es
spielte keine Rolle mehr.
»Das war ein schöner Abend«, stellte ich fest, und wir gingen
zu Bett.
Ich stellte mich schlafend, und Johan schlich aus dem Zimmer.
Er duschte und zog sich frische Kleidung an, und ich hörte, wie
er hinaus in die warme Nacht ging. Ich dachte an nichts. Ich lag
nur leer da in der Nacht. Eine Stunde und zwanzig Minuten
später, es war genau zehn nach vier, war er wieder da. Er machte
die Schlafzimmertür einen Spalt auf, kam aber nicht zu mir
herein. Ich hörte, wie er die Kühlschranktür öffnete. Er klirrte
mit Gläsern und ich konnte endlich einschlafen. Mein Johan war
nach Hause zurückgekehrt, um zu bleiben.
Am nächsten Morgen lag er auf dem Sofa und schlief. Er hatte
eine Alkoholfahne, die bis in die Küche zu riechen war. Ich
hängte die Tischdecke auf die Leine zwischen den Fichten, und
Frida, die auf der Treppe gesessen hatte, schlüpfte ins Haus. Ich
gab Sahne in eine Schüssel, und während ich die Spülmaschine
ausräumte, schlabberte die Katze schnell die Sahne auf. Ich goss
noch mehr nach und kochte starken Kaffee. Ich toastete Brot
und ließ Frida im Wohnzimmer auf den Sofatisch springen, wo
sie sich putzte, als Johan aufwachte. Er erschrak vor der schwarz
glänzenden Katze, als hätte er ein Gespenst erblickt.
»Was macht die hier?«, schrie er mich an.
288
»Keine Ahnung«, log ich. »Sie lag in meinem Bett, als ich
aufgewacht bin, darum habe ich gedacht, du hättest sie
reingelassen.«
Er war einer Ohnmacht nahe. Er rappelte sich hoch, und mit
ein paar Schritten war er in der Küche. Im Kühlschrank war kein
Bier mehr, und er giftete mich wütend an.
»Habe ich heute Nacht Bier getrunken?«, fragte ich mit
gespieltem Erstaunen.
Johan, der immer behauptete, er trinke kein piewarmes Bier,
ging in die Garage und kehrte mit zwei Flaschen zurück. Er
leerte sie, während er im Wohnzimmer auf und ab wanderte.
Das Handy hatte er vergessen. Es lag auf dem Küchentisch, und
es kümmerte ihn nicht, dass es klingeln und ich sehen konnte,
wer anrief. Er ging auf die Terrasse und schaute den Steilhang
hinunter, obwohl er nichts anderes als Gebüsch und Bäume
sehen konnte. Er kam wieder herein, weiß im Gesicht wie ein
Geist.
»Geht’s dir nicht gut?«, fragte ich, aber er gab keine Antwort.
Er sank im Sofa zusammen, und kurz glaubte ich, er weinte.
Um halb fünf Uhr am selben Nachmittag parkte
Kriminalkommissar Eino Virtanen sein Auto vor unserer
Treppe. Der Polizist in seiner Begleitung war klein und
schweigsam. Ich verstand seinen Namen nicht, weil ich an die
Wäsche dachte; an die rote Tischdecke und die Servietten, die
ich von der Wäscheleine genommen hatte. Ich musste sie gleich
bügeln. Einen Augenblick später, und sie wäre zu trocken
gewesen. Ich hatte schon das Bügelbrett aufgestellt, und das
Bügeleisen war heiß, sodass ich mich ungeachtet der Fragen des
Kommissars mit ruhigen Bewegungen ans Bügeln machte.
»Nein«, antwortete ich. »Ich habe Kjerstin Ekdahl lange nicht
gesehen.«
289
Johan nickte auch. Er erinnerte sich nicht, wann er zuletzt mit
ihr gesprochen hatte.
Da fing der Kommissar an zu husten.
Kjerstin Ekdahls Mobiltelefon hatte man in der Küche
gefunden, und es zeigte an, dass sie Johan gestern Nachmittag
angerufen hatte.
Daraufhin schien Johan fieberhaft in seinen Erinnerungen zu
kramen. Er sagte viel zu schnell: »Doch, klar«, und wurde rot im
Gesicht. Ich bin sicher, der Polizist sah, dass er log.
»Sie hat irgendwas gefragt«, behauptete Johan, konnte sich
aber nicht mehr erinnern, was.
»Es ist aber besser, wenn Sie sich erinnern!«, entgegnete der
Kommissar barsch und berichtete, dass man unsere Nachbarin
Kjerstin Ekdahl vor kurzem im Wasser zwischen den Klippen
unterhalb unseres Hauses tot aufgefunden hatte. Zwei Fischer
hatten sie entdeckt. Man hatte auch einen weißen Plastikstuhl
gefunden, der auf den Wellen auf und ab schaukelte, die an die
Felsen schlugen.
Ich stellte das Bügeleisen zur Seite.
»Das kann nicht wahr sein«, sagte ich, doch der Kommissar
nickte stumm.
»Was haben Sie gestern gemacht, Frau Karlsson?«, fragte er,
und ich setzte mich und wischte mir die Stirn mit dem
Handrücken ab. Bügeln war schwere Arbeit, und es wurde
warm. Ich erzählte ausführlich, wie ich das Krebsfest
vorbereitete, und obwohl ich merkte, dass Kommissar Virtanen
ungeduldig wurde, beeilte ich mich nicht. Ich behauptete, ich sei
den ganzen Tag nicht weiter als bis zur Mülltonne gekommen.
Ich hatte mir den Fuß verletzt.
Da wollte Virtanen sofort den Fuß sehen. Ich glaube, sowohl
er als auch Johan hatten den Verdacht, ich log, darum deutete
ich erst auf das Stuhlbein, an dem ich mich beim Tischdecken
290
gestoßen hatte. Dann hob ich den Fuß mit dem kleinen Zeh, der
jetzt nicht nur doppelt so dick, sondern auch noch rot und blau
war.
»Sieht schlimm aus«, meinte Virtanen und verzog das Gesicht.
»Ich kann damit fast nicht auftreten«, sagte ich.
Kriminalkommissar Virtanen fragte, ob mein Zeh womöglich
gebrochen sei, und forderte mich auf, zum Ärztezentrum zu
gehen. Johan sah aus, als sei er einer Ohnmacht nahe. Die Leute
von der Spurensicherung sperrten das Gelände ab und
durchkämmten es, während Frida wie eine Statue am Fenster
saß und sich weigerte, nach draußen zu gehen. Ich backte einen
Obstkuchen und lud alle zum Kaffee ein. Herr Virtanen erzählte
dann anscheinend aus Versehen, dass man Kjerstin Ekdahl vom
Vorsprung unterhalb unserer Terrasse gestoßen hätte. Im
späteren Verlauf des Abends fragte er, ob Kjerstin Ekdahl die
Angewohnheit gehabt hätte, auf diesem Vorsprung zu sitzen.
»Soviel ich weiß nicht!«, antwortete ich. »Der gehört doch zu
unserem Grundstück.«
Danach gab ich vor, mir sei noch etwas eingefallen, und
erzählte, dass Kjerstin zu Lebzeiten sehr neugierig gewesen war.
Das wusste das ganze Dorf. Ich sagte, dass sie uns
möglicherweise heimlich belauscht hätte. Später widerrief ich.
»Ich verstehe nur nicht, wer erzählt haben könnte, dass wir ein
Krebsfest geben.«
Da zuckte Johan zusammen und bekam einen verkrampften
Gesichtsausdruck, und ich glaube, Virtanen merkte das auch.
Ich suchte das Ärztezentrum auf und mein kleiner Zeh war
wirklich gebrochen. Sie konnten ihn nicht eingipsen,
bandagierten den Fuß aber fest. Die Verhöre zogen sich
wochenlang hin, und einige Zeit war Johan gezwungen, fast
täglich zur Polizeidienststelle in die Stadt zu kommen. Er
erklärte mir, man habe Fingerabdrücke gefunden, die ihm
291
gehörten. Er hatte Kjerstin schließlich ab und zu geholfen. Ich
fragte, ob er sich dabei die schöne Aussicht angeschaut habe,
aber Johan war zu nervös, um meine Fragen zu beantworten. Er
kam immer ins Stottern und verlor den Faden. Die Verhöre
waren so anstrengend, dass er sich bald krank schreiben lassen
und vorm Zubettgehen ein Mittel nehmen musste, um nachts
schlafen zu können.
Eines Tages fragte mich Kommissar Virtanen, ob es möglich
sei, dass Johan und Kjerstin ein Verhältnis gehabt hätten.
Ich schaute ihn fragend an und zögerte eine Weile mit der
Antwort.
»Das ist möglich«, sagte ich.
Dann widerrief ich wieder. »Nein, das kann ich mir nicht
vorstellen. Das hätte ich doch gemerkt. Johan hat ihr beim
Brennholz machen geholfen, nachdem ihr Mann sie verlassen
hatte.«
Kriminalkommissar Virtanen schaute mich lange an und
dachte wahrscheinlich, Frauen seien ziemlich einfältig und
leicht für dumm zu verkaufen, sprach es aber nicht laut aus. Ich
nahm an, man hatte Johans Fingerabdrücke auch in der Nähe des
Bettes gefunden, aber darüber verlor Virtanen mir gegenüber
keine Silbe.
Elin und Gustav hatten ausgesagt, wir hätten uns alle den
ganzen Abend in unserem Haus aufgehalten, bis mindestens
zwei Uhr nachts. Das ging Virtanen immer wieder mit mir
durch. Ich meinte, so sei es wahrscheinlich gewesen, selbst hätte
ich aber nicht auf die Uhr geschaut. Niemand fragte mich
jemals, ob ich die Mülltüte in der Nacht hinausgetragen hätte,
und ich sah keine Veranlassung, mich an so ein Detail zu
erinnern. Es gab offensichtlich keinen Anhaltspunkt, keine
Spuren oder Motive. Es schien, als habe Kjerstin allein auf dem
Vorsprung gesessen und sei plötzlich mit dem Stuhl und allem
hinuntergefallen.
292
Es kam zur Aufteilung des Erbes, und Kjerstin Ekdahls Bruder
Edgar, ein großer dunkelhaariger und saumseliger Mann,
übernahm das Haus und zog ein. Er war allein stehend, und im
Dorf erzählte man sich, er fühle sich wohl, aber er kam uns nie
besuchen; er störte uns nicht. Johans Protesten zum Trotz
begann Frida am Fußende meines Bettes zu schlafen, und ich
musste kein Schlafmittel mehr einnehmen. Wachte ich auf, war
Frida da und tröstete mich. Als Johan versuchte, die Katze zu
verscheuchen, wies ich ihn darauf hin, dass er sie ins Haus
gelassen hatte. Bei diesen Worten sah ich ihn mit halb offenem
Mund forschend an, und er begann sofort mit den Wimpern zu
klimpern, gab aber kein Wort von sich. Er war zerstreut, und
offensichtlich grübelte er über etwas, das schlimmer als die
Katze war, doch ich erkundigte mich nicht danach. Ich schlug
vor, wir könnten Besuch einladen, doch er wollte keine Gäste
mehr haben. Er wollte mit mir vor dem Fernseher sitzen. Er
versuchte tapfer, wieder zur Arbeit zu gehen, aber eine Woche
später war er gezwungen, sich abermals krank schreiben zu
lassen. Bald hatte ich ihn tagsüber zu Hause, und ich war mit der
Entwicklung zufrieden. Das Geschäft, das angefangen hatte,
Unterwäsche zu verkaufen, ging Pleite, und man bot mir an, es
zu übernehmen, aber ich lehnte ab. Johan brauchte mich.
Gut zwei Jahre später wollte uns Johans Schwester zu
Weihnachten besuchen. Johan lebte plötzlich auf und war
fröhlich. Zusammen planten wir das Essen, und Johan sagte:
»Wir decken den Tisch mit schwarzen Tellern.«
»Ich wollte weiße nehmen«, sagte ich entschieden.
Da wurde sein Mund plötzlich zu einem krummen Bleistift
strich, doch ich weigerte mich, den Blick auf seine Schuhe zu
senken. Ich schaute ihm direkt in die Augen, und wir standen
lange da und schätzten einander mit Blicken ab. Ich hatte das
293
Gefühl, die Stunde der Entscheidung war gekommen. Johan
wollte die Frage stellen, auf die er so lange gewartet hatte.
»Was hast du damals in der Nacht draußen gemacht?«, fragte
er in energischem Ton.
»Du meinst an dem Abend, an dem wir das Krebsfest hatten?«
Er nickte.
»Du meinst den letzten Abend in Kjerstins Leben?«
Wieder nickte er.
»Ich habe die Krebsschalen zur Mülltonne gebracht«,
antwortete ich.
»Was hast du sonst noch gemacht?«, fragte er.
»Ich verstehe deine Frage«, erwiderte ich. »Aber wenn du
darauf eine Antwort haben willst, musst du zuerst meine Frage
beantworten.«
Ich weiß nicht mehr, ob er nickte, trotzdem fragte ich:
»Warum hast du Virtanen nicht erzählt, dass auch du in
derselben Nacht, in der Kjerstin verschwunden ist, draußen
warst?«
Er zuckte zusammen, und ein Schatten huschte über sein
Gesicht.
»Ich habe mein Schlafmittel nicht genommen, darum weiß ich
genau, wann du zurück warst«, sagte ich.
Von diesem Tag an wollte Johan nicht mehr diskutieren, wie
der Tisch gedeckt werden sollte.
Ich ließ einen Profi zwei der Bäume an der Terrasse fällen,
und wir konnten die herrliche Aussicht übers Meer sehen. Bei
Johan stellten sich jedoch Unwohlsein und Schwindelanfälle bei
Höhen ein. Er konnte nicht auf die Terrasse hinausgehen,
während ich dort unendlich lange im Wind, der vom Meer
herüberwehte, sitzen konnte. Nur der immer wiederkehrende
Albtraum störte mich. Ich wachte immer an der Stelle auf, wo
ich Anlauf nahm und Kjerstins Stuhl einen Tritt versetzte,
294
sodass er über den Rand des Felsvorsprungs flog. Jedesmal
erwartete ich, sie würde schreien, und der Schrei sei bis hinauf
zu unserer Terrasse zu hören. Doch sie schrie nie. Ich hörte nur,
wie der Körper auf die spitze Klippe aufschlug und das
Rückgrat brach. Dann hörte ich ein leises Platschen. Das war der
Plastikstuhl, der ins Wasser fiel.
295
Ein knackiger Hintern
Leena Lehtolainen
Ich stand an der Ampel vor dem Athenäum und zupfte an
meinem Rock, der mir an den Oberschenkeln klebte. Bevor ich
das Büro verließ, hatte ich die Strumpfhose ausgezogen, denn
das Thermometer zeigte mehr als dreißig Grad. Selbst im
Leinenkostüm war ich zu warm angezogen, am liebsten wäre ich
in der Unterwäsche gegangen. Für eine dreiunddreißigjährige
Finanzjuristin ziemte sich dergleichen natürlich nicht, obwohl
ich auch nach der Geburt der Zwillinge rank und schlank
geblieben war.
Als Erstes fiel mir der perfekte Po des Mannes auf. Er trug
altmodisch enge Jeans, die jeden Muskel nachzeichneten. Als
die Ampel umsprang, überquerte er die Straße. Sein Körper
wirkte durchtrainiert. Das weiße T-Shirt klebte ihm feucht am
Rücken und ließ die Muskeln deutlich erkennen – ich konnte
den Blick nicht von ihm lassen.
Als ich Harri kennen lernte, vor acht Jahren, spielte er als
linker Verteidiger in einer Eishockeymannschaft der zweiten
Liga. Wir hatten uns gerade verlobt, da riss die Achillessehne an
seinem linken Fuß, und er musste seine Laufbahn als
Profisportler aufgeben. Als Alexandra geboren wurde, spielte er
noch zweimal wöchentlich Unihockey, aber seit der Geburt der
Zwillinge schaffte er auch das nicht mehr. Er arbeitete siebzig
Stunden pro Woche in seiner eigenen Firma und hatte kaum
noch Zeit für die Kinder. Im letzten Jahr hatte er zwanzig Kilo
zugenommen, weil er sich ungesund ernährte und abends zur
Entspannung das eine oder andere Bierchen kippte.
296
Meine Absätze klapperten über den heißen Asphalt. Ich hatte
es nicht eilig, nach Hause zu kommen, dort wartete niemand auf
mich. Harri war mit den Kindern und dem Hund über das
Wochenende nach Tammisaari ins Sommerhaus seiner Eltern
gefahren. In der nächsten Woche fing auch für mich der Urlaub
an, aber vorher musste ich das ganze Wochenende arbeiten. Das
hatte ich Harri gegenüber jedenfalls behauptet.
Wann war ich das letzte Mal ohne Hast und ohne festes Ziel
durch Helsinki spaziert? Der Mann mit dem knackigen Po ging
die Treppe zum Bahnhofstunnel hinunter. Ohne weiter
nachzudenken, folgte ich ihm.
Normalerweise ging ich nicht in die Phonoabteilung von
Anttila, sondern kaufte meine Platten im Internet oder bei
Stockmann. Der Mann mit dem tollen Hintern begutachtete die
Sonderangebote, während ich mich hinter der Stellage mit der
klassischen Musik verschanzte. Das Vernünftigste wäre
gewesen, nach Hause zu fahren, zu duschen, ein Glas
eisgekühlten Weiß-Wein zu trinken und weiterzuarbeiten, aber
auf einmal hatte ich keine Lust, vernünftig zu sein.
Meine Bluse war verschwitzt, auch zwischen den Brüsten
spürte ich Feuchtigkeit. Wie wäre es, wenn ich mir eine neue
Bluse und einen BH kaufen, mich umziehen und in ein
Gartenlokal setzen würde? Wann hatte ich zuletzt diese fiebrige
Unruhe verspürt, war es damals, als ich Harri kennen lernte,
bevor wir zum ersten Mal miteinander geschlafen hatten?
Warum waren alle meine Freundinnen berufstätige Mütter,
warum hatte ich keine Clique, mit der ich ab und zu ausgehen
konnte?
Der Mann stand immer noch bei den CDs. Ich ging zwischen
den Regalen hindurch, sodass ich sein Gesicht sehen konnte.
Nicht übel. Ein kurzer, dunkler Bart betonte die vollen Lippen.
Als er sich den Schweiß von der Stirn wischte, blitzte am
rechten Arm eine Tätowierung auf, ein geschmackvolles
keltisches Ornament.
297
Ich ging an ihm vorbei und spürte die Wärme, die sein Körper
ausstrahlte. Sie löste ein Prickeln zwischen meinen Beinen aus,
das ich seit langem nicht mehr gespürt hatte. Ich musste sofort
weg von hier, sonst würde ich mich noch auf ihn stürzen. Was
war nur in mich gefahren?
Ich ging wieder hoch auf die Straße, schon auf der Treppe
schlugen mir die Abgase entgegen. Im Kaufhaus Stockmann
gewann ich die Fassung wieder. Ich sah mich im Spiegel, eine
große, schlanke, gepflegte Frau. Ich kaufte ein weißes Top mit
schmalen Trägern und einen goldfarbenen Satin-BH. Bei dem
Gedanken, wie es wäre, die Hände des gut gebauten Fremden
auf meinen Brüsten zu spüren, stöhnte ich leise auf. Ich war
daran gewöhnt, mich vor wichtigen Verhandlungen in der
Flugzeugtoilette zu waschen. Die Toiletten bei Stockmann
waren wesentlich geräumiger. Ich zog die neuen Sachen an,
wickelte die Leinenjacke um die verschwitzte Bluse und stopfte
beides in die Einkaufstüte. Noch ein paar Tropfen Parfüm und
eine Spur Lippenstift. Zum Glück hatte ich mich am letzten
Wochenende in die Sonne legen können. Harri hatte sich wieder
einmal einen Sonnenbrand geholt. Bei dem Gedanken an die
rosaroten Rettungsringe, die um seine Taille schwabbelten,
schüttelte es mich. Der Mann mit dem festen Hintern hatte
gleichmäßig gebräunte Arme.
Anfangs war Sex für Harri und mich ein Abenteuer gewesen,
der Körper des anderen ein unerforschter Kontinent. Wie hatte
ich seinen Gesichtsausdruck unmittelbar vor dem Orgasmus
geliebt, wie stolz war ich darauf gewesen, ihm Lust zu bereiten.
Harri war Computertechniker und arbeitete als selbstständiger
Subunternehmer für Nokia. Wir hatten uns am gleichen Tag
verlobt, an dem ich mein Jurastudium abschloss. Zur Hochzeit
schenkte Harri mir zwanzig Prozent der Aktien seiner Firma.
Wir wollten Erfolg und Reichtum und alles, was dazugehört: ein
Haus mit Ufergrundstück, teure Autos, zwei oder drei Kinder.
Alexandra war beim ersten Versuch gezeugt worden, bei den
298
Zwillingen hatten wir vier Monate gebraucht. Wir hatten es eilig
gehabt, denn ich musste unbedingt vor der Einführung des Euro
aus dem Mutterschaftsurlaub zurückkommen. Zwei Kinder auf
einmal passten uns nicht ins Konzept, und so dachten wir an
Abtreibung. Ich hatte mich mit dem Gedanken bereits
angefreundet, als Harri einen Rückzieher machte.
»Das würde bedeuten, dass wir es erst 2003 schaffen, und
dann stecken wir mitten im WAP-Geschäft. Am besten lassen
wir sie doch jetzt schon kommen.«
Wenn wir gewusst hätten, dass sich die WAP-Technik doch
nicht so rasant durchsetzen würde wie allgemein erwartet, wären
die Zwillinge nicht geboren worden. Natürlich waren Amanda
und Anton niedlich, doch im Mutterschaftsurlaub wäre ich fast
durchgedreht. Die diversen Entwicklungsphasen hatte ich schon
bei Alexandra erlebt, der Reiz des Neuen war verflogen. Ich war
überglücklich, als ich wieder in den Job zurückkehren konnte.
Schon nach Alexandras Geburt hatte sich Harri abgewöhnt,
meine Brüste zu liebkosen, an denen er früher unermüdlich
gespielt und gesaugt hatte. Wahrscheinlich fürchtete er, ich
würde Milch verströmen. Mir kam es vor, als hätte man einen
Teil meines Körpers amputiert. Für Harri existierten nur noch
mein Mund und mein Unterleib, die er aber auch nur noch
einmal im Monat wahrnahm.
Als ich das Kaufhaus verließ, war es draußen immer noch
heiß. Gab es in der Nähe ein nettes Straßencafé? Zufällig fiel
mein Blick auf die Dachterrasse des Alten Studentenhauses.
Dort saß der Mann mit dem knackigen Po.
Im Alten Studentenhaus war ich seit meiner Studienzeit nicht
mehr gewesen. Das Lokal war für meinen Geschmack zu
schäbig, die Klientel nicht seriös genug. Dennoch ging ich kurz
entschlossen an dem schwitzenden Türsteher vorbei zur Theke
und bestellte einen trockenen Cidre.
Die Luft auf der Terrasse war heiß und abgasgeschwängert.
299
Der Fremde saß allein an seinem Tisch, und ich setzte mich so
hin, dass ich Blickkontakt aufnehmen konnte. Das Prickeln
machte sich wieder bemerkbar. Der Mann trank irgendetwas
Farbloses mit viel Eis.
Ich nahm Arbeitspapiere aus der Tasche und tat, als überflöge
ich sie, behielt aber den Mann genau im Auge. Er betrachtete die
Passanten, ab und zu spielte der Anflug eines Lächelns um seine
Lippen. Von Zeit zu Zeit begegneten sich unsere Blicke und
blieben immer länger ineinander haften. Nach einer Weile
schenkte er mir ein Lächeln.
Ich lächelte zurück, schob eine Haarsträhne aus der Stirn,
tupfte ein Schweißtröpfchen vom Ohr. Wie lief das alte Spiel,
konnte ich es noch? Er war etwas jünger als ich, kaum dreißig.
Mit jedem Blick begehrte ich ihn heftiger. Wenn ich mit Harri
schlief, dachte ich neuerdings an die Arbeit oder an den
Speiseplan fürs Wochenende.
Der Mann leerte sein Glas und stand auf. Wollte er etwa schon
weg? Er ging so dicht an mir vorbei, dass er mich beinahe
streifte. Er roch nach Sonne und Salz. Am liebsten wäre ich ihm
nachgelaufen, doch ich zügelte mich.
Nach einigen Minuten kam er mit einem frisch gefüllten Glas
zurück. Diesmal verlangsamte er den Schritt, als er sich meinem
Tisch näherte.
»Darf ich mich zu Ihnen setzen?« Seine Stimme war genau
richtig, tief und ein wenig rau. Ich schämte mich. Sah man mir
so deutlich an, was ich wollte? Dennoch lächelte ich und sagte,
ich würde mich freuen.
Er hieß Niko und war Sportlehrer. Mehr wollte ich nicht
wissen. Auch von mir gab ich nur den Namen preis. Niko sah
den Trauring an meiner Hand, stellte aber keine Fragen. Er
wohnte in der Punavuorenkatu.
Nach dem zweiten Drink gingen wir. Auf der
Mannerheimintie fasste Niko mich spontan an der Hand, seine
300
Handfläche war warm, aber nicht verschwitzt. Mir wurde
schwindlig: Was tat ich da eigentlich? Nur dumme Frauen gehen
mit einem Unbekannten in dessen Wohnung. Doch selbst die
Gefahr war erregend. Seit langem hatte ich mich nicht so
lebendig, so weiblich gefühlt.
Niko küsste mich schon im Treppenhaus, als könne er nicht
warten, bis wir seine Wohnung erreichten. Auch ich war
ungeduldig. Sein Po fühlte sich unter meiner Hand so gut an,
wie er ausgesehen hatte. Schon im Flur riss ich ihm die Jeans
vom Leib. Von meiner neuen Bluse sprang ein Knopf ab.
Beim ersten Mal schafften wir es nicht ins Bett. Der
Wohnzimmerteppich war weich, er streichelte mich, es war, als
läge ein zweiter Mann unter mir. Niko leckte, saugte und
streichelte, ich tat Dinge mit ihm, die mit Harri unvorstellbar
gewesen wären. Ich biss ihn in die Schulter und in die
Brustwarzen. Der Schmerz schien seine Erregung zu steigern.
Ich war seit Jahren nicht mehr so gekommen, unaufhaltsam
und ohne eigene Anstrengung. Niko machte weiter und brachte
mich ein zweites Mal zum Höhepunkt. Danach lagen wir
schweißüberströmt auf dem Teppich. Ich ließ die Hand über
Nikos Rücken wandern, sah die Knutschflecken, die ich ihm
gemacht hatte. Ich fühlte mich befriedigt und hungrig zugleich.
Ich wollte mehr.
»Anniina …« Niko ließ meinen Namen auf der Zunge
zergehen und begann mich mit den Lippen zu erkunden, träge
und genießerisch: Hals, Brüste, Rippen … »Kannst du die ganze
Nacht bei mir bleiben?«
»Ja. Ich muss nur rasch etwas erledigen.«
Ich stand auf und ging ins Bad, um Harri anzurufen. Meine
Schwiegermutter meldete sich.
»Harri ist mit den Kindern in der Sauna.«
»Sag ihm bitte, dass ich das Telefon abstelle, ich will bis spät
in die Nacht arbeiten und morgen ausschlafen.«
301
Dann existierten Harri und die Kinder nicht mehr. Es gab nur
hoch Niko, der eiskaltes Mineralwasser auf meine Lippen
tröpfeln ließ. Niko, der mich erneut begehrte und in sein
Schlafzimmer trug.
Das Bett war breit, mit hohen Pfosten an den Ecken und
Gitterstäben am Kopfende. Ich dachte an meine
Teenagerfantasien von Männern, die mich an ein solches Bett
fesselten. Harri hatte ich nie davon erzählt, denn
Unterwürfigkeit passte nicht zum Bild der erfolgreichen
Karrierefrau. Ich legte mich auf das Bett und hielt mich an den
Gitterstäben fest. Dann stellte ich mir Niko in dieser Position
vor. Arme und Beine gespreizt, mir ausgeliefert. Spielerisch
warf ich mich auf ihn und packte seine Handgelenke. Diesmal
wollte ich den Takt angeben.
»Magst du so was?«, fragte er. »Fesseln … ersticken …«
Ich nickte, obwohl ich es nie probiert hatte. Harri fand solche
Spiele nicht erregend. Niko küsste mich, dann stand er auf und
ging an den Kleiderschrank.
An meinem Polterabend hatten meine Freundinnen mich
natürlich in einen Sexshop geführt, in dem es alles gab, was man
sich nur vorstellen konnte: Fesseln, Gummikapuzen, Korsetts …
Nikos Schrank war ein Sexshop im Miniaturformat. Unter
anderem enthielt er zwei Paar Handschellen, mit denen ich Niko
an die Bettpfosten fesselte. Er war so erregt wie ich.
Diesmal hielten wir länger durch.
Zwischendurch stand ich auf, um mir ein frivoles rotes Korsett
anzuziehen. Dabei entdeckte ich eine schwarze Gummikapuze,
die ich Niko über den Kopf zog. Als er keine Luft mehr bekam,
wurde er noch geiler. Die Kapuze machte ihn anonym. Es war
egal, mit wem ich vögelte. Er war nichts weiter als ein schöner
Körper, ein knackiger Hintern. Ich hatte noch nie solchen
Genuss verspürt.
302
Auch unter der Dusche streichelten wir uns, dann schliefen wir
ein. Gegen fünf erwachte ich mit entsetzlichem Hunger. Es war
schon hell, die Sonne malte Streifen auf Nikos nackten Körper,
auf die Rückenmuskeln und die Pobacken. Ich hatte Lust, eine
Portion Fleisch oder Eier zu vertilgen und mich danach wieder
über Niko herzumachen.
In der Küche fand ich alles, was ich zum Kaffeekochen
brauchte, außerdem Roggenbrot und geräucherten Schinken.
Nikos Schränke waren sauber und ordentlich. Ich streifte lange
schwarze Gummihandschuhe über, goss eine Tasse Kaffee für
Niko ein und ging nachsehen, ob er schon wach war.
»Anniina«, murmelte er verschlafen.
»Kaffee?«, fragte ich. Harri brachte ich nie Kaffee ans Bett, er
hätte doch nur alles vollgekleckert.
Niko lächelte, trank seinen Kaffee und streckte die Hand nach
mir aus. Dich will ich, sagten seine Augen.
Ich wollte es langsam angehen lassen, der Mann lief mir nicht
weg. Nach dem kurzen Schlaf war seine Haut empfindsam, er
erschauderte bei jeder Berührung. Ich fesselte ihn mit schwarzen
Seilen ans Bett, folterte ihn mit meinen Berührungen. Die
Kapuze, die ich ihm diesmal aufsetzte, hatte innen einen Knebel.
Immer wenn ich ihm die Nase zuhielt, sodass er keine Luft mehr
bekam, wurde er noch härter.
Ich ritt auf ihm, ließ mich von seinen Stößen davontragen, flog
… Niko wand sich unter mir, warf den Kopf hin und her, ich
spürte, wie er sich ergoss. Dann wurde er ganz schlaff.
Sekundenlang begriff ich in meiner Erregung nicht, was
passiert war, dann ließ ich endlich seine Nase los und zog ihm
die Gummikapuze vom Gesicht. Es war blau angelaufen. Die
Halsschlagader, die gerade noch heftig pulsiert hatte, war nicht
mehr zu fühlen.
Ich glitt von ihm, suchte in der Handtasche nach einem
Spiegel. Er beschlug nicht. Ich hätte künstliche Beatmung
303
versuchen müssen, brachte es aber nicht über mich, Niko zu
berühren. Ein Krankenwagen? War Niko noch zu retten? Sollte
ich telefonieren? Nein. Den Skandal, der unweigerlich folgen
würde, wollte ich nicht. SM-Sex mit tödlichem Ausgang, ein
gefundenes Fressen für die Boulevardzeitungen. Das wäre das
Ende meiner Karriere und meiner Ehe, auch das Haus in
Westend würde ich verlieren. Dabei hatte ich Niko doch nicht
umbringen wollen. Wieso war er plötzlich tot?
Ich wusch mich, behielt aber die langen schwarzen
Gummihandschuhe an, obwohl sie nun grotesk wirkten. Ich
durfte keine weiteren Fingerabdrücke hinterlassen. Was hatte
ich in der Wohnung angefasst?
Ich wischte alle denkbaren Stellen im Bad, in der Küche und
im Schlafzimmer ab. Selbst wenn noch Abdrücke gefunden
wurden, konnte mir eigentlich nichts passieren, meine
Fingerabdrücke hatte die Polizei nicht in ihrer Datenbank.
Schließlich hatte ich mir nie etwas zuschulden kommen lassen,
Von ein paar Geschwindigkeitsübertretungen abgesehen. Gab es
andere Spuren? Befanden sich meine Zellen auf Nikos
Leichnam? Ich brachte es nicht über mich, ins Schlafzimmer zu
gehen und ihn abzuwaschen.
Ich hatte Niko nie zuvor gesehen, ich wusste nichts von ihm.
Wenn es mir gelang, seine Wohnung unbemerkt zu verlassen,
würde man mich nicht mit ihm in Verbindung bringen können.
Und die Leute im Alten Studentenhaus? Würden sie sich an
mich erinnern?
Ich zog mich an und vergewisserte mich, dass ich nichts
zurückgelassen hatte. Niko wohnte im fünften Stock. Was war
sicherer, Aufzug oder Treppe? Ich entschied mich für den
Fahrstuhl und stellte mich mit dem Rücken zur Tür, sodass mein
Gesicht vom Treppenhaus nicht zu sehen war. Für den Fall, dass
jemand aus dem Fenster schaute, zog ich die Jacke über den
Kopf.
304
Es war Samstagmorgen, noch nicht einmal sieben Uhr. Die
Straßen waren leer. Durfte ich es wagen, ein Taxi zu nehmen,
oder würde der Fahrer sich später an mich erinnern? Klüger war
es wohl, zu Fuß zur Mannerheimintie zu gehen und von dort mit
der Straßenbahn nach Hakaniemi zu fahren. Dort konnte ich
eine Weile in meinem Büro warten und dann mit dem Taxi nach
Hause fahren. Ich musste so tun, als wäre nichts geschehen,
musste aussehen wie eine Frau, die von jedem x-beliebigen Ort
kommen mochte, bestimmt aber nicht von ihrem toten
Liebhaber.
Ich kramte die Sonnenbrille aus der Handtasche und wünschte
mir, ich hätte ein Kopftuch dabei, denn mit der Jacke über dem
Kopf war ich zu auffällig. Gerade als ich den Boulevard
erreichte, kam die Straßenbahn. Ich stieg ein. Der Form halber
ging ich in mein Büro und bestellte mir dann ein Taxi. Zu Hause
steckte ich alle Kleider in die Waschmaschine und wusch mir
Nikos Spuren vom Körper. Im Spiegel entdeckte ich einen
blauen Fleck über dem rechten Schulterblatt. Ich musste mir
eine Erklärung für Harri einfallen lassen.
Ich hatte versprochen, gegen Abend nach Tammisaari zu
kommen. Also hatte ich noch Zeit, mich zu sammeln, zur Ruhe
zu kommen und zu überlegen, was ich tun sollte. Ich versuchte,
mich an die Gäste im Alten Studentenhaus zu erinnern, konnte
mir aber kein einziges Gesicht ins Gedächtnis rufen. Meine
ganze Aufmerksamkeit hatte Niko gegolten.
Sollte ich anonym bei der Polizei anrufen und melden, in der
Punavuorenkatu liege ein Toter in seiner Wohnung? Aber es war
besser, wenn die Polizei die Todeszeit nicht genau kannte. Nein,
ich würde nichts unternehmen. Ich war Niko nie begegnet.
Rasch erledigte ich die Arbeiten, mit denen ich mich angeblich
am Vorabend beschäftigt hatte. Im Lauf des Tages sah ich
mehrmals im Internet nach, ob auf den Nachrichtenseiten ein in
seiner Wohnung aufgefundener Toter erwähnt wurde. Niko hatte
allein gelebt, so viel hatte ich trotz meiner Erregung gesehen,
305
und als Lehrer hatte er zur Zeit Sommerferien. Vielleicht wurde
er tagelang nicht vermisst.
Gegen vier machte ich mich auf den Weg nach Tammisaari.
Harri hatte glücklicherweise seinen Laptop mitgenommen,
sodass ich auch dort die Nachrichten checken konnte. Aus einer
plötzlichen Eingebung heraus kaufte ich in einem Supermarkt in
Kirkkonummi hellbraunes Tönungsshampoo. Normalerweise
ließ ich mir die Haare beim Frisör machen, doch jetzt schien es
mir sicherer, eine Weile nicht blond, sondern brünett zu sein.
Dann kaufte ich noch Weißwein und für die Kinder Schokolade.
Meine Schwiegermutter hatte versprochen, sich um das Essen zu
kümmern, was mir nur recht war. Hausarbeit ist nicht meine
Sache. Die Putzfrau, die einmal in der Woche kommt,
übernimmt auch das Bügeln und Mangeln. Ich hatte mir mein
Leben bequem eingerichtet und war nicht bereit, wegen eines
dummen Unfalls auf diese Annehmlichkeiten zu verzichten.
Warum hatte ich die Kapuze nicht über Nikos Kopf gelassen?
Dann hätte die Polizei vielleicht angenommen, er wäre bei
einem einsamen Sexspiel umgekommen. Ich versuchte, an etwas
anderes zu denken, sah aber immer wieder Nikos Gesicht vor
mir, mal mit einem einladenden Lächeln, dann wieder
lustverzerrt.
Als ich beim Sommerhaus eintraf, hielten Amanda und Anton
immer noch ihren Nachmittagsschlaf. Das ärgerte mich, denn
dadurch würde es am Abend spät werden. Also weckte ich die
Kinder unter dem Vorwand, ich hätte sie vermisst. Anton
lächelte mich sofort an, während Amanda den ganzen Abend
quengelte und trotzte. Alexandra übte mit meiner
Schwiegermutter, Blumenkränze zu winden, stellte sich aber
sehr ungeschickt an.
Die Tage vergingen, weder im Internet noch in den Zeitungen
stand etwas über Niko. Ich begann ihn zu vergessen. Er war nur
einen halben Tag lang Teil meines Lebens gewesen. Was
bedeutete das schon?
306
Die Nachricht stand am Freitag in den Abendzeitungen, die
Harri aus dem Laden mitbrachte. Ich hatte ihn mit einer
Einkaufsliste losgeschickt und mich in die Sonne gesetzt, wo ich
gleichzeitig die Kinder beaufsichtigen konnte, die sich im
Plantschbecken tummelten. Meine neue Haarfarbe war
schrecklich ordinär, so mochte ich mich nicht in der
Öffentlichkeit blicken lassen.
MANN BEI SEXSPIEL GESTORBEN?, fragte die eine
Schlagzeile. GEFESSELTER SPORTLEHRER TOT
AUFGEFUNDEN, formulierte das andere Blatt. Bevor ich zu
der Seite umblätterte, auf der Näheres berichtet wurde, las ich
ein paar andere Artikel über die neue Bademode und die
Urlaubspläne von Miss Finnland.
Niko war am Donnerstagabend gefunden worden, nachdem
seine Mutter sich gewundert hatte, warum er tagelang nicht ans
Telefon ging. Bei der anhaltenden Hitze hatte der Leichnam
allmählich zu riechen begonnen, und die Mutter, die besorgt vor
der Tür stand, hatte den Hausmeister gezwungen, ihr die
Wohnung aufzuschließen. Beim Anblick der von Sexspielzeug
umgebenen, gefesselten Leiche hatte sie natürlich einen Schock
erlitten.
Ich hatte das Gefühl, vom Schicksal eines Fremden zu lesen.
Nikos Name wurde nicht genannt, es gab auch kein Bild von
ihm. Die Kripo Helsinki bat um sachdienliche Hinweise, doch
die Telefonnummer sah ich mir gar nicht erst an.
Am nächsten Tag klickte ich die Internetseiten der beiden
Boulevardblätter an. Inzwischen wusste man bereits mehr. Beide
Zeitungen brachten ein Foto von Niko. Auf dem Bild war er
etwas jünger, trug die Haare länger und war glatt rasiert. Er sah
ausgesprochen gut aus. Ich erinnerte mich, wie sich seine
Pobacken angefühlt hatten.
Der Barkellner im Alten Studentenhaus hatte ausgesagt, Niko
sei am Freitag der Vorwoche in dem Lokal gewesen. Er sei nicht
307
allein weggegangen. An Nikos Begleiterin konnte sich der
Barkellner jedoch nicht erinnern. Wieder bat die Polizei um
Hinweise.
Ich sah bereits mein Bild auf der ersten Seite.
ERFOLGREICHE KARRIEREFRAU ALS SEXMÖRDERIN.
Ich nahm mir vor, gleich einen Frisörtermin in Tammisaari zu
bestellen, in dieser Notlage musste ich meinem regulären Salon
in Helsinki einmal untreu werden.
Die eine Zeitung brachte ein Interview mit Nikos ehemaliger
Freundin. Sie berichtete, Niko habe eine Vorliebe für SM-Spiele
gehabt, bei denen er während des Aktes halb erstickte. Sie
hätten sich jedoch nicht wegen seiner Sexualpraktiken getrennt,
sondern aus anderen Gründen.
Beim Frisör bekam ich erst für Montag einen Termin. Harri
wunderte sich über meinen plötzlichen Drang, ständig Frisur
und Haarfarbe zu ändern. Zum Glück konnte ich den
Frisörbesuch mit der missratenen Heimtönung rechtfertigen. Die
Kinder schliefen bei der Hitze schlecht und quengelten tagsüber.
»Lass uns für den Rest des Urlaubs verreisen, vielleicht nach
London«, schlug ich Harri vor. Meine Schwiegermutter, die mit
uns im Sommerhaus geblieben war, nörgelte ständig an mir
herum. Mal war ich angeblich zu streng zu den Kindern, mal
garstig zu ihrem lieben Söhnchen.
»Wie stellst du dir das vor, mit drei kleinen Kindern in der
Großstadt?«
»Nur wir zwei. Deine Eltern können doch eine Weile auf die
Kinder aufpassen. Wenigstens übers Wochenende.«
Harri meinte, es käme gar nicht in Frage, dass wir die Kinder
allein ließen, wenn wir endlich einmal Zeit für sie hatten. Das
lieferte mir einen Vorwand, ihm eine Weile den Sex zu
verweigern. Harris Haut war von der Sonne fleckig gerötet, doch
er weigerte sich strikt, ein Hemd überzuziehen. Meine
Schwiegermutter backte pausenlos Hefeteilchen und Piroggen,
308
die Harri unbekümmert in sich hineinstopfte. Ich selbst bekam
nur Obst und Jogurteis hinunter, für alles andere war es zu heiß.
Die Zeitungen berichteten fast jeden Tag über Niko. Die
Polizei ging davon aus, dass jemand bei ihm gewesen war, als er
starb, konnte jedoch den Zeitpunkt seines Todes nicht exakt
feststellen. Zu meinem Glück behauptete der Nachbar von oben,
er habe Niko am Samstagabend noch gesehen. Ich war dankbar
für seine Zerstreutheit. Für Samstagabend hatte ich ein Alibi.
Wie die Polizei arbeitete, hatte mich nie sonderlich
interessiert. Nun überlegte ich, wie lange die Ermittler sich noch
mit dem Fall befassen würden. Den Zeitungen zufolge schlossen
sie die Möglichkeit eines Kapitalverbrechens nicht aus.
Die Hitzewelle nahm kein Ende, und der Familienurlaub zerrte
an meinen Nerven. Warum hatte ich die Kinder für den ganzen
Urlaub in der Kindertagesstätte abgemeldet! Ich rief dort an, um
zu fragen, ob ich sie früher wieder hinschicken konnte, doch die
Tagesstätte war den ganzen Juli über geschlossen. Mit der
Drohung, andernfalls vorzeitig in die Stadt zurückzufahren,
brachte ich Harri dazu, für uns alle eine Kreuzfahrt nach
Stockholm zu buchen. Nach Tallinn wollte ich nicht, das war
mir zu ordinär.
Im Hafen von Helsinki patrouillierten Polizisten. Es war mir
beinahe gelungen, Niko zu vergessen, doch nun kam es mir vor,
als stünde alles um mich herum still. Warteten die Polizisten auf
mich? Ich brachte es kaum fertig, dem Angestellten, der die
Fahrkarten kontrollierte, meinen Pass zu zeigen. Aber die
Polizisten rührten sich nicht. Vielleicht schlugen sie erst auf
dem Schiff zu? Den Fotografen, der am Eingang auf Kundschaft
lauerte, scheuchte ich mit scharfen Worten davon. Ich legte
keinen Wert darauf, dass Hinz und Kunz mein Konterfei
begafften. Wir hatten zwei nebeneinander liegende
Vorderkabinen gebucht, eine für uns und eine für die Kinder.
Nachdem wir die Kinder ins Bett gebracht hatten, gingen wir
309
essen und anschließend tanzen. Ich ärgerte mich über Harris
Schwerfälligkeit. Sehnsüchtig betrachtete ich einen
vorbeitanzenden blonden Mann, der die Sambaschritte vollendet
beherrschte. Da ich mit meinem Ehemann da war, forderte mich
natürlich niemand auf. Harri war in zärtlicher Stimmung. Ich lag
unter ihm und überlegte, was ich in den Stockholmer Boutiquen
kaufen könnte.
Am nächsten Tag stand ich allein an der U-Bahnstation beim
Hauptbahnhof, denn Harri war mit den Kindern in den
Vergnügungspark gegangen. Vom Bahnhof fuhren auch die
Züge nach Arlanda ab, und ich war in Versuchung, einzusteigen,
ein Flugticket zu kaufen, egal wohin, und alles hinter mir zu
lassen. Pass, Visa-Karte und American Express hatte ich dabei,
was brauchte ich mehr? Aber dann nahm ich doch die Metro in
die Altstadt.
Unser Hotel war komfortabel, und in Stockholm gab es
glücklicherweise noch Sachen zu kaufen, die man in Finnland
nicht bekam. Die Kinder schliefen nach dem langen Tag an der
frischen Luft früh ein. Harri lag faul in der Badewanne, ich
wusste, dass er auf mich wartete. Vorher wollte ich aber noch
die Nachrichten im Internet lesen.
NEUER LUSTMORD! SERIENMÖRDER IN HELSINKI?
Die Überschrift sprang mich an. Diesmal handelte es sich um
einen fünfzigjährigen Familienvater, der nackt und mit
Handschellen in einer Toreinfahrt in der Helsinginkatu gefunden
worden war. Er war erstickt und hatte unmittelbar vor seinem
Tod Geschlechtsverkehr gehabt.
»Anniina!«, rief Harri aus dem Badezimmer. Er hatte sich
endlich einmal etwas Neues ausgedacht. In der Badewanne
hatten wir uns noch nie geliebt. Es war reichlich unbequem, aber
nach einer Weile kam ich in Fahrt.
Am nächsten Tag gab ich mir alle Mühe, Harri nicht merken
zu lassen, wie verzweifelt ich nach finnischen Zeitungen
310
Ausschau hielt. Der Laptop war im Hotelzimmer geblieben. Ich
wollte nicht, dass Harri entdeckte, wie brennend ich mich für
den zweiten Lustmord interessierte, der mich womöglich rettete.
Auf dem Schiff konnte ich endlich den Computer benutzen. Wie
zu erwarten, hatten die Zeitungen Nikos Fall wieder
aufgewärmt. Den Berichten zufolge war er an einem Herzinfarkt
gestorben. Die Obduktion hatte ergeben, dass er einen
angeborenen Herzfehler gehabt hatte, der bei übermäßiger
körperlicher Anstrengung zum Tod führen konnte.
Ich dachte daran, wie sich Niko ins Zeug gelegt hatte, und
musste lächeln. Ach Niko. Wo würde ich noch einmal so
jemanden finden, stark, hart und unersättlich? Ich besah mir
Harri, der sein Bier direkt aus der Dose trank. Mit diesen
Manieren würde er im Geschäftsleben nie ganz nach oben
kommen.
Der erste Arbeitstag war herrlich. Die Kinder hatten geweint,
als ich sie in der Kita ablieferte, aber sie würden sich bald
wieder eingewöhnen. Es war wohltuend, wieder ein denkender
Mensch zu sein, nicht nur Ehefrau und Mutter. Da Ursula noch
im Urlaub war, ging ich allein in die Mittagspause. Ich wollte
mir auf dem Markt Möhren und ein Vollkornbrötchen holen.
Gewohnheitsmäßig warf ich einen Blick auf die Schlagzeilen
der Boulevardblätter. FREUDENMÄDCHEN GESTEHT
SEXMORD UND NIMMT SICH DAS LEBEN. Und die
andere: SEXMÖRDERIN TOT AUFGEFUNDEN.
Ich riss beide Zeitungen vom Ständer. Das Mittagessen fiel
heute aus, ich wollte die Berichte ungestört in meinem Büro
lesen. Auf den langsamen Fahrstuhl konnte ich nicht warten, ich
lief die Treppe zum zweiten Stock hinauf. Oben schloss ich die
Tür ab und schlug die Zeitungen auf.
Bei dem Freudenmädchen hatte es sich um eine Russin
gehandelt, die kaum Finnisch sprach. Das zweite Opfer war ihr
Freier gewesen. Er hatte sie gebeten, ihm eine Schlinge um den
311
Hals zu legen, die sich beim Akt zu fest zugezogen hatte. Als
die Russin bemerkte, dass ihr Kunde tot war, hatte sie die
Nerven verloren. Eine Kollegin hatte ihr geholfen, den Mann in
den Aufzug zu verfrachten und in den Toreingang des
Nachbarhauses zu schleppen. Die Polizei war ihr jedoch bald
auf die Spur gekommen und hatte sie am Vorabend verhaftet, als
sie gerade einen neuen Freier bediente. Während der Nacht hatte
sie sich mit ihrer Strumpfhose in der Zelle erhängt; sie hatte
einen Zettel hinterlassen, auf dem sie die Schuld an beiden
Todesfällen auf sich nahm.
Ich starrte verdattert auf die Zeitungen. Sie behaupteten
übereinstimmend, die Polizei halte beide Fälle für geklärt.
Sicherheitshalber überprüfte ich die Nachrichten im Internet.
Auch dort stand im Wesentlichen dasselbe: Die Russin hatte
sich auf SM-Dienstleistungen spezialisiert und in ihrem
Abschiedsbrief zugegeben, dass ihr bereits zwei Freier unter den
Händen gestorben waren.
Auf dem Heimweg machte ich einen Abstecher ins »Sin City«
und kaufte ein wenig Zubehör. Um neun Uhr schliefen die
Kinder endlich ein, und ich konnte mich umziehen. Harri hatte
sich in den Sessel gefläzt und sah die Nachrichten an, eine leere
Bierflasche stand zu seinen Füßen. Er machte große Augen, als
er mich in dem frivolen roten Korsett erblickte.
»Harrischatz, kommst du ins Schlafzimmer?«, gurrte ich.
Dann holte ich die Handschellen und die Gummikapuze.
312
Die Abschiedsparty
Pentti Kirstilä
Markus Karila stieg aus dem Taxi. Er schwankte ein wenig,
machte sich darüber jedoch keine Sorgen. Er hielt sich für einen
Mann, der nicht grundlos schwankte. Vor drei Wochen war er
an der gleichen Stelle in ein Taxi gestiegen, vor seiner Haustür.
Dass er allein eingestiegen war, bereitete ihm ein wenig
Kopfzerbrechen. Doch nun kehrte er zurück. Der Grund seines
Schwankens war eine dreiwöchige Sauftour in Italien, in Rimini.
Markus war verwirrt. Kleine, zusammenhanglose Ereignisse
tauchten in seinem Gedächtnis auf, denn er war jetzt seit fast
vierundzwanzig Stunden nüchtern. Aber die Grenze zwischen
Realität und Unwirklichkeit war noch verschwommen.
Er betrachtete das Haus. Es war verpackt. Dicke Plastikfolien
vor den Fenstern, über dem Baugerüst eine Plane als
Spritzschutz. Fassaden wurden immer im Sommer renoviert. Für
die Hausbewohner war das die reine Hölle, und Markus wusste,
dass das Haus praktisch leer stand. Jeder hatte sich bemüht,
seinen Urlaub in die Zeit der Renovierung zu legen. Das ganze
Frühjahr hindurch hatten die Hausbewohner von nichts anderem
gesprochen.
Markus trug den Seidenanzug, den Helena für ihn ausgesucht
hatte. Er war trotz allem immer noch makellos. Markus wusste,
dass er attraktiv war. Er trug eine getönte Brille, er war ein
Mann von Welt.
Er trug seinen Koffer ins Treppenhaus. Treppenhäuser wie
diese betreten täglich Hunderte und Tausende von Menschen,
um sich in ihre Wohnung zu begeben, ihre Lieblingssendungen
zu sehen und diejenigen, die mit ihnen in der Wohnung lebten,
zu hassen.
313
Der Geruch im Treppenhaus war berauschend.
Markus wartete geduldig auf den Fahrstuhl.
Das Abschiedsfest kam ihm in den Sinn. Es hatte eine
ausgelassene Stimmung geherrscht. Aus irgendeinem Grund
waren Abschiedspartys immer ziemlich wild, obwohl Markus
eine leicht melancholische, sehnsuchtsvolle Stimmung
angemessener gefunden hätte.
Seine Frau war fröhlich gewesen, seine Freunde waren
fröhlich gewesen. Mag sein, dass auch einige Fremde unter den
Gästen waren, er kannte nicht immer alle, die zu seinen Partys
kamen. Eben deshalb hielt er sich für ausgesprochen beliebt.
Sie hatten einiges getrunken. Helena Weißwein; sie
behauptete, sie könne nichts anderes trinken als Weißwein. Er
hatte Whisky getrunken, seiner Meinung nach war Whisky das
Richtige.
Aus irgendeinem Grund hatte Raimo ihm gratuliert. Raimo
hatte gesagt: »Du bist ein Glückspilz, eine Frau wie Helena zu
kriegen.« Das hatte Markus öfter gehört. Helena auch. Diesmal
hatte Helena mürrisch dreingeschaut. Seltsam, denn im
Allgemeinen hatten Helena und Raimo sich gut verstanden.
Raimo hatte sich betrunken, seine Glückwünsche waren immer
lauter geworden.
Markus lehnte sich an die Wand der Fahrstuhlkabine. Ihm war
übel. Der Geruch war jetzt intensiver, als stünde irgendwo eine
Tüte mit faulen Äpfeln. Der Aufzug schob sich langsam hoch.
Es war ein alter Aufzug, dem es nicht pressierte. Auch Markus
hatte keine Eile. Er durchlebte seine Erinnerungen.
Die Vergangenheit, an die er sich erinnerte, rückte näher. Er
erinnerte sich an die fröhliche Abschiedsparty und an die
dunklen italienischen Nächte. Er betrachtete sich als Mann, der
von allem etwas haben wollte, aber nicht zu viel. Diesmal war es
314
vielleicht ein wenig zu viel gewesen, doch immerhin erinnerte er
sich an einzelne Momente, an Bruchstücke. Er nahm sich vor, in
Zukunft vorsichtiger zu sein.
Aber jetzt war er wieder er selbst. Markus erinnerte sich, wie
beliebt er gewesen war. Wie viele Gäste waren zur
Abschiedsparty gekommen? Vielleicht nur ein Dutzend. Es war
ein bescheidenes Fest gewesen, sie hatten ja nur drei Wochen
verreisen wollen. Ein Begräbnis war es schließlich nicht
gewesen.
Alle hatten ihm auf die Schulter geklopft, vor allem Raimo.
Markus hatte seine Lieblingsmusik aufgelegt. Jemand hatte
gescherzt: »Du kommst wohl nie von deinem infantilen
Geschmack los.«
Er hatte gelacht und weiter neue finnische Schlager gespielt.
Die hatten allen gefallen. Manche hatten eben einen
merkwürdigen Humor. Er hatte überlegt, was infantil bedeutete,
dann aber vergessen, nachzuschlagen. Doch das Wort klang ihm
immer noch im Ohr.
Das Fest hatte bis in die Morgenstunden gedauert. Irgendwann
war aus der Nachbarwohnung laute Musik gekommen,
Arbeiterlieder. Einer der Gäste hatte vorgeschlagen, die
Nachbarn mit einzuladen, da sie offenbar auch gerade feierten.
Markus hatte nebenan geklingelt. Der Nachbar hatte gesagt:
»Scher dich zum Teufel!« Da hatte er sofort begriffen, dass die
Leute ihre eigene Party feierten.
Als er zurückkam, hatte anscheinend gerade jemand einen
Witz erzählt, denn alle hatten schallend gelacht. Er hatte sie
gebeten, auch ihm die Geschichte zu erzählen, was erneutes
Gelächter auslöste. Als hätte er selbst gerade einen Witz
gemacht. Daraufhin hatte er mitgelacht.
Marja hatte mit ihm geflirtet, war ihm in die Küche gefolgt
und hatte sich an seine Schulter gelehnt. Sie hatten sich
freundschaftlich unterhalten.
315
»Ich mag deine Ohren.« Etwas in der Art hatte Marja gesagt.
»Ich mag deine Ohren auch«, hatte Markus geantwortet, denn
er war der Überzeugung, dass man ein Kompliment stets mit
einer Nettigkeit erwidern solle.
Allerdings hatte man ihm gelegentlich vorgeworfen, seine
Komplimente seien nicht besonders originell.
Das Gespräch war weitergegangen.
Marja hatte gesagt: »Ich bewundere intelligente Männer.«
»Und ich bewundere intelligente Frauen«, hatte Markus
erwidert.
Marja hatte seine Wange gestreichelt. Helena war in die Küche
gekommen. »Wie herzig«, hatte Helena gesagt.
Marja war im Wohnzimmer verschwunden.
An die Aufzugwand gelehnt, erinnerte sich Markus, dass
Helena ihn auf der Reise nicht begleitet hatte. Sie hatten beide
verreisen wollen, doch Helena war nicht mitgekommen. Markus
konnte sich beim besten Willen nicht erinnern, warum sie es
sich anders überlegt hatte. Frauen sind launisch, dachte er. Aber
ich werde sie entschädigen dachte er.
Im dritten Stock wohnte eine Familie mit Hund. Bestimmt
hatte der Hund sein Geschäft wieder im Treppenhaus erledigt,
denn der widerliche Geruch wurde stärker.
Markus fühlte sich schwindlig. Daran waren sicher die
italienischen Weine schuld. Rotwein, Weißwein, Schaumwein,
Marsala. Warum hatte er sich auf Wein verlegt? Er war doch
eigentlich eher für harte Getränke. Nie mehr würde er Wein
trinken. Er betrachtete seine Hände und registrierte ein leises
Zittern. Das würde sich legen.
Am Tag vor dem Abschiedsfest war er mit Helena auf der
Bank gewesen, um Geld zu wechseln und eine
Reiseversicherung abzuschließen. Aber Helena …
Irgendwann in den frühen Morgenstunden, als das Fest bereits
316
schal geworden war, war Markus ins Schlafzimmer gekommen,
wo sich Rauni und Helena unterhielten.
Helena hatte gesagt: »Ich denke in Italien darüber nach,
vielleicht hast du Recht.«
Rauni, Helenas Kusine, hatte erwidert: »Natürlich habe ich
Recht. Sei nicht so feige, mach endlich Schluss.«
»Womit willst du Schluss machen?«, hatte Markus gefragt.
»Mit nichts.«
»Worüber hat ihr gesprochen?«
»Über nichts.«
Markus hatte sich damit zufrieden gegeben. Frauen haben ihre
eigenen Probleme, hatte er gedacht. Er war großzügig und
modern.
Irgendwann hatte Markus zu seinem Verdruss bemerkt, dass er
in seiner eigenen Wohnung keinen Sitzplatz fand. Immer, wenn
er sich setzen wollte, saß schon jemand da. Auf dem
Plattenteller hatte sich eine Scheibe mit greller Jazzmusik
gedreht. Der Barschrank war so umlagert gewesen, dass er nicht
drankam. Er hatte um einen Schnaps gebeten, aber niemand
hatte von ihm Notiz genommen.
Plötzlich hatte Helena an der Tür gestanden und etwas gesagt.
Markus versuchte sich zu erinnern.
Im Aufzug waren zwei Fliegen aufgetaucht. Das war nicht
weiter verwunderlich. Sommer und Fliegen, so hieß es ja.
Markus freute sich, dass ihm die Wendung eingefallen war; er
fand sie treffend. Er betrachtete die Fliegen. Eben waren sie
noch herumgeflogen, nun saßen sie auf dem Spiegel.
Im Aufzug war es so heiß wie am Strand von Rimini.
Rimini, ja. Einmal hatte man ihm alles Geld gestohlen, das er
»auf sich trug«, wie er dem Reiseleiter humorvoll erklärt hatte.
Sehr üblich, sehr üblich, hatte der Reiseleiter genickt. Molto
317
generale, molto generale, hatten die Polizisten achselzuckend
gesagt. Markus hatte daraus geschlossen, dass alle Italiener
Taschendiebe waren. Auch vor der Polizei hatte er keinen
Respekt mehr. Aber da er noch genug Geld hatte, vergaß er den
Vorfall.
Im vierten Stock flogen die Fliegen vom Spiegel auf, eine
dritte gesellte sich zu ihnen. Die Erinnerung an Italien
verblasste.
Helena kehrte in sein Gedächtnis zurück.
Sie hatte an der Tür gestanden und gesagt: »Markus, wäre es
nicht Zeit, das Fest zu beenden? Wir verreisen morgen früh.
Erinnerst du dich? Nach Italien.«
»Ja, ja, aber die Gäste … Sie wollen noch feiern. Wir können
doch unsere Freunde nicht einfach hinauswerfen.«
»Wieso nicht?«, hatte Helena gesagt.
Und dann hatte sie ihm gezeigt, wie es ging. Sie hatte
geschrien und Aschenbecher und halb volle Gläser über den
Köpfen der Gäste ausgekippt. Markus war konsterniert gewesen:
So durfte man seine Freunde nicht behandeln. Aber Helena hatte
nicht aufgegeben. Einen nach dem anderen hatte sie die Gäste in
den Flur geschleppt und im gleichen Schwung zur Tür hinaus
gedrängt. Die Mäntel hatte sie ihnen nachgeworfen. Dann hatte
sie die Tür zugezogen und still dagestanden wie eine
Siegesgöttin, die Augen voller Tränen, die – was Markus nicht
wusste – nicht Hass oder Wut hervorgebracht hatte, sondern
Selbstverachtung.
Markus verstand überhaupt nicht, was los war. Das passierte
ihm manchmal.
Danach war eine Lücke in seiner Erinnerung. Was war
geschehen? War er schlafen gegangen?
Die Vergangenheit rückte näher. Markus erreichte den fünften
318
Stock. Es war heiß. Es roch auch genauso wie in den Slums der
italienischen Großstädte. Auch die hatte Markus unwillentlich
zu Gesicht bekommen.
Markus nahm den Schlüssel aus der Tasche und erinnerte sich.
Es war später gewesen. Die Gäste waren weg. Und Helena
hatte merkwürdig geredet.
Sie hatte gesagt: »Ich habe genug davon.«
»Was meinst du? Wovon hast du genug?«
»Von deinen Freunden. Verstehst du denn nicht? Das sind
nicht deine Freunde! Sie nutzen dich aus. Du bist so gutmütig
und simpel. Merkst du denn nicht, wie sie über dich lachen?«
»Sie sind in Ordnung. Hör auf, so zu reden.«
Helena schrie: »Hör selber auf! Begreif doch endlich, dass du
keine Freunde hast. Du hast nur Geld. Vielmehr, dein Vater hat
Geld. Alle nutzen dich aus. Alle lachen über dich.«
»Sie sind in Ordnung.«
»Du hast keine Freunde.«
»Doch.«
»Und ich werde weggehen. Ich hab früher auch zu denen
gehört, aber das ist vorbei. Ich will nicht mehr.«
»Ja, ja, wir gehen ja weg, wir fahren nach Italien.«
»Du begreifst überhaupt nichts. Wir fahren nirgendwohin.«
»Wieso denn nicht?«
»Weil du immer sagst, ›wieso denn‹ oder ›warum‹ oder ›was‹,
und nie irgendwas begreifst. Nicht mal, dass die Leute sich über
dich lustig machen.«
Stille.
»Außerdem fahre ich mit Raimo weg.«
Irgendwo in der Ferne schlug eine Uhr. Irgendwo ging eine
319
Tür auf. Aufrichtige Worte bekamen eine neue Bedeutung.
Gelächter einen neuen Inhalt. Doch Markus hatte stur
widersprochen: »Aber Raimo ist doch mein Freund.«
Helena hatte gelacht.
Markus öffnete die Tür und sah die Fliegen. Viele Fliegen. Er
konnte den Geruch beinahe schmecken. Ihm wurde übel.
Dennoch betrat er die Wohnung. Der Gestank war nun nicht
mehr zu schmecken; man konnte ihn anfassen.
Fliegen überall. Und neben dem Wohnzimmertisch lag eine
aufgedunsene Leiche, die Helenas Kleid trug.
Markus erinnerte sich an das Messer, das auf dem
Wohnzimmertisch gelegen hatte, als Helena in Lachen
ausgebrochen war. Es hatte dort gelegen, damit die Gäste sich
Brot abschneiden konnten. Jetzt war das Messer blutig, und auf
dem Teppich war Blut, und überall war Blut. Und das Blut war
getrocknet, und nun würde es sehr schwierig sein, es aus dem
Teppich herauszuwaschen.
Markus wusste immer noch nicht, was passiert war. Aber bald,
sehr bald, würde er sich erinnern.
320
Die Wahl des vorsichtigen Mannes
Reijo Mäki
Koristo wachte Punkt 06.30 Uhr auf. Schon beim zweiten
Schrillen des Weckers sprang er unter der warmen Decke hervor
und hastete zur Kommode, um ihn auszuschalten.
Koristo stellte seinen Wecker grundsätzlich nicht auf den
Nachttisch. Man könnte ja sonst versehentlich wieder eindösen.
Dieses Risiko einzugehen war Koristo nicht bereit. Vorsicht war
für ihn schon immer Ehrensache gewesen, nebst sorgfältiger und
gründlicher Planung.
Wie gewohnt ging er beim Zähneputzen in Gedanken die
wichtigsten Aufgaben des Tages in chronologischer Reihenfolge
durch. Ja, auch an diesem Morgen, obwohl das Treffen um
12.15 Uhr die Berechenbarkeit des restlichen Tagesverlaufs
zwangsläufig beträchtlich einschränkte. Koristo konnte nicht
umhin, sich darüber einen Moment lang zu ärgern, schließlich
verabscheute er nichts mehr als Improvisation und
Ungewissheit. Und das Allerschlimmste waren überraschende
Abweichungen vom vorgesehenen Tagesplan.
Er tat noch mehr Zahnpasta auf die medizinisch empfohlene
Zahnbürste und führte den Reinigungsvorgang mit festen,
kurzen Bewegungen fort. Er putzte die Zähne stets dreimal und
achtete darauf, dass jeder einzelne Zahn gründlich gereinigt
wurde. Besondere Sorgfalt widmete er den schwer erreichbaren
Innenflächen der Backenzähne.
Koristo warf einen kurzen Blick auf die Uhr. Zu seiner
Überraschung stellte er fest, dem üblichen Zeitplan um einige
Minuten voraus zu sein. Das bedeutete, dass ihm fürs Anziehen
und die weiteren morgendlichen Verrichtungen noch fast zwölf
Minuten zur Verfügung standen.
321
Er schaltete den Fernseher an. Auf einem der
Satellitenprogramme wurde ein Wundermesser angepriesen, das
man nicht zu schärfen brauchte, auf einem anderen sang eine
Schlagersängerin – Koristos Meinung nach angemessen
angezogen – von der Sinnlosigkeit aller Bitternis, und auf einem
dritten brach ein untersetzter Prediger gerade in Tränen aus. Der
Prediger schien am besten zum Thema dieses Tages zu passen.
Koristo zog die grauen Hosen, ein graublaues Hemd, das graue
Jackett, graue Strümpfe und graue Lederschuhe an. Die
Grundfarbe der Krawatte war ebenfalls grau und wurde von
bläulichen und schwarzen Diagonalstreifen belebt. Koristo war
schon immer der Ansicht gewesen, dass während der Dienstzeit
neutrale und verlässliche Kleidung zu tragen war. Schließlich
ging es um Arbeit und nicht um irgendein Nachmittagstänzchen.
Als der Krawattenknoten vorbildlich saß und die Ecke eines
graublauen Einstecktuches exakt so aus der Brusttasche
hervorschaute, wie sich das gehörte, betrachtete Koristo
zufrieden sein Spiegelbild. Dann nahm er noch den schwarzen
Regenschirm aus dem Garderobenständer und klemmte ihn sich
unter den Arm. Ohne Schirm zur Arbeit zu gehen war für ihn
schlicht unvorstellbar, selbst wenn die Wettervorhersage ein
unverrückbares Hoch samt Jahrhunderthitze prophezeit hätte.
Auch in dieser Angelegenheit war Vorsicht das Klügste.
Koristo warf einen letzten kurzen Blick auf sein Bild im
großen Flurspiegel. Ihm gefiel, was er sah. Die harmonischen
grauen Farben, durch ein paar dunklere Streifen aufgelockert,
standen ihm gut; genau so hatte er es beabsichtigt. Koristo hob
den schwarzen Koffer der Marke Cavalet vom Flurtisch. Er war
um einiges schwerer als sonst. Eisen hat eben sein Gewicht.
Koristo trat hinaus und schloss die Wohnungstür ab. Mit dem
zweiten Schlüssel verriegelte er auch das Sicherheitsschloss.
Diese Vorsichtsmaßnahme befolgte er jedes Mal, wenn er die
Wohnung verließ, selbst wenn er nur kurz über den Hof zu den
Mülltonnen ging, um den Abfall wegzubringen. Nein, man
322
konnte gar nicht vorsichtig genug sein. Koristo hatte einen
kurzen Weg zur Arbeit, nur drei Häuserblöcke weit. Drei
Straßen mußten überquert werden, alle hatten Ampeln. Es war
nicht Koristos Art, über den Zebrastreifen zu stürmen, sobald es
grün wurde, so wie all die Durchschnittsfußgänger, er sah sich
immer erst dreimal um: erst nach links, dann nach rechts und
dann noch einmal nach links.
Vorsicht war besser als Nachsicht.
Koristo war auf die Minute genau eine halbe Stunde vor
Beginn der Dienstzeit am Arbeitsplatz. So blieb ihm Zeit,
schematisch einen Teil der üblichen Alltagsroutinen zu
erledigen, ehe seine Kollegen erschienen, zur Uhr schielten und
hektisch die Flure bevölkerten, Klatschbasen und gähnende
Gestalten.
Pünktlich um acht schaltete er den Computer ein und sah
gebannt zu, wie der Rechner hochfuhr. Ehe er mit den Aufgaben
des Tages begann, änderte er das Passwort. Das tat er jeden
Morgen. Die Regeln im Büro sahen vor, das Passwort
mindestens einmal pro Monat zu wechseln, doch Koristo hatte
sich von vornherein nicht mit solch einer Nachlässigkeit
anfreunden können.
Vorsicht war die Mutter der Porzellankiste.
Bis halb elf hatte Koristo zwei Evaluationsberichte
geschrieben und ein Arbeitspapier aufgesetzt, das den
Weiterausbau der Rechnungskontrolle präzisieren helfen sollte.
Zufrieden schaute er auf die Uhr. Der Vormittag war ganz nach
Plan verlaufen. Im Grunde war er seiner eigenen Zeiteinteilung
sogar zehn Minuten voraus. Koristo speicherte seine Dateien auf
dem Server und schaltete den Computer auf stand-by.
Verblieben ein paar Minuten, um im Kopf noch einmal das
Treffen um 12.15 Uhr durchzuspielen. Es ließ sich nicht
leugnen: Er verspürte dabei einen gewissen, wenn auch von
Aufregung begleiteten Enthusiasmus.
323
Seine Gedanken wanderten zu der eigenhändig erworbenen
Ausrüstung, wobei er sich tiefer Befriedigung über seine gute
Wahl nicht erwehren konnte. Ganz egal, worum es sich handelte
– Koristo kaufte grundsätzlich stets das Beste, was auf dem
Markt zu finden war, ganz besonders dann, wenn er sich auf
unbekanntem Terrain bewegte.
Zu Frühlingsbeginn hatte Koristo eine Schiffsreise über die
Ostsee nach Deutschland unternommen. Er hatte deutsche
Qualität stets hoch zu schätzen gewusst, und so hatte er
beschlossen, die lang geplante Anschaffung in Lübeck zu
erledigen. Ein höflicher und diensteifriger Verkäufer war ihm,
so gut er konnte, behilflich gewesen.
Natürlich waren gewisse Kommunikationsprobleme
aufgetreten, denn Koristo war in Sprachen nie sonderlich
bewandert gewesen. Zahlen waren so viel eindeutiger und
logischer als Worte. Ein beidseitiges Einverständnis stellte sich
dennoch bald ein, als Koristo mit hinreichendem Nachdruck
dasselbe Wort zu wiederholen begann: Sicherheit, Sicherheit. Zu
guter Letzt hatte der Verkäufer die Sache begriffen und aus dem
Regal eine Schachtel hervorgeholt, auf deren Seite in deutlicher
schwarzer Schrift geschrieben stand: SICHERHEIT. Koristo
hatte begeistert genickt.
In einer derart bedeutenden Angelegenheit gab er sich nur mit
der höchstmöglichen Sicherheit zufrieden.
Sicherheit und größte Sorgfalt waren die Leitsterne in Koristos
gesamtem bisherigen Leben gewesen. Wieso sich also auf
einmal mit weniger zufrieden geben?
Punkt 11:00 Uhr schlüpfte er in sein graues Jackett und
wappnete sich für das Mittagessen in der Betriebskantine drei
Stockwerke tiefer. Er schaltete den Computer aus und schloss
die Bürotür hinter sich ab. Dies war eine Vorsichtsmaßnahme,
die seine Kollegen bis heute nicht begreifen konnten.
Koristo ließ sich davon nicht beirren. Über die Sorglosigkeit,
324
Fahrlässigkeit, ja sogar Haltlosigkeit gewisser Kollegen ließe
sich ein wahrlich detailliertes Arbeitspapier anfertigen. Aber
nun gut. Koristo war schon immer der Ansicht gewesen, dass es
sich nicht gehörte, solche Dinge an die große Glocke zu hängen.
Stille Verachtung genügte vollkommen.
Doch irgendwo gab es natürlich trotzdem eine Grenze, die
niemand ungestraft übertreten durfte.
Bei diesem Gedanken zogen erneut die altbekannten
Unwetterwolken in ihm auf – und die allzu vertrauten
Gesichtszüge. Raento! Der Fiesling!
Vor ihm hielt der Fahrstuhl. Koristo trat ein und drückte auf
den Schalter für das Erdgeschoss. Er schloss die Augen und ließ
die Gedanken noch einmal zu den jüngsten Ereignissen
wandern, die ihn schließlich zu seiner Entscheidung bewogen
hatten.
Gründe waren ausreichend vorhanden. Da hatte sich jemand
nun mal reichlich in seiner Einschätzung vertan. Im Grunde
sogar mehrfach vertan. Dieser Widerling hätte kapieren müssen,
dass man einen vorsichtigen und prinzipientreuen Mann wie ihn
nicht an der Nase herumführen durfte.
Und schließlich hatte jeder Mensch für seine Fehler zu büßen.
Dies war das grausame Gesetz der Natur.
In der Kantine tat sich Koristo drei Koteletts auf den Teller
und bestrich drei Scheiben Knäckebrot mit Butter. Er setzte sich
an seinen Stammplatz am Ecktisch. Allein und mit dem Rücken
fest an der Wand, so wie immer.
Die Kantine füllte sich schnell. Raento kam mit den
Nachzüglern, im Schlepptau drei Sekretärinnen von der
Marketingabteilung. Wie gewohnt führte er das Wort, und die
Mädels wollten vor Lachen schier ersticken. Das Gekicher
dauerte sogar noch an, als sie längst am Tisch saßen. Manchmal
brauchte Koristo nur Raentos Stimme zu hören, schon verging
ihm der Appetit.
325
Jetzt jedoch aß er die Koteletts mit Genuss, bis zum letzten
Bissen.
Entgegen seiner Gewohnheit kehrte Koristo zehn Minuten
früher ins Arbeitszimmer zurück. Vor dem Treffen um 12.15
Uhr hatte er noch ein wichtiges Telefonat zu erledigen.
Der Jurist, den er vom Gymnasium kannte, hob nach
dreimaligem Klingeln ab und wirkte ein wenig überrascht, als er
hörte, mit wem er es zu tun hatte. Koristo erkundigte sich bei
ihm nach seinen Plänen für den Nachmittag.
Amtsrichter Pellervo Mairinen räusperte sich; da müsse er im
Terminkalender nachschauen. Es stünden durchaus ein paar
Besprechungen an, doch ein Telefonat zwischendurch sei
jederzeit möglich.
Koristo dankte für die Information und kündigte an, nach ein
Uhr auf sein Anliegen zurückzukommen. Er wünschte dem
Amtsrichter einen erfolgreichen Tag und legte auf.
Um 12.10 Uhr goss Koristo die drei Kakteen, die seine
Fensterbank zierten, und schloss dann die Schubladen des
Schreibtisches ab.
Um 12.14 Uhr öffnete er seinen Koffer und nahm einen
Aktenordner heraus, der in der Mitte auffallend gewölbt war.
Mit drei raschen Kammstrichen brachte er seine Frisur in
Ordnung und besprühte seinen Rachen mit Atemspray.
Um 12.14 Uhr und dreißig Sekunden schloss Koristo die
Bürotür hinter sich ab – wie immer, wenn er das Zimmer
verließ. Dann steuerte er ruhigen, festen Schrittes und mit dem
Aktenordner unter dem Arm auf die Zimmer der Führungsriege
zu.
Die Tür zu Raentos Zimmer war die dritte von rechts von der
Korridorecke aus gesehen. Genau um 12.15 Uhr blieb Koristo
vor der Tür stehen und klopfte laut, der Sicherheit halber
dreimal.
326
Das Signallämpchen an der Tür leuchtete grün auf. Koristo
öffnete die Tür und trat ein. Raento vollführte vor seinem
Computer einen kleinen Schwenk Richtung Tür; er besaß einen
schicken norwegischen Bürostuhl, der sich vollkommen
geräuschlos drehte – den einzigen dieser Art im ganzen Haus.
Koristo war absolut schleierhaft, von welchem Geld der
angeschafft worden war.
Auf Raentos rötlichem Gesicht zeigte sich eine Art Lächeln,
seine Riesenpranke wies auf den Besucherstuhl.
»Ach richtig, der Koristo! Ich hatte unsere Verabredung schon
fast vergessen. Aber du bist selbstverständlich pünktlich da, wie
eh und je.«
Koristo war hin- und hergerissen, setzte sich aber, als er dazu
aufgefordert wurde.
Er fand, dass Raentos Gesicht denselben Farbton hatte wie
sein viel zu breiter, greller Schlips. Er konnte nicht begreifen,
wie jemand in Führungsposition zu solch einem Kleidungsstück
kam.
»Wie hat denn deine Woche angefangen, Koristo – alles nach
Plan, wie?« Raento fingerte sich grinsend eine Zigarette aus der
Schachtel und lehnte sich lässig und entspannt zurück.
Koristo sagte kein einziges Wort. Worte waren nicht mehr
nötig. Er zog seinen Kamm aus der Tasche und fuhr damit
dreimal durch sein straßenköterfarbenes Haar.
»Okay, genug gescherzt. Wir haben schließlich beide noch
was zu tun.« Raento rieb sich die Nase und sah kurz auf den
Bildschirm. »Du willst sicher, über den neuen Bericht über die
Rechnungskontrolle reden. Dann lass uns mal gleich zur Sache
kommen …«
Koristo schwieg noch immer. Er blinzelte dreimal und stand
langsam auf. Aus dem schwarzen Aktenordner kam eine
glänzende deutsche Automatikwaffe von ähnlichem Farbton
zum Vorschein. Langsam und bedächtig richtete er den Lauf auf
327
den Mann hinter dem Tisch.
Raentos Gesicht wurde weiß. Träge öffneten sich die
wulstigen Lippen.
Seine Augen schienen aus den Höhlen hervorzutreten. Die
Zigarette fiel aus dem Mund auf die Schreibtischunterlage.
»Was zum Teu…«
Koristo fühlte sich zu keiner Antwort verpflichtet und drückte
stattdessen entschlossen auf den Abzug. Und noch einmal, und
noch einmal. Die Schussfolge durchschnitt die bleierne Stille
des Zimmers. Drei rasch aufeinander folgende, hallende
Schüsse.
»Hast du herausgefunden, was mit dem Typ los ist?«, fragte
Kriminalpolizist Elorinta Kriminalinspektor Harittu, als dieser
aus dem Verhörzimmer kam.
»Kann ich nicht gerade behaupten. Ist eine seltsame Sache.
Der wiederholt ständig ein und dasselbe deutsche Wort.
Sicherheit, Sicherheit, Sicherheit.« Harittu kratzte sich den
geröteten Nacken. »Vor allem wirkt er irgendwie überrascht und
irritiert.«
»Was bedeutet es – das Wort?«
»Also … mit meinen geringen Deutschkenntnissen würde ich
sagen: Alles hat verlässlich und solide zu sein.«
»Und was hat das mit unserem Fall zu tun?«
»Ich habe da so eine Idee. Die Jungs von der Spurensicherung
sind in seiner Wohnung auf eine Schachtel Patronen gestoßen.
Ein deutsches Fabrikat, und auf der Packung steht genau
dasselbe Wort. Es handelt sich nämlich um Übungsmunition.
Also Platzpatronen, die bei Filmaufnahmen verwendet werden.
Vielleicht ist das die Erklärung für sein Gefasel.«
Harittu zuckte mit den Schultern.
»Komische Geschichte. Wirklich rätselhaft. Aber unser Mann
328
scheint auch sonst nicht ganz zurechnungsfähig zu sein.«
»Wohl kaum. Mit Platzpatronen auf seinen Chef zu schießen
ist keine sonderlich durchdachte Aktion.«
»Nein. Aber wie geht es denn dem Opfer, diesem Raento?«
»Der ist einigermaßen wohlauf. Er ist natürlich noch ein
bisschen benommen und hat Ohrensausen. Aber ansonsten alles
okay. Und was hat unser Revolverheld noch so alles im Kopf?«
»Tja, wenn man das nur wüsste. Ich hab ihm gesagt, dass jetzt
erst mal eine Stunde Pause ist mit dem Verhör. Ach, und er hatte
drei Wünsche.«
»Gleich drei auf einmal!« Kriminalinspektor Harittu lächelte
schief. »Und um was für Wünsche handelt es sich da?«
»Ein Anruf bei irgendeinem Anwalt, dann die Telefonnummer
von einem x-beliebigen Waffengeschäft und – ob du’s glaubst
oder nicht – ein Deutschwörterbuch.«
329
Kriminell schön
Taavi Soininvaara
Auf dem Flugplatz Helsinki-Vantaa saß Oberwachtmeister Matti
Sutela als Beifahrer im Polizeiauto am Ende des Rollfeldes,
trank Kaffee aus einem Pappbecher und wartete ungeduldig,
dass der erste Staatsgast seiner Karriere in Finnland eintraf. In
den zehn Jahren in Polizeiuniform hatte er schon Präsidenten,
Ministerpräsidenten, königliche Oberhäupter und Weltstars
bewacht, aber noch nie einen so eigenartigen Gast.
»Kindermädchen für eine Geige, so ein Mist«, giftete Sutelas
Kollege auf dem Fahrersitz. Sutela regte sich nicht auf, es war
eine willkommene Abwechslung nach den Ereignissen vom
Anfang der Woche. Vorgestern hatte er vergeblich versucht, ein
zwölf Jahre altes Schulmädchen wiederzubeleben, die sich eine
Überdosis Heroin in die Venen gejagt hatte, und gestern musste
eine Wohnung untersucht werden, in der zwei Wochen lang eine
Tote gelegen hatte. An den Gestank der verwesten Leiche
erinnerte er sich noch gut, und auf seiner Netzhaut zeichnete
sich das Bild ab, wie die alte Frau ihre Einsamkeit aus ihrem
Zuhause hinausschrie. Mitleid breitete sich warm in seinem
Körper aus. Welten lagen zwischen dem Alltag der Polizei und
dem Spiel auf einer mit vierzig Millionen Dollar versicherten
Violine.
Er schob die unangenehmen Erinnerungen ganz weit weg,
schlürfte Kaffee und strich sich eine blonde Haarsträhne aus der
Stirn. Sutelas Mundwinkel zogen sich leicht nach oben, als er
daran dachte, wie die Stadt Genua das Gefolge für die Geige
zusammengesetzt hatte: zwei bewaffnete italienische
Wachmänner, die für die Wartung des Instruments
verantwortliche Kuratorin und der Rektor der Sibelius-
Akademie, der der Vorsitzende des Komitees war, das man
330
anlässlich des Finnlandbesuchs des Instruments gegründet hatte.
Die Minuten vergingen, und Sutela hatte das Warten langsam
satt, sein Leben war alles andere als ein Zuckerschlecken. War
er unfähig, ein Angsthase oder nur ein zu gutmütiger Mensch,
der sich damit begnügte, Jahr für Jahr darauf zu warten, dass er
dem Glück ein Stück näher kam, auf eine Gelegenheit, seine
Fähigkeiten zu beweisen? Er hatte schon fünf Jahre einer
Beförderung vergeblich hinterher gehechelt. Wie lange würde er
im Kopf noch die Jagd nach Fixern, Säufern und von den
Ehemännern verprügelten Frauen aushalten? Bis zur Rente
bestimmt nicht. Als Kommissar bekäme er mehr Papierkram zu
tun, und den würde er immer selbst erledigen wollen.
Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, als das Funkgerät im
Polizeiauto rauschte. Sutela stieg aus und verfolgte, wie der
zwanzigsitzige Learjet 35 vorbei am Inland-Terminal zum
hintersten Winkel der Landebahn rollte. Die morgendliche
Dezembersonne schien klar, wärmte aber nicht im Geringsten.
Da der Wind in Böen über den Flugplatz fegte und den Schnee
wie Puder aufwirbelte, kamen einem die zwanzig Grad Frost
doppelt so kalt vor. Sutela beschloss, irgendwann
zwischendurch seine Frau anzurufen und sie zu bitten, die Sauna
einzuheizen, ihm würde, wenn er nach Ende der Schicht losfuhr,
noch die Kälte in den Knochen sitzen. Der Unabhängigkeitstag
musste doch gefeiert werden. Vielleicht würden sie sich auch im
Fernsehen die Feier im Präsidentenpalast anschauen und sich
den einen oder anderen Schnaps gönnen.
Als der Learjet vor dem VIP-Terminal zum Halten kam, gab
Sutela über Funk zwei Polizisten den Befehl, ihm zu folgen, und
er ging zur Tür des Flugzeuges. Er schüttelte den aus dem
Düsenflieger steigenden Passagieren die Hand und führte sie zur
VIP-Lounge, wo Finnlands hingerissener Kulturminister die
Gäste willkommen hieß. Die Presseleute stürzten sich auf die
Kuratorin mit Dutt, die den Geigenkasten trug, wie Möwen auf
die Reste vom Fischeausnehmen.
331
Nachdem alle ein Glas Champagner in der Hand hielten, setzte
der Kulturminister zu seiner Begrüßungsansprache an:
»Das Jahr 2007 ist für das unabhängige Finnland ein
Jubiläumsjahr und zugleich ein Gedenkjahr für das Musikleben
in unserem Lande. Der Tod des Komponisten Jean Sibelius
jährte sich am 20. September zum fünfzigsten Mal, und nur
wenige Tage später gewann die junge finnische Violinistin Tuuli
Ahava in Genua den zweiten Platz im italienischen Violinen-
Wettbewerb Premio Paganini. Heute können wir all diese
Ereignisse in außergewöhnlicher Weise feiern, dank der Stadt
Genua, die Finnland und Helsinki eine seltene Ehre zuteil
werden lässt: Bei uns zu Besuch ist ›Il Cannone‹, die vor
zweihundertfünfundsechzig Jahren von Giuseppe Guarnieri
gebaute Geige Guarnieri del Gesù. Verehrte Damen und Herren,
Tuuli Ahava, das junge Geigentalent und die Solistin im
Orchester der finnischen Staatsoper, spielt heute auf der großen
Bühne des Opernhauses Jean Sibelius’ Violinkonzert.«
Die Journalisten umlagerten die Kuratorin, die die Geige trug,
von der Sekunde an, in der der Minister seine Rede beendet
hatte. Die Begeisterung der Presseleute war dennoch schnell
verebbt, als die gereizte Kuratorin den Geigenkasten wie einen
Säugling an die Brust drückte, sich weigerte, das Instrument zu
zeigen, und mit wehendem Rocksaum auf die Garderobe
zusteuerte.
Die Gesellschaft aus Italien wollte unbedingt in einem
einzigen Wagen fahren, sodass Sutela sie zu einem
polizeieigenen Transporter führte. Die Polizeifahrzeuge
formierten sich zu einem Konvoi, in dessen Mitte der
Transporter sich einreihte, und die Fahrt durch Helsinkis
Innenstadt und zur Staatsoper begann.
Der kahlköpfige und übergewichtige Rektor der Sibelius-
Akademie konnte seine Augen nicht vom Geigenkasten lassen.
»Man kann sich kaum vorstellen, dass Paganini seinerzeit
332
genau auf diesem Instrument gespielt hat.«
»Wer?«, entfuhr Sutela aus Versehen die Frage, und der
Rektor machte ein Gesicht, als habe der Polizist ein Sakrileg
begangen.
»Niccolò Paganini. 1782 in Genua geboren, 1840 in Nizza
gestorben. Der größte Violinist der Welt, der Vater der
modernen Violinenspieltechnik und ein begabter Komponist«,
erklärte der Rektor und wartete vergeblich, dass Sutela ein Licht
aufging.
»Paganinis Spiel war von so großer Virtuosität, dass seine
Zeitgenossen glaubten, der Mann habe seine Seele dem Teufel
verkauft.« Die Stimme des Rektors nahm an Lautstärke zu, als
Sutelas Gesichtszüge sich noch immer nicht aufhellten. »Er
erfand die Scordatura und das Pizzicato der rechten Hand, und
er … Wissen Sie wirklich nicht, wer Niccolò Paganini war?«,
fragte der Rektor verärgert.
»Wer benutzt … oder vielmehr spielt eigentlich die Geige?«,
wechselte Sutela das Gesprächsthema.
Der Rektor berichtete, Paganini habe per Testament die
Violine der Stadt Genua vermacht, die sie in der Stahlkammer
des Rathauses Palazzo Tursi aufbewahrte. »Wussten Sie
übrigens, dass Giuseppe Guarnieri in seiner gesamten Laufbahn
nur fünfzig Violinen gebaut hat, von denen der größte Teil
verschollen ist? Anders als allgemein angenommen, gehören die
Stradivaris nicht zu den seltensten Geigen der Welt, von denen
gibt es noch fast fünfhundert Exemplare«, dozierte der Rektor.
Sutela war aus dem Schneider, als der Rektor mit der
Kuratorin ein Gespräch auf Italienisch begann. Die Fahrt verlief
schnell, der Verkehr nahm erst auf dem Mannerheimintie zu.
Die Polizeifahrzeuge wurden hinter der Staatsoper gleich beim
Bühneneingang geparkt, von wo der Leiter der Oper die
Gesellschaft durch lange Gänge zum Orchesterfoyer führte.
Die kleine blonde Geigerin Tuuli Ahava wartete im Foyer zur
333
großen Bühne auf Il Cannone und hörte auf, am Daumennagel
zu kauen, als der Rektor sie der Kuratorin vorstellte. Die
Gesellschaft ging mit Tuuli Ahava ins Künstlerzimmer, die
italienischen Wachmänner und Sutela folgten dem Geigenkasten
wie Küken der Henne.
Die anderen finnischen Polizisten blieben im Foyer, um sich
von einem bärtigen, ins Horn stoßenden Posaunisten das
Trommelfell strapazieren zu lassen.
Die fahle Wintersonne schien ins Künstlerzimmer, sodass die
Kuratorin die Vorhänge vors Fenster zog. Anschließend holte
die Frau aus ihrer Handtasche ein digitales Thermometer,
überprüfte die Zimmertemperatur und nickte beifällig.
Tuuli Ahava verfolgte mit ernster Miene, wie die Kuratorin
den Geigenkasten auf einem kleinen Arbeitstisch abstellte, die
Schlösser aufklickte, die schützenden, purpurroten Seidentücher
vom Instrument entfernte und Il Cannone heraushob wie eine
Reliquie.
Die zierliche Geigenvirtuosin ergriff das Instrument behutsam
an Hals und Resonanzboden, ihre Hände zitterten ein wenig.
Adrenalin durchströmte ihren Körper. Sie hielt die wertvollste
Violine der Welt in Händen, die Guarnieri del Gesù, Niccolò
Paganinis Instrument, des Meisters aller Solisten. Der Puls
pochte ihr in den Schläfen. Jetzt musste sie sich beruhigen, das
Spiel würde misslingen, wenn sie dem Instrument weh tat.
Wenn sie die Violine nun fallen ließ? Die Vorstellung steigerte
zunehmend ihre Anspannung, und auch die Wachmänner neben
ihr plapperten wie Marktverkäufer. Man musste ihr Ruhe zur
Konzentration geben. »Darf ich die Violine allein stimmen, hier
ist es ein bisschen … zu voll«, sagte die junge Frau zur
Kuratorin gewandt.
Die Italienerin schüttelte lächelnd den Kopf. »Die
Wachmänner werden das Instrument nicht eine Sekunde lang
aus den Augen lassen. Sie warten das Konzert über in den
334
Seitenkulissen und nehmen Ihnen die Violine ab, sobald das
Konzert beendet ist.«
Tuuli Ahava schloss die Augen, atmete tief durch und
versuchte sich zu beruhigen. Sie zog den Frosch des Bogens an,
befühlte die Stimmwirbel, strich mit der Hand über das
Griffbrett, glitt mit dem Finger am oberen Rand des Stegs über
die Saiten und legte am Ende die linke Hand auf den Hals. Dann
krümmte sie den Finger, setzte den Bogen auf die Saite und
begann das Instrument zu stimmen: g, d, a, e … Einige Minuten
später spielte Tuuli Ahava die schnellen Läufe des
Violinkonzerts von Jean Sibelius.
Sutela zuckte zusammen. Die Schönheit der Violinentöne traf
ihn in die Herzgrube wie ein Faustschlag. Der Klang von Il
Cannone war überwältigend, das hörte auch ein Laie sofort:
kräftig, klar, dunkel … Er beobachtete fasziniert, wie die
Violinistin ihr Ohr auf die Resonanzdecke drückte. Das
Instrument klang wie ein Lebewesen, nur schöner. Und die Kraft
des Instruments drang bis in die Seele, der Kosename, den
Paganini dem Instrument gegeben hatte, war wirklich passend.
Sutela hatte noch nie etwas so Beeindruckendes gehört und …
Der Rahmen zerbarst, als die Tür aufgetreten wurde und zwei
Männer in schwarzen Armeeoveralls mit Maschinenpistolen im
Anschlag eindrangen. Das Spiel brach jäh ab, Tuuli Ahava wäre
die Geige beinahe aus den Händen geglitten, und der Kuratorin
traten vor Schreck fast die Augen aus dem Kopf. Sutelas Hand
auf der Klappe des Pistolenholsters war gelähmt, als der zweite
Angreifer seine Waffe auf ihn richtete, aber die italienischen
Wachmänner erbebten von der Wucht der Kugeln, der Lärm
schmerzte in den Ohren, und der Geruch von Schießpulver
breitete sich im Zimmer aus. Zugleich stürmten zwei andere
Männer in Armeeoveralls herein, von denen der eine der
zitternden Tuuli Ahava die Violine aus der Hand riss und der
andere der schreienden Kuratorin einen Schlag in den Bauch
verpasste. Der Schrei verstummte.
335
Sutela wurden die Füße zusammengebunden und die Hände
auf dem Rücken gefesselt. Der Schock wich Wut in seinem
Kopf, als man ihm ein Stück Stoff in den Mund stopfte und
starkes Paketklebeband darüber klebte. Er konnte nicht glauben,
was geschah. Mein Gott, er hatte die Verantwortung für eine
Vierzig-Millionen-Dollar-Violine. Und zwei Männer waren
getötet worden. Die Geige hatte ihn dazu verleitet, seine
Aufgabe zu vergessen.
In einer Minute war alles vorbei und die Räuber verschwanden
genauso schnell wie sie aufgetaucht waren. Sutela kroch wie
eine Raupe aus dem Zimmer, seine Kleider kamen mit dem Blut
in Berührung, das auf den Fußboden geflossen war, und sein
Atem zischte in der Nase. Im Flur warf er einen Blick in
Richtung Foyer, und er sah seinen Kollegen und den bärtigen
Musiker gefesselt auf dem Boden zappeln. Wie viele Räuber
waren es eigentlich? Was um alles in der Welt war passiert?
Sutela suchte mit Blicken nach dem nächsten Feuermelder und
kroch hin. Er drehte sich auf den Rücken, hob die Füße und trat
mit den Absätzen auf den Alarmknopf.
Acht Männer in schwarzen Armeeoveralls rannten zum
Luftschutzraum im Kellergeschoss der Staatsoper, wo die
technische Gruppe von vier Männern wartete. Der Bandenchef
überprüfte, ob alle Mann da waren, er erkannte die auf die
Overallkragen seiner Leute gemalten Zahlen. Sie traten einer
nach dem anderen durch die kleine Metalltür, deren
Alarmanlage entschärft worden war, dann schwang der Chef
sich auf eine Metallleiter und stieg immer zwei Stufen auf
einmal abwärts.
Er ließ sich in das Tunnelsystem fallen, das man unter
Helsinkis Asphalt gesprengt hatte, holte aus der
Oberschenkeltasche seines Overalls eine Karte des
Tunnelsystems und vergewisserte sich, wie schon viele Male
zuvor, dass er den Wegeplan im Kopf hatte. Nur das Rauschen
336
der Belüftungsanlage störte die Ruhe der Finsternis.
Die Männer in den Overalls teilten sich in drei Gruppen, von
denen zwei sofort in entgegengesetzter Richtung verschwanden,
und die dritte entfernte sich durch den in ein paar hundert
Metern weiter gelegenen Tunnel.
Der hohe und breite in den Felsgrund gesprengte Tunnel
erdröhnte, als die erste Mannschaft auf dem feuchten Asphalt
Richtung Museokatu lief. Die Strecke betrug nur einen halben
Kilometer, aber in Autos würden die Verfolger sie im
Handumdrehen einholen.
Als die erste Mannschaft die Metallleiter erreichte, die hinauf
zur Museokatu führte, gab der Anführer mit der Hand den
Befehl zum Halten. Die keuchenden Männer zogen schnell
Handschuhe, Overalls und Schuhe aus, holten Zivilkleidung aus
ihren Rucksäcken und zogen sie an. Einer der Männer stopfte
die abgelegten Stücke in einen Müllsack, ein anderer sammelte
die Waffen ein, und der Anführer der Gruppe zwängte den
Geigenkasten in einen kleinen Rucksack. Die Bewegungen der
Männer waren so exakt wie die bei Balletttänzern, auch das
kleinste Detail des Raubes war mit äußerster Präzision geplant
gewesen.
Die erste Mannschaft trat im winterlichen Zentrum Helsinkis
aus der grauen Metalltür ohne Schild im steinernen Sockel eines
hundert Jahre alten Jugendstil-Etagenhauses, dessen
Alarmanlage schon vor dem Coup entschärft worden war. Sie
spazierten in aller Ruhe in das Treppenhaus des Gebäudes und
stiegen zur angemieteten Wohnung hinauf.
Der Anführer der Gruppe stellte die Violine auf den Boden
und stimmte dann den Standort mit den anderen beiden Gruppen
ab. Keine Probleme. Er goss einen Pappbecher randvoll mit
Wodka, leerte ihn in zwei Zügen und ließ sich häuslich auf dem
Fußboden der unmöblierten Wohnung nieder. Er lächelte nicht,
obwohl die Flucht ganz planmäßig gelungen war. Sie würden
337
einen hohen Preis für den Tod der italienischen Wachmänner
bezahlen müssen.
Matti Sutela biss die Zähne zusammen, seine Lippen formten
einen leisen Fluch, aber dieser Wutausbruch verschaffte ihm
keine Linderung. Er hatte sich eine Violine im Wert von vierzig
Millionen Dollar stehlen lassen. Er blickte an seinem mit Blut
getränkten Hosenbein hinab, und das Gefühl der Beklemmung
nahm zu, als der Anblick der getöteten italienischen Wachleute
ihm durch den Kopf fuhr. Hätte jemand, der zuverlässiger war
als er, den Tod der Männer verhindern können? Warum hatte
ihn der Klang der Kanone gelähmt? Sutela zog das Frostwetter
in die Lungen ein, die Zigarette in seiner Hand zitterte, und die
Füße stapften schwerfällig über den festgetretenen Schnee.
Auf dem Platz hinter der Oper wimmelte es von Leuten. Die
Polizisten der Mordkommission wie die Leute von der Spuren-
Sicherung rannten zwischen den Autos und dem Tatort hin und
her. Die Sonne war um halb vier Uhr nachmittags
untergegangen, jetzt durchschnitt das Blaulicht der
Polizeifahrzeuge und der Krankenwagen die Dunkelheit. Auch
das Sondereinsatzkommando Karhu war vor Ort für den Fall,
dass es zu einer Belagerung oder Geiselnahme kam. Sutela
verfolgte am Rand, wie Kollegen, die jünger und höher
eingeschätzt waren als er, Anweisungen gaben und fürchtete,
dass er ab heute nur noch die Tore der Fussballmannschaft der
Polizei zu bewachen hatte.
Der Einsatzleiter der Polizei pumpte sich von Sutela eine
Zigarette und versuchte seinen Kollegen, der elend aussah,
aufzumuntern. »Der Alarm kam wirklich früh, das hilft uns. Das
Zentrum von Helsinki ist abgesperrt, alle Ausfallstraßen sind
abgeriegelt, und die Grenzübergänge, Flugplätze und
Fähranleger sind informiert worden …«
Die freundlichen Worte erleichterten Sutelas Gewissen nicht.
338
»Wir haben noch nicht mal die Täterbeschreibungen. Wir
wissen nur, dass es acht Angreifer waren. Kein Mensch hat ihre
Gesichter gesehen oder sie sprechen gehört. Können gut
Ausländer gewesen sein.«
Der Einsatzleiter nickte. »Selten solche Profiarbeit gesehen
…«
»Murtomaa hier. Der Hund hat Witterung aufgenommen, wir
verfolgen die Spuren«, hallte die Stimme des Kommissars der
Mordkommission im Funkgerät wider.
»Geh mit, Matti, dann kommst du auf andere Gedanken!«,
schlug der Einsatzleiter vor, und in Sutela kam Leben. Er
sprintete in die Oper und schloss sich der Hundestaffel an.
Über zehn bewaffnete Polizisten stiegen die Treppe ins
Kellergeschoss der Oper hinab. Die Schäferhunde zogen wie
eine Dampflok ihre an der Spitze gehenden Hundeführer an der
Leine hinterher, bis sie vor einem Luftschutzraum anhielten und
wütend an der Metalltür kratzten. Die Polizisten traten in den
Raum dahinter ein und entdeckten die geöffnete Tür, die ins
Tunnelsystem führte. »Wir steigen in die Tunnel hinab, besetzt
alle Ausgänge. Ich weiß, dass es davon über hundert gibt«, teilte
Murtomaa über Funk dem Einsatzleiter mit.
»Sollten die Wagen nicht schon nach unten beordert
werden?«, schlug Sutela vor.
Murtomaa schüttelte den Kopf. »Noch nicht, nur die Hunde
können die Spuren verfolgen. Und die Tunnel sind über
zweihundert Kilometer lang, da unten lohnt sich großes
Geschütz nicht.«
Sutela kletterte zwischen den Polizisten die Leiter hinab, und
beim Betreten der Tunnel stieg ihm der Geruch von Feuchtigkeit
in die Nase. Er hoffte, die Räuber würden durch das
Tunnelsystem des Notausgangs oder der städtischen
Verkehrsbetriebe entkommen, weil die Polizei über keine
Karten über alle von den Streitkräften und der Staatsverwaltung
339
genutzten Höhlen verfügte. Beim Gedanken, welchen Ruf es
ihm eintragen würde, wenn den Räubern die Flucht gelänge,
erschauderte er. Die Aussicht auf Beförderung konnte er dann
vergessen, komme, was da wolle.
Die Hunde wurden an ihrem Geschirr in den Tunnel
hinabgelassen. Schnell fanden sie drei Spuren, nach denen sich
die Polizisten in Gruppen aufteilten.
Murtomaas Mannschaft lief einige hundert Meter hinter dem
Hund her, bis das Tier bei einer nach oben führenden
Metallleiter mit Gebell stehen blieb. Sutela saugte Sauerstoff
ein, fiel auf die Knie und dankte Gott, dass die Räuber nicht
weiter gelaufen waren. Er hätte mit den Jüngeren nicht mehr
viele Meter Schritt halten können.
Bald stießen die Polizisten die Tür zur Außenwelt auf, der
Hund drehte sich auf dem Bürgersteig wie ein Windrad, bekam
aber keine Witterung mehr. Murtomaa suchte das nächste
Straßenschild. »Die Diebe sind in der Museokatu 21
rausgekommen.«
Die Funkverbindung rauschte, während der Einsatzleiter
nachdachte. »Ich schicke Männer, die das Haus von diesem
Punkt in alle Richtungen umstellen. Ihr fangt ab Nummer 21 an,
meldet mir danach den Verlauf. Ich besorge inzwischen ein
Verzeichnis über die Einwohner der Nachbarschaft.«
Die Polizisten klingelten im Treppenaufgang A an jeder Tür,
befragten die Bewohner und notierten sich die Wohnungen,
deren Tür nicht geöffnet wurde. Nutzlose Hinweise sammelten
sich massenhaft an: streitsüchtige Nachbarn, ihre Stereoanlage
folternde Studenten, unangenehme Beischlafgeräusche …
Nach einer Stunde hatte Murtomaas Mannschaft alle drei
Treppenhäuser durchkämmt, die Polizisten standen vor der
Museokatu 19, als der Einsatzleiter Verbindung aufnahm.
Murtomaa hörte die Anweisungen und drehte sich zu seinen
Männern um: »Im Einwohnerverzeichnis der Nachbarhäuser hat
340
man ein interessantes Objekt gefunden. Wir fangen bei
Museokatu 25 A 14 an, die ist an den Russen Felix Jusupov
vermietet. Wir bestellen die Karhu-Gruppe vor Ort, wenn die
Situation es erfordert.«
Murtomaa postierte seine Männer am Treppenaufgang, Sutela
kauerte sich weit von der Tür zur Wohnung 14 entfernt nieder.
Der junge Polizist klingelte an der Tür, man hörte, wie jemand
zur Tür kam, und Licht war in dem flimmernden Spion zu
erkennen. Plötzlich waren aus der Wohnung ein Schrei, schnelle
Schritte und ein metallenes Geräusch zu hören, das an das Laden
eines Gewehres erinnerte.
»Hier Murtomaa. Schickt die Karhu-Gruppe in die
Museokatu.« Er befahl zwei Männern, an der Treppe stehen zu
bleiben, verteilte die anderen über das Haus und sagte, er warte
auf der Straße mit Sutela auf die Karhu-Gruppe.
Sutela maß die Museokatu ungeduldig, die nächsten Minuten
würden über seine Zukunft und die der Violine entscheiden.
»Ein Teil der Verbrecher ist in der Humalistokatu
festgenommen worden. Keine Geige. Und die dritte
Hundestaffel hatte keinen Erfolg.« Murtomaa meldete über
Funk den Erhalt der Nachricht. »Wenn die Geige nicht da ist
…«
Sutela wurde noch nervöser, die Ereignisse der letzten Stunden
belasteten sein Gewissen. Kamen die Räuber aus Russland?
Schon was Murtomaa gesagt hatte, wollte ins Unterbewusstsein
vordringen. Er konnte noch zwei Zigaretten rauchen und die
dritte bis einen Zentimeter vor den Filter, ehe die weißen
Kastenwagen am Bürgersteig anhielten und die Männer der
Karhu-Gruppe von der Ladefläche sprangen. In feuerfesten
Schutzanzügen, schusssicheren Helmen und Westen nahmen die
Polizisten schwer bewaffnet ihren Befehl entgegen. Zehn
Männer rannten zur Museokatu 25, vier zur Rückseite des
Hauses und zwei blieben auf dem Gehweg zurück.
341
Der Leiter der Karhu-Gruppe befestigte ein Mikrofon an der
Tür der Zielwohnung, hörte einen Augenblick bedrohliche Stille
und griff dann zum Megafon. »Hier spricht die Polizei. Machen
Sie die Tür auf und legen Sie sich auf den Boden. This ist the
police. Open the door and get down on the floor«, wiederholte
der Leiter ein halbes Dutzend Mal. Ohne Ergebnis.
Es musste gestürmt werden. Er teilte seinen Männern die
Aufgaben zu, verbot den Einsatz von Leuchtmunition und
Tränengas. Die Violine durfte nicht beschädigt werden.
Zwei Polizisten packten ein eineinhalb Meter langes
Metallrohr bei den Griffen und gingen hinter einem kugel- und
splittersicheren Schild in Deckung. Der Rammbock riss die Tür
aus den Angeln, die roten Punkte des Laservisiers kreuzten über
die weißen Wände, und die Karhu-Gruppe stürmte die
Wohnung.
Die Spannung zerrte an Sutelas Wangenmuskeln, als zwei
Polizisten den ersten Räuber auf die Museokatu führten. Dann
kam der Leiter der Karhu-Gruppe mit dem Geigenkasten in der
Hand heraus, und Wellen der Erleichterung durchströmten
Sutelas Körper. Er starrte den folgenden auf die Straße
geführten Räuber an, der Gesichtsausdruck des dunkelhaarigen
Mannes war ernst, aber nicht enttäuscht. Sutela identifizierte ihn
als den Mörder der beiden italienischen Wachmänner, ihre
Blicke trafen sich, und Sutela sah, wie sich auf dem von Sonne
und Wind gegerbten Gesicht des Verbrechers ein überhebliches
und schadenfrohes Lächeln zeigte.
»Matti, du kannst den Italienern die Geige bringen. Das ist
dein Job«, sagte Murtomaa kumpelhaft und drückte Sutela den
Geigenkasten in die Hand.
Sutela sagte auf der Fahrt zum Flugplatz kein Wort, er kam
sich vor wie ein Vollidiot. Das Galakonzert war abgesagt
worden, und die Italiener wollten Finnland sofort verlassen. Was
würde morgen über ihn in den Zeitungen stehen?
342
Das italienische Geschwätz der Kuratorin war noch nicht zum
Stillstand gekommen, als der Frau in der VIP-Lounge des
Flugplatzes Il Cannone überreicht wurde. Gut so, dachte Sutela,
weil sicher war, dass die Frau ihn mindestens genauso sehr
beschimpfte wie sie sich über die wiedergefundene Violine
freute. Der Redeschwall verstummte sofort, als die Frau den
Boden der Geige nach oben drehte. Sie hielt das Instrument
unter eine Lampe, kniff die Augen zusammen und betrachtete
jeden Zentimeter. Eine qualvolle halbe Minute später ächzte sie
schließlich verärgert, wickelte die Geige wieder in die seidenen
Schutztücher und legte sie in den Geigenkasten. »Wir
überprüfen sie in Genua gründlich. Je weiter weg von hier wir
kommen, desto besser.«
Die Situation war am Ende bereinigt, die Polizisten
gratulierten sich gedämpft gegenseitig, und Sutela erkannte im
Blick seiner Kollegen Mitleid. Dieses Mal brannte es nicht, sein
Gehirn verarbeitete ununterbrochen die Ereignisse der letzten
Stunden. Der spöttisch lächelnde Verbrecher, der begutachtende
Blick der Kuratorin … Der Raub war aufgeklärt und mit
militärischer Präzision durchgeführt, die Kriminellen waren
Profis, wie um alles in der Welt konnten sie so leicht
aufgestöbert werden? Warum hatten die Hunde in den Tunneln
drei Witterungen aufgenommen, obwohl es nur zwei Gruppen
gewesen waren? Und warum hatte er das Gefühl, dass
Murtomaa etwas gesagt hatte, woran er sich erinnern müsste.
Nicht alles war, wie es sein sollte.
Sergei Lybimov saß in einem prächtgen Sessel in der ersten
Reihe im Privattheater des Jusupov-Palastes, rollte Machorka-
Tabak in Zigarettenpapier, drehte die Zigarette mit den Fingern,
leckte den Rand des Papiers, und die kurze Samokrutka war
fertig. Er zündete die Zigarette an und bewunderte die
Ornamente an den Wänden seines Theaters. Die Renovierung
des luxuriösen Petersburger nichtkaiserlichen Palastes und die
343
Innenarbeiten waren endlich abgeschlossen. Er hatte den
berühmten Palast im Herbst gekauft, mit Geld konnte man alles
kaufen und durch den Gewinn seiner Ölgesellschaft besaß er so
viel davon wie kein anderer Russe. Auf der Forbes-Liste der
reichsten Männer der Welt stand er vorläufig auf dem
befriedigenden siebenunddreißigsten Platz.
Der von den Schuhen bis zur Krawatte in Schwarz gekleidete
Oligarch trommelte mit dem Zeigefinger nervös auf der
Stuhllehne und inhalierte gierig den schweren, dicken und
würzigen Duft des Rauches. Die Erstaufführung in dem
renovierten Theater würde gleich beginnen. Zuletzt war in dem
Palast 1916 ein großes Drama im Getöse des Weltkrieges
gezeigt worden, als die von Felix Jusupov angeführte Bande
Gregori Rasputin ermordete, der sich selbst zum Hellseher und
Manipulator der Zarenfamilie gemacht hatte. Lybimov
bedauerte es fast, dass in der bevorstehenden Vorstellung kein
einziger Mord vorkam.
Es war zwölf Minuten vor zehn Uhr abends, als Lybimovs
Privatsekretär in der Tür des Theaters erschien. »Gennadi ist
zurück.«
Lybimovs Mundwinkel verzogen sich zu einem Lächeln.
»Führe den Mann herein, sofort. Ich bitte den Jungen zu
kommen«, befahl er.
Gennadi marschierte mit dem zwölfjährigen Achilles durch
dieselbe Tür ins Theater. Der Junge lief auf seinen Vater zu und
hauchte ihm leichte Küsse auf die bärtigen Wangen. Gennadi
beschränkte sich aufs Händeschütteln.
»Du kommst früher, als ich erwartet habe«, sagte Lybimov
und schaute Gennadi erwartungsvoll an.
»Na ja, von Helsinki sind es nur vierhundertfünfzig Kilometer.
Wir mussten übrigens an der Grenze warten, bis die finnische
Polizei beide Gruppen gefunden hatte und die Grenzen wieder
geöffnet wurden. Wir …«
344
»Ihr hattet doch Erfolg? Erzähl jetzt endlich, was passiert ist
…«, meinte Lybimov begeistert.
»Alles lief nach Plan, außer dass die italienischen
Wachmänner getötet werden mussten. Jetzt müssen die Jungs
länger als nötig auf den Kuchen warten.« Gennadi schaute den
Oligarchen forschend an.
»Epat-kopat!«, fluchte Lybimov. »Ich bezahle die armen
Juristen und drehe die Dinge so, dass deine Männer in Finnland
ein erträgliches Urteil bekommen. Und ich zahle ihnen natürlich
eine angemessene Entschädigung.«
Matti Sutela saß in seinem kargen Büro im Präsidium von Pasila
und versank immer weiter in den Wogen von Selbstmitleid. Er
musste die Hoffnung auf Beförderung endlich begraben, weder
der Chef der Schutzpolizei noch die Führung der Polizei würden
diesen Tag je vergessen. Er fühlte sich gewissermaßen für den
Tod der italienischen Wachmänner verantwortlich, so sehr er es
sich auch immer wieder sagte, dass niemand das Geschehene
hätte verhindern können. Er bereute, dass er sich hatte von der
Violine aus dem Konzept bringen lassen.
Außerdem quälten ihn Zweifel, die zur Gewissheit geworden
waren, dass nicht alles war, wie es sein sollte. Aber was zum
Teufel sollte er tun, der Fall war an Interpol übergeben worden,
man hatte ihm noch nicht einmal Einsicht in die ersten
Ermittlungsberichte gewährt. Er hatte seinem Chef gegenüber
den grinsenden Räuber, das Zögern der Kuratorin, die nahezu
problemlose Festnahme der Verbrecher und seine anderen
Beobachtungen zur Sprache gebracht, doch sein Chef hatte ihm
ins Gesicht gelacht.
In der letzten Stunde hatte er im Internet unzählige Seiten über
Niccolò Paganini und die Kanone gelesen. In seinem Kopf
wirbelten unwichtig erscheinende Informationen herum:
Paganini hatte immer Schwarz getragen. Er hatte vor kurzem
345
von einem anderen Mann gelesen, der auch immer nur Schwarz
trug, konnte sich aber nicht mehr an den Namen erinnern. Er
konnte sich auch nicht mehr ins Gedächtnis rufen, was
Murtomaa Wichtiges gesagt hatte, obwohl ihn die Sache
unablässig beschäftigte. Er zermarterte sich das Gehirn, und
plötzlich fiel ihm ein, dass Murtomaa den Namen eines
Wohnungsmieters in der Museokatu erwähnt hatte. Der hatte
etwas mit Russland zu tun und mit dem anderen Mann in
Schwarz. Der Name des Mieters würde sich in den Berichten
finden.
Der Ärger überkam Sutela mit aller Macht, hier wartete er wie
gewohnt darauf, dass etwas passierte, obwohl er wissen müsste,
dass er ohne Untersuchungsberichte nichts erreichen würde.
Sollte er wieder aufgeben? Der Chef hatte die Berichte
bekommen und war nach Hause gegangen, und Sutela wusste,
wo in seinem Zimmer der Chef den Ersatzschlüssel
aufbewahrte. Er beschloss, einmal das Risiko auf sich zu
nehmen. Wer nicht wagt, der nicht gewinnt.
Der endlos lange Korridor dröhnte, als Sutela zielstrebig auf
das Zimmer des Chefs zuging, den Ersatzschlüssel im
Schreibtisch der Sekretärin fand und die Tür aufschloss. Der
Tisch quoll von Unterlagen über, aber Sutela fand das Gesuchte
nicht. Er zog die Schreibtischschubladen auf, sodass die
Spanplatte zu Bruch ging. Wenn man ihn erwischte, bevor er
das Gesuchte gefunden hatte, dann bekam er seine Papiere,
wahrscheinlich auch eine Klage. Aber jetzt war es zu spät, um
einen Rückzieher zu machen, die Spuren des Einbruchs würde
man in jedem Fall bemerken. In der Schublade fand er nur
Büroartikel, und Sutela merkte, dass er schon unsicher wurde.
Der eineinhalb Meter hohe abgeschlossene Aktenschrank war
die letzte Möglichkeit. Sutela nahm einen eisernen
Kleiderständer und schmetterte ihn gegen den
Aluminiumschrank, dass er schepperte. Und noch einmal.
So brach er den obersten Rollladen auf, als auf dem Korridor
346
Rufe und Schritte zu hören waren. Sein Herz hämmerte, vom
Zeitdruck und von der Angst bekam er einen erdigen
Geschmack im Mund, er durchwühlte die Unterlagen und fand
den Ermittlungsbericht.
Das hatte er gesucht: Die Wohnung in der Museokatu war an
Felix Jusupov vermietet. Murtomaa hatte in der Museokatu
einen russischen Namen erwähnt. Wie Tausende andere
finnische Touristen hatte auch Sutela in St. Petersburg den
Jusupov-Palast besichtigt, als er noch ein Museum war. Darum
war der Name Jusupov so bekannt. Jetzt fiel ihm auch wieder
ein, dass er vor kurzem in der Zeitung über den Verkauf und den
Käufer des Palastes gelesen hatte, über den Mann, der die
seltsame Angewohnheit hatte, sich nur in Schwarz zu kleiden.
Die Bruchstücke fügten sich in Sutelas Kopf zu einem Ganzen.
Vollkommen sicher war er sich dennoch nicht, die Sache
brauchte Bestätigung.
Er schaltete den Computer an und gab sein Passwort ein, die
Schritte im Korridor wurden lauter. Sutela gab im Internet in die
Suchmaschine die Wörter »Jusupov+Palast+Verkauf« ein, und
hundertvierundsiebzig Treffer wurden angezeigt.
Gleichzeitig wurde die Tür aufgerissen, und der junge
Kommissar der Schutzpolizei starrte verdutzt auf die Beulen im
eingedellten Schrank und den auf die Computertastatur
einhämmernden Sutela. »Mein Gott, Matti, was zum Teufel soll
das? Damit kommst du nicht durch.«
»Zwei Minuten. Gib mir zwei Minuten, dann erkläre ich
alles.« Sutela drehte noch nicht einmal den Kopf zu seinem
Kollegen um. Er las den Artikel über Lybimov. Das Finanzgenie
und der Bewunderer Paganinis hatte im Herbst den Jusupov-
Palast gekauft und trug nur Schwarz. Seine Erinnerung hatte ihn
nicht getrogen. Es war sein Glück, dass die Medien
rücksichtslos wie ein Raubvogel das Handeln des russischen
Milliardärs verfolgten. Als Sutela den Namen von Lybimovs
Sohn, eines Violinisten, las, war der letzte Zweifel ausgeräumt.
347
Auch Paganinis Sohn hatte Achilles geheißen.
Jubel prickelte in Sutelas Körper, er hatte das Gefühl, genauso
ein Genie zu sein wie Paganini und Lybimov. Vielleicht war es
das Verdienst der Violine, dachte er amüsiert, fand im internen
Telefonbuch der Kripo die Nummer des für russische
Angelegenheiten zuständigen Kommissars und griff zum Hörer
…
»Alles Gute zum Geburtstag, Achilles!«, sagte Lybimov und
drückte seinen Sohn heftig an sich.
Achilles kämpfte sich aus der Umarmung frei und versuchte
ein böses Gesicht zu machen, konnte aber ein aufkommendes
Lächeln nicht unterdrücken. »Aber bis zu meinem Geburtstag
dauert es doch noch viele Tage.«
»In diesem Jahr bekommst du dein Geschenk im Voraus.
Gennadi, gib Achilles das Geschenk«, befahl Lybimov.
Die Augen des jungen Mannes strahlten. »Was ist es denn?«
Gennadi öffnete den Rucksack, zog den großen Geigenkasten
heraus und überreichte ihn Lybimov.
»Spasibo, Gennadi«, dankte der Milliardär. Er stellte den
Geigenkasten auf den Rand der Theaterbühne, öffnete die
Schlösser, nahm die schützenden Seidentücher ab und
bewunderte Il Cannone mit Blicken. Er hatte für die unendlich
wertvolle Violine nur zwei Millionen Dollar bezahlt; eine ging
an Gennadi und die andere an den italienischen Geigenbauer,
der die Kopie von Il Cannone angefertigt hatte.
»Was sagst du zu dem Geschenk? Die
zweihundertfünfundsechzig Jahre alte Guarnieri del Gesù,
Niccolò Paganinis legendäre Il Cannone.« Mit den Worten
überreichte Lybimov das Instrument feierlich seinem Sohn.
Achilles ergriff so begeistert die Violine, dass er vergaß, sich
bei seinem Vater zu bedanken. Er nahm den Bogen in die Hand
348
und begann das Instrument zu stimmen.
Lybimovs Augenlider fielen zu, Achilles würde das werden
können, wozu er nicht in der Lage gewesen war: ein großer
Violinist. Natürlich hatte er es versucht, seine ganze Jugend lang
bis aufs Blut Fingerübungen gemacht, Paganinis Capricen aber
hatte er trotz allem nicht zu spielen gelernt. Der Neid auf
Paganini war erst Respekt und Bewunderung gewichen, als er
seine Genialität in Geschäftsangelegenheiten hatte unter Beweis
stellen können. Sein Erfolg war gewissermaßen Paganinis
Verdienst, darum hatte er den Meister geehrt, indem er seinem
eigenen Sohn denselben Namen gab wie Paganini seinem Sohn,
und darum trug auch er Schwarz.
Stolz stieg in Lybimov auf, als Il Cannones Klänge in sein Ohr
fluteten. Achilles war Petersburgs Rimski-Korsakov – der
begabteste Schüler am Konservatorium, ein künftiger Weltstar.
Aber Begabung brauchte Nahrung und Förderung, darum hatte
er dem Jungen den besten Lehrer der Welt bezahlt und ihm Il
Cannone besorgt.
»Wann, glaubst du, wird den Italienern auffallen, dass ihre
Geige eine Kopie ist?«, fragte Lybimov Gennadi.
»Heute, morgen oder in einem Monat, wer weiß. Oder
vielleicht ist es ihnen schon aufgefallen. Das ist doch unwichtig,
die echte Violine ist jetzt hier, meine Männer sprechen nie.«
Lybimov lächelte zufrieden, nachdem Achilles Il Cannone
angenehm gestimmt hatte und den Anfangssatz von
Tschaikowskys Violinkonzert griff. Der Klang von Il Cannone
war noch schöner, als er es sich vorgestellt, hatte, kriminell
schön. Es hatte sich gelohnt, das Risiko einzugehen. Mut zahlte
sich immer aus, dachte Lybimov, kurz bevor das
Sonderkommando der Petersburger Polizei in den Jusupov-
Palast stürmte.
349
Zu den Autorinnen und Autoren
itte Birkemose, geb. 1953, schreibt vor allem für das
dänische Fernsehen. Autorin von zwei Kriminalromanen
um die eigenwillige Detektivin Kit Sorél, die auch in deutscher
Übersetzung vorliegen. (Ü: Gabriele Haefs)
D
Toril Brekke, geb. 1949, schreibt für Kinder und Erwachsene. In
Deutschland wurde sie vor allem bekannt durch ihre
historischen Romane, zuletzt ›Sara‹. Ihre Erzählungen sind in
vielen Anthologien vertreten. (Ü: Gabriele Haefs)
Leif Davidsen, geb. 1951, ist Dänemarks erfolgreichster
Krimiautor, vielfach ins Deutsche übersetzt. (Ü: Ruth Stöbling)
Marita Gleisner, geb. 1945 in Nykarleby (Uusikaarlepyy),
gehört zur schwedischsprachigen Minderheit in Finnland. Bisher
ist auf Deutsch der Krimi ›Der Frisörladen‹ erschienen. (Ü:
Dagmar Mißfeldt)
Jonny Halberg, geb. 1962, schreibt Romane und
Filmdrehbücher. Großen Erfolg hatten in Deutschland sein
Roman ›Über alle Ufer‹ und der auf seinem Drehbuch
basierende Film Wenn der Postmann gar nicht klingelt. (Ü:
Gabriele Haefs)
Birgitta Hrönn Halldórsdóttir, geb. 1959, lebt in Blönduós
(Nordisland) und arbeitet als Autorin und Landwirtin. Auf
Isländisch liegen von ihr insgesamt zwanzig Kriminalromane
sowie zwei Interviewbücher vor. Die Erzählung
350
Miðbœjarmorðið (›Mord in Reykjavik‹) ist ihre erste
Übersetzung ins Deutsche und in Island bislang noch
unveröffentlicht. (Ü: Dirk Gerdes)
Johanna Helga Halldórsdóttir, geb. 1967, lebt in Blönduós
(Nordisland) und ist als Autorin und Landwirtin tätig. Auf
Isländisch liegen von ihr einige Erzählungen und Gedichte, die
in Zeitschriften erschienen sind, sowie ein paar Interviewbücher
vor. Zur Zeit schreibt sie an einem größeren Roman. Die
Erzählung Hin gömlu kynni (›Verwandte alte Bekannte‹) ist ihre
erste Übersetzung ins Deutsche und auf Isländisch bisher noch
nicht veröffentlicht. (Ü: Dirk Gerdes)
Björn Hellberg hat sich mit seinem Krimi Förhäxad (1988) und
den dreizehn Krimis mit dem korpulenten Sten Wall einen
festen Platz in der schwedischen Krimiszene gesichert. Im
Fischer Taschenbuch Verlag sind bisher zwei Krimis aus dieser
Serie von ihm erschienen, ›Ehrenmord‹ (Bd. 15321) und
›Mauerblümchen‹ (Bd. 15320), der dritte erscheint unter dem
Titel ›Todesfolge‹ im Juni 2004. (Ü: Christel Hildebrandt)
Ann-Christin Hensher, eine Schwedin, lebt in Spanien als
Rechtsanwältin und hat großen Erfolg mit ihrer Krimiserie um
die Anwältin Ulrika Stål, die auch in deutscher Übersetzung
vorliegt. (Ü: Gabriele Haefs)
Viktor Arnar Ingólfsson, geb. 1955, lebt in Reykjavik und
arbeitet als Autor und Redakteur beim Straßenbauamt in
Reykjavik. Auf Isländisch liegen von ihm vier Kriminalromane
und mehrere Erzählungen vor. Die Erzählung Slossmæjer (›Das
Meierschloss‹) ist seine erste Übersetzung ins Deutsche. (Ü:
Dirk Gerdes)
351
Margaret Johansen, geb. 1922, schreibt Romane und
Kurzgeschichten, ihre immer wieder nachgedruckten boshaften
Erzählungen sind in vielen deutschsprachigen Anthologien zu
finden. (Ü: Dagmar Lendt)
Pentti Kirstilä lebt als Schriftsteller in Helsinki. Neben
Kriminalromanen und -erzählungen verfasst er auch andere
Prosawerke und Schauspiele. (Ü: Gabriele Schrey-Vasara)
Lars Kjædegaard, geb. 1957, lebt im dänischen Helsingør, das
auch vielen seiner Romane als Schauplatz dient, hier erstmals
ins Deutsche übersetzt. (Ü: Friederike Buchinger)
Leena Lehtolainen, geb. 1964 in Vesanto, lebt heute westlich
von Helsinki, schreibt außer Jugendbüchern und Krimis auch
Kurzgeschichten und Fortsetzungsromane. In deutscher
Übersetzung liegen mittlerweile fünf Krimis mit der
Kommissarin Maria Kallio vor, zuletzt ›Weiß wie die
Unschuld‹. (Ü: Gabriele Schrey-Vasara)
Unni Lindell, geb. 1957, Autorin von in viele Sprachen
übersetzten Büchern für Kinder und Erwachsene. Ihre
Krimiserie um Kommissar Cato Isaksen wurde auch verfilmt.
Im Scherz Verlag erschien 2004 ihr neuer Roman
›Nachtschwester‹. (Ü: Christel Hildebrandt)
Reijo Mäki, geb. 1958 in Siikainen, wohnt in Turku, schreibt
nach seinem Debüt 1985 Kriminalromane und auch
Kurzgeschichten für Zeitungen. Auf Deutsch sind die Krimis
›Der vierte Musketier‹ und ›Die Strumpfbandnatter‹ erschienen.
(Ü: Elina Kritzokat)
352
Edda Magnúsdóttir, geb. 1936, lebt in Hóll (Ostisland) und
beschäftigt sich neben ihrer Tätigkeit als Autorin mit
Zeichenarbeiten und Kunsthandwerk. Die Erzählung Bréfkornið
(›Der offene Brief‹) ist ihre erste Übersetzung ins Deutsche und
in Island noch nicht veröffentlicht. (Ü: Dirk Gerdes)
Unni Nielsen, geb. 1942, fuhr viele Jahre zur See, arbeitet heute
als Journalistin und Autorin. Schreibt für Kinder und
Erwachsene, ihr Jugendroman ›Ein Dach in Brooklyn‹ wurde
mit dem Österreichischen Jugendbuchpreis ausgezeichnet. (Ü:
Kathrin Hägele)
Gert Nygårdshaug, geb. 1942, ist Autor von historischen
Romanen und Krimis, hier erstmals ins Deutsche übersetzt. (Ü:
Andrea Dobrowolski)
Kim Småge, geb. 1945, ist sozusagen die Gründermutter des
neuen norwegischen Krimibooms, vielfach ins Deutsche
übersetzt. Der neue Roman ›Tapetenwechsel‹ um Kommissarin
Anne-kin Halvorsen erscheint im Oktober 2004. Als Scherz
Taschenbuch lieferbar sind die Romane ›Die Containerfrau‹
(Bd. 51819), ›Nachttauchen‹ (Bd. 51891), ›Die weißen
Handschuhe‹ (Bd. 51923) und ›Mittsommer‹ (Bd. 51987). (Ü:
Christel Hildebrandt)
Taavi Soininvaara, geb. 1966 in Imatra, arbeitete nach dem
Studium der Rechtswissenschaft im Finanzamt und in der
Industrie. Seit seinem Debüt 2001 gilt er in Finnland als eine Art
literarisches Wunderkind. (Ü: Dagmar Mißfeldt)
353
Gunnar Staalesen, geb. 1944, setzt in seinen vielfach übersetzten
Romanen um Privatdetektiv Varg Veum seiner
westnorwegischen Heimatstadt Bergen ein literarisches
Denkmal. Zuletzt im Scherz Taschenbuch erschienen: ›Wie in
einem Spiegel‹ (Bd. 51976). Lieferbar: ›Die Schrift an der
Wand‹ (Bd. 51713), ›Der Hexenring‹ (Bd. 51784), ›Dein bis in
den Tod‹ (Bd. 51756), ›Dornröschen schlief wohl hundert Jahr‹
(Bd. 51823) und ›Die Toten haben’s gut‹ (Bd. 51855). (Ü:
Kerstin Hartmann-Butt)
Aino Trosell, geb. 1949, gelernte Schweißerin, war mehrere
Jahre als Krankenschwester in der Psychiatrie tätig, debütierte
1978 als Schriftstellerin und veröffentlichte seitdem in
Schweden fünfzehn Bücher. Auf Deutsch erschienen sind ›Die
Taucherin‹ (2002) und ›Wenn das Herz noch schlägt‹ (2003).
(Ü: Dagmar Mißfeldt)
354
Quellenverzeichnis
itte Birkemose: »Knud und der Kater« (Knuden og
katten), © Ditte Birkemose, für die deutsche Übersetzung
aus dem Dänischen © Gabriele Haefs.
D
Toril Brekke: »Das Klassentreffen« (Klassefesten), © Toril
Brekke, für die deutsche Übersetzung aus dem Norwegischen ©
Gabriele Haefs.
Leif Davidsen: »Der zufällige Tod eines Direktors« (Bedste
vender), aus: Leif Davidsen, ›Forræderen og andre historier‹, ©
Leonhardt & Hoier, Kopenhagen, für die deutsche Übersetzung
aus dem Dänischen © Ruth Stöbling.
Marita Gleisner: »Krebsfest in Schwarz« (Kräftskeva i svart), ©
Marita Gleisner, für die deutsche Übersetzung aus dem
Finnischen © Dagmar Mißfeldt.
Jonny Halberg: »Zwei Männer der Tat« (En gjerningens mann),
© Jonny Halberg, für die deutsche Übersetzung aus dem
Norwegischen © Gabriele Haefs.
Birgitta Halldórsdóttir: »Mord in Reykjavik« (Miðbæarmoðið),
© Birgitta Halldórsdóttir, für die deutsche Übersetzung aus dem
Isländischen © Dirk Gerdes.
Johanna Helga Halldórsdóttir: »Verwandte alte Bekannte« (Hin
gömlu kynni), © Johanna Helga Halldórsdóttir, für die deutsche
Übersetzung aus dem Isländischen © Dirk Gerdes.
355
Björn Hellberg: »Auge um Auge« (Stöld för Stöld), © Björn
Hellberg, für die deutsche Übersetzung aus dem Schwedischen
© Christel Hildebrandt.
Ann-Christin Hensher: »Logenplatz« (Ögonvittet), © Ann-
Christin Hensher, für die deutsche Übersetzung aus dem
Schwedischen © Gabriele Haefs.
Viktor Arnar Ingólfsson: »Das Meierschloss« (Slossmæjer), ©
Edda, Reykjavik, für die deutsche Übersetzung aus dem
Isländischen © Dirk Gerdes.
Margaret Johansen: »Was geschah in Nummer 7?« (Hva
skjedde på nr. 7?), © Margaret Johansen, für die deutsche
Übersetzung aus dem Norwegischen © Dagmar Lendt.
Pentti Kirstilä: »Die Abschiedsparty« (Lähtöjuhlat), aus: Pentii
Kirstilä, ›Klassinen happokylpy‹ © WSOY, Helsinki, für die
deutsche Übersetzung © Gabriele Schrey-Vasara.
Lars Kjædegaard: »Hombre«, © Lars Kjædegaard, für die
deutsche Übersetzung aus dem Dänischen © Friederike
Buchinger.
Leena Lehtolainen: »Ein knackiger Hintern« (Hyvä peffa), aus:
Kyösti Salovaara (Hg.), ›Intohimosta rikokseen‹, © Gummerus,
Helsinki, für die deutsche Übersetzung aus dem Finnischen ©
Gabriele Schrey-Vasara.
356
Unni Lindell: »Ohropax« (Sov i ro), aus: Nils Nordberg (Hg.),
›De nye krimheltene‹, © Unni Lindell, für die deutsche
Übersetzung aus dem Norwegischen © Christel Hildebrandt.
Reijo Mäki: »Die Wahl des vorsichtigen Mannes« (Varovaisen
miehen valinta), aus: Reijo Mäki, ›Aito turkki. Juttuja‹, ©
Otava, für die deutsche Übersetzung aus dem Finnischen ©
Elina Kritzokat.
Edda Magnúsdóttir: »Der offene Brief« (Bréfkornið), © Edda
Magnúsdóttir, für die deutsche Übersetzung aus dem
Isländischen © Dirk Gerdes.
Unni Nielsen: »Die Frau, die unsichtbar wurde« (Kvinnen som
ble usynlig), © Unni Nielsen, für die deutsche Übersetzung aus
dem Norwegischen © Kathrin Hägele.
Gert Nygårdshaug: »Die Scheren des Hummers« (Hummerens
klo), aus: Nils Nordberg (Hg.), ›De nye krimheltene‹, ©
Gyldendal Norsk Forlag, Oslo, © für die deutsche Übersetzung
aus dem Norwegischen © Andrea Dobrowolski.
Kim Småge: »Auf beiden Augen blind« (Blind betjent), aus:
Nils Nordberg (Hg.), ›De nye krimheltene‹, © Gyldendal Norsk
Forlag, Oslo, © für die deutsche Übersetzung aus dem
Norwegischen © Christel Hildebrandt.
Taavi Soininvaara: »Kriminell schön« (Rikollisen kaunis), ©
Taavi Soininvaara, für die deutsche Übersetzung aus dem
Finnischen © Dagmar Mißfeldt.
357
Gunnar Staalesen: »Das Letzte, was sie taten« (Det siste de
gjorde), aus: Nils Nordberg (Hg.), ›De nye krimheltene‹, ©
Gyldendal Norsk Forlag, Oslo, © für die deutsche Übersetzung
aus dem Norwegischen © Kerstin Hartmann-Butt.
Aino Trosell: »Nachts allein nach Hause« (Ensam hemat i
natten), aus: Linqvist/Nyberg (Hg.), ›Mord på julafton‹, ©
Bokförlaget Semic, Sundbyberg, für die deutsche Übersetzung
aus dem Schwedischen © Dagmar Mißfeldt.
358