f durrenmatt der besuch der alten dame


Autor: Friedrich Dürrenmatt (1921-1990)

Entstehungszeit: 1956

Textsorte: Groteske (Erzählung, die Komisches und Grauenhaftes in Zusammenhang stellt).

Literarische Richtung: Die deutschsprachige Literatur in der Schweiz nach 1945 (Schweizer Moderne)

Sprachliche u. stilistische Merkmale: Erzählform: Ich-Erzählsituation

Erzählperspektive: Ich - Erzählperspektive

Weitere Werke:

Dramen:
"Die Physiker" (1962; Situationskomödie)
Hörspiele:
"Die Panne" (1956);
Epik:
Satirische Erzählung: "Grieche sucht Griechin.
Kriminalromane:
"Der Richter und sein Henker" (1950/51);
Fortsetzungsromane für Zeitungen geschrieben.
"Justiz" (1985)

Biographie:

Friedrich Dürrenmatt wurde 1921 in Bern geboren. Er besuchte ein Gymnasium und studierte in Bern und Zürich Theologie, Philosophie und Germanistik. 1947 heiratete er die Schauspielerin Lotti Geißler. 1959 bekam der den Schillerpreis der Stadt Mannheim. Seit 1970, beginnend mit Goethes "Urfaust" begann die Fortsetzung der Theaterarbeit in Zürich. 1982 starb seine Frau und 1985 heiratete er die Filmemacherin Charlotte Cherr. 1986 erhielt er den Büchner-Preis. Friedrich Dürrenmatt starb 1991 in der Schweiz.

Personen:

Claire Zachanassian: Einst rot gelockter Wildfang, jetzt reichste Frau der Welt, außerdem wird sie versteinertes Götzenbild genannt. Sie fordert die Leiche Ills, da er sie in der Jugend im Stich gelassen hat.

Alfred Ill: In der Jugend Claras schwarzer Panther, dann verkrachter Krämer und am Ende ein geläuterter Held.

Bürgermeister: Das passende Wort zu jeder Gelegenheit (beherrscht Sprache der Politiker)

Der Lehrer: Er ist Humanist und am Ende Säufer

Der Pfarrer: Er hat Worthülsen für Seelenheil, er entlarvt sich durch Fraßen.

Die Güllener: Menschen wie wir alle. Sie repräsentieren eine ganz durchschnittliche Gemeinde mit ihren Schwächen und ihrer schlummernder Gewaltbereitschaft. Am Ende töten und konsumieren alle gemeinsam.

Toby
Roby
Koby: blind
Loby:
blind

Inhalt:

Das kleine Städtchen Güllen nahe der deutsch-schweizerischen Grenze, eine einst stolze und wohlhabende Stadt, ist völlig verschuldet. Nun klammert man sich verzweifelt an die letzte große Hoffnung : den Besuch der alten Dame Claire Zachanassian, die in ihrer Jugend selbst in Güllen lebte und nunmehr, durch das Erbe ihres ersten Mannes, eines armenischen Ölscheichs, zur Milliardärin avanciert ist. Sie ist auch, wie sich später herausstellt, verantwortlich für die finanzielle Misere Güllens. Von der alten Dame, die mittlerweile mit Ehemann Nr. 7 unterwegs ist, erhoffen sich die Bürger der Stadt eine Finanzspritze, die Güllen wieder auf die Beine helfen soll. Ihre Jugendliebe Alfred Ill, ein Krämer, soll sie bei ihrem Besuch unterhalten und in Spenderlaune bringen. Für Ill ist diese Aufgabe denkbar ungünstig, denn er hatte sich in seiner Jugend von seiner damaligen Freundin, der alten Dame nämlich, abgewandt, als diese von ihm schwanger war, und sie durch eine Falschaussage an den Rand des sozialen Abgrundes getrieben.

Dies wird ihm jetzt zum Verhängnis, denn die alte Dame erklärt, sie wolle den Güllenern nur dann eine großzügige Geldspende zukommen lassen, wenn sie sich dafür "Gerechtigkeit" und "totale Rache" erkaufen könne, sprich das Recht, Alfred Ill tot zu sehen. Zunächst lehnen die Bürger den Vorschlag "im Namen der Gerechtigkeit" entrüstet ab, doch schon bald wird die Gier nach den dringend benötigten Geld stärker als alle moralischen Hemmschwellen. Sie beschließen Ill zu töten. Ill, vom Schicksal gebeutelt, stimmt letztlich resigniert seiner Strafe zu und sieht seinem Ende entgegen. Der Arzt diagnostiziert kurz darauf einen Herzschlag und die Stadt Güllen feiert die noble Spenderin Claire Zachanassian.

Interpretation:

Die eigentliche tragische Komik des Stückes besteht in der Entwicklung der Charaktere. Auf der einen Seite sind da die Bürger Güllens, die sich im Laufe der Geschichte von ehrlichen, menschlichen Bürgern zum besten Beweis dafür entwickeln, dass eben doch jeder käuflich ist. Dem gegenüber steht Krämer Alfred Ill, der sich mit der Zeit als der Einzige entpuppt, der ein sittliches Bewusstsein entwickelt.

Allein die zeitliche Ausdehnung, immerhin 45 Jahre, in denen Claire Zachanassian auf ihre Rache wartet wirkt schier übermenschlich und die alte Dame erscheint als Herrin über Leben und Tod. Wie eine kühl berechnende Schachspielerin wartet sie auf den richtigen Moment um ihre Spielfiguren, die Bürger Güllens, auf Ill loszulassen und ihrem Rachegefühl Genüge zu tun. Eigentlich hätte die alte Damen, die nur noch aus Prothesen zu bestehen scheint, längst gestorben sein sollen, doch um ihre Übermacht zu demonstrieren lässt sie der Autor sogar als einzigen Passagier an Bord einen Flugzeugabsturz unbeschadet überstehen.

Dürrenmatt zieht in seiner Komödie zahlreiche Parallelen zur griechischen Tragödie, in der Themen wie "Verhängnis und Gericht", "Schuld und Sühne", "Rache und Opfer" immer wieder zusammenlaufen.

Der weise Spruch "Geld ist Macht" findet in diesem Stück volle Bestätigung. Zum einen in der Tatsache, dass die alte Dame die Güllener mit ihrer Finanzkraft in den finanziellen Ruin getrieben hat und die Bürger von ihrem Wohlwollen abhängig sind, zum anderen in dem Fakt, dass die Güllener durch das ihnen angebotene Geld erst recht in den Sumpf von Unmenschlichkeit rutschen, der zu guter Letzt sein Opfer fordert. Sie werden zu willenlosen Werkzeugen der alten Dame, die eigentlich nur das eine will : Alfred Ill's Tod.

Schlussgedanke:

Natürlich geht es dem Autor in diesem Stück nicht darum, die banale Wahrheit "Mit Geld lässt sich alles kaufen" durch eine Bühnenparabel zu erhärten. Vielmehr wollte er zeigen, dass die Aussicht auf die Milliarde das "sittliche Gewissen" der Güllener so mobilisiert, dass sie in der Tat Gerechtigkeit zu üben glauben, wenn sie ihren Mitbürger Ill töten. Kein Mensch hätte je danach gefragt, wenn einer aus ihrer Mitte ein armes Mädchen hätte sitzen lassen - der "Frevel an der Milliardärin" aber verlangt Sühne. Mag das Recht auch eine integrale Größe sein, die "Gerechtigkeit" ist eine relative und wird dem Zuteil, der sie zu kaufen vermag. Dies ist die vernichtende Vorstellung dieser wirklich tragischen Komödie.

Die Stadt Güllen ist heruntergekommen. Schnellzüge halten hier nicht mehr. Deshalb erwartet der Bürgermeister, dass die Multimilliardärin Claire, die ihren Besuch angekündigt hat, in der nächsten Stadt aussteigen wird. Sie hieß früher Klara Wäscher, wurde in Güllen geboren und kehrt heute zum ersten Mal seit 45 Jahren zurück. Der Zug kommt durch eine Notbremsung in Güllen zum Stehen. Claire beruhigt den Zugführer mit ein paar Tausendern, steigt mit ihrem siebten Ehemann aus und begibt sich in den Gasthof "Goldener Apostel", während sich ihre Bediensteten um das Gepäck kümmern. Darunter ist ein Sarg. Auch einen Panther bringt Claire mit. Ein Teil ihrer Gliedmaßen wurde nach einem Flugzeugabsturz in Afghanistan durch Prothesen ersetzt.

Beim offiziellen Empfang durch den Bürgermeister verspricht Claire der Stadt eine Milliarde - unter einer Bedingung: Sie verlangt Gerechtigkeit. Es geht um den jetzt fast 70 Jahre alten Alfred Ill, der 1910 die Vaterschaft an ihrem Kind leugnete, zwei Zeugen bestach und sie auf diese Weise ins Unglück trieb. Das Kind starb nach einem Jahr an Hirnhautentzündung, und Claire verdiente sich ihren Lebensunterhalt als Prostituierte, bis sie an der Seite ihrer wechselnden Ehemänner reich wurde. Nun setzt sie eine Milliarde auf Ills Kopf aus. Entsetzt weist der Bürgermeister das Angebot zurück.

"Die Welt machte mich zu einer Hure, nun mache ich sie zu einem Bordell", droht Claire. Erst einmal lässt sie sich wieder scheiden, heiratet ein achtes Mal, reicht gleich darauf erneut die Scheidung ein und nimmt einen Nobelpreisträger zum Mann.

Ill, der damals die Güllener Kaufmannstochter Mathilde Blumhard heiratete, glaubt anfangs, er könne sich auf die Solidarität seiner Mitbürger verlassen. Erst als er bemerkt, dass die Leute neue Schuhe tragen, verlangt er, Claire wegen Anstiftung zum Mord zu verhaften. Der Polizist - der ebenfalls neue Schuhe angezogen hat - weist ihn jedoch darauf hin, dass er Claires Vorschlag schon wegen der übertrieben hohen Geldsumme nicht ernst nehmen dürfe. Ill sucht den Bürgermeister auf. Der besitzt nicht nur neue Schuhe, sondern auch eine neue Krawatte und eine neue Schreibmaschine. Man lebe in einem Rechtsstaat, beruhigt er Ill, da brauche er sich keine Sorgen zu machen. Der Pfarrer, an den sich Ill als nächsten wendet, spricht vom ewigen Leben. Er sorgt sich um das Seelenheil der Güllener und hielte es für das Beste, wenn Ill die Angelegenheit durch seine Flucht beenden würde.

Man erschießt Claires entlaufenen Panther.

Da möchte Ill nach Australien auswandern. Doch er steigt nicht in den Zug, sondern bricht auf dem Bahnsteig zusammen.

Allmählich entrüsten sich die Bürger über sein früheres Verhalten. In Ills Geschäft befragen Journalisten seine Frau und die anwesenden Kunden über sein Verhältnis mit Claire. Der Bürgermeister bringt Ill ein Gewehr vorbei und rät ihm, sich selbst zu richten. Der geht nicht darauf ein.

In der Gemeindeversammlung, die im Theatersaal des Gasthofs "Goldener Apostel" tagt, beteuert der Lehrer, es gehe nicht um Geld, sondern ausschließlich um Gerechtigkeit. Einstimmig wird der Fememord beschlossen. Das Licht im Saal geht aus. Als es wieder hell wird, liegt Ill am Boden. Man hat ihn erwürgt, aber der Arzt schreibt auf den Totenschein: "Herzschlag".

Nachdem Claire dem Bürgermeister einen Scheck über eine Millarde überreicht hat, verlässt sie mit Alfred Ills Leiche im Sarg die Stadt.

Claire Zachanassian

Klara Wäscher hat vor 45 Jahren ihrer Rückkehr nach Güllen eine Liebesaffäre mit Alfred Ill. Sie wird schwanger und klagt ihn in einem Vaterschaftsprozess, doch er besticht zwei Männer und entzieht sich seiner Verantwortung. Claire verlässt das kleine Nest und verkommt zu einer Dirne in einem Bordell. Dort findet sie der armenische Ölmilliardär Zachanassian und macht sie zu seiner Frau und Erbin.

Anfangs wirkt die alte Dame als Wohltäterin, die Spitäler und Kinderkrippen spendet, doch Zachanassian enttäuscht alle durch ihr mehr oder weniger egoistisches Angebot: sie will blutige Rache. Gedemütigt von einem Mann, verlangt sie die Gerechtigkeit, die sie immer allem anderen vorgezogen hat. Da sie alles Geld der Welt hat und sie glaubt, dass alles käuflich ist, befriedigt sie ihre Rache durch eine Milliarde.

Durch die Blendung und Entmannung von Koby und Loby und durch die Einstellung des Richters als ihren Butler, hat sie einen Teil ihrer Rache bereits abgetan, doch der größte Anteil zur Perfektheit fehlt noch: der Tod Ills.

Genauso wie ihre unzähligen Prothesen, erscheint diese Frau kalt und gefühlslos gegenüber Ill, doch dieser machte sie zu dem, was sie ist.

Ihr Vertrauen in die Männer hat sie längst verloren, sie heiratet und lässt sich scheiden, spielt mit ihren Ehegatten. Sie mag es ihnen Befehle zu erteilen und Herr über ihre Diener zu sein. Doch ob sie ihr Leben wirklich genießt ist fraglich, denn Geld allein macht nicht glücklich, wie man auch in diesem Fall sieht.

Claire Zachanassian ist eine raue, unbeeinflussbare, kalte Frau, die kein Blatt vor den Mund nimmt, zu ihrer Ansicht steht und das tut, was sie will. Dennoch erscheint sie, besonders beim Betrachten ihrer alten Heimat etwas sentimental zu werden und zeigt so etwas Menschlichkeit.

Claire Zachanassian: Das Leben ging weiter, aber ich habe nichts vergessen, Ill. Weder den Konradsweilerwald noch die Petersche Scheune, weder die Schlafkammer der Witwe Boll noch deinen Verrat. Nun sind wir alt geworden, beide, du verkommen und ich von den Messern der Chirurgen zerfleischt, und jetzt will ich, dass wir abrechnen, beide: Du hast dein Leben gewählt und mich in das meine gezwungen. Du wolltest, dass die Zeit aufgehoben würde, eben, im Wald unserer Jugend, voll von Vergänglichkeit. Nun habe ich sie aufgehoben, und nun will ich Gerechtigkeit, Gerechtigkeit für eine Milliarde.

(Dürrenmatt, Der Besuch der alten Dame S. 49)

Alfred Ill

Er ist der Krämer der Stadt und ein angesehener Bürger. Durch seine einstige Beziehung zu Klara Wächter wird er dazu überredet für seine Heimatstadt eine Spende zu ergattern. Als er Claire gegenübertritt, ist er sich seiner Schuld nicht mehr bewusst; er überschätzt sich maßlos, nimmt geschmeichelt manches Lob auf, und glaubt durch Verfälschen der Vergangenheit die Zachanassian milde zu stimmen und ihr Geld zu entlocken. Doch er wird nur all zu bald von der Vergangenheit eingeholt, muss dem ehemaligen Richter gegenüberstehen und auch seiner Schuld. Von diesem Augenblick an, sehen die Güllener den richtigen Ill und beginnen sich von ihm abzuwenden, was den sonst so selbstbewussten Mann erschüttert. Natürlich ist es auch das Geld, was die Bürger anzieht und immer rasanter verfallen seine Mitbürger der Geldsucht, sogar die Höheren der Stadt, zu denen er sich verzweifelt wendet. Er verdächtigt alle, Angst kommt in ihm auf, die er nicht bekämpfen kann.

Nachdem ihn auch der Pfarrer im Stich lässt, versucht Ill zu fliehen, wird jedoch von seiner eigenen Vorstellungskraft, wie auch von den Güllenern, davon abgehalten.

Nun beginnt Ill plötzlich seine Schuld sich selbst zu gestehen und das Handeln der anderen zu verstehen. Er legt einen Großteil seiner Angst ab, fasst neuen Mut, stellt sich sich selbst.

Vom Bürgermeister aufgefordert, lehnt er den Selbstmord ab. Er hat Angst vorm Sterben, wartet jedoch nur noch auf das Urteil, um seinem Leiden ein Ende zu setzen.

Ill: Bürgermeister! Ich bin durch die Hölle gegangen. Ich sah, wie ihr Schulden machtet, spürte bei jedem Anzeichen des Wohlstands den Tod näher kriechen. Hättet ihr mir diese Angst erspart, dieses grauenhafte Fürchten, wäre alles anders gekommen, könnten wir anders reden, würde ich das Gewehr nehmen. Euch zuliebe. Aber nun schloß ich mich ein, besiegte meine Furcht. Allein. Es war schwer, nun ist es getan. Ein Zurück gibt es nicht. Ihr müsst nun meine Richter sein. Ich unterwerfe mich eurem Urteil, wie es nun auch ausfalle. Für mich ist es die Gerechtigkeit, was es für euch ist, weiß ich nicht. Gott gebe, dass ihr vor eurem Urteil besteht. Ihr könnt mich töten, ich klage nicht, protestiere nicht, wehre mich nicht, aber euer Handeln kann ich euch nicht abnehmen.

(Dürrenmatt, Der Besuch der alten Dame S. 58)

Der Bürgermeister verfügt über eine unbestreitbare Autorität. Er repräsentiert die Stadt bzw. die Bürger, die in ihr leben; er kommt dem Bild eines durchschnittlichen Bürgermeisters sehr zugute. Wenige Fakten aus dem Leben von Claire Zachanassian genügen ihm, um eine Rede zu halten, die die wirklichen Ereignisse verschweigt. Als er im Namen der Stadt das Angebot der Milliardärin ablehnt, zeigt er seine Stärke und beweist sich in seiner Rolle. Doch andererseits hat er damit seine Bürger zu einer weiteren schlechten Zeit verdonnert und gibt deswegen auch bald der Versuchung nach. Durch die Aufforderung an Ill, er möge sich selbst töten, wirkt er nicht so böse wie manch andere Bürger; es erscheint als sei er einer der wenigen, die den Tod Ills bereuen.

Der Bürgermeister: Frau Zachanassian: Noch sind wir in Europa, noch sind wir keine Heiden. Ich lehne im Namen der Stadt Güllen das Angebot ab. Im Namen der Menschlichkeit. Lieber bleiben wir arm denn blutbefleckt.

(Dürrenmatt, Der Besuch der alten Dame S. 50)

Der Bürgermeister: Wir könnten dann der Dame sagen, wir hätten Sie abgeurteilt, und erhielten das Geld auch so. Es hat mich Nächte gekostet, diesen Vorschlag zu machen, das können Sie glauben. Es wäre doch nun eigentlich Ihre Pflicht, mit ihrem Leben Schluss zu machen, als Ehrenmann die Konsequenzen zu ziehen, finden Sie nicht? Schon aus Gemeinschaftsgefühl, aus Liebe zur Vaterstadt. Sie sehen ja unsere bittere Not, das Elend, die hungrigen Kinder...

(Dürrenmatt, Der Besuch der alten Dame S. 58)

Der Pfarrer steht manchen Dingen nur religiös gegenüber. Obwohl er zunächst aufbauend gegenüber Ill wirkt, der bei ihm Schutz sucht, entpuppt er sich schließlich auch als Schwacher, richtet sich seine Waffe und entsetzt Ill als eine neue Glocke ertönt. Zweideutig ist jedoch die letzte Aussage von ihm:

Der Pfarrer wirft sich gegen Ill und umklammert ihn. Flieh! Wir sind schwach, Christen und Heiden. Flieh, die Glocke dröhnt in Güllen, die Glocke des Verrats. Flieh, führe uns nicht in Versuchung, indem du bleibtst.

(Dürrenmatt, Der Besuch der alten Dame S. 129)

Dies ist der letzte menschliche Aufschrei des Pfarrers, der später auch zu den Mördern übergeht, Ill vor seinem Tod noch verräterisch beistehen will.

Der Lehrer scheint durch seine intellektuellen Bemerkungen oft etwas neunmahlklug, doch ist er der einzige, der bis in den Zweiten Akt mehr oder weniger seine Humanität behält, sich in einen Suff versteckt, um vor seinen Gelüsten wegzukommen, doch ohne Erfolg. Stolz gibt er zu, dass auch er bald einer von Ills Mördern sein wird.

Doch er versucht sogar noch Ills Leben zu retten, indem er der alten Dame einen Vorschlag darreicht, der jedoch von ihr wieder zerstört wird.

Belehrt durch seine Bücher vergleicht er abermals die Zachanassian mit historischen Figuren und kann noch in seiner Endrede versteckt, seine Meinung unterbringen.

Der Lehrer mutig: Frau Zachanassian. Reden wir offen miteinander. Versetzen Sie sich in unsere traurige Lage. Seit zwei Jahrzehnten pflanze ich in dieser verarmten Gemeinde die zarten Keime der Humanität, rumpelt der Stadtarzt zu den tuberkulösen und rachitischen Patienten mit seinem alten Mercedes. Wozu diese jammervollen Opfer? Des Geldes wegen? Wohl kaum. Unsere Besoldung ist minim, eine Berufung ans Kalberstädter Obergymnasium lehnte ich schlankweg ab, der Arzt einen Lehrauftrag der Universität Erlangen. Aus reiner Menschenliebe? Auch dies wäre übertrieben. Nein, wir harrten aus, all die endlosen Jahre, und mit uns das ganze Städtchen, weil es eine Hoffnung gibt, die Hoffnung, dass die alte Größe Güllens auferstehe, dass die Möglichkeit aufs neue begriffen werde, die unsere Heimaterde in so verschwenderischer Hülle und Fülle birgt. Öl liegt unter der Niederung von Pückenried, Erz unter dem Konradsweilerwald. Wir sind nicht arm, Madame, nur vergessen. Wir brauchen Kredit, Vertrauen, Aufträge, und unsere Wirtschaft, unsere Kultur blüht. Güllen hat etwas zu bieten: Die Platz-an-der-Sonne-Hütte.

(Dürrenmatt, Der Besuch der alten Dame S. 129)

Der Polizist ist der Repräsentant für den Arm des Gesetzes in Güllen, der ständig zur Stelle ist, wenn ihn jemand benötigt. Verlegen versichert er der Zachanassian, dass er öfter mal ein Auge zudrücke.

Als ihn jedoch Ill aufsucht, tut er seine Hysterie unverständlicherweise ab, behauptet Ill würde überreagieren. Er ist jedoch auch der teuflischen Geldsucht verfallen, denn aus seinem Mund glänzt ein Goldzahn und er trägt ebenfalls neue, gelbe Schuhe.

Zuletzt zeigt der Mann der Gerechtigkeit jedoch seine wirkliche Meinung, die ihn sozial auf eine niedrigere Stufe herabsetzt.

Der Polizist: Steh auf, du Schwein.

Er reißt ihn in die Höhe.

Der Bürgermeister: Polizeiwachtmeister, beherrschen Sie sich.

Der Polizist: Verzeihung. Es ging mit mir durch.

(Dürrenmatt, Der Besuch der alten Dame S. 129)

Der Polizist: Ich habe keine Zeit, über Ihre Hirngespinste zu disputieren, Mann. Ich muss gehen. Der verschrobenen Milliardärin ist das Schoßhündchen fortgelaufen. Der schwarze Panther. Ich muss ihn jagen. Das ganze Städtchen muss ihn jagen.

(Dürrenmatt, Der Besuch der alten Dame S. 66)

- Aufbau

Das Stück besteht aus drei Akten, die jeweils ruhig beginnen, Spannung aufbauen, eine Situation zum Eskalieren bringen und schließlich mit einem offenen Schluss enden.

Im ersten Akt fängt alles mit der Ankunft der Dame an, durch die Festlichkeit im Gasthaus wird der Leser aufmerksam gemacht und schließlich fällt der Vorhang mit der Ablehnung des Angebotes.

Im zweiten Akt wird eine eher ruhige Situation in Ills Laden geschildert, bis die Jagd auf den Panther beginnt, Ill den Polizist, Bürgermeister und Pfarrer aufsucht und schließlich vom Fliehen von sich selbst, wie auch von den Bürgern abgehalten wird.

Im dritten und letzten Akt bieten zuerst Lehrer und Arzt der Milliardärin an Ill zu verschonen und anstatt seiner Ermordung, die Wirtschaft Güllens durch Aufkauf der verwahrlosten Betriebe wieder auf Vordermann zu bringen; spannend wird es, als die Reporter in Ills Laden auftauchen, der Lehrer vorm Ausplaudern ruhig gestellt wird und Ill ein letztes Mal durch seinen Wald geht, wo er Claire trifft und sich mit ihr unterhält. Letztendlich kommt es zu einem Höhepunkt nach der Verhandlung, wo Ill durch die Gasse schreiten muss, die die Bürger gebildet haben, und schließlich ermordet wird.

Das Stück schließt mit bereits erwähntem Chorlied ab, indem es den Mord beschönigt.

Inhaltsangabe

»Der Besuch der alten Dame« ist eine tragische Komödie von Friedrich Dürrenmatt aus dem Jahre 1956. Sie spielt in der Kleinstadt Güllen in der Nähe der deutsch-schweizerischen Grenze. Die Geschichte handelt von der Milliardärin Claire Zachanassian, die nach Güllen zurückkehrt, um Rache an ihrem ehemaligen Geliebten Alfred Ill zu nehmen.

In ihrer Jugend wird Klara Wäscher von ihrem damaligen Freund Alfred Ill schwanger. Dieser jedoch leugnet seine Vaterschaft. Einen Prozess gegen ihn gewinnt Ill, indem er Zeugen besticht. Daraufhin verlässt Klara die Kleinstadt Güllen verarmt und entehrt.

Durch mehrere Ehen wird Klara sehr vermögend. Die Milliardärin nennt sich nun Claire Zachanassian.

Nach über 45 Jahren kehrt die alte Dame in ihren Heimatort zurück. Güllen ist mittlerweile verkommen und schmutzig. Claires ehemaliger Liebhaber Alfred ist inzwischen 70 Jahre alt.

Neben ihrem siebten Ehemann und Bediensteten, bringt Claire einen Sarg mit sich. Die Bewohner und der Bürgermeister sind sehr aufgeregt. Sie erhoffen sich finanzielle Unterstützung durch den Besuch der Milliardärin.

Bei einem Begrüßungsfest verspricht Claire der Stadt und ihren Bewohnern eine Milliarde und verlangt dafür Gerechtigkeit. Sie setzt das Geld auf den Kopf von Alfred Ill aus.

Das verlockende Angebot schlägt der Bürgermeister entsetzt aus. Alfred Ill ist davon überzeugt, dass er sich auf seine Mitbürger verlassen kann. Doch mit der Zeit bemerkt Alfred, dass seine Nachbarn und Freunde immer mehr Geld ausgeben. Sie kaufen neue Schuhe und Kleidung. Alfred bekommt es mit der Angst zu tun und geht zur Polizei.

Jedoch trägt auch der Polizist neue Schuhe. Gleichzeitig versichert er Alfred, dass dieser in einem Rechtsstaat lebe und nichts zu befürchten habe. Alfreds Angst wächst allerdings. In seiner Verzweiflung wendet er sich an den Bürgermeister. Auch bei diesem bemerkt Alfred neue Schuhe, eine neue Krawatte und eine neue Schreibmaschine. Der Bürgermeister verspricht, dass Alfred nichts passieren wird.

Der Pfarrer von Güllen empfiehlt Alfred, die Stadt zu verlassen. Der verängstigte Mann will dem Rat des Geistlichen folgen, doch bricht er auf dem Bahnsteig zusammen, bevor er den Zug besteigen kann. So bleibt Alfred in Güllen.

Mit der Zeit ändert sich die Stimmung der Bürger und sie fangen an, Alfreds früheres Verhalten zu verurteilen. Alfred verspürt eine immer größere Feindschaft gegen ihn. Eines Tages bringt der Bürgermeister Alfred ein Gewehr mit der Bitte, sich das Leben zu nehmen. Alfred lehnt ab. Auf einer Stadtversammlung beschließen die Bürger einstimmig, Alfred Ill für seine Tat zu bestrafen und ihn umzubringen.

Als Alfred bei der Versammlung eintrifft, bilden die Mitbürger eine Gasse für ihn, wobei plötzlich das Licht ausgeht. Als der Raum wieder erleuchtet ist, liegt Alfred tot am Boden. Der Stadtarzt stellt einen Herzinfarkt fest.

Claire lässt den toten Alfred in den mitgebrachten Sarg legen und übergibt dem Bürgermeister einen Scheck über eine Milliarde. Daraufhin verlässt die alte Dame die Stadt.

Die Tragikomödie »Der Besuch der alten Dame« zeigt deutlich, dass man für Geld fast alles kaufen kann. Es wird dargestellt, wie sich eine Gruppe von Bürgern von nur einer Person so beeinflussen lässt, dass sie einen Mord verübt. Die Bürger glauben Gerechtigkeit zu üben, indem sie Unrecht tun.



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