Interpretationsvarianten
von „Mario und der Zauberer“
1.Politische Ebene
1.1 Vergleich Cipolla - Hitler/Mussolini:
• „Zuckerbrot und Peitsche“ = Redekunst und Peitsche
→ leere Versprechungen
• gescheiterte Existenzen (Hitler: Scheitern als Künstler u.
Soldat, Mussolini: Scheitern als
Kommunist)
• Macht der Psychologie (auch schauspielerische Talente)
• psychische Macht (Hypnose)
1.2 Publikum = Volk: in Bann gezogen, willenlos
1.3 Mario = Widerstandskämpfer: repräsentiert Widerstand;
Attentate auf Hitler/Mussolini
1.4 Erzähler:
• = Repräsentant von Menschen, die gegen das Regime
stehen ohne offenen Widerstand
kritische Haltung, aber keine Taten
• = Bürgertum: Rückzug ins Private/ Bürgerliche
2. Ethisch- moralische Ebene: allg. Gut ⇔ Böse; Böses wird überwunden
3. Autobiographische Ebene: Thomas Manns Aufenthalte in Italien
4. Künstlerisch- ästhetische Ebene: raffiniert erzählte Geschichte
Die 1930 erschienene Novelle “Mario und der Zauberer” ist eine Reiseerzählung mit autobiographischem Hintergrund. Der Ich-Erzähler reist mit seiner Frau und seinen zwei kleinen Kindern nach Italien in einen kleinen Badeort, namens Torre di Venere.
Mussolini hatte damals die Führung des faschistischen Italiens übernommen und die Leute waren stark nationalistisch eingestellt.Thomas Mann schildert detailliert die Eindrücke und Erlebnisse dieses Ferienaufenthalts.
Der Ich-Erzähler beschreibt die unfreundliche Haltung der Italiener gegenüber den ausländischen Touristen und den übersteigerten Nationalismus der Italiener. So muß die Familie zum Beispiel das Hotel verlassen, weil die kleine Tochter erkältet ist und hustet. Das wiederum sei eine Lärmbelästigung und darum sollten sie ihr Zimmer und infolge das Hotel verlassen.
Eine Woche vor ihrer Abfahrt kommt ein Zauberer, namens Cippola, in den Ort und gibt eine Vorstellung. Da die Kinder so herzlich bitten, geben die Eltern schließlich nach und gehen zusammen mit den Kindern und dem Rest der Menschen, die sich zu dem Zeitpunkt in dem Badeort aufhalten, zu der Zaubervorstellung.
Dort erleben sie ein kleines häßlich verstelltes Männlein, den Zauberer Cippola, der den ganzen Saal zu hypnotisieren versteht. Er läßt die Leute mit Hilfe seiner Peitsche völlig willenlos werden, um sie dann tanzen, springen oder sonstige Sachen nach seinem Willen machen zu lassen. Die Zuschauer bringen Cippola wenig Sympathien entgegen. Man ist viel mehr erstaunt, entsetzt und doch wieder belustigt von den Fähigkeiten jenes Mannes.
Am Ende seiner Vorstellung bittet er noch Mario, einen jungen Kellner, der mit den Kindern des Ich-Erzählers befreundet ist, nach vor auf die Bühne. Dort hypnotisiert ihn Cippola und bringt Mario dazu ihn zu küssen, im Glauben Cippola sei Marios Geliebte. Als aber Mario nach dem Erwachen den grauenvollen Irrtum bemerkt zieht er seinen Revolver und erschießt den Hypnotiseur.
Interpretation
Die Novelle “Mario und der Zauberer” geht bis auf den “letalen Ausgang” auf Selbsterlebtes zurück. Während eines Badeaufenthaltes in Forte bei Marmi bei Viareggio vom 31. August bis 13. September 1926, zu einem Zeitpunkt, da der Faschismus in Italien totalitär geworden war, erlebte der Dichter die “Episode mit einem Zauberer”, die später ihren Niederschlag in dieser Novelle fand. Sie entstand im August 1929 und erschien im April 1930.
Als Thomas Mann “Mario und der Zauberer” schrieb, hatte er die reale historische Situation eines faschistischen Führerstaates vor Augen. Das Verhältnis Führer und Geführte war im Staat Mussolinis politische Wirklichkeit geworden. Die Partei herrschte, und diese wiederum war “zusammengefaßt unter dem einheitlichen Willen des “Führers” (Duce del Fascismo).
Thomas Mann bezieht auch im Gegensatz zu seinen früheren Werken, wie “Propheten”, am Ende der Novelle eindeutig Stellung zum gewaltsamen Tod des Zauberkünstlers mit der Reitpeitsche: “Ein Ende mit Schrecken, ein höchst fatales Ende. Und ein befreiendes Ende dennoch, — ich konnte und kann nicht umhin, es so zu empfinden!”
Der Autor macht immer wieder Vergleiche mit und Andeutungen an die faschistischen Tendenzen in Deutschland und natürlich besonders in Italien (da die Novelle in Italien spielt), ohne aber die Faschisten direkt anzusprechen oder zu erwähnen.
Schon aus der Schilderung der Erlebnisse am Strand geht hervor, daß die Geführten, hier gereizte italienische Nationalisten, sich im Sinn eines Massenwahns oder Art Krankheit verhalten. Den Kindern des Touristenehepaares, die unter diesen Nationalisten zu leiden haben, erklären die Eltern, die Leute hier “machten soeben etwas durch, so einen Zustand, etwas wie eine Krankheit, wenn sie wollten, nicht sehr angenehm, aber wohl notwendig.” Als ideologisches Element des italienischen Faschismus tritt ein mit Fremdenhaß und “Sittenstrenge” gepaarter Nationalismus in Erscheinung.
Die gespannte Situation verkörpert sich in Cippola, dem Zauberer. Er hat einen festen Willen zur Herrschaft. Cippola, der aus seiner faschistischen Gesinnung auch theoretisch keinen Hehl macht, gelingt die Unterwerfung der Menge und das ohne Gewalt. Er ist ein Führer mit realer Macht. Es kommt ihm freilich zugute, daß der Faschismus in Italien am Ruder ist und seine Auswirkung sich, wie überall im Lande, so auch in dem Badeort spürbar gemacht hat. Cippola holt sich seine Versuchspersonen aus dem “Volk” und “hütet sich, den vornehmen Teil seines Publikums zu belästigen”. Die Ich-Person scheint ja auch zu keinem Zeitpunkt Bedenken zu haben, daß sie selbst auf die Bühne gerufen werden könnte. Mit unbehaglich gefesselten Gefühlen aber verfolgt sie dennoch das Programm, dessen zweite Hälfte “ganz offen und ausschließlich auf den Spezialversuch, die Demonstration der Willensentziehung und -aufnötigung gestellt ist”.
In seiner Willensleere unterliegt das europäische Publikum dem faschistischen Zauberkünstler. Es wird von dessen robustem Willen in eine Masse von Geführten verwandelt; die Menschen reagieren nicht mehr, wie sie als Individuen reagieren würden. Nach der Pause gelingt Cippola die “Auflösung der kritischen Widerstände, die solange dem Wirken des unangenehmen Mannes entgegengestanden sind”. Dies bedeutet den Sieg des Prinzips der Gewalt und fürThomas Mann war die Gewalt das Wesen des Faschismus.
Am eigenen Beispiel deutet Thomas Mann die Willensschwäche des Publikums, und zwar gerade auch des vornehmen Teils, an. Auch neben dem Programm, auch zwischen den Kunststücken findet sich das Touristenehepaar in seiner Entschlußkraft durch die “Faszination” gelähmt, die von Cipolla ausgeht, doch spiele überdies Neugier eine Rolle, weil es im Grunde um die Frage gehe, warum man nicht schon vorher Torre verlassen habe, wo es ebenso kränkend zugegangen sei.
Aber der großen Anzahl der Anhänger des Faschismus stehen andere gegenüber, die sich zur Wehr setzen und ihre Freiheit verteidigen wollen. In “Mario und der Zauberer” zeigt der Autor namentlich am Beispiel des Giovannottos, eines streitbaren jungen Mannes, eines Herrn aus Rom und eines “schnurrbärtig stattlichen Colonellos” die Fehler auf, die dabei begangen werden können. So heißt es im Bezug auf letzteren: “Er schien zu wollen und nicht zu können — aber er konnte wohl nur nicht wollen und es waltete da jene die Freiheit lähmende Verstrickung des Willens in sich selbst, die unser Bändiger vorhin schon dem römischen Herrn höhnisch vorausgesagt hatte.”
Auf dem Höhepunkt der ausgelassen Stimmung des Publikums ruft der “im Erfolg thronende Mann” Mario, einen jungen Kellner, auf die Bühne. Bei der Begegnung mit Cippola verhält er sich weder aggressiv wie der Giovanotto noch verweigernd wie der Römer. Er ist weder im positiven noch im negativen Sinn von dem Zauberer beeindruckt. Er ist zerstreut, melancholisch, höflich. Ganz erfüllt von seiner unglücklichen Liebe, erschießt er Cipolla, der ihn darin zu entehren versucht hat, indem er die Bereitschaft in den Liebesgefühlen des jungen Mannes, sich täuschen zu lassen, ausnutzte. Die Ich-Person empfindet das Handeln Marios als ein zugleich fatales und befreiendes Ende. Thomas Mann zeigt hier, daß es, um gegen die faschistische Suggestion, die Versuchung durch das “Böse” einigermaßen gewappnet zu sein, weniger auf starken Willen und Vorsatz als auf den Schutz durch ein positives Ideal, einen Glauben, eine Liebe ankommt.
Der Ich-Erzähler des “tragische Reiseerlebnisses” empfindet das Ende Cippolas als ein vorgezeichnetes Ende — Thomas Mann hielt sich während der nationalsozialistischen Herrschaft daran aufrecht, daß “dieses vor Gott und den Menschen unmögliche Regime nicht bestehen könne, daß ihm trotz Gewalt und Müh' ein schändlicher Untergang unfehlbar vorgezeichnet sei”.
Die Begegnung Marios mit Cippola ist eine Begegnung der “Macht des Anständigen mit derjenigen des Bösen, Dämonischen”, wie es von Thomas Mann mit seinem fast märchenhaftem Blick beschrieben wird. Mario, der Cippola und sein “dunkles Spiel” erst dann richtig durchschaut, als er sich von ihm tödlich beleidigt fühlt, fällt, zur Waffe greifend, die Rolle des Guten zu. Das heißt, daß er im Augenblick des Tötens das Gute als Negation des Bösen vertritt, wenn auch nicht als positives Programm.
Nachdem Mario am Ende den Beleidiger von Torre di Venere und des Publikums erschossen hat, stürzt sich das ganze Publikum auf ihn. Mario erscheint als Objekt für die aufgestauten Aggressionen der selbst Unterdrückten, die sich nicht gegen die Ursache der Unterdrückung, nämlich Cippola, wenden, sondern gegen den “Sündenbock”. Obendrein macht diese Stelle deutlich, daß nicht für alle Zuschauer, das heißt im übertragenen Sinne, nicht für alle einem faschistischen System enthobenen Menschen, die Auflösung des Verhältnisses von Führer und Geführten etwas Angenehmes, eine Erlösung, ein befreiendes Ende zu bedeuten braucht.
Eine Familie mit Kindern macht Urlaub in Torre di Venere, einem fiktiven italienischen Bade- und Urlaubsort. Mario, Kellner im Gartencafé »Esquisito«, tritt zu Beginn ganz kurz ins Bild. Dann erlebt die Familie zwei Widrigkeiten, die im ersten Teil wichtige Vorzeichen für das kommende Geschehen sind. Wegen eines schon abschwellenden Keuchhusten bemüht die Hotelleitung den Amtsarzt. Der erklärt das Stadium der Krankheit für unbedenklich. Entgegen der Abmachung wird die Familie diskriminiert und zieht es vor, die Unterkunft zu wechseln. Die neue Pension Eleonora ist ihr sogar angenehmer. Der erzählende Familienvater benennt die dahinter stehende Motivation mit klaren, harten Worten: naiver Mißbrauch der Macht, Ungerechtigkeit, kriecherische Korruption (S. 527). Der Erzähler lädt die Atmosphäre weiter auf. Es ging Politisches um, die Idee der Nation war im Spiel (S. 529).
Wegen eines kurzzeitig nackten Kindes, der achtjährigen Tochter, am Strand entrüsten sich Touristen. Darunter tut sich insbesondere ein "Herr in städtischen Schniepel" (= Frack; S. 530) hervor. Er reagiert gar mit verletztem Nationalstolz.
Im zweiten Teil tritt der Zauberer Cipolla auf, der ungewöhnliche Kunststücke vollbringt, nicht das, was man von einem Zauberer erwartet. Cipolla erfüllt damit nicht die Erwartungen des Publikums, was aber nicht gemerkt oder zumindest nicht bemängelt wird. Er arbeitet mit Willensbrechung und Hypnose, ja mit der Verhöhnung seines Publikums. Die Probanden, die der Zauberer einbindet, empfinden die Vergewaltigung ihres Willens als wundersamen Einklang mit dem Magier. Die Kinder, die sich zunächst riesig auf den Zauberer gefreut hatten, reagieren am natürlichsten: sie schlafen ein. Zuletzt probiert es der Zauberer mit Mario, der ganz am Ende unerwartet reagiert. Die Erniedrigung, die im Publikum Gelächter auslöst, beantwortet er mit zwei gezielten Schüssen auf den Zauberer. Die Kinder sehen alles im Rahmen der Inszenierung. Doch der Erzähler empfindet das Ende mit Schrecken als ein befreiendes Ende (S. 565). Thomas Mann erzählt in gewohnt schnörkeligem und dennoch geraden Stil. Man muß öfter das Fremdwörterlexikon befragen. Die Spannung wird gehalten, da man immer auf das Auftreten der Titelfigur wartet. Während im ersten Teil die Täter (Hotelleitung, entrüstete Moralprediger) komisch wirken, ist es im zweiten Teil eher umgekehrt. Jetzt wird das Publikum vorgeführt und lächerlich gemacht.
Dass Thomas Mann gelegentlich auf seines Bruders Heinrich Mann: Die kleine Stadt anspielte, entnahm ich der Sekundärliteratur. Ohne es je auszusprechen ist am Ende klar worum es Thomas Mann geht: schon 1929 prangerte er die Führersschaft des »Duce del Fascismo« Benito Mussolini (1883-1945) an, der sich 1922 zum Diktator in Italien aufgeschwungen hatte. Auf dem Höhepunkt der Macht befreit Marios Tyrannenmord vom hypnotischen Zwang.