Meyer Der offenbare und der verborgene Gott

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Vorstellung des Dissertationsprojektes von Insa Meyer

Der offenbare und der verborgene Gott

(Juni 2005)

Voraussetzungen und Anliegen

Wo von Gott geredet wird, wird eine wie auch immer geartete Form der Erkennbarkeit und

des Erkanntseins Gottes vorausgesetzt. Auch wenn Gott für unerkennbar gehalten wird, ist

zumindest das in bezug auf ihn erkennbar. Aber es wird auch unweigerlich immer schon von

Verborgenheit Gottes gesprochen werden müssen, einerseits weil dem Gottesbegriff per

definitionem eine gewisse Unverfügbarkeit inhäriert, andererseits weil immer wieder

Differenzen zwischen erlebter und geglaubter Lebenswirklichkeit entstehen, die mindestens

zu einem Teil mit dem Theologumenon von der "Verborgenheit Gottes" bearbeitet werden

können und bearbeitet worden sind. Insofern kann man festhalten, daß "Verborgenheit

Gottes" immer schon als prominentes Thema im Raum stand, wo von Gott die Rede war,

insbesondere also auch in der christlichen Religion.

Denkt man diese "Verborgenheit Gottes" nun rein gegenstandsbezogen – also auf Gott

beschränkt – kommt man in Aporien und bleibt letztlich in der sogenannten Theodizeefrage

stecken, weil man mit Verborgenheit und Offenbarsein Gottes immer einen Widerspruch im

Wesen Gottes selbst erhält.

Das in Bearbeitung befindliche Projekt geht nun davon aus, daß von Gott immer dort die

Rede ist, wo der Mensch sich selber fraglich wird, wo er sich also die klassischen

Grundfragen stellt, die Kant mit "Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich

hoffen?" formuliert hat. Das bedeutet also, der Gottesbegriff kann eigentlich nicht vom

Menschen losgelöst betrachtet werden.

Die Hauptthese meiner Arbeit lautet daher: Die "Verborgenheit Gottes" ist auch eine

Verborgenheit des Menschen. Diese These findet sich schon bei Hegel, Ebeling und Korsch,

wurde aber noch nicht richtig durchgearbeitet. Anders gesagt, lautet sie: Der Widerspruch

gehört zum Gottesbegriff dazu und kann nicht aufgelöst werden; aber er gehört so zum

Gottesbegriff, daß er ein Widerspruch des Menschen ist. Als dieser Widerspruch bekommt er

je nach sozialem und kulturellem Umfeld mit unterschiedlichem Schwerpunkt und

verschiedener Kontur in den Blick.

Die vorzulegende Arbeit zeigt drei solcher Typen – gekennzeichnet als das

erkenntnistheoretische, das soteriologische und das trinitarisch-geschichtliche Modell –

anhand je eines Referenzautors auf (Dionysios Areopagita, Martin Luther, Georg Wilhelm

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Friedrich Hegel). Ziel dieser "Typisierung" der Rede von Gotteserkenntnis und

Gottesverborgenheit ist, das Theologumenon "Verborgenheit Gottes" in seiner Spannung von

Theologie und Anthropologie besser zu verstehen und einordnen zu können. Diese

Typisierung stellt einen Beitrag zur Verbesserung der (Selbst-)Durchsichtigkeit und

Verständigung innerhalb der christlichen Dogmatik dar, weil die Behandlung der

"Verborgenheit Gottes" im Rahmen dogmatischer Entwürfe eine große und disparate

Bandbreite abdeckt, die durch die Zuordnung zu bestimmten Schwerpunkten im Sinne der

genannten Typisierung strukturiert und so in ihrer Begründung und ihren Konsequenzen

besser verstanden werden kann.

Daß die drei untersuchten Denkmodelle nicht beliebig ausgewählte Positionen einzelner

Theologen darstellen, sondern tatsächlich Grundformen jüdisch-christlicher Rede von Gott

repräsentieren, zeigt sich an den Untersuchungen zur Bedeutung von "Verborgenheit Gottes"

im Alten und Neuen Testament. Das Kriterium für die Auswahl der Referenzautoren ist eine

möglichst intensive Schwerpunktbildung bei den theologischen Gedanken, die sie als Modell

repräsentieren.

Altes und Neues Testament

Während sich im Alten Testament die Denkmodelle auf bestimmte Buchgruppen aufteilen

lassen – so findet sich das erkenntnistheoretische Modell vor allem in den jüngeren

weisheitlichen Schriften z.B. bei Kohelet, der die Krise des Tun-Ergehen-Zusammenhangs

mit einer neuen Hinwendung zu innerweltlichen Klugheitsregeln bearbeitet, das

soteriologische vornehmlich in den Psalmen, vor allem den Klageliedern des einzelnen, in

denen Verborgenheit Gottes als unverfügbarer Entzug der lebenspendenden Gnade Gottes

erlebt wird, und das (trinitarisch-)geschichtliche eher bei den Propheten (das Exil als Zeit der

im Rahmen einer Strafe verdienten Verborgenheit Gottes) – konzentrieren sich im Neuen

Testament alle drei Modelle als je verschiedene Perspektiven auf Person und Werk Jesu

Christi bzw. auf die Frage des Zustandekommens des Glaubens an das Christusereignis. Das

bedeutet eine Präferenz des soteriologischen Modells, von dem her dann das

erkenntnistheoretische und das trinitarisch-geschichtliche in den Blick kommen.

In beiden Testamenten spielt Sünde als Selbstverfehlung coram deo eine Rolle; in ihr

manifestiert sich – je nach theologischem Konzept auf unterschiedliche Weise – die

Selbstverborgenheit des Menschen, die der Verborgenheit Gottes korrespondiert und die sich

dem systematisch-theologischen Nachdenken unter den Überschriften "Herkunft des Bösen"

als universaler Dimension menschlicher und göttlicher Verborgenheit und "Erwählung" als

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subjektiver Dimension derselben präsentiert. Beide Themenkreise sind neben der

Offenbarungsthematik beim Durchgang durch die Testamente und die Werke der

Referenzautoren zu berücksichtigen. Für das Alte und das Neue Testament ergibt sich hier

jeweils die Schwierigkeit, diese Themenkreise im Rahmen der verschiedenen, in den

Testamenten vertretenen Theologien abzuhandeln.

Im Alten Testament schlägt sich die Rede von der Verborgenheit Gottes hauptsächlich in der

bildhaften Aussage, daß Gott "sein Angesicht verbirgt" (

{ψνπ ρψτση

) nieder; es finden sich

aber auch Stellen, an denen Gott sich selbst verbirgt, allerdings in wesentlich geringerer Zahl.

Die Formel, daß Gott sein Angesicht verbirgt, ist – wie Friedhelm Hartenstein gezeigt hat –

mit der Vorstellung einer Audienz beim König verknüpft: Wenn Gott sein Angesicht verbirgt,

so zieht er seine lebenspendende Zuwendung von einem einzelnen oder seinem Volk ab,

indem er die Audienz oder ein Anliegen innerhalb der Audienz ablehnt und gibt sie damit den

Todesmächten (Krankheit, Feinden, Unglück usw.) preis. Höchstes Glück ist es hingegen, im

Rahmen einer Audienz Gottes Angesicht auf sich ruhen zu wissen oder ihn zu sehen/schauen.

Auch für den Fall, daß Gott "sein Angesicht verbirgt" jedoch ist er grundsätzlich da und

ansprechbar. Insofern ist auch die Erfahrung, daß Gott "sein Angesicht verbirgt", Teil der

Offenbarung Gottes, der Geschichte, in der Gott sich mit seinem Volk konfrontiert und doch

immer auf Distanz bleibt. Im vorwegnehmenden Lob, das viele Klagepsalmen aufweisen,

schlägt sich dieses Bewußtsein der grundsätzlichen Gottesnähe nieder. Insofern kann die

Artikulation der Erfahrung der "Verborgenheit Gottes" hier als eine Art "performativer

Sprechakt" bezeichnet werden: Im Aussprechen wird eine Wirklichkeit gesetzt – jedoch eine,

die das Gegenteil des Ausgesprochenen aktiviert, weil sie die Hintergründigkeit der

gegenwärtigen Erfahrung mit im Blick hat.

Drückt sich in der Rede von der "Verborgenheit Gottes" im Alten Testament die Anfechtung

eines einzelnen oder einer Gemeinschaft aus, sofern das Motiv für JHWHs Abwendung

unergründbar ist, so artikuliert sich im Falle der Schuld als Verbergungsursache eine

Selbstentfremdung Israels bzw. des einzelnen: Die "Verborgenheit Gottes" hat ihren

Bezugspunkt im (gestörten) Selbstverhältnis des Menschen, dessen Horizont, das

Gottesverhältnis, jeweils von einer Störung des Selbst- oder Weltverhältnisses des Menschen

unmittelbar mitbetroffen ist. Durch eine (z.B. prophetische) Korrektur des Gottesverhältnisses

ist es möglich, auch das Selbst- und Weltverhältnis wieder in Ordnung zu bringen.

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Dionysios Areopagita

In seinen Schriften Über die göttlichen Namen, Über die himmlische Hierarchie, Über die

kirchliche Hierarchie, und Über die mystische Theologie legt Dionysios einen dreifachen

Weg des Aufstiegs des Menschen zu Gott dar. Dabei geht er auf dem Hintergrund seiner

Orientierung an der neuplatonischen Philosophie (insbesondere der des Proklos) davon aus,

daß Gott dem Menschen grundsätzlich unerkennbar ist.

Die positive Theologie nun schließt von dem, was ist, auf Gott und legt ihm positive Namen

und Eigenschaften bei. In einer Form, die der Abgehobenheit des Göttlichen vom

Menschlichen etwas mehr inne ist, versteht sie diese Namen und Eigenschaften nicht mehr

eigentlich-affirmativ, sondern symbolisch-affirmativ. Die negative Theologie setzt die

affirmative voraus und macht ihre Aussagen über Gott via negationis, eingedenk des Axioms

von der Unerkennbarkeit Gottes. Die mystische Theologie wird nun inne, daß auch negative

Prädikationen Affirmationen sind, und stellt fest: Gott ist weder erkennbar noch unerkennbar;

er ist überunerkennbar. Der Weg der Annäherung des Menschen an Gott über das diskursive

Denken endet mit dieser Feststellung und wird in den zweiten Weg, den man auch als

"Sprung" bezeichnen kann, überführt: Die Vereinigung mit Gott in der "unio mystica". Hier

geht der Mensch ganz in Gott auf. Indem Gott ihm jedoch vollkommen offenbar wird, ist er

dem Menschen auch vollkommen verborgen, weil die Einswerdung mit Gott sich der Distanz

des Erkennens im Subjekt-Objekt-Schema verschließt, diese also auch weiterhin keine

Aussagen über Gott machen kann. Dennoch ist diese mystische Vereinigung von Gott und

Mensch das höchste Ziel, zu dem zwar alle Menschen grundsätzlich bestimmt sind, das aber

aufgrund ihrer jeweiligen Konstitution nicht alle erreichen können. Diese Vereinigung erfolgt

vor allem im Kult, weshalb diesem als Ort der "Verwirklichung des Heils Gottes" in der

Vermittlung von "Weg" und "Sprung" eine zentrale Bedeutung zukommt.

Die negative Theologie der totalen Transzendierung Gottes führt bei Dionysios zu einer

negativen Anthropologie der totalen Transzendierung des Menschen als Aufgehen in Gott: In

ihr korreliert die Ekstase Gottes als Hervorgang in Schöpfung und Erleuchtung mit der

Ekstase des Menschen, der als Erleuchteter und Erlöster in seinen Ursprung zurückkehrt. Die

Verborgenheit Gottes, das diskursivem Denken nicht zugängliche und daher in seinem Wesen

unerkennbare Übersein Gottes, korreliert mit der Verborgenheit des Menschen, der sich in der

Vereinigung mit diesem Übersein selbst nicht mehr hat und doch bei sich und seinem

Ursprung angekommen und somit mit sich selbst und Gott identisch ist. Freilich ist auch diese

Ankunft immer nur von kurzer Dauer; insofern kann das Leben des Christen als

fortwährender Prozeß von Suchen und Finden verstanden werden.

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Verborgenheit Gottes hat also bei Dionysios nur insofern eine negative Konnotation als sie

das philosophische Erkennen im Subjekt-Objekt-Schema einschränkt. Dieses bleibt in seiner

Ausprägung als affirmative, symbolische und negative Theologie immer im Vorhof der

Gotteserkenntnis stehen. Allein die mystische Theologie führt zur Einung mit Gott, die aber

jenseits des Intellekts und daher auch jenseits aller philosophischen Erkenntnismöglichkeiten

liegt.

Offenbarung Gottes bezieht sich bei Dionysios zunächst einmal nur auf die philosophische, an

Erkenntnis orientierte Weise, Theologie zu treiben. Hier ist Verborgenheit Gottes der –

aufgrund der grundsätzlichen Unerkennbarkeit Gottes unvermeidliche – "dunkle Rand" der

Offenbarung Gottes, der sich durch seine Wirkungen vermittelt zu erkennen gibt. Wo er sich

einem Menschen ganz und gar offenbart – in der unio mystica – bleibt er im Dunkel des

überhellen Lichts verborgen und verurteilt den Menschen zum Schweigen, so daß hier nur

noch geglaubt werden kann, jedenfalls aber kein philosophischer Wahrheitsdiskurs mehr

möglich ist. Unter dem Vorzeichen der "unio mystica" sind Verborgenheit und Offenbarung

Gottes (und des Menschen) identisch, weil sie als Begriffe nur je unterschiedliche Interessen

bezeichnen: Verborgen ist Gott aus Sicht der philosophischen Erkenntnis, weil er intellektuell

nicht faßbar ist, offenbar ist er aus Sicht der mystischen Erkenntnis, weil der Mensch mit ihm

eins ist.

philosophische Erkenntnis

mystische Erkenntnis

Offenbarung

Verborgenheit

Offenbarung

Verborgenheit

Gott

Einsicht in Gottes Plan mit
der Welt und den Menschen
(sein Sein und sein Wirken).

Unerkennbarkeit des Wesens
Gottes

überlichtes Dunkel

überlichtes Dunkel

Mensch

Einsicht in die eigene
Verfaßtheit als Geschöpf
Gottes mit der Aufgabe der
Annäherung an Gott.

Begrenzung menschlicher
Erkenntnis, evtl. mit der Folge
von Sünde.

Identität mit sich und Gott
im Aufgehen in Gott
(= Selbstverlust)

Selbstverlust durch Aufgehen
in Gott
(= Selbstidentität)

Martin Luther

Martin Luther nun setzt die Unerkennbarkeit Gottes im Sinne des Dionysios zunächst voraus,

entwickelt aber im Dialog mit Erasmus (Über den unfreien Willen) eine andere Perspektive

darauf. Zentral ist ihm die Verborgenheit der Offenbarung Gottes in Jesus Christus.

Im Gegenüber zu Erasmus zeigt sich, daß Luther im Unterschied zu Erasmus davon ausgeht,

daß Gott nicht einfach derjenige ist, der über das Ge- und Mißlingen menschlichen Handelns

richtet, sondern der, dem sich das menschliche Handelnmüssen überhaupt verdankt. Der

zentrale Punkt, die sich dem homo incurvatus in der Begegnung mit Gottes Wort als Gesetz

und Evangelium erschließt, ist die Einsicht, daß die Notwendigkeit zum Handeln, und das

heißt zum Ausbilden von Handlungskriterien im Sinne von Letztbegründungen, also zur

Selbstbestimmung des Menschen, sich nicht einer Setzung des Menschen verdankt, sondern

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ihm von außen zukommt – von Gott. Diese Einsicht bedeutet insofern das Heil des Menschen,

als hier eine Entlastung von der notwendigerweise versuchten, aber nicht zu leistenden und

dadurch in den Abgrund von Gottlosigkeit oder Verzweiflung führenden (Selbst-)Begründung

des Menschen als Ich erfolgt, die ihn aber dennoch nicht von der Belastung der

Notwendigkeit zu handeln und damit sich selbst zu bestimmen entbindet. Zu dieser Einsicht

vermag der Mensch jedoch nicht von sich aus zu gelangen; sie muß sich ihm erschließen, und

das tut sie in der Begegnung mit dem Wort Gottes; insbesondere an der Gestalt Jesu Christi

kann diese Begründung des Menschen durch Gott mit ihren Konsequenzen paradigmatisch

nachvollzogen und angeeignet werden. Das bedeutet, daß der Kult als Gottesdienst, indem das

Wort Gottes in sprachlichen und leiblichen Zeichen verkündigt wird, eine zentrale Rolle für

die Verwirklichung des göttlichen Heils als Verwirklichung des Menschen und Gottes spielt.

Über die Unverfügbarkeit dieser grundstürzenden Umstellung im menschlichen

Selbstbewußtsein, die von dem glaubenden Subjekt als Erwählung erfahren wird, kommt die

zweite Form der Verborgenheit Gottes ins Spiel: Gott erwählt offensichtlich nicht alle

Menschen, auch wenn das aufgrund der Botschaft, die seine Selbstoffenbarung in Jesus

Christus zuteilwerden läßt, eigentlich angenommen werden müßte. Will man nun einen

Dualismus der Götter oder in Gott vermeiden, kann man mit Dietrich Korsch Luthers Rede

von der Verborgenheit Gottes in seiner Erwählung als die Unbestimmtheit Gottes bezeichnen,

aus der heraus Gottes Selbstbestimmung in Jesus Christus erfolgt. Die von Eberhard Jüngel so

genannte absolute Verborgenheit Gottes (im Unterschied zur präzisen in Christus) bildet dann

gleichsam den Horizont der verborgenen Offenbarung Gottes in Christus. Weil es sich hier

um eine Unbestimmtheit Gottes handelt, ist sie dem so bedrohlich, der sich mit ihr

beschäftigt: Es ist nicht klar, was von Gott erwartet werden kann – Gutes oder Böses.

Deswegen ist es durchaus ratsam, sich bei dieser Unbestimmtheit nicht aufzuhalten, sondern

sich der Bestimmtheit Gottes in Jesus Christus zuzuwenden. Weil es sich aber um eine

Unbestimmtheit handelt, kann ihr auch keine negative Bestimmung – etwa die Verwerfung –

zugemessen werden. Das ist kritisch mit Luther gegen Luther einzuwenden, der bisweilen

mehr vom verborgenen Gott weiß, als nach seinen eigenen Voraussetzungen möglich ist.

Indem der Mensch Gott als den Grund seines Ich oder als Herkunft seiner Bestimmtheit zur

Selbstbestimmung – und darin als den ihn unbedingt anerkennenden – (an-)erkennt, kommt

der Mensch zu sich selbst, weil er seine eigenen Konstitution durchschaut und sich ihr gemäß

verhält. Ist ihm dieses Verhältnis verschlossen, muß ihm nicht nur Gott dunkel bleiben im

Sinne des Richters des Erasmus, der dem Menschen Dinge zumutet, die er nicht erfüllen kann

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und ihn dann dafür straft, sondern auch er selbst bleibt sich verschlossen, indem er weiterhin

versucht, sich selbst zu begründen.

Verborgenheit

Offenbarung

präzise

absolut

Gott

Einsicht in das Wesen Gottes als Liebe durch Gottes
Selbstbestimmung sub contrario in Christus
= präzise Verborgenheit

= Offenbarung

Unbestimmtheit Gottes

Unwesen Gottes

Mensch

Einsicht in das Wesen des Menschen als Hörender/zu
Rechtfertigender, das der Bestimmheit zur heilvollen
Selbstbestimmung (Erwählung) in der Ausrichtung auf Gott
durch das Wort Gottes als Gesetz und Evangelium entspricht

selbstverantwortete
Selbstbestimmung, von ihrer
Herkunft abstrahierend, die
der Nicht-Bestimmtheit zur
heilvollen Selbstbestimmung
(Erwählung) entspricht
Unwesen des Menschen

Die Unerkennbarkeit Gottes, mit der Erasmus hantiert, wird bei Luther noch einmal

soteriologisch gewendet und so verschärft: Sie wird – durch die Verborgenheit Gottes in

Christus betrachtet – zur Verborgenheit Gottes in der Erwählung, die nicht mehr epistemisch

ausgeblendet werden kann, weil sie den Menschen als Frage nach seinem Heil unbedingt

angeht. Die Verborgenheit Gottes als Nicht-Zugänglichkeit seiner Offenbarung steht dann für

eine fundamentale Ent-Sicherung des Ich.

Die Frage ist aber, ob es nicht doch eine Möglichkeit gibt, die Luther verdankte

soteriologische Dramatisierung der Verborgenheit Gottes erkenntnistheoretisch wieder

aufzulösen. Daß das einerseits geht und andererseits auch nicht – und in welcher Hinsicht –,

soll am Beispiel Georg Wilhelm Friedrich Hegels gezeigt werden, der Ungewißheit Gottes

und Selbstungewißheit des Menschen direkt aufeinander abbildet.

Georg Wilhelm Friedrich Hegel

In seinen Vorlesungen zur Philosophie der Religion (1827) und der Enzyklopädie der

philosophischen Wissenschaften in Grundrisse (3. Aufl. 1830) bezeichnet Hegel Religion als

Selbstbewußtsein des Geistes und zwar im Sinne eines Genitivus subjektivus und Genitivus

objektivus. Zu dieser Ansicht kann er kommen, weil er – wie bei Dionysios bereits angedeutet

– ein Verhältnis von Gott und Mensch oder Unendlichem und Endlichem (Geist) annimmt, in

dem beide sich nicht gegenüberstehen, denn dann würde das Endliche das Unendliche

begrenzen (definieren), sondern in dem das Unendliche das Endliche als Teil seiner selbst

einschließt.

Die Geschichte in ihrer Totalität wie in ihren Teilsystemen (Recht, Religion, Kunst etc.)

bildet einen Raum, innerhalb dessen der Geist als Einheits- und Differenzprinzip sich

realisiert und auf diese Weise zu sich selbst kommt. Kunst, Religion und Philosophie bilden

die Gestalten des Selbstbewußtseins des Geistes; dabei wird der Kunst die Form der

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Anschauung, der Religion die der Vorstellung und der Philosophie die des Begriffs

zugeordnet.

In der Religion nun ist der unendliche Geist sich im endlichen Geist in der Form der

Vorstellung bewußt. Das bedeutet, Menschen stellen sich einen Gott vor und sprechen ihm

bestimmte Eigenschaften etc. zu. In der christlichen Religion geschieht das nun nach Hegel

so, daß es dem Begriff des Geistes, also dem, was keimhaft im Geist bereits angelegt war,

bevor es sich im Durchgang durch die Geschichte realisierte, besonders angemessen ist. Dabei

hebt er insbesondere darauf ab, daß der christliche Gottesbegriff schon in sich offen ist für

anderes (immanente Trinität), was sich dann im Nach-außen-Gehen (Schöpfung) realisiert.

Worauf es in Hegels System in besonderer Weise ankommt, ist die Versöhnung von Gott und

Mensch, von unendlichem und endlichem Geist; denn erst in ihr ist der aus sich

herausgegangene unendliche Geist wieder bei sich. Sie vollzieht sich im christlichen Glauben

anschaulich und paradigmatisch in Christus. Insofern in ihm Gott und Mensch durch

Inkarnation, Tod und Auferstehung versöhnt werden, sind in ihm Offenbarung und

Verborgenheit Gottes identisch.

Insofern die christliche Religion als Religion immer auf die Form der Vorstellung angewiesen

ist, bleibt Gott ihr aber in seiner "wahren Gestalt" als Geist bzw. Begriff verborgen. Hier ist

also eine zweite Form der Verborgenheit Gottes im Spiel – eine Form der Unerkennbarkeit,

die aber insofern von soteriologischer Qualität ist, als Selbst- und Gotteserkenntnis bei Hegel

unmittelbar zusammenhängen, weil es sich ja beim endlichen Geist um eine Realisierung des

unendlichen Geistes handelt.

Erst wenn die Form der Vorstellung verlassen und die des Begriffs aufgehoben wird, also aus

der Sicht der Philosophie, wird diese zweite Verborgenheit Gottes aufgelöst. Dann aber ist

Gott als Geist so offenbar, das heißt bei sich, daß die Religion überhaupt und mit ihr der

Gottesbegriff aufgelöst ist. In der totalen Offenbarung ist Gott also insofern verborgen, als er

aufgehoben ist in den zu sich selbst zurückgekehrten und bei sich seienden Geist.

Weil aber die Philosophie als Form des Selbstbewußtseins des Geistes nie die einzige ist,

sondern Religion und mit ihr die Vorstellung immer mit ihr koexistiert, bleibt die

Verborgenheit Gottes als soteriologisches Problem erhalten. Insofern kann Hegel das

Problem, das bei der Behandlung Luthers am Ende stand, einerseits lösen und andererseits

auch nicht.

Wichtig ist auch bei Hegel der Kult: Hier aktualisiert und realisiert sich die Trennung und die

Versöhnung von Gott und Mensch. Insofern stellt auch bei Hegel der Kult – und somit der

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christliche Gottesdienst – eine Form dar, in der der Mensch nicht nur zu Gott, sondern auch

zu sich selber findet.

Offenbarung

Verborgenheit

Religion/Vorstellung Philosophie/Begriff

Religion/Vorstellung

Philosophie/Begriff

Gott

Schöpfung
Jesus Christus

Werden des unendlichen
Geistes für den endlichen
(Manifestation in Schöpfung
und endlichen Geist)

präzise: Versöhnung von
endlichem und unendli-
chem Geist in Jesus
Christus
absolut: durch den
Menschen nicht aufhebbare
Trennung von Gott

Verborgenheit als Aufhebung
Gottes im Begriff

Mensch

(An-)Erkennen des Schöpfer-
und Versöhnerseins Gottes

Erkenntnis seiner selbst als
Manifestation des unendlichen
Geistes

Erkenntnis seiner selbst als
Sünder (Selbst-Erhebung
zu Gott als eigenmächtiger
Versuch, die Versöhnung
von Gott und Mensch zu
vollziehen)

Aufhebung des endlichen
Geistes im unendlichen Geist
als mit diesem versöhntes
Moment an ihm

Relevanz für die christliche Rede von Gott unter den Bedingungen der gegenwärtigen

Gesellschaft

Die Rede von Gott in der ggw. Gesellschaft ist wegen des zu starken, d.h. klaren Gottes- und

Offenbarungsbegriffs (ohne innere Widersprüche), der in einer christlich-kirchlichen

"Normaltheologie" vertreten oder vermutet wird, nicht mehr plausibel und daher relevant –

das ist eine weitere These meiner Arbeit. Dem klar definierten und mit ausschließlich

positiven Eigenschaften versehenen Gott steht eine ausgesprochen versehrte Welt und ein sich

selbst kaum noch durchsichtiger Mensch gegenüber. In jüngster Zeit ist es der weltweite

Terror, der uns das in einer auf die menschliche Gattung bezogenen Form vor Augen führt.

Individuell kann man das am Aufschwung der Berufsgruppen festmachen, die es im weitesten

Sinne mit Psychohygiene zu tun haben. Diesem sich selbst undurchsichtigen Mensch steht ein

äußerst durchsichtiger Gott gegenüber. Gibt es aber den vorausgesetzten Bezug zwischen

Gottes- und Menschenbegriff, dann müssen der starke Gottes- und Offenbarungsbegriff noch

einmal überdacht werden. Die untersuchten Modelle zeigen die damit verbundenen Probleme

und Chancen auf, und sie zeigen, daß ein "schwacher", "gebrochener" Gottesbegriff nicht

einfach Produkt des Verfalls der westlichen Christentumsgeschichte ist, sondern ein Gut

großer Theologien der Geschichte, das vermutlich wegen der Zumutung der Unverfügbarkeit

gelingender Selbstauslegung immer wieder in Vergessenheit geraten ist.

Genau diesen "schwachen" Gottes- und Menschenbegriff stark zu machen und damit zu einer

erneuten Plausibilisierung der christlichen Weltanschauung als Lebensdeutungsmodell

beizutragen, darin liegt der Nutzen dieser Arbeit für das Christentum und die Kirche.

An Jacques Derrida (1930-2004), einem Philosophen, dessen Philosophie unter dem

Vorzeichen der Abwesenheit oder Nichtexistenz Gottes gegenwärtig vielen Menschen

plausibel erscheint, sollen die Ergebnisse auf dem Weg zu dem zuletzt genannten Ziel noch

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einmal profiliert werden. Dabei wird sich vermutlich zeigen, daß die Problemanalyse, die im

Rahmen der vorzulegenden Arbeit in der idealistischen Sicht Hegels kulminiert und die des

phänomenologischen Zugangs Derridas – nämlich die Suche nach dem Grund des

menschlichen Selbst als Weg zum Selbst-Offenbarwerden des Menschen – gar nicht so sehr

verschieden ausfallen. Umso spannender wird es sein, die Art des Umgangs damit zu

vergleichen. Eine paradigmatische Rolle könnte dabei der Beobachtung der Funktion des

Kultes als Ortes der Verwirklichung des Heils Gottes, das in der Verschränkung von Gottes-

und Selbsterkenntnis des Menschen liegt, spielen.


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