I. Bachmann - der gute gott von manhattan
In Ingeborg Bachmanns Hörspiel ringen Jan und Jennifer um ihr Liebesglück. "Jan, ein junger Mann aus der alten Welt" und "Jennifer, ein junges Mädchen aus der neuen Welt" laufen sich am Grand Central Bahnhof von Manhattan, New York, über den Weg und geradewegs in die Arme. Manhattan, aus dem indianischem Ma-na Hat-ta abgeleitet, bedeutet himmlische Erde. Jan deutet es als Zeichen, die Zeit "mit Jennifer auf der himmlischen Erde verbringen" zu können und so nimmt der Beginn der Liebe seinen Lauf. Eine Liebe, die sich in ihrer Intensität rein auf sich selbst bezieht, das Umfeld dabei völlig außer acht lässt. "Sie lachen in der Öffentlichkeit und doch unter deren Ausschluß. Oder lächeln, wie Verschwörer, die andere nicht wissen lassen wollen, dass die Spielregeln bald außer Kraft gesetzt werden." Das Problem der Liebenden ist nicht das Brechen von äußeren Konventionen, wie etwa bei Romeo und Julia, sondern die Verinnerlichung und der Rückzug aus der Gesellschaft.
Hier schaltet sich der "gute Gott von Manhattan", die Personifizierung gesellschaftlicher Normen und selbsternannter Rächer der Gepflogenheiten, ein und beginnt das Unternehmen Liebe zu unterwandern. "Der gute Gott von Manhattan" ist auf zwei Erzählstränge konzipiert. Der eine, in der sich der "gute Gott" vor einem Richter für seinen Anschlag auf Jennifer verantworten muss, in der Sprache pragmatisch und nüchtern, steht der lyrischen Beziehungsgeschichte der Liebenden, von Beginn der Bekanntschaft bis zum Tod der Frau, gegenüber. Verbunden durch lose, stimmlich ausdruckslose Kommentarchöre wird die Unvereinbarkeit dieser Gegenwelten sprachlich auf die Spitze getrieben. Jans Liebesbezeugungen gegenüber Jennifer äußern sich überschwänglich, er "möchte einmal sehen, was jetzt ist, abends, wenn dein Körper illuminiert ist und warm und aufgeregt ein Fest begehen möchte. Und ich sehe schon: durchsichtige Früchte und Edelsteine, Kornelian und Rubin, leuchtende Minerale." Der gute Gott hält dem nur die Diagnostizierung eines "anderen Zustands" gegenüber. Klar, dass eine derart große Liebe real nicht lebbar und zum Scheitern verurteilt ist. Jan und Jennifer sind nämlich unleugbar Teil der Gesellschaft, die sie mit ihrer introspektiven Beziehung verneinen. Die Folge ist ein Verleugnen der eigenen Identität, die wie im Falle von Jennifer mit dem Tod bestraft wird. Genau dieser Ausweg bietet Anknüpfungspunkte für eine neuerliche Betrachtungsweise des Hörspiels. Das Sterben von Jennifer und das Weiterleben von Jan verdeutlichen eine Übermacht des Männlichen über dem Weiblichen, die dezidiert angesprochen wird, wenn Jennifer ihre Rolle schildert: "Weil jeder sehen kann, dass ich bald ganz verloren sein werden , und fühlen kann, dass ich ohne Stolz bin und vergehe nach Erniedrigung: dass ich mich jetzt hinrichten ließe von dir oder wegwerfen wie ein Zeug nach jedem Spiel, das du ersinnst."
Sinnlich und poetisch ist das Hörspiel auf sprachlicher Ebene, gefährlich und Unheil bringend, was die Thematik betrifft. Der Hörverlag stellt der CD ein überraschend informatives Booklet beiseite, das neben Angaben zu Autorin und Werk auch einen Aufsatz des Germanisten Hans Höller beinhaltet. Höller liefert hier auf engem Raum eine zusammenfassende Interpretation des Hörspiels, gespickt mit fundierten Quellenangaben und Verweisen auf Einflüsse von Brecht und Musil. Neben der Kunst werden auch gleich die Informationen zum besseren Verständnis mitgeliefert. Didaktisch einwandfrei!
Denn: "Der gute Gott von Manhattan" entstand 1957 und wurde zwei Jahre danach, 1959, mit dem Hörspielpreis der Kriegsblinden ausgezeichnet. Es handelt sich also um ein Werk der 50er Jahre des vorigen Jahrhunderts, und es behandelt die allgemeine Möglichkeit von Liebe und die Rolle der Frau, deren zeitlicher Hintergrund, die Nachkriegszeit, mitschwingt. Würde man diesem Aspekt keine Beachtung schenken, liefe der Hörer womöglich Gefahr, befremdet auf die Situation der Rolle der Frau, zu reagieren. So ergibt sich jedenfalls die Möglichkeit die bisherigen Ergebnisse des feministischen Diskurses neu zu überprüfen.
INHALT
Inhaltsangabe
Vor Gericht muß sich ein Angeklagter, der gute Gott von Manhattan, für ein Attentat verantworten, das er mit Hilfe seiner Agenten, den Eichhörnchen Billy und Frankie, auf das Paar Jan und Jennifer verübt hat, so wie er auch schon in der Vergangenheit andere Paare in ähnlichen Situationen getötet haben soll. Er beginnt dem Richter, der den Tatbestand ermitteln und das Urteil sprechen soll, über die beiden zu erzählen.
An einem heißen Sommertag in den Fünfzigern in New York wird Jan, der sich auf einer Durchreise befindet, von dem jungen Mädchen Jennifer angesprochen. Nach anfänglicher Zurückhaltung Jans kommen sie ins Gespräch, und sie entschließen sich den Abend gemeinsam zu verbringen. In einer Bar liest ihnen eine Zigeunerin aus der Hand. Bei Jennifer kann sie nichts erkennen, weil Jan seine Nägel in ihre Handflächen geschlagen hat, bei Jan hingegen sagt sie ein langes Leben voraus. Das Paar durchwandert die nächtlichen Straßen, und schließlich gehen sie in ein schäbiges Stundenhotel, wo sie sich im ersten Stock einquartieren. Am nächsten Morgen erfährt Jan, daß sich seine Rückreise verzögern wird. Sie entschließen sich die restliche Zeit miteinander zu verbringen und ziehen in ein Zimmer im 7. Stock des Atlantic Hotels ein. Ihre Liebesbeziehung wird stärker; ein Versuch, sich zu trennen, mißlingt.
Dies ist der Augenblick, wie der „gute Gott“ erzählt, in dem er seine blutrünstigen Eichhörnchen auf das Paar ansetzt. Jan und Jennifer besuchen im Central Park eine Aufführung, die von den fünf schönsten Liebesgeschichten der Welt handelt. Später erfährt Jan, daß er einen Platz auf dem Schiff bekommen hat.
Eine Trennung ist aber bereits unmöglich. über einen Zwischenaufenthalt im 30. Stockwerk gelangen sie ins 57. Stockwerk. Beide sehen ein, daß eine Trennung und eine Rückkehr ins alltägliche Leben unrealisierbar geworden ist. Der „gute Gott“ gibt das Signal zum Handeln. Billy und Frankie überreichen Jennifer eine Paketbombe, die aber nur sie tötet, da Jan gerade in einer nahegelegenen Bar ist. Die letzte Szene spielt wieder im Gerichtssaal; der Richter entläßt - in Einsicht seiner Intention- den angeklagten „guten Gott“ ohne Verurteilung.
Aufbau
„Der gute Gott von Manhattan“ ist ein analytisches Handlungsspiel, das im Rahmen eines Gerichtsverfahrens die zur Verhandlung stehenden Geschehnisse in Rückblenden lebendig macht. So ergeben sich zwei Spielebenen mit jeweils einem Aktionsstrang. Die äußere Aktion bildet das an Ort und Zeit gebundene Gericht mit zwei handelnden Personen, Richter und Angeklagter, was der Idealform des in den 50er Jahren geforderten hörspielgerechten Kammerspiels entspricht. In der Erzählebene der Gerichtsverhandlung werden alle erforderlichen Hinweise und Kommentare mitgeliefert.
Die Wahrheitsfindung steht der Rechtfertigung gegenüber, mit dem Ziel der Aufklärung der Tatmotive. Die innere Aktion ist die anfangs banale, dann immer außergewöhnlicher werdende Liebesbeziehung zwischen Jan und Jennifer. Diese spielt sich im Stadtkern von Manhattan ab. Die beiden Spielebenen werden formal durch eine Explosion verklammert. Damit kommen innere und äußere Entwicklung, Liebe und Gericht, gleichzeitig zur Auflösung. Vorher entsteht ein Spannungsfeld aus sachlicher Bestandaufnahme und emotionaler Verstrickung. Der kühlen Abschätzung der Tötungschancen steht eine steigende Unkontrollierbarkeit sexueller Zugeständnisse gegenüber.
Die Sprachgestaltung ist sehr straff und formal, die Liebenden führen einen hymnisch anmutenden Dialog, jedoch wirken die emotionalen Begegnungen sehr karg und nüchtern, fast abstrakt.
INTERPRETATION
Thematik
„Der gute Gott von Manhattan“ ist eine Geschichte von Liebe und Untergang und beinhaltet auch das schwermütige, verzweifelte Leiden am Wirklichen. Die Bedingungen unter denen die Liebe geschieht und die Voraussetzungen, an denen sie scheitert, sind exemplarisch für eine Generation, die mit dem Klischee der Sentimentalitäten nichts mehr anzufangen weiß.
Es gehört zu den literarischen, lyrisch-poetischen Hörspielen der 50er Jahre. Das Hörspiel ist durchdrungen von einem unerschütterlichen Glauben an Utopisch-Vollkommenes und soll das Absolute und Unbedingte zur Sprache bringen.
Das Hörspiel handelt von Idealen (besonders jenem der reinen, absoluten Liebe), die sich in der Welt nicht verwirklichen lassen; im Gegenteil: Ideale sind tödlich. Der Mensch träumt von ihnen, ihre Unerreichbarkeit ist eine schmerzliche Erfahrung für ihn. Ingeborg Bachmann beschreibt den Riss der Schöpfung, diese Tragik der menschlichen Existenz. Ingeborg Bachmann beschäftigt sich mit dem zeitlosen Thema der Liebe. Sie nimmt dabei berühmte Liebespaare wie Romeo und Julia oder Tristan und Isolde zum Vorbild, wie diese endet auch die Liebe von Jan und Jennifer in einer Katastrophe. Ingeborg Bachmann selbst meinte in einem Interview: „ Dieses Stück bezieht sich doch auf einen Grenzfall von Liebe, auf einen dieser seltenen ekstasischen Fälle, für die es tatsächlich keinen Platz in der Welt gibt und nie gegeben hat.“
Der Ort der Handlung
Wie in dem früheren Hörspiel „Die Zikaden“ wird auch hier für das Geschehen ein lokaler Hintergrund angegeben, der durch persönliche Reiseerfahrung der Autorin angeregt wurde. Aber es geht in diesem Stück nicht allein um den topographischen Aspekt. Manhattan ist zugleich bestimmend für das thematische Prinzip der von Stockwerk zu Stockwerk in die Höhe aufsteigenden Personen; es veranschaulicht die Entwicklung und Steigerung der Liebe von Jan und Jennifer. Es geht hier um ein Geschehen, das in der realen Gegenwart angesiedelt ist, inmitten eines modernen Babylons, der Stadt aller Städte: New York, ein idealer symbolischer Ort, da von extremer Einsamkeit bis zu überfülltheit alles möglich ist. Deutlich ist aber auch zuerkennen, daß der reale Ort zugleich hintergründig gemeint ist: Das Wort „Ma na Hat-ta“ ist indianischen Ursprungs und bedeutet „himmlische Erde“, ein Hinweis auf die Verbindung moderner alltäglicher Lebensform mit dem Grenzfall einer aus allen Normen fallenden Liebe, wie sie in dem Hörspiel dargestellt wird.
Die Liebe zwischen Jan und Jennifer
Jan und Jennifer leben ohne Probleme, unbelastet von der Vergangenheit, losgelöst von Glauben und Moral, von Althergebrachtem und sozialer Verpflichtung. Sie gehören keiner Gruppe an, deren Erwartungen sie erfüllen und deren Verurteilung sie befürchten müssen. Sie haben keine Zusammenstöße mit der Umwelt. Es gibt weder Haß noch Intrigen, keine Rache, Eifersucht, Verrat oder Mord, dennoch gehen die Liebenden zugrunde.
Die Liebe zwischen beiden tendiert zum Absoluten. Mit ihrer Liebe streben Jan und Jennifer nach dem irreversiblen Ausstieg aus der herrschenden Norm. Die Liebe, die das gesellschaftlich legitimierte Maß an gegenseitiger Zuneigung bewußt überschreitet, unterläuft damit die unausgesprochenen Konventionen des gesellschaftlichen Zusammenlebens.
Daß die Liebesbeziehung scheitert, liegt weniger an menschlichen Fehlern von Frau oder Mann. Die gesellschaftlichen Verhältnisse dieser feindlich gesinnte Gegenwelt der Liebenden, die einem Gott untersteht , verhindern die Realisation einer solchen absoluten Liebe. Liebende sprengen die Konventionen „in den Senkrechten und Geraden der Stadt“, deshalb sind sie zum Scheitern verurteilt. Denn einer solchen Liebe außerhalb aller Normen dieser Welt ist als einzige Konsequenz der Untergang bestimmt.
Die Liebe von Jan und Jennifer durchläuft alle Stadien von einer flüchtigen Reisebekanntschaft bis zu einer leidenschaftlichen, tiefen Liebe, bei der die beiden rettungslos aneinander verloren, ausbrechen aus den Fesseln von Raum und Zeit und allen Bindungen, in denen sie bisher lebten. Auf das Ende ihrer Beziehung wird bereits in der Bar angespielt; die Zigeunerin kann Jennifer nicht aus der Hand lesen, da sie bereits gezeichnet ist. Liebe wird als Kreuzigung dargestellt. Die Vollendung ihrer Liebe im Tod wird auch durch das Höhersteigen im Hotel, vom ersten bis in das 57. Stockwerk, symbolisiert. In dieser Höhe verliert sich letztendlich jeder Bezug zur Realität.
Jan braucht mehr Zeit, die bis zur letzten Hingabe orientierten Liebesleidenschaft Jennifers zu erreichen; auch er ist es, der trotz aller Beteuerungen für einen Augenblick rückfällig wird. Er tut am Ende einen kleinen Schritt, der nicht wieder gutzumachen ist. Dennoch ist es zumindest fragwürdig, wenn nicht abwegig, eine grundlegende Differenz beider Liebenden in dem Totalitätsanspruch ihres Gefühls herauszustellen. Es ist nicht einleuchtend, wenn man Jennifers Bereitschaft zu bedingungsloser Selbstäußerung als Ergebnis der „Machtausübung des Mannes“ deklariert, wie Peter Beicken es in seiner Studie über Ingeborg Bachmann getan hat. Die Frau ist hier keineswegs hineingedrängt in die Rolle der Hingabe, wie Beicken es meint. Auch wenn der Mann am Schluß nicht durchhält, kann durchaus nicht die Schlußfolgerung gezogen werden, er spräche im Augenblick seiner Liebesextase nur in „hohlen Phrasen“ und es handle sich in seinen äußerungen lediglich um „eine Sprachübung“. Es geht hier nicht um den gesellschaftlichen Einfluß im Rollenspiel von Frau, wie Beicken es behauptet hat. Sondern diese hier dargestellte Liebe ist in sich dem Untergang geweiht und geht an der in der Struktur der Welt liegenden Unmöglichkeit der Realisierbarkeit zugrunde geht. Wie die Dichterin selbst sagt, handelt es sich um einen jener Grenzfälle der Liebe, wie sie in den historischen Fällen von Tristan und Isolde, Romeo und Julia u. a. vergleichsweise veranschaulicht wird. Der eigentliche Grund des Untergangs liegt in der Gebrechlichkeit der Welt; in ihr kann das Absolute - absolute Liebe, absolute Treue, der „andere Zustand“ - nicht sein bzw. nicht dauern. Es ist nicht die Norm der Gesellschaft, sondern die Norm der menschlichen Existenz, gegen die eine solche absolute Liebe verstößt.
Der „gute Gott“
Der „gute Gott“ ist der Beschützer der Gesellschaftsordnung wie sie ist und bleiben soll. Er steht als Angeklagter vor Gericht, weil er alles vernichtet, was sie in Unordnung bringt. In diesem Sinne versteht er die Zerstörung der Liebe zwischen Jan und Jennifer als seine gute Tat. Das bedeutet eine Umkehrung der Wertekategorien. Aber nur so ist der Fortbestand der bestehenden Ordnung garantiert. Es darf keinen Platz geben für jene, die ihre Liebe nicht „im Gleichgewicht der Ordnung vollziehen“, sie werden eliminiert, damit „es Ruhe und Sicherheit gibt. ... und der Gang aller Dinge bleibt, den wir bevorzugen“. Deshalb heißt er wohl guter Gott. Der Verfechter der alten Ordnung wird möglicherweise auch in Parallelität zum Christengott zum Gott ernannt. Der Christengott überwacht den Gang der Dinge, die Menschen rufen ihn in ihren Gebeten um Rat an, und letztendlich entscheidet er über Leben oder Tod. Warum soll das dann dem „guten Gott von Manhattan“ nicht auch zugestanden werden, um damit die Sicherheit der Gesellschaftsordnung zu gewährleisten?
Doch es gibt eine Ambivalenz in der Figur des „guten Gottes“. Indem er Jennifer tötet, bewahrt er ihre große und außergewöhnliche Liebe vor der drohenden Verwandlung in eine gewöhnliche Alltagsbeziehung. Das ist durchaus eine gute Tat, aber nicht, um die alte Gesellschaft zu schützen.
Der „gute Gott“ sieht die Liebe als ansteckende Krankheit, die dazu führt, daß man die Herrschaft über den gesunden Menschenverstand und die Anpassung an das allgemein übliche verliert. Gegen diese Form der Ordnung würde die reine Form der Liebe verstoßen, denn in der Gesellschaft, die durch den Richter und den guten Gott symbolisiert ist, können zwei Menschen nicht ohne Ordnung, nur durch Liebe existieren.
Der „gute Gott“ beginnt zu handeln, als mit den Worten des Mannes „ Ich bin mit dir und gegen alles“ die Gegenzeit anbricht. Er ist der Hüter der Ordnung und des Gleichgewichts, und auch der verwirrte Richter muß ihm zustimmen, daß etwas anderes nicht möglich sei. Der Richter gewinnt seine Sicherheit erst wieder, als Jan zur Normalität zurückkehrt und somit auch zur Sicherheit. Der „gute Gott“, davon ist der Richter überzeugt, vertritt die Ordnung der Welt. Jan und Jennifer machen sich in seinen Augen schuldig, weil sie das bestehende Ordnungsgefüge durcheinander bringen.
Jan wird alleine dadurch gerettet, weil er rückfällig wird. Er verspürt plötzlich die Lust, in die Welt der Konvention zurückzukehren, während Jennifer im 57. Stockwerk stirbt. Auffallend ist jedenfalls, daß die Frau stirbt, während der Mann zum alltäglichen Leben zurückkehren kann.
Der „gute Gott“ steht und handelt zwar gegen den Totaliätsanspruch der Liebe, wie sie hier praktiziert wird; etwas anders jedoch scheint die außerhalb seiner Funktion bestehende Beurteilung des Sachverhalts zu sein, wenn wir einige seiner Bemerkungen aus den Verhörszenen zur Ergänzung heranziehen. Als er hört, daß Jan sich nach der Katastrophe nicht einmal die Zeit nimmt, Jennifer zu begraben, schließt sich an diese Information eine zumindest zweideutige Bemerkung des „guten Gottes“ an: „Nicht einmal begraben!“ Die Intensität dieser äußerung des „guten Gottes“ wird noch an einer anderen Stelle des Stückes gesteigert: „Nicht einmal begraben! Er verdient wirklich zu leben!“
Es ist äußerst fraglich, wenn man das Wort „verdient“ in dieser Stellungnahme positiv werten will; ein Anflug verächtlicher Ironie schwingt zweifellos mit. Es gibt noch eine weitere äußerung des „guten Gottes“, in der in den evozierten Bildern der Liebenden ein Schimmer der Verklärung spürbar ist: „Ich glaube, daß die Liebenden gerechterweise in die Luft fliegen und immer geflogen sind. Da mögen sie vielleicht in die Sternbilder versetzt werden.“
Nicht nur dieses Zitat, sondern auch andere Aussagen des guten Gottes veranschaulichen, daß er -trotz aller überzeugung von der Gefahr solcher Liebe für die Ordnung der Welt- in seinen Formulierungen die Sprache der Verurteilten spricht und nicht völlig auszuschließen vermag, daß es dennoch den Rang des Menschen ausmacht, nach dem Vollkommenen und Unmöglichen zu streben, ganz im Sinne der Dichterin, die dasselbe in ihrer Dankesrede für den Preis der Kriegsblinden aussagen wollte.
Die Eichhörnchen
Als Helfershelfer des „guten Gottes“ sind die Eichhörnchen im Hörspiel keineswegs possierliche Spaßmacher, sondern negativ belastet aus der Mythologie. Die Grausamkeit der Aktion wird auf sie übertragen. Dabei werden die Tiere zum Träger menschlicher Handlungsweisen. Sie werden als falsche Liebesboten benutzt, die die Vernichtung der Liebenden vorbereiten. Sie spionieren, legen Bomben, erdenken sich die phantasiereichsten Todesarten. Aber je mehr sie menschlich zu handeln glauben, desto deutlicher wird das Animalische in ihnen.
Die Eichhörnchen sind das verbindende Element zwischen der Welt und den losgelösten Liebenden. Sie nehmen aktive Charaktere ein und werden ganz gegen die üblichen Vorstellungen als blutrünstige Henker dargestellt, die dem „guten Gott“ gehorchen. In den Briefen der Eichhörnchen wird durch den stets enthaltenen Satz „Sag es niemand“ von Außenstehenden der Ausschließlichkeitsanspruch der Liebe zwischen Jan und Jennifer deutlich gemacht.
Was die Art der Verwendung der Eichhörnchen im Stück betrifft, so kann man sie auch als komisches äquivalent zu der tragischen Haupthandlung sehen, etwa mit Blick auf Shakespeare, der derbe Späße in die Handlung seiner Dramen einbaut, um die Spannung zu lockern. Das Tragische wird mit dem Komischen verbunden und dadurch erträglich. Als Figuren erinnern die Eichhörnchen auch an die Teufelchen in den Volkssagen. Der „Gute Gott“ streitet auch dem Richter gegenüber nicht ab, daß seine „Agenten“ gerüchteweise mit dem Bösen im Bund seien.
Gegenüberstellung "Der gute Gott" - Jennifer
Der „gute Gott“ repräsentiert die Realität/Welt, da man sein Wesen als rational und kühl bezeichnen kann, während Jennifer mit ihrem gefühlsorientierten Denken und Handeln und ihrem heißblütigen Charakter das Paradies/Traumwelt vertritt. Man kann den „guten Gott“ als hinterhältig, argwöhnisch und bespitzelnd beschreiben, da er die zwei Eichhörnchen als Spione einsetzt und nicht daran glaubt, daß die Beziehung der zwei Liebenden ein gutes Ende finden kann. Jennifer hingegen besitzt ein naives, verträumtes Wesen. Sie schwebt mit ihren Gedanken in anderen Sphären und vergißt die alltägliche Welt und Zeit um sich herum. Dazu kommt, daß sie an die bedingungslose, wahre Liebe glaubt und sich hingebungsvoll einer einzigen Sache oder einem einzigen Menschen widmen kann. Doch der „gute Gott“ ist im Gegensatz dazu ein Sinnbild für Vernunft, Normalität und Verantwortung. Er steht mit beiden Beinen fest im Leben und symbolisiert mit seiner konservativen, realistischen Einstellung den Durchschnittsbürger, der nur im Alltag lebt, wo es keinen Platz für Träume gibt.
Das Hörspiel entsteht 1957 und wird Ende Mai 1958 gesendet. Es erhält 1959 den Hörspielpreis der Kriegsblinden. Es ist Ingeborg Bachmanns drittes und letztes Hörspiel und setzt die Themen aus Ein Geschäft mit Träumen von 1952 und Die Zikaden von 1955 fort. Wieder lotet die Autorin die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten von Utopie aus. Kann es eine grenzüberschreitende Liebe geben? Gibt es utopisches Leben jenseits der Ordnung? In Der gute Gott von Manhattan wählt sie einen Grenzfall, wie sie selbst sagt, am Beispiel der Liebe zwischen Mann und Frau. Das Prinzip der Polyphonie als charakteristisches Stilmittel des Hörspiels zeigt sich deutlich in den intertextuellen Verweisen und den vielen Stimmen, die in diesem Hörspiel, teils anonym, auftauchen.
Jennifer und Jan lernen sich zufällig in New York kennen, es sind die 1950er Jahre. Auf der Insel Manhattan verbringen sie in leidenschaftlicher Liebe mehrere Tage im Hochsommer miteinander. Beide sind auf der Durchreise: Jan möchte nach Cherbourg zurück, Jennifer studiert in Boston Politikwissenschaften. Am Ende des ersten Tages - die beiden erkunden die Stadt - besorgt Jan ein Zimmer in einem Stundenhotel, Jennnifer lässt sich darauf ein. Auch die nächsten Tage flanieren sie durch die ihnen fremde Stadt, erkunden ihre Liebe zueinander und landen schließlich in immer höher gelegenen Hotelzimmern. Schließlich geht Jan los, um, wie er Jennifer sagt, seine Schiffspassage abzusagen, obwohl er weiß, dass er fahren wird. Ein Liebesverrat also, der ihn in eine Kneipe führt, in der er durch das Radio erfährt, dass in besagtem Hotel eine Bombe explodiert ist. Jennifer ist tot. Neben dieser in Rückblenden durch die beiden Liebenden erzählten Geschichte verläuft ein zweiter Erzählstrang: Der gute Gott von Manhattan steht vor Gericht und muss sich verteidigen. Er ist des Mordes an Jennifer angeklagt. Verbindungsfiguren zwischen den beiden Handlungssträngen bzw. den Figuren sind Eichhörnchen, die der gute Gott als seine Agenten und Spione bezeichnet. Dabei symbolisiert die Gottes-Figur nicht nur das allgemeingültige Ordnungsprinzip und damit das herrschende Gewaltverhältnis in einer patriarchalen Gesellschaft. Zugleich weiß er um die Unmöglichkeit, den Liebesanspruch der beiden in die Realität überführen zu können und will Jennifer deswegen vor der Tragik bewahren.
er weiblichen Figur wird die Rolle der selbstlos Liebenden zugewiesen, die bereit ist, sich selbst zu verleugnen, um die Liebe Jans zu gewinnen. Jan hingegen unterwirft die Frau seinem Anspruch; mittels Sprache und körperlicher Gewalt überträgt er gesellschaftspolitische Herrschaftsverhältnisse auf die Paar-Beziehung. Obwohl beide zurückschrecken vor dem Absoluten ihrer Liebe, das entgrenzend und anarchistisch ist, lassen sie sich darauf ein. Die Tragik ihrer Begegnung reiht sie ein in die kulturellen Vorgaben, auch der Liebesverrat steht in dieser Reihe. Bachmann jedoch spielt nicht nur die klassischen Liebessemantiken durch, sondern unterwandert und dekonstruiert sie als von Macht und Herrschaft geformt. Entgrenzung durch Liebe, aus der Ordnung kommen durch Liebe sind zwar Möglichkeiten, aber sie bleiben Utopie, wenn das Individuum nicht bereit ist, sich auf dieses existenzielle Experiment einzulassen. Am Ende bleibt die Ordnung, weil nur in ihr alles stattfinden kann, niemals außerhalb.
Der gute Gott von Manhattan weiß um dieses Dilemma und greift deswegen zum konventionellen Frauenopfer. Auch wenn Jan überlebt, bleibt er in der Mittelmäßigkeit zurück, weil ihm das (Selbst-)Entgrenzende nur mit Jennifer gelungen wäre. Damit rücken beide Positionen innerhalb der Ordnung noch einmal dichter aneinander.
Bachmann beschreibt in ihrem Hörspiel die Macht, die hinter der Liebe steht, und spielt die Formen durch, die den Menschen zur Verfügung stehen. Gleichzeitig benennt sie die Utopie, Neues entwickeln zu wollen, was aber nur mit den Mitteln des Alten, der überlieferten Ordnung, geht. Die Grenzen bleiben bei all dem bestehen, sie dehnen sich aus, aber sie sind nicht zu überwinden.