Marie von Ebner Eschenbach Die Spitzin


Marie von Ebner-Eschenbach: „Die Spitzin“

In der äußerst knapp gehaltenen, straff geführten Erzählung „Die Spitzin“ hat Marie von Ebner-Eschenbach an dem Findelkind Provi Kirchhof dargestellt, wie intensiv empfundenes Mitleid einen Menschen innerlich verwandeln und ihm die Kraft geben kann, in verantwor­tungsbewußtem Handeln seine Ichbefangenheit zu überwinden. Provi wächst in einer Welt voller Feindseligkeit und Mißgunst auf. Von Zigeunern in einem Dorf zurückgelassen, muß er, da alle Nachforschungen über seine Herkunft ergebnislos verlaufen, unter Menschen leben, die ihm in ihrer Hartherzigkeit jede Hilfe verweigern und ihn von vornherein in die Rolle des lästigen Außenseiters drängen. Das Erlebnis ständiger Diskriminierung, das zu den fundamentalen Erfahrungen seines Daseins gehört, prägt sein Verhältnis zur Umwelt. So ist sein Verhalten nicht etwa das Resultat angeborener Bös­artigkeit, sondern ungebrochener Reflex der von außen emp­fangenen Impulse:

Der Armselige lebte vom Abhub, kleidete sich in Fetzen - abgelegtes Zeug, ob von kleinen Jungen, ob von kleinen Mädchen galt gleich -, ging barhäup­tig und barfüßig, wurde geprügelt, beschimpft, verachtet und gehaßt und prügelte, beschimpfte, verachtet und haßte wieder.

Von allen Dorfbewohnern ist die Schoberwirtin die einzige, die Provi gegenüber so et­was wie Mitleid empfindet. Obwohl das, was sie für ihn tut, nur wenig im Vergleich zu dem ist, was aufgrund ihres Reichtums für ihn tun könnte - sie duldet ihn während sei­ner schweren Krankheit in ihrer Scheune und versorgt ihn jeden Morgen mit einem Krug Milch -, ist diese Geste der Freundlichkeit inmitten von Haß, Verachtung und Gleichgültigkeit etwas Unge­wöhnliches.

Doch da Provi aufgrund der negativen Erfahrungen, die er im Umgang mit seinen Mit­men­schen gemacht hat, die Handlungsweise der Wirtin nicht richtig einzuordnen ver­mag und das Wertvolle daran verkennt, ist es ihm auch nicht möglich einzusehen, daß sein auf Konfrontation abgestelltes Verhalten, das bisher zur Selbsterhaltung notwendig war, ihr gegenüber unangebracht ist und den neuen Beziehungen auf die Dauer nur schaden kann. So leitet er von ihrer Güte bald einen Anspruch her:

Pünktlich um fünf fand er sich ein, blieb er auf der Schwelle der Wirts­stube stehen und rief: Mei Müalch! Er bekam das Verlangte und ging seiner Wege.

Als die Schoberwirtin auf Geheiß ihres Mannes die tägliche Milchzuteilung von Provis Bereitschaft, darum zu bitten, abhängig macht, reagiert dieser mit Trotz. Weil er nie zu bitten gelernt hat und ihr Ansinnen für Schikane hält, zieht er es vor, zu verzichten als sich durch Nachgeben eine vermeintliche Blöße zu geben. Dabei fühlt er sich durch die neuge­wonnene Erkenntnis, Macht ausüben zu können, für diesen Verlust reichlich ent­schädigt:

Sie blieb dabei, ob es ihr auch schwer wurde. Wie schwer, sah Provi wohl, und es war ihm ein Genuß, eine Befreiung seiner Lumpeneitelkeit. Ihm, dem Ausgestoßenen, dem Namenlosen, war Macht gegeben, der reichsten Frau im ganzen Orte Stunden zu trüben und die Laune zu verderben. Sie blickte ihn mit Bekümmernis nach, wenn er ohne Gruß an ihrer Tür vorüberging, zur Arbeit in den Steinbruch.

Provis Bedürfnis nach Macht entspricht seinem Wunsch nach Selbstbestätigung. Nur wenn er zeitweilig die Rollen vertauschen und die erlittenen Quälereien und Demüti­gungen weitergeben kann, indem er andere stellvertretend für sich leiden läßt, ist es ihm möglich, sich mit der Situation permanenter Unterdrückung wenigstens teilweise auszusöhnen. Da Macht proportional zu Wehrlosigkeit der Opfer wächst und da Tiere besonders dankbare Objekte für die Zurschaustellung einer Überlegenheit abgeben, begünstigt Provi die Tier­quälereien, mit denen sich die verwahrlosten Söhne seines Arbeitgebers, eines am Rande der Gesellschaft lebenden Wegemachers, die Zeit vertrei­ben:

Die fünf Wegemacherbuben konnte der Auswürfling nichts Böses lehren, sie wußten ohnehin schon alles und waren besonders Meister in der Tierquäle­rei. Die Ziegen, Kaninchen, die Hühner, die ihnen unter­tan waren, und er Haushund, die unglückliche Spitzin, gaben Zeugnis davon, ihre Narben erzählten davon und ihre beschädigten Beine und ihre gebrochenen Flügel. Provi fand sein Ergötzen an dem Anblick der Roheit, den er jetzt stündlich genießen konnte. er fing für die kleineren der Buben Vögel ein und gab sie ihnen „zum Spielen“ und diese Opfer konnten von Glück sagen, wenn sie kein allzu zähes Leben hatten.

Am meisten aber hat die Spitzin unter der Grausamkeit der Jungen zu leiden. Obwohl sie durch die jahrelangen Mißhandlungen böse und mißtrauisch geworden ist und inso­fern eine gewisse Parallele zu Provi bildet, ist sie doch nicht mißtrauisch genug, um von diesem nicht überlistet werden zu können. Indem er mit vorgetäuschter Freund­lichkeit ihren Argwohn beschwichtigt und ihr Zutrauen gewinnt, gibt er Anton, dem ältesten Sohn des Wegema­chers, Gelegenheit, drei ihrer neugeborenen Jungen zu entwenden, um sie im See zu erträn­ken. Dieses Ereignis bleibt nicht ohne Folgen. Da sich die Spitzin mit dem Verlust ihrer Jungen nicht abfinden kann und ihr Lager nur durch ein Bretterverschlag von dem Provis getrennt ist, muß dieser wochenlang mitanhören, wie sie auf der verzweifelten Suche nach ihnen den ganzen Stall durchstöbert. Die stumme Anklage, die von ihrem unaufhörlichen Scharren, Kratzen und Winseln ausgeht, schreckt Provi aus seiner phlegmatischen Ruhe auf:

Und ihr Trippeln weckte ihn, an dem früher die brüllenden Rinderher­den vorübergezogen waren, ohne ihn im Schlafe zu stören. Wenn er schlief, schlief er, verschlief Hunger und Müdigkeit; dazu vor allem brauchte er den bombenfesten Schlaf, um den er plötzlich gekommen war, denn jetzt schrak er auch beim Herumgehen und Schnüffeln der Alten. Und kalte Schweiß­tropfen liefen ihm über die Stirn in der „Baracken“, der den ganzen Tag die Sonne aufs Dach schien und in der es so heiß war, daß es in der Hölle nicht heißer sein konnte ... Ob das auch mit rechten Dingen zuging, ob nicht etwas Übernatürliches dahin­tersteckte?

Das unbestimmte Gefühl, etwas Unrechtes getan zu haben, versetzt Provi in einen Zu­stand dumpfer Angst. Anstatt sich aber zu seiner Schuld zu bekennen und sich mit ihr auseinan­derzusetzen, drängt er jeden Gedanken daran zurück und versucht, das Gefühl der Unbe­haglichkeit in erhöhter Aggressivität zu ersticken. von den wochenlangen nächtlichen Ruhe­störungen innerlich zermürbt, schlägt er eines nachts in einem Anfall blinder Wut solange um sich, bis „ein kurzes, klägliches - ein anklagendes Geheul“ ihm anzeigt, daß er die Spit­zin getroffen haben muß.

Berührt ihn am nächsten Morgen der Gedanke, die Spitzin möglicherweise getötet zu haben, nur insofern, als er die Strafe des Wegemachers fürchtet, der jeden Eingriff in sein Eigentum unnachsichtig ahndet, so vergißt Provi einen Augenblick später bei dem Anblick, der sich ihm bietet, die Sorge um die eigene Sicherheit. Zum ersten Mal in seinem Leben wendet er sich vorbehaltlos einem anderen Geschöpf zu. Sterbend ver­traut die Spitzin, die seine freundliche Geste von einst nicht vergessen zu haben scheint, das einzig ihr verbliebene Junge seiner Obhut an, indem sie es zu Füßen legt:

Und ihr Auge hatte eine Sprache, beredter als jede Sprache, die die schön­sten Worte bilden kann. Sie äußerte ein grenzenloses Vertrauen, eine fle­hentliche Bitte, und man mußte sie verstehen. Wie das Sonnen­licht durch die geschlossenen Lider Provis gedrungen war, so drang der Aus­druck dieses Auges durch den Panzer, der bisher jede gute Re­gung von der Seele des Buben ferngehalten hatte.

Diese Erlebnis führt die innere Wandlung Provis herbei. Da er im Umgang mit den Men­schen Liebe und Vertrauen nie als Realität erlebt hat, steht er der Tatsache, daß die Spitzin noch im Tode für ihr Junges sorgt und es ihrem Mörder anvertraut, fassungslos gegenüber. Er wird von einem Gefühl grenzenlosen Mitleids überwältigt, das seine seelische Verkramp­fung löst und das er als eine „fremde, unwiderstehliche Macht“ erlebt, weil es aus bisher verschlossenen Tiefen seines Ich hervorbricht. Mit der Erkenntnis, durch sein brutales Vor­gehen schwere Schuld auf sich geladen zu haben, erwacht in Provi die Verantwortung und das Bedürfnis, sein Unrecht soweit wie möglich wiedergutzumachen. Dies führt zu einem inneren Konflikt. Die einzige Möglichkeit, das verwaiste Junge vor dem Tode des Verhun­gerns zu retten, wäre ein Bittgang zur Schoberwirtin, dem jedoch Provis Stolz als ein schier unüberwindliches Hindernis im Wege steht. Denn ein solcher Schritt würde bedeuten, daß er in einem Machtkampf unterläge, den er mit großer Beharrlichkeit und Erbitterung geführt hat. Doch kann sich Provi auf die Dauer der veränderten Situation nicht verschließen. Da die egoistischen Motive, die einst sein Handeln bestimmten, durch das Mitleid, das er nun empfindet, relativiert werden, verliert auch der bisher unerträgliche Gedanke an eine solche Niederlage an Bedeutung und Schärfe. Er sieht ein, daß das, was er sich selbst zugemutet hat, nicht ohne weiteres auf andere übertragbar ist:

Freilich dämmerte ihm eine Erkenntnis auf, von der er gestern keine Ahnung gehabt hatte - verhungern lassen ist noch etwas ganz anderes als verhun­gern.

Provi ringt sich schließlich zu dem Entschluß durch, die Konsequenzen aus dieser Einsicht zu ziehen und seine ehemalige Wohltäterin um Hilfe zu bitten. Dieser Sieg über sich selbst, mit dem er beweist, daß der Wille, für das ihm anvertraute Leben zu sorgen, stärker ist als der Wunsch, auf seinen Interessen zu beharren, ist ein Anzeichen dafür, daß seine innere Wandlung nicht im Stadium bloßer Emotionalität steckenbleibt, sondern auch im korrekten Handeln wirksam wird. Provis Selbstüberwindung stellt einen Akt der Befreiung dar. Gemessen an seiner langjährigen Entwicklung bedeutet seinen Entscheidung, sich in selbst­loser Weise für ein hilfloses Geschöpf einzusetzen, ein Novum, mit dem er jene Umwelteinflüsse überwindet, als deren Produkt er anfangs erschien. Da Provi mit dieser Entscheidung Werte verwirklicht, die für die Menschen seiner unmittelbaren Umgebung keinerlei Verbindlichkeit besitzen, ist seine Handlung ebensowenig Nachvollzug einer durch geltende Normen geforderten Verhaltensweise. Sie ist vielmehr auf seine angeborene Fähig­keit, Mitleid zu empfinden, zurückzuführen und daher schöpferischer Akt seiner autonomen Persönlichkeit.



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