Vance, Jack Start Ins Unendliche

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Planet der gelben Sonne

(CITY OF THE CHASCH)

von Jack Vance



1.


An der einen Seite von Explorator IV flackerte ein nicht sehr heller, alternder Stern, Carine
4269; an der anderen hing ein einzelner Planet, grau-braun unter einer schweren
atmosphärischen Decke. Der Stern fiel nur auf, weil sein Licht fast honigfarben war. Der
Planet schien etwas größer zu sein als die Erde und wurde von zwei kleinen, schnellen
Monden umkreist. Es war ein fast typischer Himmelskörper der Klasse K2, ein nicht sehr
auffälliger Planet, für die Männer an Bord von Explorator IV aber faszinierend und
geheimnisvoll.
Commander Marin, Chefoffizier Deale und Zweiter Offizier Walgrave standen im vorderen
Kommandoraum. Die drei Männer trugen die gleiche weiße Uniform, waren groß und schlank
und kannten einander so gut, daß sie sogar ihre Gedanken fast auf die gleiche, ein wenig
sarkastische und dabei witzige Art zum Ausdruck brachten. Mit ihren Scanskopen —
Fotoferngläser von ungeheurer Reichweite und Vergrößerung — versuchten sie den Planeten
zu erkunden.
„Scheint ein bewohnbarer Planet zu sein", meinte Walgrave. „Diese Wolken bestehen sicher
aus Wasserdampf."
„Wenn eine Welt irgendwelche Signale ausschickt", sagte Chefoffizier Deale, „nehmen wir
automatisch an, er sei bewohnt. Bewohnbarkeit scheint die notwendige Konsequenz der
Bewohntheit zu sein."
Commander Marin lachte dazu.
„Eure sonst unfehlbare Logik stimmt hier nicht. Wir sind im Augenblick zweihundertzwölf
Lichtjahre von der Erde entfernt. Die Signale haben wir vor zwölf Lichtjahren empfangen;
also waren sie vor zweihundert Jahren ausgesandt worden. Ihr erinnert euch doch daran, daß
sie abrupt abbrachen. Diese Welt hier mag bewohnbar sein; sie mag bewohnt sein; sie kann
sogar beides sein. Es ist aber noch gar nicht gesagt, daß sie auch nur eines von beiden ist."
Deale nickte halb, und halb schüttelte er den Kopf. „Auf dieser Basis können wir dessen nicht
einmal sicher sein, daß die Erde bewohnt ist. Die uns zur Verfügung stehenden dürftigen Be-
weise ..."
Bip bip machte das Bordsprechgerät. „Ja?" rief Commander Marin.
Dant, der Nachrichtentechniker, betrat den Kommandoraum. „Ich habe eben ein
Schwankungsfeld festgestellt. Wahrscheinlich ist es künstlich, aber ich kann mich nicht
einschalten. Vielleicht ist es eine Art Radar."
Marin zog die Stirn in Falten und rieb mit den Handknöcheln seine Nase. „Ich schicke die
Pfadfinder hinunter. Dann ziehen wir uns zurück."
Marin gab ein Kodewort und erteilte den beiden Pfadfindern seine Befehle. „So schnell wie
möglich. Wir sind entdeckt. Rendezvous im System Achse, aufwärts, Punkt D wie in Deneb."
„In Ordnung, Sir. System Achse, aufwärts, Punkt D wie Deneb. Wir brauchen drei Minuten."
Marin ging zum Makroskop und untersuchte die Oberfläche des Planeten. „Da ist ein Fenster
in ungefähr 3000 Angström. Gar nicht gut. Die Pfadfinder haben einiges zu tun."
„Bin ich froh, daß ich niemals als Pfadfinder ausgebildet wurde", erklärte der Zweite Offizier
Walgrave. „Sonst würde man mich auch auf unbekannte und höchstwahrscheinlich
grauenhafte Planeten hinunterschicken."

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„Ein Pfadfinder wird nicht ausgebildet", belehrte ihn Deale, „ihn gibt es eben. Halb Akrobat,
halb verrückter Wissenschaftler, halb Betrüger, halb..."
„Du hast ein paar Hälften zuviel."
„Kommt trotzdem noch lange nicht hin. Ein Pfadfinder ist ein Mann, der den Wechsel liebt.
Das Abenteuer."

*


Die Pfadfinder in der Explorator IV hießen Paul Waunder und Adam Reith. Beide waren
findig und äußerst zäh. Reith, von etwas mehr als durchschnittlicher Größe, war dunkelhaarig,
hatte eine breite Stirn, ausgeprägte Backenknochen und fast hagere Wangen, an denen
manchmal ein Muskel zuckte. Waunder war untersetzt, hatte dünne, blonde Haare, und sein
Gesicht war viel zu durchschnittlich, als daß es beschrieben werden könnte. Er war ein paar
Jahre älter als Reith, doch dieser stand im Rang über ihm und war der Kommandant des
Pfadfinderbootes. Dieses Boot war ein Miniaturraumschiff von etwa zehn Metern Länge und
hing hinten unter dem Rumpf des Mutterschiffes.
In etwas mehr als zwei Minuten waren sie an Bord des Pfadfinderbootes. Waunder ging zu
den Instrumenten; Reith verschloß die Luke und drückte auf die Auslöseknöpfe. Das Beiboot
löste sich von dem großen, schwarzen Schiff. Reith nahm seinen Sitz ein, und in diesem
Augenblick bemerkte er aus dem äußersten Augenwinkel heraus eine Bewegung. Ein graues
Projektil schoß aus der Richtung des Planeten heran; dann wurden seine Augen von einem
purpur-weißen Wirbel geblendet.
Ihr kleines Schiff torkelte, als sich Waunder krampfhaft an die Drosselventile klammerte und
das Pfadfinderboot schnurstracks auf den Planeten zuraste.
Wo die Explorator IV durch den Raum gezogen war, trieb nun ein seltsamer Gegenstand: die
Nase und das Heck eines Raumschiffes mit ein paar Metallstreben und einem großen Abstand
dazwischen, durch den die alte, honiggelbe Sonne Carina 4269 brannte. Zusammen mit der
Mannschaft und den Technikern waren der Commander Marin, der Chefoffizier Deale und
der Zweite Offizier Walgrave dahintreibende Atome von Kohlen-, Sauer- und Wasserstoff
geworden, und ihre Persönlichkeiten, ihre knappe Art und ihr Witz gehörten nun der
Geschichte an.


2.


Das Pfadfinderboot torkelte dem graubraunen Planeten entgegen, und Adam Reith und Paul
Waunder wurden in der Kabine von einem Schott zum anderen geschleudert.
Reith war nur halb bewußtlos, und es gelang ihm, irgendwo Halt zu finden. Er schob sich zum
Instrumentenbrett und hieb auf den. Schalter für den Stabilisator. Die Windmühlenbewegung
hörte auf. Reith und Waunder zogen sich auf ihre Sitze und schnallten sich fest. „Hast du das
auch gesehen, was ich gesehen habe?" fragte Reith.
„Einen Torpedo."
Reith nickte. „Der Planet ist bewohnt."
„Die Einwohner sind ein bißchen unfreundlich, möchte ich sagen. Kein sehr herzlicher
Empfang."
„Ja, wir sind auch sehr weit weg von zu Hause." Reith prüfte die toten Skalen und
Kontrollichter. „Nichts scheint mehr zu stimmen. Wenn ich nicht ein paar schnelle
Reparaturen durchführen kann, werden wir abstürzen." Er hinkte zum Maschinenraum. Die
Ersatzenergiezelle war ein Chaos von lose hängenden Kabeln, gebrochenen Kristallen und
geschmolzenen Fassungen.

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„Reparieren kann ich's schon", erklärte Reith, als Waunder sich den Schaden besah, „in zwei
Monaten, wenn ich Glück habe. Vorausgesetzt, daß die Ersatzteile in Ordnung sind."
„Ist ein bißchen lang", meinte Waunder dazu. „Ich würde sagen, wir haben noch zwei Stunden
Zeit, bis wir in die Atmosphäre eintauchen."
„Na, dann aber 'ran an die Arbeit."
Eineinhalb Stunden später besahen sie sich zweifelnd und unzufrieden ihr Werk. „Wenn wir
einigermaßen Glück haben, landen wir in einem Stück", sagte Reith düster. „Nun, dann fange
mal an und füttere die Dinger. Ich passe auf, was geschieht."
Eine Minute verging. Die Bremsdüsen summten, und Reith spürte die Abnahme der
Geschwindigkeit. „Wie sieht's aus?" fragte er, als er zu einem Sitz zurückkehrte.
„Nicht allzu schlecht. In ungefähr einer halben Stunde tauchen wir mit etwas weniger als der
kritischen Geschwindigkeit in die Atmosphäre ein. Wir können weich landen — hoffentlich.
Das ist meine Meinung für die allernächste Zeit. Darüber hinaus sieht's nicht sehr rosig aus."
Der Planet unter ihnen wurde größer und größer: eine Welt mit gedämpften und dunklen
Farben. Jetzt konnten sie auch die Kontinente und Ozeane erkennen, die Wolken und Stürme;
es war die Landschaft einer alternden Welt.
Die Atmosphäre pfiff um das Boot, und die Temperaturskala stieg rasch bis zur kritischen
Marke.
Reith jagte etwas mehr Energie durch die geflickten Stromkreise. Das Boot wurde langsamer,
die Nadel zitterte zurück auf einen normalen Stand. Im Maschinenraum knackte etwas, und
wieder stieg die Fallgeschwindigkeit erheblich an.
„Sind wir also wieder soweit", stellte Reith fest. „Jetzt kommt's auf die Tragflächen an. Wir
ziehen wohl besser den Schleuderanzug an." Er schwenkte die Seitenstummel aus, verlängerte
Höhen- und Seitenruder, und das Boot ging aus dem freien Fall in den Steilflug über.
„Wie sieht die Atmosphäre aus?" erkundigte er sich.
Waunder las die Zahlen vom Analysator ab. „Atembar. Ähnlich der Erdatmosphäre."
„Wenigstens ein Vorteil."
Durch ihre Scanskope konnten sie nun Einzelheiten erkennen. Unter ihnen lag eine weite
Ebene oder Steppe, auf der sich da und dort eine Erhebung oder etwas Vegetation
abzeichnete. „Kein Anzeichen von Zivilisation", sagte Waunder. „Jedenfalls dort unten nicht.
Vielleicht dort drüben am Horizont, diese grauen Flecken ..."
„Wenn wir das Boot gut herunterbringen und wenn uns niemand stört, während wir das
Kontrollsystem reparieren, dann sind wir fein heraus... Aber diese Stummel reichen zu einer
schnellen Landung einfach nicht aus. Wir täten wohl besser daran, uns so langsam wie
möglich hinunterzuschwindeln und uns im letzten Augenblick hinauszukatapultieren."
„Genau", meinte Waunder dazu und deutete auf einen dunklen Fleck. „Das sieht wie ein Wald
aus. Jedenfalls Vegetation. Der ideale Fleck für eine harte Landung."
„Runter damit", antwortete Reith.
Die Landschaft raste ihnen entgegen. „Wir zählen bis drei", sagte Reith, „und dann nichts wie
raus." Er bremste, so gut es ging, um das Boot in Horizontallage zu bringen. „Eins ... zwei...
drei. Raus!"
Die Katapulttüren öffneten sich, und die Sitze wurden hinausgeschleudert.
Reith kam sofort frei. Aber wo war Waunder? Reiths Fallschirm öffnete sich, und er pendelte
daran hin und her. Dann schlug er gegen einen schwarzen, glänzenden Baumast und hing
betäubt in den Gurten seines Fallschirms; das Boot brach durch die Bäume und durchpflügte
einen Sumpf. Paul Waunder hing bewegungslos in seinem Schleuderanzug.
Schweigen; nur das Knirschen heißen Metalls und ein schwaches Zischen von irgendwo unter
dem Boot.
Reith hing etwa fünfzehn Meter über dem Boden in einem Baum mit glänzenden, schwarzen
Ästen und sprödem, schwarzem Laub. Er konnte hinübersehen zu dem mit Gebüschen
durchsetzten Sumpfgelände, wo das Boot auf dem Bauch lag. Waunder hing mit dem Kopf

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nach unten aus der Schleuderluke, das Gesicht nur eine Handbreit vom Boden entfernt. Wenn
das Boot weiter in den Sumpf einsank, mußte Waunder ersticken, falls er noch am Leben war.
Reith versuchte sich fieberhaft aus seiner Schleudergarnitur zu befreien; vor Schmerz wurde
ihm übel. In den Händen hatte er keine Spur Kraft, und wenn er die Arme hob, knackte es in
den Schultern. Er konnte sich nicht einmal selbst befreien, geschweige denn Waunder helfen.
War er tot?
Im Schleudersitz befand sich eine Notausrüstung mit Waffen und Werkzeugen. Es mußte ihm,
Reith, unbedingt gelingen, die Schnalle zu erreichen, um den Schleudersitz aufmachen und
Messer und Seil herausnehmen zu können.
Nicht allzu weit weg schlug Holz gegen Holz. Reith blieb regungslos hängen. Eine Gruppe
Menschen mit phantastisch langen Rapieren und schweren Handkatapulten marschierte unten.
Reith glaubte an Halluzinationen.
Das dort unten waren richtige Menschen mit herben, strengen Gesichtern, honiggelber Haut,
blond, blond-braun, blond-grau und mit buschigen Hängeschnurrbärten. Ihre Kleider
bestanden aus losen Hosen, gestreiften dunkelblauen oder dunkelroten Hemden, Westen aus
gewebten Metallstreifen und kurzen, schwarzen Umhängen. Die Hüte waren aus schwarzem
Leder, faltig und verbeult, mit aufgestellten Ohrklappen und einem etwa zehn Zentimeter
hohen Silberemblem an der Vorderseite eines sehr hohen Kopfes. Verwirrt beobachtete Reith
die Fremden.
Leise und heimlich bewegten sie sich vorwärts; im Schatten blieben sie stehen, um das Boot
anzusehen, und dann trat der junge Anführer, der jüngste der Krieger und kaum mehr als ein
bartloser Jüngling, aus dem Schatten heraus und blickte zum Himmel hinauf. Bei ihm standen
drei ältere Männer, die an ihren Hüten Kugeln aus rosa und blauem Glas trugen, und suchten
ebenfalls den Himmel ab. Dann gab der Junge den anderen ein Zeichen, und alle näherten sich
dem Boot.
Paul Waunder machte einen schwachen Versuch, grüßend die Hand zu heben. Einer der
Männer mit den Glaskugeln riß sein Katapult in die Höhe, aber der Junge schrie einen
wütenden Befehl, und die Männer drehten sich mißmutig um. Einer der Krieger schnitt die
Fallschirmleinen ab, und Waunder fiel auf den Boden. Wieder rief der Junge Befehle;
Waunder wurde aufgehoben und zu einem trockenen Fleck getragen.
Jetzt wandte sich der Junge dem Raumboot zu; er kletterte den Rumpf hinauf und lugte durch
die Schleuderöffnungen hinein. Die älteren Männer mit den rosa und blauen Kugeln gingen
zurück in den Schatten, murmelten miteinander und warfen finstere Blicke zu Waunder
hinüber. Einer von ihnen griff an sein Emblem; dann stakste er zu Waunder, beugte sich über
ihn, zog sein Rapier und ließ es niederzucken. Reith blickte entsetzt auf die Szene.
Der Junge schien die Tat zu spüren und wirbelte herum. Er schrie wütend auf, rannte mit
gezogenem Rapier auf den Mörder zu und schlug ihm das Emblem vom Hut. Er hob es auf,
stach mit einem Messer zornig darauf ein, warf dem Mann das unförmige Ding aus weichem
Silber vor die Füße und spie ihm einen Schwall giftiger Worte entgegen. Der Mörder bückte
sich, hob das Ding auf und schlich davon.
Aus großer Entfernung war Geschrei zu hören. Die Krieger stießen ebenfalls Schreie aus und
zogen sich rasch in den Wald zurück.
Ein Flugzeug erschien; es blieb erst eine Weile in der Luft stehen und senkte sich dann.
Es war ein Luftfloß von gut fünfzehn Metern Länge und etwa der halben Breite und wurde
von einem reichgeschmückten Heckturm aus gesteuert. An Bug und Heck baumelten riesige
Laternen von verschnörkelten Pfosten Um das Schanzkleid führte eine Balustrade, auf der
sich etwa zwei Dutzend Passagiere drängten.
Fasziniert beobachtete Reith, wie das Luftfloß neben dem Boot landete. Die Passagiere
sprangen rasch ab; es waren zwei Arten — Menschen und Nichtmenschen, wenn auch der
Unterschied nicht leicht festzustellen war. Die Nichtmenschen — Blaue Chasch, wie Reith
später erfuhr — liefen auf kurzen, dicken, steifen Beinen. Die Körper dieser Wesen waren

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massiv und kräftig und geschuppt und die Schuppen liefen in blauen Spitzen aus. Der Torso
war keilförmig und hatte über den Schultern einen nicht vom Skelett gestützten Chitinpanzer,
der in ein Rückenschild überging. Der Schädel lief spitz zu. Eine knochige Stirn stülpte sich
über die Augenhöhlen — es waren glitzernde, metallische Augen — und die kompliziert
geformten Nasenlöcher. Die Menschen glichen den Blauen Chasch, soweit es der
Rassenunterschied zuließ, denn auch sie waren klein, breit und hatten Säbelbeine. Die
Gesichter sahen aus, als habe man sie zusammengepreßt, und sie waren nahezu kinnlos. Die
hohen, spitzen Schädel schienen falsch zu sein, und sie wölbten sich über die Stirnen. Die
Hosen und Jacken waren mit Schuppen bedeckt.
Chasch und Chaschmenschen liefen zum Raumboot und verständigten sich dabei mit kehligen
Schreien. Einige kletterten hinauf und lugten hinein, andere untersuchten den toten Paul
Waunder, den sie dann schließlich aufhoben und in das Luftfloß brachten.
Aus dem Kontrollturm kamen Alarmrufe. Blaue Chasch und Chaschmenschen sahen in den
Himmel hinauf und schoben dann eiligst das Luftfloß unter die Bäume. Die kleine Lichtung
lag wieder verlassen da.
Minuten vergingen. Reith schloß die Augen und hoffte, es möge alles nur ein böser Traum
gewesen sein und er wache an Bord der guten alten Explorator auf.
Das Tuckern von Maschinen riß ihn aus seinem Halbschlaf. Vom Himmel sank ein anderes
Fahrzeug: ein Luftschiff, das ebensowenig wie das Luftfloß nach aerodynamischen
Richtlinien gebaut war. Es gab drei Decks, eine zentrale Rotunde, Balkone aus schwarzem
Holz und Kupfer, einen verschnörkelten Bug, Beobachtungskuppeln, Schießscharten und eine
senkrechte Flosse, die schwarzgoldene Insignien trug. Das Schiff blieb eine Weile über dem
Raumboot stehen, bis die Neugierigen am Deck genug davon gesehen hatten. Einige der
Beobachter waren nichtmenschliche, große, hagere Wesen, völlig haarlos und
pergamentfarbig, aber mit sparsamen, langsamen, eleganten Bewegungen. Andere, ihnen
offensichtlich untergeordnet, waren Menschen, obwohl sie ebenso groß, hager, haarlos,
langarmig und -beinig waren und magere Schafsgesichter, kahle Köpfe und betont elegante
Bewegungen hatten.
Beide Rassen trugen kunstvoll gearbeitete Gewänder mit Bändern, Säumen, Falbeln und
Schärpen. Später erfuhr Reith, daß die Nichtmenschen Dirdir und die ihnen unterstellten Men-
schen Dirdirmenschen genannt wurden. Jetzt war er noch betäubt von dem abgrundtiefen
Unglück, das ihn getroffen hatte, und bemerkte das großartige Luftschiff der Dirdir mit kaum
mehr als uninteressiertem Staunen. Aber es sickerte trotzdem irgendwie in ihn hinein, daß
dieses lange, blasse Volk oder ihre Vorgänger auf dem Schauplatz wohl sein Mutterschiff
zerstört hatten und auch Zeugen des Absturzes seines kleinen Bootes geworden waren.
Dirdir und Dirdirmenschen untersuchten das Raumboot mit verständigem Interesse. Einer von
ihnen deutete auf die Spuren des Luftfloßes der Chasch, und diese Entdeckung löste einige
Geschäftigkeit aus. Stöße purpur-weißer Energie schossen aus dem Wald; Dirdir und
Dirdirmenschen krümmten sich und fielen zu Boden. Chasch und Chaschmenschen feuerten
mit Handwaffen, und einige Chaschmenschen kamen angerannt und hieben Enterbeile in das
Schiff.
Die Dirdir feuerten ihre Handwaffen ab, aus denen violette Flammen und Wirbel
orangefarbenen Plasmas schössen. Das Schiff der Dirdir versuchte abzuheben, wurde aber
von den Enterbeilen zurückgehalten. Die Dirdirmenschen hackten mit Messern und schossen
mit Energiepistolen, bis das Schiff endlich freikam, worüber die Chasch in enttäuschtes
Kreischen ausbrachen.
Aus etwa dreißig Metern Höhe schossen die Dirdir mit ihren Plasmastrahlern breite Schneisen
in den Wald, konnten aber das Luftfloß nicht zerstören. Nun schossen die Chasch mit ihren
großen Mörsern. Das erste Geschoß ging daneben, das zweite traf das Luftschiff unter dem
Rumpf, so daß es ins Taumeln kam, einen Satz nach oben tat, nach rechts und links ausbrach
und sich schließlich auf den Rücken legte, worauf Dirdir und Dirdirmenschen wie tote

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Mücken herunterfielen. Endlich verschwand es mit einem Haken von Süd nach Ost.
Chasch und Chaschmenschen kamen nun heraus und sahen dem Dirdirschiff nach. Das
Luftfloß wurde herausgeschoben und blieb über dem Raumboot stehen. Enterbeile wurden
eingeschlagen, und man hob das Boot aus dem Sumpf. Chasch und Chaschmänner kletterten
an Bord des Floßes; es hob sich in die Luft, bog nach Nordosten ab und hatte unter sich das
Raumboot hängen.
Es verging einige Zeit; Reith hing fast bewußtlos in seinen Schleudergurten. Die Sonne
verschwand hinter den Bäumen; Dämmerung senkte sich über die Landschaft.
Die Barbaren erschienen erneut. Sie untersuchten die Lichtung, sahen zum Himmel hinauf
und wandten sich zum Gehen. Reith gab einen heiseren Schrei von sich und der junge Krieger
erteilte Befehle. Zwei Männer kletterten auf den Baum, schnitten die Fallschirm-
schnüre ab und ließen den Schleudersitz mit Reiths Notausrüstung im Baum hängen.
Man ging nicht allzu sanft mit Reith um, als man ihn auf den Boden hinabließ. Ihm wurde vor
Schmerz schwarz vor den Augen. Gestalten beugten sich über ihn. Er hörte stampfende
Geräusche und spürte das Schwingen von Schritten. Dann wurde er ohnmächtig.


3.


Stimmengemurmel und das Flackern eines Feuers weckten Reith aus seiner Bewußtlosigkeit.
Über ihm war eine Art Baldachin, links und rechts davon ein Himmel voll seltsamer Sterne.
Reith lag auf einer Matte aus gewebten Binsen, die einen säuerlichen Geruch ausströmten.
Das Hemd hatte man ihm ausgezogen. Ein Panzer aus Weidenruten stützte seine gebrochenen
Knochen. Mühsam hob er den Kopf und sah sich um. Er lag unter einem nach allen Seiten hin
offenen Dach aus Geweben, die mit Metallpfosten gestützt wurden. Direkt paradox, dachte
Reith, Die Metallpfosten deuteten auf ein beträchtliches technisches Niveau, aber die Waffen
und Manieren der Leute waren ganz einfach barbarisch.
Das Lager befand sich auf offenen Land, das war aus den Sternen zu erkennen. Wo mochte
wohl sein Schleudersitz mit der Notausrüstung sein? Mit Bedauern dachte Reith daran, daß
man ihn im Baum zurückgelassen hatte. Jetzt besaß er nur noch sein Wissen und seine durch
die Pfadfinderausbildung vertiefte Erfahrung.
Ein Schatten fiel über sein Gesicht. Reith sah den jungen Anführer, der ihm eine Schüssel
groben Haferbreies entgegenschob.
„Vielen Dank", sagte Reith, „aber ich glaube, ich werde nicht essen können. Diese Verbände
da hindern mich daran."
Der Junge sagte etwas, das nicht sehr liebenswürdig klang. Reith hatte den Eindruck, daß
dieses junge Gesicht viel zu ernst und angespannt sei; der Bursche konnte doch kaum älter als
sechzehn Jahre sein.
Unter Aufbietung all seiner Kräfte stützte sich Reith auf die Ellbogen und nahm die Schüssel.
Der Junge beobachtete ihn aus ein paar Schritten Entfernung, wie er zu essen versuchte. Dann
drehte er sich um und rief etwas. Ein kleines Mädchen kam gerannt; es verbeugte sich, nahm
die Schüssel und begann Reith fürsorglich zu füttern.
Dem Jungen schien Reith Rätsel aufzugeben, umgekehrt aber ebenso. Männer und Frauen auf
einer Welt, die zweihundertzwölf Lichtjahre von der Erde entfernt war! Eine
Parallelentwicklung? Unglaubhaft! Ein Löffel Haferbrei nach dem anderen wanderte in seinen
Mund.
Nachdem die Schüssel leer war, hielt das Mädchen ihm einen Krug mit Sauerbier an den
Mund. Reith trank, weil man es von ihm erwartete, obwohl das Zeug ihm den Mund
zusammenzog. „Danke", sagte er zu dem Mädchen, das ihn freundlich anlächelte und ver-
schwand.

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Reith legte sich wieder zurück. Der Junge sprach mit barscher Stimme zu ihm; offensichtlich
stellte er eine Frage.
„Tut mir leid", antwortete Reith, „das verstehe ich nicht. Aber laß dich dadurch nicht stören.
Ich brauche jeden Freund, den ich bekommen kann."
Der Junge ging weg. Reith versuchte zu schlafen. Das Feuer flackerte und brannte fast ganz
herunter. Das Lager schien sich zur Ruhe zu begeben.
Aus weiter Ferne kam ein Ruf, der sofort beantwortet wurde, bis es ein fast musikalischer
Gesang von vielen hundert Stimmen war. Reith richtete sich ein wenig auf und sah die beiden
Monde von fast gleichem Durchmesser, der eine rosa, der andere blaßblau, im Osten
erscheinen.
Einen Augenblick später fiel eine neue Stimme ein, diesmal aber näher. Das war doch die
Stimme einer Frau? Andere Stimmen folgten und vereinigten sich zu einem wortlosen
Klagegesang.
Dann verstummte der Gesang. Das Lager schwieg, und Reith schlief ein.
Am nächsten Morgen sah Reith mehr von seiner Umgebung. Das Lager breitete sich zwischen
zwei niedrigen Hügelketten aus, die sich weit nach Osten erstreckten. Reith wurde sich nicht
sofort darüber klar, weshalb der Stamm gerade hier zu bleiben gedachte. Morgen für Morgen
bestiegen vier junge, in lange, braune Mäntel gehüllte Krieger elektrische Motorräder und
fuhren nach verschiedenen Richtungen in die Steppe hinaus. Jeden Abend kehrten sie zurück
und erstatteten Traz Onmale, dem jungen Stammesführer, ihre Meldung. Jeden Morgen wurde
ein etwa achtjähriger Knabe zu einem Ausguck hinaufgezogen, wo er schweben blieb, bis am
Spätnachmittag der Wind starb und der Ausguck mit dem Jungen herabsank. Meistens kam
der kleine Kerl mit ein paar Beulen davon, die Männer gaben nämlich mehr acht auf die Taue,
mit denen die vierflügelige schwarze Membrane in einem Rahmen von Holzstäben am Boden
verankert war.
Jeden Morgen kam von jenseits der Hügel im Osten ein entsetzliches Kreischen, das etwa eine
halbe Stunde anhielt. Ein wenig später erfuhr Reith, daß dieses Kreischen von einer Herde
vielbeiniger Tiere stammte, die dem Stamm als Fleischlieferant diente.
Während Reiths Knochen heilten, hatte er nur Kontakt mit Frauen, einer Gruppe geistloser
Wesen, und mit Traz Onmale, der den größten Teil des Vormittags mit Reith verbrachte, ihn
die Sprache der Kruthe lehrte, ihn ausfragte und den Heilungsprozeß überwachte. Die Sprache
hatte eine ziemlich regelmäßige Syntax, wurde aber kompliziert, sobald Gefühle, Ansichten
und Spannungen zum Ausdruck kamen.
Der Planet hieß Tschai, erfuhr Reith; die Namen der Monde waren Az und Braz. Die
Stammesmänner hießen Kruthe oder Emblemmenschen nach den Abzeichen aus Silber,
Kupfer, Stein und Holz, die sie an den Hüten trugen. Der Status eines Mannes wurde von
seinem Emblem bestimmt, das von halbgöttlicher Abkunft war und Namen, geschichtliche
und charakterliche Eigenheiten und den Rang angab. Das Emblem machte eigentlich den
Mann zu dem, was er war — nicht umgekehrt — und bestimmte die Rolle, die er innerhalb
seines Stammes spielte. Das höchstwertige Emblem war Onmale und wurde von Traz
getragen, und Traz war, bevor er das Emblem erwarb, nur ein ganz gewöhnlicher Junge
gewesen. Onmale war der Ausdruck von Weisheit, Kraft, Energie und einer nicht näher zu
bestimmenden Tugend der Kruthe. Ein Emblem konnte dadurch erworben werden, daß man
dessen Träger tötete oder es sich selbst zusammenstellte. Im letzteren Fall war das Emblem
noch kein Ausdruck einer Persönlichkeit oder „der Tugend", bis dessen Träger durch die
Teilnahme an großen Festen oder dergleichen sich einen bestimmten Ruf und damit einen
Status geschaffen hatte. Wechselte ein Emblem den Besitzer, so nahm der neue Besitzer
gleichzeitig die Eigenschaften des Emblems an. Manche Embleme waren in sich
widersprüchlich, und manchmal kam es auch vor, daß ein Mann mit einem Emblem auch die
Feindschaft zu einem anderen Mann „erbte". Gewisse Embleme hatten eine tausendjährige
Geschichte; andere waren zum Sterben verurteilt und bedeuteten Unheil; wieder andere

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verpflichteten ihren Träger zu besonderer Wildheit. Die Kruthe waren sehr emblembewußt;
ein Mann ohne Emblem hatte kein Gesicht, kein Prestige und keine Aufgabe. Er war das, was
Reith eben zu sein lernte: ein Helot, oder eine Frau — die beiden Worte deckten sich in der
Sprache der Kruthe.
Reith kam es komisch vor, daß die Kruthe ihn für einen Mann aus einem weit entfernten
Gebiet auf Tschai hielten. Sie zeigten keinerlei Respekt vor dem Raumboot, bei dem sie ihn
gefunden hatten, sondern hielten ihn für einen Diener einer nichtmenschlichen, ihnen
unbekannten Rasse, so wie die Chaschmenschen den Blauen Chasch, oder die
Dirdirmenschen den Dirdir unterstellt waren.
Als Traz Onmale diese Ansicht zum erstenmal äußerte, wies Reith sie entrüstet von sich. „Ich
bin von der Erde, einem weit entfernten Planeten. Wir werden von niemandem sonst
beherrscht."
„Und wer hat das Raumboot gebaut?" fragte Traz Onmale zweifelnd.
„Menschen natürlich. Menschen von der Erde."
Traz Onmale schüttelte ungläubig den Kopf. „Wie kann es so weit weg von Tschai Menschen
geben?"
Reith lachte bitter. „Das habe ich mich auch schon oft gefragt. Wie kamen Menschen nach
Tschai?"
„Der Ursprung der Menschen ist völlig klar", stellte Traz Onmale entschieden fest. „Das wird
uns gelehrt, sobald wir sprechen können. Sagt man das euch nicht?"
„Auf der Erde glauben wir, daß der Mensch sich aus einem vormenschlichen Typ heraus
entwickelt hat, und dieser wiederum stammt von alten Säugetieren ab und so weiter — bis zu
den ersten Zellen."
Traz Onmale warf der Frau, die in der Nähe arbeitete, einen wütenden Blick zu.
„Verschwinde! Wir reden über Männerangelegenheiten!" Traz Onmale sah der Frau
angewidert nach. „Jetzt verbreitet sich deine Narretei über das ganze Lager. Der Zauberer
wird sich ärgern. Ich muß dir wirklich erklären, woher die Menschen stammen. Du hast doch
die Monde gesehen. Der rosa Mond ist Az; es ist der Mond des Segens. Der blaßblaue heißt
Braz und ist ein Ort der Qual, wo alle Bösen hinkommen, besonders aber jene, die ihr
Emblem beschmutzen. Nach ihrem Tod kommen sie dorthin. Vor langer Zeit einmal stießen
die beiden Monde zusammen. Eine Unmenge Menschen fiel auf Tschai herunter. Und jetzt
wollen alle nach Az zurückkehren, Gute und Böse. Aber die Richter, die ihre Weisheit von
den Kugeln haben, die sie tragen, trennen die Guten von den Bösen und senden sie an jene
Orte, die ihnen zukommen."
„Ah, sehr interessant", stellte Reith fest. „Und was ist mit den Chasch und den Dirdir?"
„Das sind ja keine Menschen. Sie kamen von jenseits der Sterne nach Tschai; auch die
Wankh. Chaschmenschen und Dirdirmenschen sind unreine Hybriden. Pnume und Phung sind
der Auswurf der nördlichen Höhlen. Die bringen wir gerne um." Er furchte die Brauen.
„Wenn du von einer anderen Welt als Tschai bist, dann kannst du kein Mensch sein, und ich
sollte Befehl geben, dich zu töten."
„Das käme mir aber ziemlich unfreundlich vor", meinte Reith dazu, „denn schließlich habe
ich euch ja nichts getan."
Mit einer Geste bedeutete ihm Traz Onmale, daß ein solcher Einwand keinerlei Bedeutung
habe. „Ich will das Urteil zurückstellen", sagte er.
Reith kräftigte seine steifen Glieder und übte sich in der Sprache. Die Kruthe, erfuhr er,
hielten sich nicht an ein bestimmtes Gebiet, sondern wanderten in der weiten Amansteppe
herum, die in Kotan, im Süden des Kontinents, begann. Von den übrigen Gebieten Tschais
wußten sie wenig. Im Süden gab es einen Kontinent Kislovan, und auf der anderen Seite der
Welt Charchan, Kachen und Rakh. Es gab außer den Kruthe noch andere Nomadenvölker; in
den Marschen und Wäldern des Südens lebten Menschenfresser, zum Teil mit
übermenschlichen und okkulten Kräften ausgestattet. Die Blauen Chasch waren im Westen

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von Kotan ansässig; die Dirdir zogen ein kaltes Klima vor und lebten auf Haulk, einer
Halbinsel im Südwesten von Kislovan, und an der Nordostküste von Charchan.
Es gab noch eine weitere fremde Rasse auf Tschai, die Wankh, aber die Emblemmenschen
wußten wenig von ihnen. Auf Tschai zu Hause war eine fast spukhafte Rasse, genannt die
Pnume, und deren verrückte Verwandte, die Phung. Von denen sprachen die Kruthe nicht
gerne, und wenn, dann flüsterten sie nur.
Eine Zeit bizarrer Ereignisse verging; die Nächte waren voll Verzweiflung und Sehnsucht
nach der Erde. Reiths Verletzungen heilten, und nun erkundete er das Lager.
Am Abhang des Hügels hatte man etwa fünfzig Hütten errichtet. Jenseits der Hütten standen
unter Tarnplanen riesige, sechsrädrige Motorwagen. Reith hätte sie gerne näher untersucht,
aber eine Gruppe neugieriger Bengel blieb ihm ständig auf den Fersen.
Am anderen Ende des Lagers fand Reith eine Maschine, die auf einen Lastwagen montiert
war: ein Riesenkatapult mit einem Wurfarm von etwa siebzehn Metern Länge. War das eine
Belagerungsmaschine? An der einen Seite war eine rosa, an der anderen eine blaue Scheibe
aufgemalt, wohl Sinnbilder der Monde Az und Braz.
Mehrere Wochen vergingen. Reith begriff die Untätigkeit des Stammes nicht. Es waren doch
Nomaden; warum blieben sie so lange an einem Fleck? Täglich stieg ein Junge auf seinen
Beobachtungsposten, und die Krieger übten sich im Gebrauch ihrer Waffen. Davon gab es
drei Arten: ein langes, biegsames Rapier mit einer Schneid— und Stichspitze; ein Katapult,
das sich der Energie elastischer Kabel bediente, um kurze Federpfeile abzuschießen, und ein
dreieckiger Schild, der in scharf ausgezogenen Spitzen mit messerscharfen Rändern auslief.
Dieser Schild wurde als Abwehr-, Wurf- und Hackwaffe benützt.
Reith wurde erst von dem achtjährigen Mädchen, dann von einer Alten mit vertrocknetem
Gesicht und schließlich von einem jungen Mädchen bedient, das sogar als hübsch zu
bezeichnen gewesen wäre, hätte es nicht einen so freudlosen Eindruck gemacht. Sie war
ungefähr achtzehn Jahre alt, hatte regelmäßige Züge und feines, blondes Haar, in dem oft
dürre Halme oder Zweige hingen. Sie lief barfuß und trug nur ein unförmiges Kleid aus
grobem, grauen Material.
Einmal saß Reith auf einer Bank, und das Mädchen kam vorbei. Er fing die Kleine ein und
zog sie auf seine Knie. „Was willst du von mir?" fragte sie ängstlich-heiser und versuchte sich
ihm zu entziehen.
Reith fand ihre Wärme tröstlich. „Zuerst einmal will ich dir die Zweige aus dem Haar
kämmen ... Halt still, du." Ihre Augen wanderten ergeben, ein wenig unbehaglich und verwirrt
zu Reith; dieser kämmte ihr das Haar, erst mit den Fingern, dann mit einem Stück gezähmten
Holzes. „Na, siehst du. Jetzt bist du direkt hübsch", meinte er.
Wie im Traum saß das Mädchen da, doch dann sprang es plötzlich auf. „Ich muß gehen",
sagte es ängstlich. „Es könnte uns jemand sehen."
Am nächsten Tag begegneten sie einander zufällig. Jetzt war ihr Haar sauber gekämmt. Sie
warf ihm einen Blick über die Schulter zu, und Reith stellte fest, daß es die Mädchen auf der
Erde auch nicht anders machten. Er streckte die Hand aus, und das Mädchen näherte sich ihm,
obwohl das den Sitten ihres Stammes entgegenlief. Er legte ihr die Hand auf die Schulter, zog
sie an sich und küßte sie. Das schien sie zu erstaunen. Reith lächelte. „Hast du das noch nie
getan?" fragte er.
„Nein. Aber es ist hübsch. Tu's noch mal."
Reith seufzte. Nun, warum auch nicht? Ein Schritt hinter ihm; ein Schlag schickte ihn zu
Boden, aber den dazugehörigen Wortschwall verstand er nicht. Ein Stiefel trat ihm in die Rip-
pen, und seine kaum verheilte Schulter schmerzte.
Das Mädchen stand dabei und hatte vor Entsetzen die Fäuste auf den Mund gepreßt. Der
Angreifer schlug auf sie ein, trat nach ihr und stieß sie fluchend vorwärts. „Intimitäten mit
einem ausländischen Sklaven ...", verstand Reith schließlich.
„Sklave?" fragte Reith erstaunt und erhob sich mühsam. Das Mädchen versteckte sich unter

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einem der riesigen Wagen. Traz Onmale kam heran, um nach dem Grund des Aufruhrs zu
sehen. Der Krieger, ein stämmiger Kerl ungefähr in Reiths Alter, deutete auf ihn. „Dieser
Mann da ist ein Fluch, ein dunkles Omen. Es wurde doch alles vorhergesagt! Es ist
unerträglich, daß er unter unseren Weibern ... Er muß getötet oder entmannt werden!"
Traz Onmale musterte Reith. „Mir scheint, er hat wenig Schaden angerichtet."
„Aber nur deshalb, weil ich zufällig vorbeikam! Stecke ihn zu den Weibern!"
Ein wenig widerstrebend gab Traz Onmale seine Erlaubnis. Reith dachte traurig an seine
Notausrüstung, die noch im Baum hing, und an die Drogen, das Scanskop, die Energiezelle,
das Notfunkgerät und am meisten an die Waffen.
Traz Onmale hatte nach der Fleischerin gerufen. „Bring ein scharfes Messer. Der Sklave da
muß endlich friedlich werden."
„Warte!" ächzte Reith. „Behandelt ihr jeden Fremden so? Kennt ihr keine Gastfreundschaft?"
„Nein", antwortete Traz Onmale. „Wir nicht. Wir sind die Kruthe, und unsere Embleme sagen
uns, was wir zu tun haben."
„Dieser Mann hier hat mich geschlagen", protestierte Reith. „Ist er ein Feigling? Oder will er
kämpfen? Und wenn ich ihm sein Emblem abnehme? Dann stünde mir doch sein Platz im
Stamm zu, nicht wahr?"
„Das Emblem selbst ist der Platz", sagte Traz Onmale. „Dieser Mann Osom ist das Emblem
Vaduz. Ohne Vaduz wäre er nicht mehr als du. Wenn aber Vaduz mit Osom zufrieden ist,
dann kannst du Osom nie das Emblem Vaduz nehmen."
„Ich kann es aber versuchen."
„Zugegeben. Aber es ist jetzt zu spät. Die Fleischerin ist da."
Reith warf der Frau einen entsetzten Blick zu und drehte sich zu Osom Vaduz um, der sein
Rapier zog. Reith faßte den Arm seines Gegners. Der versuchte mit einem gewaltigen
Schlenkerer Reith abzuschütteln, aber dieser zog in die gleiche Richtung, und Osom Vaduz
verlor das Gleichgewicht. Reith schob die Schulter vor, Osom Vaduz rollte an seiner Hüfte ab
und fiel zu Boden. Reith stieß ihm den Stiefel an den Kopf und trat ihm gegen die Kehle. Als
Osom sich krächzend auf dem Boden wand, fiel ihm der Hut vom Kopf. Reith griff danach,
aber der Zauberer entzog ihn ihm.
„Ich kämpfte um dieses Emblem, und jetzt gehört es mir!" protestierte Reith.
„Nein, absolut nicht!" kreischte der Zauberer. „Das ist nicht unser Gesetz! Du bist und bleibst
ein Sklave!"
„Muß ich dich auch töten?" fragte Reith und näherte sich ihm drohend.
..Genug!" rief Traz Onmale.
„Und was ist mit dem Emblem?" fragte Reith. „Es gehört doch mir!"
„Das muß ich mir erst überlegen", antwortete der Junge. „Wo sind die Richter? Sie sollen
kommen und über diesen Osom richten, der Vaduz getragen hat. Bringt die Maschine her!"
Reith trat zur Seite. Wenige Minuten später näherte sich ihm Traz Onmale. „Wenn du willst",
sagte Reith, „verlasse ich den Stamm und bleibe für mich."
„Du wirst meine Wünsche kennenlernen", erklärte der Junge mit einer Entschiedenheit, die
ihm das Emblem Onmale verlieh. „Denke daran, du bist mein Sklave. Wenn du jetzt zu
entkommen versuchst, wird man dich finden und auspeitschen. Inzwischen wirst du Futter
sammeln."
Es schien Reith, als versuche Traz Onmale von dem unerfreulichen Befehl abzulenken, den er
der Fleischersfrau erteilt hatte und den er infolge der Ereignisse zurückziehen mußte.

*


Die Sonne sank hinter eine Bank graphitgrauer Wolken mit Purpurrändern. Osoms Leiche war
zu Asche gebrannt. Der Zauberer verknetete im Angesicht des Stammes die Asche mit
Tierblut zu einem Kuchen, der in eine kleine Kiste gelegt und am Kopf des großen Schaftes

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befestigt wurde. Der Zauberer sah nach Osten hinüber, wo Az, der rosafarbene Mond, fast
voll aufgegangen war. „Az!" rief er mit tönender Stimme, „die Richter haben einen Mann
gerichtet und ihn für gut befunden. Er ist Osom und trug Vaduz. Az, wir senden dir Osom!"
Die Krieger am Katapult ließen den riesigen Arm zum Himmel schwingen. Der Schaft mit
Osoms Asche lag im Kanal, und der Arm deutete auf Az. Der Stamm begann ein kehliges
Klagelied. „Fort nach AzJ" rief der Zauberer, und das Katapult machte „twunng-twack". Der
Schaft verschwand. Einen Augenblick später erschien am Himmel ein weißes Feuer, und die
Beobachter seufzten vor Befriedigung und Erregung.
Am folgenden Tag wurde Reith zum Futterholen geschickt; man sammelte hartes Laub,
dessen Blätter in einen Tropfen dunkelroten Wachses ausliefen. Reith war froh, der
Eintönigkeit des Lagers zu entrinnen.
Soweit das Auge reichte, reihte sich Hügel an Hügel. Reith blickte nach Süden zu den
schwarzen Wäldern, wo in einem der Bäume noch der Schleudersitz mit seiner Notausrüstung
hing; er hoffte es wenigstens. Er mußte bald einmal Traz Onmale bitten, ihn dorthin zu
begleiten... Jemand beobachtete ihn, aber Reith sah nichts.
Er ging seiner Arbeit nach und füllte zwei Körbe mit Blättern. Dann ging er auf eine Senke
zu, wo ein Dickicht aus Büschen mit roten und blauen Blättern stand. Er sah ein grobes,
graues Gewand. Es war das Mädchen, doch es gab vor, ihn nicht zu sehen. Reith tat ein paar
Schritte abwärts. Dann standen sie einander gegenüber und lächelten sich an.
Reith griff nach ihrer Hand. „Wir werden Ärger bekommen, wenn wir uns treffen und
Freunde werden", sagte er.
Das Mädchen nickte. „Ja, das weiß ich. Ist es wahr, daß du von einer anderen Welt stammst?"
„Ja."
„Wie sieht sie aus?"
„Sie ist schwer zu beschreiben."
„Die Zauberer sind doch dumm, nicht wahr? Tote gehen nicht nach Az."
„Ich glaube es auch nicht."
Sie trat näher an ihn heran. „Tu es noch mal."
Reith küßte sie. Dann schob er sie von sich. „Wir dürfen uns nicht lieben. Es würde dich
unglücklich machen, und man würde dich noch mehr schlagen als vorher...
Sie zuckte die Achseln. „Das ist mir gleichgültig. Ich wollte, ich könnte mit dir zur Erde
zurückkehren."
„Das würde ich gerne tun", antwortete Reith.
„Tu das noch mal", bat das Mädchen. „Nur einmal noch..." Dann sah sie erschreckt über
Reiths Schulter. Er wirbelte herum und bemerkte eine Bewegung. Ein Zischen, ein
gedämpfter Aufprall, ein herzzerreißender Seufzer des Schmerzes. Das Mädchen sackte
zusammen und klammerte sich an den gefiederten Pfeil in ihrer Brust. Reith tat einen
wütenden Schrei und sah sich um.
Am Himmel war nichts zu sehen. Reith beugte sich über das Mädchen. Ihre Lippen bewegten
sich, aber er konnte die Worte nicht mehr verstehen. Sie seufzte und erschlaffte.
Reith blickte auf das tote Mädchen hinunter. Wut wischte jede vernünftige Überlegung aus
seinen Gedanken. Er bückte sich, hob sie auf und trug sie zum Lager, zur Hütte von Traz
Onmale.
Der Junge saß auf einem Hocker und hielt ein Rapier in den Händen. Reith legte die Tote so
sanft er konnte auf den Boden, dann sagte er: „Ich traf das Mädchen, als ich Futter sammelte.
Wir sprachen miteinander, und der Pfeil traf ihr Herz. Es war Mord. Vielleicht war er mir
zugedacht."
Traz Onmale berührte die Federn des Pfeiles. Einige Krieger kamen heran. Der Junge sah von
Gesicht zu Gesicht. „Wo ist Jad Piluna?"
Ein Murmeln, eine heisere Stimme, ein Ruf; Jad Piluna trat heran.
Traz Onmale streckte die Hand aus. „Zeige mir dein Katapult."

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Jad Piluna warf es ihm respektlos zu, und Traz Onmale sah ihn erzürnt an. Der Junge
untersuchte sorgfältig die Waffe. „Du hast die Waffe heute benützt", stellte er fest. „Das Fett
fehlt hier. Und dein Pfeil steckt in dem toten Mädchen."
Jad Piluna verzog den Mund. „Ich wollte den Mann töten. Er ist ein Sklave und ein Ketzer.
Und sie war nicht besser als er."
„Hast du zu entscheiden? Trägst du das Emblem Onmale?"
„Nein. Aber es war Zufall, daß ich sie traf. Und es ist kein Verbrechen, einen Ketzer zu
töten."
Der Zauberer trat vor. „Ketzerei ist ein Verbrechen. Dieser Kerl hier" — er deutete auf Reith
— „ist ein eindeutiger Hybride. Ich nehme an, eine Kreuzung zwischen Dirdirmensch und
Pneumekin. Aus unbekannten Gründen hat er sich den Emblemmenschen zugestellt und treibt
nun Ketzerei. Hält er uns für zu dumm, um das zu bemerken? Da irrt er! Er führte diese junge
Frau in die Irre und verführte sie; damit wurde sie wertlos. Und da ..."
Traz Onmale, der überraschend energische Junge, schnitt ihm das Wort ab. „Genug. Du
sprichst Unsinn. Piluna ist ein Emblem böser Taten. Jad, dessen Träger, muß zur Vernunft
gebracht und Pilund gezügelt werden."
„Ich bin unschuldig", behauptete Jad Piluna gleichmütig. „Ich unterwerfe mich der
Gerechtigkeit der Monde."
„Die Gerechtigkeit bin ich!" fuhr Traz Onmale auf.
Jad Piluna musterte ihn. „Onmale darf nicht kämpfen."
Traz Onmale sah von einem zum anderen. „Ist niemand hier, der den Mörder Piluna
unterwirft?"
Keiner der Krieger antwortete. Jad Piluna nickte befriedigt. „Dein Ruf wurde nicht gehört,
aber du hast Piluna beleidigt und das Wort ,Mörder' gebraucht. Ich verlange die Rechtferti-
gung von den Monden."
„Dann bringt die Scheiben", befahl Traz Onmale.
Der Zauberer brachte einen aus einem Knochen geschnitzten Behälter und wandte sich an Jad
Piluna. „Welchen Mond willst du um Gerechtigkeit anrufen?"
„Az, den Mond der Tugend und des Friedens. Ich bitte Az, mein Recht zu verteidigen."
„Gut", antwortete Traz Onmale. „Ich rufe Braz, den Höllenmond an, der dich holen soll."
Der Zauberer holte eine Scheibe aus dem Behälter; deren eine Seite war rosa, die andere blau.
„Tretet zurück!" befahl er und warf die Scheibe. Sie torkelte, drehte sich, schien zu schweben
und glitt langsam, mit der rosafarbenen Seite nach oben, zu Boden. „Az, der Mond der
Tugend, hat seine Unschuld bekräftigt!" rief der Zauberer.
Reith knurrte und wandte sich an Traz Onmale. „Nun rufe ich die Monde an um
Gerechtigkeit. Ich bitte den Mond Az, mir das Emblem Vaduz zusprechen, damit ich den
Mörder Jad bestrafen kann."
Traz Onmale sah Reith erstaunt an, und der Zauberer war empört. „Unmöglich! Wie kann ein
Sklave ein Emblem tragen?"
Traz Onmale gab dem Zauberer ein Zeichen. „Ich entlasse ihn aus der Sklaverei. Wirf die
Scheibe zu den Monden." Der Zauberer zögerte. „Das Emblem Vaduz ist keines der edelsten.
Wirf!" gebot Onmale.
Der Zauberer sah Jad Piluna an. „Wirf", sagte auch dieser. „Gibt der Mond ihm das Emblem,
dann werde ich diesen Ketzer töten. Das Verräteremblem Vaduz habe ich schon immer ver-
achtet."
„Aber die Scheibe hat jetzt keine Kraft", wandte der Zauberer ein.
„Unsinn", erklärte Reith. „Du sagst, die Kraft der Monde führe die Scheibe. Wie kann sie
keine Kraft mehr haben? Wirf die Scheibe!"
Der Zauberer zuckte die Achseln. „Nun, wie du willst. Ich werde eine andere Scheibe
benützen."
„Nein, die gleiche", rief Reith.

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Traz Onmale richtete sich hoch auf. „Wirf die Scheibe, Zauberer, und zwar die gleiche!"
Wutentbrannt warf der Zauberer die Scheibe hoch in die Luft. Auch jetzt torkelte und drehte
sie sich, schwebte und glitt zu Boden, auch diesmal mit der rosafarbenen Seite nach oben.
„Az gibt dem Fremden recht", erklärte Traz Onmale. „Bringt das Emblem Vaduz!"
Der Zauberer ging steif zu seiner Hütte und brachte es; Onmale übergab es Reith. „Jetzt trägst
du das Emblem Vaduz. Du bist also einer der Emblemmenschen. Klagst du noch immer Jad
Piluna an?"
„Ja, das tue ich."
Traz Onmale wandte sich an Jad Piluna. „Bist du bereit, dein Emblem zu verteidigen?"
„Sofort." Jad Piluna ließ sein Rapier um den Kopf wirbeln.
„Ein Schwert und ein Schild für den neuen Vaduz", befahl Traz.
Reith nahm das Rapier, das ihm gereicht wurde. Er wog es in der Hand und bog die Klinge.
Er kannte viele Klingen, aber eine so feine hatte er noch nie in der Hand gehalten. Es war eine
schreckliche Waffe und für einen Nahkampf kaum geeignet. Die Krieger fochten damit unter
Einhaltung eines gewissen Abstandes, der wehig aber gute Fußarbeit voraussetzte. Auch der
messerscharfe Schild war ungewöhnt. Reith beobachtete Jad Piluna aus dem Augenwinkel;
der stand völlig sicher und ungerührt da. Reith wußte, es war Selbstmord, wenn er gegen
diesen Mann auf dessen Art kämpfte.
„Achtung!" rief Traz Onmale. „Vaduz fordert Piluna heraus. Einundvierzig solcher Kämpfe
haben bereits stattgefunden, und in vierunddreißig Kämpfen hat Piluna Vaduz gedemütigt.
Zum Kampf!"
Jad Piluna machte einen ersten Ausfall, den Reith sofort parierte. Dann schlug Reith mit der
Schildspitze zu und traf Jad Pilunas Brust. Es war keine schwere Wunde, doch sie verletzte
sein Selbstbewußtsein. Seine Augen verdrehten sich erschreckt, und sein Gesicht wurde
fiebrig rot. Er tat einen Satz zurück und griff mit einer solchen Gewalt an, daß Reith zu keiner
Abwehr fähig war. Seine Schulter kegelte sich aus, und er kämpfte um Atem. Jad Pilunas
Rapier traf seinen Oberschenkel, dann den linken Bizeps. Aber Reith ließ sich nicht
unterkriegen. Er schob die Klinge mit seinem Schild weg, holte aus und schlug Jad Pilunas
Hut vom Kopf. Jad fing ihn auf und drückte ihn auf den Kopf, aber schon griff Reith erneut
an, und wieder stieß er ihm den Hut vom Kopf und mit ihm das Emblem Piluna. Reith ließ
den Schild fallen und griff nach dem Hut. Jad, des Emblems beraubt, sah entgeistert zu, und
sein Gesicht schrumpfte zusammen. Er machte einen Ausfall, den Reith mit dem Hut abfing,
und nun steckte Reiths Rapier in Jads Schulter. Der riß es heraus, tat ein paar Schritte zurück,
um Platz für seinen nächsten Angriff zu schaffen, aber Reith, der nun schwer atmete und
schwitzte, drang auf ihn ein.
„Ich habe dein Emblem, Piluna", sagte er, „Das dich voll Ekel verlassen hat. Du, der Mörder,
wirst jetzt sterben."
Jad tat einen heiseren Schrei und versuchte auf Reith einzudringen, doch dieser fing den Stoß
wieder mit dem Hut auf und gab Jad, dem ehemaligen Träger von Piluna, den Todesstoß.
Dann warf er den Hut mit dem stolzen Pilunaemblem auf den Boden und lehnte sich erschöpft
an einen Pfosten. Im ganzen Lager war kein Laut zu hören.
„Vaduz hat Piluna besiegt", erklärte Traz Onmale nach langem Schweigen. „Das Emblem
gewinnt an Glanz. Wo sind die Richter? Sie sollen über Jad Piluna richten!"
Die drei Zauberer traten vor. „Richter", befahl Traz Onmale, „bemüht euch, gerecht zu
richten."
Die Zauberer berieten eine Weile. „Das Urteil ist schwierig", sagte der Häuptling der
Zauberer nach einer Zeit. „Jad lebte ein Heldenleben. Er hat Piluna ehrlich gedient."
„Er hat ein Mädchen ermordet." „Aus gutem Grund. Sie hat sich mit einem Ketzer
eingelassen."
„Er hat seine Befugnisse überschritten. Er war ein Übeltäter. Übergebt ihn dem Feuer! Wenn
Braz erscheint, schießt seine Asche zur Hölle."

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„So soll es geschehen", antwortete der Häuptling der Zauberer.
Traz ging in seine Hütte. Um Reith herum standen die Krieger und sahen ihn voll Abscheu an.
Es war später Nachmittag. Eine Wolkenbank hatte sich vor die Sonne geschoben. Purpur-
farbene Blitze zuckten, und in der Ferne rollte der Donner. Frauen schleppten Futterbündel
und Töpfe mit Essen heran. Die Krieger gingen, um die Planen über den Fahrzeugen
festzubinden.
Reith blickte auf das tote Mädchen hinunter, um das sich niemand gekümmert hatte. Er
konnte es nicht die ganze Nacht hindurch in Wind und Regen liegen lassen. Das Feuer
brannte bereits, um Jads Körper aufzunehmen. Reith hob die Leiche des Mädchens auf, trug
sie zum Holzstoß, überhörte die Proteste der alten Frau, welche die Flammen schürte, und
legte das Mädchen in den Metalltrog, so gut und vorsichtig er es vermochte. Dann kehrte
Reith zur Hütte zurück, die man ihm zugewiesen hatte.
Draußen strömte der Regen; Frauen errichteten über dem Holzstoß ein Schutzdach und
unterhielten es mit Kleinholz. Jemand kam in seine Hütte; Reith trat zurück in den Schatten.
Im Licht des Feuers erkannte er Traz Onmale. „Reith Vaduz, wo bist du?" rief er.
Reith trat aus dem Schatten. Traz Onmale sah ihn an und schüttelte den Kopf. „Seit du beim
Stamm bist, geht alles schief! Es gibt Aufruhr, Ärger und Tod. Die Pfadfinder bringen
schlechte Nachrichten aus einer leeren Steppe. Piluna hat schlecht gehandelt. Die Zauberer
hassen Onmale. Wer bist du, der solche Plagen bringen darf?"
„Ich bin das, was ich dir sagte: ein Mann von der Erde."
„Ein Ketzer", antwortete Traz Onmale ruhig. „Emblemmenschen stammen von Az. So sagen
die Zauberer."
Reith überlegte einen Augenblick. „Die stärkere Idee siegt", sagte er dann. „Manchmal ist das
gut, manchmal auch schlecht. Für mich scheint die Gesellschaft der Emblemmenschen
schlecht zu sein. Eine Veränderung wäre besser für mich. Ihr werdet von Priestern regiert..."
„Nein", entgegnete der Junge bestimmt. „Onmale regiert den Stamm. Ich trage dieses
Emblem. Es spricht durch meinen Mund."
„Bis zu einem gewissen Grad. Die Priester sind gerissen."
„Was willst du? Willst du uns vernichten?"
„Nein, natürlich nicht. Aber ich möchte am Leben bleiben."
Der Junge seufzte. „Ich bin verwirrt. Entweder hast du unrecht — oder die Zauberer."
Die Zauberer haben unrecht. Die Geschichte der Menschen auf der Erde geht mehr als
zehntausend Jahre zurück."
Traz Onmale lachte. „Einmal, bevor ich Onmale trug, betrat der Stamm die Ruinen des alten
Carcegus und nahm einen Pnumekin gefangen. Der Zauberer folterte ihn, um etwas von ihm
zu erfahren, aber der verfluchte nur jede Minute der zweiundfünfzigtausend Jahre, seit es
Menschen auf Tschai gibt... Zweiundfünfzigtausend gegen zehntausend Jahre — ist das nicht
seltsam?"
„O ja, sehr seltsam sogar."
Traz Onmale stand auf und sah zum Himmel hinauf, wo der Wind ein Wrack vor sich
hertrieb. „Ich habe die Monde bewacht", sagte er mit unsicherer Stimme. „Auch die Zauberer
beobachten sie. Wenn Az Braz bedeckt, wird alles gut. Ist es aber umgekehrt, dann wird ein
anderer Onmale tragen. Die Konjunktur der beiden Monde entscheidet."
„Und du?"
„Ich muß die Weisheit der Onmale nach oben tragen und die Dinge zurechtrücken." Dann
verschwand Traz Onmale.

*


Der Sturm raste zwei Nächte und einen Tag über die Steppe. Am Morgen des zweiten Tages
ging die Sonne in einem windverblasenen Himmel auf. Die Pfadfinder zogen in die Steppe

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und kehrten am Nachmittag wieder zurück. Sofort wurde es im Lager lebendig. Planen
wurden zusammengefaltet, Hütten abgerissen und Bündel geschnürt. Frauen beluden die
Wagen, die Krieger rieben ihre Springpferde mit Öl ab und legten ihnen die Sättel auf.
Reith trat zu Traz Onmale. „Was ist hier los?" erkundigte er sich.
„Eine Karawane kommt aus dem Osten. Wir werden am Lobafluß angreifen. Als Vaduz
kannst du mit uns reiten und deinen Beuteanteil erkämpfen."
Er ließ ein Springpferd heranbringen, und Reith bestieg das übelriechende Tier. Es versuchte
den Reiter abzuwerfen und schlug nach ihm mit dem harten Schwanzende. Reith zog an den
Zügeln, und das Tier rannte los. Reith hielt sich verzweifelt fest. Hinter ihm klang Gelächter
auf. Es war der Spott geübter Reiter über die Darbietung des Neulings.
Endlich kam Reith mit dem Tier zurecht, und er kehrte zurück. Wenig später schwärmte die
Truppe nach Nordosten aus.
Länger als eine Stunde sprengten die Emblemmänner über die Steppe. Die Hügel wurden
niedriger, und dann lag vor ihnen eine weite Ebene voll dunkler Schatten und düsterer Farben.
Die Truppe hielt, und Traz Onmale gab Befehle. Reith versuchte zuzuhören. „... Die Südspur.
Im Versteck der Glockenvögel warten wir. Die Ilanths werden die Furt überschreiten. Dann
werden sie die Zadwälder und die Weißen Hügel erkunden. Wir brechen die Karawane von
der Mitte aus auf und machen uns mit den Schatzwagen davon. Alles klar? Also vorwärts zum
Versteck der Glockenvögel!"
Die Emblemmänner ritten die sanften Hügel hinan, den hohen Bäumen und einzelnen
Buschgruppen entgegen, die am Lobafluß standen. Im Schutz eines dichten Waldes
versteckten sie sich.
Einige Zeit verging. Von Ferne war ein schwaches Rumpeln zu vernehmen, und die
Karawane erschien. Einige hundert Meter vor ihr ritten drei gelbgesichtige Krieger; auf ihren
schwarzen Mützen trugen sie kieferlose Menschenschädel. Ihre Reittiere glichen den
Springpferden, waren aber viel größer. Die Krieger trugen Handwaffen und kurze Schwerter,
und über ihren Knien lagen Flinten mit kurzem Lauf.
Vom Standpunkt der Emblemmänner gesehen ging nun alles schief. Die Ilanths stürmten
nicht über den Fluß, sondern warteten auf die Karawane. Motorwagen mit riesigen Rädern
schwankten dem Fluß entgegen. Sie waren unglaublich hoch mit Ballen, Paketen und Käfigen
beladen, und in diesen Käfigen drängten sich Männer und Frauen zusammen.
Der Karawanenführer war sehr vorsichtig. Bevor die Wagen in die Furt gingen, stellte er
Wachen aus und ließ von den Ilanths das andere Ufer absuchen.
Die Krieger der Emblemmänner fluchten und schäumten vor Wut. „Diese Reichtümer!
Sechzig hochbeladene Wagen! Aber es wäre Selbstmord, hier einen Angriff zu wagen."
„Das ist richtig. Ihre Sandstrahler würden uns wie Vögel töten."
„Wir sind unter dem Einfluß von Braz! Nichts gelingt uns mehr!"
„Braz — oder unter dem Einfluß jenes schwarzhaarigen Zauberers, der Jad Piluna schlug."
„Immer hatten wir Erfolg, und jetzt verdirbt er uns den Beutezug."
Die Männer warfen Reith giftige Blicke zu. Dann hielten die Krieger Rat. „Wir erreichen
nichts. Man würde unsere Männer töten und die Embleme in den Fluß streuen."
„Sollen wir ihnen folgen und nachts angreifen?"
„Nein. Sie sind zu gut bewacht. Der Führer heißt Baojian. Er geht kein Risiko ein. Seine Seele
gehört Braz!"
„Nun, dann haben wir ganz umsonst drei Monate lang gefaulenzt."
„Besser umsonst als ein Unglück! Zurück zum Lager! Wir gehen dann nach Meraghan. Hier
haben wir nichts mehr zu suchen."
Ohne noch einmal zurückzusehen, ritten die Krieger über die Steppe davon. Gegen Abend
erreichten sie müde und mißmutig das Lager. Die Frauen hatten alles gepackt und wurden
beschimpft, weil sie kein heißes Bier für die Rückkehrer bereitgestellt hatten. Aber auch die
Frauen schimpften und bezogen dafür Prügel. Schließlich halfen alle zusammen, um die

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Wagen abzuladen.
Traz Onmale stand abseits und brütete vor sich hin. Reith wurde von allen übersehen. Die
Krieger aßen gewaltige Mengen, brummten und schimpften dabei und legten sich endlich um
das Feuer.
Az stand schon am Himmel, und nun folgte ihm der blaue Mond Braz. Das bemerkten die
Zauberer und deuteten klagend hinauf. Die beiden Monde schoben sich zusammen; es schien,
als wollten sie zusammenstoßen. Die Krieger murmelten drohend. Aber Braz schob sich vor
die rosa Scheibe und bedeckte sie völlig. Der Zauberhäuptling tat einen wilden Schrei zum
Himmel hinauf: „Dann sei es so!"
Traz Onmale drehte sich um und verschwand langsam in den Schatten, wo noch immer Reith
stand. „Was soll denn der Tumult?" fragte dieser Traz.
„Hast du es nicht gesehen? Braz hat Az überwältigt. Morgen nacht muß ich nach Az gehen,
um unser böses Geschick zu wenden. Du wirst allerdings nach Braz müssen."
„Wie? Mit dem Katapult?" „Ja; ich war glücklich, daß ich Onmale so lange tragen
durfte. Dessen Träger war kaum mehr als halb so alt wie ich, als er nach Az geschickt wurde."
„Hat dieses Ritual irgendeinen praktischen Wert?" fragte Reith.
Traz Onmale zögerte. „Nun, das erwarten sie; sie erwarten auch, daß ich mir im Feuer die
Kehle durchschneide. Also muß ich es wohl tun. Mir bleibt nichts übrig, als zu gehorchen."
„Wir gehen nun besser", schlug Reith vor. „Sie werden schlafen wie Murmeltiere. Wenn sie
erwachen, sind wir weit weg."
„Was? Wir beide? Wohin sollen wir gehen?"
„Ich weiß auch nicht. Gibt es denn hier kein Land, wo ein Volk ohne Morde leben kann?"
„Vielleicht gibt es solche Plätze, aber nicht auf der Amansteppe."
„Wenn wir uns das Raumboot wieder beschaffen könnten, und wenn ich Zeit hätte, es zu
reparieren, könnten wir Tschai verlassen und zur Erde zurückkehren."
„Unmöglich. Die Chasch haben das Schiff geholt. Für dich ist es für immer verloren."
„Das habe ich gefürchtet. Aber wir gehen jetzt wohl besser, bevor morgen das Morden
beginnt."
Traz Onmale starrte zu den Monden hinauf. „Onmale befiehlt mir zu bleiben. Ich darf das
Emblem nicht verraten; es hat nie die Flucht ergriffen. Immer hat es seiner Pflicht gehorcht —
bis zum Tod."
„Einen nutzlosen Selbstmord verlangt auch die Pflicht nicht", wandte Reith ein. Er griff nach
Traz Onmales Hut und nahm das Emblem ab. Traz gab einen Schmerzenslaut von sich und
versuchte Reith das Emblem zu entreißen.
„Du bist nicht mehr Traz Onmale, du bist jetzt Traz", sagte Reith.
Der Junge schien zusammenzuschrumpfen. „Nun", sagte er leise, „ich habe wirklich keine
Lust zu sterben." Er warf einen Blick über das Lager. „Wir müssen zu Fuß weg. Wenn wir
versuchen die Springpferde zu satteln, so werden sie heulen und die Hörner aneinanderreihen.
Warte hier. Ich werde Mäntel holen und etwas Nahrung zusammentragen." Er verschwand
und ließ Reith mit dem Emblem Onmale allein.
Reith sah es nachdenklich an; dann bohrte er mit dem Stiefel ein Loch in den Boden und ließ
es hineinfallen. Schuldbewußt bedeckte er es mit Erde. Als er sich erhob, zitterten seine
Hände, und Schweiß rann ihm über den Rücken.
Die Monde glitten weiter. Es ging auf Mitternacht. Das Lagerfeuer war niedergebrannt; kein
Laut war zu hören.
Unhörbar war der Junge zu ihm getreten. „Ich bin fertig", flüsterte er. „Hier ist dein Mantel
und ein Paket mit Essen."
Sie verschwanden nach Norden, stiegen einen Hügel hinauf und gingen auf dessen Rücken
weiter. „Wenn wir in den Wald kommen, wo mein Schleudersitz hängen muß, sind wir
wesentlich sicherer", erklärte Reith. „Und dann ..." Aber die Zukunft lag schwarz vor ihnen.
Die Monde warfen ein geisterhaftes Licht auf die Steppe. Aus nicht sehr großer Entfernung

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kam das Heulen von Hunden. „Leg dich hin", zischte Traz. Sie suchen nach verirrten Kindern.
Die Hunde sind los." Nun wandten sie sich nach Süden. „Der Morgen ist nahe", sagte Traz.
„Wenn sie erwachen, werden sie uns suchen. Wir könnten sie in die Irre führen, wenn wir
zum Fluß kommen — wenn die Marschmänner uns nicht fangen."
Zwei Stunden gingen sie weiter. Am östlichen Himmel zeigte sich wäßriges, gelbes Licht
hinter langgezogenen schwarzen Wolken; dahinter war der Wald. „Jetzt wird es im Lager
lebendig", sagte Traz und sah sich um. „Die Frauen zünden die Feuer an, und der Zauberer
wird den Onmale suchen. Das bin ich gewesen. Das Lager wird in Aufruhr sein. Sie werden
bald auf unserer Spur sein."
Am Waldrand nisteten noch die Schatten der Nacht. Traz zögerte und blickte zur Steppe
zurück.
„Wie weit ist es bis zum Sumpf?" fragte Reith.
„Nicht weit. Vielleicht zwei Meilen, Aber ich rieche ein Berltier."
Reith schnupperte und bemerkte einen scharfen Geruch.
„Vielleicht ist es nur eine Spur", meinte Traz, „aber die Emblemmänner werden bald hier
sein. Wir müssen den Fluß erreichen."
„Zuerst den Schleudersitz!" beharrte Reith.
Traz zuckte die Achseln. Reith warf einen Blick zurück. Am Horizont waren dunkle Flecken
zu erkennen, die rasch größer wurden. Er eilte Traz nach, der vorsichtig im Wald vordrang.
Ungeduldig trieb ihn Reith zur Eile an, und bald liefen sie über den weichen, mit modrigen
Blättern bedeckten Waldboden. Weit hinten hörten sie wildes Geschrei. Traz blieb stehen.
„Hier ist der Baum." Er deutete hinauf. „Ist es das, was du wolltest?"
„Ja", antwortete Reith, sichtlich erleichtert. „Ich fürchtete schon, es sei verschwunden."
Traz kletterte hinauf und ließ den Sitz herab. Reith öffnete die Schnalle, küßte vor Freude
seine Handwaffe und schob sie in den Gürtel. Dann schnallte er sich die Notausrüstung auf
den Rücken. „Gehen wir."
Traz verwischte sorgfältig die Spuren, umging den Sumpf, schwang sich an einem tief
hängenden Ast über einen Wassergraben, erkletterte einen höheren Baum und schnellte sich
an ihm weiter, bis unter ihm ein dichter Klumpen Riedgras erschien. Reith folgte ihm. Die
Stimmen der Krieger waren nun deutlich zu hören.
Sie erreichten nun das Flußufer, ein träge fließendes schwarzbraunes Gewässer. Traz fand ein
Floß aus Treibholz, Lianen und Binsen und schob es in das Wasser. Dann versteckten sich
beide in den hohen Binsen. Wenige Minuten später kamen vier Emblemmänner an den Rand
des Sumpfes, und ein Dutzend weitere folgten mit schußbereiten Katapulten. Am Flußufer
bemerkten sie die Floßspuren und suchten den Fluß ab. Das Floß trieb ein ganzes Stück
stromabwärts zum anderen Ufer. Die Krieger erhoben ein wütendes Geschrei und rannten
durch Sumpf und Ried das Flußufer entlang dem Floß nach.
„Schnell jetzt", wisperte Traz. „Wir können sie nicht lange täuschen. Wir gehen auf ihren
Spuren zurück."
Bald waren sie wieder im Wald und hörten wenig später erneut die wütenden Rufe. „Jetzt
kommen sie auf ihren Springpferden", stöhnte Traz, „und dann werden wir ihnen nie
entkommen." Plötzlich blieb er stehen. „Das Berltier. Rasch, den Baum hinauf." Reith folgte
ihm, und die Notausrüstung baumelte von seinem Rücken. „Höher, viel höher", drängte Traz.
„Das Vieh kann hoch springen."
Es war ein riesiges, fahlbraunes Tier mit einem ungeheuren Maul. Aus seinem Hals wuchs ein
Paar langer Arme, die in hornigen Händen ausliefen. Es warf aber nur einen kurzen Blick den
Baum hinauf und schien auf die Rufe der Krieger zu horchen. Reith hatte noch nie ein so
gefährliches, bösartiges Tier gesehen.
Es verschwand im Wald. Wenig später hörten die Verfolgungsgeräusche auf. „Schnell jetzt",
flüsterte Traz. „Sie riechen das Berltier."
Sie kletterten vom Baum herunter und flohen nach Norden. Hinter sich hörten sie

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Entsetzensschreie und ein kehliges Brüllen. „Jetzt sind wir in Sicherheit vor den
Emblemleuten", sagte Traz mit hohler Stimme. „Die Lebenden werden uns in Ruhe lassen.
Aber was wird mit dem Stamm geschehen, wenn sie kein Onmale mehr haben? Werden sie
alle sterben?"
„Das glaube ich nicht", meinte Reith beruhigend. „Dafür werden die Zauberer schon sorgen."
Vor ihnen breitete sich die Steppe aus. „Was liegt im Westen von uns?" erkundigte sich Reith.
„Und im Süden?"
„Im Westen liegt das Land der Alten Chasch, dann folgen die Jangberge. Jenseits davon
wohnen die Blauen Chasch, und die Aesedrabucht liegt unmittelbar dahinter. Im Süden sind
Marschen. Auf Flößen leben dort die Marschmänner. Sie sind anders als wir: kleine gelbe
Leute mit weißen Augen; sehr grausam und listig, fast wie die Blauen Chasch."
„Gibt es keine Städte?"
„Nein. Nur im Norden gibt es einige Ruinenstädte. An den Steppenrändern liegen uralte
Städte. Sie sind verlassen; nur ein paar Phung hausen in den Ruinen. Ich weiß eben nur das,
was die Zauberer gesagt haben. Hast du auch Hunger? Dann wollen wir essen."
Sie saßen auf einem toten Baumstamm und aßen Haferkuchen. Aus Lederflaschen tranken sie
Bier dazu. Traz zeigte Reith ein niedriges Kraut mit weißen Kügelchen. „Das ist die
Pilgerpflanze. Solange wir die finden, werden wir nicht verhungern. Und siehst du die
schwarzen Klumpen dort? Das ist Watak. In den Wurzeln haben sie ungeheuer viel Saft
aufgespeichert. Trinkt man nichts anderes als diesen Wataksaft, dann wird man taub, aber für
kurze Zeit schadet er nicht."
Reith öffnete seine Notausrüstung. „Ich kann mit diesem Film hier Grundwasser heraufholen
oder mit diesem Reiniger Seewasser trinkbar machen ... Das sind Nahrungspillen, und sie rei-
chen einen Monat lang ... Und das ist eine Energiezelle... Ein Verbandkasten ... Messer,
Kompaß, Scanskop ... Funkgerät..." Reith prüfte es sofort.
„Wofür ist denn das Gerät?" erkundigte sich Traz.
„Das ist die eine Hälfte eines Verständigungssystems. In Paul Waunders Ausrüstung war die
andere Hälfte, aber die befand sich im Raumboot. Ich kann ein Signal aussenden, und dann
kommt vom anderen Geräteteil die automatische Antwort und zeigt dessen Standort an."
Reith drückte auf einen Knopf. Eine Kompaßnadel schwang nach Nordwesten, und ein
Rechner gab die weiße Zahl 6.2 und eine rote 2 an. „Der andere Geräteteil muß — und
wahrscheinlich auch das Raumboot — 6.2 mal 10 pro Sekunde oder 620 Meilen nordwestlich
von hier sein."
„Das wäre im Land der Blauen Chasch. Das wußten wir."
Reith sah sehnsüchtig nach Nordwesten. „Wir wollen doch nicht in die Marschen nach Süden
oder in den Wald zurück. Was liegt im Osten jenseits der Steppe?"
„Ich weiß es nicht. Vielleicht der Draschadeozean. Er ist sehr weit weg."
„Kommen von dorther die Karawanen?"
„Coad liegt an einem Golf des Draschade. Zwischen dort und uns liegt die Amansteppe mit
verschiedenen Stämmen."
Reith überlegte. Sein Raumboot hatten die Blauen Chasch nach Nordwesten gebracht; also
war es vernünftig, dorthin zu ziehen.
Traz döste vor sich hin. Solange er das Onmaleemblem trug, war er stark und unermüdlich
gewesen. Jetzt, nach dem Verlust seines Emblems, war er hoffnungslos und verzagt und blieb
zurückhaltender, als Reith für natürlich hielt.
Auch er war müde. Die Sonne schien warm, und der Platz mochte sicher sein. Aber er zwang
sich zur Wachsamkeit und packte seine Geräte wieder ein, während Traz schlief.


4.

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Traz erwachte. Rasch sprang er auf. Auch Reith sprang auf die Beine; sie hatten es nicht
besprochen, aber sie verstanden einander ohne Worte und wandten sich nach Nordwesten. Es
war Morgen, und die Sonne hing wie eine polierte Messingscheibe am schieferfarbenen
Himmel. Die Luft war köstlich frisch, und zum erstenmal seit seiner Ankunft auf Tschai
fühlte sich Reith in ausgesprochen guter Laune. Sein Körper war wieder stark, er hatte seine
Notausrüstung gefunden, und er wußte auch, wo sich ungefähr sein Raumboot befand.
Nach dem Mittagsimbiß schliefen sie eine Weile, und am Spätnachmittag machten sie sich
erneut auf den Weg. In der Nacht hörten sie das Heulen von Steppenhunden, wurden von
ihnen aber nicht belästigt.
Am Morgen des dritten Tages trieb ein weißer Fleck über den Himmel, und Traz bedeutete
Reith, er solle in Deckung gehen. „Dirdir! Sie sind auf der Jagd!"
Durch sein Scanskop erkannte Reith einen langen, flachen, bootsähnlichen Rumpf, der
unbeholfen durch die Luft torkelte. Vier Gestalten klammerten sich am Rumpf fest. „Was
jagen sie denn?" wollte Reith wissen, der dem Ding gespannt nachsah.
„Menschen. Eine Art Sport." „Dieses Ding könnte ich brauchen", überlegte Reith lauter, aber
das Flugboot verschwand nach Norden.
Am Abend, als ein Nebel über die kleine Sonne zog, wurde Traz unruhig. „Es folgt uns
jemand", sagte er. „Es könnten Pnumekin sein, die man nicht sieht. Oder Nachthunde."
„Die Pnumekin sind doch Menschen, oder?"
„In gewissem Sinn. Es sind Spione, die Kuriere der Pnume. Manche sagen, sie hätten Tunnels
unter der Steppe mit geheimen Eingängen und Fallen — vielleicht sogar unter diesem Busch
hier!" Reith untersuchte den Busch, fand aber nichts. „Würden sie uns etwas Übles antun?"
„Nur wenn die Pnume unseren Tod wünschten. Wer weiß aber, was sie wollen? Doch
vielleicht sind es nur Nachthunde. Wir werden wohl besser heute ein Lagerfeuer anzünden."
Am folgenden Nachmittag kamen sie zu einer Ruinenstadt, die von den Grünen Chasrfi oder
den Phung bewohnt sein konnte. Die Phung glichen den Pnume, waren aber größer und von
einer ungeheuren Kraft, welche jener der Grünen Chasch glich. „Wir müssen ganz vorsichtig
sein", warnte Traz.
„Wer hat denn diese alten Städte gebaut?" wollte Reith wissen.
Traz zuckte die Achseln. „Das weiß niemand. Vielleicht die Alten Chasch, oder die Blauen
Chasch. Vielleicht auch die Graumänner, aber das glaubt eigentlich niemand."
Es gab unendlich viele Rassen auf Tschai: Dirdir und Dirdirmenschen; Alte, Grüne und Blaue
Chasch und Chaschmenschen; Pnume und deren menschliche Art, die Pnumekin; die gelben
Marschmenschen, verschiedene Nomadenstämme, die berühmten „Goldenen" und jetzt auch
noch die Graumänner. „Und dann sind da noch die Wankh und Wankhmenschen auf der
anderen Seite von Tschai", erklärte Traz, aber er wußte nicht, wie sie alle nach Tschai
gekommen waren und woher.
Vorsichtig schlichen sie in die Stadt hinein; alte Bauten, früher einmal riesige Paläste und
hohe Hallen, waren verfallen, und nur noch da und dort standen eine Säule, ein Stück Mauer.
Zwischen den Ruinen breiteten sich weite, windverblasene Plätze aus.
Auf dem größten Platz fanden sie einen Brunnen, dessen Wasser aus einem Stein quoll und
nach Reiths Meinung trinkbar war. Traz behauptete, ein Phung sei dagewesen, und wollte
nicht trinken. Dann sah er etwas, das Reiths Aufmerksamkeit entgangen war. „Da, das
Dirdirboot!" Sie suchten Deckung unter einem überhängenden Betonstück. Einen Augenblick
später rauschte das Boot über sie weg, zog einen großen Kreis und schwebte in etwa
zweihundert Metern Höhe über einem Platz. „Komisch", flüsterte Traz, „als ob sie wüßten,
daß wir da sind."
„Vielleicht haben sie ein Infrarotsuchgerät. Auf der Erde können wir die Spuren eines
Menschen an der Wärme seiner Fußstapfen ablesen."
Das Flugboot verschwand nach einer Weile. Bald sank die Sonne, und Reith suchte einen

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Unterschlupf für die Nacht. Sie wählten einen Treppenabsatz am Ende einer halbverfallenen
Stiege, wo sie vor Tieren sicher waren. Sie holten einige Armvoll dünner Zweige und Gräser
zusammen, um ein Bett zu bereiten. Es wurde dämmrig. Auf dem Platz erschien ein Mann,
der vor Müdigkeit taumelte. Er wankte zum Brunnen und trank gierig. Reith sah mit seinem
Scanskop hinüber. Der Mann war groß, schlank, mit langen Armen und Beinen, einem
langen, hageren Kopf, der fast kahl war, runden Augen, einer kleinen Knopfnase und
winzigen Ohren. Seine rosa-blau-schwarze Kleidung war früher einmal sehr elegant gewesen,
und auf dem Kopf trug er ein Ding aus rosafarbenen Falten und schwarzen Bändern.
„Dirdirmensch", wisperte Traz und machte sein Katapult schußbereit.
„Was tust du?" fragte Reith. „Du kannst nicht einfach auf ihn schießen! Er hat uns doch nichts
getan!"
„Aber er würde uns etwas tun, wenn er könnte", brummte Traz, legte jedoch seine Waffe weg.
Der Dirdirmann hatte getrunken und sah sich um. „Vielleicht ist er ein Flüchtling", meinte
Traz.
Der Mann überquerte den Platz und fand einen Unterschlupf ganz in der Nähe der beiden.
Dort zog er seine Gewänder fester um sich und legte sich nieder. Traz murmelte etwas, legte
sich zurück und schien sofort einzuschlafen. Reith saß da und betrachtete die Ruinen in denen
sie waren. Dann schob sich Braz in den Himmel, und die Pfeiler und Mauerreste warfen
doppelte Schatten. Am Ende einer breiten Gasse stand eine hohe Statue. Aber die habe ich
doch vorher nicht gesehen? überlegte Reith. Auf dem Kopf trug sie einen breitrandigen Hut,
und ein Mantel hing um ihre Schultern. Die Beine schienen in Stiefeln zu stecken. Reith sah
mit seinem Scanskop hinüber. Das Gesicht der Statue lag im Schatten, doch durch die
Gummilinse konnte er deutlich hagere, halb menschliche, halb insektenähnliche Züge
erkennen. Langsam bewegten sich die Kiefer ... Das Wesen bewegte sich. Mit langsamen
Schritten kam es näher, blieb wieder stehen. Traz war inzwischen wach geworden und folgte
Reiths Blicken. „Ein Phung!" flüsterte er. „Es sind verrückte Dämonen!" Das Wesen schien
das Flüstern gehört zu haben, denn es tat zwei große Schritte seitwärts.
Der Dirdirmann schien den Phung noch nicht bemerkt zu haben, und dieser kam anscheinend
freudig überrascht näher, blieb bewegungslos stehen, hob dann ein paar Kieselsteine auf, hielt
seinen langen Arm über den Dirdirmann und ließ sie fallen.
Der fuhr zusammen, sah das Wesen aber nicht und legte sich wieder zurecht. „He!" rief Reith,
und die Wirkung seines Warnrufes auf das Wesen war äußerst komisch. Es tat einen
Riesensprung rückwärts, starrte zum Treppenabsatz hinauf und breitete die Arme aus. Der
Dirdirmann entdeckte nun den Phung und konnte sich vor Angst nicht bewegen. „Schieße
dem Phung mit deinem Katapult in den Kopf", befahl Reith dem entsetzten Traz. Der Pfeil
schwirrte dem blassen Gesicht entgegen, aber im letzten Augenblick drehte der Phung den
Kopf weg, hob einen Felsbrocken auf, holte aus und warf mit unheimlicher Kraft. Reith und
Traz duckten sich, und der Stein zerbarst hinter ihnen. Nun verlor Reith keine Zeit mehr und
zielte mit seiner Pistole! Er drückte auf den Knopf; es zischte, und die Nadel explodierte im
Brustkorb des Phung. Der tat einen Satz in die Luft, krächzte vor Wut und sank zusammen.
Traz umklammerte Reiths Schulter. „Und jetzt den Dirdirmann!"
Aber Reith ging die Treppe herunter. Der Dirdirmann zog sein Schwert, offensichtlich seine
einzige Waffe. Reith schob die seine in den Gürtel und hielt dem Fremden die Hand entgegen.
„Lege dein Schwert weg. Wir haben keinen Grund, gegeneinander zu fechten."
Entgeistert trat der Dirdirmann einen Schritt zurück. „Warum hast du den Phung getötet?"
„Weil er sonst dich getötet hätte. Warum sonst?"
„Aber wir sind doch Fremde! Und du bist ein Halbmensch. Willst du mich vielleicht töten?
Wenn ja ..."
„Nein", erwiderte Reith. „Ich will dich nur etwas fragen. Dann kannst du deiner Wege gehen."
Der Dirdirmann zog eine Grimasse. „Du bist wohl ebenso verrückt wie dieser Phung. Aber
warum soll ich dir widersprechen?" Er trat ein paar Schritte näher, um Traz und Reith besser

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zu sehen. „Wohnt ihr hier?"
„Nein. Wir sind auf der Reise."
„Dann wißt ihr wohl keinen passenden Platz, wo ich die Nacht verbringen könnte?"
Reith deutete die Treppe hinauf. „Klettere hinauf. Wir haben uns dort ein Lager hergerichtet."
Der Dirdirmann schnippte mit den Fingern. „Das ist absolut nicht nach meinem Geschmack,
und es könnte regnen. Jedoch, ihr seid freundliche Leute, und, wie ich sehe, intelligent. Ich
bin müde und muß ruhen. Ihr könnt Wache halten, während ich schlafe."
„Töte doch diesen anmaßenden Kerl!" knurrte Traz.
Der Dirdirmann lachte; es war mehr ein stöhnendes Kichern. „Du bist ein seltsamer
Halbmensch", wandte er sich an Reith. „Deinen Typ kenne ich nicht. Ein seltener Hybride?
Wo ist deine Heimat?"
Reith hatte beschlossen, so wenig Aufmerksamkeit wie möglich auf sich zu ziehen und seine
irdische Herkunft nicht mehr zu erwähnen. Aber Traz, der sich über den Dirdirmann ärgerte,
schrie wütend: „Er kommt von der Erde, einer fernen Welt! Sie ist die Heimat richtiger
Menschen, wie ich einer bin. Du bist eine Mißgeburt!"
„Oh, Verrückte", stellte der Dirdirmann gelassen fest. „Nun ja, das war ja auch zu erwarten."
„Was tust du hier?" fragte Reith, um den Fremden abzulenken. „Hat dieser Dirdirflieger nach
dir Ausschau gehalten?"
„Ja, das fürchte ich. Aber sie fanden mich nicht."
.Welches Verbrechen hast du begangen?"
„Das würdest du kaum verstehen; es liegt jenseits deiner Fähigkeiten."
Reith lächelte belustigt. „Ich gehe jetzt schlafen. Wenn du morgen noch leben willst, dann
klettere hinauf." Er kehrte mit Traz zu ihrem Lager zurück, und der Dirdirmann ließ sich in
ihrer Nähe nieder.
Im Licht der Morgendämmerung stellten sie fest, daß der Dirdirmann fort war. Sie stiegen
zum Platz hinunter, fachten ein kleines Feuer an und vertrieben die Nachtkühle aus ihren
Gliedern. Da erschien der Dirdirmann.
Langsam kam er näher. Er sah wie ein Harlekin in Lumpen aus. Traz furchte die Brauen und
stocherte im Feuer herum, aber Reith rief ihm einen freundlichen Gruß zu. „Komm zu uns,
wenn du willst!"
Der Dirdirmann kam näher, schwieg aber eine ganze Weile. „Je genauer ich euch beide
ansehe, desto rätselhafter erscheint ihr mir", sagte er schließlich. „Woher kommt ihr?"
„Woher kommst du?" fragte Reith zurück.
„Ich? Das ist kein Geheimnis. Ich bin Ankhe Anacho und bin in Zumberwal in der
Vierzehnten Provinz geboren. Man hat mich zum Verbrecher erklärt und zum Flüchtling
gemacht. Euch geht es wohl nicht anders als mir. Da sitzen wir nun, drei verwahrloste
Wanderer an einem Feuer."
Reith fand die Frivolität des Dirdirmann erfrischend. „Welches Verbrechen hast du
begangen?"
„Du wirst das schwer verstehen. Nun, ich mißachtete die Verdienste eines gewissen Enze Edo
Ezdowirram, der mich dem Rat der Ersten Rasse meldete. Ich vertraute deren Klugheit und
weigerte mich, mich züchtigen zu lassen. Ich wiederholte meine Beleidigung mindestens ein
Dutzendmal. Schließlich entzog ich Enze Edo ungefähr eine Meile über der Steppe in einem
Zustand der Erregung seinen Sitz." Ankhe Anacho machte eine fatalistische Geste. „Nun,
jedenfalls entwischte ich den Züchtigern. Und nun bin ich hier und habe nur noch mein
Köpfchen."
Traz brummte etwas und sprang auf, um sich sein Frühstück zu suchen — Insekten, die er
heißhungrig verschlang. Der Dirdirmann lief ihm nach und tat desgleichen. Reith begnügte
sich mit einer Handvoll Pilgerpflanzen.
Ankhe Anacho kehrte gesättigt zurück und inspizierte Reiths Kleidung und Ausrüstung. „Ich
glaube, der Junge sagte ,Erde, ein ferner Planet'. Fast könnte ich es glauben, sähst du nicht wie

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ein Halbmensch aus, und das läßt den Gedanken absurd erscheinen."
„Die Erde ist der Heimatplanet der Menschen", erklärte Traz überheblich. „Wir sind richtige
Menschen. Du bist eine Mißgeburt."
„Ist das der Kult der Halbmenschen?" wandte sich Anacho an Reith. „Nun, mir kann's gleich
sein."
„Dann erleuchte uns doch", bat Reith sanft. „Wie kamen die Menschen zum Planeten
Tschai?"
Anacho machte eine großartige Geste. „Die Geschichte ist allgemein bekannt. Auf Sibot, der
Heimatwelt, legte der Große Fisch ein Ei. Es schwamm zur Küste Remuras. Eine Hälfte rollte
in die Sonne, und daraus wurde der Dirdir. Die andere Hälfte landete im Schatten und gebar
den Dirdirmenschen."
„Interessant", sagte Reith. „Aber was ist mit den Chaschmännern? Mit Traz und mir?"
„Deine Frage überrascht mich. Vor fünfzigtausend Jahren kamen die Dirdir von Sibol nach
Tschai. In den folgenden Kriegen fingen die Alten Chasch Dirdirmenschen; andere wurden
von Pnume und später auch von den Wankh gefangen. Diese wurden dann Chaschmenschen,
Pnumekin und Wankhmenschen. Flüchtlinge, Verbrecher, Aufrührer und biologische
Abnormitäten vermischten sich mit ihnen und erzeugten die Halbmenschen. Genau so ist es."
„Erzähle doch diesem Narren von der Erde", forderte Traz Reith auf, doch dieser lachte nur.
Anacho musterte ihn verwirrt.
Zweifellos einmalig. Wohin reisest du?"
Reith deutete nach dem Nordwesten. „Nach Pera."
„Die Stadt der Verlorenen Seelen. Jenseits der Toten Steppe... Du wirst nie hinkommen. Die
Grünen Chasch herrschen über die Tote Steppe."
„Man muß ihnen doch ausweichen können. Wie Karawanen, zum Beispiel. Wo ist die
Karawanenstraße?"
„Nicht weit von hier. Etwas nördlich."
„Dann reisen wir mit einer Karawane."
„Man könnte dich als Sklaven verkaufen. Karawanenführer sind sehr skrupellos. Warum
willst du nach Pera?"
„Ich habe meine Gründe. Was hast du vor?"
„Nichts. Ich bin ein Vagabund, wie ihr auch. Wenn es euch nichts ausmacht, werde ich mit
euch gehen."
„Wie du meinst", erklärte Reith und überhörte Traz' Protest.
Sie erklommen Hügel und sahen über die Tote Steppe, nachdem sie einen Tag lang gewandert
waren. Es war eine endlose, graue Ebene, nur ein Ginsterbusch wuchs da und dort, und
Pilgerpflanzen drängten sich zu niedrigen Gebüschen zusammen. Vom Südosten lief eine
Doppelspur um den Fuß des Hügels und verschwand im Nordwesten zwischen Felsblöcken.
Eine andere Spur verlor sich zwischen den Hügeln, und eine dritte schwang sich nach
Nordosten.
Traz deutete. „Sieh doch mal da hinüber durch dein Instrument." Reith hob sein Scanskop.
„Was siehst du?"
„Gebäude. Nicht viele. Vielleicht ein Dorf. Geschützstellungen in den Felsen."
„Dann ist es das Kazabirdepot", überlegte Traz. „Dort tauschen die Karawanen ihre Ladungen
aus. Die Kanonen sollen die Grünen Chasch abschrecken."
„Oh, vielleicht ist dort sogar ein Gasthaus!" rief der Dirdirmann erfreut. „Kommt, ich sehne
mich nach einem Bad."
„Wie werden wir bezahlen?" fragte
Reith. „Wir haben weder Münzen noch Waren."
„Keine Angst", erklärte der Dirdirmann. „Ich trage genügend Sequinen bei mir. Sie reichen
für uns alle. Wir sind nicht undankbar, und ihr habt mir gut gedient. Auch der Junge da soll
eine zivilisierte Mahlzeit bekommen — vielleicht zum erstenmal."

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Traz setzte zu einer hochfahrenden Antwort an, bemerkte aber, wie Reith belustigt lächelte.
„Wir trennen uns wohl am besten", meinte er. „Dieser Platz ist gefährlich; eine Fundgrube für
die Grünen Chasch. Seht ihr die Spur? Sie kommen hier herauf und halten nach Karawanen
Ausschau." Er deutete nach Süden. „Seht, dort kommt eine."
„In diesem Fall eilen wir besser zum Gasthaus", schlug Anacho vor, „damit wir
Räumlichkeiten belegen, bevor die Karawane hier ist. Ich habe kein Verlangen nach einer
weiteren Nacht auf Ginster zweigen.''
Die klare Tschailuft und die Weite des Horizonts machten es schwer, die Entfernungen richtig
abzuschätzen; als die drei am Fuß des Hügels angelangt waren, hatte sich auch die Karawane
schon genähert. Es waren sechzig oder siebzig riesige Wagen, so schwer beladen, daß sie
kopflastig herumschwankten.
Die Karawane schaukelte an ihnen vorüber. Drei Ilanthpfadfinder ritten stolz wie Könige auf
Springpferden; es waren große, breitschultrige Männer mit scharfgeschnittenen, klugen
Gesichtern. Ihre Haut war von strahlendem Gelb, und ihr rabenschwarzes Haar glänzte wie
Lack. Sie trugen schwarze, in langen Spitzen auslaufende Kappen, mit kieferlosen
Menschenschädeln, hinter denen fast fröhlich ein Haarschopf wippte. Ihre langen Schwerter
glichen denen der Emblemmänner; außerdem hatten sie im Gürtel zwei Pistolen und im
rechten Stiefel zwei Dolche stecken. Uninteressiert blickten sie auf die drei Fußgänger.
Einige der Fahrzeuge waren mit großen Käfigen beladen, in denen sich Kinder, junge Männer
und junge Frauen drängten. Jeder sechste Wagen war mit einer Kanone ausgerüstet, hinter der
grauhäutige Männer in schwarzen Lederanzügen und Lederhelmen hockten. Diese Kanonen
hatten kurze, großkalibrige Rohre.
Etwa ein Dutzend Wagen war hoch mit schwarzfleckigem Bauholz beladen, andere Wagen
wiederum hatten dreistöckige Aufbauten aus alten, verwitterten Brettern mit Kuppeln, Decks
und schattigen Veranden. Neidvoll sah Reith diesen nach. Man konnte also auch bequem über
die Steppen von Tschai reisen. Ein besonders massiver Wagen trug ein Haus mit vergitterten
Fenstern und schwer verriegelten Türen. Das Vorderdeck war mit einem dichten Maschen-
zaun umgeben. Drinnen saß eine junge Frau von außerordentlicher Schönheit. Dunkles Haar
fiel ihr auf die Schultern, und ihre Augen waren klar wie goldbraune Topase. Sie trug ein
kleines, rosenrotes Cape, ein dunkelrotes Tunikakleid und weiße, etwas verknitterte und
angeschmutzte Leinenhosen. Als sie an den drei Wanderern vorüberschaukelte, fing Reith für
einen Moment ihren Blick auf. Er war erschüttert von der Melancholie in ihren Augen. Unter
einer offenen Tür am Wagenende stand eine große Frau mit strengen Zügen und glitzernden
Augen, der starres, kurzes, braungraues Haar vom Kopf abstand.
Die drei Männer folgten der Karawane in einen weiten, sandigen Hof. Der Karawanenführer,
ein kleiner, flinker alter Mann ließ die Wagen in drei Reihen auffahren. Die mit den Waren
stellte er neben die Lagerhäuser, dann folgten die mit den Sklaven und den Baracken, und an
sie schlössen sich die Kanonenwagen an, deren Waffen auf die Steppe gerichtet waren.
Jenseits des Hofes befand sich die Karawanserei, eine Herberge mit zwei Stockwerken aus
gestampfter Erde. Taverne, Küche und Gaststube nahmen das untere Geschoß ein, und
darüber lagen die Gastzimmer, die sich auf eine Veranda öffneten. Den Wirt fanden die drei
Wanderer in der Gaststube — ein wuchtiger Mann in schwarzen Stiefeln und brauner
Schürze, dessen Gesicht so grau war wie Asche. Unter hochgezogenen Brauen sah er von
Traz zu Anacho und von diesem zu Reith, gewährte ihnen aber ohne zu zögern Unterkunft
und versprach ihnen die Beschaffung neuer Kleider.
Die Gastzimmer waren klein, enthielten ein Bett aus Lederriemen, die über einen Holzrahmen
gespannt waren, einen Tisch mit einer Waschschüssel und einem Wasserkrug. Nach der lan-
gen Steppenwanderung erschien ihnen das fast als Luxus. Reith badete und rasierte sich mit
dem Rasierzeug aus seinem Notgepäck und zog die neuen Kleider an, die ihn weniger
auffällig erscheinen ließen: weite Hosen aus braungrauem Leinen, ein Hemd aus rohem,
weißen Homespun und eine schwarze, kurzärmelige Jacke. Er trat auf die Veranda hinaus und

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sah in den Hof hinunter hinüber zur Wagenreihe mit den Häusern. Das Mädchen war eine
Gefangene, das war ihm klar. Was mochte sie wohl erwarten?
Ein paar Gegenstände aus seinem Notgepäck schob er, bevor er in die Gaststube hinunterging,
in seine Taschen; den Rest versteckte er im Wasserkrug. Traz saß bereits in der Gaststube und
gab ein wenig verlegen zu, daß er noch nie vorher an einem solchen Ort gewesen war und
jetzt nicht als Narr erscheinen wolle. Reith lachte und schlug ihm auf die Schulter.
Auch Anacho kam, und jetzt trug er die Kleidung von Steppenbewohnern. Die drei gingen
zum Speisesaal, wo ihnen Brot und eine dicke, dunkle Suppe serviert wurde, nach deren Be-
standteilen Reith nicht zu fragen wagte.
Nach der Mahlzeit musterte Anacho sein Gegenüber Reith. „Von hier aus willst du nach Pera
reisen?" erkundigte er sich. „Pera ist das Ziel dieser Karawane. Ich ziehe es vor, zu fahren und
mache daher den Vorschlag, daß wir uns die beste und bequemste Reisemöglichkeit sichern,
die der Karawanenführer zu bieten hat."
„Eine großartige Idee", antwortete Reith. „Nur ..."
„Oh, ich würde mir an deiner Stelle keine Sorgen machen. Ich bin dir und dem Jungen
verpflichtet. Ihr beide seid höflich und respektvoll, und deshalb ..."
Wütend sprang Traz auf. „Ich trug das Emblem Onmale! Verstehst du, was das heißt? Glaubst
du, ich hätte keine Sequinen mitgenommen, als ich das Lager verließ?" Er warf einen großen
Beutel auf den Tisch. „Wir hängen nicht von deiner Überheblichkeit ab, Dirdirmann!"
„Wie du meinst", antwortete Anacho achselzuckend und sah Reith an.
„Da ich selbst keine Sequinen habe", sagte nun Reith, „nehme ich dankbar an, was mir
geboten wird — gleichgültig von wem."
In der Gaststube drängten sich die Reisenden der Karawane, und alle riefen nach Essen und
Trinken. Als der Karawanenführer seine Mahlzeit beendet hatte, traten Anacho, Traz und
Reith zu ihm und fragten nach einer Reisemöglichkeit. „Wenn ihr es nicht sehr eilig habt,
kann ich euch mitnehmen", antwortete er. „Wir warten hier auf die Karawane aus Aig-
Hedajha, dann reisen wir über Golsse weiter."
Reith wäre es zwar lieber gewesen, sie wären rascher vorangekommen. Was würde
inzwischen wohl mit dem Raumboot geschehen? Aber es gab keine bessere Reisemöglichkeit,
und er mußte seine Ungeduld bezähmen.
Auch andere wurden ungeduldig. Zwei Frauen in langen, schwarzen Gewändern und roten
Schuhen kamen an den Tisch. Eine von ihnen war dünn und lang. „Baojian", fragte sie, „wie
lange müssen wir hier warten? Ich hörte, fünf Tage. Das ist ausgeschlossen! Wir werden zu
spät im Seminar erscheinen."
„Wir müssen auf die Karawane warten, die nach dem Süden reist, und Waren austauschen",
antwortete er mit berufsmäßiger Ruhe. „Dann ziehen wir sofort weiter."
„Wir haben es sehr eilig und können nicht so lange warten!"
„Ich versichere dir, Alte Mutter, daß ich dich so schnell wie möglich zu deinem Seminar
bringe. Wolltest du sonst noch etwas?"
Die alte Frau wandte sich brüsk ab und ging zu einem Tisch an der Wand. Reith war
neugierig geworden. „Wer sind die beiden?" fragte er.
„Priesterinnen der Weiblichen Geheimnisse. Kennt ihr den Kult? Er ist überall verbreitet. Aus
welchem Landesteil kommt ihr?"
„Aus einer weit entfernten Gegend. Aber wer ist die junge Frau, die man in einem Käfig hält?
Auch eine Priesterin?"
Baojian stand auf. „Sie ist eine Sklavin aus Charchan, glaube ich. Man bringt sie nach Fasm
zu den Riten. Mir ist das egal. Ich bin Karawanenführer. Wen ich mitnehme und zu welchem
Zweck..." Er zuckte die Achseln. „Priesterin oder Sklavin, Dirdirmenschen, Nomaden oder
unklassifizierte Hybriden — mir ist es gleichgültig." Er lachte und ging.
Sie kehrten an ihren Tisch zurück, und Anacho musterte Reith nachdenklich. „Seltsam,
wirklich seltsam. Deine Ausrüstung meine ich. So fein wie Dirdirzeug. Der Schnitt deiner

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Kleidung ist auf Tschai unbekannt. Du weißt einerseits gar nichts und bist andererseits
ungemein geschickt. Mir scheint, du bist wirklich das, was du zu sein behauptest: ein Mensch
von einer fernen Welt. Natürlich absurd."
„Ich habe gar nichts behauptet", erwiderte Reith.
„Das tat der Junge."
„Dann ist das eine Angelegenheit zwischen euch beiden." Reith wandte sich den Priesterinnen
zu, die sich mit ihrem Essen beschäftigten. Zwei weitere Priesterinnen brachten das schöne
Mädchen. Die alte Frau berichtete über ihr Gespräch mit dem Karawanenführer und war noch
immer sehr zornig. Das Mädchen hatte die Hände in den Schoß gelegt und starrte vor sich
hin; als man ihr eine Suppenschüssel zuschob, begann sie lustlos zu essen. Reith mußte sie
immerzu ansehen. Sie war eine Sklavin. Würden die Priesterinnen sie verkaufen?
Wahrscheinlich nicht. Diese ausgesuchte Schönheit war wohl für etwas ganz Besonderes
bestimmt. Reith seufzte und bemerkte, daß andere ebenso fasziniert waren wie er. Sie lachten
und machten Witze, und nun wurde Reith ärgerlich. Sahen sie denn nicht, wie traurig dieses
Mädchen war?
Dann zogen die Priesterinnen das Mädchen in den Hof hinaus und spazierten draußen herum.
Die Sonne verschwand hinter den Hügeln, und allmählich wurde es ruhig in der
Karawanserei. In den Wagenhäusern flackerten trübe Lichter. Die Steppen jenseits des Hofes
waren in fahles Dämmerlicht getaucht.
Reith aß eine Schüssel würzigen Fleisches, eine Scheibe groben Brotes und zum Nachtisch
getrocknete Früchte. Traz sah Spielern zu, und Anacho war unsichtbar. Reith ging in den Hof
hinaus und sah zu den Sternen hinauf. Irgendwo da droben war ein Stern ...
Die Priesterinnen saßen flüsternd beisammen, und das Sklavenmädchen stand im Käfig. Fast
gegen seinen Willen trat Reith an den Wagen und blickte in den Käfig hinein. „Mädchen",
sagte er, „Mädchen."
Sie sah zu ihm hin, sagte aber nichts.
„Komm hierher, ich will mit dir sprechen", bat Reith.
Langsam näherte sie sich ihm und sah hinunter.
„Was werden sie mit dir tun?" fragte er.
„Ich weiß es nicht." Ihre Stimme klang weich und ein wenig heiser. „Sie stahlen mich aus
meinem Heim in Cath, brachten mich auf das Schiff und setzten mich in einen Käfig."
„Warum?"
„Weil ich schön bin, sagten sie... Seht, sie hören uns. Verstecke dich schnell."
Reith duckte sich. Eine Priesterin sah in den Käfig hinein, bemerkte aber nichts und eilte zu
ihren Schwestern zurück.
„Sie ist jetzt weg", rief das Mädchen leise.
Reith stand auf. Er kam sich ein wenig albern vor. „Willst du aus diesem Käfig heraus?"
fragte er.
„Natürlich!" Ihre Stimme klang fast gekränkt. „Ich will mit ihren Riten nichts zu tun haben!
Sie hassen mich, weil sie so häßlich sind." Sie musterte Reith. „Ich sah dich heute. Du
standest neben der Fahrspur."
„Ja. Ich habe dich auch bemerkt." Sie wandte den Kopf. „Sie kommen wieder. Gehe jetzt."
Reith huschte weg, beobachtete aber die Priesterinnen, die das Mädchen in das Wagenhaus
drängten. Dann ging er in die Gaststube zurück und sah kurze Zeit einigen Schachspielern zu.
Traz und der Dirdirmann waren schon lange in ihren Zimmern. Bald folgte ihnen auch Reith.


5.


Reith erwachte mit dem Gefühl einer dunklen Drohung, deren Ursache er nicht kannte. Erst

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später wurde ihm klar, daß dieses Gefühl mit dem Mädchen und den Priesterinnen zu tun
hatte. Verrückt, sich in solche Dinge einzulassen! Was konnte er schon erreichen?
Zum Frühstück aß er eine Schüssel Haferbrei. Dann setzte er sich draußen auf eine Bank und
hielt nach dem Mädchen Ausschau. Die Priesterinnen erschienen mit ihr, sahen aber weder
nach rechts noch nach links.
Traz kam heraus und setzte sich neben Reith. Er deutete auf die Steppe hinaus. „Eine große
Gruppe Grüner Chasch nähert sich", sagte er. „Ich rieche den Rauch ihrer Feuer."
„Ich rieche nichts", antwortete Reith.
Traz zuckte die Achseln. „Es sind drei- oder vierhundert."
„Woher weißt du das?"
„Wind und Rauch. Eine kleine Gruppe macht weniger Rauch als eine große. Das sind
mindestens dreihundert Grüne Chasch."
Die Priesterinnen waren mit dem Mädchen ein Stück in die Steppe hinausgegangen, und die
Ilanths folgten ihnen nun. Anacho sah ihnen zu und lachte. „Sie gehen jetzt, um die
Priesterinnen zu ärgern."
Reith sprang auf. Als die Priesterinnen an den Ilanths vorbeigingen, drangen die Männer auf
sie ein. Die Frauen wichen zurück. Die Ilanths packten das Mädchen, warfen es über einen
Sattel und ritten den Hügeln zu. Entgeistert starrten die Priesterinnen ihnen nach. Dann
kreischten sie und rannten zum Hof zurück, um sich beim Karawanenmeister zu beschweren.
Doch der meinte, sie kämen wohl bald zurück, wenn sie mit ihr ihren Spaß gehabt hätten.
„Dann nützt sie uns nichts mehr!" kreischten die Weiber. „Eine Tragödie! Ich bin die Große
Mutter des Seminars von Fasm, und du willst mir nicht einmal helfen?"
„Ich? Ich helfe keinem. Ich halte auf Ordnung in der Karawane und führe meine Wagen. Für
andere Dinge habe ich keine Zeit."
„Was sollen wir tun? Wir sind beraubt! Es wird keine Feier der Klarheit geben."
Reith sprang in den Sattel eines Springpferdes und ritt in die Steppe hinaus. Das hatte er fast
unbewußt getan. „Was geschehen ist, das ist nun einmal geschehen", sagte er zu sich selbst.
Ihm schien, daß der Kummer um ein schönes Mädchen seine eigenen Sorgen vertrieben hatte.
Die Ilanths waren nicht weit geritten, nur ein kleines Tal entlang zu einem Sandplatz unter
dem Hügel. Verängstigt duckte sich das Mädchen an einen Stein; die Ilanths hatten eben ihre
Springpferde angebunden, als Reith ankam.
„Was willst denn du hier?" fragte der eine barsch. „Scher dich zum Teufel!"
Reith zog seine Pistole und winkte dem Mädchen. „Komm mit!"
Sie hatte auch vor ihm Angst. Die Ilanths standen schweigend dabei. Endlich kletterte sie vor
Reith auf das Pferd; er wendete es und ritt das Tal zurück.
Die Priesterinnen standen am Eingang zum Hof. als sie zurückkehrten. Reith hielt sein
Springpferd an, und eine der vier schwarzgekleideten Frauen machte befehlende Zeichen.
„Was haben sie dir bezahlt?" fragte das Mädchen.
„Gar nichts", antwortete Reith. „Es war mein eigener Entschluß."
„Bring mich nach Hause", flehte das Mädchen, „nach Cath! Mein Vater wird dir geben, was
immer du von ihm verlangen wirst."
Reith deutete auf eine sich rasch nähernde Linie am Horizont. „Wir gehen jetzt wohl besser
hinein. Das dort drüben werden wohl Grüne Chasch sein."
„Die Frauen werden mich wieder in den Käfig sperren!" jammerte sie. „Sie hassen mich, sie
wollen mir Böses tun! Siehst du, jetzt kommen sie. Laß mich gehen!"
„Hinaus in die Steppe und allein? Nein, das lasse ich nicht zu. Ich werde dich ihnen nicht
überlassen." Er ging langsam auf die Karawanserei zu. Die Priesterinnen standen am
Durchgang zwischen zwei Felsblöcken. „Oh, edler Mann!" rief die Alte. „Du hast eine gute
Tat vollbracht. Man hat sie doch nicht entehrt?"
„Das geht dich nichts an, Große Mutter", sagte Reith.
„Wie kannst du das sagen? Es geht mich nichts an?"

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„Sie gehört jetzt mir. Ich nahm sie den drei Kriegern ab. Geht zu ihnen, wenn ihr
Schadenersatz verlangt. Ich behalte, was ich mir geholt habe."
„Wir sind Priesterinnen der Weiblichen Geheimnisse, du dummer Kerl! Wie kannst du so mit
uns reden? Gib sie uns zurück, oder es wird dir schlecht ergehen!"
„Wenn ihr die Finger nicht von meinem Eigentum laßt, dann seid ihr bald nur noch tote
Priesterinnen", sagte Reith, ritt davon, und die Weiber starrten ihm entgeistert nach. Jetzt
wußte er, warum ihn sein Instinkt den Ilanths nachgejagt hatte.
„Wie ist dein Name?" fragte er das Mädchen.
Sie überlegte eine Weile, als habe Reith ihr eine unmögliche Frage gestellt. „Mein Vater ist
der Herr des Blauen Jadepalastes. Wir gehören der Aegiskaste an. Manchmal nennt man mich
die Blaue Jadeblume, manchmal schöne Blume oder Blume von Cath. Mein Blumenname ist
Ylin-Ylan."
„Das ist ja ziemlich kompliziert. Sage mir doch, wie deine Freunde dich nennen."
„Das hängt von ihrer Kaste ab. Bist du hochgeboren?"
„Ja, ziemlich." Warum sollte er etwas anderes sagen?
„Willst du mich als Sklavin behalten? Dann möchte ich nicht, daß du meinen Freundesnamen
verwendest."
„Ich habe nie eine Sklavin besessen. Die Versuchung ist zwar groß, aber ich glaube, ich will
doch lieber deinen Freundesnamen erfahren."
„Dann kannst du mich Blume von Cath nennen, oder Ylin-Ylan."
„Das geht wohl für eine Weile." Er nahm den Arm des Mädchens und brachte Ylin-Ylan zu
einem Tisch ganz am Ende der Gaststube. Er sah sie an. „Ich weiß noch gar nicht, was ich mit
dir tun soll." Er sah, wie draußen die Priesterinnen auf den Karawanenführer einredeten.
„Man wird versuchen, mir die Sache aus der Hand zu nehmen. Ich weiß nicht genau, was die
Gesetze vorschreiben."
„Auf der Steppe", sagte das Mädchen, „herrscht das Gesetz der Furcht."
Traz kam herein und setzte sich zu ihnen. Mißtrauisch musterte er das Mädchen. „Was willst
du mit ihr tun?" fragte er Reith.
„Ich würde sie gerne nach Hause bringen."
„Ich bin die Tochter eines angesehenen Hauses", sagte Ylin-Ylan. „Mein Vater wird euch
einen Palast bauen."
Das besänftigte Traz einigermaßen. „Unmöglich ist es nicht", stellte er fest.
„Für mich schon", antwortete Reith, „ich muß ja mein Raumboot suchen. Wenn du sie nach
Cath bringen willst, dann tue es nur und baue dir dort ein neues Leben auf."
Nun kam der Karawanenführer an ihren Tisch und verlangte im Auftrag der Priesterinnen die
Auslieferung des Mädchens, was Reith natürlich ablehnte. Baoiian gab ihm recht. „Ich neige
zu deiner Ansicht", sagte er, „obwohl die Priesterinnen natürlich beraubt wurden. Trotzdem
will ich ihnen begreiflich machen, daß du ein Recht auf das Mädchen hast. Ich hoffe
allerdings, daß der Vorfall den Frieden unserer Reise nicht stört. Sicherheit in der Karawane
ist mein größtes Anliegen." Er verbeugte sich und ging.
Auch Anacho war inzwischen gekommen. Er prüfte Ylin-Ylan mit den Blicken eines
Kenners. „Sie ist eine Goldene Yao. Sehr alte Rasse. Hybride der Ersten Tans und der Ersten
Weißen. Vor hundertfünfzig Jahren wurden sie plötzlich arrogant und versuchten ganz neue
Techniken zu entwickeln. Die Dir-dir erteilten ihnen eine scharfe Lektion."
„Vor hundertfünfzig Jahren? Wie lange ist das Jahr auf Tschai?"
„Vierhundertachtundachtzig Tage. Aber was soll deine Frage?"
Reith rechnete. Hundertfünfzig Tschaijahre waren ungefähr zweihundertzwölf Erdenjahre.
Zufall? Oder hatten die Vorfahren der Blume von Cath dieses Radiosignal ausgesandt, das ihn
nach Tschai brachte?
Das Mädchen wandte sich an Reith. „Das ist ein Dirdirmann!" sagte sie mit leiser Stimme.
„Die haben Settra torpediert und Balisidre. Aus Neid versuchten sie, uns zu vernichten."

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„Neid ist nicht das genau richtige Wort", erklärte Anacho. „Eure Leute spielten mit
verbotenen Kräften, mit Dingen, die jenseits eures Verstehens lagen."
„Und was geschah dann?" fragte Reith.
„Nichts", antwortete Ylin-Ylan. „Unsere Städte wurden zerstört, die Paläste der Künste und
der Goldenen Gewebe ebenfalls, die Schätze von tausend Jahren. Ist es nicht verständlich, daß
wir die Dirdir hassen? Mehr als die Pnume und die Chasch, mehr als die Wankh sogar!"
Anacho zuckte die Achseln. „Ich habe die Yao ja nun nicht vernichtet", stellte er trocken fest.
„Sprechen wir lieber von anderen Dingen", mahnte Reith. „Schließlich ist das schon
zweihundertzwölf Jahre her."
„Nur hundertfünfzig!" korrigierte die Blume von Cath.
„Richtig. Was ist? Willst du nicht andere Kleider anziehen?"
„O ja. Diese Kleider trage ich, seit diese bösen Frauen mich geraubt haben. Und baden würde
ich gerne. Wasser bekam ich nur zum Trinken."
Reith hielt Wache, während das Mädchen sich gründlich wusch. Dann reichte er Ylin-Ylan
die Kleidung der Steppenreisenden, die für Männer und Frauen völlig gleich ist. Bald kam sie
heraus in grauen Kniehosen und einer braunen Tunika. Inzwischen gab es in der Gaststube
einige Aufregung, denn die Grünen Chasch hatten ihre eigenen Wagen in Stellung gebracht
und ungefähr hundert große schwarze Zelte aufgestellt. Bisher hatten sie aber noch keine
Anstalten gemacht, die Karawane anzugreifen, doch Baojian war auf alles vorbereitet.
Die Dämmerung senkte sich über die Steppe, und die Grünen Chasch zündeten eine ganze
Reihe von Lagerfeuern an. Von Zeit zu Zeit schien eine der großen Gestalten zur
Karawanserei herüberzustarren.
„Es sind Telepathen", erklärte Traz Reith. „Sie lesen sogar die Gedanken der Menschen, sagt
man. Ich zweifle zwar daran, aber wer kann das schon bestimmt sagen?"
Es gab nur eine kurze Mahlzeit bei spärlichem Licht, um den Chasch keine Hinweise auf die
aufgestellten Wachen zu liefern. Alle waren ziemlich schweigsam.
Die Gaststube leerte sich. Reith riet der Blume von Cath, ihre Kammertür zu verriegeln. „Und
komme erst am Morgen wieder heraus. Wenn jemand zu dir will, dann schlage an die Wand,
damit ich es höre und dir zu Hilfe komme."
Sie sah ihn an mit einem Ausdruck, der sein Herz rührte. „Dann willst du mich wirklich nicht
zur Sklavin machen?" fragte sie und seufzte.
„Nein", versicherte er; sie warf ihm noch einen rätselhaften Blick zu und verschwand in ihrer
Schlafkammer.
Am folgenden Tag waren die Chasch noch immer da. Man konnte also nichts tun als warten.
Reith nahm die Blume von Cath mit sich und sah sich die Geschütze der Karawane an. Ihn
interessierten besonders die Sandstrahler, und er erfuhr, daß diese Waffen tatsächlich Sand
abschossen, und zwar auf elektrostatischem Weg; die Körnchen erreichten dann fast
Lichtgeschwindigkeit und damit eine etwa tausendfache Masse. Traf nun ein solches
Sandkorn einen festen Gegenstand, so gab es seine Energie in einer Explosion ab. Die
Waffen, so erfuhr Reith, waren eine Ausrüstung der Wankh und von diesen aufgegeben. Sie
trugen noch deren Inschriften — Reihen von Rechtecken in verschiedenen Größen und
Anordnungen.
Traz und Anacho stritten inzwischen über die Natur der Phung. Traz behauptete, sie seien
Wesen, welche die Pnumekin aus den Leichen der Pnume schufen. „Hast du je ein Paar bei
ihnen gesehen? Oder ein Kind? Nein, jeder bleibt für sich. Und sie sind viel zu verrückt und
zu verzweifelt, um sich fortzupflanzen."
Anacho hob belehrend die Hand. „Auch Pnume bleiben für sich und pflanzen sich auf
seltsame Art fort. Seltsam jedenfalls für Menschen und Halbmenschen. Für ihr System ist
diese Art jedenfalls ideal. Weißt du übrigens, daß die Geschichte ihrer Rasse ungefähr eine
Million Jahre zurückreicht?"
„Das habe ich gehört", gab Traz zu.

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„Überall regierten die Pnume, bevor die Chasch kamen. Sie lebten in Dörfern von kleinen
Kuppeln, aber sie haben keine Spuren hinterlassen. Jetzt haben sie sich in Höhlen und Gängen
unter den alten Städten zurückgezogen, und ihr Leben ist ein Geheimnis. Selbst die Dirdir
halten es für ein Unglück, einen Pnume zu belästigen."
„Dann waren also die Chasch vor den Dirdir auf Tschai?" fragte Reith, der sich wieder zu den
beiden gesellt hatte.
„Oh, das weiß doch jeder", erwiderte Anacho. „Nur ein Mann aus einer abgelegenen Provinz
— oder einer fernen Welt — ist so unwissend. Die Alten Chasch waren die ersten. Sie kamen
vor hunderttausend Jahren. Zehntausend Jahre später folgten ihnen die Blauen Chasch, und
die stammten von einem Planeten, den Chasch-Raumfahrer ein Zeitalter vorher kolonisiert
hatten. Die beiden Chaschrassen kämpften um Tschai und brachten die Grünen Chasch als
Schocktruppen mit. Vor sechzigtausend Jahren kamen dann die Dirdir und brachten den
Chasch schwere Verluste bei. Später wurde dann ein Waffenstillstand geschlossen, doch die
beiden Rassen sind noch immer Feinde. Es gibt wenig Verbindung zwischen ihnen.
Vor zehntausend Jahren brach zwischen den Dirdir und den Wankh ein Raumkrieg aus, der
auch auf Tschai übergriff, als die Wankh auf Rakh und in Südkachan Festungen errichteten.
Es gibt jetzt kaum mehr Kämpfe, nur da und dort ein Scharmützel oder einen Überfall aus
dem Hinterhalt. Die drei Rassen fürchten einander und halten Abstand. Die Pnume sind
neutral, schauen aber interessiert zu und ziehen Lehren daraus für ihre eigene Geschichte."
„Und wann kamen die Menschen nach Tschai?" erkundigte sich Reith vorsichtig.
Anacho warf ihm einen sardonischen Blick zu. „Du kennst doch die Welt, von der die
Menschen stammen? Also mußt du die Antwort auf deine Frage selbst kennen." Doch Reith
ließ sich nicht herausfordern. „Die Menschen stammen von Sibol und kamen mit den Dirdir
nach Tschai", erklärte Anacho bestimmt. „Menschen sind weich wie Wachs. Einige mutierten
zu Marschmännern, dann vor ungefähr zwanzigtausend Jahren zu dieser Sorte." Er deutete auf
Traz. „Andere wurden versklavt und wurden zu Chaschmenschen, Pnumekin, sogar zu
Wankhmenschen. Es gibt eine große Zahl von Hybriden und viele Mißgeburten. Auch unter
den Dirdirmenschen gibt es verschiedene Stämme. Die Unbefleckten sind fast reine Dirdir;
andere sind weniger verfeinert. Das ist ja auch der Hintergrund meiner eigenen
Unzufriedenheit: Ich verlangte Vorrechte, die mir versagt wurden, aber ich habe sie mir
jedenfalls ..."
Nun wußte Reith endlich, wie die Menschen auf Tschai erschienen waren, denn Anacho
sprach noch lange weiter. Die Dirdir hatten die Raumfahrt gekannt — schon seit mindestens
siebzigtausend Jahren. Sie hatten mindestens zweimal die Erde besucht. Zuerst hatten sie
einen Stamm Promongoloiden gefunden, und beim zweiten Besuch vor ungefähr
zwanzigtausend Jahren gelang es ihnen, eine ganze Schiffsladung von Protokaukasoiden
mitzubringen. Diese beiden Gruppen hatten sich unter den Bedingungen auf Tschai verändert,
spezialisiert, mutierten dann erneut und so weiter, und so entstand eine ungeheure Vielfalt
menschlicher Typen, die auf diesem Planeten beheimatet waren.
Zweifellos wußten die Dirdir von der Erde, betrachteten sie aber offensichtlich noch immer
als einen barbarischen Planeten. Reith war der Meinung, daß ihm nur Schwierigkeiten
entstehen konnten, wollte er davon sprechen, daß auch die Erde Raumfahrt betreibe. Im
Raumboot gab es nichts, was auf einen irdischen Ursprung hinwies, aber dieses Raumboot
hatten die Blauen Chasch in Besitz genommen. Unbeantwortet war noch immer die eine
Frage: Wer hatte den Torpedo abgeschossen, der die Explorator IV zerstörte?

*


Zwei Stunden vor Sonnenuntergang brachen die Grünen Chasch ihr Lager ab. Die
hochrädrigen Wagen stellten sich im Kreis auf; die Krieger bestiegen ihre Springpferde, und
auf ein unsichtbares Zeichen hin — vielleicht telepathischer Natur, überlegte Reith — formte

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sich ein langer Zug, der sich nach Osten zu bewegte. In großem Abstand folgten ihnen die
Pfadfinder der Ilanths. Am nächsten Morgen kehrten sie aber zurück und berichteten, die
Bande scheine sich nach Norden zu verziehen.
Am Spätnachmittag kam endlich die Karawane aus Aig-Hedajha. Ihre Wagen waren mit
Leder, aromatischen Hölzern unsl Moosen, Fässern eingelegter Früchte und Gewürzen
beladen.
Geschäftiges Treiben herrschte auf der Steppe, als die beiden Karawanen ihre Güter
austauschten, und erst eine Stunde vor Sonnenuntergang wurden alle Passagiere aufgefordert,
in den Hof zu kommen. Die Priesterinnen schienen schon in ihrem Wagenhaus zu sein, denn
sie waren nirgends zu sehen.
Reith, Traz, Anacho und die Blume von Cath gingen auf die Karawane zu. Plötzlich gab es
ein Gedränge; weiche Arme griffen nach Reith und preßten ihn an einen weichen Körper. Er
wehrte sich und fiel zusammen mit der Großen Mutter zu Boden. Andere Priesterinnen
ergriffen die Blume von Cath und rissen sie von ihm weg. Eine Hand drückte seine Kehle zu;
das Blut brauste durch seine Adern, und seine Augen quollen aus den Höhlen. Endlich gelang
es ihm, einen Arm frei zu bekommen, und er stieß seine gespreizten Finger der Großen Mutter
ins Gesicht. Sie stöhnte; Reith fand ihre Nase, zog daran und verdrehte sie. Die Große Mutter
kreischte und schlug mit den Füßen um sich. Endlich kam Reith frei.
Ein Ilanth wühlte in Reiths Sachen. Traz lag bewußtlos auf dem Boden, und Anacho
verteidigte sich verbissen gegen die beiden übrigen Ilanths. Die Große Mutter griff nach
Reiths Beinen, aber er schlug wild um sich, kam frei und tat einen Satz seitwärts, als der
Ilanth, der seine Sachen durchwühlte, ein Messer zog. Reith verpaßte dem Burschen einen
harten Kinnhaken; der Mann ging zu Boden. Reith sprang dem einen Ilanth, der Anacho
angriff, auf den Rücken, drückte ihn hinunter, und Anacho tötete ihn. Der andere Ilanth
landete mit einem gewaltigen Schwung Reith auf dem Rücken; der Dirdirmann hob sein
Schwert und entledigte sich des Gegners.
Traz kam taumelnd auf die Beine und hielt sich den Kopf. Die Große Mutter stampfte die
Stufen ihres Wagenhauses hinauf. Reith kochte vor Zorn; in seinem ganzen Leben war er
noch nie so wütend gewesen. Er packte sein Zeug und marschierte auf den Karawanenmeister
zu.
„Ich wurde angegriffen!" tobte er.
„Du mußt das bemerkt haben! Die Priesterinnen haben das Mädchen aus Cath als Gefangene
in ihr Haus gebracht!" Baojian nickte. „Nun, dann tu doch etwas gegen diese Gewalttaten!"
„Nein", antwortete der Karawanenführer und schüttelte entschieden den Kopf. „Das hat sich
auf einem Steppenstreifen und nicht unmittelbar in der Karawane abgespielt. Mir scheint, die
Priesterinnen haben sich nur ihr Eigentum wieder geholt, wie sie es verloren haben. Du hast
keinen Grund, dich zu beklagen."
„Was!" brüllte Reith, „du läßt es zu, daß eine unschuldige Person diesen komischen
Weiblichen Mysterien geopfert wird?"
„Was bleibt mir anderes übrig?" antwortete Baojian. „Ich kann nicht für die ganze Steppe
Polizei spielen. Und ich will es auch nicht."
Reith warf ihm einen empörten Blick zu und drehte sich zum Haus der Priesterinnen um, „Ich
muß dich warnen", sagte Baojian. „Wenn du den Frieden der Karawane störst..."
Reith verschlug es die Sprache. Erst nach einer ganzen Weile vermochte er zu stottern:
„Übeltaten gehen dich wohl nichts an?"
Baojian lachte bitter. „Auf Tschai hat das Wort ,Übel' keine Bedeutung. Es passiert — oder es
passiert nicht. Tut einer Böses, dann wird er nicht lange leben. Darf ich dich jetzt zu deinem
Abteil führen? Ich will hier weg sein, bevor die Grünen Chasch zurückkehren, und ich habe
nur einen einzigen Pfadfinder..."

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6.


Vier Wagen vor ihnen rollten die Priesterinnen durch die Nacht. Ihr Haus war unbeleuchtet.
Reith dachte lange über Rettungsmöglichkeiten nach, sah aber keine. Schließlich schlief er
vor Müdigkeit, Zorn und Enttäuschung ein.
Am Morgen, als kaum die Sonne aufgegangen war, hielt die Karawane, und jeder bekam sein
Frühstück: einen Pfannkuchen mit heißem Fleisch darauf .und einen Krug mit heißem Bier.
Reith suchte den Karawanenmeister. „Wie weit ist es bis zum Seminar?" fragte er. „Wann
kommen wir dort an?"
Der Mann überlegte. „Zweimal müssen wir noch übernachten. Am dritten Morgen werden wir
ankommen. Absolut nicht zu früh für die Priesterinnen. Sie fürchten schon, daß sie für die
Riten zu spät kommen."
„Was geht bei den Riten vor?"
Baojian zuckte die Achseln. „Ich habe nur Gerüchte gehört. Die Priesterinnen sind eine
ausgesuchte Gruppe Frauen, welche die Männer hassen. Sie hassen deshalb auch Frauen, die
durch ihre Schönheit die Männer anziehen. Die Riten scheinen jedes erotische Gefühl in den
Mädchen zu töten. Wie ich höre, feiern die Priesterinnen dabei auch Orgien."
„Dann sind es also noch zweieinhalb Tage..."

*


Reith beschäftigte sich fast ausschließlich mit dem Wagenhaus. Er nahm bei Tag keine
Bewegung, bei Nacht keinen Lichtschimmer wahr. Manchmal hielt er es vor Ungeduld nicht
mehr aus und lief neben den Wagen her.
Anacho versuchte ihn abzulenken. „Warum sorgst du dich so um dieses Mädchen? Für die
anderen Sklaven dieser Karawane hast du doch auch keinen Blick. Menschen leben und
sterben. Dich fasziniert nur diese einzige Frau!"
Reith gelang sogar ein Grinsen. „Ein Mann kann nicht alles tun. Ich werde das Mädchen vor
den Riten retten — falls ich kann."
Auch Traz protestierte. „Und was ist mit deinem Raumboot? Hast du deine Pläne
aufgegeben? Wenn du dich mit den Priesterinnen anlegst, wird man dich töten oder
entmannen." Doch Reith nickte nur dazu.
Am Abend des zweiten Tages kam die Karawane nach Zadno; es war eine kleine
Karawanserei und lag am Rande der Klippen. Man nahm dort Kristalle und Malachit auf.
Reith kam am
Wagenhaus der Priesterinnen vorbei und hörte von drinnen ein leises Jammern. Traz
bemerkte, was in Reith vorging und packte dessen Arm. „Siehst du nicht, daß man dich nie
aus den Augen läßt? Der Karawanenmeister rechnet damit, daß du Unruhe stiftest!"
Reith grinste wie ein Wolf. „Und ob ich Unruhe stiften werde! Ich warne dich; mische dich
nicht ein. Geh deiner Wege — ganz gleich, was ich tue und was mit mir geschieht."
Traz warf ihm einen zornigen Blick zu. „Glaubst du, ich stehe beiseite? Sind wir denn nicht
Kameraden?" Und dabei blieb Traz auch.
Allmählich wurde die Zeit knapp; jetzt mußte er handeln. Aber wann? Während der Nacht?
Oder sobald die Priesterinnen die Gruppe verlassen hatten? Nein, jetzt war es ungünstig, und
jede Tat konnte nur Unheil nach sich ziehen. Auch während der Nacht und am Morgen
würden die Priesterinnen auf der Hut sein und Wache halten.
Es wurde Nacht. Aus der Steppe kamen drohende Laute. Reith ging zu seiner Schlafstelle und
legte sich nieder. Er konnte nicht schlafen, wollte es allerdings auch nicht. Er sprang auf.
Die Monde standen am Himmel. Az hing schon im Westen und verschwand wohl bald hinter
einer Klippe. Braz war tief im Osten zu sehen und warf ein melancholisches Licht über die

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Landschaft. Bis auf ein paar Lichter der Wachen lag das Depot in tiefster Finsternis. Im Haus
der Priesterinnen flackerte dann und wann ein Lichtschein auf; plötzlich erlosch auch dieser.
Reith schlich um die Wagen herum. Ein Geräusch? Ein Laut? Er blieb stehen und spähte in
das Dunkel. Wieder das Geräusch. Es war das Mahlen von Rädern. Reith rannte. Dann blieb
er lauschend stehen, denn er hörte leise Stimmen. Ein tiefschwarzer Schatten hob sich von der
Nachtschwärze ab; er machte eine heftige Bewegung. Etwas schlug auf Reiths Kopf ein.
Lichter tanzten vor seinen Augen und in seinem Gehirn. Die Welt drehte sich ...
Das gleiche Geräusch wie vorher weckte ihn wieder auf. Sein Unterbewußtsein meldete
ihm, daß man ihn niedergeschlagen hatte. Er war gefesselt und konnte weder Arme noch
Beine bewegen. Er lag auf etwas Hartem, das ihn durchschüttelte; es war das Deck eines
kleinen Wagens. Über ihm hing der Nachthimmel. Der Wagen schien über eine sehr
schlechte Straße zu holpern. Reith versuchte die Arme zu bewegen, doch das verursachte nur
einen höllischen Schmerz. Er biß die Zähne zusammen. Von vorne hörte er eine
geflüsterte Unterhaltung; jemand sah zu ihm zurück. Reith blieb bewegungslos liegen. Der
Schatten neben ihm verschwand. Sicher waren es Priesterinnen. Warum hatte man ihn
gefesselt und nicht sofort getötet?
Reith glaubte es zu wissen. Er versuchte die Fesseln zu lockern. Das Schwert hatte man ihm
abgenommen, aber am Gürtel hatte er noch seine Tasche.
Der Wagen tat einen rumpelnden Satz und Reith hatte eine Idee. Er rutschte herum, soweit es
seine Fesseln erlaubten, bis er fast am Ende des Wagens lag. Er schwitzte vor Angst, jemand
könne es bemerken. Endlich erreichte er die Kante des Decks. Wieder tat der Wagen einen
Satz, und Reith ließ sich herunterfallen. Das Fahrzeug rumpelte weiter und verschwand in der
Dunkelheit. Reith wälzte sich so lange auf dem Boden und einen Hügel hinab, bis er im tiefen
Schatten lag. Ganz ruhig blieb er liegen, denn noch immer fürchtete er, man könne sein Ver-
schwinden bemerkt haben. Die Nacht war still; nur der Wind flüsterte.
Endlich kam er auf die Knie. Er fand ein Stück Fels, an dem er seine Fesseln rieb. Es war eine
harte Arbeit. Seine Handgelenke begannen zu bluten. Sein Kopf schmerzte. Ein Gefühl der
Unwirklichkeit, eines Alptraums, überkam ihn, und die Felsen um ihn herum schienen
lebendig zu werden. Er verjagte die Gespenster aus seinem Geist und rieb weiter an seinen
Fesseln. Endlich hatte er einen Strick durchtrennt; seine Arme waren frei.
Er setzte sich und bewegte seine schmerzenden Finger; dann befreite er seine Füße von den
Fesseln. Ein wenig taumelnd kam er auf die Beine und mußte sich an einem Felsen festhalten.
Über dem höchsten Grat der Hügelkette erschien Braz und tauchte das Tal in ein blasses,
unwirkliches Licht. Reith quälte sich einen Hang hinauf und gelangte endlich auf die Straße.
Hinter ihm lag Zadnos Depot, vor ihm rollte in unbekannter Ferne der Wagen. Vielleicht
hatten die Priesterinnen sein Verschwinden bemerkt. Auf dem Wagen mußte sich aber Ylin-
Ylan befinden. Reith hastete hinkend hinterdrein. Er wußte nicht, wie weit es noch zum
Seminar war, aber jedenfalls schien der Weg durch die Hügel kürzer zu sein.
Der Weg stieg an. Reith taumelte weiter. Er hatte keine Hoffnung, den Wagen zu überholen,
der mit gleichmäßiger Geschwindigkeit von den achtbeinigen, großen Tieren durch die Nacht
gezogen wurde. Er kam zu einem kleinen Paß und ruhte ein wenig aus; der Weg fiel zu einer
bewaldeten Ebene ab, die Braz in ein diffuses Licht tauchte. Reith trottete weiter.
Wie ein Traum erschien ihm die Landschaft, und wie ein Traum kamen ihm auch seine
eigenen Gedanken und Eindrücke vor. Aber dann war er plötzlich hellwach, denn unvermittelt
stand er vor einer engen Schlucht. Früher mußten hier hohe Mauern gestanden haben; jetzt
lagen da nur noch Ruinen; nur ein hoher Torbogen stand noch, durch den die Straße führte.
Reith blieb stehen, denn in seinem Gehirn prickelte es. Die Situation war irgendwie
geheimnisträchtig.
Reith warf einen Stein durch das Tor. Nichts. Er verließ die Straße und drückte sich am Rand
der Schlucht die verfallene Wand entlang. Dann kehrte er zur Straße zurück. Falls hier eine
Gefahr lauerte, so war sie im Dunkel der Nacht nicht auszumachen.

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Vorsichtig ging Reith weiter. Immer wieder blieb er stehen und lauschte. Die Schlucht wurde
breiter, der Himmel schien näher zu kommen, und die Sterne über Tschai erhellten die grauen
Felsen der Hügel.
Glühte vor ihm nicht der Himmel? War da nicht das Murmeln von Stimmen? Reith rannte.
Die Straße wand sich um einen Felskopf. Reith blieb stehen und erblickte eine Szene, die
ebenso seltsam und wild war wie der ganze Planet Tschai.
Das Seminar der Weiblichen Mysterien befand sich auf einer unregelmäßigen Ebene, die von
Klippen und Felsspitzen eingerahmt war. In einem breiten Hohlweg stand ein hohes,
vierstöckiges Steinhaus zwischen zwei Bergspitzen. Überall gab es Holzstöße, Flechtzäune,
Ställe, Heuraufen und Tröge. Unmittelbar unter Reith schob sich eine Plattform aus dem
Hügel, die von zweistöckigen Gebäuden eingerahmt war.
Eine große Feier war im Gang. Dutzende von Feuerpfannen schickten rote, violette und
orangenfarbene Lichter über eine Gruppe von mindestens zweihundert Frauen, die sich halb
tanzend, halb kriechend in einem Zustand wilder Ekstase bewegten. Unterhalb der Plattform
standen in Käfigen zusammengeduckt zwölf Männer. Sie sangen jenen rauhen Gesang, den
Reith schon einmal von den Hügeln gehört hatte. Hörte einer auf, dann schossen neben ihm
Flammen in die Höhe, die an einem Schalttisch vor ihnen dirigiert wurden. Dort saß eine
völlig schwarz gekleidete Frau, und sie war es auch, die den dämonischen Aufruhr immer neu
anpeitschte.
Wie sehr sie die Männer hassen mußten! dachte Reith. Dann erschienen auf der Bühne
grotesk bemalte Clowns, die in bizarren Sprüngen an den Priesterinnen vorbeidefilierten, die
vor Vergnügen schrien. Nach ihnen erschien ein Mime mit einem Zopf langen, blonden
Haares und einer Maske aus riesigen Augen und einem lächelnden roten Mund, der eine
schöne Frau darstellte. Sie hassen ja nicht nur die Männer, überlegte Reith, sondern auch
Jugend und Schönheit!
Auf der Rückseite der Bühne schob sich ein Vorhang zur Seite, und ein nackter, völlig
behaarter Kretin versuchte in einen Käfig aus dünnen Glasstäben einzubrechen, doch er fand
die Öffnung nicht. Und in dem Käfig kauerte ein Mädchen in einem Schleiergewand: die
Blume von Cath. Nun drängten sich die Priesterinnen um die Bühne und feuerten den Kretin
zu größeren Anstrengungen an.
Reith drückte sich die Schatten entlang und erreichte die Rückseite der Plattform. In einer
Hütte ruhte ein Clown aus; zwölf junge Männer drängten sich in einem Pferch zusammen und
wurden von einer weißhaarigen Alten bewacht, deren Flinte fast größer war als sie selbst.
Von der Bühne her war befriedigtes Geschrei zu hören. Dem Kretin war es endlich gelungen,
den Käfig zu öffnen. Reith ließ alle angeborene und anerzogene Höflichkeit Frauen gegenüber
fahren und versetzte der Alten einen fast übermenschlichen Schlag, rannte den Pferch entlang
und öffnete die Türen. Die Männer drängten heraus. „Nehmt die Flinte", rief er ihnen zu, „und
befreit die Sänger!"
Er war mit ein paar Sätzen auf der Bühne, zielte und schickte dem Kretin eine Explosivnadel
in den breiten Rücken. Wump! Der Kretin tat einen Satz, verdrehte den Körper und fiel
zusammen. Ylin-Ylan, die Blume von Cath, sah sich halb betäubt um, erkannte Reith. Sie
taumelte aus dem Käfig über die Bühne.
Die Priesterinnen kreischten erst vor Wut, dann vor Angst, denn die befreiten jungen Männer
schossen wieder und immer wieder in die Menge. Andere befreiten die Sänger. Der junge
Mann, den man zuletzt in den Käfig gesteckt hatte, warf sich auf die Priesterin am Schalttisch,
zerrte sie zum Käfig und sperrte sie ein. Die jungen Männer taten ganze Arbeit.
Reith führte das schluchzende Mädchen aus dem Tumult hinaus und auf die Straße, die nach
Osten führte. Ein Wagen mit vier Priesterinnen fegte an ihnen vorbei; die riesige Gestalt der
Großen Mutter war deutlich zu erkennen. Reith tat einen Satz und versetzte ihr einen Stoß, der
sie vom Wagen warf. Dann befahl er den drei Priesterinnen, den Wagen zu verlassen. Sie
wehrten sich, weil sie Angst vor den Männern hatten, die eben auf die Große Mutter

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losstürmten, aber Reith warf sie nacheinander auf die Straße. Anschließend stieg er auf den
Wagen, hob das Mädchen hinauf und fuhr ostwärts nach Fasm.


7.


Kurz nach Beginn der Morgendämmerung erreichten sie Fasm. Es war eine sehr kleine
Karawanserei am Rand der Steppe und bestand aus drei einfachen Gebäuden aus
Lehmziegeln. Die winzigen Fenster waren mit Holz eingefaßt. Reith blieb vor dem
geschlossenen Tor stehen und rief, aber ohne Erfolg. Die beiden waren ungeheuer müde und
erschöpft und richteten sich für den Rest der Nacht auf dem Wagen ein. Reith sah sich um
und fand unter anderem zwei kleine Taschen mit Geld. Es waren so viele Sequinen, daß Reith
sie nicht einmal schätzen konnte. „Nun haben wir also den Reichtum der Priesterinnen",
berichtete er der Blume von Cath. „Ich denke, das dürfte reichen, um eine sichere Heimkehr
für dich zu bezahlen."
„Du würdest mir also Geld geben, damit ich nach Hause komme, und selbst gar nichts
verlangen?" fragte das Mädchen verwirrt.
„Nein, nichts", antwortete Reith und seufzte.
„Der Dirdirmann scheint mit seinen Scherzen recht zu haben, daß du von einem anderen Stern
kommst", sagte sie und wandte sich ab.
Reith lächelte traurig und sah über die weite Steppe. Angenommen, es gelang ihm, zur Erde
zurückzukehren — würde er dann zufrieden sein, dort sein Leben zu Ende zu leben, ohne je-
mals wieder zurückkehren zu können? Vielleicht nicht. Aber es würde ihm auch sicher nicht
passen, wenn die Dirdir, die Chasch und die Wankh die Menschen ausbeuteten und
versklavten.
Das war eine persönliche Beleidigung. „Was halten deine Leute von Dirdirmenschen, den
Chaschmenschen und den anderen?" fragte er ein wenig geistesabwesend.
Erstaunt sah ihn Ylin-Ylan an. „Nun, was sollen sie von ihnen halten? Es gibt sie eben. Wir
übersehen sie, wenn sie uns in Ruhe lassen. Warum sollen wir aber von den Dirdirmenschen
sprechen? Reden wir doch lieber über dich und mich!"
Reith holte tief Atem und sah sie an. Er rutschte etwas näher zu ihr, aber in dem Augenblick
öffnete sich das Tor, und ein Mann schaute heraus. Er war breit, hatte dicke Beine und lange
Arme. In seinem Gesicht saß eine riesige, schiefe Nase. Haut und Haare waren bleigrau.
Offensichtlich ein Grauer.
„Wer seid ihr?" fragte er. „Das ist der Wagen des Seminars. Vergangene Nacht brannte der
Himmel. Die Priesterinnen sind bei den Riten wie Gespenster."
Reith antwortete ihm ausweichend und fuhr den Wagen in den Hof.

*


Sie hatten ein Frühstück aus Tee, gekochten Kräutern und hartem Brot eingenommen, und
dann gingen sie zum Wagen hinaus, um die Ankunft der Karawane abzuwarten. Sie waren
beide müde und schweigsam. Ylin-Ylan streckte sich auf dem Bett des Wagens aus und
schlief bald ein.
Erst um die Mittagszeit erschien die Karawane am Horizont.
Traz freute sich sehr, Reith wiederzusehen, und Anacho schnippte mit den Fingern, was alles
bedeuten konnte. „Wir dachten schon, man hätte dich entführt und getötet", erklärte Traz.
„Wir haben die Hügel abgesucht, gingen auf die Steppe hinaus, fanden aber nichts. Heute
wollten wir dich beim Seminar suchen, der Dirdirmann und ich. Er ist gar nicht so übel, wie
man meinen sollte."

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„Ein Seminar gibt es nicht mehr", berichtete Reith.
Auch Baojian erschien, stellte aber keine Fragen; Reith, der ihn im. Verdacht hatte, den
Priesterinnen geholfen zu haben, erzählte nichts. Baojian wies ihnen Plätze zu und nahm den
Wagen der Priesterinnen für die Reise nach Pera in Zahlung.
Reith hätte die Reise sicherlich genossen, hätte er nicht ständig an sein Raumboot gedacht.
Und dann gab es ja auch noch das Problem der Blume von Cath. Von Pera, dem Endpunkt der
Karawane, konnte das Mädchen mit einem Schiff nach Cath gelangen. Reith nahm an, das sei
auch ihr Plan, obwohl sie nicht davon sprach und sich ihm gegenüber sogar ziemlich kühl
benahm.
Gelegentlich begegneten ihnen fremde Karawanen oder Nomadenstämme; zweimal kamen sie
auch an Ruinenstädten vorbei, und einmal hatte die Karawane Duftstoffe, Essenzen und
Amphirholz in eine Stadt der Alten Chasch zu liefern, die Reith geradezu faszinierte. Zahllose
weiße Kuppeln schimmerten durch das Laub, und überall sah man wundervolle Gärten.
Große, gelbgrüne Bäume strömten einen erfrischenden Duft aus; diese Bäume glichen
Pappeln und hießen Adarak. Sie wurden von den Alten und den Blauen Chasch mit Vorliebe
angepflanzt, weil sie die Luft reinigten und zu besonderer Klarheit brachten.
„Das ist Golsse", erklärte Baojian den Reisenden. „Haltet euch immer in unmittelbarer Nähe,
sonst fallt ihr den Tricks der Alten Chasch zum Opfer. Entweder ihr verlauft euch in einem
Irrgarten, oder man besprüht euch mit Essenzen, die euch für Wochen dazu verdammen, einen
ekelhaften Geruch zu verströmen. Andere Tricks sind grausam oder sogar tödlich. Einmal hat
man einen meiner Fahrer betäubt und ihm ein völlig neues Gesicht mit einem langen, grauen
Bart verpaßt. Bleibt also hier, auch wenn euch die Chasch auffordern, diesen Platz zu
verlassen. Sie sind eine alte, dekadente Rasse ohne Mitleid. Betretet keinen Garten und kein
Haus, wenn euch euer Leben lieb ist." Mehr brauchte er nicht zu sagen. Die Güter wurden von
einigen Chaschmännern auf Motorwagen umgeladen.
Baojian blieb nicht länger in Golsse als notwendig. Als er seine Wagen mit Spitzen, Drogen
und Tinkturen beladen hatte, zog er weiter nach Norden. Er übernachtete lieber in der Steppe,
als daß er sich den grotesken Einfallen der Alten Chasch aussetzte.

*


Bald lag Pera vor ihnen. Reiths Funkgerät bezeichnete als Standort des Brudergerätes einen
Abschnitt, der etwa sechzig Meilen westlich lag. Vom Karawanenmeister erfuhr er, daß dort
die Stadt der Blauen Chasch Dadiche lag. „Aber halte sie dir vom Leib", riet er. „Sie sind ein
verrücktes Pack; raffiniert wie die Alten Chasch und wild wie die Grünen."
„Treiben sie keinen Handel mit Menschen?"
„Doch, ziemlich viel sogar. Pera ist Umschlagplatz für den Handel mit den Blauen Chasch;
nur die Kaste der Wagenführer hat Zutritt zu Dadiche. Die Alten Chasch sind ein unfreund-
liches Volk, aber die Blauen sind boshaft."
„In Pera willst du wohl sofort umkehren?"
„Innerhalb dreier Tage." „Wahrscheinlich wird die Prinzessin Ylin-Ylan mit dir zurückkehren
und ein Schuf nach Cath nehmen." „Sehr schön. Kann sie bezahlen?" „Gewiß."
„Dann sehe ich keine Schwierigkeiten. Und du? Willst du auch nach Cath?"
„Nein. Ich bleibe vielleicht in Pera." Baojian schüttelte zweifelnd den Kopf. „Die Goldenen
Yao von Cath sind ein schätzenswertes Volk, aber auf Tschai läßt sich nichts vorhersagen —
außer Ärger. Ein Wunder, daß uns die Grünen Chasch noch nicht angegriffen haben! Ich
beginne zu hoffen, daß wir glatt nach Pera kommen."
Aber Baojian sollte nicht recht behalten. Pera war schon in Sicht, da griffen die Grünen
Chasch aus dem Osten an. Gleichzeitig brach ein Sturm los. Blitze zuckten über die Steppe,
Donner krachte, und Regen fegte wie ein riesiger Besen über das Land. Der
Karawanenmeister ließ die Wagen sofort in Verteidigungsstellung gehen — gerade noch früh

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genug, denn die Grünen Chasch stürmten, auf ihre riesigen Tiere geduckt, auf den Wagenring
los. Die Kanonen der Karawane taten wenig Wirkung; ein paar Angreifer wurden von
Sandstrahlern getötet, andere von ihren gestürzten Tieren erdrückt. Ein paar Minuten lang
herrschte Durcheinander, bis eine ausgeruhte Gruppe nachrückte. Wieder donnerten die
Kanonen, und der Sturm gab mit Blitz und Donner seine Begleitung.
Viele der Grünen Chasch waren tot; andere duckten sich hinter ihre gestürzten Tiere und
schossen mit ihren Katapulten. Drei Krieger der Karawane fielen. Beim dritten Angriff waren
die Verluste der Grünen Chasch noch schlimmer, aber sie waren trotzdem noch in der
Überzahl.
Reith winkte Traz zu, nahm die Blume von Cath bei der Hand und schloß sich einer Gruppe
entsetzter Flüchtlinge an, die mit einigen Barackenwagen, deren Fahrern und etlichen
überlegenden Kanonieren der Stadt entgegen] agten. Die Karawane war aufgegeben.
Die Grünen Chasch verfolgten die Flüchtlinge. Ein flammenäugiger Krieger sprang Reith
an, der seine Pistole schußbereit hatte, aber das wertvolle Geschoß gerne gespart hätte. Er
duckte sich unter dem zischenden Schwertstreich; das Springpferd rutschte auf dem nassen
Lehmboden, und der Krieger wurde in hohem Bogen zur Seite geschleudert und landete
auf dem Bauch. Reith rannte ihm nach und hieb mit seinem Emblemschild auf den Krieger
ein. Dann kämpften sich Reith, Traz und Ylin-Ylan durch den strömenden Regen bis zu den
Ruinen von Pera vor. Am Stadtrand von Pera stellten sie sich unter ein Betondach und froren
entsetzlich in ihren triefnassen Kleidern. „Aber wenigstens sind wir in Pera, wohin
wir ja wollten", meinte Traz philosophisch, und Reith erklärte dazu, daß sie zwar
ziemlich entehrt seien, aber immerhin noch lebten.
„Und jetzt", sagte er und zog sein Funkgerät aus dem Beutel, „werde ich nach Dadiche gehen.
Es liegt zwanzig Meilen von hier."
Traz schniefte. „Die Blauen Chasch werden dir dort übel mitspielen."
Die Blume von Cath lehnte sich an die Mauer, bedeckte ihr Gesicht mit den Händen und
begann zu weinen. Das war neu für Reith, und er klopfte ihr tröstend auf die Schulter. „Was
ist denn los?" fragte er, „außer daß dich friert, du naß, hungrig und erschreckt bist?" „Ich
werde nie mehr nach Cath zurückkehren. Ich weiß es."
„Natürlich kommst du nach Hause. Es gibt ja auch noch andere Karawanen." Sie war bei
weitem noch nicht beruhigt, trocknete aber ihre Augen und sah in die weite Landschaft
hinaus. Der Regen ließ ein wenig nach. Das Gewitter verzog sich. Wenige Minuten später
rissen die Wolken auf, und die Sonne spiegelte sich in den Pfützen. Die drei, noch immer
klatschnaß, verließen ihr Schutzdach und stießen mit einem kleinen Mann in einem
Ledermantel zusammen, der ein Bündel Reisig trug, das er vor Schreck fallen ließ. Hastig
griff er danach und wollte schon davonrennen, doch da hielt ihn Reith am Mantel fest. „Nur
nicht so schnell! Sage uns lieber, wo wir Unterkunft und etwas zu essen bekommen!"
Die Angst verschwand aus den Augen des Mannes. „Unterkunft und Essen? Das wird
schwierig sein. Kannst du bezahlen?"
„Ja, wir können bezahlen."
„Nun", überlegte der Mann, „ich habe eine behagliche Wohnung. Drei Räume." Er schüttelte
den Kopf. „Ihr geht doch besser zum Gasthaus zur Toten Steppe. Würde ich euch
beherbergen, dann würden mir die Schnapper doch nur meinen Profit abnehmen, und ich hätte
gar nichts."
„Ist das Gasthaus zur Toten Steppe das beste von Pera?"
„Ja. Ein wirklich sehr feines Haus. Die Schnapper werden eure Wohlhabenheit taxieren und
euch dann sagen, was ihr für eure Sicherheit zu bezahlen habt. Nur Naga Goho und die
Schnapper dürfen in Pera rauben. Das ist eine Art Gesetz."
„Ist Naga Goho der Herrscher von Pera?"
„Man könnte so sagen." Er deutete auf ein massives Gebäude im Herzen der Stadt. „Dort ist
sein Palast, auf der Zitadelle. Dort lebt er auch mit seinen Schnappern. Aber mehr sage ich

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nicht. Banditen meiden die Stadt. Wir treiben Handel mit Dadiche. Es könnte schlechter sein."
„Ah, ich verstehe", sagte Reith. „Und wo ist jetzt das Gasthaus?"
„Dort drüben, am Fuß des, Hügels. Am Ende der Karawanenstraße."


8.


Das Gasthaus zur Toten Steppe war das großartigste Gebäude, das Reith je in einer
Ruinenstadt gesehen hatte: ein langes Gebäude mit einem reichgegliederten Dach und
unzähligen Giebeln. Wie in allen Gasthäusern auf Tschai gab es einen riesigen Gastraum.
Sonst
war dieser immer nur mit groben Tischen und rohgezimmerten Bänken ausgestattet, aber hier
gab es hochlehnige, reichgeschnitzte und gepolsterte Stühle aus schwarzem, glänzenden Holz.
Drei Kronleuchter aus schwarzem Eisen und buntem Glas erhellten den Raum. An den
Wänden hingen uralte Terrakottamasken.
An den Tischen drängten sich die Flüchtlinge der Karawane, und in der Luft hing würziger
Essensgeruch. Allmählich fühlte sich Reith wieder wohler; hier wenigstens gab es Wärme,
Gemütlichkeit und Stil.
Der Wirt war ein kleiner, dicker Mann mit einem sauber gestutzten roten Bart und
vorstehenden rotbraunen Augen. Seine Hände und Füße waren in ständiger Bewegung. Als
Reith nach einer Unterkunft fragte, rang er verzweifelt die Hände. „Hast du denn nicht
gehört? Die grünen Dämonen haben Baojians Zug zerstört. Ich soll für alle Überlebenden
Raum beschaffen. Einige können nicht bezahlen. Und du? Naga Goho hat angeordnet, daß ich
sie aufnehmen muß."
„Wir waren auch bei der Karawane", erklärte Reith, „aber wir können bezahlen."
„Ich werde euch einen Raum beschaffen. Ihr müßt euch halt damit begnügen. Aber einen
guten Rat noch." Er sah vorsichtig über die Schulter. „Diskret sein", flüsterte er. „In Pera hat
sich einiges geändert."
Die drei erhielten einen sauberen Raum zugewiesen, und gleich darauf wurden auch drei
Strohsäcke gebracht. Trockene Kleidung war nicht zu haben; also mußten sie in ihren
feuchten Sachen in die Gaststube gehen, wo sie nun auch Anacho, den Dirdirmann,
entdeckten, der vor einer Stunde angekommen war. Auch Baojian war da und starrte
nachdenklich in das Feuer.
Während sie ihr Abendessen verzehrten, betraten sieben große Männer den Raum. Sechs
trugen dunkelrote Gewänder, schwarze Ledersandalen und knallbunte Umhänge. Der siebente
Mann war in einen gestickten, glänzenden Übermantel gehüllt und schien Naga Goho zu sein.
„Willkommen", rief er, „in unserer ordentlichen Stadt! Gesetze müssen hier streng befolgt
werden. Wir erheben eine Aufenthaltssteuer. Hat jemand kein Geld, dann muß er für das
Allgemeinwohl Arbeit leisten. Gibt es irgendwelche Fragen oder Klagen?" Er sah sich um,
aber niemand antwortete. Das waren also die Schnapper. Sie gingen herum und sammelten
Münzen ein. Widerwillig bezahlte Reith für sich, Traz und die Blume von Cath neun
Sequinen.
Naga Goho bemerkte das schöne Mädchen, warf sich in die Brust und zwirbelte seinen
Schnurrbart. Er flüsterte dem Wirt etwas zu. Dieser kam zu Reith und berichtete ihm, daß
Goho von der Frau Notiz genommen habe. „Er will ihren Status wissen. Ist sie Sklavin? Oder
Tochter? Oder Frau?"
Reith antwortete schlagfertig: „Ich bin ihr Eskorte. Sie steht unter meinem Schutz."
Der Wirt zuckte die Achseln und ging zu Naga Goho, der mit einer kurzen Geste antwortete.
Bald darauf verschwand er mit seinen Leuten.

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*


Als sie ihren kleinen Schlafraum aufsuchten, war Ylin-Ylan sehr niedergedrückt. Reith
versuchte sie zu beruhigen. „Du wirst mit der nächsten Karawane, die Pera verläßt, nach
Hause reisen", versprach er ihr.
„Und was dann, wenn ich wirklich nach Hause komme?" fragte Ylin-Ylan. „Eine andere
Prinzessin wird meinen Platz eingenommen haben. Mich wird niemand mehr nach meinen
Namen fragen, und niemand mehr wird sie kennen."
„Sage mir doch deine Namen. Ich würde sie gerne wissen", bat Reith.
Die Blume von Cath sah zu Traz hinüber. „Komm mit hinaus auf den Balkon", flüsterte sie
und sprang auf. Schweigend standen sie eine Weile draußen. Az lugte durch die Wolken; in
der Stadt leuchteten ein paar Lichter; von irgendwoher erscholl ein schnarrender Gesang und
der dumpfe Ton einer Baunitrommel. „Du weißt, flüsterte sie ihm zu, „daß mein Blumenname
Ylin-Ylan ist; aber dieser Name wird nur bei öffentlichen Anlässen und großen Festen
benützt. Am Hof bin ich Shar Zarin," Sie schien noch etwas sagen zu wollen, zögerte aber.
„Hast du noch andere Namen?" fragte Reith.
„O ja." Sie legte den Kopf an seine Schulter und kuschelte sich in Reiths Arm, den er um ihre
Taille gelegt hatte. „Mein Kindername ist Zozi, aber nur mein Vater nennt mich so. Dann
habe ich noch einen Freundesnamen, einen Geheimnamen und andere. Willst du meinen
Freundesnamen hören? Wenn ich ihn dir sage, dann sind wir Freunde, und du mußt mir auch
deinen Freundesnamen nennen."
„Sicher", antwortete Reith. „Sage ihn mir."
„Derl."
Reith küßte sie. „Und ich heiße Adam. Meine Freunde nennen mich so."
„Hast du auch einen Geheimnamen?"
„Nicht daß ich wüßte."
„Vielleicht ist das auch gar nicht so wichtig, denn wenn ich ihn kenne, dann kenne ich auch
deine Seele. Und dann..." Atemlos sah sie ihn an. „Ich habe einen Geheimnamen, den sonst
niemand kennt. Du mußt doch auch einen haben."
Reith war von ihrer Nähe wie betrunken. Er schob jede klare Überlegung beiseite. „Sage mir
deinen", bat er.
Sie näherte ihren Mund seinem Ohr. „L'lae. Sie ist eine Nymphe, die in den Wolken über dem
Berg Daramthissa wohnt und den Sternengott Ktan liebt." Sie sah hingebungsvoll zu ihm auf,
und Reith küßte sie leidenschaftlich. Sie seufzte. „Wenn wir allein sind, darfst du mich L'lae
nennen, und ich werde Ktan zu dir sagen. Das sind dann unsere Geheimnamen." Reith nickte
lächelnd. „Und bald wird eine Karawane nach dem Osten ziehen über die Steppe nach Coad,
dann mit dem Segelschiff über den Draschade nach Vervode in Cath."
Reith legte ihr die Hand über den Mund. „Ich muß nach Dadiche."
„In die Stadt der Blauen Chasch? Warum eigentlich?"
Reith warf einen Blick hinauf in den Nachthimmel, als suche er dort Kraft. Was sollte er ihr
sagen? Erzählte er ihr die Wahrheit, dann hielt sie ihn wahrscheinlich für verrückt, obwohl
ihre Vorfahren Signale zur Erde gesandt hatten. Also zögerte er mit der Antwort. Sie legte
ihm die Hände auf die Schultern und sah ihn forschend an. Reith holte tief Atem. „Ich kam
nach Kotan in einem Raumboot. Die Blauen Chasch hätten mich beinahe getötet. Sie müssen
das Raumboot nach Dadiche gebracht haben. Und nun muß ich mir's wieder holen."
„Wo hast du gelernt, ein Raumboot zu fliegen?" fragte sie verwirrt. „Du bist doch kein
Wankhmann und auch kein Dirdirmann. Oder vielleicht doch?"
„Nein, natürlich nicht. Man hat mich gelehrt, es zu fliegen."
„Oh, das alles ist ein solches Geheimnis", seufzte sie. „Und was willst du tun, wenn du das
Raumboot wieder hast?"
„Dann bringe ich dich zuerst nach Cath."

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„Und dann? Wirst du dann zu deinem eigenen Land zurückkehren? Hast du dort eine Frau?"
„Ich würde in mein Land zurückkehren. Aber eine Frau habe ich nicht."
Sie nahm die Hände von seinen Schultern und starrte düster über das alte Pera. „Wenn du
nach Dadiche gehst, wird man dich riechen und töten."
„Wie meinst du das? Riechen?"
„Oh, du weißt so viel und doch so wenig. Man sollte meinen, du kommst von der kleinsten
Insel auf Tschau Natürlich können die Blauen Chasch so riechen, wie wir sehen."
„Ich muß aber versuchen, dorthin zu gelangen."
„Das verstehe ich nicht", meinte sie betrübt. „Ich habe dir meinen Geheimnamen genannt, und
das ist das Kostbarste, was ich dir geben kann. Und trotzdem willst du deine Pläne nicht
ändern."
Reith nahm sie in die Arme. „Ich muß nach Dadiche — deinetwegen ebenso wie
meinetwegen. Bist du denn damit zufrieden, von den Dirdir, den Chasch und Wankh
beherrscht zu werden?"
„Ich weiß nicht recht..., ich habe darüber noch nicht nachgedacht. Die sagen uns, die
Menschen seien Mißgeburten, aber König Hopsin bestand darauf, die Menschen stammten
von einem fernen Planeten. Er rief sie um Hilfe an, aber natürlich kamen sie niemals. Das ist
natürlich schon lange her. Hundertfünfzig Jahre."
„Das ist eine lange Zeit, wenn man wartet", sagte Reith.
Sie standen am Balkongeländer, lauschten in die Nacht hinaus und hörten den fröhlichen
Zechern in der Trinkstube zu. „Ich glaube", sagte sie nach einer Weile, „ich werde jetzt zu
Bett gehen."
Reith hielt sie zurück. „Derl, wenn ich von Dadiche zurückkomme ..."
„Du wirst niemals von Dadiche zurückkommen. Die Blauen Chasch werden ihren Spaß an dir
haben ... Jetzt will ich schlafen. Vergiß, daß ich lebe.''


9.


Ein erster Schimmer sepiabraunen Lichts kündete den Morgen an. Reith ging zur Gaststube
hinunter und fand Anacho vor einem Krug Tee. Auch Reith bat um Tee. „Was weißt du von
Dadiche?" fragte er den Dirdirmann.
„Die Stadt ist ziemlich alt — ungefähr zwanzigtausend Jahre", begann er. „Sie ist der größte
Raumhafen der Chasch, wenn sie auch wenig Verbindung zu ihrer Heimatwelt Godag
unterhalten. Südlich von Dadiche gibt es Fabriken und technische Betriebe. Es existiert sogar
ein bißchen Handel zwischen den Dirdir und den Chasch, wenn es auch beide abstreiten. Aber
sag mal, was hast du in Dadiche zu suchen?"
Reith überlegte. Er konnte nichts dabei gewinnen, wenn er Anacho ins Vertrauen zog. „Die
Chasch haben mir etwas sehr Wertvolles weggenommen", sagte er schließlich. „Das möchte
ich, wenn möglich, wiederhaben."
„Ist ja interessant", antwortete Anacho ein wenig sarkastisch. „Was können die Chasch einem
Halbmenschen schon wegnehmen, das es wert wäre, einen so weiten Weg auf sich zu
nehmen? Und wie willst du es finden und wieder an dich bringen?"
„Finden kann ich es. Was dann geschieht, ist eher ein Problem."
„Du machst mich staunen. Was willst du zuerst tun?"
„Ich brauche Informationen. Ich möchte wissen, ob Personen wie du und ich ungehindert nach
Dadiche hinein- und wieder herauskommen können."
„Mich würden sie als Dirdirmenschen riechen. Die haben unendlich feine Nasen. Die
Nahrung, die du zu dir nimmst, liefert Essenzen an deine Haut. Auf die Art unterscheiden sie
nicht nur die einzelnen Rassen, sondern sogar Arm von Reich, Gesund von Krank. Sie

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riechen, ob jemand Salzluft in den Lungen hat, also am Ozean lebt, oder ob er aus den Bergen
kommt. Sie können Gemüt, Alter, Geschlecht und die Farbe deiner Haut riechen. Sie
erkennen durch die Nase."
Anacho stand auf und trat an einen benachbarten Tisch, an dem drei Männer saßen. Auf
Anachos Frage gaben sie zurückhaltende Antworten. Anacho kehrte zu Reith zurück. „Das
sind Viehtreiber. Sie besuchen Dadiche regelmäßig. Das Land ist ziemlich sicher. Niemand
wird uns die Straße entlang belästigen."
„Uns?" fragte Reith. „Willst du denn mitkommen?"
„Warum denn nicht? Ich kenne Dadiche und seine berühmten Gärten noch nicht. Wir können
Springpferde mieten und damit bis auf eine Meile an die Stadt herankommen."
„Gut", meinte Reith. „Erst muß ich aber noch mit Traz sprechen. Er kann dem Mädchen
Gesellschaft leisten."

*


Am nächsten Morgen ritten sie los. Sie hielten auf eine graue Hügelkette zu. Dann stieg die
Straße zu einer Schlucht an, und hier mußten sie an einem Tor warten, bis einige Schnapper
einen hochbeladenen Wagen kontrolliert und dem Wagenführer etliches Geld abgenommen
hatten. Reith und Anacho bezahlten je eine Sequine.
Hinter der Schlucht breitete sich vor ihnen eine liebliche Landschaft aus, ein einziger,
sorgfältig gepflegter Garten.
Unter ihnen lag Dadiche. Niedrige, flache Kuppeln und weitgeschwungene Dächer
versteckten sich unter dichtem Laub. Es war unmöglich, Größe und Einwohnerzahl der Stadt
zu schätzen. Reith mußte zugeben, daß die Blauen Chasch recht angenehm zu leben schienen.
Er las sein Funkgerät ab und erklärte es Anacho. „Dieses Gerät zeigt die Richtung an und
weist auf eine Entfernung von dreieinhalb Meilen. Die Linie schneidet durch das große
Gebäude mit der hohen Kuppel. Die Entfernung dürfte stimmen."
Fasziniert betrachtete Anacho das Instrument. „Sag mal, woher hast du das? Eine solche
technische Vollkommenheit habe ich noch nie gesehen! Und diese Zeichen hier stammen
weder von den Dirdir, noch von den Chasch oder Wankh! Aus welcher abgelegenen Ecke von
Tschai stammt das? Ich hätte nie geglaubt, daß Halbmenschen Fähigkeiten entwickeln
könnten, die über Ackerbau und Viehzucht hinausgehen."
„Anacho, mein Freund", sagte Reith, „du hast noch viel zu lernen. Ganz ohne Schock wird
das aber nicht abgehen."
Anacho zog seine weiche, schwarze Mütze tiefer in die Stirn. „Du bist geheimnisvoll wie ein
Pnume", stellte er fest.
Reith untersuchte mit seinem Scanskop die Landschaft, stellte den Verlauf der Straße fest, die
sich hügelabwärts durch ein Wäldchen zog, und entdeckte eine lange Mauer, die er vorher
übersehen hatte. Die Straße führte durch ein Tor in die Stadt hinein.
Entlang der Straße standen Wagen, die sich zur Einfahrt nach Dadiche aufgestellt hatten und
mit Waren aller Art hoch beladen waren.
„Es hat keinen Sinn, der Straße noch länger zu folgen", meinte Reith. „Bleiben wir dagegen
auf dem Hügelrücken, dann können wir nach etwa einer Meile einen genaueren Blick auf
jenes Gebäude werfen."
Nach dieser Meile stellte Reith mit Hilfe seines Funkgerätes fest, daß sich dort tatsächlich
sein Raumboot befand. „Den Gegenstand dort drinnen, der mir gehörte, möchte ich
wiederhaben", sagte er zu Anacho.
Aber der grinste nur. „Schön und gut — aber wie denn? Du kannst nicht einfach nach
Dadiche hineinreiten, an eine Tür klopfen und sagen: Gebt mir mein Eigentum wieder! Du
würdest enttäuscht sein, was du da zu hören bekämst. Und als Dieb bist du für die Chasch
nicht geschickt genug. Was willst du also tun?"

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Reith schickte sehnsüchtige Blicke hinunter. „Erst muß ich mal hineinsehen können.
Vielleicht ist das, was ich suche, gar nicht dort."
Anacho schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. „Du sprichst in Rätseln. Einmal sagst du, was du
suchtest, sei da, dann stellst du fest, es könnte vielleicht doch nicht da sein."
Reith lachte, aber er fühlte sich unsicher. Jetzt stand er vor Dadiche und war damit vielleicht
in unmittelbarer Nähe seines Raumbootes, und nun erschien ihm die Aufgabe, sich wieder in
dessen Besitz zu setzen, unheimlich schwer. „Genug für heute", sagte er, „kehren wir lieber
nach Pera zurück."
Aber dann, als sie wieder auf der Straße waren, zogen ihn die schwerbeladenen Wagen
unwiderstehlich an. „Die fahren alle nach Dadiche", sagte er. „Ich fahre mit. Warum sollte es
Schwierigkeiten geben?"
Anacho schüttelte abwehrend den Kopf. „Die Blauen Chasch sind schwer zu durchschauen
und man kann nie vorhersehen, für welches Spiel sie einen aussuchen. Willst du auf heißen
Stäben über eine Grube mit weißäugigen Skorpionen gehen? Ihr Einfallsreichtum kennt keine
Grenzen."
Reith sah finster auf die Stadt hinunter. „Die Wagenfahrer riskieren all das?"
„Die haben Lizenzen und werden nicht belästigt — außer sie fordern es heraus."
„Dann werde ich als Wagenlenker gehen."
Anacho nickte. „Ich schlage dann aber vor, daß du heute abend deine Kleider ausziehst, dich
mit feuchtem Lehm abreibst, dich in den Rauch brennender Knochen stellst, durch Tierdung
gehst, übelriechendes Fett in die Haut reibst und alles an scharfriechenden Dingen ißt, die
ihren Geruch an die Haut abgeben. Schließlich mußt du dich von Kopf bis Fuß in die
Kleidung der Wagenführer hüllen. In der Nähe eines Blauen Chasch darfst du auch nie
ausatmen und nie in Windrichtung an ihm vorbeigehen."
Reith grinste dazu, wenn ihm auch gar nicht danach zumute war. „Der Plan erscheint mir
immer unausführbarer. Ich habe wirklich noch keine Lust zu sterben."
Er zuckte die Achseln, setzte sein Springpferd mit einem Fersendruck in Gang und kehrte
nach Pera, der alten Ruinenstadt, zurück.

*


Am Spätnachmittag kamen sie dort an. Sie lieferten ihre Springpferde ab und überquerten den
Platz vor dem Gasthaus, in dem sie wohnten.
Die Gaststube war halb besetzt, aber Traz und die Blume von Cath waren nirgends zu sehen.
Reith fragte den Wirt nach ihnen.
Der zog ein saures Gesicht und wagte es nicht, Reith in die Augen zu schauen. „Du mußt
doch wissen, wo sie ist. Und der Bursche wurde auf ganz unvernünftige Art wütend, als man
sie holte. Er soll gehängt werden."
„Wie lange ist das schon her?" fragte Reith betont ruhig.
„Nicht lange. Der Bursche war wirklich ein Narr. Ein solches Mädchen ist doch wirklich eine
Verlockung. Er hatte kein Recht, sie zu verteidigen."
„Brachten sie das Mädchen in den Turm?"
„Ich denke schon. Aber was geht das mich an? Naga Goho tut, was ihm paßt. Er hat die
Macht in Pera."
Reith übergab Anacho seine Tasche und behielt nur seine Waffen. „Gib auf meine Sachen
acht", bat er. „Falls ich nicht zurückkomme, kannst du sie behalten."
„Willst du schon wieder dein Leben aufs Spiel setzen?" fragte Anacho entrüstet. „Und was ist
mit deinem Eigentum?"
„Das kann warten." Reith lief der Zitadelle entgegen.

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10.


Die untergehende Sonne schien voll auf die Plattform um den Galgen. Es war eine
buntgemischte Gesellschaft, die gekommen war, um der Exekution zuzusehen. Sechs
Schnapper waren anwesend; sie trugen reichgeschmückte dunkelrote Jacken. Zwei standen
beim Seil, zwei hielten Traz, den seine Beine nicht mehr zu tragen schienen. Einer lehnte an
einem Pfosten mit dem Katapult in der Hand, und der letzte sprach zu der apathischen Menge.
„Auf Anweisung von Nage Goho muß dieser bösartige Verbrecher, der es gewagt hat, Gewalt
anzuwenden, hängen!"
Die Schlinge wurde um Traz' Hals gelegt. Er hob den Kopf, und sein glasiger Blick glitt über
die Menge. Wenn er Reith erkannt hatte, so gab er doch kein Zeichen.
Reith drängte sich durch die Menge, bis er neben dem Galgen stand. Solche Dinge passierten
auf Tschai täglich; man durfte also in seinen Mitteln nicht wählerisch sein. Das war Reith
auch nicht, denn in dem Augenblick, als der eine Schnapper das Signal zum Anziehen des
Seiles gab, stieß er ihm das Messer in die Brust. Mit der nächsten Bewegung schaltete er zwei
weitere Burschen aus. Auch sie ereilte ihr Schicksal. Reith rannte zu Traz und befreite ihn von
der Schlinge. Er befahl zwei Schnappern, den erschöpften Jungen zum Gasthaus zu bringen
und zu veranlassen, daß man sich um ihn kümmerte und ihn versorgte. Nachdem er wußte,
daß sein Befehl befolgt wurde, eilte er zu Naga Gohos Palast. Eine Gruppe betrunkener und
johlender Schnapper versperrte ihm den Weg, und er mußte sich eng an die Mauern der
Zitadelle halten. Schließlich mußte er sogar an Mauervorsprüngen entlangklettern und sich
mit den Fingerspitzen in schmalen Spalten festklammern. Endlich kam er an ein Fenster mit
einem Gitter aus geflochtenen Weidengerten.
Reith riß das Gitter auf und kletterte hinein.
Mit ein paar Sprüngen war er an der Tür, riß sie auf und sah auf einen bepflanzten Hof hinaus.
Von einem Torbogen gegenüber vernahm er Stimmengemurmel. Reith schlüpfte über den
Hof, lugte durch den Torbogen und blickte in eine mit bunten Teppichen ausgelegte
Speisehalle. Schwere Tische und Stühle standen unter riesigen Kandelabern, und dort saß
auch Naga Goho in einem prunkvollen, über die Schultern zurückgeschlagenen Pelzmantel
beim Abendessen. Am anderen Ende des Raumes hockte die Blume von Cath. Reith sah, daß
ihre Hände gefesselt waren. Naga Goho ließ sich gerade das Essen schmecken.
Reith sah ein paar Minuten lang zu, dann trat er ruhig ein. Ylin-Ylan blickte auf, aber ihr
Gesicht blieb ausdruckslos, den Reith hatte ihr zu schweigen bedeutet. Naga Goho folgte aber
ihren Augen, drehte sich herum und sprang auf, so daß sein Mantel zu Boden fiel. „He! Eine
Ratte im Palast!" brüllte er und rannte nach seinem Schwert, das an einem Bankrücken hing.
Aber Reith kam zuerst an, versetzte Naga Goho einen wuchtigen Fausthieb, der ihn über den
Tisch warf, und sprang ihn an. Beide waren geschickte Kämpfer, aber Reith war flinker und
warf Naga Goho zu Boden. Die Arme auf den Rücken gefesselt und ein Knebel im Mund —
das war das Ende des großen Naga Goho.
Reith befreite Ylin-Ylan. Sie schloß die Augen und war so blaß, daß Reith fürchtete, sie
werde ohnmächtig. Aber sie lehnte sich nur weinend an Reiths Brust, und er streichelte
beruhigend ihren Kopf. Doch dann wollte er nur noch so schnell wie möglich weg. Er
befestigte also ein Seil um Naga Gohos Hals und befahl ihm aufzustehen.
Im Hof hockten die üblen Burschen vor ihren Bierkrügen. Reith gab der Blume von Cath das
Seil. „Geh hier durch", sagte er. „Beeile dich nicht. Gib nicht auf die Männer acht. Führe den
Goho so am Seil die Straße entlang."
Das tat Ylin-Ylan. Die Schnapper sahen entgeistert zu, und Naga Goho gab undeutliche Laute
von sich. Langsam standen die Männer auf. Einer trat ein paar Schritte vor. Da betrat Reith
den Hof. „Zurück!" rief er. „Auf die Plätze!"
Ylin-Ylan ging mit dem Goho bereits den Hügel hinab. „Euer Häuptling ist erledigt!" rief

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Reith den Männern zu, „und ihr auch! Ihr geht jetzt alle den Hügel hinunter, aber eure Waffen
bleiben hier! Und keiner folgt uns!" Reith lief Ylin-Ylan nach, die mit Naga Goho reichlich
zu tun hatte, und ergriff das Seil.
Az und Braz standen am Osthimmel. Die weißen Häuser von Pera schimmerten in einem
unwirklichen Licht. Auf dem Platz hatte sich eine riesige Menschenmenge angesammelt, denn
das Gerücht von dem Handstreich hatte sich schnell verbreitet.
Reith blieb stehen und zerrte grinsend am Seil. „Leute, das hier ist Naga Goho!" rief er. „Jetzt
ist er kein Häuptling mehr, denn er hat ein Verbrechen zuviel begangen. Was sollen wir mit
ihm tun?"
„Er verdient den Tod", riefen die Umstehenden wie im Chor.
„Niemand verlangt für ihn Barmherzigkeit", stellte Reith fest, und wandte sich Naga Goho zu.
„Deine Zeit ist um." Er zog ihm den Knebel aus dem Mund. „Hast du noch etwas zu sagen?"
Aber Naga Goho fand keine Worte mehr.
„Nun, dann wollen wir ihm ein schnelles Ende bereiten", sagte Reith, „obgleich er
Schlimmeres verdient."
Fünf Minuten später gab es den ehemaligen Häuptling nicht mehr. Reith sprach zur Menge:
„Ich bin ein Neuankömmling in Pera, aber ich weiß — ebenso wie ihr —, daß die Stadt eine
verantwortliche Leitung braucht. Ihr seid doch Menschen! Warum laßt ihr euch von diesen
Schurken vergewaltigen? Morgen müßt ihr euch zusammensetzen und fünf tüchtige Männer
aus eurer Mitte wählen, die den Rat der Ältesten bilden. Einer soll dann nach dem Willen des
Rates ein Jahr lang regieren, mit dessen Unterstützung Recht sprechen und Steuern festsetzen.
Dann müßt ihr eine bewaffnete Truppe aufstellen, die gegen die Grünen Chasch kämpfen, sie
vielleicht vertreiben oder vernichten kann. Vergeßt nie, daß wir Menschen sind!" Er sah zur
Zitadelle hinauf. „Zehn oder elf dieser Schurken sind noch oben. Morgen könnt ihr
entscheiden, was mit ihnen geschehen soll. Vielleicht versuchen sie zu fliehen. Deshalb
müssen Wachen aufgestellt werden. Zwanzig Mann werden genügen." Reith deutete auf einen
großen Mann mit schwarzem Bart. „Du siehst tüchtig und vertrauenswürdig aus. Nimm die
Sache in die Hand. Du bist der Kommandant. Nimm dir zwei Dutzend Männer oder mehr,
und haltet Wache. Ich muß mich jetzt um meinen Freund kümmern."
Reith und die Blume von Cath kehrten zum Gasthaus zurück. Ylin-Ylan nahm Reiths Hand
und küßte sie. „Ich danke dir, Adam Reith."
Sie begann zu schluchzen. Sie war müde und erschöpft. Reith küßte sie auf die Stirn, dann
ihren Mund — trotz seiner guten Vorsätze.
Traz schlief schon in einem Zimmer neben der Gaststube, als sie im Gasthaus ankamen.
Neben ihm saß Anacho, der Dirdirmann. „Wie geht es ihm?" erkundigte sich Reith.
„Ziemlich gut", erwiderte Anacho düster. „Ich habe seinen Kopf gebadet. Kein Schädelbruch.
Morgen wird er wieder auf den Beinen sein."
Reith kehrte in die Gaststube zurück, aber die Blume von Cath war nirgends mehr zu sehen.
Nachdenklich aß er eine Schüssel Fleisch mit Krautern und ging hinauf in den Schlafraum,
wo Ylin-Ylan auf ihn wartete.
„Ich habe noch einen Namen, den allergeheimsten, den ich nur meinem Geliebten verrate",
sagte sie. „Wenn du ein bißchen näher kommst..."
Keith beugte sich zu ihr hinunter, und sie wisperte ihm den Namen ins Ohr.


11.


Am nächsten Morgen hielt sich Reith auf den Ladeplätzen der Wagen auf und unterhielt sich
mit einem der zugänglicheren Wagenmeister über seine Fahrten nach Dadiche und erfuhr, auf
welchen Straßen der Stadt und in welchen Vierteln sich die Wagen bewegen durften. Um in

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die Stadt zu gelangen, sei aber, so hörte er, eine Lizenz erforderlich. Nach einigem Handeln
und Verhandeln erklärte sich Reith bereit, fünfzehn Sequinen zu bezahlen, um nach Dadiche
mitgenommen zu werden. Im Preis eingeschlossen waren Wagenführerkleider. Gleichzeitig
erhielt er genaue Anweisungen, welche Blätter er kauen und womit er sich einreiben müsse,
um seinen Geruch zu überdecken.
Das tat Reith, und bald war er abfahrtbereit. Auf seiner Schulter steckte eine Plakette aus
weißem Glas, die Lizenz. „Wenn du durch das Tor fährst", erklärte ihm Emmink, der
Wagenführer, „dann rufst du laut deine Nummer. Dann sagst du nichts mehr und steigst auch
nicht vom Wagen ab. Wenn sie riechen, daß du ein Fremder bist, kann ich dir nicht helfen. Du
darfst mich dann nicht ansehen." Diese Anweisung war nicht gerade ermutigend für Reith.
Der Wagen rumpelte den grauen Hügel entgegen.
Bald breitete sich vor ihnen Dadiche aus, eine Stadt von bizarrer und irgendwie drohender
Schönheit. Reith fühlte sich nun doch etwas unbehaglich in seiner Verkleidung, und sein
ungewohnter Geruch behagte ihm ganz und gar nicht. Und was war mit Emmink? Konnte er
ihm vertrauen, sich auf ihn Verlassen?
„Wo wirst du deine Waren abladen?" fragte Reith.
Emmink schien sich die Antwort besonders sorgfältig zu überlegen. „Wo ich den besten Preis
dafür bekommen kann", meinte er schließlich. „Vielleicht am Nordmarkt, vielleicht aber auch
am Flußmarkt. Oder im Bonte Bazar."
„Ah, so", sagte Reith nur und deutete auf ein großes, weißes Gebäude. „Und was ist das
dort?"
Emmink zuckte uninteressiert die Achseln. „Geht mich nichts an. Ich kaufe, transportiere und
verkaufe. Sonst will ich nichts wissen."
„Hm. Verstehe. Aber ich möchte gerne, daß du an dem Gebäude vorbeifährst."
„Liegt sowieso auf meinem Weg", grunzte Emmink.
Sie rollten den Hügel hinab zum großen Tor in der Mauer, wo die ankommenden Fahrzeuge
kontrolliert wurden. Emmink schrie seine Nummer, und Reith tat es ihm nach, und der
kontrollierende Chaschmann — ein kleiner, krummbeiniger Kerl — winkte sie durch die
Sperre.
„Du hast aber Glück gehabt, daß keiner von den Blauen Chaschoffizieren da war. Die hätten
nämlich deinen Angstschweiß gerochen. Wenn du als Wagenführer durchgehen willst, mußt
du schon mehr Kaltblütigkeit aufbringen", sagte Emmink.
„Du verlangst wirklich sehr viel", meinte Reith. „Schließlich tu ich doch, was ich kann."
Dadiche war eine Stadt der Wohlgerüche. Es roch nach Muskat, Anis, nach verbranntem
Bernstein und nach Blumen, die einen moschusähnlichen Duft ausströmten.
Anscheinend rechnete Emmink damit, daß Reith etwas Unbedachtes tun könnte und erzählte
ihm zur Warnung folgende Geschichte: Ein Wagenführer sei einmal, um einem menschlichen
Bedürfnis nachzugeben, von seinem Wagen gestiegen und grundlos von den Blauen Chasch
eingefangen und weggeführt worden. Man habe ihn in einen großen Bottich mit übelriechen-
dem Brei gesetzt, der ihm bis ans Kinn reichte. Diesen Brei brachte man fast zum Sieden.
Wurde er unerträglich heiß, so mußte der arme Kerl auf den Boden des Bottichs tauchen und
dort an einem Ventil drehen, worauf der Brei eiskalt wurde. Und so ging das vier Tage und
Nächte hindurch. Trotzdem überlebte der Mann. Man entließ ihn zu seinem Wagen, damit er
überall diese Geschichte weitererzählen konnte, um jeden Unbefugten vom Betreten der Stadt
und jeden, der in die Stadt kam, von unbedachten Handlungen abzuhalten.
Emmink warf, als er seinen Bericht beendet hatte, Reith einen prüfenden Blick zu. „Was
führst du gegen sie im Schilde? Ich kann dir ziemlich genau sagen, wie sie darauf antworten
werden."
„Ich führe nichts im Schilde. Ich bin nur neugierig und möchte sehen, wie die Blauen Chasch
leben."
„Die leben wie Irre", antwortete er. „und das sagen alle, die sie kennen. Die Langeweile

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vertreiben sie sich damit, daß sie Grüne Chasch und Phung oder einen Dirdir und einen
Pnume einfangen, zusammensperren und gegeneinander hetzen. Das macht ihnen Spaß. Feine
Leute, was?"
„Ich möchte nur wissen", meinte Reith nachdenklich, warum sich die das gefallen lassen. Man
sollte doch denken, mit diesen Dingen müßte einmal ein großer Krieg aufräumen. Sind die
Dirdir denn nicht mächtiger als die Blauen Chasch?"
„Das sind sie auch, und ich habe gehört, daß. ihre Städte einfach wundervoll sind. Aber die
Chasch haben Torpedos und Minen, mit denen sie die Dir-dirstädte vernichten können, falls
die Dirdir angreifen sollten. Aber solange sie mich in Ruhe lassen, kann's mir gleich sein. Ah,
da vorne ist der Nordmarkt. Du mußt wissen, die Chasch handeln gerne, betrügen aber
meistens. Du mußt den Mund halten und darfst nicht einmal den Kopf schütteln oder nicken,
wenn ich verhandle."
Reith war nun Zeuge des härtesten Handels, den er je erlebt hatte. Beide Parteien fuchtelten
mit den Armen, lamentierten und beschimpften sich, bis es schließlich dem Blauen Chasch
zuviel würde und er sich einem anderen Wagen zuwandte. Emmink winkte Reith zu, daß der
Handel zu Ende sei, er wolle jetzt zum Bonte Bazar. „Manchmal", erklärte er, „halte ich den
Preis absichtlich hoch, um den Marktpreis zu erfahren, aber auch um sie zu ärgern."
Er hatte nicht vergessen, daß Reith an dem großen weißen Gebäude vorüberfahren wollte und
fuhr eine Straße entlang, die sich in Flußnähe durch ein Viertel mit Gärten und Villen wand.
Manchmal sahen sie zwischen den eleganten Häusern kleine Hütten und Kuppeln, vor denen
im Sand nackte Kinder spielten. Emmink erklärte dazu: „Man sagt, daß hier der wahre
Ursprung der Blauen Chasch zu finden sei. Die Chaschmenschen glauben nämlich, daß in
jedem ein Homunkulus heranwächst, der nach dem Tod des Trägers befreit und ein richtiger
Chasch wird. Das lehren die Blauen Chasch. Ist es nicht absurd?"
„Das sollte man meinen", erwiderte Reith. „Haben die Chaschmenschen denn niemals
menschliche Leichen oder Kinder der Blauen Chasch gesehen?"
„Sicher haben sie das. Aber sie suchen für jeden Widerspruch eine Erklärung; wie könnten sie
sonst ihre Unterwürfigkeit gegenüber den Chasch rechtfertigen?"
Emmink mußte wohl mehr über solche Fragen nachdenken, als es den Anschein hatte;
deshalb fragte ihn Reith auch: „Glauben sie, daß die Dirdir sich aus den Dirdirmenschen
entwickeln? Oder die Wankh aus den Wankhmenschen?"
Emmink zuckte die Achseln. „Vielleicht ... Man weiß es nicht genau. Im übrigen ist dort
drüben dein Gebäude."
Es war ein großes Gebäude, das — wie Reith überzeugt war — sein Raumboot beherbergte.
Reith musterte das Bauwerk. Drei große Tore unterbrachen die Fassade; das linke und
mittlere Tor war geschlossen, das rechte offen. Im Vorüberfahren sah Reith hinein und
erkannte riesige Maschinen, das Glühen heißen Metalls, eine Plattform ähnlich der, die das
Raumboot aus dem Sumpf gehoben hatte.
Reith wandte sich zu Emmink um. „Dieses Gebäude hier ist eine Fabrik, wo Luft- und
Raumschiffe gebaut werden."
„Ja, natürlich", grunzte Emmink. „Warum hast du mir das nicht gesagt?"
„Für Informationen hast du ja nicht bezahlt. Ich verschenke nichts."
„Fahr noch mal um das ganze Gebäude herum."
„Dann kostet das fünf Sequinen extra."
„Zwei. Und wenn dir das nicht paßt, dann muß ich dir leider die Zähne einschlagen."
Emmink fluchte vor sich hin und fuhr um die Fabrik herum. „Hast du je in der Mitte oder
links hineingesehen?" fragte Reith.
„Kaum. Ich muß nach mir selbst sehen."
„Wieviel wäre eine Information wert?"
„Nichts. Ich weiß nichts." „Eine Sequine?" Emmink nickte.
„Manchmal stehen die anderen Tore offen. In der Mitte bauen sie Raumschiffe, die dann

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herausgerollt und weggefahren werden. Im linken Gebäudeteil bauen sie kleinere
Raumschiffe, wenn sie gebraucht werden. In letzter Zeit wird dort nicht viel getan. Die
Blauen Chasch sind keine begeisterten Raumfahrer."
„Hast du je beobachtet, daß man Raumschiffe oder -boote zur Reparatur hierherbringt?
Vielleicht vor ein paar Monaten?"
„Nein. Warum fragst du?" „Diese Information wird dich etwas kosten", antwortete Reith.
Emmink grinste boshaft und entblößte riesige, gelbe Zähne. Er sagte nichts mehr.
„Und jetzt fährst du herunter von der Straße", befahl Reith, „bleibe ein paar Minuten hier
stehen."
Emmink legte Protest ein, aber Reith schob den Antriebshebel zurück, und der Wagen stand.
Errimink war wütend.
„Steig aus", knurrte Reith, „schau nach deiner Energiezelle oder mach etwas an den Rädern.
Beschäftige dich irgendwie." Er sprang herunter und sah zur Fabrik hinüber. Das rechte Tor
so weit offen zu sehen, war eine Qual. So nahe und doch so fern! Wenn er es nur wagen
könnte, die kurze Strecke zum Tor zurückzulegen und hineinzuschauen!
Und was dann? Angenommen, er sah sein Raumboot. Sicher war es nicht flugfähig.
Wahrscheinlich hatten die Techniker der Blauen Chasch den Mechanismus mindestens
teilweise ausgebaut. Und jetzt würden sie daran herumrätseln. Besonders ermutigend waren
die Aussichten also nicht. Und war das Boot nicht dort drinnen, sondern nur Paul Waunders
Funkgerät, dann mußte er alles neu durchdenken und andere Pläne schmieden.
Emmink schien sich beruhigt zu haben; Reith beschloß, ihn um Rat zu fragen. „Emmink",
sagte er, „was würdest du tun, wenn du erfährst, daß dort drinnen — sagen wir einmal — ein
kleines Raumboot ist?"
Emmink brummte. „Solch eine Narretei ließe ich mir gar nicht einfallen. Ich würde auf
meinen Wagen steigen und davonfahren, solange ich noch lebe und gesund bin."
„Kannst du dir keinen Auftrag ausdenken, der uns in das Gebäude hineinbringt?"
„Nein. Absolut ausgeschlossen." „Oder uns wenigstens nahe an dem offenen Tor
vorbeiführt?"
„Nein! Das geht auf keinen Fall!" Sehnsüchtig sah Reith zum Portal hinüber. Er wurde
allmählich wütend auf sich selbst, die Umstände, die Blauen Chasch, auf Emmink und den
Planeten Tschai. Diese paar Schritte — nicht einmal eine halbe Minute. Aber dann hatte er
auch seinen Entschluß gefaßt. „Warte hier", befahl er Emmink und eilte mit großen Schritten
davon. „Komm sofort zurück!" rief Emmink. „Sag mal, bist du wahnsinnig?"
Aber Reith ließ sich nicht zurückholen. Auf dem Gehsteig vor dem Gebäude standen ein paar
Chaschmänner, die aber keine Notiz von ihm nahmen. Reiths Herz hämmerte. Seine
Handflächen waren feucht. Die Blauen Chasch mußten seinen Schweiß riechen. Wußten sie,
daß es Angstschweiß war? Aber vielleicht bemerkten sie ihn gar nicht, denn sie kamen mit
gesenkten Köpfen auf ihn zu, und Reith hatte seinen breitkrempigen Hut tief in die Stirn gezo-
gen. Reith lief an ihnen vorbei. Noch fünf Meter zum Tor. Die drei drehten sich wie auf
Kommando gleichzeitig um. Einer der drei redete mit gequetschter Mikrophonstimme auf ihn
ein: „Mann! Wohin gehst du?"
Reith blieb stehen. Eine Ausrede hatte er blitzschnell zur Hand. „Ich komme wegen
Altmetall."
„Welches Altmetall?"
„Das neben dem Tor. Es ist in einer Kiste, hat man mir gesagt."
„Ah!" Den Ton konnte Reith nicht deuten. „Kein Altmetall!"
Auch die anderen murmelten etwas und gaben ein Zischen von sich, das die Bedeutung
menschlichen Gelächters hatte. „Altmetall? Nicht in der Fabrik. Dort drüben. Siehst du das
Gebäude dort drüben?"
„Danke!" rief Reith. „Ich will nur mal nachsehen!" Er tat die letzten paar Schritte zum Tor
und warf einen Blick in eine riesige, von Maschinengeräuschen summende Halle, die nach Öl,

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Metall und Ozon roch. Blaue Chasch und Chaschmänner arbeiteten nebeneinander. An den
Wänden reihten sich — ähnlich wie in irdischen Betrieben — Werkbänke, Regale und
Abfallkästen. In der Mitte stand ein großer Metallkörper, vielleicht der Rumpf eines mit-
telgroßen Raumschiffes. Dahinter, aber kaum mehr sichtbar, erkannte Reith einen vertrauten
Umriß: das Raumboot, mit dem er nach Tschai gekommen war!
Der Rumpf schien unbeschädigt zu sein. Reith konnte nicht feststellen, ob die Geräte
ausgebaut waren, denn er durfte sich nur einen kurzen Blick darauf erlauben. Hinter ihm
standen die drei Blauen Chasch, und die blaugeschuppten Köpfe waren lauschend geneigt.
Reith wußte plötzlich, daß sie ihn rochen. Langsam gingen sie auf ihn zu.
Einer sprach ihn an: „Mann! Achtung! Hier umkehren. Es gibt kein Altmetall!"
„Du riechst nach Menschenfurcht und seltsamen Substanzen", sagte ein anderer.
„Ah, eine Krankheit", antwortete Reith.
„Du riechst wie ein seltsam gekleideter Mann, den wir in einem fremden Raumschiff fanden",
sagte der dritte. „Und du riechst auch nicht echt. Für wen spionierst du?"
„Für niemanden. Ich bin ein Wagenfahrer und muß nach Pera zurück."
„Pera ist ein Spionenloch. Wir müssen dort wieder einmal Ordnung schaffen. Wo ist dein
Wagen?"
Reith setzte sich in Bewegung. „Draußen auf der Straße." Er deutete und blieb entgeistert
stehen. „Mein Wagen!" schrie er. „Gestohlen! Wer hat ihn gestohlen?" Damit rannte er in den
bepflanzten Streifen hinein, der die beiden Straßen vor und hinter dem Gebäude voneinander
trennte. Einer der Blauen Chasch rannte ihm ein Stück nach, ein anderer sprach in ein
Mikrophon, und der dritte lief zum Tor und sah nach, ob das Raumboot noch da war.
„So, jetzt habe ich die ganze Geschichte erst richtig um die Ohren", sagte Reith zu sich selbst.
Vorsichtig blickte er sich um, rannte in langen Sprüngen zur Straße und sprang auf, als ein
mit leeren Körben beladener Wagen an ihm vorbeifuhr. Der Wagenführer merkte nichts.
Hinter ihm surrten Elektromotorräder heran. Hatte man die Absicht, eine Straßensperre zu
errichten? Oder die Wachen an den Haupttoren zu verstärken? Vielleicht beides, überlegte
Reith, und dann endete das Abenteuer, wie Emmink vorausgesagt hatte, mit einem Fiasko.
Der Wagen ratterte weiter, aber Reith wußte, daß er keine Chance hatte, durch die Wachen zu
schlüpfen. Er ließ sich also in der Nähe des Nordmarktes vom Wagen fallen und verschwand
sofort hinter einem niedrigen Bau aus weißem, porösem Beton. Er kletterte auf das Dach
hinauf, von dem aus er die Straße bis zum Tor überblicken konnte. Seine Befürchtungen
waren vollauf gerechtfertigt: Purpurn und grau uniformierte Sicherheitspolizisten hielten das
Tor besetzt und überwachten den Verkehr. Wenn er also die Stadt verlassen wollte, mußte er
einen anderen Weg wählen. Den Fluß? Vielleicht konnte er nachts ungesehen hinuntertreiben.
Ein Luftschlitten glitt über ihm dahin. Er war mit Blauen Chasch besetzt, die seltsame
Kopfbedeckungen trugen; sie waren mit Antennen besetzt, die Insektenfühlern glichen. Reith
nahm an, diese Antennen seien Lautverstärker, mit denen sie ihn gesucht und auch aufgespürt
hatten. Aber der Schlitten schwebte weiter. Reith atmete erleichtert auf. Weitere Luftschlitten
waren nicht zu sehen. Er erhob sich auf die Knie und sah sich um. Hinter hohen
Adarakbäumen erkannte er den Nordmarkt mit seinem Gewühle, und der sanfte Wind trug
eine Vielfalt von Gerüchen von dort herüber. Weiter rechts sah er eine Anzahl von
Chaschmenschenhütten, die von Gärten umgeben waren. Dahinter stand an der Mauer ein
hölzernes Gebäude mit hohen, schwarzen Bäumen daneben. Wenn er dieses Gebäude
erreichte und das Dach erklettern konnte, mochte es ihm vielleicht gelingen, über die Mauer
zu kommen. Die Dämmerung war für ein solches Vorhaben am günstigsten. Bis dahin
vergingen noch zwei oder drei Stunden.
Er kletterte vom Dach herunter und suchte sich ein paar Holzstücke zusammen, die er sich
unter die Schuhe band. Die Blauen Chasch konnten ja vielleicht Bluthunde oder andere
Spurensucher einsetzen; so bestand weniger Gefahr, daß man seine Spuren verfolgen konnte.
Kaum fünfzig Meter weiter mußte er plötzlich in Deckung gehen, denn er hörte etwas. Neben

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einer Hütte standen drei Chasehmänner mit zwei Blauen Chasch, von dem einer ein
Detektorgerät in den Händen hielt; mit einer Art Fahne wedelte er über den Boden. Sofort
hatte er Reiths Spuren entdeckt, sah aber einigermaßen verwirrt drein, als diese auf das Dach
hinaufführten, wo der Gesuchte nicht mehr zu finden war. Reith mußte lachen. Dann schlich
er vorsichtig davon.
Hinter einem Baum neben dem großen Gebäude ging er in Deckung. Das Dach befand sich
ganz in der Nähe und etwa in der Höhe der Mauer. Nun sah Reith auch mehrere Luftschlitten
über der Stadt, und einige schwebten ganz niedrig über der Gegend, die er vor kurzem
verlassen hatte. Sie zogen schwarze Zylinder hinter sich her — wahrscheinlich Suchgeräte. Er
mußte sich also, um nicht entdeckt zu werden, möglichst im Innern des Gebäudes verstecken.
Er lauschte eine Weile, hörte aber nichts. Er nahm die Holzklötze ab und tat einen Schritt
vorwärts. Da hörte er einen Gong. Eine Prozession Chaschmänner in grauen und weißen
Gewändern kam die Straße herauf; sie trugen auf einer Bahre einen Toten. Hinter ihnen
schritten Chaschmänner und -Frauen, die einen klagenden Gesang anstimmten, als der Gong
verstummte. Das Gebäude schien also eine Leichenhalle zu sein. Die Prozession hielt vor
dem Portal; die Leute schwiegen, und die Träger setzten die Bahre auf der Veranda ab. Der
Gong schlug einmal an.
Langsam öffnete sich das Portal, und ein goldener Strahl schoß auf den Toten herab. Der
Strahl wurde zur leuchtenden Flamme.
Der Gong schlug wieder an, und der Zug entschwand bald Reiths Blicken.
Reith kroch durch die Büsche zum Leichenhaus. Niemand war zu sehen. An der Rückseite
des Gebäudes fand er einen kleinen Torbogen, der in einen Lagerraum führte; auf Regalen
standen Behälter in allen Formen und Größen, Haufen von alten Kleidern lagen aufge-
schichtet in den Ecken, die verschiedensten Geräte lehnten an den Wänden. Reith kroch
hinein und versteckte sich hinter einem gerüstartigen Gestell.
Zwei Stunden vergingen. Reith wurde allmählich unruhig. Vorsichtig blickte er sich um. In
einer Nebenkammer fand er eine Kiste mit falschen Schöpfen, und an jedem hing ein
Schildchen. Einen probierte er auf; er paßte. Das Schildchen riß er ab. Aus einem
Kleiderhaufen suchte er sich einen alten Mantel heraus und zog ihn an. Wenn man ihn nicht
genau betrachtete, konnte man ihn jetzt für einen Chaschmenschen halten.
Es wurde dunkler. Reith sah durch das Fenster und bemerkte, daß die Sonne hinter einer
Wolkenbank verschwunden war. Er trat hinaus und suchte den Himmel ab; keine Luftschlitten
waren zu sehen. Er wählte einen passenden Baum aus und kletterte hinauf. Endlich erreichte
er auf diese Weise schwitzend das Dach des Leichenhauses.
Er warf einen Blick über die Mauer. Wenn er sich an die Mauer klammerte und dann fallen
ließ, waren es vielleicht noch acht Meter bis zum Boden. Das konnte gebrochene Beine oder
verstauchte Knöchel bedeuten. Aber was hatten die Spitzen zu bedeuten, mit denen die Mauer
bestückt war? Er nahm den Mantel ab und ließ ihn darübergleiten. Kaum berührte er die erste
Spitze, da schoß auch schon ein Flammenblitz heraus, und der Mantel brannte. Reith trat die
Flammen aus. Wahrscheinlich hatte er jetzt einen Alarm ausgelöst. Was nun? Er glitt eiligst
den Baum hinab und rannte unter die Bäume. Ein Schimmer am Boden zog seine
Aufmerksamkeit auf sich. Es war ein mit weißen Wasserpflanze überwachsener Teich. Rasch
streifte Reith Mantel und falschen Schopf ab, sprang hinein, tauchte bis zur Nase unter und
wartete. Zwei Luftschlitten glitten über ihn weg; von der Straße hörte er die
Elektromotorräder der Polizei. Die Schlitten verschwanden in östlicher Richtung.
Offensichtlich nahm man an, er sei über die Mauer entwischt. Nahm man dann weiter an, er
sei in die Berge entkommen, dann konnte ihm das nur nützen. Da regte sich etwas unter
seinen Füßen. Reith sprang aus dem Teich; dann kam etwas an die Oberfläche und grunzte.
Reith legte den angesengten Mantel um und stülpte den falschen Schöpf auf den Kopf;
tropfend erreichte er einen schmalen Weg, der sich zwischen den Bungalows der
Chaschmenschen durchwand.

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Der Himmel war dunkel. Keiner der Monde zeigte sich. Die Nebenstraßen der
Chaschmenschenviertel waren kaum beleuchtet. Nun war das Tor noch etwa zweihundert
Meter entfernt. Hohe Lampen warfen einen gelben Lichtschein in das Tor. Drei Wächter
standen gleichgültig daneben, und Reith war nun davon überzeugt, daß man ihn längst
irgendwo in den Bergen glaubte. Er suchte sich eine Nische, von der aus er das Tor im Auge
behalten konnte. Die Nacht wurde still und kalt, und die Düfte der Gärten von Dardiche
drangen zu ihm. Reith döste ein.
Az stand hinter einem Adarakbaum, als er erwachte. Reith streckte seine verkrampften Beine
aus, rieb sich den Nacken und gähnte. Seine Kleider waren immer noch feucht und rochen
nicht gerade angenehm.
Am Tor stand nun nur noch ein Wächter, und der schlief fast im Stehen. Reith drückte sich
wieder in seine Nische. Allmählich kam eine graue Dämmerung auf, und die Stadt erwachte.
Bald tauchten auch die ersten Wagen von Pera auf. Einer brachte Fässer mit eingelegten
Gemüsen und fermentiertem Fleisch, und das stank entsetzlich. Auf dem Bock des Wagens
hockte Emmink, der grimmiger dreinsah als je zuvor, und neben ihm saß Traz. Der Wagen
durfte passieren. Reith kam aus seiner Nische heraus und ging neben ihm her. „Traz" rief er
leise. Traz sah hinunter und r.ickte befriedigt. „Ich wußte doch, daß du noch am Leben bist."
„Ja, aber nur ganz knapp. Sehe ich wie ein Chaschmann aus?"
„Nicht sehr. Ziehe den Mantel bis zur Nase hinauf. Wenn wir vom Markt zurückkommen,
halte dich bereit."
Eine Stunde später kehrte der Wagen zurück; er kam langsam an Reith vorbei, der sofort aus
seinem Versteck sprang. Der Wagen hielt. Traz sprang ab, um die Fässer etwas sicherer zu
befestigen; er stellte sich so, daß er die Sicht nach rückwärts versperrte. Reith rannte und
duckte sich unter das rechte Zugtier. Zwischen den Vorderbeinen hatte das Tier eine große
Hautfalte. Diese Hautfalte war zu einer Art Hängematte hergerichtet worden, in die Reith nun
schlüpfte. Der Wagen fuhr weiter. Reith sah nichts als den Bauch des Tieres.
Am Tor hielten sie kurz an, dann rumpelten sie weiter. Eine unendlich lange Zeit schien
vergangen zu sein, bis der Wagen endlich hielt. Traz schaute unter das Tier. „Komm heraus,
niemand beobachtet uns jetzt." Erleichtert sprang Reith heraus, riß sich den falschen Skalp
vom Kopf, war ihn in einen Graben, den Mantel, die stinkende Jacke und das ebenso übelrie-
chende Hemd hinterher, sprang auf den Wagen und lehnte sich an eines der Fässer. „Bist du
irgendwie verwundet?" fragte Traz besorgt.
„Nein, nur müde. Aber ich lebe. Das verdanke ich dir. Und natürlich auch Emmink — nehme
ich wenigstens an."
Traz warf Emmink einen düsteren Blick zu. „Der? Dem mußte ich sogar ziemlich heftig
drohen."
„Ah, ich verstehe", meinte Reith dazu und musterte den in sich zusammengesunkenen
Wagenmeister. „Im Zusammenhang mit Emmink hatte ich selbst ein paar recht unfreundliche
Gedanken."
Die Schultern zuckten, und Emmink drehte sich um. Er grinste. „Ihr werdet Euch erinnern,
edler Herr, daß ich Euch Anweisungen gab und belehrte, bevor ich noch Euren hohen Rang
kannte."
„Hohen Rang?" fragte Reith. „Welchen denn?"
„Der Rat von Pera hat dich zum Ältesten und Sprecher ernannt", erklärte Traz. „Und das ist,
meine ich, schon ein Rang."


12.


Eigentlich hatte Reith keine Lust, über Pera zu herrschen. Ein solches Amt kostete ihn nur

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unendliche Geduld und Energie, beschränkte seine Handlungsfreiheit und brachte ihm keinen
Vorteil. Und außerdem würde er nur versucht sein, nach irdischen Grundsätzen zu regieren,
eine Unmöglichkeit bei der bunt zusammengewürfelten Bevölkerung der Stadt.
Und was sollte aus seinem Raumboot werden? Würde sich je die Möglichkeit ergeben, zur
Erde zurückzukehren? Hilfe konnte er kaum von irgendeiner Seite erwarten. Außerdem
wußten die Blauen Chasch nun von seiner Existenz und machten sich über seine Herkunft
wohl Gedanken. Schließlich schlief er vor Müdigkeit ein.
Erst in Pera wachte er wieder auf. Traz berichtete ihm, daß die Zitadelle inzwischen von den
letzten Schnappern geräumt war, die es nicht glauben konnten, daß sich die Zeiten so grundle-
gend geändert hatten. Die Bevölkerung von Pera bewies ihnen das Gegenteil. „Willst du im
Palast wohnen?" fragte Traz, und die Andeutung einer Ablehnung war aus seiner Frage
herauszuhören.
„Nein", antwortete Reith. „Dort hat Naga Goho gewohnt. Ziehen wir jetzt dort ein, dann
denken die Leute nur, wir seien auch nicht besser."
„Ein schöner Palast ist es ja schon, und er enthält viel interessante Dinge", meinte Traz nun
doch ein wenig unsicher. „Offensichtlich bist du entschlossen, Pera zu regieren."
„Ja, offensichtlich bin ich das", antwortete Reith schließlich.

*


Reith verbrauchte viel Wasser und eine Menge Öl, bis er den ganzen Gestank von seinem
Körper abgewaschen hatte. Er konnte einfach nicht begreifen, weshalb man auf Tschai keine
Seife kannte. Er mußte einmal Ylin-Ylan fragen, ob Seife in Cath auch unbekannt war ...
Dann nahm Reith eine ausgiebige Mahlzeit ein. Das Gasthauspersonal behandelte ihn mit
ausgesuchter Zuvorkommenheit, und alle in der Gaststube unterhielten sich nur | flüsternd.
Die Ratsherren von Pera standen schon bereit, um sich mit ihrem neugewählten
Stadtoberhaupt zu beraten.
Reith ließ von Anfang an keinen Zweifel aufkommen, daß er ein strenges, aber gerechtes
Regiment zu führen gedenke und auf die Mitarbeit der ganzen Bevölkerung hoffe. Falls sie
mit seinem Programm nicht zufrieden seien, stehe es ihnen frei, ein anderes Oberhaupt zu
wählen. Sie beratschlagten miteinander und erklärten sich endlich bereit, auf seine
Bedingungen einzugehen.
Reith hatte gehofft, sie möchten zu einem anderen Entschluß kommen, und seufzte. „Nun,
dann sei es. Aber ich warne euch: Ich verlange viel von euch. Ihr müßt härter arbeiten, als je
vorher in eurem Leben, zu eurem eigenen Besten." Nun erklärte er ihnen ausführlich, was er
vorhatte, und erntete schließlich für seine Pläne eine gemäßigt begeisterte Zustimmung.
Nachdem sich der Rat verabschiedet hatte, begab sich Reith mit Anacho und drei Ratsherren
zur Zitadelle; ihm und den anderen gingen fast die Augen über bei dem, was sie dort an
Schätzen fanden. Riesige Mengen von Stoffen, Leder, seltenen Hölzern, Werkzeugen und
Geräten, feinsten Lebensmitteln und köstlichen Luxusartikeln waren dort aufgestapelt, und in
einem Alkoven fand Reith eine Truhe, die halb mit Sequinen gefüllt war. Zwei weitere
kleinere Truhen enthielten Edelsteine und sonstige Kostbarkeiten. Es war wie in einer
Schatzhöhle. Jeder suchte sich ein schönes Stahlschwert mit reichen Verzierungen aus, und
Traz durfte sich noch neue, kostbare Kleider auswählen.
Als sie am späten Abend die Zitadelle verließen, fiel Reith eine große, beschlagene Tür auf,
die eine ganze Nische ausfüllte. Sie brauchten ihre ganze Kraft dazu, diese Tür zu öffnen.
Steile Steinstufen führten in Verliese hinab, in denen Skelette und halb verweste Leichen
herumlagen. Als sie weitergingen, hörten sie Stimmen und entdeckten eine Gruppe
zusammengekauerter Gestalten. „Wasser", wimmerten sie, „Wasser!" Reith hob seine Lampe.
Es waren Chaschmenschen.
Man brachte den Gefangenen Wasser, das sie gierig tranken. Sie erzählten dann, daß Naga

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Goho sie seit langem gefangengehalten habe, nur weil sie Chaschmenschen seien, und Reith
versprach ihnen die Freiheit, da Naga Goho nun tot sei. „Jetzt seid ihr wieder Menschen",
sagte er zu ihnen.
„Nein, wir sind Chasch", antworteten sie.
„Ihr seid Menschen!"
„Nein. Wir sind Chasch im Vorstadium. Das ist die Wahrheit!"
„Hört doch endlich mit diesem Unsinn auf", meinte Reith ärgerlich. „Nehmt diese
lächerlichen Schöpfe ab." Er riß ihnen die hohen, falschen Schöpfe ab. „Ihr seid Menschen
und sonst nichts! Warum laßt ihr es euch gefallen, daß die Chasch euch ausnützen?"
Die Chaschmenschen ließen verlegen und furchtsam die Köpfe hängen.
„Jetzt kommt", befahl Reith kurz. „Heraus mit euch!"

*


Eine Woche verging. Da er nichts Besseres zu tun wußte, stürzte Reith sich in die Arbeit. Er
suchte einige intelligente Frauen und Männer zusammen, die er selbst unterweisen konnte. Sie
sollten dann ihr Wissen weitergeben. Er stellte eine Miliz auf und bestimmte Baojian, den
früheren Karawanenführer, zu deren Befehlshaber. Zusammen mit Anacho und Tostig, einem
alten Nomaden, stellte er eine Reihe vernünftiger Gesetze auf. Bald begriff er, daß eine
Regierung nicht nur darin bestand, daß man Befehle erteilte. Überall sollte er gleichzeitig
sein. Und dabei mußte er immer damit rechnen, daß die Blauen Chasch versuchen würden,
sich seiner zu bemächtigen. Ein anderer Mann wäre längst aus Pera geflohen, aber Reith
dachte nicht daran.
Die befreiten Chaschmenschen hatten es nicht eilig, nach Dadiche zurückzukehren. Vielleicht
waren sie vor der dortigen Justiz geflohen.
Reiths Hauptsorge war aber die Blume von Cath. Das Mädchen war allerdings auch seine
einzige Freude. Er kannte sich jedoch mit ihren Stimmungen nicht aus. Früher war Ylin-Ylan
melancholisch und ziemlich hochnäsig gewesen. Jetzt war sie freundlich und liebenswert und
sehr liebevoll. Gelegentlich schien sie geistesabwesend, dann wieder konnte sie sich nicht
genug reizende Überraschungen für ihn ausdenken. Ihre Melancholie blieb aber immer die
Grundstimmung ihres Wesens. Heimweh, überlegte Reith. Sie mußte sich ja wirklich nach
ihrem Land, ihrer Familie und dem gewohnten Leben dort sehnen. Allmählich würde er wohl
damit rechnen müssen, daß Ylin-Ylan zu klagen begann.
Dann stellte sich auch heraus, daß die befreiten Chaschmenschen keine Bürger von Dadiche
waren, sondern aus Saaba, einer Stadt weiter südlich, geraubt worden waren. Einmal sagte
man in der Gaststube zu Reith, er solle sich doch mit diesen Halbmenschen nicht soviel Mühe
geben, denn sie seien für eine höhere Zivilisation nicht geeignet.
Reith amüsierte sich über den Ernst, mit dem sie ihre Meinung vorbrachten, noch mehr
darüber, daß sie ihn selbst einen Halbmenschen nannten, der nur auf höhere Rassen
eifersüchtig sei.
Reith erklärte ihnen: „Die Blauen Chasch treiben nur ein übles Spiel mit euch, um euch auch
weiterhin ausnützen zu können. Den Dirdirmenschen geht es bei den Dirdir zwar ähnlich, aber
ich zweifle doch, ob die Dirdirmenschen je damit rechnen, Dirdir zu werden." Er sah Anacho
an. „Nun, was meinst du dazu?"
Anachos Stimme zitterte ein wenig. „Die Dirdirmenschen erwarten nicht, Dirdir zu werden.
Das ist ein Aberglaube. Sie sind die Sonne, wir der Schatten. Wir Dirdirmenschen können
ihnen nur nacheifern. Welch andere Rasse hätte je einen solchen Glanz erreicht?"
„Die Rasse der Menschen", antwortete Reith.
Anacho verzog angewidert das Gesicht. „In Cath? Lotusesser!
Die Meribs? Überzüchtete, zerbrechliche Künstler. Die Dirdir stehen auf Tschai einzig da."
„Nein, nein, nein!" protestierten die Chaschmänner und legten ihre Ansicht dar, die Anacho

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entrüstet von sich wies.
Reith erklärte beiden Seiten, daß sie unrecht hätten. „Ich kann euch auch sagen, warum. Im
Augenblick will ich nur nicht. Die Tatsachen kennt ihr aber ebensogut wie ich; ihr müßt nur
eure eigenen Schlüsse daraus ziehen."
„Welche Tatsachen? Welche
Schlüsse?" verlangten sie zu wissen.
„Das ist doch ganz einfach. Chaschmenschen und Dirdirmenschen sind Diener. Menschen
sind weder mit den Chasch und Dirdir, noch mit den Wankh oder Pnume zu vergleichen.
Menschen waren auch nicht seit jeher auf Tschai ansässig; ihre Heimat liegt woanders. Es ist
daher anzunehmen, daß sie in uralten Zeiten als Sklaven von der Welt der Menschen nach
Tschai gebracht wurden."
Darüber gab es lange Diskussionen, die im Laufe des Abends zu erregten
Auseinandersetzungen führten.
Am nächsten Morgen verließen die Chaschmenschen Pera, um nach Dadiche zu fahren —
zufällig mit Emminks Wagen. Reith paßte das nicht ganz, denn man würde über ihn, seine
Tätigkeit und seine radikalen Ansichten nun überall sprechen. Das würde die Blauen Chasch
noch mißtrauischer machen. Die Zukunft erschien ihm wieder einmal recht kompliziert; aber
er konnte sich noch nicht entschließen, wieder in die. Wildnis zu gehen.
Am Nachmittag sah er einer Übung der Miliz zu. Bei dieser Gelegenheit mußte er zwei
Leutnants absetzen, weil sie nicht viel taugten, und neue ernennen. Man begriff anscheinend
den Sinn eines gewissen Drills nicht. „Ihr müßt zu eurem eigenen Wohl bei eurer
Verteidigung so geschickt werden, daß es niemand wagt, euch anzugreifen. Ihr lernt Befehlen
zu gehorchen, als Gruppe zu handeln. Eine Gruppe richtet mehr aus als ein einzelner. Im
Kampf macht der Führer den Plan, und die disziplinierten Krieger führen ihn aus. Ohne
diesen Plan und ohne Disziplin geht jeder Kampf verloren. Habt ihr jetzt verstanden?"
„Wie können Menschen einen Kampf gewinnen?" wurde eingewendet. „Die Blauen Chasch
besitzen Energiewaffen und Kampfflöße. Wir haben nur ein paar Sandstrahler. Die Grünen
Chasch sind überhaupt unschlagbar. Also ist es besser, sich in Ruinen zu verstecken. So haben
die Menschen in Pera immer gelebt."
„Gut", antwortete Reith. „Wenn ihr keine Männerarbeit tun wollt, dann zieht euch
Weiberkleider an und tut Weiberwerk. Nun trefft eure Wahl." Er wartete, aber niemand sagte
mehr etwas.
Reith gab etliche Befehle, und wenig später brachte eine Gruppe von Milizmännern aus der
Zitadelle Stoffballen und Lederbündel. Andere kehrten mit Scheren und Rasiermessern
zurück. Die Männer der Miliz wurden trotz ihres Protestes kahlgeschoren. Dann holte man die
Frauen der Stadt zusammen und ließ sie Uniformen nähen. Als sich die Männer am folgenden
Tag in ihren neuen Uniformen mit den Rangabzeichen gegenseitig bewundert hatten, waren
sie bei ihren Übungen wesentlich besser; die Uniformen schmeichelten ihrem Stolz und
erhöhten ihr Selbstbewußtsein.
Am Morgen des dritten Tages nach der Abreise der Chaschmänner bestätigten sich Reiths
Befürchtungen. Ein riesiges Luftfloß glitt über die Steppe, beschrieb einen Kreis über Pera
und ließ sich dann direkt auf dem Platz vor dem Wirtshaus zur Toten Steppe nieder. Ein
Dutzend Chaschmänner stieg aus — Sicherheitspolizisten in grauen Hosen und purpurnen
Jacken. Sechs Blaue Chasch blieben an Deck und starrten auf den Platz herunter. Diese
Blauen Chasch schienen ganz besondere Persönlichkeiten zu sein, denn sie trugen
knappsitzende Anzüge aus Silberfiligran, große silbergefaßte Rauchquarze und
Silberschutzkappen an den Arm- und Beingelenken.
Zwei von den Chaschmännern betraten das Gasthaus und sprachen mit dem Wirt. „Ein Mann,
der sich Reith nennt, hat sich zu eurem Chef gemacht. Bringt ihn her. Lord Chasch will ihn
sehen."
Der Wirt — halb bereitwillig, halb tückisch — erklärte, Reith sei irgendwo, müsse warten, bis

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er kommt. Man erteilte dem Wirt den Befehl, ihn suchen zu lassen.
Reith überlegte ein paar Minuten, dann kam er seufzend zu der Erkenntnis, daß sich das
Leben in Pera und vielleicht auf ganz Tschai für die Menschen einmal ändern müsse. Er gab
Traz einige Anweisungen und begab sich in die Gaststube des Wirtshauses. „Sage den
Chasch", erklärte er dem Wirt, „daß ich hier mit ihnen reden will."
Er sah ihnen fasziniert entgegen. Kleine, metallen glitzernde Augäpfel in den Höhlen unter
der überhängenden Stirn huschten flink umher; er sah die komischen Nasenöffnungen, die
silbergefaßten Edelsteine und die filigrangeschmückten Waffen. Die Burschen sahen
eigentlich gar nicht so tüchtig, eigenwillig und wunderlich aus; ihre Mienen waren gar nicht
so drohend.
Einer der Chasch trug einen Stein, der größer war als bei den anderen. „Was tust du hier in
Pera?" fragte er Reith mit einer seltsam kehligen Stimme.
„Ich bin das erwählte Stadtoberhaupt", antwortete Reith.
„Du hast Dadiche einen unerlaubten Besuch abgestattet und warst im technischen Zentrum...
Du sagst nichts? Du leugnest also nichts ab. Du riechst anders als die anderen. Du hast in
Dadiche herumspioniert. Warum?"
„Weil ich noch nie in Dadiche war. Ihr kommt ja auch ohne Erlaubnis nach Pera. Natürlich
seid ihr willkommen, solange ihr euch an unsere Gesetze haltet. Ich meine, auf dieser Basis
könnten Leute aus Pera auch Dadiche besuchen."
Die Chaschmänner lachten unwillkürlich, und die Blauen Chasch schienen über soviel
Frechheit erschüttert zu sein. „Du hast eine falsche Doktrin verbreitet", sagte deren Sprecher.
„Woher hast du diese Ideen?"
„Das ist keine falsche Doktrin", widersprach Reith. „Sie ist ganz selbstverständlich."
„Du kommst mit uns nach Dadiche, um eine Reihe von Fragen zu klären. Besteige sofort das
Floß."
Reith schüttelte lächelnd den Kopf. „Wenn ihr Fragen habt, könnt ihr sie jetzt stellen. Dann
stelle ich die meinen."
Einer der Blauen Chasch machte den Chaschmännern ein Zeichen. Sie versuchten Reith zu
packen, aber der trat einen Schritt zurück und sah zu den oberen Fenstern hinaus. Im selben
Augenblick regneten Katapultpfeile herab und bohrten sich in die Köpfe der Chaschmänner.
Die Blauen Chasch umgab ein Kraftfeld, so daß die Pfeile sie nicht verletzen konnten. Aber
Reith hatte schon seine Energiezelle bereit. Eine halbkreisförmige Handbewegung — und die
sechs Blauen Chasch fielen zu Boden.
Alle schwiegen. Die Zuschauer hielten den Atem an. Reith winkte Traz. Sie nahmen den
Toten die Waffen ab; dann ließ Reith die Toten wegbringen. Anschließend bestieg er das
Luftfloß. Die Pedale, Knöpfe, Hebel und Schalter waren ihm fremd. Er wußte nicht, wie das
Ding in Bewegung zu setzen war. Anacho trat wie beiläufig neben ihn. „Verstehst du etwas
davon?" fragte Reith den Dirdirmann.
Anacho grunzte. „Ja, natürlich. Es ist das alte System Daidne. Ziemlich überholt im Vergleich
zu den Dirdirschiffen."
„Wie weit kommt man damit?"
„Nicht sehr weit."
„Wenn wir etliche Sandstrahler montieren, haben wir eine recht beachtliche Feuerkraft."
Anacho nickte. „Sehr primitiv, aber zu machen ist es."

*


Am nächsten Tag rückte im Laufe des Nachmittags eine beträchtliche Streitmacht von
Dadiche nach Pera vor. Über der Stadt schwebten vier Flöße mit Scharfschützen der Blauen
Chasch.
Reith teilte seine Miliz in zwei Gruppen auf, die er durch die Ruinen zum Stadtrand schickte,

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wo die Chaschtruppen voraussichtlich zuerst angreifen würden. Die Miliz wartete in guten
Verstecken, bis sich die Chaschtruppen gute hundert Meter in die Stadt vorgewagt hatten;
dann sprangen die Männer aus ihren Deckungen und feuerten aus allen ihnen zur Verfügung
stehende Waffen auf die Blauen Chasch. Zwei Drittel von ihnen fielen in den erste fünf
Minuten, dazu mehr als die Hälft der Chaschmänner. Der Rest floh in die Steppe hinaus.
Die Flöße schwebten niedrig über der Stadt und bestreuten sie mit Todesstrahlen. Die Miliz
ging in Deckung.
Hoch am Himmel erschien ein weiteres Floß — jenes, das Reith mit Sandstrahlern hatte
bestücken lassen. Es war in der Steppe in einem Gebüsch versteckt gewesen. Langsam ging es
tiefer. Die vier Flöße fielen wie Steine herunter, als Reith das Feuer eröffnete; dann bestrich
es die beiden Kompanien, die im Norden und Osten in die Stadt einrückten. Die Miliz
eröffnete das Feuer aus den Flanken. Unter schweren Verlusten zogen sich die Chaschtruppen
zurück; in ungeordneten Haufen traten sie, verfolgt von der Miliz aus Pera, eine wilde Flucht
an.


13.


Reith beriet sich mit seinen stolzen Leutnants. „Heute haben wir den Kampf gewonnen, weil
sie uns nicht ernst nahmen. Ich nehme an, daß sie bald mit allem, was sie haben, anrücken
werden. Morgen werden sie uns dann bestrafen. Das klingt doch vernünftig. Und wenn wir
schon Krieg führen müssen, dann ist es besser, wenn wir die Initiative ergreifen und uns ein
paar Überraschungen für die Chasch ausdenken. Sie haben keine hohe Meinung von den
Menschen, und das möchte ich ihnen abgewöhnen. Das heißt also, wir müssen unsere
wenigen Waffen dort einsetzen, wo wir ihnen den größten Schaden zufügen können."
Bruntego der Graue schlug die Hände vor das Gesicht. „Sie haben tausend Soldaten, vielleicht
mehr. Sie haben Luftflöße und Energiewaffen, und wir sind nur Menschen mit ein paar Kata-
pulten."
„Katapulte können ebenso töten wie Energiewaffen", meinte Reith dazu.
„Sie werden uns vernichten! Die Bläuen Chasch mit ihrer Intelligenz und Macht werden Pera
in einen Krater verwandeln."
Der alte Nomade Tostig widersprach. „Wir haben ihnen in der Vergangenheit zu treu und
billig gedient. Warum sollen sie sich dieses Dienstes berauben?"
„Weil es die Art der Blauen Chasch ist, so zu handeln!"
Tostig schüttelte den Kopf, „Das tun die Alten Chasch vielleicht. Die Blauen nicht. Sie wollen
uns besiegen, aushungern, unsere Führer nach Dadiche verschleppen und sie bestrafen."
„Das klingt vernünftig", meldete sich Anacho. „Aber wir können kaum erwarten, daß Blaue
Chasch sich vernünftig verhalten. Sie sind ja halb irrsinnig."
„Und deshalb müssen wir sie mit ihren eigenen Waffen schlagen", erklärte Reith.
Die Bevölkerung wurde gewarnt; Frauen, Kinder und Alte packte man auf Wagen und
schickte sie zu einer etwa zwanzig Meilen entfernten versteckten Schlucht, wo sie lagern
konnten. Die Miliz sammelte alle Waffen und marschierte nach Belbal Gap. Reith, Traz und
Anacho blieben in Pera. Aus Naga Gohos Tagen war noch ein Käfig mit einigen Kriegern der
Grünen Chasch in der Festung, denn auch Reith hatte nicht gewagt, sie freizulassen, um die
Bevölkerung nicht unnötig zu ängstigen. Diesen Käfig ließ er nun an Bord des Floßes
schaffen. Bei Sonnenaufgang stieg Anacho mit dem Floß in die Luft. Bald danach bemerkte
Traz, der sie beobachtete, wie die Grünen Chasch unruhig wurden und sich nach Westen
drehten.
Also flogen sie nach Westen. Wenig später entdeckten sie ein großes Lager der Grünen
Chasch in einem Wald aus Grasbäumen, der an einem Sumpf lag. Dann kehrten sie nach

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Belbal Gap zurück.
Zwei Stunden vergingen. Reith wurde nervös. Seine Pläne basierten auf Hypothesen und
vernünftigen Überlegungen. Die Chasch waren für ihre Unberechenbarkeit bekannt. Endlich
kam zu Reiths Erleichterung aus Richtung Dadiche eine lange, dunkle Kolonne angerückt.
Durch sein Scanskop erkannte Reith etwa hundert mit Blauen Chasch und Chaschmännern
beladene Wagen und viele andere, die mit Waffen und Ausrüstungsgegenständen bestückt
waren.
„Diesmal nehmen sie uns ernst", stellte Reith fest und sah zum Himmel hinauf. „Noch keine
Flöße. Zeit, daß wir uns in Bewegung setzen. In einer halben Stunde kommen sie durch
Belbal Gap."
Sie setzten ihr Floß etwas südlich der Straße auf die Steppe, rollten den Käfig hinunter und
zogen das Tuch weg, mit dem er bedeckt war. Die riesigen Grünen sprangen auf und schauten
auf die Steppe hinaus. Reith schloß die Tür auf und zog den Riegel zurück. Mit einem Satz
war er auf dem Floß, das Anacho sofort in die Luft nahm. Die Grünen Chasch stimmten ein
ohrenbetäubendes Geheul an und marschierten in die Steppe hinaus.
Die ersten Wagen von Dadiche erschienen vor Belbal Gap. Die Grünen Chasch blieben
unbeweglich und fast unsichtbar in einem Gebüsch stehen. Anacho setzte das Floß auf eine
Anhöhe unmittelbar unter deren Kamm. Reith suchte den Himmel nach Flößen ab; die aus
Dadiche vorrückende Streitmacht kroch wie eine gefährliche Schlange auf Pera zu.
„Jetzt haben wir getan, was wir konnten", sagte Reith. „Nun müssen wir warten."
In vier Kolonnen aufgeteilt, rückten die Blauen Chasch in die verlassene Ruinenstadt ein. Mit
Energiestrahlen gingen sie gegen Punkte vor, die sie für Festungen hielten. Pfadfinder
erkundeten die Ruinen. Sie näherten sich dem ersten Ruinenviertel, ohne zu feuern, und
wählten neue Angriffsziele. Eine halbe Stunde später kehrten die Pfadfinder mit ein paar
Leuten zurück, die aus Dummheit oder Faulheit in Pera geblieben waren. Sie wurden
vernommen. Die Blauen Chasch schienen ratlos zu sein, denn mit einer verlassenen Stadt
hatten sie nicht gerechnet.
Die Kompanien, welche die Stadt umgangen hatten, kehrten sofort zur Hauptstreitmacht
zurück. Teils untröstlich, teils wütend begaben sich die ganzen Truppen wieder nach Dadiche.
Reith suchte den Norden nach Bewegungen ab. Stimmte die Behauptung, die Grünen Chasch
könnten sich telepathisch verständigen, und entsprach es der Wahrheit, daß sie die Blauen
Chasch so haßten, wie man sagte, dann mußten sie bald auf der Bildfläche erscheinen. Aber
nichts rührte sich auf der Steppe.
Die Kolonnen der Blauen Chasch zogen sich nach Belbal Gap zurück. Plötzlich, wie aus dem
Nichts, erschienen ganze Horden von Grünen Chasch. Reith konnte sich nicht vorstellen, wie
sich so viele Krieger mit ihren riesigen Springpferden so unbemerkt hatten nähern können.
Sie warfen sich auf die Kolonnen und beschrieben mit ihren Schwerten riesige Halbkreise.
Die schweren Waffen auf den Wagen kamen gar nicht mehr zum Einsatz. Die Grünen Chasch
räumten gründlich auf.
Reith wandte sich ab. „Und jetzt zurück über die Berge, zu unseren eigenen Leuten", befahl
er.

*


Am vereinbarten Ort stieß das Floß zur Miliz; die Männer hielten sich in der Deckung von
Bäumen und Mooshecken, als sie den Hügel hinabzogen. Reith blieb beim Floß. Er
beobachtete den Himmel. Eine ganze Anzahl Flöße stiegen von Dadiche auf. Es handelte sich
offensichtlich um die angeforderte Verstärkung. „Jetzt ist es Zeit", sagte Reith zu Anacho.
Das Floß glitt über dem Hauptportal nach Dadiche hinein. Die Wächter reckten in der
Annahme, es sei eines der ihren, verblüfft die Hälse. Reith drückte auf den Abzug des
vorderen Sandstrahlers. Jetzt war der Weg nach Dadiche offen. Die Miliz von Pera drang in

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die Stadt ein. Reith schickte zwei Gruppen aus, die das Floßdepot besetzten. Eine weitere
Gruppe blieb mit einigen Sandstrahlern und Energiewaffen beim Haupttor. Zwei Gruppen
schwärmten aus, um die Stadt zu besetzen. Jeglicher Widerstand wurde gebrochen.
Reith flog mit Anacho, Traz und sechs anderen zum technischen Zentrum. Die Tore waren
geschlossen; das Gebäude schien leer zu sein. Die Sandstrahler brachen die Tore auf. Reith
rannte aufgeregt hinein. Klopfenden Herzens näherte er sich seinem Raumboot. Den Rumpf
hatte man aufgeschnitten. Der Antriebsmechanismus, die Akkumulatoren, der Umformer —
alles war ausgebaut. Aus der Traum. Reith hatte gewußt, daß es so kommen würde. Aber er
war Optimist gewesen.
Anacho stand neben ihm. „Das ist kein Raumboot der Blauen Chasch", stellte er fest, „auch
nicht der Dirdir oder Wankh."
Reith lehnte sich an eine Werkbank. „Richtig", sagte er.
„Es ist von ausgezeichneter Bauart und sehr gut gearbeitet", sagte Anacho. „Wo mag es nur
gebaut worden sein?"
„Auf der Erde", antwortete Reith. „Auf dem Planeten der Menschen."
Anacho drehte sich weg; sein Gesicht war verkniffen. Die Grundlagen seiner Existenz waren
in sich zusammengestürzt.
Traurig suchte Reith das Raumboot ab, fand aber wenig, was ihn interessieren konnte. Dann
wurde ihm berichtet, daß versprengte Reste der Blauen Chasch in den Bergen gesichtet
worden seien; sie waren also den Grünen Chasch entkommen.
Man bereitete einen Hinterhalt vor. Das Tor wurde so hergerichtet, daß nichts Ungewohntes
zu bemerken war. Die Männer verkleideten sich als Chaschmenschen und stellten sich am Tor
auf. Nun näherten sich die Reste der geschlagenen Chaschkrieger. Ihnen fiel nichts auf.
Sandstrahler und Energiewaffen bereiteten ihrem Leben ein Ende. Ein paar Überlebende
waren so verstört, daß sie keinen Widerstand leisteten.
Die Kampfflöße hatten mehr Glück.
Die Miliz, die mit den Bodenwaffen der Blauen Chasch nicht vertraut war, konnte nur vier
abschießen. Die anderen entkamen in südlicher Richtung.
Da und dort flackerten kurze Kämpfe auf. Man machte kurzen Prozeß, wenn es sich um Blaue
Chasch handelte. Dafür befahl Reith, die Chaschmenschen zu schonen. Deren Überlebende
sammelten sich auf der Hauptstraße, wo sie ihre falschen Schöpfe wegwarfen. Reith hatte
Mitleid mit den Leuten, weil ihre ganze Welt so urplötzlich zusammengebrochen war.
Einer der Männer fragte ihn: „Was werdet ihr jetzt mit uns tun?"
„Nichts", antwortete Reith. „Wir haben die Blauen Chasch vernichtet, weil sie uns angegriffen
haben. Ihr seid Menschen. Wenn ihr uns in Ruhe laßt, tun wir euch auch nichts."
„Aber ihr habt viele von uns umgebracht", brummte der Mann.
„Weil ihr mit den Chasch gegen uns, eure Mitmenschen, gekämpft habt, und das ist
unnatürlich."
„Was soll daran unnatürlich sein?" fuhr der Chaschmann auf. „Wir sind die erste Phase eines
großen Kreises."
„Unsinn", stellte Reith fest. „Ihr seid ebenso Menschen wie die Dirdirmenschen. Man hat
euch nur versklavt. Höchste Zeit, daß ihr einmal die Wahrheit zu hören bekommt!"
Aufmerksam hörte man ihm nun zu. „Und ihr könnt von mir aus leben, wie ihr wollt. Dadiche
ist eure Stadt — solange die Blauen Chasch nicht zurückkehren."
„Und was sollen wir tun, wenn sie zurückkehren?"
„Verjagt sie! Dadiche ist eine Stadt der Menschen. Und wenn ihr nicht glaubt, daß euch die
Chasch versklavt und betrogen haben, dann schaut in euer Leichenhaus an der Mauer. Seht
euch die Gehirne toter Chaschmänner an. Ihr werdet keine Chaschbälger drinnen finden —
nur Menschengehirne ... Und jetzt könnt ihr in eure Häuser zurückkehren. Ich verlange von
euch nur, daß ihr eure falschen Schöpfe ablegt; andernfalls beweist ihr, daß ihr nicht
Menschen, sondern Blaue Chasch sein wollt, und dann müssen wir entsprechend mit euch

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verfahren."
Reith kehrte zu seinem eigenen Lager zurück. Die früheren Chaschmenschen wagten ihrem
neuen Status noch nicht ganz zu vertrauen; zögernd kehrten sie in ihre Häuser zurück.
„Ich habe gehört, was du sagtest", erklärte Anacho. „Du verstehst nichts von den Dirdir und
Dirdirmenschen! Selbst wenn deine Theorie stimmt, werden wir Dirdirmenschen bleiben. Wir
erkennen die Überlegenheit an; wir glauben an ein Ideal. Der Schatten kann niemals heller
sein als die Sonne, und ebensowenig werden die Menschen je die Dirdir überflügeln."
„Für einen intelligenten Menschen", fauchte Reith, „redest du ausgesprochen dummes Zeug.
Dir scheint jedes Vorstellungsvermögen abzugehen. Aber ich bin überzeugt: Eines Tages
wirst du deinen Irrtum erkennen. Bis dahin kannst du glauben, was dir paßt."

14.


Schon vor dem Morgengrauen wurde es im Lager lebendig. Beladene Wagen zogen nach
Westen. In der Stadt sammelten die Chaschmenschen, die jetzt ohne ihre falschen Schöpfe
kahl und gnomenhaft aussahen, die Toten ein und begruben sie. Man fand ein paar versteckte
Blaue Chasch und sperrte sie in Käfige.
Reith machte sich Sorgen darüber, daß Blaue Chasch aus weiter südlichen gelegenen Städten
angreifen könnten, aber Anacho redete ihm das aus. „Das sind keine Kämpfer. Sie bedrohen
die Städte der Dirdir mit Torpedos, um den Krieg zu vermeiden. Sie fordern nie heraus. Ihre
Gärten sind ihnen wichtiger. Sie werden sich nicht rühren, wenn wir sie nicht angreifen."
„Vielleicht hast du recht", meinte Reith dazu und entließ die paar gefangenen Blauen Chasch.
„Geht in die Städte nach Süden", befahl er ihnen, „und erzählt dort, daß wir sie zerstören
werden, wenn sie uns belästigen."
„Es ist ein langer Weg", krächzte einer von ihnen. „Können wir nicht ein Floß
bekommen?"
„Geht zu Fuß! Wir schulden euch gar nichts."
Sie gingen zu Fuß. Reith war aber noch nicht überzeugt, daß die Chasch ihren Auftrag
ausführen und die Städte Ruhe geben würden und ließ die neun eroberten Flöße mit Waffen
beladen und sie in Verstecke in den Bergen bringen. Am folgenden Tag besuchte er erneut
zusammen mit Traz, Anacho und Ylin-Ylan sein Raumboot. „Wenn ich diese ganze Werkstatt
hier zur Verfügung hätte", sagte er, „und wenn ich ein paar Fachleute fände, dann müßte es
mir gelingen, ein neues Antriebssystem zu bauen. Vielleicht könnte man auch das der
Chasch... Aber dann stimmt das Kontrollsystem nicht mehr... Besser, man baut gleich ein
neues Boot."
Ylin-Ylan runzelte die Stirn. „Liegt dir so viel daran, Tschai zu verlassen? Du hast Cath noch
gar nicht besucht; du wirst dann nie mehr den Wunsch haben, von dort wegzugehen."
„Möglich", antwortete Reith. „Aber du warst auch noch nie auf der Erde. Vielleicht würdest
du nie mehr nach Tschai zurückkehren."
„Es muß eine sehr seltsame Welt sein", sagte sie. „Sind die Frauen dort schön?"
„Einige", erwiderte Reith. Er nahm ihre Hand. „Auch auf Tschai gibt es schöne Frauen. Und
eine heißt..." Er flüsterte ihr einen Namen ins Ohr.
Sie errötete. „Seht! Die anderen könnten es hören!"


ENDE


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