Francisca Loetz Sprache in der Geschichte Linguistic Turn vs Pragmatische Wende

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Zeitschri des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte

Rechts

R

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geschichte

Rechtsgeschichte

www.rg.mpg.de

http://www.rg-rechtsgeschichte.de/rg2
Zitiervorschlag: Rechtsgeschichte Rg 2 (2003)

http://dx.doi.org/10.12946/rg02/087-103

Rg

2

2003

87 – 103

Francisca Loetz

Sprache in der Geschichte

Linguistic Turn vs. Pragmatische Wende

Dieser Beitrag steht unter einer

Creative Commons cc-by-nc-nd 3.0

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Abstract

Historical studies are based predominantly on

written sources. These sources, in turn, are the
product of verbal portrayal and human communi-
cation. In other words, they are linguistic docu-
ments. The »linguistic turn« has drawn particular
attention to the consequences of this aspect of
historical sources and, as a result, has triggered
much controversy in the field of history. The

»pragmatic turn«, however, has been all but
ignored by historians, in spite of its clear focus
on human communication. This essay aims to
address the problem of verbal portrayal in written
sources. It posits the thesis that, under certain
circumstances, the »linguistic turn« and the »prag-
matic turn« harbour a methodical potential of
considerable value in examining the issue of the
verbal character of written sources. First of all, the
terms »linguistic turn« and »pragmatic turn« will
be defined. This will be followed by a discussion of
the contribution that the »linguistic« and »prag-
matic turn« respectively make to the interpretation
of sources, by way of example of early modern
lawcourt records. Finally, drawing upon examples
of cases of blasphemy in early modern Zurich, the
essay will outline the prospects for historical re-
search when sources are read not only as linguistic
documents but also as records of verbal commu-
nication.

×

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Sprache in der Geschichte

Linguistic Turn vs. Pragmatische Wende*

Ohne Quellen keine Geschichtswissenschaft. Ohne Sprache

keine Quellen. Quellen wiederum sind Erzeugnisse verbaler Dar-
stellung und menschlicher Kommunikation. Doch wie ernst nimmt
die Geschichtswissenschaft den sprachlichen Charakter ihrer Quel-
len?

1

Diese Frage hat in letzter Zeit der linguistic turn mit Vehemenz

gestellt. Die sprachpragmatische Wende hingegen ist in der Ge-
schichtswissenschaft kaum rezipiert worden, obwohl sie mensch-
liche Kommunikation in den Brennpunkt ihres Interesses stellt.

2

Zwar kennt die Geschichtswissenschaft das Thema Kommunika-
tion, doch fasst sie hierunter Formen der Informationsübermittlung
mit Hilfe eines infrastrukturellen Mediums.

3

Kommunikation im

Sinne von sprachlicher Interaktion spielt in dieser Kommunika-
tionsgeschichte keine wesentliche Rolle.

4

Ziel dieses Aufsatzes ist es

daher, das Problem sprachlicher Vermittlung in textlichen Quellen
zu behandeln. »Linguistic turn« und »pragmatische Wende«, so die
These dieses Beitrags, tragen unter bestimmten Bedingungen me-
thodische Potentiale in sich, die bei der Auseinandersetzung mit dem
Problem des sprachlichen Charakters von Textquellen weiterfüh-
rend sind.

5

Um diese These auszuführen, wird eingangs erläutert,

was unter »linguistic turn« und »sprachpragmatische Wende« ge-
fasst werden soll. Dabei wird auf eine Differenzierung der jeweiligen
Standpunkte verzichtet, weil hier nur deren sprachphilosophische
Grundsatzpositionen interessieren. Um sodann zu diskutieren, wel-
chen Beitrag »linguistische« und sprachpragmatische Wende zur
Quelleninterpretation leisten, werden frühneuzeitliche Gerichtsak-
ten herangezogen. Sie dienen in Begrenzung auf die deutschsprachi-
ge Forschung zur Veranschaulichung der Argumentation, weil sie im
Sinne des linguistic turn als besonders erzählfreudig gelten und
zudem aus der kommunikativen Situation der Befragung heraus
entstehen. Abschließend wird am Beispiel von Gotteslästerungen
aus dem frühneuzeitlichen Zürich gezeigt, welche Perspektiven sich
für die historische Forschung eröffnen, wenn Quellen nicht nur als
sprachlich verfasste Dokumente, sondern auch als Zeugnisse
sprachlicher Kommunikation gelesen werden.

6

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* Ich danke Werner Bomm für die

präzise und ausführliche Kritik am
Manuskript.

1 Sprache lässt sich allgemein als ein

System von Bedeutungen verste-
hen. In diesem weiten Sinne kön-
nen auch Zahlenreihen, Bilder
oder materielle Dokumente
sprachliche Zeugnisse sein. Frei-
lich konzentrieren sich Historiker
und Historikerinnen zumeist auf
sprachliche Zeugnisse im engeren

Sinne, auf textliche Quellen. Da-
her grenzen die folgenden Über-
legungen das Problem nicht
textlicher Quellen aus.

2 Allerdings plädierte Robert Jütte

bereits vor einigen Jahren anhand
frühneuzeitlicher Beschwerde-
schriften dafür, eine historische
»Sprechakt-Analyse« zu ent-
wickeln (vgl. R. Jütte, Sprachli-
ches Handeln und kommunikative
Situation. Der Diskurs zwischen

Obrigkeit und Untertanen am
Beginn der Neuzeit, in: Kommu-
nikation und Alltag in Spätmittel-
alter und früher Neuzeit, hg. von
H. Hundsbichler, Wien 1992,
159–181). Jüttes Aufforderung ist
jedoch nahezu folgenlos verhallt.

3 Nicht umsonst beschäftigen sich

Fachzeitschriften, Tagungen oder
neuere Sammelbände etwa mit
dem Thema des Postwesens, der
Verkehrswege oder der Presse.
Vgl. z. B. das Jahrbuch für Kom-
munikationsgeschichte, die Augs-
burger Früheneuzeittagung von
2001 oder Kommunikation in der
ländlichen Gesellschaft vom Mit-
telalter bis zur Moderne, hg. von
W. Rösener, Göttingen 2000.

4 So widmet sich die Österreichische

Zeitschrift für Geschichtswissen-
schaften dem Thema »sprache
macht geschichte«. Sprache wird
hier jedoch unter Aspekten der
Semiotik und des linguistic turn
behandelt, ohne Probleme der
Kommunikation aufzugreifen.
Vgl. ÖZG 10 (1999).

5 Zur eigenen Problematik der

Historischen Semantik vgl.
R. Reichardt, Historische Se-
mantik zwischen lexicométrie und
New Cultural History. Einführen-
de Bemerkungen zur Standort-
bestimmung, in: ZHF 21 (1998)
7–28; H.-J. Lüsebrink, Begriffs-
geschichte, Diskursanalyse und
Narrativität, in: ebd., 29–44. Die
älteren programmatischen Überle-
gungen Hans Ulrich Gumbrechts
zur Begründung einer historischen
Textpragmatik sind, soweit ich
sehe, ohne größere Konsequenzen
geblieben. Vgl. H.U. Gumbrecht,
Historische Textpragmatik als
Grundlagenwissenschaft der Ge-
schichtsschreibung, in: Lende-
mains 6 (1977) 125–135.

6 Zum Stellenwert von Gerichtsak-

ten, die das »pralle Leben« zu
dokumentieren scheinen, vgl.
K. Simon-Muscheid, Gerichts-
quellen und Alltagsgeschichte, in:
Medium Aevum Quotidianum 30
(1994) 28–43; dies., Reden und
Schweigen vor Gericht. Klientel-
verhältnisse und Beziehungsge-
flechte im Prozeßverlauf, in:
Devianz, Widerstand und Herr-
schaftspraxis in der Vormoderne.
Studien zu Konflikten im süd-
westdeutschen Raum (15. bis

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»Linguistic turn« und »pragmatische Wende«

Mit Linguistik haben die verschiedenen Positionen des »lin-

guistic turn« streng genommen nichts zu tun.

7

Linguistik be-

schäftigt sich mit der Analyse sprachlicher Phänomene, die als
System theoretisch begründet werden sollen. Die Diskussion je-
doch, die unter dem Stichwort »linguistic turn« läuft, ließe sich
treffender als Kontroverse um eine narrative Wende charakterisie-
ren. Aus der Literaturwissenschaft kommend, vertreten die Ver-
fechter des linguistic turn – um es auf eine knappe Formel zu
bringen – die These, dass jeglicher Zugang zur Welt sprachlich
vermittelt und damit »Text« ist.

8

Da Welt ausschließlich sprach-

lich verfasst ist, existiert keine Welt, die es hinter der Sprache zu
entdecken gäbe. Texte sind also sprachliche Gebilde, die vielfältige
Versionen von Welt darstellen, ohne dabei in einer eindeutigen
Beziehung zur Wirklichkeit zu stehen. Hieraus folgt für die Inter-
preten dieser »Texte«, dass sie aus ihren Vorlagen genauso wenig
die eine gültige, in einer tieferen Textschicht verborgene »richtige«
Darstellung oder Meistererzählung freilegen wie sie ihre eigene
Darstellung den Regeln sprachlicher Gestaltung entziehen kön-
nen.

9

Aufgrund ihrer sprachlichen Verfasstheit können Wirklich-

keit als objektiv Gegebenes, als Faktum, und Wirklichkeit als
mehrdeutig Gedeutetes, als Fiktion, prinzipiell nicht voneinander
unterschieden werden. Zugespitzt ließe sich für die Geschichts-
wissenschaft formulieren, dass zwei Konsequenzen aus diesem
Verständnis von »Text« folgen: Historikerinnen können nicht
eigentlich fragen, was Quellen von vergangener Wirklichkeit be-
richten, sondern allein »dekonstruieren«,

10

wie sie von ihr be-

richten und somit erfassen, wie vergangene Entwürfe von Welt
aussehen. Ferner sind Historiker selbst gezwungen, ihre Erkennt-
nisse in kulturell definierten Mustern der Erzählung einzubetten.
Laut »linguistic turn« hat sich Geschichtswissenschaft also mit der
Frage zu beschäftigen, wie einerseits Quellen und wie andererseits
deren Interpreten durch ihre Erzählung Welt darstellen. Die Wen-
de, die somit Vertretern des linguistic turn vollziehen, besteht
darin, dass sie sich von der Vorstellung verabschieden, Welt bzw.
Wirklichkeit könne an sich erfasst werden.

Auch die pragmatische Wende kehrt sich von einem alten

Erkenntnisziel ab. Sprachpragmatik fragt nicht, wie ein sprach-
liches Zeichen Wirklichkeit abbildet, auch nicht, wie die Regeln

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18. Jahrhundert), hg. von M. Hä-
berlein, Konstanz 1999, 35–52;
in Bezug auf die Prozessakten des
Reichskammergerichts: W. Schul-
ze, Zur Ergiebigkeit von Zeugen-
befragungen und Verhören, in:
Ego-Dokumente. Annäherung an
den Menschen in der Geschichte,
hg. von W. Schulze, Berlin 1996,
319–325.

7 Zu einer Einordnung des »lin-

guistic turn« in die sprachphilo-
sophische und postmoderne
Diskussion der Linguistik vgl.
A. Hornscheidt, Der »linguistic
turn« aus der Sicht der Linguistik,
in: Vom Ende der Humboldt-
Kosmen. Konturen von Kultur-
wissenschaft, hg. von B. Hen-
ningsen und S. M. Schröder,
Baden-Baden 1997, 175–206.

8 Es kann nicht Aufgabe dieses

Aufsatzes sein, die Diskussion um
den linguistic turn im Einzelnen zu
verfolgen. Aus der Unmenge der
Literatur seien nur wenige ein-
schlägige Reader genannt:
Geschichte schreiben in der Post-
moderne. Beiträge zur aktuellen
Diskussion, hg. von C. Conrad
und M. Kessel, Stuttgart 1994;
Kultur und Geschichte. Neue Ein-
blicke in alte Beziehungen, hg. von
C. Conrad und M. Kessel,
Stuttgart 1998; The Postmodern
History Reader, hg. von K. Jen-
kins, London, New York 1998;
Beyond the Cultural Turn.
New Directions in the Study of
Society and Culture, hg. von
V. E. Bonnell und L. Hunt, Ber-
keley, Los Angeles, London 1999.
Die sprachlichen Abgrenzungs-
strategien, welche die Befürwor-
terinnen des linguistic turn bzw.
dessen Kritikerinnen verfolgen,
untersucht: K. J. MacHardy, Ge-
schichtsschreibung im Brennpunkt
postmoderner Kritik, in: Österrei-
chische Zeitschrift für Geschichts-
wissenschaften 4 (1993) 337–369.

9 Daher provoziert auch die Forde-

rung eines »get the story crooked!«
den Vorwurf, Geschichtsdarstel-
lung im Sinne des linguistic turn
führe auf ein »telling as you like
it« hinaus. Zu dieser Debatte vgl.
beispielsweise H. Kellner, Lan-
guage and Historical Representa-
tion, in: The Postmodern History

Reader (Fn. 8) 127–138; G. Him-
melfarb, Telling As You Like It:
Postmodernist History and the
Flight from the Fact, in: ebd.,
158–174. Zur Diskussion, wie
nach dem Ende der Meistererzäh-
lung unter den Bedingungen des
»emplotment« postmodern histo-
risch erzählt werden kann, vgl. in
einer durchaus selbstkritischen
Zwischenbilanz K. Halttunen,
Cultural History and the Challen-

ge of Narrativity, in: Beyond the
Cultural Turn (Fn. 8) 165–181;
besonders: 171.

10 Der theoretisch aufgeladene Be-

griff der Dekonstruktion scheint
mir teilweise zu einem Synonym
von »Analyse« zu verflachen. Um
die Vorsicht, die mir daher gegen-
über dem Dekonstruktionsbegriff
geboten scheint, auszudrücken,
setze ich den Begriff hier in An-
führungszeichen.

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einer Sprache erschlossen werden können, die ein Sprachsystem
begründen. Vielmehr gilt es die Anwendung von Sprache zu unter-
suchen. An die Stelle der Beschäftigung mit Sprache an sich rückt
die Untersuchung der Verständigung von Menschen mittels Spra-
che; damit wird verbale Kommunikation zum Untersuchungs-
gegenstand. Schematisch gesprochen, geht die linguistische Prag-
matik hierbei von zwei Kommunikationskonzepten aus: von
Modellen des Sprechakts zum einen und von Modellen der Sprech-
handlung zum anderen.

11

Für John Searle und John Austin, die »Väter« der Sprechakt-

theorie, stellt jede sprachliche Äußerung einen Sprechakt dar, der in
verschiedene Typen eingeteilt (z. B.: Bitte, Aufforderung, Befehl
etc.) werden kann.

12

Ein Sprechakt besteht aus vier Teilakten:

einem lokutionären, einem illokutionären, einem propositionalen
und einem perlokutionären.

13

Der lokutionäre Teilakt bezieht sich

auf die lautliche Formulierung einer Äußerung. Der illokutionäre
umfasst die Art und Weise, wie sich Sprechende an jemanden
wenden. Was sie dabei über die Welt aussagen, bestimmt deren
propositionalen Gehalt.

14

Der perlokutionäre Akt weist darauf

hin, was oder wen Sprechende eigentlich mit dem meinen, was sie
sagen.

15

Sprechen ist demnach mehr, als grammatikalisch korrekte

Sätze zu bilden; sprechen heißt mit Worten etwas tun, wie dies der
treffende Titel des Grundlagenwerks von Austin How to do things
with words
verdeutlicht.

16

Das Konzept des Sprechakts sucht also

nicht, das Verhältnis von Wirklichkeit und sprachlichem Zeichen
zu klären. Es betont vielmehr, dass Welt durch den situations-
spezifischen Akt der Rede gedeutet wird.

Die Sprechakttheorien, die von Austin und Searle in den 60er

Jahren entwickelt worden sind, weisen einige grundsätzliche
Schwächen auf. Ohne auf die entsprechenden sprachphilosophi-
schen und linguistischen Kontroversen einzugehen, sollen hier
lediglich zwei prinzipielle Einwände formuliert werden: Sprechakt-
theorie orientiert sich zum einen allein an den Sprechenden, zum
anderen ausschließlich an deren Intentionen. Es geht um die funk-
tionalistische Frage, was Sprechende tun und welche Zwecke sie
verfolgen, wenn sie reden. Insofern ließen sich daher Sprechakt-
theorien als eine Variante von Motivationsforschung bezeichnen.
Dass ein Sprechakt ungewollte Wirkungen auslösen kann, ist im
Konzept jedoch nicht vorgesehen. Welche Leistung die Adressierten
vollbringen, um zu verstehen, was die Sprechenden implizit aus-

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11 Da es hier allein darum geht, die

Modelle in ihren Grundzügen
vorzustellen, wird auf ihre aus-
führliche Diskussion in der Lin-
guistik verzichtet. Zur Vermei-
dung von Missverständnissen sei
darauf hingewiesen, dass in der
älteren Literatur der Ausdruck
»speech act« häufig als »Sprach-
handlung« eingedeutscht worden
ist. Sprechhandlung hingegen ist
ein Begriff, der in Kritik am Mo-

dell des Sprechakts nicht nur den
Handlungscharakter von Kom-
munikation unterstreichen, son-
dern auch hervorheben soll, dass
sich sprachliche Handlungen aus
verschiedenen verbalen Akten zu-
sammensetzen und nicht umge-
kehrt. Vgl. hierzu: Sprechakt, in:
Metzler Lexikon Sprache, hg. von
Helmuth Glück, Stuttgart, Wei-
mar 1993, 592 f.; Sprechhand-
lung, in: ebd., 596.

12 Die folgende Gegenüberstellung

von Sprechakt und Sprechhand-
lung orientiert sich an der beson-
ders verständlichen Darstellung
in: A. Linke, M. Nussbaumer,
P. Portmann, Studienbuch Lin-
guistik, 3. Aufl. Tübingen 1996,
182–202.

13 Die Teilakte sind im Verlauf der

Diskussion des Modells von Sear-
le, Austin und deren Kritikern un-
terschiedlich konzeptionalisiert
worden. Daher variieren deren
Bezeichnungen. Ich benutze im
Folgenden die gängigsten Termini.

14 Aussagen über die Welt zu treffen

heißt z. B eine Information liefern,
eine Aufforderung aussprechen,
ein Urteil abgeben etc.

15 Ein Direktor beispielsweise, der

seinen Angestellten mit einem
»auch schon da« begrüßt, wird
vermutlich nicht konstatieren,
dass dieser zu einer bestimmten
Uhrzeit eingetroffen ist, sondern
wird ihm zu verstehen geben wol-
len, dass er unpünktlich sei und
dies künftig zu unterlassen habe.

16 J. Austin, How to Do Things

With Words, Oxford 1962.

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drücken, bleibt im dunkeln. Daraus folgt, dass Sprechakttheorien
sprachliche Kommunikation nur »halb«, d. h. aus der Perspektive
der Sprechenden in ihrer jeweils einzelnen sprachlichen Äußerung
erfassen. Diese werden somit zu Monologisierenden. Sprechakt-
theorien verfehlen also den Dialog- bzw. Kommunikationscharak-
ter sprachlicher Äußerungen.

Aus dieser Kritik sind seit den ausgehenden 60er Jahren

Modelle der Sprechhandlung entstanden, die mit den Namen ihrer
Begründer Erving Goffman, Harvey Sacks und H. P. Grice ver-
bunden sind.

17

Auch sie beschäftigen sich mit der Frage, wie

Gesprochenes gleichzeitig Nicht-Gesagtes (in der Terminologie
von Grice »Implikaturen«) transportiert.

18

Anstatt zu verfolgen,

was Sprecher auch unausgesprochen beabsichtigen, setzen Model-
le der Sprechhandlung einen anderen Akzent. Sie versuchen zu
erklären, wie die Adressierten in der Lage sind, zu begreifen, was
Sprecherinnen mit ihrem Gesagten und Nicht-Gesagten meinen.

19

Anstatt hierzu verbale Äußerungen isoliert für sich zu betrachten,
untersuchen sie, wie sich Redezüge aufeinander beziehen und
aufgrund bestimmter »Konversationsmaximen« Wirkung erzie-
len. Sprechhandlungstheorien betrachten somit Kommunikation
als Handeln im Sinne einer kooperativen Interaktion:

20

Kom-

munikation beruht darauf, dass die einen zumindest im Prinzip so
reden, dass die anderen verstehen können, was sie meinen.

21

Eine

sprachliche Äußerung wird dadurch zu einer Handlung, dass die
Hörenden in jeglicher sprachlichen Formulierung ein Agieren
erkennen. Diesem Modell zufolge existiert in der kommunikati-
ven Situation keine sprachliche Artikulation für sich; eine sprach-
liche Äußerung wird stets interpretiert, indem die Adressierten auf
die Intention der Handelnden zurückschließen. Bei der Ent-
schlüsselung dessen, was die Sprecher meinen, d. h. bei der Ent-
schlüsselung ihrer Implikaturen, können hierbei verschiedene
Interpretationsmöglichkeiten zur Wahl stehen.

22

Kommunikation

beruht also darauf, Bewertungen von Handlungen auszutauschen.
Dies setzt jedoch voraus, dass diejenigen, die miteinander kom-
munizieren, über ein gemeinsames, nicht allein situationsspe-
zifisch, sondern auch sozial definiertes Wissen verfügen, mit
dessen Hilfe sie sich verständigen.

23

Die Sprechenden gehen

davon aus, dass sie zusammen mit den Adressierten eine sprach-
liche Gemeinschaft bilden. Sie erwarten daher, dass die Adressier-
ten Äußerungen in ihren Kontext einzuordnen vermögen und

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17 Vgl. als einschlägige Publikatio-

nen: E. Goffman, Forms of Talk,
2. Aufl. Philadelphia 1995;
H. P. Grice, Studies in The Way of
Words, Cambridge, Mass. 1989;
H. Sacks, Lectures on Conversa-
tion, 3. Aufl. Oxford 1998.

18 Der Terminus Implikatur ist ein

Gricescher Neologismus, der mar-
kieren soll, dass Implikatur und
Implikation (ebenso wie »impli-
katieren« und »implizieren«)
voneinander zu unterscheiden
sind. Hiernach bezeichnen Impli-
kationen rein logische oder
semantische Informationen, die
ohne Rücksicht auf die jeweilige
Redesituation erkannt werden
können. Unter Implikaturen hin-
gegen werden Rückschlüsse ver-
standen, die aufgrund bestimmter
Annahmen über den kooperativen
Charakter der verbalen Interak-
tion oder »Konversation« im Ge-
sagten das Gemeinte erfassen.
»Konversation« bezeichnet also
nicht wie im Deutschen die ge-
pflegte Unterhaltung, sondern den
kontextgebundenen sprachlichen
Austausch; daher auch der Begriff
der konversationellen Implikatur.
Zu dieser Erklärung vgl. E. Rolf,
Sagen und Meinen. Paul Grices
Theorie der Konversations-Impli-
katuren, Opladen 1994, 14. Zur
Benutzung des Verbs »implikatie-
ren« vgl. F. Liedtke, Das Gesagte
und das Nicht-Gesagte. Zur Defi-
nition von Implikaturen, in: Im-
plikaturen. Grammatische und
pragmatische Analysen, hg. von
F. Liedtke, 3. Aufl. Tübingen
1995, 19–46.

19 Zur Problematik der Griceschen

Trennung von Gesagtem und
Nicht-Gesagtem sowie dessen
Konversationsmaximen vgl.
R. Keller, Rationalität, Relevanz

und Kooperation, in: Implikatu-
ren (Fn. 18) 5–18; hier: 5–12.

20 Die Bestimmung dieser Konversa-

tionsmaximen wird weiterhin von
der Sprachwissenschaft diskutiert.
Vgl. etwa hierzu die kritischen
Ausführungen bei: E. Rolf, Sagen
und Meinen (Fn. 18), bes.: 113–
254.

21 Kooperation meint also ein mini-

males gemeinsames Interesse an
Verständigung, nicht unbedingt

gegenseitiges, produktives Einver-
ständnis. Zu dieser Präzisierung
vgl. A. Linke, M. Nussbaumer,
P. Portmann, Studienbuch
(Fn. 12) 196.

22 Vgl. G. Harras, Handlungsspra-

che und Sprechhandlung. Eine
Einführung in die handlungstheo-
retischen Grundlagen, Berlin, New
York 1983, 22.

23 Vgl. G. Harras, Handlungsspra-

che (Fn. 22) 64.

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diese somit entlang bestimmter verbaler Verhaltenskonventionen
auffassen.

24

Diese Theorie der Sprechhandlung oder konversationellen

Implikatur

25

ergänzt die Sprechakttheorie in entscheidender Weise.

Zum einen bindet sie die Interpretationsleistung der Hörenden in
Kommunikation ein: Kommunikation ist nicht eine Summe ver-
einzelter Sprechakte, sondern eine Kette Zug um Zug miteinander
ausgetauschter Sprechhandlungen. Zum anderen verweist sie auf
das soziale Wissen, ohne das sich Sprechende und Hörende nicht
verständigen können: Das Verständnis von Kommunikation wird
grundsätzlich kontextabhängig. Die dritte konzeptionelle Erweite-
rung besteht darin, dass die Theorie der konversationellen Im-
plikatur zwischen dem Gelingen und dem Erfolg einer Sprech-
handlung unterscheidet. Eine kommunikative Handlung gilt dann
als »gelungen«, wenn die Adressierten verstehen, was die Spre-
chenden wollen. »Erfolgreich« ist die Sprechhandlung hingegen
nur dann, wenn die Adressierten die Intentionen der Sprechenden
auch erfüllen.

26

Sprachlich miteinander zu kommunizieren heißt

also, dass Sprechende und Adressierte sich dank sozial definierter
Wissensbestände gegenseitig verständigen können, ohne dass sie
deswegen ein Einverständnis erreichen müssen. Modelle der
Sprechhandlung versuchen demnach nicht, zu erfassen, was Spre-
chende bewegt, ein bestimmtes Ziel erreichen zu wollen; Sprech-
handlungstheorien betreiben insofern keine Motivationsforschung.
Sprechhandlungstheorien erschließen vielmehr die Absichten der
Sprechenden allein indirekt aus den Wirkungen, die ihre Äuße-
rungen bei den Adressierten zeitigen.

Vertreter des linguistic turn und der pragmatischen Wende,

»Narrativisten« und »Pragmatiker«, teilen hinsichtlich des Ver-
hältnisses von Sprache und Welt eine gemeinsame philosophische
Position.

27

Sie suchen nicht, Aussagen über das Verhältnis von

Sprache und Welt zu treffen. Für beide verständigen sich Sprech-
ende lediglich darüber, wie sie Wirklichkeit anhand bestimmter
sprachlicher Konventionen beschreiben. Wirklichkeit ist also für
beide Disziplinen eine prinzipiell sprachliche Konstruktion und
nichts objektiv Gegebenes und Erkennbares. Trotz dieser gemein-
samen sprachphilosophischen Prämissen unterscheiden sich lin-
guistic turn und pragmatische Wende jedoch in einem wesentlichen
Punkt. Im Prinzip können »Narrativisten« die Welt beliebig kon-
struieren. Fiktion kennt keine grundsätzlichen Grenzen. Fiktion

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24 Wenn z. B. um zwei Uhr morgens

bei einer Professorin das Telefon
klingelt, diese abnimmt und ein
Student sich nach der Öffnungszeit
der Institutsbibliothek erkundigt,
die Professorin darauf ihren Stu-
denten entrüstet fragt, ob er wisse,
wieviel Uhr es sei, dann erwartet
sie nicht die Angabe einer Uhrzeit.
Sie macht vielmehr deutlich, dass
sie die nächtliche Störung für
höchst unangebracht hält. Diese

Implikatur aber lebt davon, dass
beide die sozialen Regeln im Um-
gang mit Telefonaten kennen und
sich daher darüber verständigen
können, dass der Anruf deplaziert
ist. Doch zum Glück ist das Bei-
spiel fiktiv.

25 Zum Begriff s. Fn. 18.
26 Vgl. G. Harras, Handlungsspra-

che (Fn. 22) 167.

27 Der hiesige Begriff der Narrativis-

ten bezieht sich auf die diversen

Vertreter des linguistic turn. Er ist
nicht zu verwechseln mit den
»Narrativisten«, die sich dagegen
verwahren, dass Geschichtsdar-
stellung zugunsten von Struktur-
analyse auf Erzählung verzichten
müsse. Vgl. zu dieser Debatte Otto
Ulbrichts Plädoyer, mit den Mit-
teln der mikrohistorischen Erzäh-
lung zu einer aussagekräftigen
Analyse zu gelangen: O. Ul-
bricht, Der Tod eines Bettlers.
Dörfliche Lynchjustiz 1727. Ein
Experiment in Narration und
Analyse, in: Historie und Eigen-
Sinn. Festschrift für Jan Peters
zum 65. Geburtstag, hg. von
A. Lubinski, T. Rudert und
M. Schattkowsky, Weimar
1997, 379–397.

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kann auch mit den gesellschaftlichen Regeln der Erzählkonventio-
nen brechen. Sie muss sich weder an diese Regeln halten noch
brauchen diese nachprüfbar zu sein. »Pragmatiker« hingegen gehen
vom Prinzip der interaktiven Kooperation aus. Gesprächspartner-
innen verständigen sich über eine gemeinsame Welt, wie sie im
sozialen Wissen verankert ist, ohne sich deswegen über die Inter-
pretation der Wirklichkeit einig sein zu müssen. Auch diese Welt ist
zwar konstruiert, aber nicht willkürlich produzierbar, da sie not-
wendig an das Regelwissen der Gesellschaft zurückgebunden, also
intersubjektiv nachvollziehbar ist.

Was nutzen die obigen Überlegungen der historischen For-

schung? Sie stellen die weiterhin vielfach unterschätzte Frage nach
dem ontologischen Charakter von »Fakten« in der Geschichte. In
seiner radikalen Konsequenz besagt der linguistic turn, dass Ge-
schichtswissenschaft nicht einmal von facta bruta ausgehen kann,
da auch diese sprachlich konstruierten Deutungen einer vergange-
nen Wirklichkeit sind. »Narrativisten« erteilen somit der durchaus
verbreiteten Vorstellung, Historikerinnen hätten die Realität der
Vergangenheit auf der Grundlage von Fakten zu rekonstruieren,
eine Absage.

28

Für sie kann Geschichtswissenschaft Quellen allein

als sprachliche Deutungen von Wirklichkeit wiederum auslegen;
Faktum und Fiktion sind nicht voneinander zu trennen. Hier ist
jedoch zu Recht eingewandt worden, dass Historiker in ihrer
Interpretation an die Quellenüberlieferung gebunden sind. Zwar
produzieren sie eine sprachliche und mehrdeutige Konstruktion der
Vergangenheit, doch ist diese nicht beliebig.

29

Sie muss den »Kon-

struktionsregeln« der scientific community, die wiederum in den
Regelerwartungen ihrer Gesellschaft eingebunden ist, genügen und
kann daher die von den Quellen gelieferten Bausteine nicht beliebig
zusammensetzen.

30

Somit sind Historikerinnen in ihrer narrativen

»Kreativität« Grenzen gesetzt, wollen sie ernsthafte Geschichts-
schreibung betreiben und nicht »reine Erfindungen« präsentie-
ren.

31

Dies bleibt am Beispiel von Gerichtsakten auszuführen.

Linguistic turn und Pragmatische Wende in der
Geschichtswissenschaft: Die Auswertung von Gerichtsakten

Wem ist es nicht schon einmal so ergangen? Man sitzt im

Archiv, liest diverse Dokumente und trifft plötzlich auf Figuren, die

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28 Hierbei spielt es keine Rolle, ob

Fakten positivistisch als etwas
betrachtet werden, das geschehen
ist und damit unabhängig von
historischer Interpretation exis-
tiert oder ob Geschehenes erst
durch Interpretation den Status
eines historischen Faktums erhält.
Als prononcierter Vertreter des
positivistischen Faktenverständ-
nisses vgl. Richard J. Evans,
Fakten und Fiktionen. Über die
Grundlagen historischer Erkennt-
nis, Frankfurt, New York 1998,
78–103. Zur Gegenüberstellung
von »nudum factum« und histori-
scher Tatsache hingegen vgl. aus
der Fülle der Literatur beispiels-
weise H.-J. Goertz, Umgang mit
Geschichte. Eine Einführung in die
Geschichtstheorie, Reinbek 1995,
95 f.

29 Dies bringt m. E. Hans-Jürgen

Goertz auf den Punkt, wenn er
davon spricht, dass Historiker in-
terpretieren, was und wie etwas
geschehen, nicht aber, dass es ge-
schehen ist. Vgl. H.-J. Goertz,
Umgang mit Geschichte (Fn. 28)
96.

30 So hält etwa Roger Chartier daran

fest, dass selbst um literarische
Qualität bemühte Geschichtsdar-
stellung im Gegensatz zu Belle-
tristik immer an die überlieferten
Quellen und an die Interpreta-
tionsregeln der scientific commu-
nity gebunden ist. Vgl. R. Char-
tier, L’Histoire culturelle entre
»Linguistic Turn« et Retour au
Sujet, in: Wege zu einer neuen
Kulturgeschichte, hg. von
H. Lehmann, Göttingen 1995,
31–58; hier: 55.

31 Freilich können solche »Phanta-

sieprodukte« für die Geschichts-
wissenschaft dann ein nützliches
Arbeitsinstrument sein, wenn sie
als kontrafaktische Geschichte

Gedankenexperimente zu heuris-
tischen Zwecken anzustellen su-
chen. Zur Auseinandersetzung mit
der Frage des Erkenntniswerts
solcher Gedankenexperimente
vgl.: H. Mulisch, Die Zukunft
von gestern. Betrachtungen über
einen ungeschriebenen Roman,
Berlin 1995; A. Demandt, Unge-
schehene Geschichte. Ein Traktat
über die Frage: Was wäre gesche-
hen, wenn?, 2. Aufl. Göttingen

1986. Das gleiche Experiment wie
Demandt unternehmen verschie-
dene Autoren in: Was wäre gewe-
sen wenn?, hg. von R. Cowley,
München 2000. Zur Diskussion
des Stellenwerts von »Alternativ-
und Parallelgeschichte« vgl. außer-
dem: Was wäre wenn. Alternativ-
und Parallelgeschichte, Brücken
zwischen Phantasie und Wirklich-
keit, hg. von M. Salewski, Stutt-
gart 1999.

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direkt einem Pikaroroman zu entstammen scheinen. Hans Win-
garten aus Zürich ist ein solcher Fall.

32

Im Jahre 1520 musste er

unter der Hand des Scharfrichters sein Leben lassen. Im Todesur-
teil, das auf die Aussagen der Zeugen verweist, heißt es:

uff ein zit hatt Er Ein kartenspil zum venster uß wellen
werffenn unnd so Im sollichs gewert wordenn, hatt Er, der
hanns Wingarten gerett, Es muß hinuß, obschon gott selbst
daruff sässe, unnd daruff geschworen, das dich gotz Joseph als
Kindli müßli machers schend, kan Ich darin keins gewinnenn,
Gots funff wunden, gotz küre, gots feltï, gots lidenn unnd
sollichs onzall. So denne uff Ein zitt hatt er Im spil geschworn,
das dich gotz krütz Im himel schend als Joseppen, warumb hast
unserm hergott nit Ein oppriment In sin müßli gethan, damit
Im Du vergeben hettest, unnd das dich gots krütz als Registers
schend und derglichen schwüre gots wunden, gots macht, gots
sacrament, gotz funnf lidenn. Witer hat Er mit verdachtem
muott an Ein Wand geschribenn: »Frid und gnad, wen hast Ein
end, das dich gotz ertrich schend.« Aber hatt er geschribenn
allein ein oder samer gotz himmelll und Ertrich Ich schiß
darzu.

33

Folgt man den Überlegungen des linguistic turn, ist die zitierte

Passage alles andere als ein sachliches Rechtsdokument. Statt das
Faktum einer Gotteslästerung zu registrieren, erzählt sie eine Ge-
schichte. Da will ein Spieler – wohl im Zorn über die verlorenge-
gangene Partie – ein Kartenspiel aus dem Fenster werfen. Als er
daran gehindert wird, begeht er mannigfaltige, unerhörte Gottes-
lästerungen.

34

Doch damit nicht genug. Wingarten wird sich bei

einer anderen Gelegenheit erneut an Gottes Ehre vergreifen und
zugleich sein zweifelhaftes poetisches Talent zum Besten geben. Aus
einem banalen Alltagsgeschehen ist eine eindrückliche Erzählung
geworden.

35

Sie spiegelt wider, wie ein Blasphemiker juristisch

konstruiert wird. Bereits die auffälligen Lücken im Urteilstext
verdeutlichen dies. So weiß die Akte nichts davon zu berichten,
dass Wingarten für seinen ersten Tabubruch bestraft worden war.
Wollte die Justiz, die sonst gerne mit dem guten bzw. schlechten
Leumund der Angeklagten argumentierte, vertuschen, dass ihr
Wingarten durch die Finger gegangen war? Oder stilisierte sich
die Justiz als milde Obrigkeit, die einen Fehltritt auch mal durch-
gehen ließ? Die Frage ist nicht zu klären. Doch eines wird ersicht-

93

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32 Nicht umsonst wurde Wingarten

die Ehre zuteil, zum Helden eines
Comics zu avancieren. Vgl.
F. Bünzli und M. Illi, Hirsebar-
den und Heldenbrei, Bern 1995,
42–44.

33 Staatsarchiv Zürich (= StZH),

B VI. 2498, f. 30r.

34 Zu den Einzelheiten der Formu-

lierungen, die hier nicht weiter zu
interessieren brauchen, vgl.
F. Bünzli und M. Illi, Hirse-

barden und Heldenbrei (Fn. 32)
42–44.

35 Allerdings hat diese Geschichte

weder einen Anfangs- noch einen
Mittelteil. Die Zürcher Akten ge-
ben über Wingarten nichts weiter
als das Todesurteil preis.

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lich: Die Story von der Wiederholungstat lässt das Fehlverhalten
Wingartens als um so schwerwiegender erscheinen. Die Geschichte
erhält somit einen dramatischen Spannungsbogen. Die Akte Win-
garten bietet jedoch nicht nur einen packenden Plot, sie kreiert sich
auch ihren eigenen Protagonisten. Statt sich mit der üblichen
juristischen Kategorisierung zu begnügen, Wingarten habe schant-
lich böß uncristenlich schwür und gotslestrung gethan und mit
verdachtem muott gerett,

36

führt sie die einzelnen Formulierungen

auf, die dieser im Munde geführt haben soll. Somit unterstreicht die
Akte den unerhörten Charakter der Worte, die Wingarten zum
übermütigen Maulhelden, cholerischen Spieler, tragischen Narren
und religiösen Provokateur werden lassen.

37

Das Urteil, das einen

faktischen Straftatbestand sachlich zu überliefern scheint, entpuppt
sich als mehrdeutiges und nach juristischen Kriterien dramatur-
gisch gestaltetes Dokument.

Mit den Augen des linguistic turn gelesen, sind nicht nur

Gerichtsurteile, sondern auch Gerichtsprotokolle

38

Zeugnisse er-

zählerischer Darstellung.

39

Die Einsicht, dass Aussagen vor Ge-

richt keine unbefangene freie Rede, sondern zweckgebundene
Erzählungen sind, ist nicht neu.

40

Doch verweisen auch jüngere

deutschsprachige Publikationen zusätzlich auf die sprachliche Ver-
fasstheit dieser »Texte«,

41

die es verbiete, in ihnen zwischen

Factum und Fictio trennen zu wollen.

42

Die folgende Argumenta-

tion soll zeigen, dass diese These nur begrenzt trägt, weil mensch-
liche Kommunikation »rein fiktive« Erzählung ausschließt. Hierzu
ein Beispiel aus der Zürcher Justizpraxis:

43

Im Jahre 1636 schickte

Hans Heinrich Meyer als Vogt von Knonau ein Protokoll seines
Verhörs mit Michael Wyß an den Zürcher Rat. Der Vogt meldete,
er habe Wyß verhört, weil dieser die Allmacht Gottes, desglïchen,
die herren predicannten, ehrverletzlich angriffen, gschächt und
gschändt
habe. Der Angeklagte habe geantwortet:

er wüßße um söllichem allen nüt, er seig gar treuncken gsïn,
habe er etwas wider die heilig Bibblen, oder herren predicann-
ten gredt, seige imme sölliches von grund sïnes hertzens leid.
Begäret daruff mit weinenden augen, von Gott dem Allmäch-
tigen und eurer ersamen Oberkeit, gnad unnd barmhertzigkeit,
seige allwëgen zuo kilchen ganngen, deßen sïn her pfarrer unnd
kilchgnoßßen ime zügnüs gëben verdint, heüge sich auch in der
herschaft verhalten, daß sïnes halben kein klag.

44

94

Sprache in der Geschichte

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36 StZH, B VI. 2498, f. 30r.
37 Zur theatralischen Selbstinszenie-

rung von Blasphemikern vgl.
G. Schwerhoff, Starke Worte.
Blasphemie als theatralische In-
szenierung von Männlichkeit an
der Wende vom Mittelalter zur
Frühen Neuzeit, in: Hausväter,
Priester, Kastraten. Zur Kon-
struktion von Männlichkeit in
Spätmittelalter und Früher Neu-
zeit, hg. von M. Dinges, Göttin-
gen, 1998, 237–263.

38 Allerdings können Gerichtspro-

tokolle sehr unterschiedlich aus-
sehen. Inquisitionsprotokolle in
der Form des gebrochenen Blatts
halten die Fragen der Untersu-
chenden fest und reduzieren die
Antwort der Befragten auf ein ja
oder nein, das nur vereinzelt in
knappen Sätzen ausgeführt wird.
Andere Gerichtsprotokolle hin-
gegen räumen den vermeintlich
freien Darstellungen der Befragten
einen großen Raum ein, ohne die
gestellten Fragen zu notieren. Zur
Geschichte des Inquisitionsverfah-
rens und der hierbei entwickelten
Protokollformen vgl. K. Härter,
Strafverfahren im frühneuzeitli-
chen Territorialstaat: Inquisition,
Entscheidungsfindung, Supplika-
tion, in: Kriminalitätsgeschichte.
Beiträge zur Sozial- und Kulturge-
schichte der Vormoderne, hg. von
A. Blauert und G. Schwerhoff,
Konstanz 2000, 459–480. Zur
Diskussion der erzählfreudigen
Akten der Zürcher Frühen Neuzeit
vgl. F. Loetz, Mit Gott handeln,
Von den Zürcher Gotteslästerern
der Frühen Neuzeit zu einer Kul-
turgeschichte des Religiösen, Göt-
tingen, 2002, 97–108.

39 Vgl. etwa U. Gleixner, »Das

Mensch« und »der Kerl«. Die
Konstruktion von Geschlecht in
Unzuchtsverfahren der Frühen
Neuzeit (1700–1760), Frankfurt,
New York 1994; S. Kienitz,
Sexualität, Macht und Moral.
Prostitution und Geschlechter-
beziehungen Anfang des 19. Jahr-
hunderts in Württemberg, Berlin
1995. Am programmatischsten:
U. Gleixner, Geschlechterdiffe-
renzen und die Faktizität des
Fiktionalen. Zur Dekonstruktion
frühneuzeitlicher Verhörproto-
kolle, in: Werkstatt Geschichte 11
(1995) 65–70.

40 Vgl. L. Hoffmann, Kommunika-

tion vor Gericht, Tübingen 1983,
107.

41 Freilich bleibt hierbei der Textbe-

griff meist recht offen. Symptoma-
tisch scheint mir hierfür zu sein,
dass Monika Mommertz in ihrem
Vorschlag, Gerichtsakten als
sprachlich konstituierte Hand-
lungszusammenhänge zu lesen,
nicht nur mit einem pauschalen
Verweis auf den Handlungs-

charakter von Sprache auskommt,
sondern auch Sprache mit Diskurs
gleichsetzt und dabei »Diskurs«
als sprachpragmatischen Terminus
und zugleich spezifischen Fou-
caultschen Begriff verwendet
(vgl. M. Mommertz, »Ich, Lisa
Thielen«, Text als Handlung und
sprachliche Struktur – ein metho-
discher Vorschlag, in: Historische
Anthropologie 4 [1996], 303–329;
zum Handlungsbegriff: 304,

background image

Das Knonauer Schreiben beschreibt eine Kommunikation vor

Gericht und enthält die typischen Brechungen der Textgattung
Gerichtsprotokoll: Der Angeklagte nimmt zunächst zu einem ab-
geschlossenen Geschehen Stellung. Dies geschieht aus seiner eige-
nen Perspektive. Er versucht dabei mit Blick auf das Gericht zu
argumentieren, d. h. sich auf möglichst geschickte Weise zu recht-
fertigen. Der Vogt wiederum nimmt schließlich als Protokollant
eine Einordnung des Vergehens unter justizrelevanten Kriterien
vor. Im weiteren Verlauf des Protokolls wird er die umstrittene
Aussage, die Bibel sei nicht Gottes Wort, als Gotteslästerung
kategorisieren. Wie erzählerisch das Schreiben auch erscheinen
mag, es ist weder ein Dokument unmittelbarer Wirklichkeit noch
ein Produkt freier Erfindung. Es ist vielmehr zu unterscheiden
zwischen dem, was der Vogt herausfinden und als Delikt katego-
risieren will, und dem, was der Befragte auszusagen willens und in
der Lage ist. Wie jedes Gerichtsprotokoll ist die Knonauer Akte
also ein komplexes, da narrativ und kommunikativ mehrfach
gebrochenes Zeugnis. Sie ist ein Ausdruck verschiedener Darstel-
lungsperspektiven und Darstellungsinteressen, die sich jeweils an
den Relevanzkriterien des Gerichts orientieren.

Dieses Ergebnis ist nicht so trivial, wie es auf den ersten Blick

zu sein scheint. Unterzieht man das Knonauer Schreiben einer
Griceschen Konversationsanalyse, wird ersichtlich, inwiefern das
Modell der Sprechhandlung konventionelle Formen der Quellen-
kritik zu verfeinern erlaubt: Über den illokutionären Akt des Wyß
lassen sich lediglich Vermutungen anstellen. Der propositionale
Gehalt der Anklage dagegen ist unzweifelhaft. Der Vogt macht eine
Aussage über die Welt, er beschuldigt Wyß eines Vergehens. Was
der Vogt damit meint, ist ebenso unmissverständlich. Wie die
Reaktion des Angeklagten zeigt, verfolgt der Vogt perlokutionär
das Ziel, vom Angeklagten ein Schuldbekenntnis zu erreichen. Wyß
jedoch schlüsselt die Implikaturen des Vogts auf ambivalente Weise
auf. Einerseits lässt er die Sprechhandlung des Vogts gelingen. Er
gibt zu erkennen, dass er verstanden hat, wessen er angeklagt wird.
Er räumt ein, einen Fehler begangen zu haben, sofern die Anklage
gerechtfertigt sei. In diesem Falle bitte er um Gnade, die er als
rechtschaffener Bürger verdiene. Andererseits bringt Wyß die
Sprechhandlung des Vogts zum Scheitern. Wyß behauptet, sich
keiner Schuld bewusst zu sein. Die konversationellen Implikaturen
dieser verbalen Handlungskette verdeutlichen demnach, inwiefern

95

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Anm. 10; als Beispiel der Gleich-
setzung von Text als Handlung und
Diskurs, 323). Diskurs bezeichnet
in der Sprachpragmatik jedoch
Strukturen, die es erlauben, Folgen
von Sprechhandlungen zu größe-
ren kommunikativen Einheiten zu
kombinieren. Der Begriff ist also
nicht mit dem Habermasschen
oder Foucaultschen Verständnis
von Diskurs zu verwechseln. Vgl.

hierzu: Diskurs, in: Metzler Lexi-
kon Sprache, 144 f.

42 Vgl. hierzu etwa U. Gleixner,

»Das Mensch« und »der Kerl«
(Fn. 39) 19–21. Malcolm Gaskill
geht sogar soweit, »Fiction in the
Archives« dadurch nachweisen zu
wollen, dass Morddarstellungen
im frühneuzeitlichen England
nach heutigen Maßstäben mit
übernatürlichen Phänomenen ar-
gumentierten. Diese Tatsache

belege, dass die Erzähler sich nicht
an einer objektiv gegebenen, son-
dern an einer kulturell konstruier-
ten Welt orientierten. Dabei
übergeht Gaskill die Frage, ob die
Darstellung von Mordfällen (vor-
nehmlich in Druckschriften) allge-
mein mit Aussagen vor Gericht
gleichzusetzen ist. Vgl. M. Gas-
kill, Reporting Murder. Fiction in
the Archives in Early Modern
England, in: Social History 23
(1998) 1–30; insbesondere 1–5,
27–30.

43 Die folgenden Beispiele sind be-

wusst einfach gewählt, um eine
Diskussion im Detail, die zu viel
Raum in Anspruch nähme, zu
vermeiden.

44 StZH, A.27.74, Aussage Michael

Wyß, 21.8.1636.

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Vogt und Angeklagter sprachlich kooperieren. Sie teilen beide die
Vorstellung, dass die Behauptung, die Bibel sei nicht Gottes Wort,
einen Normbruch darstelle. Wyß stellt die Anklage als solche nicht
in Frage. Vogt und Angeklagter gehen weiterhin davon aus, dass
ein Untertan, der ein Delikt begangen hat, sich als reuig zu erweisen
habe. Wer aber bereue, der dürfe auch als einsichtiger Untertan an
die Barmherzigkeit der Obrigkeit appellieren. Die Verantwortung
für ein Vergehen trage aber nur, wer zurechnungsfähig sei. Trun-
kenheit mache jedoch geschäftsunfähig. Dies habe die Obrigkeit zu
berücksichtigen. Wyß hätte sich wohl kaum dieser Argumentation
bedient, hätte er nicht vorausgesetzt, dass er mit ihr das Gericht
überzeugen könne. Propositional führt Wyß also in seiner Aussage
Argumente für seine Unschuld an. Dabei anerkennt er auf der
perlokutionären Ebene symbolisch die Aufsichtsfunktion der Ob-
rigkeit, die dem reuigen Sünder Nachsicht schuldet.

Der Vorteil dieser Analyse besteht darin, dass es das Modell

der konversationellen Implikatur erlaubt, präzis zu explizieren,
worin der Unterschied zwischen dem Gesagten und dem Gemein-
ten liegt.

45

Sie ermöglicht es systematisch zu paraphrasieren und

somit nachzuvollziehen, wie die Sprecher und Adressaten sprach-
lich kooperieren und dabei unterschiedliche Darstellungsinteressen
verfolgen. Der springende Punkt in der Rechtfertigung des Wyß ist
nicht die Frage, ob er tatsächlich aus Trunkenheit Gott gelästert hat
oder nicht. Der Schlüssel zum Verständnis der Gerichtsszene liegt
vielmehr darin, dass die Art und Weise, wie sich Zürcher der
Frühen Neuzeit auf religiöse Normen bezogen, etwas Spezifisches
über die Relevanz von Religion in dieser Gesellschaft aussagt.

46

Das Beispiel Wingarten und Wyß zeigt, dass Sprechhandlungs-

modelle durchaus mit dem linguistic turn kompatibel sind, da sie
eine Möglichkeit bieten, Zeugnisse menschlicher Kommunikation
als sprachlich verfasste Ausdrucksformen zu behandeln. Sie fragen
nach der Inhaltsseite einer verbalen Äußerung, doch nicht um eine
objektive Wirklichkeit, die hinter ihr verborgen wäre, freizulegen.
Sprechhandlungsmodelle analysieren vielmehr die Prinzipien, nach
denen sich die Kommunikationsteilnehmer/innen gegenseitig ver-
ständlich machen und untersuchen somit sprachlich intersubjektiv
gedeutete Welt. Sprechhandlungsmodelle tragen daher zur Sensibi-
lisierung gegenüber dem Problem der »Textproduktion« bei, auf
das die dekonstruierenden Ansätze zu Recht hinweisen. Die kon-
versationsanalytische Auswertung der Beispiele verdeutlicht aber

96

Sprache in der Geschichte

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45 In seinem Plädoyer für eine histo-

rische Diskursanalyse unterstrich
Jütte die Notwendigkeit, »Inhalt
und Form sprachlichen Handelns
in seiner historisch-sozialen Be-
dingtheit und Entwicklung« zu er-
fassen, um »Texte nicht mehr allein
von der Inhaltsseite aus zu betrach-
ten, sondern hinter der sprachli-
chen Form auch gesellschaftliche
Konventionen, Ritualisierungen
und Institutionalisierungen zu er-
kennen« (R. Jütte, Sprachliches
Handeln [Fn. 2], 161 bzw. 180).
Mit dieser Konzentration auf die
Ausdrucksseite, auf die sprachli-
che Form einer verbalen Äußerung
gerät jedoch deren Inhaltsseite als
Spannungsverhältnis von Gesag-
tem und Gemeintem zu sehr aus
dem Blickfeld.

46 Zur sprechakttheoretischen Dis-

kussion von frühneuzeitlichen
Gotteslästerungen vgl. program-
matisch: J. Favret-Saada, Rush-
die et compagnie. Préalables à une
anthropologie du blasphème, in:
Ethnologie française 22 (1992)
251–260. Disparate, empirische
Untersuchungen trägt in An-
schluss an einen knappen theore-
tischen Vorspann zusammen:
A. Cabantous, Histoire du

blasphème en Occident XVIe –
XIXe siècle, Paris 1998. Eine
theoretisch wie empirisch begrün-
dete Monographie hat vorgelegt:
G. Schwerhoff, Gott und die
Welt herausfordern, Theologische
Konstruktion, rechtliche Bekämp-
fung und soziale Praxis der Blas-
phemie vom 13. bis zum Beginn
des 17. Jahrhunderts, Habilita-
tionsmanuskript, Bielefeld 1996.

background image

auch, dass diejenigen, die vor Gericht aussagen, keinen frei fiktiven
»Text« erschaffen. Die Situation der Rede vor Gericht bedingt
vielmehr, dass die Sprechenden nicht nur ihre subjektiven Stand-
punkte äußern, sondern in spezifischer Weise sprachlich miteinan-
der kooperieren, sofern sie sich der kommunikativen Situation
nicht völlig verweigern. Den Sprechenden stehen somit zwar
sprachliche Spielräume zur Verfügung, in denen sie ihre Worte
strategisch einsetzen können, doch sind die Befragten genausowe-
nig autonom Erzählende wie die Richter autonome Hörer/Leser
ihrer »Texte« sind. Vor den Schranken des Gerichts sind Beklagte,
Zeuginnen und Richter vielmehr an die Kriterien gebunden, die für
das Justizverfahren relevant sind, wenn auch viele erzählerische
Momente in die Darstellungen einfließen. Diese belegen, wie sich
die Beteiligten unter bestimmten Relevanzsetzungen über das
tatsächlich Geschehene narrativ verständigen.

47

Die Gegenüber-

stellung von Tathergang (Faktum) und dessen sprachlicher Ver-
fasstheit in den Aussagen (Fiktion) ist deswegen zwar nicht in der
Schärfe möglich, wie häufig vorausgesetzt, kann aber auch nicht
prinzipiell aufgehoben werden.

48

Die bisherige Umsetzung von Überlegungen des linguistic turn

wirft nicht nur die Frage auf, ob die Grenzen zwischen Tatsächli-
chem und Erzähltem zu sehr verwischt werden. Mir scheint ebenso
der skeptische Einwand berechtigt zu sein, ob in der – zumindest
deutschsprachigen – empirischen Forschung zwar die Terminologie
des linguistic turn zur Anwendung gelangt, dessen sprachphiloso-
phische Prämissen jedoch nicht konsequent vollzogen werden. So
lässt sich durchaus formulieren, dass Schöffen, Richter oder ein
Urteilstext ein fiktives Bild von den Beklagten konstruieren

49

und

diese somit »über Attribuierungen definiert«

50

werden, also die

Bedeutung eines Textes sich »nicht ausschließlich auf der Ebene
seiner sprachlichen Gestaltung, sondern sozusagen zwischen dis-
kursiven und nichtdiskursiven Akten konstituiert«.

51

Ist dies aber

nicht mit der argumentativ weniger aufwendigen Feststellung
identisch, dass die an einem gerichtlichen Verfahren Beteiligten
jeweils aus ihrer Perspektive einen Sachverhalt beschreiben und
dabei Tatsachenaussagen treffen? Wird nicht die Ausgangsposition
des linguistic turn, es gebe hinter den Texten keine eindeutige
Wirklichkeit zu entdecken, trivialisiert, wenn Quellen aufgrund
einer semantisch-syntaktischen Textanalyse »unterhalb ihrer auf
den ersten Blick faßbaren … Bedeutungen ›zum Sprechen gebracht‹

97

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47 Zur Bedeutung von Gerichts-

protokollen und Suppliken als
Quellen, die von der Selbst- bzw.
Fremdwahrnehmung der beteilig-
ten Subjekte zeugen, vgl. Ego-Do-
kumente (Fn. 6).

48 Insofern stimme ich dem Argu-

ment von Michael Stolleis zu, dass
der »changierende Grenzbereich
zwischen gesicherter Geschichts-
schreibung und frei erfundener
Dichtung seine Schrecken« verlie-

ren sollte. Vgl. M. Stolleis,
Rechtsgeschichte als Kunstpro-
dukt. Zur Entbehrlichkeit von
»Begriff« und »Tatsache«, Baden-
Baden 1997, 16. Als Tagungsbe-
richt zur Diskussion der vermeint-
lichen Schrecken der Diskursana-
lyse und linguistischen Wende
außerdem: J. Landwehr, Vom
Begriff zum Diskurs. Die »linguis-
tische Wende« als Herausforde-
rung für die Rechtsgeschichte?,

in: Zeitschrift für Geschichtswis-
senschaft 48 (2000) 440–442.

49 Da dankenswerterweise, so weit

ich sehe, Monika Mommertz eine
der wenigen im deutschen
Sprachraum ist, die den Versuch
unternommen hat, an einem kur-
zen, prägnanten Beispiel eine
Quelleninterpretation im Sinne
des linguistic turn vorzuführen, sei
es hier erlaubt, ihre Argumenta-
tion als prototypisches Beispiel
einer empirischen Anwendung des
linguistic turn zu diskutieren. Zu
ihrer präzisen und textnahen
Interpretation eines eidlichen
Schuldzugeständnisses einer
1604/05 im Brandenburgischen
Angeklagten, die »Konstruktionen
von Geschlecht im Kontext von
Herrschaft und auf der Ebene von
Sprache zu historisieren versucht«,
vgl. M. Mommertz, Lisa Thielen
(Fn. 41), hier: 304.

50 Ebd. 321.
51 Ebd. 328.

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werden«

52

sollen? Dies scheint mir ebenfalls der Fall zu sein, wenn

»das in einem Eidestext konstruierte ›Ich‹ in gewisser Weise fiktiv«
ist, weil die zur Verbannung verurteilte Person der Ausweisung
nicht folgt, das Urteil also erst einmal folgenlos bleibt.

53

Aus der

Forschung ist indes bekannt, dass frühneuzeitliche Justiz auf der
Normebene mit scharfen Strafen wie der langfristigen Ausweisung
droht, um sich als streng und gerecht zu stilisieren und symbolisch
ihren Machtanspruch zum Ausdruck zu bringen. In der Strafpraxis
hingegen folgt die Justiz einem pragmatischen Kurs der Toleranz, in
dem Urteile deutlich abgemildert oder aufgehoben werden kön-
nen.

54

Verwässert daher das Argument vom gewissermaßen fikti-

ven Subjekt des Eidestextes nicht das Konzept der Fiktion als
narrativ konstruierte Wirklichkeit, wenn Fiktion und symbolischer
Drohcharakter von Gesetzestexten gleichgesetzt werden?

In der Anwendung, so das Zwischenfazit, steht der linguistic

turn in der Gefahr, auf unnötig komplizierte Weise Ergebnisse zu
Tage zu fördern, die auch mit konventionellen semantisch-syntak-
tischen Mitteln der Quelleninterpretation erreichbar sind. Um Text
als Konstruktion von Wirklichkeit durch Subjekte und damit als
Handlung zu dechiffrieren, bedarf es eines präziseren Verständnis-
ses von sprachlicher Handlung. Hierzu leisten Sprechhandlungs-
theorien einen wichtigen Beitrag, wie ein weiteres Beispiel aus
Zürich illustrieren soll.

55

Um 1545 gerieten in der Stadt Zürich

Heini Breitinger aus Hottingen und ein Mann namens Sprüngli
miteinander in Streit. Der Aussage Thoman Wetzels zufolge hatte
Breitinger zuerst provoziert, indem er Sprüngli als Zwergen betitelt
habe. Auf die Herausforderung habe Sprüngli erwidert:

»alls gewüß er ein Zwerg wer, so gwüß were der Breitinger ein
Ketzer und Boßwicht. Da zwergete Inn der Breitinger aber-
maln. Daruff sprecher der Sprüngli: ›alls gwüß ich ein zwerg
bin, so gwüß hast du ein ku gehey

..

t.‹ Da seite der Breitinger:

›Sprüngli, du tribst unzimliche wort.‹ Uff das seigte der Sprüng-
li, der Breitinger solt zu Im kam. Da gienge er gegen Inn und
spreche: ›Da bin Ich‹, gryffe auch mithin an sin gwer. Da fluche
er Sprüngli.«

56

Zwar hatte sich Breitinger aufgrund seines Fluchens eigentlich

einer Gotteslästerung schuldig gemacht, doch ist leicht zu erken-
nen, dass es sich hier um einen typischen frühneuzeitlichen Ehr-
konflikt handelt. Der handfeste Krach erfolgte nach den Regeln der

98

Sprache in der Geschichte

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52 Ebd. 305.
53 Ebd. 326.
54 Dies wird etwa in Ausgsburg

ersichtlich, wo die Justiz das
Strafmittel des Stadtverweises
differenziert und flexibel zu hand-
haben weiß. Vgl. C. A. Hofmann,
Der Stadtverweis als Sanktions-
mittel in der Reichsstadt Augsburg
zu Beginn der Neuzeit, in: Neue
Wege strafrechtsgeschichtlicher
Forschung, hg. von H. Schlosser
und D. Willoweit, Köln, Wei-
mar, Wien 1999, 193–237; insbe-
sondere 203 f. Zur Diskussion der
präventiven wie auch integrativen
Funktion von Strafpraxis und
symbolischer Strafandrohung vgl.
K. Härter, Soziale Disziplinie-
rung durch Strafe? Intentionen
frühneuzeitlicher Policeyordnun-
gen und staatliche Sanktionspra-
xis, in: ZHF 26 (1999) 365–379;
insbesondere 375 f.

55 Eine kritische Würdigung der

konversationsanalytischen Mo-
delle für die Auswertung von

Sprechhandlungen im Gerichts-
saal nimmt in Hinblick auf eine
Theorie richterlichen Urteilens die
Hamburger Psychologin Gabriele
Pötscher vor. Vgl. G. Pötscher,
Bausteine für eine psychologische
Theorie richterlichen Urteilens,
Baden-Baden 1999. Vergleichbare
grundlegende methodologische
Reflexionen fehlen für die Ge-
schichtswissenschaft. Einen ersten
Beitrag leistet vom Strafrecht

herkommend: W. Naucke, Die
Stilisierung von Sachverhaltsschil-
derungen durch materielles Straf-
recht und Strafprozeßrecht, in:
Erzählte Kriminalität. Zur Typo-
logie und Funktion von narrativen
Darstellungen in Strafrechtspflege,
Publizistik und Literatur zwischen
1770 und 1920, hg. von J. Schö-
nert, K. Imm und J. Linder, Tü-
bingen 1991, 59–86.

56 StZH, A.27.10, um 1545.

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Retorsion und Eskalation, wie sie im zeitgenössischen Ehrkon-
zept

57

begründet waren: In der ersten Runde wählt Breitinger eine

provozierende Sprechhandlung. Seine Äußerung, Sprüngli sei ein
Zwerg, lässt sich illokutionär, propositional und perlokutionär mit
den Sätzen »ich fordere dich heraus«,»du bist physisch deutlich
kleiner als die Norm«, d. h. »ich bin dir haushoch überlegen«
umschreiben. Breitingers Sprechhandlung ist gelungen und erfolg-
reich zugleich. Sprüngli erkennt Breitingers Anrede als Provokation
(Gelingen der Sprechhandlung), nimmt die Herausforderung an
(Erfolg der Sprechhandlung) und stellt das Kräftegleichgewicht mit
der Beleidigung »Ketzer, Bösewicht« wieder her. Es folgt die zweite
Runde, in der deutlich wird, welche Reaktionen Sprüngli auslöst.
Sprüngli gibt sich nicht mit dem wiederhergestellten Patt zufrieden,
sondern verschärft den Konflikt mit dem Vorwurf der »Bestiali-
tät«.

58

In der nächsten Runde mahnt Breitinger Sprüngli ab (der

Vorwurf der unziemlichen Rede). Die Sprechhandlung gelingt
zwar, bleibt jedoch ohne Erfolg. Sprüngli verweigert sich dem
Ausgleichsangebot Breitingers und treibt stattdessen die Eskalation
weiter. Drohend fordert er seinen Kontrahenten auf, sich ihm doch
zu nähern und gibt ihm damit zu verstehen, er stehe zu einem
Zweikampf bereit. Breitinger läutet mit seinem »hier bin ich« das
Finish ein. Mit seiner Äußerung gibt er nicht einfach seinen
physischen Standort an, sondern macht deutlich, dass er die Auf-
forderung zur physischen Auseinandersetzung unbeeindruckt an-
nimmt. Auch dieser Redezug zeigt Wirkung. Breitinger macht
Anstalten, von der verbalen zur physischen Gewalt (Ziehen des
Messers) überzugehen, um schließlich zur letzten blanken Waffe
verbaler Gewalt zu greifen: die Verfluchung des Gegners.

59

In der

Folge der Redezüge wird klar, dass der Angegriffene die Flüche
nicht nur lokutionär in den Mund nimmt. Er legt sich auch nicht
propositional fest, dass etwa der Teufel Breitinger holen oder ihn
eine Krankheit heimsuchen solle.

60

Vielmehr signalisiert er illoku-

tionär, dass nunmehr der Konflikt unausweichlich sei und er den
Angreifer abwehre. Dabei sendet er ihm perlokutionär die Bot-
schaft, dass Gott auf seiner Seite stehe, er also er Stärkere sei, da
Gott ihn, seinen Kontrahenten, strafen werde. So jedenfalls dürfte
die Wirkung von Flüchen zu erklären sein, wie sich anhand
unzählig anderer Beispiele ausführen ließe.

61

Die angeführten Zürcher Beispiele zeigen, dass textliche Quel-

len als Produkte sprachlicher Kommunikation ernst genommen

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57 Vgl. zum Begriff der Ehre und der

damit einhergehenden Ehrhändel
aus der mittlerweile vielfältigen
Literatur: D. Garrioch, Verbal
Insults in Eighteenth Century Pa-
ris, in: Social History of Language,
hg. von P. Burke und R. Porter,
Cambridge 1987, 104–119;
L. Faggion, Points d’honneur,
poings d’honneur. Violence quo-
tidienne à Genève au XVIIe siècle,
in: Revue du Vieux Genève (1989)

15–25; M. Dinges, Ehrenhändel
als »Kommunikative Gattungen«.
Kultureller Wandel und Volkskul-
turbegriff, in: Archiv für Kultur-
geschichte 75 (1992) 359–393;
H. Roodenburg, De notaris en
de erehandel. Beledigingen vorr
het Amterdamse notariaat, 1700–
1710, in: Volkskundig Bulletin 18
(1992) 367–388; L. Gowing,
Gender and the Language of Insult
in Early Modern London, in:

History Workshop 35 (1993)
1–21; Verletzte Ehre. Ehrkonflikte
in Gesellschaften des Mittelalters
und der frühen Neuzeit, hg. von
K. Schreiner und G. Schwer-
hoff, Köln, Weimar, Wien 1995;
R.-P. Fuchs, Um die Ehre. West-
fälische Beleidigungsprozesse vor
dem Reichskammergericht (1525–
1805), Paderborn 1999.

58 Die Bezeichnung beinhaltete den

Vorwurf, mit einer Kuh Ge-
schlechtsverkehr gesucht bzw. ge-
trieben zu haben. Zu diesem in der
Schweiz besonders häufig verfolg-
ten Delikt vgl.: In Helvetios – Wi-
der die Kuhschweizer. Fremd- und
Feindbilder von den Schweizern in
antieidgenössischen Texten aus
der Zeit von 1386 bis 1532, hg.
von C. Sieber und T. Wilhelmi,
Bern, Stuttgart, Wien 1998.

59 Die Lesart, »da fluche der Sprüngli

den Breitinger« ist aus sprachli-
chen Gründen außerordentlich
unwahrscheinlich, wenn sie auch
der Logik des Schlag um Schlag
entgegenkommt. Die Protokolle
legten es darauf an, die Handeln-
den unmissverständlich zu be-
zeichnen. Deswegen wäre zu
erwarten, dass der Protokollant
entweder bei der Überarbeitung
seiner Mitschrift eine andere Fo-
mulierung gewählt hätte oder das
Original Korrekturspuren erken-
nen lassen würde, um Sprüngli als
den Fluchenden auszumachen.
Beides aber ist nicht der Fall.

60 Die Flüche Breitingers sind nicht

überliefert. Meine fiktive Ausfor-
mulierung entspräche jedoch den
verbalen Usancen seiner Zeit.

61 Vgl. F. Loetz, Mit Gott handeln

(Fn. 38) 174–214.

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werden müssen. Wer Quellen einseitig auf das inhaltlich Gesagte,
auf die illokutionäre und propositionale Ebene, hin untersucht,
wird gerade bei Gerichtsakten verleitet, sich auf die Rekonstruk-
tion von Tathergängen zu konzentrieren und womöglich noch
retrospektiv ein »richterliches Urteil« über die Vorkommnisse
auszusprechen.

62

Dieser Ansatz stellt die eigene historische Analy-

se unnötig auf dünnes Eis. Wer vorrangig einem detektivischen
»wer war’s und was haben er oder sie getan?« folgt, gelangt zu
mehr oder weniger wahrscheinlichen Aussagen darüber, wie es sich
denn wohl mit dem überlieferten Fall verhalten habe.

63

Die Frage

hingegen, wie Betroffene einen bestimmten Tathergang präsentie-
ren und nach welchen Normen sie sich in ihrer Darstellung
orientieren, was sie mit ihren perlokutionären Handlungen mei-
nen, führt auf fruchtbareren Boden. Die Quellen dokumentieren
durchaus, dass etwas passiert ist, dies jedoch immer aus der
Wahrnehmungsperspektive der am Gerichtsverfahren Beteiligten.
Daher ist nicht der Vorfall selbst, der hinter den Aussagen verbor-
gene »wahre Sachverhalt«, das historisch relevante »Faktum«,
sondern die Interpretation dieses Vorfalls durch die Beteiligten;
dessen »fiktionale« Ausgestaltungen verweisen auf die Art und
Weise, wie diese ihre Welt gedeutet haben. Wie die klassische
Historik geht somit der linguistic turn von der Perspektivenge-
bundenheit der Quellen aus. Im Unterschied zu den konventio-
nellen Ansätzen jedoch gibt der linguistic turn das Ziel auf, die
unterschiedlichen Standpunkte der Quellen zu einer faktischen,
vergangenen Wirklichkeit zusammenzusetzen. Stattdessen verfolgt
er die Vorstellung, vergangene Wirklichkeit in der Vielfalt ihrer
subjektiven sprachlichen Deutungen unter Verzicht auf eine Meis-
tererzählung zu erkennen. Somit vertritt der linguistic turn eine
Zugangsweise, die es Historikern erlaubt, behutsamer mit der
sprachlichen Verfasstheit ihrer Quellen umzugehen.

Gerade das Beispiel der Gerichtsakten zeigt allerdings, worin

die Grenzen dekonstruktivistischer Ansätze bestehen. Die »Dekon-
struktion« der Akte Breitinger contra Sprüngli ist auf drei Inter-
pretationsansätze beschränkt: Erstens lässt sich festhalten, dass der
Originalton dessen, was die beiden Kontrahenten sich an den Kopf
geworfen haben mögen, verloren gegangen ist. Dann ist zu beden-
ken, dass die Formulierung, »da fluche er Sprüngli« nicht die
gefallenen Worte wiedergibt, sondern eine summarische und ge-
richtsrelevante Kategorisierung der Zeugen bzw. der Protokollan-

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62 Zu dieser Frage im Zusammen-

hang mit dem Problem der »Ver-
gangenheitsbewältigung« vgl.
Geschichte vor Gericht. Histori-
ker, Richter und die Suche nach
Gerechtigkeit, hg. von N. Frei,
D. van Laak und M. Stolleis,
München 2000. Für die Proble-
matik in Frankreich vgl. Le Gé-
nocide des Juifs entre procès et
histoire 1943–2000, hg. von
F. Brayard, Paris 2000.

63 Kritik an einer solchen »retro-

spektiven Kriminalistik« übt
ebenfalls aus mikrohistorischer
Perspektive O. Ulbricht, Aus
Marionetten werden Menschen.
Die Rückkehr der unbekannten
historischen Individuen in die Ge-
schichte der Frühen Neuzeit, in:
Neue Blicke. Historische Anthro-
pologie in der Praxis, hg. von

E. Chovjka, R. v. Dülmen und
V. Jung, Wien, Köln, Weimar
1997, 16. Unter der Bedingung,
dass Prozessakten in ihren Entste-
hungszusammenhang eingeordnet
werden, hält es hingegen Helga
Schnabel-Schüle für möglich, die
»Akten auf ihren Wahrheitsgehalt
zu prüfen«. Vgl. H. Schnabel-
Schüle, Ego-Dokumente im
frühneuzeitlichen Strafprozeß, in:
Ego-Dokumente (Fn. 6) 295–317,

hier: 298. Dass gerade diese
»Wahrheit« der umstrittene Ver-
handlungsgegenstand eines Ge-
richtsverfahrens ist und daher auf
die Darstellungsinteressen der Be-
teiligten hin »dekonstruiert« wer-
den muss, betont: A. Griesebner,
Konkurrierende Wahrheiten. Ma-
lefizprozesse vor dem Landgericht
Perchtoldsdorf im 18. Jahrhun-
dert, Wien, Köln, Weimar 2000,
insbesondere: 144–176.

background image

ten sein dürfte. Die Formulierung ist also das Produkt einer
juristischen Darstellung der Wirklichkeit. Schließlich regen die
Überlegungen des linguistic turn zu Vermutungen darüber an,
warum der Protokollant bzw. der Zeuge die dramatische Form
der direkten Rede wählten. Hier kommen die kommunikations-
analytischen Zugangsweisen ergänzend zum Zuge. Die Trennung
in die vier Ebenen des Sprechakts ermöglicht es, die verschiedenen
Botschaften, welche die Kontrahenten in der geschilderten Szene
austauschen, genau zu bezeichnen. Um zum Ergebnis zu gelangen,
dass Breitinger mit seinen Worten nicht zum Ausdruck brachte,
dass Sprüngli kleinwüchsig sei, sondern Sprüngli zu provozieren
suchte, dass Breitinger also etwas anderes sagte, als er meinte, muss
man nicht den linguistic turn oder Konversationsanalysen bemü-
hen. Das Ergebnis jedoch, dass Breitinger sich mit gezielt heraus-
fordernden bzw. beleidigenden Redewendungen an Sprüngli wen-
det, dabei von seiner physischen Präsenz spricht, um eigentlich
Gott als potentiellen Strafrichter zu funktionalisieren und mit ihm
zu drohen, ist um vieles präziser, da sie Illokution, Proposition und
Perlokution analytisch voneinander zu trennen erlaubt.

Die größere Genauigkeit, welche Sprechhandlungsmodelle bei

der Beschreibung des Ehrkonflikts erbringen, ist nicht allein termi-
nologischer Natur. Dies wird ersichtlich, wenn man den Fall
Breitinger contra Sprüngli mit anderen Ehrkonflikten vergleicht.
Dieser Vergleich kann hier nicht im Einzelnen vorgeführt werden.
Es genügt festzustellen, dass blasphemische Sprechakte wie Fluch
und Schwur häufig mit Ehrkonflikten Hand in Hand gingen.
Untersucht man nun genauer, was die blasphemischen Sprecher
sagten und was sie dagegen meinten, lässt sich zeigen, dass selbst in
der zutiefst religiös geprägten Epoche der Frühen Neuzeit Gottes-
lästerungen in der Regel nicht auf Gott, sondern auf den dies-
seitigen Gegner zielten.

64

Dank dieser Unterscheidung zwischen

Gesagtem und Gemeintem erhalten religiöse Tabubrüche in der
historischen Betrachtung einen nun anderen Stellenwert. Statt sie
als vorwiegend theologisches, ideengeschichtliches oder banales
affektives Phänomen zu betrachten, lassen sie sich als verbale
Formen des Handelns mit offiziell untolerierbaren Worten inter-
pretieren. Verallgemeinernd gesprochen leistet also die Analyse
konversationeller Implikaturen einen zweifachen Beitrag zur Inter-
pretation von Quellen: Sie erlaubt es nicht nur, Vorfälle präziser
darzustellen, sie schafft auch eine Möglichkeit, die Normen zu

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64 Da im Rahmen dieses Aufsatzes

der Nachweis des profanen Cha-
rakters von Gotteslästerung nicht
im Einzelnen ausgeführt werden
kann, sei verwiesen auf:
G. Schwerhoff, Starke Worte
(Fn. 37); G. Schwerhoff, Gott
und die Welt herausfordern
(Fn. 46) 399–408 sowie F. Loetz,
Mit Gott handeln (Fn. 38) 174–
214.

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erschließen, auf welche die Sprechenden referieren, und somit
deren kulturelle Praktiken zu erfassen:

65

Ob in Gerichtsakten,

Verwaltungsberichten, in Briefen, in Ansprachen oder anderen
Quellengattungen, Sprechende und Adressierte tauschen in ihrem
verbalen Verhalten subjektive Wahrnehmungen und Verhaltens-
entscheidungen und damit ihre Deutungen der Wirklichkeit mit-
einander aus.

66

Linguistic turn und pragmatische Wende: Wendehälse für
die Geschichtswissenschaft?

Die Rezeption des linguistic turn in der deutschen Geschichts-

wissenschaft lässt bisweilen den Verdacht aufkommen, dass die
Quellen empirisch nicht so heiß »gegessen« werden, wie der »Text«
nach seinen theoretischen Ansprüchen postmodern »gekocht«
werden müsste. Manchmal mag der Eindruck entstehen, »dekon-
struieren« sei ein marktträchtiges Synonym für »analysieren«.
Selbst wenn dies zuweilen der Fall ist, so trifft diese Kritik nicht
den Kern des Diskussionsbeitrags, den der linguistic turn leistet:
Jegliche Beschreibung der Welt ist insofern eine erzählerische
Konstruktion oder ein »Text«, als sie sprachlich verfasst ist. Mit
dieser Grundposition ist die Geschichtswissenschaft zu Recht
damit konfrontiert worden, dass sie die narrative Qualität ihrer
Quellen unterschätzt und zu scharf zwischen Faktum und Fiktum
trennt. Quellenkritik beginnt sicherlich nicht erst mit dem linguistic
turn, doch mahnt der linguistic turn in all seinen Schattierungen,
vorsichtiger gegenüber den narrativen Mustern der Quellen zu
sein. Er hilft sich von der Vorstellung zu verabschieden, historische
Fakten lägen in Archiven bereit und bräuchten lediglich nach den
bewährten Regeln der Quelleninterpretation ausgewertet zu wer-
den, um die »hinter« den Dokumenten liegenden Tatsachenver-
halte aufzudecken. Gerade Gerichtsakten, die unmittelbar vom
Alltag zu berichten scheinen, verdeutlichen, dass zum einen das
Geschehene nur aufgrund der Darstellung durch die Beteiligten
rekonstruiert werden kann. Zum anderen ist aber nicht das
rekonstruierbare Geschehen, sondern die zu interpretierende
sprachliche Gestaltung des Geschehens für die historische Analyse
relevant. Die Bezüge, welche die Quellentexte herstellen, geben
darüber Auskunft, wie sie eine Person oder einen Vorfall einord-

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65 Um dies am Fall Breitinger contra

Sprüngli zu konkretisieren: Brei-
tinger muss nicht davon überzeugt
gewesen sein, dass Gott Sprüngli
heimsuchen werde, wenn er,
Breitinger, den Herrn durch einen
Fluch dazu »beauftragte«. Die re-
ligiöse Motivation Breitingers ist
nicht zu klären. Dass aber Brei-
tinger mit seinen Flüchen, für die
er schließlich auch vor Gericht
geführt wurde, zur Eskalation des
Konflikts beitrug, lässt erkennen,
dass Breitinger das Maß des To-
lerierbaren überschritten hatte.
Sprüngli entschied sich dazu,
Breitingers Injurie nicht auf sich
sitzen zu lassen. Der Rat als Ver-
treter einer Obrigkeit, die mit dem
Großen Mandat von 1532 der

Gotteslästerung den Kampf ange-
sagt hatte, sah sich genausowenig
in der Lage, über die Gottesläste-
rung Breitingers hinwegzugehen.
Somit verweist die Haltung
Sprünglis und der Justiz auf den
gesellschaftlichen Stellenwert, den
sie als Subjekte dem verbalen
Normbruch zuordneten. Zur Ver-
folgung der Gotteslästerung in
Zürich vgl. F. Loetz, Mit Gott
handeln (Fn. 38) 77–101.

66 Zur Frage, inwiefern diese Ver-

haltensentscheidungen an gesell-
schaftliche Normen gebunden
sind, ohne durch sie determiniert
zu sein, vgl. M. Dinges, »Histo-
rische Anthropologie« und »Ge-
sellschaftsgeschichte«. Mit dem
Lebensstilkonzept zu einer »All-
tagskulturgeschichte«?, in: ZHF
24 (1997) 179–214; O. Ulbricht,
Marionetten (Fn. 63) 13–32.

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nen, wie sie also Wirklichkeit deuten. Um nicht den Traum einer
»objektiven« Wirklichkeit zu träumen, die man möglichst um-
fassend erschließen müsse, ist es daher notwendig, die sprachliche
Verfasstheit von Wirklichkeitsdeutungen ernst zu nehmen.

Vermag der linguistic turn den Blick für die narrative Kon-

struktion der in Quellen überlieferten Wirklichkeit zu schärfen,
verdeutlichen die bisherigen Versuche, den linguistic turn empirisch
umzusetzen, dass auch das dekonstruktivistische Argusauge nicht
alles durchschauen kann. Das Verständnis von Wirklichkeit als
narrativer Text führt leicht in terminologische und konzeptionelle
Unwegsamkeiten. Die Auswertung von Quellen als »Text« stößt
dort an eine Grenze, wo die sprachlich konstruierte Wirklichkeit
einer Gesellschaft in »fiktive«, rein subjektbezogene Deutungen
von Realität aufgelöst wird. Subjekte einer Gesellschaft bewegen
sich jedoch nicht autonom, sondern bilden eine (Sprach-)Gemein-
schaft. Dieser Tatsache tragen Sprechhandlungsmodelle Rechnung,
wenn sie Kommunikation auf die Kooperationsprinzipien der
Sprechenden zurückführen. Konversationsmodelle stellen nicht
die ontologische Frage, was (überhaupt) ist, ob objektiv oder
subjektiv. Sie zielen vielmehr auf die Frage, was für die Spre-
chenden in der Verständigung mit anderen ist. Modelle der Sprech-
handlung berücksichtigen nicht allein, dass Welt intersubjektiv
konstruiert ist; sie setzen darüber hinaus systematisch am Unter-
schied von Gesagtem und Gemeintem an. Dieses Konzept bietet
somit ein Instrumentarium, mit dem sich präzise paraphrasieren
und analysieren lässt, wie Menschen in ihrer Kommunikation auf
gemeinsame Normen verweisen, um sprachlich miteinander zu
kooperieren und sich dadurch über ihre Wirklichkeit zu verständi-
gen. Sich den Anregungen des linguistic turn wie der Sprach-
pragmatik zu stellen bedeutet nicht, den Hals nach methodischen
Modetrends zu wenden. Historische Quellen auch aus sprachlicher
Sicht zu würdigen, heißt vielmehr die »Texte« auf ihre vergange-
nen, intersubjektiven und damit kulturgeschichtlich relevanten
Deutungen von Wirklichkeit hin zu erschließen. Wer historische
Schriftzeugnisse als Ausdruck sprachlicher Handlungen liest,
braucht sich nicht in einer undurchsichtigen Vielfalt beliebig
»fiktiver« Wahrnehmungen zu verlieren, sondern erhält vielmehr
eine Chance, besser zu verstehen, was zwischen den Worten ge-
schrieben steht.

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