Endres, Brigitte Die Weihnachts Zeit Maschine

background image
background image

Inhaltsverzeichnis

Titelbild
Autorenvita
Buchinfo
1. Ein komisches Gefühl …
2.

Ein

missglückter

Weihnachtsabend
3. Ein phantastisches Abenteuer
4. Eine gute Nachricht
5.

Luises

schönstes

Weihnachtsfest
6. Eine neue Bekanntschaft
7. Karls Weihnachtsgeschenk
8.

Ein

funkelnagelneuer

Weihnachtstag
9.

Gutscheine

und

Weihnachtsfreude
10. Ein Weihnachtswunder
Inhaltsverzeichnis
Impressum

background image
background image

Autorenvita:

background image

Brigitte Endres wurde in Würzburg geboren.
Von klein auf liebte sie Bücher und verfasste
schon früh eigene Texte. Einer Ausbildung
zur Grundschullehrerin folgte ein Zweitstu-
dium in Germanistik und Geschichte. Seit
über zehn Jahren arbeitet sie als freie Autor-
in für Verlage in Deutschland, Österreich
und der Schweiz.

Heute lebt sie mit ihrem Mann, dem Maler
H. D. Tylle in Kassel und München.

www.brigitte-endres.de

5/171

background image

Buchinfo:

Dieses Weihnachtsfest ist für die Zwillinge
Joschi und Laura sehr enttäuschend, keiner
ihrer Herzenswünsche wird erfüllt. Jetzt erst
erfahren sie: Der Vater hat seinen Job ver-
loren. Noch am selben Abend geraten in sie
jäh in den Sog einer magischen Spieluhr, die
sie in die Vergangenheit katapultiert. Als sie
zurückkommen, wissen sie, um was es an
Weihnachten wirklich geht …

background image

1. Ein komisches Gefühl …

Der Radiowecker riss Lara aus dem Sch-

laf. „Fröhliche Weihnachten, heute ist der
24. Dezember!“, schmetterte ein gut
gelaunter Sprecher in ihre müden Ohren.
Dann ertönte – nicht weniger fröhlich:
Jingle Bells.

background image

„Mach sofort das blöde Ding aus!“, blaffte
Joschi seine Zwillingsschwester an und zog
sich die Bettdecke über den Kopf. „Nicht mal
an Weihnachten kann man auspennen!“,
brummte es dumpf darunter hervor.
Lara tastete schlaftrunken nach der
Stopptaste. „Reg dich ab, du Blödmann!“
Sie rieb sich die Augen und blinzelte in das
dämmrige Zimmer. Durch einen Vorhang-
spalt fiel etwas Licht herein und hüllte alles
in einen blaugrauen Schleier. Ein bizarres
Flimmern vor dem Fenster erregte plötzlich
ihre Aufmerksamkeit. Schneite es etwa? Sie
sprang aus dem Bett und riss die Gardinen
zurück. „Mensch Joschi, es schneit. Ist das
nicht irre?“
Auf einen Schlag war sie hellwach. Heute
war Weihnachten und es schneite! Nun lugte

8/171

background image

auch Joschis Strubbelkopf aus den Kissen
hervor. „Echt?“
„Wenn ich’s dir doch sage, alles weiß da
draußen, die Kirche, die Straße, einfach
märchenhaft!“
Joschi kroch umständlich aus dem Bett und
tappte zu ihr hinüber. „Tatsache!“, sagte er
und grinste zufrieden. „Erster Weihnacht-
swunsch schon in Erfüllung gegangen.“
Joschi hatte sich nämlich ein Snowboard
gewünscht. Nach Sylvester wollten sie wie
jedes Jahr zum Skiurlaub nach Österreich
fahren. Und den Schnee hier brauchte er, um
vorher schon mal am Angerberg zu
trainieren.
„Komm, steh‘n wir auf!“, sagte Lara. „Wir
müssen ja noch Geschenke besorgen.“

9/171

background image

Joschi kratzte sich am Kopf. „Mann, wenn
ich nur wüsste was! Jedes Jahr dasselbe –
null Ideen! Echt lästig!“
Lara nickte. Es war wirklich nicht leicht für
die Eltern und den Großvater etwas zu find-
en. Und dieses Jahr waren sie mit den Weih-
nachtsgeschenken auch noch verdammt spät
dran. Irgendwie war der Advent wie im Flug
vorbeigerauscht.

In der Küche füllte Mama gerade Kaffee-

pulver in die Kaffeemaschine, als die beiden
hereinstürmten.
„Fröhliche Weihnachten!“, rief Lara.
Die Mutter drehte sich zu ihnen um. „Fröh-
liche Weihnachten“, sagte sie leise. Dunkle
Ringe umschatteten ihre Augen.
„Is’ was?“, fragte Lara.

10/171

background image

Ohne auf Laras Frage einzugehen, stellte
Mama die Packung mit dem Schokomüsli auf
den Tisch. „Wollt ihr Kakao oder nur O-
Saft.“
„Für mich nur O-Saft!“ Joschi saß am
Küchentisch und überflog den Wetterbericht
der Tageszeitung. „Mann, es soll noch weiter
schneien“, sagte er aufgekratzt, während er
seine Müslischale füllte. „Dann kann ich
gleich morgen mit Ben zum Angerberg rüber.
Der hat sein Snowboard schon seit letztem
Jahr.“ Er stockte einen Moment und
zwinkerte Mama schelmisch zu. „Vorausge-
setzt natürlich, dass das Christkind meinen
Wunschzettel bekommen hat.“
Die Mutter warf ihm einen seltsam bedrück-
ten Blick zu, der Joschi aber entging, weil
eben sein Vater in die Küche gekommen war.

11/171

background image

„Fröhliche Weihnachten“, begrüßten ihn die
Zwillinge fast im Chor.
Papa nickte abwesend. Er setzte sich an den
Frühstückstisch und verschwand hinter der
Zeitung.
Lara und Joschi sahen sich an. Was war nur
heute Morgen los? Heute war doch Weih-
nachten! Aber schon während der letzten
paar Tage war die Stimmung der Eltern ir-
gendwie im Keller gewesen. Bestimmt hatten
sie beruflichen Ärger. Mama hatte eine neue
Chefin bekommen, mit der sie sich nicht be-
sonders gut verstand, und auch der Vater
musste im Betrieb ziemlich viel am Hals
haben. Jedenfalls kam er neuerdings immer
völlig genervt nach Hause.
Der Skiurlaub wird allen gut tun, dachte
Lara und räumte ihr Frühstücksgeschirr in

12/171

background image

die Spülmaschine. „Joschi und ich gehen
nachher noch mal in die Stadt“, sagte sie und
setzte ein geheimnisvolles Lächeln auf. „Viel-
leicht treffen wir ja das Christkind.“
Weder Mama noch Papa gingen auf ihre
scherzhafte Bemerkung ein. Der Vater faltete
stirnrunzelnd die Zeitung zusammen und
schob sie von sich weg. „Weihnachten, nichts
als Weihnachten, die Zeitung ist voll davon!
Fest der Liebe, dass ich nicht lache. Mit der
Wirklichkeit hat das herzlich wenig zu tun.“
Mama schüttelte den Kopf. „Stefan, jetzt lass
es gut sein!“
Joschi beeilte sich, mit seinem Müsli fertig
zu werden. Mann, hatte Papa heute eine
Laune!

13/171

background image

In der Stadt war der Teufel los. Mit

gestressten Gesichtern hasteten die
Menschen durch die weihnachtlich
geschmückte Fußgängerzone. Nicht nur die
Zwillingen waren auf der Jagd nach einem
Letzte-Minute-Geschenk. Immer noch
schneite es leise. Auf den Straßen und Bür-
gersteigen hatte sich die weiße Pracht in eine
schmuddelig-braune Masse verwandelt. Jos-
chi und Lara beschlossen, gleich ins Kauf-
haus zu gehen. Dort fand man sicher am
schnellsten etwas.
Zwischen Dutzenden von künstlichen Weih-
nachtsbäumen, Plastikengeln und Weih-
nachtsmännern streiften sie ratlos durch die
Abteilungen.
Bei den Drogeriewaren entdeckte Lara
schließlich eine Haarspange mit einem

14/171

background image

silbernen Schmetterling. „Die ist doch voll
niedlich. Wenn sie Mama nicht gefällt, nehm
ich sie eben“, sagte sie, erleichtert, endlich
etwas gefunden zu haben.
Joschi griff zwei Regale weiter kurz
entschlossen zu einer Kerze.
„Du kannst Mama doch nicht jedes Jahr eine
Kerze kaufen“, protestierte Lara.
„Logo, Kerzen kann sie immer brauchen“,
gab Joschi trotzig zurück und kramte sein
Taschengeld heraus.
Jetzt standen noch die Geschenke für Papa
und den Großvater an, der wie gewohnt den
Weihnachtsabend mit ihnen verbringen
würde.
Auf dem Weg in die Herrenabteilung, wo
Lara hoffte, etwas Passendes zu finden, ka-
men sie bei Junge Mode vorbei. Lara blickte

15/171

background image

sich suchend um. Plötzlich stutzte sie. Da
drüben hing ja die süße Jacke mit dem
Pelzkragen, die auf ihrem Wunschzettel
stand. Eine teure Marke. Lara hatte genau
die Größe angegeben und wo das ‚Christkind’
die Jacke finden konnte. Sie ging zu dem
Kleiderständer. „Verdammt, die 34er hängt
noch immer da!“
Joschi, der sowieso nicht verstand, wie man
sich Klamotten wünschen konnte, versuchte,
sie zu beruhigen. „Das ist sicher nicht die
einzige. Mama hat sie bestimmt längst für
dich besorgt.“
Nur halbwegs beruhigt, sah sich Lara weiter
nach Geschenken für Vater und Großvater
um. Schließlich entdeckte sie ein Doppelpack
mit blauen und schwarzen Socken. „Die

16/171

background image

nehm ich, Papa kriegt die blauen und Opa
die schwarzen.“
„Socken!“, Joschi rümpfte die Nase.
„Die sind wenigstens nützlich“, wehrte sich
Lara und ging damit zur Kasse.
Joschi konnte bei Herren nichts finden. Ihn
zog es in die Heimwerkerabteilung. Auf
einem Wühltisch mit billigem Werkzeug
wurde er fündig. Für seinen Vater wählte er
einen Satz Schraubenzieher, und für Opa ein
ausziehbares Metallmaßband, das sich auf
Knopfdruck wieder einrollte.
„Ich weiß nicht“, wandte Lara ein.
„Schraubenzieher haben wir doch genug und
ein Maßband hat Opa sicher auch.“
Joschi war da anderer Meinung. „Werkzeug
hat man nie genug. Und außerdem – ich

17/171

background image

kann’s auf jeden Fall gebrauchen, falls die
beiden es nicht wollen.“

Im Flur war der Vater gerade dabei, den

Weihnachtsbaum aufzustellen, als sie von
ihrem Einkauf zurückkamen.
„Verdammt, rein mit dir!“ Wütend stampfte
Papa das Fichtenbäumchen in den Ständer.
Mama kam aus der Küche. „Was ist denn los,
Stefan? Pass doch auf, sonst fallen ja jetzt
schon alle Nadeln ab!“ Tatsächlich war der
Boden bereits mit Fichtennadeln übersät.
Lara wunderte sich. „Warum habt ihr denn
keine Tanne gekauft? Die nadeln doch viel
weniger.“
„Haltet keine Volksreden, helft mir lieber!“,
fuhr sie der Vater an.

18/171

background image

Joschi verdrehte die Augen und drückte
seiner Schwester die Tüten in die Hand.
Dann kroch er unter den Baum, um die
Schrauben des Ständers zu lockern. Mit
einem satten Plopp rutschte der Stamm an
seinen Platz.
„Danke“, sagte Papa knapp und schleppte
den Christbaum ins Wohnzimmer.

Die Zwillinge verzogen sich in ihr Zim-

mer, die Geschenke einzupacken. Das Weih-
nachtspapier hatte heute nur noch die Hälfte
gekostet, da hatten sie richtig Glück gehabt.
„Hat auch Vorteile, am letzten Tag ein-
zukaufen“, stellte Joschi fest, während er die
Kerze für Mama in einen Bogen mit rosa-
farbenen Engeln einrollte.

19/171

background image

Lara schnitt ganz in Gedanken ein Stück
Geschenkband ab. Ihr war überhaupt nicht
weihnachtlich zumute. Die Stimmung der El-
tern bedrückte sie. „Ich hab so ein komisches
Gefühl, irgendetwas stimmt nicht.“
Joschi zuckte mit den Schultern. „Jeder ist
mal schlecht drauf. Bis heute Abend kriegen
die sich schon wieder ein.“

Joschi schien mit seiner Prophezeiung

Recht zu behalten. Als am späten Nachmit-
tag der Großvater kam, lockerte sich die At-
mosphäre tatsächlich etwas auf. Opa war be-
ster Weihnachtslaune. Wie immer brachte er
eine riesige Dose randvoll mit Plätzchen mit.
Früher hatte immer Oma für die ganze Fam-
ilie gebacken. Seit sie aber vor drei Jahren
gestorben war, führte der Großvater diese

20/171

background image

Tradition fort. Zum großen Erstaunen aller,
gelangen ihm die vielen verschiedenen
Sorten ebenso gut, wie Oma. Da Mama nicht
besonders gern backte, war sie froh, dass ihr
Vater ihr die Weihnachtsbäckerei abnahm.
Weil das Weihnachtszimmer schon ver-
schlossen war – die Eltern hatten den Baum
geschmückt und die Bescherung vorbereitet
– spielte sich nun alles in der Küche ab.
Allmählich wurde es dunkel. Alle saßen um
den Küchentisch, die Kerzen auf dem Ad-
ventskranz brannten. Mama kochte
duftenden Früchtetee und goss jedem eine
Tasse davon ein. Dann erzählte der
Großvater, was er in der vergangenen Woche
alles erlebt hatte. Und das war eine Menge.
Opa war noch schwer aktiv. Er spielte in
einem Schachclub, war Mitglied in einem

21/171

background image

Kegelverein und ging einmal wöchentlich
zum Seniorentreff der Gemeinde.
„Ich bin von einer Weihnachtsfeier zur an-
deren gerannt. Uff, ein richtiger Stress war
das.“ Er ächzte. Dann drückte er Lara und
Joschi, die ihn in die Mitte genommen hat-
ten, fest an sich. „Aber auf die Weihnachts-
feier hier bei euch in der Kirchenstraße hab
ich mich richtig gefreut. Wir gehören doch
zusammen! Aber sagt mal – habt ihr nicht
ein bisschen weihnachtliche Musik?“
Papa stand auf und schaltete das Radio an.
„Leise rieselt der Schnee“, sang ein
Kinderchor.
Joschi sah glücklich aus dem Fenster. „Sogar
bei uns!” Noch immer wirbelten dicke Flock-
en durch die Dämmerung.

22/171

background image

„Ja“, sagte der Großvater. „Endlich mal
wieder ein Weihnachten mit Schnee. Früher
in meiner Jugend, war das ganz normal. In
den Weihnachtsferien waren wir immer
drüben auf dem Angerberg zum Rodeln.“
Mama nickte. „Wir auch. Aber in den letzten
Jahren hatten wir meistens nur Schmuddel-
wetter mit Regen.“
Lara biss in einen von Opas Zimtsternen.
„Wow, Opa! Die zergehen ja auf der Zunge!“
Sie nahm sich gleich noch einen. „Zum Glück
haben sie in Österreich immer genug Schnee.
Ich freu mich schon riesig aufs Skifahren.“
Papa strich sich müde übers Gesicht.
„In den Bergen schneit es bestimmt“, sagte
Joschi. „Darüber braucht man sich keine
Sorgen machen.“

23/171

background image

Der Vater setzte eben zu einer Antwort an,
da klatschte die Mutter in die Hände.
„Stefan, ich glaube, es ist jetzt dunkel genug
draußen. Willst du nicht mal sehen, ob das
Christkind schon da war?“

24/171

background image

2. Ein missglückter Weihnachtsabend

Papa erhob sich und ging schweigend

hinaus. Großvaters schickte ihm einen fra-
genden Blick hinterher, und sah dann seine
Tochter an. Mama zuckte mit den Schultern.
Die Zwillinge liefen ins Kinderzimmer, ihre
Geschenke zu holen. Anschließend warteten

background image

sie mit klopfenden Herzen in der Küche,
dass endlich das Glöckchen läuten würde.
Joschi zappelte auf seinem Stuhl herum. „Ich
bin ja schon so schrecklich gespannt, ob das
Christkind“ – er mimte mit beiden Händen
Anführungszeichen – „auch alles gefunden
hat.“
Opa schmunzelte. „Bisher hat das Christkind
euch doch noch nie enttäuscht. Hab ich
recht?“
Damit hatte der Großvater wahrhaftig recht.
Weihnachten lagen immer ganze Berge von
Paketen und Päckchen unterm Christbaum.
Jeder hatte seinen eigenen Stapel und Mama
kam kaum nach, das viele Geschenkpapier
wegzuräumen. Lara wippte nervös mit den
Beinen. Weihnachten war einfach das

26/171

background image

schönste Fest. Geburtstag war auch schön,
aber Weihnachten war noch viel schöner.
Alles lief immer gleich ab. Papa schaltete die
Lichterkette am Baum ein und stellte Weih-
nachtsmusik an, danach klingelte er mit dem
Glöckchen und alle gingen ins Wohnzimmer.
Dann musste man erst mal dastehen und
den Christbaum bewundern und allen frohe
Weihnachten wünschen.
Früher hatte Lara auf dem Keyboard ein
Weihnachtslied vorspielen müssen. Wie sie
es gehasst hatte! Zum Glück verlangte das
heute keiner mehr von ihr, denn inzwischen
hatte sie den Keyboard-Unterricht
aufgegeben. Sie hatte einfach keine Lust
mehr auf das ständige Üben gehabt.
Wenn sich dann alle umarmt hatten, durften
sie endlich an die Geschenke. Das war immer

27/171

background image

der Höhepunkt. Anschließend aßen sie
zusammen im Wohnzimmer, und danach
beschäftigte sich jeder mit den Sachen, die er
geschenkt bekommen hatte.
Laras Herz klopfte vor Vorfreude. Gleich
würde es wieder so sein.

Tatsächlich bimmelte wenige Minuten

später die kleine silberne Weihnachtsglocke.
Wie vom Affen gebissen, schnellte Joschi
hoch und raste in den Flur. Die anderen ka-
men ihm nach. Dann öffnete der Vater die
Tür.
Alle Jahre wieder, klang es aus den
Lautsprechern.
Joschi und Lara traten zuerst ein, auch das
war Tradition. Obwohl Joschi sich am lieb-
sten sofort auf die Geschenke gestürzt hätte,

28/171

background image

riss er sich zusammen und blieb wie die an-
deren vor dem glitzernden Christbaum
stehen. Der ganze Raum war von feinem
Harzduft erfüllt.
„Der ist aber schön!“, sagte der Großvater.
„Und diesmal eine Fichte – warum nicht.
Wir hatten früher immer Fichten.“
Lara und Joschi bemühten sich, den Weih-
nachtsbaum gebührend zu bewundern, aber
ihre Augen wanderten immer wieder zu den
Paketen darunter. Selbst als sich dann alle in
den Arm nahmen und fröhliche Weihnacht-
en wünschten, schielten die zwei ungeduldig
auf die Geschenke.
„Jetzt wollen wir die beiden aber nicht länger
auf die Folter spannen“, sagte der Großvater
schließlich und deutete auf zwei kleine
Päckchen.

29/171

background image

Die Zwillinge wussten genau, was das war.
Opa schenkte ihnen immer ein Buch und
einen Geldschein. Joschi war zwar der Mein-
ung, dass das Buch eine unnötige Ausgabe
war – er las nicht gern. Aber Lara, eine
richtige Leseratte, freute sich immer
darüber.
Was den Geldschein anging – den kassierte
Mama sowieso gleich und brachte ihn zur
Bank. Inzwischen hatten die Zwillinge schon
eine hübsche Summe auf dem Sparbuch lie-
gen. „Für später“, sagte Mama, wenn die
zwei herumnörgelten, weil sie nichts davon
ausgeben durften. „Schließlich wollt ihr in
ein paar Jahren den Führerschein machen.“
Den Führerschein, ha, ha! – Das war ja noch
ewig hin!

30/171

background image

Für Lara hatte der Großvater einen histor-
ischen Roman ausgesucht, für Joschi ein
Sachbuch über Motorräder. Joschi in-
teressierte sich für alles, was mit Motor-
rädern zu tun hatte. Die Wand über seinem
Bett war mit Motorrad-Postern fast zugep-
flastert. Diesmal hatte der Großvater also
einen Volltreffer gelandet.
Dann verteilten die Kinder ihre Geschenke
an die Erwachsenen und machten sich über
ihre Pakete her. Lara fiel gleich auf, dass es
heuer sichtlich weniger waren, als sonst, und
schob das auf den stolzen Preis ihrer Traum-
jacke. Während die Kinder mit ihren Ges-
chenken beschäftigt waren, öffneten die El-
tern und der Großvater die Päckchen, die sie
von den Zwillingen bekommen hatten.

31/171

background image

„Oh, noch eine Kerze!“, sagte Mama und
stellte Joschis Weihnachtsgabe auf den
Couchtisch.
„Socken!“, riefen Papa und Opa fast zeit-
gleich und bedankten sich höflich.
Die Haarspange machte Mama etwas ratlos.
„Hübsch ist sie ja. Aber bin ich dafür nicht
ein bisschen zu alt? – Na ja, aber dir steht sie
bestimmt, Lara.“
Auch der Schraubenziehersatz und das
Maßband wurden freundlich entgegengen-
ommen. Ob sich Der Vater und der
Großvater wirklich darüber freuten, blieb ein
Geheimnis. Aber das interessierte Joschi und
Lara im Moment auch gar nicht, denn mit je-
dem Geschenk, das sie auspackten, wurden
ihre Gesichter länger.

32/171

background image

Joschi hatte sich das neue Computerspiel
gewünscht, für das vor Weihnachten so viel
Werbung gemacht worden war. Aber in dem
Päckchen, in dem er es vermutet hatte, war
nur ein Würfelspiel. Enttäuscht starrte er auf
die Verpackung.
„Es ist sehr lustig“, sagte Mama. „Wir haben
es früher oft gespielt. Vielleicht können wir
es nachher gleich ausprobieren.“
Joschi grummelte etwas vor sich hin und
legte den Karton zur Seite.
Aber auch für Lara hatte sich ein Wunsch
nicht erfüllt. Sie hatte sich das neue Album
ihrer Lieblingsboygroup gewünscht. Was sie
fand, war: Klassik für Kinder. Mit einem
halbherzigen „Danke“, wandte sie sich dem
nächsten Paket zu, während die Erwachsen-
en gegenseitig kleine Aufmerksamkeiten

33/171

background image

austauschten. Sie hatten vor ein paar Jahren
ausgemacht, sich nur noch Kleinigkeiten zu
schenken.
Joschi öffnete ein Päckchen nach dem ander-
en, aber heuer war geschenkemäßig irgend-
wie der Wurm drin. Wenig begeistert, packte
er eine Mütze, warme Handschuhe, einen
Schal und einen neuen Füller aus. Nervös
blickte er sich um. Wo hatten die Eltern nur
das Snowboard versteckt?
Auch Lara fand, dass das ‚Christkind’ in
diesem Jahr ein paar Mal richtig
danebengegriffen hatte. Wenigstens waren
zwei von den Büchern dabei, die sie sich
gewünscht hatte. Aber was sollte sie mit dem
Billigrucksack? – Gut, ihre alte Schultasche
war hinüber! – Aber das rosafarbene Un-
getüm hier? – Nie im Leben würde sie damit

34/171

background image

in die Schule gehen! Sie hatte Mama doch
genau erklärt, welche Marke sie haben woll-
te. Allmählich neigte sich ihr Stapel dem
Ende zu. Das weiche große Paket, das ganz
zuunterst lag, hatte sie sich für zuletzt aufge-
hoben. Himmel, wie sie sich auf die Jacke
freute! Mit fliegenden Fingern löste sie das
Geschenkband und schlug das Papier zurück.
Dann versteinerte sie.
Mama sah sie unsicher an. „Gefällt sie dir?“
Fassungslos zog Lara eine Winterjacke aus
der Verpackung. Das war wirklich nicht die,
die sie sich gewünscht hatte!
„Zieh sie doch mal an“, forderte der
Großvater seine Enkelin auf.
Lara schüttelte finster den Kopf.
„Es ist keine Markenjacke“, sagte Mama be-
fangen. „Aber ich finde sie trotzdem sehr

35/171

background image

hübsch.“ Sie spielte nervös mit den Händen.
„Die Jacke, die du dir gewünscht hast, war
einfach nicht drin.“
„Ach“, platzte Lara los. „War nicht drin? Mit
dieser Schnäppchenjacke kann ich mich
doch nirgends blicken lassen kann.“
Großvaters Stirn umwölkte sich. „Lara!“
Papa saß, den Kopf in die Hände gestützt auf
der Couch. „Fröhliche Weihnachten“, mur-
melte er.
Lara schob mit einem wütenden Schnauben
die Jacke von sich weg.
Die Enttäuschung seiner Schwester hatte
Joschis Zweifel noch verstärkt. Auch er hatte
inzwischen das letzte Paket geöffnet. Von
einem Snowboard keine Spur.
„Wo ist mein Snowboard?“, fragte er pampi-
ger, als er eigentlich beabsichtigt hatte.

36/171

background image

Die Eltern warfen sich bedrückte Blicke zu.
Dann stand die Mutter auf und ging hinaus.
Als sie kurz darauf wiederkam, brachte sie
ein großes, nur in Packpapier eingeschla-
genes Paket mit.
Joschi sprang auf und riss es ihr aus der
Hand. Hastig entfernte er die Verpackung
und zog tatsächlich ein Snowboard heraus.
Er zuckte zusammen. Was war das denn?
Das Ding war ja völlig verkratzt! Joschi war
fassungslos. „Ein gebrauchtes Snowboard?“,
stieß er hervor und gab es unsanft zurück.
Die Mutter schluckte. „Es ist von deinem
Cousin, für ihn ist es zu klein geworden. Es
ist sowieso nur eine Leihgabe. Wir dachten
halt, zum Üben geht es.“
Joschi verschränkte die Arme. „Mit dem ol-
len Teil bringt mich keiner auf die Piste.“

37/171

background image

Papa seufzte. „Genauso habe ich mir das

vorgestellt. Weihnachten – das Fest der
Liebe. Dass ich nicht lache!“
Großvaters Finger trommelten wie wild auf
der Armlehne herum. Wer ihn kannte,
wusste, dass er gewaltig unter Dampf stand.
Hatte er bisher noch keinen Kommentar
abgegeben, donnerte er jetzt los. „Was ist
heute nur los?“ Er funkelte die Zwillinge
aufgebracht an.
Mama stand noch immer ganz verloren mit
dem Snowboard da. Als ihr Vater sich nun zu
Wort meldete, verlor sie die Fassung. Das
Snowboard krachte zu Boden und sie ließ
sich mit einem Aufschluchzen aufs Sofa
fallen.

38/171

background image

„Was los ist?“, wiederholte sie und Tränen
rannen über ihr Gesicht. „Stefan ist ab Janu-
ar arbeitslos. Das ist los!“
Dann sagte erst einmal keiner etwas. Der
Player spielte: Fröhliche Weihnacht’ überall.
Papa stand auf und stellte die Musik ab.
Lara wickelte mit gesenktem Kopf ein Ges-
chenkband um die Finger. „Ich hab’s geahnt,
dass irgendwas nicht stimmt“, murmelte sie
schließlich.
Der Großvater legte seine Hand auf Mamas
Arm. „Seit wann wisst ihr das?“
„Seit einer Woche“, antwortete der Vater.
„Ein schönes Weihnachtsgeschenk war das.
Die Firma ist den Bach runter. Pleite,
Konkurs, Sense!“
„Und das Haus?“, fragte Opa. „Die Hypo-
theken sind doch noch nicht abgelöst.“

39/171

background image

Mama fummelte ein Taschentuch aus dem
Ärmel und putzte sich die Nase. „Stefan
bekommt Übergangsgeld und ich werde im
nächsten Jahr ganztags arbeiten. Dann kom-
men wir schon irgendwie über die Runden,
bis er wieder Arbeit findet. Aber einsch-
ränken müssen wir uns auf alle Fälle.“
Der Großvater schüttelte seufzend den Kopf.
„Das sind wirklich keine guten Neuigkeiten.
Aber was ich nicht verstehe – warum rückt
ihr damit erst jetzt heraus?“
„Lisa meinte, wir sollten es den Kindern erst
nach den Feiertagen sagen, um ihnen das
Fest nicht zu verderben.“ Papa machte eine
Pause und sah die Zwillingen an, die beläm-
mert zwischen ihren Geschenken und einem
bunten Durcheinander von Weihnachtspapi-
er auf dem Boden saßen. „Aber das hat wohl

40/171

background image

nichts gebracht“, fuhr er fort. „Und damit
wir es gleich hinter uns bringen: Mit dem
Skiurlaub wird es dieses Jahr auch nichts.“
Joschi und Lara sackten in sich zusammen.
Noch eine kalte Dusche!
Der Großvater räusperte sich. „Nun, die
Dinge sind, wie sie sind. Deshalb lassen wir
uns das Weihnachtsfest doch nicht verder-
ben. Du lieber Himmel, wenn ich an meine
Kindheit zurückdenke – teure Geschenke,
Skiurlaub – daran war überhaupt nicht zu
denken und trotzdem haben wir unvergess-
liche Feste gefeiert.“ Er nickte seinen Enkeln
aufmunternd zu. „Schließlich sitzen wir hier
alle gesund und munter und hungern
müssen wir auch nicht. – Übrigens, das mit
dem Hungern stimmt nicht ganz. Ich könnte
jetzt was zu essen gebrauchen.“

41/171

background image

Mama warf ihm einen dankbaren Blick zu
und ging in die Küche. Papa folgte ihr. In der
Zwischenzeit räumten die Zwillinge das Ges-
chenkpapier zusammen.
„Hört mal, ihr beiden“, sagte der Großvater.
„Weihnachten ist vor allem das Fest der
Liebe, da hat euer Vater recht, auch wenn er
es ironisch gemeint hat. Und Liebe hat
nichts mit teuren Geschenken zu tun, son-
dern mit Zusammenhalt und Verständnis.
Das brauchen eure Eltern jetzt!“
Joschi und Lara nickten betreten. Obwohl
ihnen die Enttäuschung noch schwer in den
Knochen steckte, schämten sie sich für ihr
Verhalten.

Das weihnachtliche Abendessen verlief

trist. Obwohl Mama wirklich lecker gekocht

42/171

background image

hatte, wollte es keinem so richtig schmecken,
auch dem Großvater nicht. Die Mutter ver-
suchte, ein erfreuliches Gesprächsthema zu
finden und erzählte von einer Freundin, die
nach kurzer Arbeitslosigkeit wieder einen
Job gefunden hatte. „Wunder gibt es immer
wieder“, sagte sie.
„An Wunder glaub ich nicht“, entgegnete
Papa tonlos.
Joschi nickte. „An Wunder glaubt doch heute
kein Mensch mehr.“
Der Großvater runzelte die Stirn. „Trotzdem
gibt es welche. Gerade heute an Weihnacht-
en. Da ist vor über 2000 Jahren ein Kind ge-
boren worden, das die Welt verändert hat.
Wenn das kein Wunder ist.“
Der Vater starrte ins Leere.

43/171

background image

Nach dem Essen saßen alle um den

Couchtisch. Mama holte den Weihnacht-
spunsch aus der Küche und stellte einen
Teller Plätzchen hin. Joschi blätterte in
seinem Motorradbuch und Lara versuchte,
sich in eines ihrer neuen Bücher einzulesen,
während die Erwachsenen sich unterhielten.
Nach einer Weile klappte Joschi das Buch zu
und griff nach dem Fernsehprogramm.
„Nachher kommt ein Weihnachtsfilm, dür-
fen wir den sehen?“
Mama blickte fragend zum Vater. „Was
meinst du?“
Papa nickte. „Das lenkt uns alle etwas ab.“
Opa war anzusehen, dass ihm das gar nicht
passte. „Am Heiligen Abend schau ich jeden-
falls nicht in die Glotze“, sagte er und stand
auf. „Ich geh rüber in die Kirche, der

44/171

background image

Kirchenchor gibt vor der Mette ein Weih-
nachtskonzert. Kommt jemand mit?“
Papa winkte ab. „Mein Bedarf an Weihnacht-
strara ist für heute gedeckt.“
Der Großvater sah die Zwillinge und Mama
an. Aber auch hier erntete er nur einhelliges
Kopfschütteln. Enttäuscht wandte er sich zur
Tür. Mama sprang auf, ihn
hinauszubegleiten.
Schon die Klinke in der Hand, drehte sich
Opa noch einmal um. „Um noch mal auf das
Thema ‚Wunder’ zurückzukommen. Die
Weihnachtsnacht ist eine heilige Nacht, eine
Nacht, in der Wunder möglich sind, wenn
man sich dafür öffnet.“ Er deutet finster auf
den Fernseher. „Da drin geschehen jeden-
falls ganz bestimmt keine Wunder!“ Damit
öffnete er die Tür und ging hinaus.

45/171

background image

3. Ein phantastisches Abenteuer

Der Film lenkte die Zwillinge tatsächlich

ein bisschen von dem verunglückten Weih-
nachtsabend ab. Danach schickte die Mutter
die beiden ins Bett. Anders als sonst, ließen
Joschi und Lara ihre Geschenke heute im
Wohnzimmer liegen. Lara nahm nur ihre
neuen Bücher mit.

background image

Als sie das dunkle Kinderzimmer betraten,
konnte man im Lichtkranz der Straßen-
beleuchtung erkennen, dass es immer noch
schneite. Auf dem Fensterbrett lag ein dickes
weißes Polster.
Joschi ließ die Schultern hängen. „Mist, es
schneit wie verrückt und ich hab kein
Snowboard!“
Lara schaltete das Licht an und legte ihre
Bücher auf den Tisch. Dabei entdeckte sie et-
was. „Joschi, schau mal! Hast du das hierher
gelegt?“
Joschi kam gespannt zu ihr hin. Lara hielt
ein Päckchen in der Hand. Es war in braunes
Papier gewickelt und mit einer Paketkordel
verschnürt.
Joschi nahm es ihr ab und drehte es um. „Da
steht was drauf!“ Er versuchte, die

47/171

background image

verschnörkelten Buchstaben zu entziffern,
die mit blauer Tinte direkt auf die Verpack-
ung geschrieben waren. „Für Lara und
Joschi.“
„Eigenartig“, sagte Lara. „Mama hat nichts
davon gesagt, dass ein Päckchen für uns
gekommen ist. – Steht ein Absender drauf?“
Joschi drehte das geheimnisvolle Paket um.
Aber auch auf der Rückseite: keine Spur von
einem Absender. „Machen wir es doch ein-
fach auf!“, entschied er und knüpfte auch
gleich die Schnur auf.
Erwartungsvoll verfolgte Lara, wie er
schließlich das Papier zurückschlug.
„Was ist das denn Komisches?“ Ratlos hielt
Joschi ein dosenähnliches Ding in der Hand.
Lara griff danach. „Lass mich mal!“

48/171

background image

Die Dose war aus goldfarbenem Blech und
ein wenig altmodisch mit eingravierten
Motiven verziert, kleinen Sternen und Glock-
en. Sie hatte etwa die Größe von Opas altem
Wecker. An einen Wecker erinnerte auch der
Deckel, der wie ein Zifferblatt aussah, nur
dass den Stundenstrichen die Monatsnamen
zugeordnet waren. Ganz oben, wo eigentlich
die Zwölf stehen sollte, stand Dezember.
Auch gab es nur einen Zeiger.
„Sieht fast aus wie eine Uhr?“, sagte Lara,
und sah sich das rätselhafte Ding genauer
an. Dabei entdeckte sie auf der Unterseite
zwischen vier klauenförmig gearbeiteten
Füßen zwei kleine Löcher. In einem davon
steckte ein Aufziehschlüssel. Sie drehte ihn
einige Male herum. Eine zarte Melodie
erklang. Stille Nacht, heilige Nacht.

49/171

background image

Joschi hob enttäuscht die Augenbrauen.
„Mann, bloß eine Spieldose!“
„Ich finde, das hört sich sehr hübsch an“,
sagte Lara und stellte die Dose hin, um sich
fürs Bett fertig zu machen.
Als das Lied verklungen war, hatte sie bereits
ihr Nachthemd an. Sie ging zum Tisch und
zog die mysteriöse Spieldose erneut auf. In
den ersten süßen Ton fiel nun auch das
schwere Glockengeläut vom Kirchturm ge-
genüber und mischte sich mit den Klängen
des Spielwerks.
Joschi streifte eben seine Schlafanzughose
über. „Die Christmette fängt an“, stellte er
fest.

Lara antwortete nicht. Die Spieldose in der
Hand, stand sie wie versteinert da.

50/171

background image

Irgendetwas an ihr kam Joschi sonderbar
vor. Er starrte sie erschrocken an. Aber das
konnte doch nicht sein! Lara schien sich vor
seinen Augen allmählich in Luft aufzulösen.
Kein Zweifel – sie wurde durchsichtig! In
ihrem Nachthemd wirkte sie jetzt fast wie
einer von den Transparentengeln, die Mama
als Adventsschmuck ans Küchenfenster
geklebt hatte. Panisch sprang Joschi auf, ras-
te zu Lara hin und griff nach ihrer Hand. Mit
einem Mal geriet auch er ganz in den Bann
der Melodie. Wie festgehext haftete sein
Blick an der Spieldose. Plötzlich begann der
Zeiger auf dem Dosendeckel sich zu drehen,
Dezember, November, Oktober …, immer
schneller und schneller. Dann fühlte Joschi
etwas, das er vorher noch nie gefühlt hatte.
Es tat nicht weh, war aber dennoch äußerst

51/171

background image

beunruhigend. Ihm kam vor, als würde er
von Sekunde zu Sekunde leichter und
leichter. Unfähig, Lara loszulassen oder ein-
en Laut von sich zu geben, hatte er plötzlich
den Eindruck, als wirble das Zimmer in
großen Spiralen um ihn herum. Ein heftiger
Sog erfasste ihn und zog ihn und Lara weg.
Joschi kniff die Augen zu.

Als er sie wieder öffnete, fand er sich in

einer völlig fremden Umgebung wieder. Lara
presste sich, die Spieldose in der Hand, eng
an ihn. Ihre Augen waren vor Schreck weit
geöffnet, sie atmete schwer. Für einen Mo-
ment sagte keiner von ihnen etwas.
Joschi ließ die Hand seiner Zwill-
ingsschwester los. „Ich träume“, sagte er.

52/171

background image

„Dann träume ich aber auch“, flüsterte Lara
mit zitternder Stimme. „Das gibt’s doch
nicht, dass zwei dasselbe träumen.“
„Aber das hier gibt es auch nicht“, antwor-
tete Joschi tonlos und sah sich beklommen
um.
Sie waren in einem großen fremden Zimmer
gelandet. Die hohe Decke war mit hübschen
Stuckornamenten verziert, die Wände mit
einer Streifentapete tapeziert, überall hingen
Ölgemälde von Landschaften und Portraits
in altertümlichen Rahmen. Neben einer
weißen Flügeltür stand ein schwarzes Klavier
mit Kerzenhaltern. Ein altmodisches Sofa
und drei samtbezogenen Stühle mit
geschnitzten Lehnen waren um einen ovalen
Tisch gruppiert, auf dem, auf einer weih-
nachtlich bestickten Tischdecke, ein

53/171

background image

Adventskranz lag. An der Wand gegenüber
stand ein mächtiger Schrank auf Füßen, die
wie Löwenpranken gestaltet waren. Im ober-
en Teil hatte er Glastüren, durch die man ein
geblümtes Service mit Goldrand sehen kon-
nte. In einem Erker mit großen Fenstern
thronte ein riesiger Ohrenbackensessel, mit
einem plüschigen, grün gemusterten Bezug.
Auf jeder Armlehne lag ein Häkeldeckchen.
Auch Laras Augen wanderten durch den un-
bekannten Raum. „Wo sind wir bloß?“, stieß
sie hervor.
Joschi zuckte mit den Schultern. „Keine Ah-
nung. Sieht aus wie in einem Museum. Find-
est du nicht?“
Lara nickte, dann ging sie zu einem Fenster,
das mit schweren Samtvorhängen und
weißen, bodenlangen Spitzengardinen

54/171

background image

dekoriert war, die, obwohl es heller Tag war,
kaum Licht einließen. Sie schob die Gardine
etwas zurück und sah hinaus.
„Joschi!“, rief sie aufgeregt.
Joschi kam zu ihr hin. „Mann, das ist ja un-
sere Pfarrkirche.“
„Genau der Blick von unserem Kinderzim-
mer aus“, sagte Lara. „Wie kann das sein?“
„Aber schau!“, sagte Joschi. „Das große Haus
mit dem Türmchen da drüben – das hab ich
noch nie gesehen. Und wo ist eigentlich das
Haus von den Körners?“
Lara reckte den Hals. „Keine Ahnung, der
Kiosk an der Ecke ist auch nicht da. Und sieh
dir mal diese altmodischen Straßenlaternen
an!“

55/171

background image

Joschi schwante etwas, aber ehe er mit

Lara darüber reden konnte, öffnete sich die
Flügeltür und ein blondes Mädchen, kam
herein. Es blieb wie angewurzelt stehen und
wurde sofort leichenblass.
„Nein“, rief es, „ihr dürft Minchen nicht
holen! Sie wird gesund, sie wird ganz bestim-
mt wieder gesund. Geht weg!“
Joschi und Lara wussten gar nicht, wie ihnen
geschah. Auch dem fremden Mädchen war
das Entsetzen ins Gesicht geschrieben. Eine
schier endlose Zeit starrten sich gegenseitig
an. Das Mädchen mochte etwa so alt sein wie
sie. Es hatte ein blaues Kleid mit einem
Blümchenmuster an, das ihm bis zu den Kni-
en ging, darüber trug es eine weiße Schürze
mit Rüschen. Das blonde, lange Haar war

56/171

background image

mit einer blauen Schleife nach hinten
gebunden.
Joschi nahm all seinen Mut zusammen und
brach das Schweigen. „Wo sind wir?“
Das Mädchen sah ihn misstrauisch an. „War-
um fragst du? Engel wissen doch immer, wo
sie sind.“
„Engel?“, wiederholte Lara. „Wir sind doch
keine Engel!“
Das Mädchen deutete auf Laras Nachthemd.
Es war Laras Lieblingsnachthemd, lang und
weiß, mit kleinen Stickereien.
„Du siehst aber aus wie ein Engel.“ Das Mäd-
chen zögerte. „Der da nicht so“, sagte es
dann mit einem unsicheren Blick auf Joschi,
der seinen karierten Flanellpyjama trug.
„Außerdem haben wir keine Flügel.“ Joschi
drehte die Schultern nach vorn. „Wir sind

57/171

background image

ganz bestimmt keine Engel! – Vielleicht
sagst du uns jetzt, wo wir sind.“
Das Mädchen bekam langsam wieder etwas
Farbe. „Kirchenstraße 4“, antwortete es
gedehnt.
„Das ist ja unsere Adresse“, riefen die Zwill-
inge fast gleichzeitig.
„Ich versteh das alles nicht“, sagte das Mäd-
chen. „Wenn ihr Minchen nicht holen kom-
mt, wer seid ihr dann?“
„Ich heiße Lara und das ist mein Zwillings-
bruder Joschi“, erklärte Lara. „Und wer bist
du?“
Das Mädchen sah sie verwirrt an. „Ich bin
Luise.“
„Obwohl es total verrückt ist, ich glaub, ich
weiß, was passiert ist“, sagte Joschi. „Die
Spieldose …“ Er zeigte auf die Dose, die Lara

58/171

background image

immer noch krampfhaft festhielt. „Das Ding
muss eine Zeitmaschine sein.“ Dann wandte
er sich an Luise, die mit offenem Mund auf
die Spieldose starrte. „Was für einen Tag und
welches Jahr haben wir heute?“
„Den 24. Dezember 1905“, erwiderte Luise
verblüfft.
„Ich hab’s mir schon gedacht“, sagte Joschi.
„Wir sind zurückkatapultiert worden. Gleich-
er Ort, gleicher Tag – nämlich Weihnachten
– nur über hundert Jahre früher.“
Lara betrachtete die Spieldose. „Dann
müssten wir mit der Dose doch auch wieder
zurückkommen.“ Damit zog sie schon den
kleinen Schlüssel heraus. „Wenn das eine
Aufziehloch uns zurückgeworfen hat, bringt
uns das andere vielleicht wieder nach vorn.“

59/171

background image

Sie steckte den Schlüssel in die zweite
Öffnung und drehte ihn einige Male. Joschi
griff schnell nach ihrer Hand.
Stille Nacht, heilige Nacht, tönte es
glockenhell.
Mit großen Augen beobachtete Luise die
beiden merkwürdigen Besucher und wartete,
was nun passieren würde.
Aber es geschah nichts. Immer wieder
begann die Melodie von vorn, aber die Zwill-
inge rührten sich nicht vom Fleck.
Als die Musik verklungen war, zuckte Joschi
enttäuscht mit den Schultern. „Es funk-
tioniert nicht.“
In Laras Kopf arbeitete es. Die Spieldose
hatte sie hierher gebracht, sie war die einzige
Chance, wieder zurückzukommen – nur wie?

60/171

background image

Plötzlich kam ihr der rettende Gedanke. „Die
Glocken“, rief sie. „Die Metteglocken haben
geläutet, als es uns fortgewirbelt hat. Wenn
wir warten, bis die Christmette beginnt,
klappt es vielleicht.“
Joschi nickte. „Vielleicht hast du recht. Dann
müssen wir so lange hier bleiben. Der Zauber
wirkt bestimmt nur hier im Haus.“
Luise hatte das Gespräch stumm verfolgt.
Lara blickte sie scheu an. „Ob wir wohl hier
bleiben dürfen bis heute Nacht?“
Luise überlegte einen Moment. „Ich weiß
nicht recht. Heute ist Weihnachten und
Minchen ist so krank. Ich glaub nicht, dass
meine Eltern heute Gäste haben wollen.“ Als
sie aber in Laras betrübtes Gesicht sah, sagte
sie kurz entschlossen: „Wisst ihr was, ich

61/171

background image

verstecke euch einfach auf dem Dachboden,
da kommt heute bestimmt keiner hin.“

62/171

background image

4. Eine gute Nachricht

In eben diesem Augenblick hörte man

Schritte im Flur. Erschrocken sahen sich die
Zwillinge nach einem Versteck um. Aber
noch ehe sie sich irgendwo verkriechen kon-
nten, betrat eine blonde Frau mit einem
hochgesteckten Zopf den Raum. Sie trug ein
langes dunkelgraues Kleid mit einem

background image

Spitzenkragen, darüber eine Schürze, an der
sie sich gerade die nassen Hände abwischte.
„Luise“, sagte sie, ihre Stimme klang vor-
wurfsvoll. „Du sollst doch Klavier üben und
ich höre gar nichts! Unser Minchen mag es
so, wenn du spielst. Und wenn es Doktor Ertl
erlaubt, holen wir sie heute Abend ins Weih-
nachtszimmer.“ Sie seufzte. „Ach, das wäre
wirklich zu schön!“
Obwohl sie genau in Richtung der Zwillinge
sah, schien sie die beiden nicht zu bemerken.
Luise, der im ersten Moment fast das Herz
stehen geblieben war, begriff, dass ihre Mut-
ter Lara und Joschi offenbar nicht wahr-
nahm. Mit einem Aufatmen klappte sie den
Klavierdeckel hoch. „Ich wollte eben anfan-
gen, Mutter.“

64/171

background image

Draußen klingelte es. „Das wird der Herr
Doktor schon sein“, rief Luises Mutter und
rannte hinaus.
Luise schloss die Wohnzimmertür und
winkte Joschi und Lara zu sich. „Sie kann
euch nicht sehen. Gott sei’s gedankt, dann
braucht ihr nicht auf den zugigen Dach-
boden. „Aber jetzt muss ich Klavier üben, ihr
habt’s ja gehört.“
Lara nickte, aber ihr lag schon die ganze Zeit
über eine Frage auf der Zunge. „Wer ist ei-
gentlich Minchen?“
Luise, die bereits auf dem Klavierhocker saß,
drehte sich zu ihr um. „Meine kleine Sch-
wester. Minchen hat es mit den Bronchien
und jetzt hat sie noch eine schlimme Lun-
genentzündung dazu bekommen, der Doktor

65/171

background image

sagt …“ Sie sprach nicht weiter, ihr stiegen
die Tränen hoch.
Die Zwillinge schwiegen betreten.
Luise wischte sich die Augen. „Es ist so
furchtbar, im letzten Jahr haben die Engel
unseren kleinen Theo geholt. Er war grade
ein Jahr alt.“ Sie senkte den Kopf und be-
trachtete mit leerem Blick die Klaviertasten.
„Bestimmt ist er jetzt im Himmel und selbst
ein Engel. Bestimmt geht es ihm gut.“
Joschi und Lara hatten das Gefühl, dass
Luise mehr mit sich selbst als zu ihnen
sprach. Plötzlich musste Lara daran denken,
was der Großvater heute gesagt hatte.
„Aber es ist Weihnachten“, versuchte sie
Luise zu trösten. „Und da geschehen manch-
mal Wunder.“

66/171

background image

Luise sah hoch, ein kleiner Hoffnungsschim-
mer flog über ihr bekümmertes Gesicht.
„Mutter sagt das auch. Wenn doch nur end-
lich das Fieber fallen würde!“
Joschi drückte es das Herz ab. Aber er tat
sich immer schwer, seine Gefühle zu zeigen.
„Das wird schon“, sagte er. „Bald hüpft die
kleine Krabbe wieder in der Gegend rum.
Wirst sehen!“
Seine unbeholfenen Worte munterten Luise
ein wenig auf. Sie nickte tapfer. Dann schlug
sie ein Notenheft auf und begann zu spielen.
Die Zwillinge setzten sich in den aus-
ladenden Ohrensessel, in dem sie bequem zu
zweit Platz fanden. Luise spielte Mozarts
Weihnachtsvariationen und einige der
schönen alten Weihnachtslieder. Auch Stille
Nacht war dabei. Luise spielte hervorragend

67/171

background image

und machte kaum Fehler. Selbst Joschi saß
ganz versunken da, verwundert darüber, wie
sehr ihn die Musik berührte. Als Luise das
Heft zuklappte, klatschten beide in die
Hände.
„Du bist ja konzertreif!“, sagte Lara neidlos.
„Bestimmt übst du jeden Tag stundenlang.“
Luise lächelte verlegen. „Jetzt übertreib mal
nicht! Meine Freundin Klara spielt viel bess-
er als ich.“

Doch da wurde ihr Gespräch unter-

brochen, denn wieder kam jemand ins Zim-
mer. Diesmal ein groß gewachsener sch-
lanker Mann mit einem Schnauzbart.
Luise sprang vom Klavierhocker hoch und
lief auf ihn zu. „Vater! Was sagt der Doktor?“

68/171

background image

Ohne die Zwillinge wahrzunehmen, strich
Luises Vater ihr über den Kopf. „Es gibt
Hoffnung. Vielleicht geschieht ja tatsächlich
noch ein Weihnachtswunder. Minchen geht
es heute etwas besser.“
Luise machte einen Freudensprung.
„Juchhu! Darf ich zu ihr hoch?“
Der Vater nickte. „Und von jetzt ab ist das
Wohnzimmer verschlossen …“
„Damit das Christkind kommt, ich weiß.“
Luise lächelte ihn verschwörerisch an. „Aber
dieses Jahr hab ich sowieso nur einen einzi-
gen Wunsch.“
„Wenn uns der erfüllt wird, wird es das
glücklichste Weihnachten, das wir je hatten“,
sagte der Vater. „Obwohl es heuer mit Ges-
chenken schlecht aussieht. Du weißt, die
Arztrechnungen … Und Doktor Ertl sagt,

69/171

background image

Minchen muss unbedingt für ein paar
Wochen in ein Sanatorium. Ich fürchte, das
Christkind hat heuer sparen müssen.“
Luise strahlte. „Hauptsache, Minchen wird
wieder gesund.“
Luises Vater stemmte sie hoch und drückte
ihr einen Kuss auf die Stirn. „Was hab ich
doch für ein verständiges Mädchen!“ Damit
setzte er sie ab und ging hinaus.
Luise winkte die Zwillinge zu sich. „Kommt
ihr mit nach oben?“
Lara und Joschi nickten stumm, beide waren
mit ihren Gedanken weit weg …
Sie folgten Luise in eine große Diele, von der
aus eine Holztreppe mit gedrechseltem
Geländer in den oberen Stock führte.

70/171

background image

Luise machte behutsam eine der vielen
Türen auf. Ein heller, freundlicher Raum
öffnete sich vor ihnen.
Ein kleines Mädchen, vielleicht drei Jahre
alt, lag mit hochroten Wangen unter einem
riesigen Federbett, das sich wie ein
schneebedeckter Berg vor seinem glühenden
Gesichtchen auftürmte. Es schlief. Luises
Mutter saß am Fenster und stopfte einen
Strumpf. Als Luise hereinkam, hob sie den
Kopf und lächelte. „Minchen geht es etwas
besser, ist das nicht großartig.“
Luise nickte, ihre Augen leuchteten. Sie ging
zum Bett und streichelte zärtlich über
Minchens kleine Hand.
„Weck sie nicht!“, mahnte die Mutter. „Das
Fieber ist gefallen, sie schläft sich gesund.

71/171

background image

Der Herr Doktor war heute sehr zufrieden
mit ihr.“
Luise nickte und legte mit einem erleichter-
ten Lächeln den Finger auf die Lippen. Auf
Zehenspitzen verließ sie das Zimmer. Die
Zwillinge kamen ihr nach. Draußen nahm sie
Lara und Joschi bei den Händen und hopste
wie ein Gummiball. „Minchen geht es besser!
Minchen geht es besser!“
Von Luises Fröhlichkeit angesteckt, hüpften
die Zwillinge mit, dabei flog einer von
Joschis Hausschuhen in hohem Bogen dav-
on. Luise und Lara lachten. Joschi humpelte
seinem Pantoffel nach, der am Ende des
Flurs gelandet war.
Luise kicherte. „Genau vor meinem Zim-
mer!“ Damit zog sie Lara hinter sich her.

72/171

background image

Luises Zimmer war nicht besonders groß,
aber ebenso hell und freundlich wie
Minchens. Alle Möbel waren weiß lackiert,
auch das Bett. Auf einem Regal standen ein
paar Bücher, einige Brettspiele lagen
daneben. Ansonsten entdeckten die Zwill-
inge nur wenig Spielzeug, wenn man von der
Puppenstube absah, die in einer Ecke stand.
Luise, die Laras Blick Richtung Puppenstube
verfolgt hatte, machte eine verlegene Hand-
bewegung. „Dafür bin ich eigentlich schon zu
alt. Die bekommt Minchen, wenn sie ein bis-
schen größer ist.“
Dann nahm sie ein Strickzeug vom Tisch und
setzte sich in einen Korbstuhl. „Entschuldigt,
aber ich muss noch schnell den zweiten
Handschuh für Vater fertig stricken, nur
noch zwei Reihen.“

73/171

background image

Lara riss die Augen auf. „Mit fünf Nadeln?“
Doch ihre Bewunderung für Luise stieg noch,
als Luise auf ein Spitzendeckchen zeigte.
„Das ist für Mutter. Hübsch, nicht?“
Joschi nahm es vorsichtig hoch. Er verstand
ja nicht viel davon, aber das Ding sah wirk-
lich aus wie aus dem Laden. „Selbst
gemacht?“, fragte er.
„Was dachtest du denn?“ Luise lächelte. „Die
Heinzelmännchen?“ Sie beugte sich zur Seite
und nahm aus dem Wollkorb einen kleinen
gehäkelten Teddy mit Knopfaugen. „Und den
habe ich für Minchen gemacht. Das war
wirklich nicht ganz leicht, Mutter hat mir et-
was geholfen.“
„Der ist ja süß“, sagte Lara. „Das könnte ich
im Leben nicht.“ Luises Gesicht rötete sich
vor Freude über das Lob.

74/171

background image

Während sie weiterarbeitete, fragte Joschi
plötzlich. „Sag mal, hast du wirklich keinen
Weihnachtswunsch – außer natürlich, dass
Minchen gesund wird?“
Luise blickte hoch. „Doch, Schlittschuhe
hätte ich gern, meine sind zu klein ge-
worden.“ Sie schwieg für einen Moment.
„Wünschen schadet ja nichts. Oder?“
Sie hatte eben die letzte Masche gestrickt, da
rief ihre Mutter nach ihr. Luise sprang auf
und lief nach unten. Die Mutter stand im
Flur und drückte ihr Schaufel und Besen in
die Hand.
„Kehr doch bitte die Nadeln weg! Vater hat
vorhin den Christbaum ins Wohnzimmer ge-
bracht. Diese Fichten nadeln wirklich furcht-
bar.“ Sie seufzte. „Wenn Tannen nur nicht so
schrecklich teuer wären.“

75/171

background image

Damit verschwand sie in die Küche.
Während Luise die Diele kehrte, hörte man
den Vater im Wohnzimmer rumoren.
„Vater schmückt den Christbaum immer al-
lein, nicht mal Mutter darf jetzt ins Weih-
nachtszimmer“, erklärte Luise auf den fra-
genden Blick der Zwillingen.
Der Rest des Tages verging wie im Flug. Die
Familie nahm ein einfaches Mittagessen in
der Küche ein. Es gab Kartoffelsuppe. Er-
staunt stellten die Zwillinge fest, dass sie
keinerlei Hunger verspürten, obwohl die
Suppe wirklich köstlich roch. Wieder oben in
ihrem Zimmer, band Luise dem Häkel-
Teddy eine rote Schleife um den Hals und
packte ihre Geschenke in zartgrünes Seiden-
papier. Anschließend schnitt sie aus

76/171

background image

Goldfolie Sterne aus und klebte sie als
Verzierung auf die Päckchen.
Langsam wurde es dunkel. Um die
Gaslaterne vor dem Fenster tanzte ein
weißer Mückenschwarm. „Es schneit!“, rief
Luise begeistert und rannte zum Fenster.
Gerade da steckte die Mutter den Kopf
herein. „Luise, zieh dich um, das Christkind
kommt gleich!“
„Ich beeil mich!“, rief Luise aufgekratzt. Sie
knüpfte schon die Schürze auf, als sie in-
nehielt. „Joschi, du musst aber raus“, sagte
sie verlegen.
Joschi grinste und ging vor die Tür.
Luise holte ein weißes Spitzenkleid mit einer
hellblauen Schärpe aus dem Schrank. Sie zog
sich aus, schlüpfte in einen fülligen Unter-
rock und streifte das Kleid über. Lara half

77/171

background image

ihr, die Schärpe zu einer großen Schleife am
Rücken zu binden. Dann bürstete Luise sich
die Haare, wie Rauschgold fielen sie über
ihre Schultern. Sie nahm ihre Geschenke
unter den Arm und trat vor die Tür, wo Jos-
chi wartete.
„Wow!“, stieß Joschi hervor. „Jetzt siehst
aber du aus wie ein Engel!“
Luise lächelte schüchtern über das Kompli-
ment und sauste die Treppe hinunter. Unten
in der Diele stand ihre Mutter in einem grün-
en langen Taftkleid. Sie hielt Minchen auf
den Armen. Die Kleine war in eine Decke ge-
hüllt und streckte ihre Ärmchen nach Luise
aus.
„Minchen!“, rief Luise und griff nach ihren
kleinen Händen.

78/171

background image

Die Mutter musterte ihre Tochter. „Lass dich
ansehen.“ Luise drehte sich einmal um die
eigene Achse. „Hübsch siehst du aus. Wie
hast du denn nur allein die Schärpe so schön
gebunden?“
Luise warf Lara ein Augenzwinkern zu, das
die Mutter aber nicht bemerkte, denn gerade
da klingelte im Wohnzimmer das
Weihnachtsglöckchen.
„Christkind“, jauchzte Minchen.

79/171

background image

5. Luises schönstes Weihnachtsfest

Die große Flügeltür öffnete sich. Ein

raumhoher Weihnachtsbaum, auf dessen
Spitze ein Rauschgoldengel thronte, bannte
alle Blicke. Das Licht unzähliger Kerzen bra-
ch sich in üppigen Lamettakaskaden und
buntmetallischen Glaskugeln.

background image

„Oh“, rief Luise und ging einige Schritte auf
den Baum zu. „Ist der aber schön!“
Der Vater nickte stolz und drückte sie glück-
lich an sich. „Fröhliche Weihnachten!“ Dann
umarmte er seine Frau und Minchen. Eng
aneinander geschmiegt standen sie da und
blickten ins Kerzenlicht. „Jetzt ist es tatsäch-
lich noch unser schönstes Weihnachten ge-
worden.“ Seine Augen glitzerten verdächtig.
Die Mutter lächelte ihn an. „Unser Weih-
nachtswunder!“ Sie presste Minchen, die
fasziniert in die vielen Lichter schaute, einen
Kuss auf die Wange.
Joschi und Lara saßen in dem großen Sessel
und beobachteten alles.
Dann setzte sich Luise ans Klavier, während
ihre Eltern mit Minchen auf dem Sofa Platz
nahmen. Nur durch die Christbaumkerzen,

81/171

background image

die brennenden Lichter des Adventskranzes
und die Kerzen am Klavier beleuchtet, wirkte
alles wie verzaubert und sehr festlich. Die
warme Atmosphäre und die gemütvollen
Lieder, die Luise vortrug, tauchten die Zwill-
inge in eine Art von Weihnachtsstimmung,
die ganz neu für sie war, die sie seltsam froh
und leicht stimmte.
Als Luise mit ihrem Spiel fertig war,
klatschten die Eltern Beifall, auch Minchen
patschte ihre kleinen Hände zusammen.
Luise setzte sich mit an den Tisch und der
Vater schlug ein dickes Buch mit Goldschnitt
auf.
„Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Ge-
bot von dem Kaiser Augustus ausging, dass
alle Welt geschätzt würde …“

82/171

background image

Mit ruhiger, dunkler Stimme las der Vater
aus dem Lukasevangelium. Von Maria und
Josef und dem Jesuskind und von den
Hirten. Luise und ihre Mutter hörten
aufmerksam zu, auch Minchen unterbrach
ihn nicht. Sie saß ganz still auf dem Schoß
der Mutter, den Blick unverwandt auf den
Weihnachtsbaum gerichtet.
Aber da waren noch zwei, die sich dem
Zauber der Weihnachtsgeschichte nicht ent-
ziehen konnten. Natürlich hatten Joschi und
Lara sie schon im Religionsunterricht ge-
hört. Aber hier im Schimmer der Kerzen, be-
wegt von der Herzlichkeit, die von den
Menschen am Tisch ausging, fühlten sie
plötzlich das Wunderbare, das darin lag.
Als der Vater das Buch zuklappte, sagte die
Mutter: „Immer wenn ein Kind geboren

83/171

background image

wird, ist das ein Geschenk. Das Kind in der
Krippe ist ein ganz besonderes Geschenk, es
hat die ganze Welt verändert.“ Sie streichelte
über Minchens feines Haar. „Und uns ist
heute auch ein Kind geschenkt worden –
wiedergeschenkt.“
Für einen Moment war es ganz still im Zim-
mer. Minchen saß, zwar ein wenig blass und
abgekämpft, aber vergnügt auf dem Schoß
seiner Mutter. Schließlich deutete die Kleine
mit leuchtenden Augen auf die hellgrün
eingeschlagenen Päckchen, die auf dem
Tisch lagen.
„Schau, das ist für dich“, sagte Luise und
schob ihrer kleinen Schwester eines davon
hin.

84/171

background image

Minchen riss es begeistert auf. Als sie den
Teddy entdeckte, drückte sie ihn glücklich an
sich. „Ein Teddy! Ein Teddy!“
Dann sah Luise gespannt zu, wie nun auch
die Eltern ihre Pakete öffneten. Staunend
drehte die Mutter das Deckchen um. „Wie
hübsch! – Und alles so ordentlich vernäht!“
Der Vater zeigte der Mutter stolz seine neuen
Handschuhe. „Sieh nur, wie regelmäßig die
Maschen sind! Die kann ich gut gebrauchen.
Meine alten sind schon überall gestopft.“
Die Zwillinge beobachteten Luise. Man kon-
nte richtig sehen, wie sehr sie die Freude ihr-
er Eltern genoss.
„Jetzt bist du dran, Luise“, sagte die Mutter
schließlich. „Aber du weißt ja, es ist nicht viel
in diesem Jahr.“
Luise winkte fröhlich ab und stand auf.

85/171

background image

War die Aufmerksamkeit der Zwillinge am
Heiligen Abend sonst immer zuerst auf den
Fuß des Christbaums gerichtet, bemerkten
sie hier erst jetzt, dass dort einige wenige
Päckchen lagen.
Luise packte eine blau-weiß gestreifte
Schürze aus, die die Mutter für sie genäht
hatte, blaue Strümpfe und ein langes Baum-
wollnachthemd. Außerdem bekam sie eine
Packung Buntstifte, ein Kartenspiel und ein
Buch, das sie sich schon lange gewünscht
hatte. Über das Buch freute sie sich wirklich
riesig. Sie fiel ihrer Mutter um den Hals und
bedankte sich dann freudestrahlend beim
Vater.
Auch Minchen ging nicht leer aus. Für die
Kleine gab es ein Bilderbuch und große Per-
len zum Auffädeln, und für ihre Puppe hatte

86/171

background image

die Mutter ein neues Kleid und eine Mütze
gehäkelt. Schließlich erhob sich der Vater
und ging mit einem geheimnisvollen Lächeln
hinaus.
Als er wiederkam, brachte er eine
Pappschachtel mit. „Luise“, sagte er. „Da war
ja noch ein Wunsch – wenn ich mich recht
erinnere.“
Luise saß, gespannt wie ein Flitzebogen, auf
ihrem Stuhl und starrte den Karton an.
„Sie sind nicht neu – und nur eine Lei-
hgabe“, erklärte der Vater. „Deshalb haben
wir sie auch nicht eingepackt. Ein Kollege
hat sie mir gegeben, seiner Tochter passen
sie nicht mehr.“
Luise sprang auf und stürzte sich auf die
Schachtel. Ganz außer sich vor Freude holte
sie ein Paar Schlittschuhe heraus, weiße

87/171

background image

abgeschabte Lederstiefelchen mit ziemlich
verrosteten Kufen.
„Sie sind wunderbar!“, jubelte Luise und
probierte sie gleich an.
Die Mutter übergab Minchen ihrem Vater
und kniete sich zu Luise nieder. „Ein bis-
schen groß, scheint mir“, sagte sie. „Aber das
macht nichts. Vorne stecken wir etwas Papi-
er rein. Dann geht das schon.“
Luise strahlte über das ganze Gesicht. „Und
wie das geht!“
Joschi und Lara saßen da und sahen sich
stumm an. Unsicher, ob man sie vielleicht
hören konnte, gaben sie keinen Mucks von
sich. Aber jeder wusste, woran der andere
dachte.
Auch noch während Luise und ihre Mutter
wenig später den Tisch für das

88/171

background image

Weihnachtsessen deckten, hingen sie ihren
Gedanken nach.
Minchen war inzwischen, den kleinen Teddy
im Arm, erschöpft auf dem Sofa eingesch-
lafen, ihr Appetit war offenbar noch nicht
wieder hergestellt. Die Mahlzeit verlief heiter
und gelöst. All die Sorgen, die sie in den let-
zten Wochen so niederdrückt hatten, fielen
jetzt von der Familie ab. Luise kündigte gut
gelaunt an, dass sie gleich morgen mit Klara
zum Schlittschuhlaufen gehen wollte. Nach
dem Essen spielten sie Luises neues Karten-
spiel. Dabei wurde viel gelacht und als die
Mutter verlor, malte der Vater ihr zur Strafe
mit Kerzenruß die Nase schwarz. Sie spreizte
sich, aber es nützte ihr nichts. Luise bog sich
vor Lachen.

89/171

background image

„Als ‚schwarzer Peter’ kann ich doch nicht in
die Christmette“, jammerte die Mutter und
rieb an ihrer Nase herum, was den Fleck nur
noch größer machte.
„Einer muss ja sowieso hier bei Minchen
bleiben“, gab der Vater amüsiert zurück.
„Heute gehen nur Luise und ich.“ Dann
blickte er auf die Uhr. „Ich glaube, wir
müssen uns langsam fertig machen!“
Erschrocken sahen nun auch die Zwillinge
auf die Uhr. Sie durften auf gar keinen Fall
die Metteglocken verpassen! Der Vater blies
die Christbaumkerzen aus und ging hinaus.
Luise folgte ihm, wobei sie den Zwillinge
zuzwinkerte. Lara und Joschi kamen ihr in
die Diele nach.
„So ein schönes Weihnachten hab ich noch
nie erlebt“, flüsterte Luise. „Das einzig

90/171

background image

Traurige ist, dass ihr wieder weg müsst.
Schade, dass ihr nicht dabei sein könnt,
wenn ich morgen die Schlittschuhe
ausprobiere.“
„Ja, das ist wirklich schade“, antwortete Lara
und umarmte sie. „Aber wir müssen doch
wieder heim.“
Luise nickte bedauernd.
„Luise, bist du soweit!“, rief der Vater vom
oberen Stockwerk aus.
„Ja, Vater!“, rief Luise zurück und schlüpfte
rasch in ihren Mantel.
Sie winkte den Zwillingen zu. „Fröhliche
Weihnachten!“
Der Vater kam die Treppe herunter. „Ja,
fröhliche Weihnachten, mein Schatz“, sagte
er, nahm Luise bei der Hand und ging mit
ihr hinaus.

91/171

background image

Als die beiden das Haus verlassen hatten,
sah Lara besorgt auf die Spieluhr. Die ganze
Zeit über hatte sie die Dose nicht aus der
Hand gegeben. „Hoffentlich klappt es auch!“
„Besser wir gehen ins Wohnzimmer zurück“,
sagte Joschi. „Dort sind wir schließlich
gelandet.“
Lara nickte. Durch die große Flügeltür be-
traten sie den halbdunklen Raum. Es roch
nach ausgeblasenen Kerzen und Fichtenharz.
Die Mutter saß neben dem schlafenden
Minchen auf dem Sofa und blickte müde,
aber glücklich in das flackernde Licht der
herunterbrennenden Kerzen auf dem
Adventskranz.
Lara legte den Finger auf den Mund und sch-
lich zum Fenster. Draußen stapften die Leute
durch den frischen Schnee zur Kirche

92/171

background image

hinüber. Bis in die Haarspitzen gespannt,
warteten die Zwillinge auf den ersten Glock-
enschlag. Als er erste tiefe Ton endlich los-
dröhnte, zuckte Lara zusammen. Bebend vor
Aufregung zog sie die Spieldose auf. Joschi
griff nach ihrer Hand. Stille Nacht, heilige
Nacht, klang es lieblich durch das dämmrige
Zimmer.
Drüben auf dem Sofa setzte sich Luises Mut-
ter verwirrt auf. Der Zeiger der Spieldose
begann sich zu drehen. Dezember, Januar,
Februar …, schneller und schneller. Dann
fühlten sie sich wieder sonderbar leicht.
Wieder begann sich alles um sie zu drehen,
bis schließlich auch der starke Sog einsetzte
und ihnen den Boden unter den Füßen
wegriss. Unwillkürlich schlossen sie die

93/171

background image

Augen. Als sie sie wieder zu öffnen wagten,
blieb ihnen fast das Herz stehen.

94/171

background image

6. Eine neue Bekanntschaft

„Mist!“, stieß Joschi aus.

Lara sah sich erschrocken um. „Aber der Zei-
ger hat sich doch nach vorn gedreht!“
„Anscheinend nicht lange genug“, erwiderte
Joschi gepresst, während er versuchte, sich
in dem schlecht beleuchteten Raum zu
orientieren.

background image

Lara schnüffelte. „Mann, riecht das hier
muffig! Ich glaub, wir sind in einem Keller
gelandet!“
Nur durch zwei matte kleine Fenster unter-
halb der Decke, von denen eines einen dick-
en Sprung hatte, der notdürftig mit Fenster-
kitt geklebt war, fiel etwas Licht herein. Ganz
allmählich gewöhnten sich ihre Augen an die
Dunkelheit. In einer Ecke lagen zwei Mat-
ratzen, darauf zerschlissenes Bettzeug,
daneben zwei schäbige Koffer und ein Gestell
mit einer Waschschüssel. Ein kleiner Tisch,
ein Hocker, zwei Stühle, ein wackliges Regal
auf dem ein wenig Geschirr und Kochgerät
abgestellt waren, bildeten die Einrichtung.
An der Wand stand ein alter gusseiserner
Ofen. Das Ofenrohr führte durch ein

96/171

background image

behelfsmäßig mit Lappen ausgestopftes Loch
ins Freie.
Lara stöhnte auf. „Wo sind wir bloß diesmal
gelandet?“
Joschi schob einen Stuhl unters Fenster und
kletterte hoch. „Du lieber Himmel!“, rief er.
Lara holte sich rasch den zweiten Stuhl. Fas-
sungslos sahen sie hinaus. Gegenüber stand
die vertraute Kirche, doch waren die schönen
alten Buntglasfenster mit Brettern vernagelt.
Am Straßenrand türmten sich
schneebedeckte Schutthaufen von Steinen
und Ziegeln. Es sah aus, als habe ein Erd-
beben alles dem Boden gleich gemacht und
nur die Kirche verschont.

Völlig unerwartet öffnete sich die

abgeblätterte Tür, ein Junge kam herein.

97/171

background image

Lara und Joschi drehten sich erschrocken
um. Der Junge schleppte ein Bündel kurzer
Bretter, das er schwungvoll vor den Ofen
warf. Dann kniete er nieder und hantierte an
der Feueröffnung. Lara sprang vom Stuhl.
Erschrocken richtete sich der Junge auf. Er
trug eine kurze Hose, darunter lange Strüm-
pfe, die selbst gestrickt und rau wirkten.
Seine Füße steckten in abgewetzten
Schuhen. Aus der Jacke war er ganz of-
fensichtlich herausgewachsen, darunter
spitzte ein geringelter Pullover hervor.
Der Junge gaffte die Zwillinge feindselig an.
Nach dem ersten Schreck nahm er mit
funkelnden Augen ein Stück Holz vom
Boden und richtete es drohend gegen die
Eindringlinge. „He, was macht ihr hier! Raus
mit euch!“

98/171

background image

Lara war leichenblass geworden. Sie klam-
merte sich an ihren Bruder, der ebenfalls
vom Stuhl geklettert war.
Aber Joschi, der es gar nicht mochte, wenn
ihm jemand so kam, blaffte sofort zurück.
„Reg dich ab! Wir sind schließlich nicht
freiwillig hier.“
Der Junge, er war nicht viel älter als die
Zwillinge, fuhr sich mit der freien Hand un-
schlüssig durch die braunen Haare, während
er mir der anderen noch immer das Holz
umklammerte. „Ihr wollt uns doch nur
beklauen“, sagte er barsch.
„Beklauen?“, Joschi blickte sich kopfschüt-
telnd um. „Hier? Was könnte man denn hier
schon klauen?“
„Heutzutage können die Leute alles geb-
rauchen – zum Beispiel was zum Anziehen.“

99/171

background image

Stirnrunzelnd musterte er die Zwillinge, die
in Nachthemd und Schlafanzug vor ihm
standen.
Lara sah verlegen an sich herab. Dann nahm
sie all ihren Mut zusammen. „Hör mal, was
uns passiert ist, ist eine total verrückte
Geschichte …“ Damit begann sie, dem ver-
dutzten Jungen die Sache mit der Weih-
nachtszeitmaschine zu erzählen. „Und das
hier ist mein Zwillingsbruder Joschi, und ich
heiße Lara“, beendete sie ihren Bericht.
Der Junge warf das Brett zu den anderen
und steckte die Hände in die Hosentaschen.
„Das ist wirklich eine verrückte Geschichte“,
sagte er. „Ich bin übrigens Karl. – Und das
soll ich euch glauben?“

100/171

background image

Joschi zuckte mit den Schultern. „Glaub, was
du willst! Aber sag mal, welches Datum
haben wir heute?“
„Heute ist Weihnachten“, sagte Karl. „Der
24. Dezember 1945.“
Lara seufzte. „So ein Mist, dann sind wir um
Jahrzehnte zu früh gelandet.“ Sie zeigte zu
den Fenstern. „Was ist denn da draußen los,
war das ein Erdbeben?“
Karl lachte bitter. „So kann man es auch
nennen! Wisst ihr das wirklich nicht?“ Er
schüttelte ungläubig den Kopf. „So was
macht der Krieg – die Bomben! Kapito? Alles
ist futsch. Von unserem Haus steht nur noch
der Keller. Wir sind völlig ausgebombt. Das
hier“, er deutete niedergeschlagen auf die
wenigen Habseligkeiten, „ist alles, was wir

101/171

background image

noch haben.“ Er senkte den Kopf. „Aber das
ist nicht das Schlimmste!“
Lara konnte sich beim besten Willen nicht
vorstellen, was es noch Schlimmeres geben
könnte, als allen Besitz zu verlieren.
„Vater wird vermisst“, fuhr Karl leise fort.
„Er ist noch nicht zurückgekommen. Dabei
ist der Krieg schon seit Mai zu Ende. Mutter
und ich warten auf ihn, jede Stunde, jeden
Tag, seit Monaten.“
„Ist er Soldat?“, wollte Joschi wissen.
Karl nickte. „Was dachtest du denn?“ Er
wendete den Kopf ab. Die Zwillinge be-
merkten trotzdem, dass er mit den Tränen
kämpfte. „Es sind so viele gefallen, mein
Onkel auch. Wir haben seit Monaten keine
Nachricht von Vater. Wir wissen gar nichts.
Vielleicht ist er in Gefangenschaft, aber

102/171

background image

vielleicht ist er auch …“ Karl sprach nicht
weiter.
Karls Schmerz machte auch den Zwillingen
das Herz schwer. Lara dachte an Luise und
Minchen und an die wundersamen Dinge,
die sie erlebt hatten.
„Aber an Weihnachten geschehen manchmal
die wunderbarsten Dinge“, sagte sie.
„Ein Wunder …?“ Karl zuckte mit den Schul-
tern. Dann gab er sich einen Ruck. „Dass ihr
hier seid, ist allerdings tatsächlich eines. Was
mach ich jetzt bloß mit euch? Mutter wird
sicher nicht über euren Besuch begeistert
sein, das Essen reicht kaum für uns.“
„Mach dir keine Gedanken, außer dir kann
uns wahrscheinlich keiner sehen!“, beruhigte
ihn Joschi. „Und hungrig sind wir nicht.
Aber wir müssen unbedingt bis zur

103/171

background image

Christmette hier bleiben, sonst funktioniert
die Weihnachtszeitmaschine nicht. Wir wer-
den euch ganz bestimmt nicht stören.“
Noch ehe Karl antworten konnte, knarrte die
Tür und eine junge, schmale Frau mit einem
Kopftuch und einem schweren Lodenmantel
kam herein.
Ohne von den Zwillingen Notiz zu nehmen,
band sie das Tuch ab und schüttelte es aus.
„Es schneit schon wieder! Muss dieser
Winter denn so kalt sein? Sind wir nicht
schon gestraft genug?“
Mit einer müden Bewegung nahm sie einen
grünen Stoffrucksack vom Rücken und zog
den nassen Mantel aus. „Gott, bin ich
erledigt!“, stöhnte sie und blickte sich
suchend um. „Warum stehen denn die
Stühle da drüben?“

104/171

background image

Karl lief los und schob die beiden Stühle zum
Tisch zurück. Seine Mutter setzte sich und
zog ächzend die Schuhe aus. „Meine Füße
sind die reinsten Eiszapfen. Keine Ahnung,
wie viele Kilometer ich heute gelaufen bin –
bis Kleinteuersdorf. Die Bauern werden im-
mer unverschämter. Jetzt sind wir auch noch
Großmutters Silberarmband los – für sechs
Eier, ein bisschen Butter und Mehl.“ Sie sah
zu Karl hin, der sich am Ofen zu schaffen
machte. „Und du hast Holz beschafft?“
Karl nickte stolz. Emil und ich haben in der
Bismarckstraße eine Ruine gefunden, wo
noch was zu holen ist.“
Die Mutter, die sich die Füße rieb, sah ers-
chrocken hoch. „Passt bloß auf mit den
Blindgängern! Was ist, wenn so eine ver-
gessene Bombe losgeht?“

105/171

background image

„Mach dir keine Sorgen, Mutter, wir passen
schon auf!“ Damit zündete Karl das Feuer
an.
Während das Feuer nun anheimelnd
prasselte und durch die Fugen des alten
Ofens ein warmroter Schein in den düsteren
Raum sickerte, packte die Mutter ihre
Schätze aus dem Rucksack.
„Für die Lebensmittelmarken kriegt man
kaum noch was. Dafür kann man dann auch
noch stundenlang anstehen. Dass wir Städter
ums Betteln und Hamstern gar nicht her-
umkommen, wissen die Bauern leider zu gut,
sie werden immer unverschämter. Aber zum
Glück gibt es auch gute Seelen. Schau!“ Die
Mutter packte eine kleine Wurst aus. „Die
hat mir eine Bäuerin geschenkt, weil Weih-
nachten ist.“

106/171

background image

Karl machte einen Freudensprung. „Eine
Rotwurst!“
„Die Feiertage sind gesichert“, sagte die Mut-
ter lächelnd. „Heute backe ich Pfannkuchen
und morgen gibt es Kartoffeln und Wurst.
Was hältst du davon?“
„Eine ganze Menge!“, rief Karl begeistert.
„Aber ich hab auch eine Überraschung!“ Er
ging vor die Tür und kam mit einem großen
Fichtenzweig wieder zurück. Dann kramte er
stolz ein paar Kerzen aus der Jackentasche.
Über das Gesicht der Mutter flog ein
freudiges Strahlen. „Wo hast du das nur alles
her?“
Karl grinste geheimnisvoll. „Emil und ich
sind eben auch gut im Organisieren.“
Allmählich wurde es dunkel. Die Mutter
knipste das Licht an. Eine schwache

107/171

background image

Glühbirne, die verloren an der Decke hing,
spendete wenig ungemütliches Licht. „Gott
sei Dank“, seufzte sie. „Wenigstens haben
wir heute Strom.“
Dann schickte sie Karl hinaus, einen Eimer
Wasser zu holen. Als er wiederkam, hatte sie
aus einem der alten Koffer ein sauberes
Hemd herausgesucht. „Wasch dich und zieh
dich um.“
Karl goss etwas Wasser in die Waschschüssel
und wusch sich Gesicht und Oberkörper.
Dann kämmte er sich die Haare mit einem
nassen Kamm. Wie frisch gegelt glänzten sie
jetzt.
Seine Mutter betrachtete ihn. „Gut siehst du
aus. Du wirst deinem Vater immer ähnlich-
er.“ Sie stockte und begann ganz plötzlich zu
schluchzen.

108/171

background image

Karl nahm sie in den Arm. „Nicht weinen
Mutter! Heute ist doch Weihnachten.“ Er sah
zu Lara und Joschi hinüber, die beklommen
auf einer Matratze saßen. „Vielleicht
geschieht ja ein Wunder“, flüsterte er.
Seine Mutter drückte ihn fest an sich. „Ein
Wunder?“, wiederholte sie tonlos und
schluckte ihre Tränen hinunter.
„Komm, jetzt schmücken wir unseren
Fichtenzweig“, entschied Karl.
Seine Mutter nickte tapfer. Sie schleppte ein-
en alten Keramikkrug herbei und stellte den
Zweig hinein. Mit etwas Draht befestigte
Karl die Kerzen daran. Dann kramte er aus
einer abgeschabten Lederschultasche ein
paar Strohsterne und hängte sie dazu.
„Die haben wir im Unterricht gebastelt“,
sagte er.

109/171

background image

Seine Mutter zog ein sauberes Kleid an und
steckte sich die Haare hoch. Als sie fertig
war, zündete Karl die Kerzen an und knipste
das elektrische Licht aus.
Die Mutter legte den Arm um ihn. „Schön ist
er, unser kleiner Christbaum. Fröhliche
Weihnachten, Karl!“ In ihren feuchten Au-
gen spiegelte sich der Lichterglanz.
Karl sah scheu zu ihr hoch. „Fröhliche Weih-
nachten, Mutter!“
Dann schwiegen sie, standen nur da und ihre
Gedanken schienen weit, weit weg zu sein.
Durch den warmen Luftstrom der Kerzen be-
wegt, warfen die Strohsterne bizarre Schat-
ten an die Kellerwand. Im Ofen knisterte das
Feuer, ein alter Wecker auf dem Regal tickte
gleichmäßig.

110/171

background image

Die beiden auf dem Matratzenlager beo-
bachteten Karl und seine Mutter voller
Mitgefühl. Lara dachte darüber nach, was
der Großvater gesagt hatte. Wie sehr sie Karl
und seiner Mutter jetzt ein Wunder
wünschte!

111/171

background image

7. Karls Weihnachtsgeschenk

Kräftiges Klopfen brach in die Stille.
Noch ehe Karl und seine Mutter darauf

reagieren konnten, wurde die Tür
aufgestoßen, und ein großer, dünner, bärti-
ger Mann in einem grauen Armeemantel
stand im Raum.

background image

„Fröhliche Weihnachten!“, rief er. „Ich hoffe
doch, ich bin hier richtig!“
Karl starrte ihn für einen Moment fas-
sungslos an. Dann durchfuhr ihn ein
Freudenschauer. Er raste auf den Bärtigen
zu und fiel ihm um den Hals. „Vater!“
Der Mann ließ seinen grauen Stoffsack fallen
und presste Karl wortlos an sich. Karl
verbarg sein Gesicht in dem schweren Man-
tel und begann, erlöst zu weinen. Die Mutter
stand reglos, auch ihr flossen die Tränen
übers Gesicht. „Erich!“, sagte sie nur, immer
wieder: „Erich!“
Karls Vater hob seinen Sohn hoch, was ihn
sehr anzustrengen schien, und ging langsam
auf seine Frau zu, die immer noch wie ver-
steinert dastand und seinen Namen stam-
melte. Dann setzte er Karl ab und umarmte

113/171

background image

sie. Karl schmiegte sich eng an die Eltern.
Wieder war es ganz still, nur das Feuer
prasselte und der Wecker tickte. Lara
glaubte, sogar das Herzklopfen der drei
hören zu können. Sie suchte Joschis Hand
und strahlte ihn an. Joschi lächelte er-
leichtert zurück.
„Jetzt ist doch noch ein Weihnachtswunder
geschehen!“, sagte die Mutter leise. „Ich bin
ja so unendlich dankbar!“
Der Vater gab ihr einen Kuss. Während er
seinen Mantel auszog, sah er sich um. „Das
Klavier habt ihr wohl nicht retten können“,
sagte er augenzwinkernd.
Die Mutter drohte ihm scherzhaft mit dem
Finger. „Du machst vielleicht Späße.“
Der Vater zuckte mit den Schultern. „Da
kann man nichts machen.“ Damit fischte er

114/171

background image

aus der Hosentasche eine Mundharmonika
und setzte sie an die Lippen.
Stille Nacht, heilige Nacht, klang es in den
wehmütigen Akkorden des kleinen Instru-
ments durch den Raum. So hatten die Zwill-
inge das Lied noch nie gehört. „Stille Nacht,
heilige Nacht“, setzten Karl und seine Mutter
ein.
Die Ankunft des Vaters hatte den trüben
Kellerraum in ein anheimelndes Weihnacht-
szimmer verwandelt und alle in feierlich
frohe Stimmung versetzt – selbst die beiden
Zaungäste.
Als alle Strophen gesungen waren, sagte der
Vater: „Und jetzt lese ich euch die Weih-
nachtsgeschichte vor, so wie wir es immer
gemacht haben.“

115/171

background image

Die Mutter schüttelte bedauernd den Kopf.
„Das geht leider nicht, Erich! Von den Büch-
ern konnten wir gar nichts retten, auch nicht
die Bibel. – Alle verbrannt!“
Der Vater seufzte. „Ein Jammer! Dann
erzähle ich die Geschichte eben. Und wenn
ich nicht mehr weiter weiß, helft ihr mir!“
Karl schob eine alte Holzkiste für sich heran,
dann setzten sich alle um den Tisch und der
Vater begann. „Vor langer, langer Zeit, vor
mehr als 2000 Jahren befahl der Kaiser
Augustus, dass seine Untertanen gezählt
werden sollten …“
Er erzählte die Geschichte so lebendig, dass
die Zwillinge alles wie in einem Film vor sich
sahen. Und manchmal ergänzten auch die
Mutter und Karl etwas, das ihnen wichtig er-
schien. So beschrieb die Mutter die Engel in

116/171

background image

den prächtigsten Farben, und Karl malte aus,
wie sich die Hirten auf den Weg machten,
um das Christkind zu suchen.
Als die Weihnachtsgeschichte zu Ende war,
kam Karl zu den Zwillingen und gab ihnen
zu verstehen, dass sie ein Stück rücken soll-
ten. Er griff hinter die Matratze, holte zwei
Päckchen heraus und legte sie auf den Tisch.
Sie waren in braunes Papier eingewickelt,
auf das er bunte Sterne gemalt hatte. „Das ist
für Vater und das hier ist für dich, Mutter“,
sagte er.
Gerührt nahm der Vater das kleine Paket.
„Du hast ein Geschenk für mich?“
Karl nickte. „Ich hab so sehr gehofft, dass du
kommst!“
Mit Tränen in den Augen löste der Vater das
Papier. Zum Vorschein kam ein kleines

117/171

background image

hölzernes Herz mit einem Metallring. Dem
lieben Vater, stand in eingekerbten Buch-
staben darauf.
„Ein Schlüsselanhänger“, erklärte Karl mit
leuchtenden Augen. „Selbst geschnitzt!“
„Er ist wunderschön!“, sagte der Vater und
hielt ihn nahe an eine Kerze um ihn besser
sehen zu können.
Für die Mutter hatte Karl einen kleinen En-
gel ausgesägt und hübsch bemalt. „Emil hat
mir seine Laubsäge geliehen“, sagte er stolz,
als seine Mutter ihr Geschenk von allen
Seiten bewunderte.
„Aber das Christkind hat auch etwas für
dich.“ Damit stand die Mutter auf und holte
aus dem alten Rucksack ein Buch.

118/171

background image

„Der Schatz im Silbersee! Ich werd ver-
rückt!”, rief Karl und drückte seiner Mutter
einen stürmischen Kuss auf die Backe.
„Das hat mir einer von den Bauern über-
lassen, sein Sohn liest wohl nicht gern“,
erklärte sie freudestrahlend.
Dann bekam Karl noch eine Jacke, die die
Mutter auf der Nähmaschine einer Freundin
aus einer alten Wolldecke geschneidert
hatte.
Joschi fand das braune Ding wirklich pot-
thässlich. Außerdem sah es aus, als würde es
mörderisch kratzen. Aber all das störte Karl
anscheinend überhaupt nicht. Er probierte
die Jacke gleich an. Seine Hände ver-
schwanden in den viel zu langen Ärmeln.

119/171

background image

Die Mutter rollte die Manschetten hoch. „Vi-
elleicht ein bisschen groß. Aber sie soll ja
nächstes Jahr noch passen.“
„Nur ich habe kein Geschenk für euch!“,
sagte der Vater bedrückt.
„Aber du bist doch das Geschenk!“, rief Karl.
Die Mutter strich zärtlich über die stoppeli-
gen Wangen ihres Mannes. „Du hast uns mit
deinem Heimkommen den allergrößten
Wunsch erfüllt, Erich.“
Dann machte sie sich daran, das Essen auf
dem kleinen Ofen zuzubereiten. Bald duftete
es verführerisch nach frischen Pfannkuchen.
Dazu mischte sich der Geruch von Kerzen
und Fichtennadeln. Von dem modrigen
Kellermief bemerkte man jetzt gar nichts
mehr.

120/171

background image

Bei Tisch erzählte der Vater, was er alles er-
lebt hatte. Auch Karl und die Mutter
berichteten, was sie durchgemacht hatten.
Atemlos hörten die Zwillinge zu, erfuhren
vom Krieg, von den Bombennächten und der
brennenden Stadt.
Dann hob der Vater sein Wasserglas. „Auf
den Frieden und darauf, dass wir im näch-
sten Jahr Weihnachten in einer anständigen
Wohnung feiern können. Hier ist jemand mit
zwei gesunden Händen, die anpacken
können!“
„Das ist ein schöner Weihnachtswunsch fürs
kommende Jahr“, sagte die Mutter. „Aber
jetzt wollen wir erst mal dankbar dafür sein,
dass wir alle gesund und munter hier sitzen
dürfen, auch wenn es nur in einem Keller ist.

121/171

background image

– Und jetzt möchte ich, dass wir alle zusam-
men in die Mette gehen.“
Ihr Blick ging zu dem alten Wecker. Über
dem Erzählen war die Zeit wie im Flug ver-
gangen. Der Zeiger näherte sich der Zwölf.
„Lasst uns schnell gehen, sonst bekommen
wir keinen Platz mehr“, sagte sie
erschrocken.
Eilig machte sich die Familie für den
Kirchgang fertig. Karl schlüpfte in seine viel
zu große neue Jacke und ließ die Eltern
vorausgehen.
Als sie den Raum verlassen hatten, verab-
schiedete er sich von den Zwillingen. „Du
hattest recht, Lara, manchmal geschieht ein
Weihnachtswunder. Ich könnte platzen vor
Glück!“ Er machte einen kleinen Luftsprung.
Lara und Joschi lachten. Karl fuhr sich

122/171

background image

verlegen durch die Haare. „Nur schade, dass
wir uns nicht näher kennen lernen können.
Aber ihr werdet wohl gleich los müssen.“
Die beiden nickten. „Fröhliche Weihnachten,
Karl!“, sagte Joschi. „Ja, fröhliche Weih-
nachten“, sagte auch Lara. „Und danke, dass
wir hier sein durften!“
„Karl, wo bleibst du denn?“ Das war die
Stimme von Karls Mutter. Karl rannte zur
Tür, winkte noch einmal und lief hinaus.

123/171

background image

8. Ein funkelnagelneuer

Weihnachtstag

Kaum war Karl draußen, rückten die

Zwillinge wieder die Stühle vor die Fenster
und spähten auf die Straße. Lara hielt die
Spieluhr fest umklammert. Die Kirchentür
war weit geöffnet. Selbst durch die beschla-
genen, schmutzigen Kellerscheiben

background image

schimmerte noch etwas von dem warmen
Licht des erleuchteten Innenraums. Obwohl
die Glocken noch gar nicht gerufen hatten,
strömten schon jetzt von allen Seiten die
Leute herbei. Eben gingen Karl und seine El-
tern hinein. Dann dröhnte plötzlich der erste
tiefe Ton des Geläuts los. Joschi hielt sich
hastig an Lara fest, die schon die Spieldose
aufzog.
„Bloß nicht zu weit!“, ermahnte er sie ängst-
lich. Aber da spürte er bereits, wie er wieder
in den starken Strudel hineingezogen wurde.
Er schloss die Lider.

„Fröhliche Weihnachten, heute ist der 24.

Dezember!“

125/171

background image

Joschi riss die Augen auf. Er lag in seinem
Bett. Dann tönte aus dem Radio: Jingle
Bells.
„Joschi!“, rief Lara und kletterte aus ihrem
Bett. „Wir sind daheim. Jippie! Es hat
geklappt!“
Joschi rappelte sich hoch. „Gott sei Dank!“
„Punktgenau gelandet!“, jubilierte Lara und
schnippte glücklich mit den Fingern.
Joschi runzelte die Stirn. „Moment mal!“,
sagt er. „Wie spät ist es?“
Lara sah auf ihren Radiowecker, aus dem
noch immer fröhlich Jingle Bells erklang.
Dann schlug sie sich an den Kopf. „Mann, es
ist erst sieben Uhr morgens!“
Joschi nickte. „Also doch! Dann hat uns die
Weihnachtszeitmaschine über einen halben
Tag zu früh abgesetzt.“

126/171

background image

Lara setzte sich nachdenklich zu ihm ans
Bett. „Das bedeutet doch, dass wir heute erst
noch Weihnachten feiern.“
„Genau“, sagte Joschi. Dann flog ein Leucht-
en über sein Gesicht. „Das ist ja cool!“
Lara sprang auf und zog die Vorhänge
zurück. „Ja, das ist sogar supercool! Ein
funkelnagelneuer Weihnachtstag! Komm,
raus mit dir!“

Während sie in ihre Kleider schlüpften,

fiel Lara etwas ein. Sie ging zu ihrem Bett
und schlug die Decke zurück.
„Suchst du was?“, fragte Joschi.
„Die Spieldose ist weg“, sagte Lara, ist das
nicht eigenartig.
Joschi zuckte mit den Schultern. „Ehrlich
gesagt, mich wundert gar nichts mehr.“

127/171

background image

Lara blickte versonnen aus dem Fenster.
Draußen hatten sich die Schneeflocken zu
kleinen Flaumengeln zusammengefunden,
die sachte zur Erde schwebten. „Ich glaub,
ich weiß, warum sie nicht mehr da ist“, sagte
sie. „Wir brauchen sie nicht mehr.“
Joschi nickte verlegen. „Ja, du hast recht, wir
brauchen sie nicht mehr.“

„Fröhliche Weihnachten!“, rief Lara, als

sie und Joschi kurz darauf die Küche
betraten.
Die Mutter füllte gerade Pulver in die Kaf-
feemaschine. Sie drehte sich zu ihnen um.
„Fröhliche Weihnachten“, sagte sie leise.
Dunkle Ringe umschatteten ihre Augen.
„Das klingt aber gar nicht fröhlich“, be-
merkte Joschi und zerrte sie zum

128/171

background image

Küchentisch. „Setzt dich hin. Wir machen
heute das Frühstück.“
Völlig perplex nahm die Mutter Platz. Lara
goss Wasser in die Kaffeemaschine und
schaltete sie ein. Dann deckten die Zwillinge
den Tisch. Der Kaffee war gerade durch-
gelaufen, als der Vater hereinkam.
„Fröhliche Weihnachten“, begrüßten ihn
Lara und Joschi fast im Chor.
Der Vater nickte abwesend. Er setzte sich an
den Frühstückstisch und tauchte hinter der
Zeitung unter. Lara holte den Adventskranz
aus dem Wohnzimmer und zündete die
Kerzen an.
Joschi stellte die Safttüte daneben. „Willst
du auch O-Saft, Papa.“
„Hmh“, brummte der Vater hinter seiner
Zeitung.

129/171

background image

Mama schubste ihn an. „Stefan, die Kinder
haben heute das Frühstück gemacht. Es ist
doch Weihnachten!“
Papa faltete missmutig die Zeitung zusam-
men. „Weihnachten, nichts als Weihnachten,
…!
Mama machte eine beschwichtigende
Handbewegung.
Lara setzte sich neben ihn auf die Eckbank
und schmiegte sich an ihn. „Weihnachten ist
aber wirklich ein ganz wunderbares Fest.“
„Wunderbar …“, wiederholte der Vater spöt-
tisch. „Ein Wunder könnten wir weiß Gott
gebrauchen!“
Lara und Joschi warfen sich vielsagende
Blicke zu. Sie waren sich einig: es war besser,
jetzt nichts darauf zu sagen.

130/171

background image

„Papa, wenn du willst, helfe ich dir nachher,
den Christbaum in den Ständer zu klem-
men“, schlug Joschi vor. „Aber danach haben
Lara und ich noch zu tun. Er lächelte ge-
heimnisvoll. „Von wegen ‚Christkind’.“
„Ach ja, das Christkind“, knurrte der Vater
und schob seinen Teller weg. „Alles dreht
sich nur um die Geschenke!“
Lara schüttelte den Kopf. „Das stimmt nicht,
Papa. Die Geschenke sind gar nicht so
wichtig. Hauptsache wir haben uns.“
Die Eltern sahen sich überrascht an.
Joschi starrte gedankenverloren aus dem
Fenster. „Geschenke sind wirklich nicht im-
mer das Wichtigste“, sagte er.
Für einige Augenblicke war es ganz still in
der Küche.

131/171

background image

Dann räusperte sich der Vater, ein winziges
Lächeln lockerte die Anspannung in seinem
Gesicht. Er drückte Lara an sich. „Na dann,
fröhliche Weihnachten zusammen!“ Er
suchte den Blick seiner Frau. „Wird schon
werden. Oder?“
Die Mutter nickte erleichtert. Während Lara
ihr half, das Frühstücksgeschirr wegzuräu-
men und danach den Weihnachtsschmuck
vom Dachboden zu holen, passten Joschi
und der Vater den Christbaum in den
Ständer.
„Sieht gar nicht übel aus, so eine Fichte“,
sagte Joschi. „Sie ist schön schlank, die lässt
sich bestimmt toll schmücken.“ Er schnup-
perte. „Und wie gut die nach Wald duftet.“
Mama und Lara schleppten zu zweit die
Weihnachtskiste ins Wohnzimmer. „Mama“,

132/171

background image

fragte Lara. „Warum haben wir eigentlich nie
richtige Kerzen am Christbaum? Die wären
doch viel schöner, als die Lichterkette.“
„Ich weiß auch nicht“, antwortete die Mutter.
„Als ihr klein wart, haben wir das aus Sicher-
heitsgründen nicht mehr gemacht und später
wohl aus Bequemlichkeit.“ Sie öffnete die
Kiste und kramte darin herum. Nach ein-
igem Suchen fischte sie einen Beutel mit sil-
berfarbenen Kerzenhaltern heraus. „Mal se-
hen“, sagte sie. „Wenn genug Kerzen im
Haus sind, können wir ja zu der Lichterkette
auch noch echte Kerzen stecken.“

Dann machten sich die Eltern im Weih-
nachtszimmer zu schaffen, und die Zwillinge
verzogen sich in ihr Zimmer.

133/171

background image

Lara setzte sich an ihren Schreibtisch und
kritzelte nachdenklich auf einem Blatt Papier
herum. „Warum sagen sie uns eigentlich
nicht, was los ist?“
Joschi, der am Fenster stand und schwei-
gend zur Kirche hinübersah, drehte sich zu
ihr um. „Weil sie denken, dass wir ego-
istische kleine Monster sind. Darum!“
Lara schreckte hoch. „Joschi!“
Manchmal drückte sich ihr Bruder wirklich
drastisch aus. Aber hatte er nicht irgendwie
recht? Sie dachte beschämt an das
missglückte Weihnachtsfest.
„Okay, wir waren vielleicht egoistische kleine
Monster“, sagte sie.
Dann stand sie auf und zerrte unter ihrem
Bett das völlig verstaubte Keyboard hervor.
„Hilf mir mal mit dem Ständer!“

134/171

background image

Gemeinsam stellten sie das Instrument auf.
Aus einer Schublade wühlte Lara ein völlig
zerknittertes Notenheft. Weihnachtslieder
für Anfänger.
Joschi stöpselte einen Kopfhörer in das Key-
board. „Nur, damit dich Papa und Mama
nicht hören“, sagte und grinste. „Obwohl es
jammerschade ist, dass ich auf den Kunst-
genuss verzichten muss!“ Er bewegte seine
Finger auf einem imaginären Klavier und
rollte verzückt die Augen, bis Lara mit einem
Kissen nach ihm warf.
Während seine Schwester sich an den Tasten
abmühte, saß Joschi, den Kopf in die Hände
gestützt, auf seinem Bett, und zermarterte
sich das Gehirn, was sie den Eltern und dem
Großvater schenken sollten.

135/171

background image

Nach einiger Zeit nahm Lara den Kopfhörer
ab und stöhnte. „Wahnsinn, man vergisst
echt fast alles, wenn man nicht dranbleibt.
Aber wenn ich am Nachmittag noch ein bis-
schen übe, müsste es wenigstens für Stille
Nacht reichen.“
Joschi nickte geistesabwesend. „Hast du
schon dran gedacht, dass wir noch keine
Geschenke haben?“
Lara setzte sich neben ihn. „Die Geschäfte
sind noch offen. – Aber einfach irgendwas
kaufen …?“ Sie schüttelte den Kopf.
„Zum Selbermachen reicht die Zeit nicht“,
entgegnete Joschi. „So ein Schlüsselan-
hänger ist echt ein cooles Geschenk, aber das
ist jetzt nicht mehr zu schaffen.“
„Und Stricken oder Sticken dauert noch
länger – ganz abgesehen davon, dass ich das

136/171

background image

überhaupt nicht richtig kann“, sagte Lara
niedergeschlagen. „Dann müssen wir eben
unsere grauen Zellen anstrengen.“ Sie legte
sich zurück und starrte an die Zimmerdecke.
Joschi ließ sich neben sie fallen. Eine ganze
Weile lagen sie so auf dem Bett. Plötzlich
sprang Lara auf. „Ich weiß was für Mama
und Papa!“
Joschi rappelte sich hoch. „Und mir ist eben
was für den Großvater eingefallen.“

Darauf herrschte reges Treiben im Kinderzi-
mmer. Als sie fertig waren, ergatterte Lara
aus Mamas Geschenkpapiervorrat einen Bo-
gen blaues Papier. Aus einem Rest Goldpapi-
er, der seit Jahren in der Bastelkiste schlum-
merte, schnitten sie Sterne aus und klebten
sie auf die fertig verpackten Geschenke.

137/171

background image

Zufrieden betrachteten sie die drei kleinen
Päckchen, die nun auf Laras Schreibtisch
lagen.

Am späten Nachmittag – Lara hatte bis

eben noch am Keyboard geübt – klingelte
der Großvater. Kurz darauf saßen alle plaud-
ernd um den Adventskranz und genossen
Opas himmlische Plätzchen und Mamas
duftenden Früchtetee. Während sich der
Vater kaum am Gespräch beteiligte, bemühte
sich die Mutter sehr um gute Stimmung. Der
Großvater war, wie alle Jahre, bester Weih-
nachtslaune. Er kannte Gott und die Welt
und berichtete von den vielen Weihnachts-
feiern, die er während der letzten Wochen
besucht hatte.

138/171

background image

Schließlich drückte er Lara und Joschi, die
neben ihm saßen, fest an sich. „Aber auf die
Weihnachtsfeier hier in der Kirchenstraße
hab ich mich am meisten gefreut. Wir ge-
hören doch zusammen!“
Plötzlich fiel Joschi etwas ein. „Opa, weißt du
eigentlich, wie die Kirchenstraße aussah, be-
vor unser Haus hier gebaut wurde?“
Der Großvater blickte ihn verwundert an.
Joschi zuckte mit den Schultern. „Es in-
teressiert mich halt.“
Opa gab sich damit zufrieden. Er überlegte
einen Moment, dann sagte er: „Meine Fam-
ilie ist ja erst nach dem Krieg hierher gezo-
gen. Aber im letzten Jahr hab ich mir eine
Fotoausstellung im Rathaus angesehen. Da
war auch ein Bild von der Kirchenstraße
dabei, so um 1900 herum. Also, die alte

139/171

background image

Kirche war natürlich schon da. Aber da, wo
jetzt euer Haus steht, stand ein wunder-
schönes altes Wohnhaus mit Erkern und
Giebelfenstern. Ein Jammer, dass es in der
Bombennacht 1945 völlig zerstört wurde.“
Joschi und Lara sahen sich vielsagend an.
„Ja, es hat schwere Zeiten gegeben“, sagte
Opa ganz in Gedanken. „Wir können froh
sein, dass es uns so gut geht.“
Die Gesichtszüge des Vaters verhärteten
sich. „Die Zeiten heute sind auch nicht leicht.
Ganz bestimmt nicht!“
Der Großvaterhorchte auf. Um ihm keinen
Gelegenheit zu geben, nachzuhaken,
klatschte die Mutter in die Hände. „Stefan,
ich glaube, es ist jetzt dunkel genug draußen.
Willst du nicht mal sehen, ob das Christkind
schon da war?“

140/171

background image

9. Gutscheine und Weihnachtsfreude

Der Vater verschwand im Wohnzimmer,

während die Zwillinge aus der Küche liefen,
ihre Geschenke zu holen und das Keyboard
hinter der Garderobe im Flur zu verstecken.
Dann klingelte das Glöckchen. Leise Musik
drang aus dem Weihnachtszimmer. Den

background image

Zwillingen klopften die Herzen, als der Vater
endlich die Tür öffnete.
Wie gebannt blieben alle vor dem Christ-
baum stehen. Die Kerzen tauchten den
Raum in ein ganz eigenes, warmes Licht, das
vom Glanz des Baumschmucks tausendfach
reflektiert wurde.
„Er ist wunderschön!“, stieß Lara aus und
kuschelte sich an ihren Vater.
„So schön war er wirklich noch nie“, sagte
nun auch Joschi.
„Er ist wie früher bei uns.“ Die Stimme des
Großvaters klang belegt. „Eine Fichte und
echte Kerzen. – Ich fühle mich um Jahre
zurück versetzt.“ Ganz verträumt nahm er
seine Tochter in den Arm. „Lisa, weißt du
noch, wie es war, als du ein kleines Mädchen

142/171

background image

warst? Du hast auf der Flöte gespielt und wir
haben gesungen …“
Lara nickte Joschi zu. Dann sausten die
beiden hinaus und schleppten zur großen
Verwunderung der Erwachsenen das Key-
board herein. Joschi schaltete den
Musikplayer aus, und Lara begann flatterig
vor Aufregung zu spielen.
Die Eltern waren so erstaunt, dass sie zun-
ächst gar keinen Ton herausbrachten. Der
Großvater stimmte als Erster ein. „Stille
Nacht, heilige Nacht! Alles schläft, einsam
wacht …“ Als nächste sang die Mutter mit
und schließlich hörte man sogar die
brummige Stimme des Vaters. Joschi, der
nur die erste Strophe auswendig konnte, fing
immer wieder von vorn an.

143/171

background image

Anfangs machte Lara noch ein paar kleine
Schnitzer, aber als dann alle mitsangen,
wurde sie sicherer, jetzt hörte man die Fehler
schließlich nicht mehr so sehr. Als sie nach
dem Schlussakkord die Hände in den Schoß
legte, klatschten alle Beifall.
Mama nahm sie in den Arm. „Lara, das war
ein wunderschönes Weihnachtsgeschenk.
Wie bist du nur darauf gekommen?“
Lara zwinkerte ihrem Bruder zu. „Och, weiß
auch nicht“, sagte sie. „Ich glaub, ich hab
überhaupt Lust, wieder Keyboard zu
spielen.“
Dann schlossen sich alle in die Arme und
wünschten sich eine frohe Weihnacht.
Während er seine Mutter umarmte, fragte
Joschi plötzlich: „Mama, haben wir eigent-
lich eine Bibel?“

144/171

background image

„Wieso?“, fragte sie überrascht. „Wollt ihr
euch nicht die Geschenke ansehen?“
„Doch schon“, sagte Joschi. „Aber vorher
könnten wir doch noch die Weihnachts-
geschichte lesen. Ich meine, damit man sich
erinnert, wie es damals war.“
Die Eltern warfen sich einen verwirrten Blick
zu.
Der Großvater nickte erfreut. „Das ist eine
richtig gute Idee! Das haben wir früher auch
immer gemacht.“ Er wandte sich an seine
Tochter. „Und habt ihr eine Bibel?“
Die Mutter zuckte fassungslos mit den
Schultern. „Ich denke schon. „Irgendwo da
drüben.“ Ihre Augen wanderten über das
Bücherregal. Dann deutete sie ganz nach
oben. „Stefan, da, das Buch mit dem dunkel-
blauen Lederrücken!“

145/171

background image

Der Vater streckte sich und zog einen dicken,
völlig verstaubten Band heraus, den ihm sein
Schwiegervater gleich abnahm. „Setzt euch
aufs Sofa! Ich lese!“
Lara und Joschi setzten sich rechts und links
von den Eltern. Lara schmiegte den Kopf an
Papas Schulter. Die Mutter legte ihre Hand
auf die ihres Mannes.
Mit sicherem Griff schlug der Großvater das
Lukasevangelium auf und begann: „Es begab
sich aber zu der Zeit …“
Während er las, schloss der Vater die Augen.
Die Mutter betrachtete versunken den
Christbaum, dessen goldene Sterne sich san-
ft drehten und im Kerzenlicht blitzten. Jos-
chi und Lara rückten noch eine bisschen
näher zu den Eltern hin. Mit einem Mal fühl-
ten sie tief in sich diese ganz besondere

146/171

background image

Weihnachtsfreude, die ihnen bis vor kurzem
noch ganz unbekannt gewesen war. Eine
Freude, die überhaupt nichts mit Geschen-
ken zu tun hatte, sondern damit, dass alle,
die sie liebten, hier, im festlich geschmück-
ten Weihnachtszimmer zusammensaßen.
Schließlich klappte der Großvater das Buch
zu und strich mit seiner knochigen Hand
über den Einband. „Ja, es ist wirklich eine
wunderbare Geschichte. Da ist vor mehr als
2000 Jahren ein Kind auf die Welt gekom-
men und hat alles verändert. Wenn das kein
Wunder ist!“
Der Vater starrte gedankenversunken vor
sich hin.
„Ich bin sicher, dass es an Weihnachten
Wunder gibt“, sagte Lara leise, während sie

147/171

background image

schon aufstand, die Päckchen für den
Großvater und die Eltern zu holen.
Die Mutter sah ihr erstaunt nach.

Zuerst durfte der Großvater auspacken.

„Das ist ja toll“, rief er und zeigte den Eltern
einen hübsch bemalten Fotorahmen aus
Pappe, in dem ein Foto von den Zwillingen
steckte. Das Foto hatte der Schulfotograf erst
vor ein paar Wochen gemacht. Richtig gut
waren sie getroffen. Lara hatte den Arm um
Joschi gelegt und beide lachten in die Kam-
era. „Und der Rahmen – den habt ihr selbst
gemacht?“
Joschi und Lara nickten stolz.
„Ich hab den Karton mit einem Cutter aus-
geschnitten und den Rücken drangeklebt.

148/171

background image

Und die Verzierung hat Lara draufgemalt“,
erklärte Joschi.

Für die Eltern hatten sich Lara und Jos-

chi etwas ganz Besonderes ausgedacht. Sie
hatten Gutscheine geschrieben und dazu
gezeichnet.
Mama öffnete ihr Päckchen zuerst. Ganz vor-
sichtig löste sie den Klebefilm. „Das Papier
mit den selbst ausgeschnittenen Sternchen
ist so wunderhübsch, das will ich unbedingt
aufheben.“ Nachdem sie die Gutscheine ge-
lesen hatte, nahm sie die Zwillinge fest in die
Arme. „Das ist so lieb von euch!“ Sie schob
Papa einen hin. Das ganze Jahr Sonntags-
frühstück machen
, stand darauf. Dazu hatte
Lara einen gedeckten Kaffeetisch gemalt.

149/171

background image

„Wie wechseln uns ab“, erklärte Joschi, dem
nicht entgangen war, dass ein kleiner Zweifel
auf Mamas Gesicht lag. „So kommt jeder nur
alle zwei Wochen dran.“
Dann gab es noch Gutscheine für: Müll raus-
bringen, Staubsaugen, Spülmaschine ausräu-
men und andere Hilfsdienste, die oft zu
Streitereien führten, weil jeder von den
Zwillingen überzeugt war, der andere müsse
nie etwas tun. Aber heute Nachmittag hatten
sie fest ausgemacht, alle Gutschein-Arbeiten
gerecht zu verteilen.
„Der beste Gutschein ist der“, sagte Mama
strahlend, nachdem sie alle gelesen hatte.
„Zehnmal sofort mit Streiten aufhören.“
Lara und Joschi grinsten sich an. „Aber nur
zehnmal!“, sagte Joschi.

150/171

background image

Für den Vater gab es Gutscheine für Auto
waschen, im Garten helfen, die Sonntagszei-
tung vom Kiosk holen und andere sonst von
den Zwillingen wenig geliebte Aufgaben.
Während er einen nach dem anderen vorlas,
hellte sich seine Stimmung sichtlich auf.
„Diese Gutscheine sind auf jeden Fall ein
Weihnachtswunder“, sagte er. „Überhaupt
kommt mir dieses Weihnachten ziemlich
wunderlich vor.“

Dann überreichte der Großvater jedem

der Zwillinge ein Päckchen.

„Super, Opa!“, sagte Joschi, noch ehe er

seines ausgepackt hatte. „Ein Motorradbuch
hab ich mir schon lang gewünscht!“ Er biss
sich auf die Lippen. Lara zeigte ihm ver-
stohlen den Vogel.

151/171

background image

Opa kratzte sich verdutzt am Kinn. „Kannst
du neuerdings hellsehen?“
„Na ja“, sagte Joschi hastig, während er
schon die Schleife aufzog. „Ich dachte, das
wäre halt schön, so ein Motorradbuch.“
Mit einem unsicheren Lächeln deutete
Mama schließlich auf die Päckchen unter
dem Christbaum. „Ich glaube fast, eure Ges-
chenke interessieren euch heuer gar nicht.“
„Doch, klar“, antworteten Lara und Joschi
fast gleichzeitig und setzten sich vor den
Christbaum auf den Teppich.
Mit angespannten Mienen saßen die Eltern
da und beobachteten sie beim Auspacken.
Aber sowohl Joschi als auch seine Schwester
ließen sich nicht den Hauch einer Ent-
täuschung anmerken.

152/171

background image

Joschi las aufmerksam die Anleitung des
Würfelspiels. „Das ist was für mich“, sagte
er. „Mogeln kann ich!“
Den neuen Schal legte er gleich um, setzte
die Mütze auf, zog die Handschuhe an, und
boxte wie ein Preisboxer in die Luft. „Jetzt
kann der Winter kommen. So schnell wird
mir nicht mehr kalt.“
Lara begutachtete interessiert den neuen
Rucksack. „Mann, der hat ja irre viele
Fächer!“
Sichtlich unruhig warteten die Eltern auf
ihre Reaktion, als sie das Paket mit der Jacke
öffnete.
Lara schlüpfte gleich hinein. „Passt!“ Sie
steckte die Nase in den Plüschkragen.
„Kuschelig!“
Die Mutter sah den Vater erleichtert an.

153/171

background image

Joschi zog seine Winterausrüstung wieder
aus. „Die zieh ich gleich morgen auf dem
Angerberg an. Sieht aus, als würde es heute
Nacht weiterschneien.“ Er zwinkerte seiner
Schwester zu.
„Ja“, sagte Lara. „Nur dumm, dass das
Christkind ausgerechnet das Snowboard ver-
gessen hat.

154/171

background image

10. Ein Weihnachtswunder

Das war das Stichwort.
Der Vater setzte sich auf. „Ich glaube, ich
muss euch etwas sagen.“ Er blickte seine
Frau hilfesuchend an.
Sie nickte ihm aufmunternd zu. „Die beiden
sind viel verständiger, als du gedacht hast.
Sag es ihnen!“

background image

Dann erzählte er, dass er seinen Job verloren
hatte und davon, dass sie in nächster Zeit
ziemlich sparen müssten. Als er sich alles
von der Seele geredet hatte, seufzte er. „Aber
da gibt es noch etwas, das sicher eine Ent-
täuschung für euch sein wird. Der Skiurlaub
fällt dieses Jahr ins Wasser.“
Lara und Joschi sprangen auf und setzten
sich neben ihn aufs Sofa.
Lara schlang ihre Arme um ihn. „Papa, wir
halten zusammen. Wir alle. Mama und Opa
und Joschi und ich.“
Der Großvater nickte ernst. „Das sind wirk-
lich keine guten Neuigkeiten. Aber was Lara
gesagt hat, stimmt: Zusammenhalt ist das
Wichtigste. Und man darf nie den Mut
verlieren.“

156/171

background image

Papa drückte die Zwillinge an sich. Sie fühl-
ten geradezu, wie er aufatmete. „Mir ist eben
ein riesiger Stein vom Herzen gefallen. Auf
einmal ist alles nicht mehr so schwer. Lasst
uns heute einfach nicht daran denken!“

Schließlich ging die Mutter hinaus und

kam mit dem gebrauchten Snowboard für
Joschi wieder.
„Das ist doch ganz prima zum Üben“, sagte
Joschi, als er es ausgepackt hatte. „Im näch-
sten Winter kann ich’s dann schon besser,
und bis dahin kann ich mir ja was zusam-
mensparen.“ Er schielte auf die Kuverts mit
Opas Weihnachtsgeld.
Die Mutter legte gleich schützend die Hand
darüber. „Das ist für eure Zukunft!“

157/171

background image

„Aber wir könnten Zeitungen austragen“,
meldete sich nun Lara zu Wort. „Das macht
Anna aus unserer Klasse auch. Ich frag sie
mal.“
„Und die alte Frau Lothar braucht im Som-
mer immer jemanden zum Rasenmähen“,
sagte Joschi.
„Was habe ich für kluge – wenn auch
geldgierige Kinder“, frotzelte Papa. Es war
das erste Mal seit langer Zeit, dass er einen
Spaß machte. Die Mutter lächelte erlöst.

Nachdem die Erwachsenen ihre kleinen

Geschenke ausgetauscht hatten, aßen sie
Mamas leckeres Weihnachtsessen.
„Heuer ist es nur ein Schweinebraten“,
entschuldigte sie sich, aber ich habe mir
Mühe gegeben.“

158/171

background image

„Mir schmeckt’s“, sagte Joschi und lud sich
eine dicke Scheibe Fleisch auf.
„Und mir schmeckt’s heute auch endlich
wieder“, sagte Papa. „Wir haben uns solche
Sorgen gemacht, dass ihr mit den Geschen-
ken nicht zufrieden seid.“
„Geschenke schind gar nisch scho wischtig“,
sagte Lara mit vollem Mund.
Ihre Mutter hob die Augenbrauen.
„Tischmanieren aber schon!“
Nach dem Essen räumten die Zwillinge den
Tisch ab. – Die Mutter hatte gleich heute
einen ihrer Gutscheine eingelöst. Dann
saßen alle um den Couchtisch.
„Was haltet ihr davon, wenn wir heuer mal
alle zusammen die Mette besuchen?“, fragte
der Großvater.

159/171

background image

„Ich würde aber gern noch das Würfelspiel
ausprobieren, bis die Mette anfängt“, sagte
Joschi.
Die Eltern nickten sich zu. „Gut“, sagte
Mama. „Erst spielen wir und dann gehen wir
alle zusammen zur Kirche rüber. Wir sind
seit Jahren nicht mehr in der Christmette
gewesen.“
Dann tranken sie Weihnachtspunsch, aßen
Plätzchen und würfelten. Man musste gut
bluffen können, um Punkte zu sammeln. Der
Großvater war ein lausiger Schummler. Er
wurde dabei immer rot oder verhaspelte
sich. Umgekehrt ließ er sich aber andauernd
reinlegen, was ihm natürlich den Spott der
anderen einbrachte. Sogar der Vater lachte
ein paar Mal herzhaft. Am Ende hatte der

160/171

background image

Großvater haushoch verloren, während Jos-
chi am besten dastand.
Der alte Herr stöhnte auf. „Wie kommt ein
so grundehrlicher Mann wie ich nur zu so
einem hinterlistigen Enkel?“
Dann stand die Mutter auf. „Ich glaube, wir
sollten langsam los, sonst bekommen wir in
der Kirche keinen Platz mehr.“
Joschi warf sich in seine neue Winterausrüs-
tung und Lara schlüpfte in ihre neue Jacke.
Es schneite noch. Es schneite sogar viel
heftiger als tagsüber. Joschi und Lara hoben
die Köpfe, und versuchten mit der Zunge
Flocken zu fangen. Dann hielten sie sich an
den Händen und schlitterten die kurze
Strecke bis zur Kirche, deren hell erleuchtete
Glasfenster zauberhaft bunte Lichtspiele auf
den kleinen Vorplatz warfen.

161/171

background image

Eng umschlungen kamen die Eltern den
Zwillingen nach. Dahinter folgte, vorsichtig
auf seine Schritte achtend, der Großvater.
Von überall her kamen Leute, Nachbarn,
Bekannte, Fremde, alle wünschten sich fröh-
liche Weihnachten. Gerade als Lara den Fuß
über die Kirchenschwelle setzte, dröhnten
die Glocken los.
Plötzlich spitzten die Zwillinge die Ohren.
Ihnen war, als hörten sie von ganz weit her
das seelenvolle Stille Nacht der Spieldose.
Joschi sah seine Schwester verwirrt an. „Die
Spieldose!“, raunte er.
Schweigend betrat die Familie den Mittel-
gang. Viele Reihen waren schon besetzt.
Aber dann fanden sie doch noch genügend
Plätze für alle.

162/171

background image

Zwei gewaltige Christbäume standen rechts
und links des Altars, auf dem lange Kerzen
brannten. Davor lag in einer Krippe ein Je-
suskind von der Größe eines echten Babys.
Wie benommen setzten sich Lara und Joschi
zwischen den Großvater und die Eltern.
Überschallt vom Ruf der Metteglocken,
wiederholte sich in ihren Köpfen wieder und
wieder der zarte Klang der Spieldose. Bilder
tauchten auf. Alles was sie erlebt hatten:
Bilder von Luise und Minchen und Karl, von
dem Kellerraum und der glücklichen
Heimkehr von Karls Vater. Ganz versunken
in ihre Gedanken, bemerkten sie nicht, dass
plötzlich jemand ihrem Vater auf die Schul-
ter klopfte.

163/171

background image

Der Vater drehte sich erstaunt um. Ein

alter Schulfreund beugte sich zu ihm vor.
„Ich hab gehört, dass deine Firma dicht
gemacht hat“, flüsterte er. „Der Betrieb, in
dem ich arbeite, sucht gerade solche Fach-
kräfte wie dich. Frag doch nach den Feiert-
agen mal nach!“
„Psst!“ Eine alte Frau warf den beiden einen
vorwurfsvollen Blick zu.
Der Vater schlug für einen Moment die
Hände vors Gesicht. Dann atmete er tief
durch. „Danke!“, sagte er. Aber da hatte sich
der Schulfreund schon zurückgelehnt.
„Was ist los?“, fragte die Mutter leise.
„Es gibt Hoffnung“, raunte er ihr zu.
Die Mutter drückte seine Hand. „Ein
Weihnachtswunder?“
Der Vater atmete tief durch. „Vielleicht …“

164/171

background image

Mit dem letzten Glockenschlag setzte die
Orgel ein. Nach einem kurzen Vorspiel sang
die Gemeinde mit. „Stille Nacht, heilige
Nacht …“
„Hörst du die Spieldose plötzlich auch nicht
mehr?“, flüsterte Lara ihrem Bruder zu.
Joschi, der bereits mitsang, hielt für einen
Moment inne und sah sie verständnislos an.
„Welche Spieldose?“
Lara runzelte die Stirn. Sie versuchte, sich zu
erinnern. Aber ihr fiel einfach nicht mehr
ein, woran.
Das Orgelspiel und der Gesang der Ge-
meinde nahmen sie mit einem Mal ganz ge-
fangen. Was für eine seltsame Kraft von
diesem Lied ausging! Glücklich sah sie zu
ihrem Vater hoch. Er lächelte sie an und hielt
ihr das Gesangbuch hin.

165/171

background image

… durch der Engel Halleluja,
tönt es laut von fern und nah:
Christ der Retter, ist da!

166/171

background image

Impressum

Endres, Brigitte

Die Weihnachtszeitmaschine

ISBN 978-3-936744-41-6

© 2014 by Libelli-Verlag, Fuldatal
Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzun-
gen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung,
Speicherung oder Übertragung werden zvil-
oder strafrechtlich verfolgt.

Gebundene Ausgabe erschienen bei Pattloch
Geschenkbuch (Verlagsgruppe Droemer
Knaur)
1. Auflage 2007)

background image

ISBN-13: 978-3629014047

168/171

background image

Inhalt

Autorenvita
Buchinfo
Impressum
1. Ein komisches Gefühl …
2. Ein missglückter Weihnachtsabend
3. Ein phantastisches Abenteuer
4. Eine gute Nachricht

background image

5. Luises schönstes Weihnachtsfest
6. Eine neue Bekanntschaft
7. Karls Weihnachtsgeschenk
8. Ein funkelnagelneuer Weihnachtstag
9. Gutscheine und Weihnachtsfreude
10. Ein Weihnachtswunder

170/171

background image

@Created by

PDF to ePub


Document Outline


Wyszukiwarka

Podobne podstrony:
Der Spiegel, Focus, Die Zeit
Armin Täubner Die Mäuse Weihnacht Fensterbilder aus Tonkarton
Armin Täubner Die Mäuse Weihnacht Fensterbilder aus Tonkarton
Bots, Dennis Hotel 13 03 Wettlauf gegen die Zeit
Die erste Weihnachtsgeschichte
Am Weihnachtsbaum die Lichter brennen
Akte X Stories Band 11 Die Maschine
Hohlbein, Wolfgang Nemesis 01 Die Zeit Vor Mitternacht
Hohlbein, Wolfgang Nemesis 1 Die Zeit vor Mitternacht
Die Baudenkmale in Deutschland
Weihnachtswunder
Brecht, Bertolt Die drei Soldaten
Einfuhrung in die tschechoslowackische bibliographie bis 1918, INiB, I rok, II semestr, Źródła infor
Dave Baker Die lachende Posaune SoloPolka für Posaune
68 979 990 Increasing of Lifetime of Aluminium and Magnesium Pressure Die Casting Moulds by Arc Ion
Die uświadomiony, Fan Fiction, Dir en Gray
Die Negation tworzenie przeczen, ✔ GRAMATYKA W OPISIE OD A DO Z
Great Architects of International Finance Endres 2005
Die, Slayers fanfiction, Oneshot

więcej podobnych podstron