Bourdieu Pierre Uber das Fernsehen

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Dieses eBook ist nicht seitenkonkordant zur angegebenen Ausgabe, das

Layout wurde jedoch – sofern dies möglich war – beibehalten. Fußnoten

wurden an ihrer im Original angegebenen Stelle eingefügt. Optimiert

für doppelseitige Anzeige. Vielen Dank an DubSchmitz für die Korrek-

tur.

– Bernd, Juni 

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edition suhrkamp 

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Das Buch von Pierre Bourdieu über das Fernsehen und dessen Wirkungs-

weise war selbst ein Fernsehereignis.

Der Autor hielt zwei Vorlesungen am Collège de France über Struktur und

Wirkung des Fernsehens, die vom Fernsehen ausgestrahlt wurden. In der

ersten Vorlesung stellte er die unsichtbaren Zensurmechanismen heraus, die

auf dem Bildschirm gelten, und deckte damit die Geheimnisse der Kunst-

produkte dieses Mediums auf, ihre Bilder und Formulierungen. In der zwei-

ten Vorlesung erklärte Pierre Bourdieu, in welcher Weise das Fernsehen, das

eine zentrale Stellung innerhalb des Journalismus besetzt, den Charakter

der Diskurse beeinflußt und verändert hat: in der bildenden Kunst, Litera-

tur, Philosophie und Politik, ja selbst in Jurisdiktion und Wissenschaft - und

zwar dadurch, daß auch auf diese Gebiete teilweise die Logik der Einschalt-

quoten übergegriffen und die demagogische Unterwerfung unter die Erfor-

dernisse des kommerziellen Plebiszits stattgefunden hat. Pierre Bourdieu

war Professor am Collège de France. Er verstarb am . Januar . Von

ihm liegen im Suhrkamp Verlag vor: Homo academicus (stw ); Die feinen

Unterschiede (stw ); Rede und Antwort (es ); Die politische Ontologie

Martin Heideggers (es ); Sozialer Raum und »Klassen« (stw ); Sozialer

Sinn (stw ); Soziologische Fragen (es ); Zur Soziologie der symbolischen

Formen (stw ); Praktische Vernunft (es ); Reflexive Anthropologie (zu-

sammen mit Loic J. D. Wacquant).

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Pierre Bourdieu

Über das Fernsehen

Aus dem Französischen

von Achim Russer

Suhrkamp

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Titel der Originalausgabe:

Sur la télévision.

Das Buch erschien als Band 

der von Pierre Bourdieu herausgegebenen Reihe

»Liber - Raison d‘agir«.

edition suhrkamp 

Erste Auflage  © Liber - Raison d‘agir 

© der deutschen Ausgabe

Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das

des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen,

auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form

(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)

ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert

oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet,

vervielfältigt oder verbreitet werden.

Satz: Jung Satzcentrum, Lahnau

Druck: Nomos Verlagsgesellschaff, Baden-Baden

Umschlag gestaltet nach einem Konzept

von Willy Fleckhaus: Rolf Staudt

Printed in Germany

      -      

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Inhalt

Zwei Fernsehvorträge

9

Vorbemerkung

10

Das Fernsehstudio und seine Kulissen 15

Die unsichtbare Struktur und ihre Auswirkungen

51

Angaben zu den beiden Fernsehvorträgen

90

Im Banne des Journalismus 97

Die Olympischen Spiele

115

Nachwort

Journalismus und Politik

121

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Zwei Fernsehvorträge

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Vorbemerkung

1

Um über die übliche Hörerschaft des Collège de France

hin-

aus eine breitere Öffentlichkeit zu erreichen, habe ich mich

entschlossen, die beiden folgenden Vorträge im Fernsehen

zu zeigen. Ich bin nämlich der Auffassung, daß das Fernse-

hen aufgrund der unterschiedlichen Mechanismen, die ich

kurz beschreiben werde – eine vertiefte, systematische Un-

tersuchung hätte viel mehr Zeit erfordert –, für verschiede-

ne Sphären der kulturellen Produktion, für Kunst, Literatur,

Wissenschaft, Philosophie, Recht, eine sehr große Gefahr

bedeutet; ich meine sogar, daß es in Gegensatz zu dem, was

gerade verantwortungsbewußte Journalisten vermutlich in

gutem Glauben denken und sagen, eine nicht weniger gro-

ße Gefahr für das politische und demokratische Leben dar-

stellt. Ich könnte das leicht nachweisen, wenn ich mir die

Behandlung vornähme, die das Fernsehen und in seinem

 Dieser Text stellt die überarbeitete Transkription der Aufzeichnung

zweier Fernsehsendungen dar, die am . März  im Rahmen einer

Reihe vom Collège de France produzierter und vom Privatsender Paris

Premiere im Mai  ausgestrahlter Kurse entstanden (Sur la television

und Le champ journalistique et la télévision, Collège de FranceCNRS

audiovisuel). Der anschließende Text (der ursprünglich ein dem Einfluß

des Fernsehens gewidmetes Heft der Actes de la recherche en sciences socia-

les einleitete) resümiert die ematik der Vorträge in stärker begrifflich

orientierter Sprache.

 Das  gegründete Collège de France stellt heute den Gipfel der in-

stitutionalisierten Wissenschaft m Frankreich dar, ein Pantheon von

Nobelpreisträgern (in den Naturwissenschaften) und anderer Leuchten

ihres jeweiligen Faches. Seit  hat Pierre Bourdieu hier den Lehrstuhl

für Soziologie inne. (A. d. Ü.)

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Gefolge die Presse um der Steigerung von Einschaltquoten

und Auflagen willen den Urhebern von fremdenfeindlichen

und rassistischen Äußerungen und Taten angedeihen las-

sen, oder die Zugeständnisse aufzeigte, die es tagtäglich

einer national beschränkten, um nicht zu sagen nationalis-

tischen Auffassung von der Politik macht. Für den Fall, daß

ich verdächtigt werde, ausschließlich französische Beson-

derheiten hochzuspielen, möchte ich auf die tausend patho-

logischen Züge des amerikanischen Fernsehens verweisen,

etwa auf die Behandlung des Prozesses gegen O.J. Simpson

in den Medien oder darauf, wie kürzlich eine simpler Fall

von Totschlag zum »Sexualverbrechen« aufgebauscht und

damit eine ganze Reihe unkontrollierbarer juristischer

Konsequenzen ausgelöst wurde. Am besten aber werden die

durch schrankenlosen Wettbewerb um die Einschaltquote

ausgelösten Gefahren von dem Vorfall illustriert, der sich

kürzlich zwischen Griechenland und der Türkei ereignete:

Nachdem ein privater Fernsehsender zur Mobilisierung

für das winzige, unbewohnte Eiland Imia aufgerufen und

entsprechende kriegerische Parolen verlautbart hatte, zogen

die anderen privaten Fernseh- und Rundfunkanstalten in

Griechenland nach und überboten sich, gefolgt von der

Tagespresse, in nationalistischen Delirien; aufgrund dersel-

ben Logik der Schlacht um die Einschaltquote legten sich

daraufhin die türkischen Fernsehanstalten und Zeitungen

ins Zeug. Griechische Soldaten landeten auf dem Inselchen,

Flottenverbände wurden verlagert, ein Krieg mit knapper

Not vermieden. Vielleicht liegt das Neue an den Explosio-

nen von Fremdenhaß und Nationalismus in der Türkei und

in Griechenland, aber auch im ehemaligen Jugoslawien, in

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Frankreich und andernorts wesentlich allein in den von

den modernen Kommunikationsmitteln gebotenen Mög-

lichkeiten, diese primitiven Leidenschaften auszubeuten.

Da ich meinen Kurs als Eingriff konzipierte, habe ich

mich bemühen müssen, dem zu entsprechen, was ich mir

vorgenommen hatte, und mich so auszudrücken, daß je-

dermann mich verstehen konnte. Dies hat mich in mehr

als einem Fall zu Vereinfachungen oder approximativen

Ausführungen gezwungen. Um das Wesentliche, das heißt

das gesprochene Wort, in den Vordergrund zu rücken, habe

ich mich im Einvernehmen mit dem Produzenten und im

Unterschied von (oder in Gegensatz zu) dem, was sonst im

Fernsehen gang und gäbe ist, entschlossen, alle formalen

Spielereien bei Bildeinstellung oder Aufnahmetechnik zu

meiden und auch auf Illustrationen – Auszüge aus Sendun-

gen, Faksimiles von Dokumenten, Statistiken usw. – zu

verzichten: Sie hätten nicht nur kostbare Zeit in Anspruch

genommen, sondern womöglich auch die Linie argumen-

tierender Beweisführung verwischt, an die ich mich halten

wollte. Der Kontrast zu dem gewöhnlichen Fernsehen, dem

Gegenstand der Untersuchung, und zwar im Sinne einer

Selbstbehauptung des analytischen und kritischen Dis-

kurses, war gewollt, mochte er auch die pedantischen und

schwerfälligen, didaktischen und dogmatischen Züge einer

professoralen Vorlesung annehmen. Wie es heißt, wird bei

politischen Diskussionen in den Vereinigten Staaten darauf

geachtet, daß die Wortmeldungen sieben Sekunden in der

Regel nicht überschreiten. Angesichts solcher Tendenzen

bleibt die auf Argumenten aufgebaute öffentliche Rede eine

der verläßlichsten Formen des Widerstands gegenüber Ma-

nipulation und ein Ausdruck von Gedankenfreiheit.

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Ich weiß wohl, daß die Kritik durch den Diskurs, auf die

ich mich beschränken muß, nichts weiter als ein Notbehelf

ist, ein Substitut, und weniger effizient und unterhaltsam

als eine echte Kritik des Bildes durch das Bild, wie man sie

hier und da findet, von Jean-Luc Godard (in Tout va bien,

Ici et ailleurs oder Comment ça va) bis hin zu Pierre Carles.

Ich weiß auch, daß, was ich tue, die Fortsetzung und Er-

gänzung des Kampfes darstellt, den alle um die »Unabhän-

gigkeit ihres Kommunikationskodes« bemühten Film- und

Fotoproduzenten führen, insbesondere – ich muß ihn noch

einmal zitieren – Jean-Luc Godard, dessen Analyse einer

Fotografie Joseph Krafts und ihrer Verwendung ein Muster

kritischer Reflexion über Bilder darstellt. Und ich könnte

mein eigenes Programm mit den Worten dieses Regisseurs

formulieren: »Die Arbeit bestand darin, sich politisch (ich

würde sagen: soziologisch) mit Bildern und Tönen und

ihren Beziehungen auseinanderzusetzen. Sie bestand darin,

nicht mehr zu sagen: >Das ist ein genaues Bild<, sondern:

>Das ist genau genommen ein Bild<; nicht mehr zu sagen:

>Das ist ein Offizier der Nordstaaten auf einem Pferd<, son-

dern: >Das ist ein Bild eines Pferdes und eines Offiziers<.«

Ohne mich allzu großen Illusionen hinzugeben, möchte

ich wünschen, daß meine Untersuchungen nicht als »An-

griffe« gegen die Journalisten und das Fernsehen aufgefaßt

würden, zu denen mich irgendeine nostalgische Sehnsucht

nach einem Kulturfernsehen im Stil der »Télé Sorbonne« frü-

herer Zeiten triebe, oder auch eine ebenso sterile wie regres-

sive Ablehnungshaltung gegenüber dem, was das Fernsehen

zum Beispiel durch die Ausstrahlung mancher Reportagen

trotz allem zustande bringt. Obwohl ich alle Gründe habe

zu befürchten, daß meine Untersuchungen vor allem die

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narzißtische Selbstgefälligkeit eines Journalismus bedienen,

der dazu neigt, sich selbst in pseudokritischer Haltung zu

beäugen, hoffe ich, denen Werkzeuge oder Munition zu

liefern, die in diesem Bereich dafür kämpfen, daß, was ein

hervorragendes Instrument direkter Demokratie hätte wer-

den können, sich nicht endgültig in ein Mittel symbolischer

Unterdrückung verwandle.

Zusatz des Übersetzers

Die in den folgenden Fernsehvorträgen genannten Grö-

ßen der Medienszene kennt in Frankreich jedes Kind; sie

bedurften daher so wenig einer Vorstellung wie etwa ein

Reich-Ranicki oder ein Rudolf Augstein in Deutschland.

Jenseits der Landes-(und Sprach-)Grenzen sind die meisten

von ihnen dafür um so unbekannter. Dem Übersetzer er-

schien es daher angebracht, das Literaturverzeichnis zu den

Vorträgen um ein Personenverzeichnis zu ergänzen, das

den deutschsprachigen Lesern mindestens eine umrißhafte

Vorstellung von den erwähnten Mediengrößen vermittelt:

weniger, weil es um sie als Individuen ginge (das Gegenteil

ist der Fall), als weil ihre publizistische Machtstellung für

die anderer Mediengewaltigen in anderen Ländern stehen

mag. Siehe S. ff.

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Erster Vortrag

Das Fernsehstudio und seine Kulissen

Ich möchte hier im Fernsehen eine Reihe von Fragen zum

Fernsehen aufwerfen. Eine etwas paradoxe Absicht, denn

ich glaube nicht, daß man im Fernsehen viel sagen kann,

zumal nicht über das Fernsehen. Wenn es aber wahr ist,

daß man im Fernsehen nichts sagen kann, sollte ich dann

nicht mit vielen der größten Intellektuellen, Künstler und

Schriftsteller daraus den Schluß ziehen, es gar nicht erst zu

versuchen?

Mir scheint, man braucht diese krasse Alternative »alles

oder nichts« nicht hinzunehmen. Ich glaube, es ist wich-

tig, im Fernsehen zu sprechen – aber unter bestimmten

Voraussetzungen. Dank der audiovisuellen Abteilung des

Collège de France verfüge ich heute über ganz außergewöhn-

liche Voraussetzungen: Erstens ist meine Redezeit nicht

begrenzt; zweitens zwingt mir niemand ein ema auf

(ich habe mich selbst dafür entschieden und kann meine

Entscheidung immer noch umstoßen); drittens sitzt nicht,

wie in den üblichen Sendungen, jemand da, der mich im

Namen der Technik, der »Zuschauer-denen-man-erklären-

muß«, der Moral, der Schicklichkeit usw. zur Ordnung

ruft. Also eine ganz ungewöhnliche Situation, besitze

ich doch, um mich altmodisch auszudrücken, eine ganz

unübliche Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel.

Indem ich unterstreiche, was meine Voraussetzungen an

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Außergewöhnlichem haben, sage ich schon etwas über die

gewöhnlichen Voraussetzungen, unter denen man sonst im

Fernsehen sprechen muß.

Warum aber, wird man einwenden, wird trotz allem

akzeptiert, unter den gewöhnlichen Voraussetzungen in

Fernsehsendungen aufzutreten? Eine sehr wichtige Frage,

und trotzdem wird sie von der Mehrzahl der Forscher, der

Wissenschaftler, der Schriftsteller, die an solchen Sendun-

gen teilnehmen, nicht gestellt – von den Journalisten ganz

zu schweigen. Daß diese Frage nicht gestellt wird, muß

man, wie mir scheint, unbedingt in Frage stellen. Meines

Erachtens verrät derjenige, der eine solche Teilnahme ak-

zeptiert, ohne sich die Frage zu stellen, ob er überhaupt et-

was wird sagen können, deutlich, daß er nicht kommt, um

etwas zu sagen, sondern aus ganz anderen Gründen, und

zwar: vor allem um sich zu zeigen und gesehen zu werden.

«Sein«, sagt Berkeley, »ist wahrgenommen werden.« Für

manche unserer Philosophen (und unserer Schriftsteller)

ist Sein: im Fernsehen wahrgenommen werden, von den

Journalisten wahrgenommen werden, von ihnen, wie man

so sagt, gern gesehen werden (was zahlreiche Kompromisse

und Kompromittierungen mit sich bringt) – und tatsäch-

lich können sie kaum davon ausgehen, durch ihr Werk auf

Dauer zu existieren, so daß sie sich gezwungen fühlen, so

oft wie möglich auf dem Bildschirm zu erscheinen, also in

regelmäßigen und möglichst kurzen Abständen Schriften

zu publizieren, die, wie Gilles Deleuze bemerkt hat, haupt-

sächlich verfaßt werden, um deshalb Einladungen zu Fern-

sehsendungen zu erhalten,

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Diese Präambel erscheint vielleicht ein wenig lang, aber

ich finde es wirklich wünschenswert, daß die Künstler,

Schriftsteller und Wissenschaftler sich ausdrücklich – und

womöglich gemeinsam, damit nicht jeder es nur mit sich

selbst abmachen muß – die Frage stellen, ob man Einla-

dungen zu Fernsehsendungen annimmt oder nicht, ob man

Bedingungen damit verbindet oder nicht, usw. Mir liegt

sehr daran (mag dies auch ein Wunschtraum bleiben), daß

sie dieses Problem angehen, und zwar gemeinsam, daß sie

Verhandlungen mit Fachjournalisten und anderen aufzu-

nehmen versuchen, um zu einer Art vertraglicher Abma-

chung zu gelangen. Selbstverständlich geht es nicht darum,

die Journalisten zu verurteilen oder zu bekämpfen, die unter

den Zwängen, die auszuüben sie genötigt sind, häufig ge-

nug selbst leiden. Ganz im Gegenteil: Es geht darum, sie an

Überlegungen zu beteiligen, die darauf abzielen, Mittel zur

gemeinsamen Überwindung der bedrohlichen Instrumen-

talisierung ausfindig zu machen.

Die schlichte, Weigerung, sich überhaupt im Fernsehen

zu äußern, scheint mir nicht vertretbar. Ich denke sogar,

daß man in bestimmten Fällen förmlich dazu verpflichtet

ist – allerdings müssen vernünftige Voraussetzungen dafür

gegeben sein. Bei der Entscheidung ist das Spezifische des

Instruments Fernsehen in Rechnung zu stellen. Wir haben

es hier mit einem Instrument zu tun, das jedenfalls theore-

tisch die Möglichkeit gibt, jedermann zu erreichen. Daher

sind ein paar Vorfragen zu berücksichtigen: Geht das, was

ich zu sagen habe, jeden an? Bin ich bereit, meine Rede

formal so zu gestalten, daß alle sie verstehen? Verdient sie,

von allen verstanden zu werden? Mehr noch: Soll sie über-

haupt von allen verstanden werden? Eine Aufgabe gerade

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der Forscher und Wissenschaftler – und vor allem vielleicht

der Sozialwissenschaftler – besteht darin, die Erträge ih-

rer Forschung allen zugänglich zu machen. Wir sind, wie

Husserl sagte, »Beamte der Menschheit«, vom Staat bezahlt,

um etwas aus dem Bereich der Natur oder der Gesellschaft

ans Licht zu bringen, und es gehört, wie mir scheint, zu

unseren Verpflichtungen, das Entdeckte offenzulegen. Ich

habe mich immer bemüht, die Frage der Teilnahme oder

Nichtteilnahme an einer Sendung von der Beantwortung

dieser Vorfragen abhängig zu machen, und würde mir wün-

schen, daß alle, die vom Fernsehen eingeladen werden, sie

sich stellen oder nach und nach verpflichtet werden, sie sich

zu stellen, weil die Zuschauer und Fernsehkritiker sich fra-

gen, sobald einer von ihnen auf dem Bildschirm erscheint:

Hat er etwas zu sagen? Sind die Voraussetzungen so, daß er

sich verständlich machen kann? Verdient das, was er sagt,

hier geäußert zu werden? Mit einem Wort: Was macht er

da eigentlich?

Eine unsichtbare Zensur

Um auf das Wesentliche zurückzukommen: Ich habe zu

Anfang vorgebracht, daß mit dem Auftritt auf dem Bild-

schirm eine regelrechte Zensur verbunden ist, ein Verlust an

Autonomie, was unter anderem daran liegt, daß das ema

und die Voraussetzungen vorgegeben sind, unter denen

etwas mitgeteilt werden kann, und vor allem, daß die be-

schränkte Redezeit derart einengt, daß sehr wahrscheinlich

gar nichts gesagt werden kann. Man wird von mir erwarten,

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daß ich diese Zensur, der nicht nur die Studiogäste unterlie-

gen, sondern auch die Journalisten, die mit dazu beitragen,

daß sie ausgeübt wird, politisch nenne. Tatsächlich gibt es

politische Eingriffe, gibt es politische Kontrolle (nament-

lich vermittels der Besetzung von Führungspositionen);

und gewiß ist vor allem in Zeiten wie der heutigen, in der

eine Reservearmee für die Fernseh- und Rundfunkmetiers

in Bereitschaft steht und eine sehr große Stellenunsicher-

heit herrscht, die Neigung zu politischem Konformismus

groß. Noch bevor man sie zur Ordnung rufen muß, beugen

sich die Menschen, einer bewußten oder unbewußten Form

von Selbstzensur.

Es existieren daneben ökonomische Zensurinstanzen.

Tatsächlich geben letzten Endes ökonomische Zwänge beim

Fernsehen den Ausschlag. Aber man darf sich nicht damit

begnügen zu sagen, daß die Vorgänge bei den Fernsehsen-

dern von den Leuten bestimmt werden, die sie besitzen, von

den Firmen, die dort Werbespots bezahlen, vom Staat, der

Subventionen vergibt. Wenn man von einem Fernsehkanal

nichts wüßte als den Namen des Eigentümers, den Anteil

der unterschiedlichen Werbeeinblendungen am Budget und

die Höhe der Subventionen, verstünde man noch nicht viel.

Dennoch ist es nicht unwichtig, an diese Zusammenhänge

zu erinnern. Es ist nicht belanglos zu wissen, daß NBC der

General Electric gehört (was heißt, daß bei eventuellen Inter-

views mit Anrainern von Atomkraftwerken wahrscheinlich

... und übrigens würde niemand auf die Idee kommen...),

daß CBS Westinghouse gehört, daß ABC Disney gehört und

TF Bouygues gehört, was über eine ganze Reihe von Ver-

mittlungsschritten durchaus seine Folgen hat. Klarerweise

wird eine französische Regierung, die weiß, daß TF für

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Bouygues steht, bestimmte Schritte gegen Bouygues nicht

unternehmen. Hinter diesen altbekannten, abgeklapperten

Tatsachen, die noch die primitivste Kritik wahrnimmt, ver-

stecken sich aber anonyme, unsichtbare Mechanismen, über

die auf vielerlei Art eine Zensur ausgeübt wird, die aus dem

Fernsehen ein phantastisches Instrument zur Aufrechter-

haltung der symbolischen Ordnung macht.

Hier muß ich einen Moment innehalten. Soziologische

Analysen rufen oft ein Mißverständnis hervor: Wer selbst

zum Untersuchungsgegenstand gehört – in diesem Fall die

Journalisten -, neigt dazu, das Aussprechen, das Entschlei-

ern von Mechanismen als ein gegen Personen gerichtetes

Denunzieren aufzufassen, als »Angriffe«, wie man so sagt,

als persönliche, ad hominem geführte Attacken (dabei

bräuchte der Soziologe nur ein Zehntel von dem zu zi-

tieren, was er hört, wenn er mit Journalisten spricht, über

die lukrativen Einladungen z. B., die sie ihrer Bekanntheit

verdanken, oder über das zu Recht so genannte »Fabrizie-

ren« von Sendungen, um von denselben Journalisten der

Parteilichkeit und des Mangels an Objektivität bezichtigt

zu werden). Die Menschen mögen es im allgemeinen nicht,

als Objekte aufgefaßt, objektiviert zu werden, und die Jour-

nalisten mögen es weniger als irgendeiner. Sie fühlen sich

als Zielscheibe, aufgespießt, wo doch die Untersuchung

eines Milieus, je weiter sie fortschreitet, die Beteiligten von

ihrer Verantwortlichkeit losspricht – was nicht heißt, daß

man alles entschuldigt; und je besser man versteht, wie es

funktioniert, um so besser versteht man auch, daß die Be-

teiligten manipuliert sind und Manipulatoren zugleich. Sie

manipulieren sogar sehr oft um so besser, wenn sie selbst

manipuliert sind, ohne es zu wissen. Ich hebe diesen Punkt

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hervor, obwohl ich weiß, daß, was ich sage, trotz allem als

persönliche Kritik aufgefaßt werden wird – eine Reaktion,

mit der man sich auch eine Analyse vom Leibe halten kann.

Ich glaube sogar, daß das Hochspielen von Skandalen, von

Taten und Untaten dieses oder jenes Moderators oder der

exorbitanten Bezüge bestimmter Fernsehproduzenten in-

sofern dazu beitragen kann, vom Wesentlichen abzulenken,

als die Korruptheit von Personen jene strukturelle Korrupt-

heit maskiert (darf man da aber noch von Korruptheit spre-

chen?), die über Mechanismen wie den Kampf um Markt-

anteile das gesamte Spiel beeinflußt und die ich versuchen

will zu analysieren.

Ich möchte also eine Reihe von Mechanismen ausein-

andernehmen, die dazu führen, daß das Fernsehen eine

besonders schädliche Form symbolischer Gewalt darstellt.

Die symbolische Gewalt ist eine Gewalt, die sich der still-

schweigenden Komplizität derer bedient, die sie erleiden,

und oft auch derjenigen, die sie ausüben, und zwar in dem

Maße, in dem beide Seiten sich dessen nicht bewußt sind,

daß sie sie ausüben oder erleiden. Aufgabe der Soziologie

wie aller Wissenschaften ist es, Verborgenes zu enthüllen;

sie kann daher dazu beitragen, die symbolische Gewalt in-

nerhalb der sozialen Beziehungen zu verringern, und ganz

besonders in den von der Medienkommunikation geprägten

Beziehungen.

Nehmen wir den einfachsten Fall: die sogenannten

»Vermischten Meldungen«, seit jeher der Tummelplatz der

Sensationspresse. Blut und Sex, Tragödien und Verbrechen

haben immer schon Verkaufsziffern in die Höhe getrieben,

und so mußte die Diktatur der Einschaltquote derartige

Ingredienzien an die vorderste Stelle, an den Beginn der

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Fernsehnachrichten spülen, die früher ausgeklammert oder

auf die hinteren Ränge verwiesen wurden, weil man sich

bemühte, nach dem Vorbild der seriösen Tagespresse als

respektabel zu erscheinen. Die »Vermischten Meldungen«

sind aber auch die Meldungen, die alles vermischen. Das

Grundprinzip von Zauberern besteht darin, die Aufmerk-

samkeit auf etwas anderes zu lenken als auf das, was sie

gerade tun. Die symbolische Aktion des Fernsehens zum

Beispiel auf der Ebene der Nachrichten besteht darin,

die Aufmerksamkeit auf Dinge zu lenken, die alle Welt

interessieren, die omnibus – für alle – da sind. Omnibus-

Meldungen sind solche, die, wie es heißt, niemanden

schockieren dürfen, bei denen es um nichts geht, die nicht

spalten, die Konsens herstellen, die alle interessieren, aber

so, daß sie nichts Wichtiges berühren. Die »Vermischte

Meldung« stellt jenen Grundbaustein der Nachrichten

dar, der sehr wichtig, weil für alle von Interesse ist, ohne

zu irgendwelchen Konsequenzen Anlaß zu geben, und der

Zeit beansprucht, Zeit, die dazu verwendet werden könnte,

über andere Dinge zu sprechen. Zeit aber ist im Fernsehen

ein äußerst knappes Gut. Und wenn wertvolle Minuten

verschleudert werden, um derart Unwichtiges zu sagen, so

deswegen, weil diese unwichtigen Dinge in Wirklichkeit

sehr wichtig sind, und zwar insofern, als sie Wichtiges ver-

bergen. Ich hebe dies hervor, weil wir aus anderen Untersu-

chungen wissen, daß weite Teile der Bevölkerung keinerlei

Tageszeitung lesen, daß sie dem Fernsehen als einziger

Informationsquelle völlig ausgeliefert sind. Das Fernsehen

hat eine Art faktisches Monopol bei der Bildung der Hirne

eines Großteils der Menschen. Legt das Fernsehen den

Akzent auf die »Vermischten Meldungen«, so füllt es die

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Zeit mit Leere, mit nichts oder fast nichts, und klammert

relevante Informationen aus, über die der Staatsbürger zur

Wahrnehmung seiner demokratischen Rechte verfügen

sollte. Damit ist die Tendenz zu einer Spaltung gegeben,

einer Spaltung zwischen denen, die die sogenannte seriöse

Presse lesen können (soweit diese angesichts der Konkur-

renz des Fernsehens seriös bleibt), die zur internationalen

Presse, zu fremdsprachigen Rundfunknachrichten Zugang

haben auf der einen Seite – und auf der anderen Seite denen,

deren ganzes politisches Rüstzeug in den vom Fernsehen

gelieferten Nachrichten, also in fast gar nichts besteht (ab-

gesehen von der Information, die im puren Kennenlernen

der meistgezeigten Männer und Frauen besteht, im Kennen

ihrer Gesichter, ihrer Ausdrucksweisen, Dingen, die noch

die kulturell Hilflosesten entziffern können – wodurch ih-

nen übrigens große Teile des politischen Führungspersonals

suspekt werden).

Verstecken durch Zeigen

Ich habe bisher den Akzent auf das Offensichtlichste ge-

legt. Jetzt möchte ich zu etwas weniger Offensichtlichem

übergehen und darlegen, wie das Fernsehen paradoxerweise

verstecken kann, indem es zeigt, etwas anderes zeigt, als es

zeigen müßte, wenn es täte, was es angeblich tut, nämlich

informieren; oder auch, indem es zeigt, was gezeigt werden

muß, aber so, daß man es nicht zeigt oder bedeutungslos

macht oder so konstruiert, daß es einen Sinn annimmt, der

mit der Wirklichkeit nichts zu tun hat.

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Dafür möchte ich zwei Beispiele anführen, die ich Ar-

beiten von Patrick Champagne entnehme. In dem Buch

La misère du monde hat Patrick Champagne ein Kapitel der

publizistischen Verarbeitung der sogenannten Banlieue-

Phänomene gewidmet, dem Bild, das die Medien von den

proletarischen Wohnvierteln am Rand französischer Groß-

städte liefern. Er zeigt, wie Journalisten aufgrund der ihrem

Beruf immanenten Tendenzen, ihrer Weltsicht, ihrer Aus-

bildung, ihrer Einstellungen, aber auch aufgrund der Logik

ihres Gewerbes aus jener besonderen Lebenswirklichkeit in

den Vorstädten in Übereinstimmung mit ihren Wahrneh-

mungskategorien einen ganz besonderen Aspekt auswählen.

Lehrer verwenden zur Erklärung solcher Kategorien – das

heißt der unsichtbaren Strukturen, die das Wahrgenomme-

ne organisieren – am liebsten die Metapher »Brille«. Solche

Kategorien sind Produkt unserer Erziehung, unserer Ge-

schichte usw. Die Journalisten tragen eine spezielle »Brille«,

mit der sie bestimmte Dinge sehen, andere nicht, und mit

der sie die Dinge, die sie sehen, auf bestimmte Weise sehen.

Sie treffen eine Auswahl, und aus dem, was sie ausgewählt

haben, errichten sie ein Konstrukt.

Das Auswahlprinzip ist die Suche nach dem Sensati-

onellen, dem Spektakulären. Das Fernsehen verlangt die

Dramatisierung, und zwar im doppelten Sinn: Es setzt

ein Ereignis in Bilder um, und es übertreibt seine Bedeu-

tung, seinen Stellenwert, seinen dramatischen, tragischen

Charakter. An den Vorstädten sind die Aufruhrszenen von

Interesse. Aufruhr: welch vielsagendes Wort... (Mit den

 Herausgegeben von Pierre Bourdieu, Paris, Editions du Seuil, . Auf

deutsch  unter dem Titel Das Elend der Welt erschienen. (A. d. Ü.)

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Worten geschieht dasselbe. Mit Alltagswörtern verblüfft

man weder den »Bourgeois« noch das »Volk«. Die Wörter

müssen schon etwas Besonderes haben. Paradoxerweise

wird das Fernsehen im Grunde vom Wort dominiert. Das

Photo ist nichts ohne seine Legende, die sagt, was man zu

lesen hat – legendum -, das heißt aber oft genug: Legenden,

die Unsinn schwafeln. Benennen heißt bekanntlich sicht-

bar machen, schaffen, ins Leben rufen. Und Benennungen

können unheilvolle Verwirrung stiften: Islam, islamisch, is-

lamistisch – ist der Schleier nun islamisch oder islamistisch?

Und wenn es sich einfach um ein Tuch handelte, mehr

nicht? Manchmal habe ich Lust, jedes Wort der Sprecher

in Frage zu stellen, so oft reden sie leichtfertig daher, ohne

sich im mindesten über Problematik und Bedeutung ihrer

Formulierungen im klaren zu sein und über die Verantwor-

tung, die sie übernehmen, wenn sie sich vor Tausenden von

Zuschauern äußern, ohne zu verstehen, was sie sagen, und

ohne zu verstehen, daß sie es nicht verstehen. Denn solche

Wörter bringen etwas hervor, schaffen Phantasmen, Ängs-

te, Phobien oder schlicht falsche Vorstellungen. Was Jour-

nalisten interessiert, ist, grob gesagt, das Ungewöhnliche,

d. h., was für sie ungewöhnlich ist. Was für andere banal

ist, kann für sie ungewöhnlich sein, und umgekehrt. Sie

interessieren sich für das, was gewöhnlich nicht stattfindet,

für das Nichtalltägliche – die Tagespresse muß täglich das

Nichtalltägliche bringen, keine leichte Arbeit... Daher ihre

Vorliebe für das gewöhnliche Ungewöhnliche, für Feuers-

brünste, Überschwemmungen, Morde, »Vermischte Mel-

dungen«. Das Ungewöhnliche ist aber auch und vor allem

das, was, gemessen an den Nachrichten der anderen Medi-

en, nicht gewöhnlich ist; was anders ist als das Gewöhnli-

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che und anders als das, was die anderen vom Gewöhnlichen

melden oder gewöhnlich melden. Ein furchtbarer Druck,

der zur Jagd nach dem Scoop zwingt. Um als erster etwas

zu sehen und zu zeigen, ist man zu fast allem bereit, und da

alle sich gegenseitig in die Karten schauen, um einander zu-

vorzukommen, vor den anderen da zu sein oder es anders als

die anderen zu zeigen, machen alle am Ende dasselbe, und

das Ringen um Exklusivität, das andernorts, in anderen

Berufsfeldern Originalität, Einzigartigkeit hervorbringt,

endet hier in Uniformisierung und Banalisierung.

Diese interessierte, unablässige Jagd nach dem Unge-

wöhnlichen kann ebenso politische Auswirkungen zeitigen

wie direkt politische Anweisungen oder von Furcht diktier-

te Selbstzensur. Über die außerordentliche Macht des vom

Fernsehen ausgestrahlten Bildes können die Journalisten

Wirkungen ohnegleichen hervorrufen. Der Anblick, den

eine Vorstadt täglich bietet, ihre Monotonie, ihre Tristesse

sagt niemandem etwas, interessiert niemanden, und am

wenigsten die Journalisten. Wenn sich die Journalisten

wirklich für sie interessieren, wenn sie sie wirklich zeigen

wollten, wäre das allerdings auch äußerst schwierig. Denn

nichts ist schwieriger, als die Realität in ihrer Banalität

erfahrbar zu machen. Flaubert sprach gerne davon, »das

Mittelmäßige sorgfältig auszumalen«. Darin besteht das

Problem der Soziologen: das Gewöhnliche ungewohnt zu

machen; es so zu schildern, daß sichtbar wird, wie außerge-

wöhnlich es ist.

Die politischen Gefahren, die mit der üblichen Nutzung

des Fernsehens verbunden sind, kommen daher, daß es er-

zeugen kann, was Literaturkritiker den effet du réel nennen,

den Wirklichkeitseffekt: Es kann zeigen und dadurch errei-

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chen, daß man glaubt, was man sieht. Diese Macht, etwas

vor Augen zu führen, hat mobilisierende Wirkungen. Sie

kann Gedanken oder Vorstellungen ins Leben rufen, aber

auch Bevölkerungsgruppen konstituieren. Die »Vermisch-

ten Meldungen«, die Zwischenfälle und Unfälle des Alltags

können mit politischen, ethischen usw. Implikationen auf-

geladen werden, die starke und oft negative Gefühle aus-

lösen wie Rassismus, Fremdenhaß, Ausländerfeindlichkeit;

noch der simple Bericht richtet ja, denn er impliziert immer

eine soziale Konstruktion der Wirklichkeit, die sozial mo-

bilisierende (oder demobilisierende) Folgen haben kann.

Das andere Beispiel, das ich Patrick Champagne ent-

lehne, betrifft die Schülerstreiks von . Hier zeigte sich,

wie Journalisten in bestem Glauben, in voller Naivität, ganz

von ihren eigenen Interessen – von dem, was sie interessiert

– geleitet, von ihren Vorannahmen, ihren Wahrnehmungs-

und Bewertungskategorien, ihren unbewußten Erwartun-

gen, Wirklichkeitseffekte und Effekte in der Wirklichkeit

hervorrufen können, die niemand gewollt hat und die in

manchen Fällen katastrophal sein können. Die Journalisten

hatten den Mai  im Kopf und Angst, »ein neues « zu

verpassen. Da man es mit Jugendlichen zu tun hatte, die

nicht sehr politisiert waren und nicht recht wußten, was

sie sagen sollten, baute man Sprecher auf (die man vermut-

lich unter den politisiertesten fand), nahm sie ernst, und

die Sprecher nahmen sich auch ernst. Das eine ergab das

andere, und das Fernsehen, das die Wirklichkeit wieder-

zugeben behauptet, wurde ein Instrument zur Schaffung

von Wirklichkeit; aus dem Beschreiben der sozialen Welt

durch das Fernsehen wird ein Vorschreiben. Das Fernsehen

entscheidet zunehmend darüber, wer und was sozial und

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politisch existiert. Nehmen wir an, ich will erreichen, daß

das Rentenalter auf fünfzig Jahre herabgesetzt wird. Vor

ein paar Jahren hätte ich eine Demonstration organisiert,

wir hätten Transparente gemalt, wären durch die Straßen

gezogen und hätten beim Erziehungsministerium eine

Erklärung abgegeben; heute – ich übertreibe nur wenig

– müßte ich mir einen geschickten Werbeberater nehmen.

Für die Medien würden wir ein paar Gags aufziehen, die

bei ihnen ankommen, Verkleidungen, Masken usw., und

über das Fernsehen vielleicht ähnliches erreichen wie durch

eine Demonstration mit  Teilnehmern.

Im Alltäglichen wie auf globaler Ebene geht es in der

Politik unter anderem um die Durchsetzung von Wahrneh-

mungsprinzipien, um die Brillen, mit denen die Menschen

die Welt aufgrund bestimmter Einteilungen sehen (Ju-

gend und alte Leute, Ausländer und Franzosen usw.). Die

Durchsetzung solcher Einteilungen schafft Gruppen, die

sich mobilisieren und es auf diesem Wege schaffen können,

ihre Existenz geltend zu machen, Druck auszuüben und

Vorteile zu erlangen. In solchen Auseinandersetzungen

spielt heute das Fernsehen eine entscheidende Rolle. Wer

heutzutage noch glaubt, daß es ausreicht zu demonstrieren,

ohne an das Fernsehen zu denken, läuft Gefahr, sein Ziel

zu verfehlen: Demonstrationen müssen mehr und mehr für

das Fernsehen produziert, also so gestaltet werden, daß die

Fernsehleute sich aufgrund ihrer Wahrnehmungskategori-

en dafür interessieren, sie aufgreifen, den Adressatenkreis

erweitern und ihnen damit erst zur vollen Wirkung verhel-

fen.

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Die zirkuläre Zirkulation der Nachricht

Bisher habe ich so getan, als wäre der Urheber all dieser

Prozesse der Journalist. Aber der Journalist ist ein abstrak-

tes, nichtexistentes Gebilde; was existiert, sind Journalisten,

die sich durch ihr Geschlecht, ihr Alter, ihre Bildungsstufe,

ihre Zeitung, ihr »Medium« voneinander unterscheiden.

Die Welt der Journalisten ist eine zerrissene Welt, ein Welt

voller Konflikte, Konkurrenz, Feindseligkeiten. Meine

Analyse ist dennoch zutreffend, denn die Produkte der

Journalisten sind, darauf kommt es mir an, letztlich noch

viel homogener, als man glaubt. Noch hinter den deutlichs-

ten Unterschieden – sie haben vor allem mit der politischen

Couleur der Zeitungen zu tun (die übrigens unleugbar

immer mehr jegliche Couleur vermissen lassen...) – stecken

tiefgreifende Ähnlichkeiten, die hauptsächlich auf die von

den Nachrichtenquellen ausgehenden Beschränkungen

zurückzuführen sind und darüber hinaus auf eine ganze

Reihe von Mechanismen, von denen der wichtigste die

Wettbewerbslogik ist. Das liberale Kredo predigt ständig,

daß das Monopol Uniformität und Konkurrenz Vielfalt

hervorbringt. Ich habe natürlich nichts gegen Konkur-

renz, ich stelle nur fest, daß sie sich auf Journalisten und

Journale, die denselben Zwängen, denselben Umfragen,

denselben Anzeigenkunden ausgeliefert sind, homogeni-

sierend auswirkt (man braucht nur daran zu denken, mit

welcher Leichtigkeit Journalisten von einer Zeitung zur

anderen wechseln). Vergleichen Sie bloß die Titelseiten der

Wochenpresse im Vierzehntagerhythmus: Sie finden fast

überall dieselben Aufmacher. Ebenso unterscheiden sich

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die Fernseh- oder Radionachrichten der meistverbreiteten

Programme besten- oder schlimmstenfalls in der Reihen-

folge der Meldungen.

Das liegt zum Teil am kollektiven Charakter der Pro-

duktion. Filme zum Beispiel werden von Kollektiven pro-

duziert, der Vorspann führt die Namen auf. Das Kollektiv

aber, das Fernsehsendungen herstellt, besteht nicht nur aus

den Mitgliedern einer Redaktion; es schließt die Gesamt-

heit der Journalisten ein. Immer wieder hört man die Frage:

»Wer ist eigentlich das Subjekt eines Diskurses?« Nie weiß

man wirklich, ob man das Subjekt dessen ist, was man

sagt... Wir sagen viel weniger Originelles, als wir glauben.

Das gilt ganz besonders in Welten, in denen die kollektiven

Zwänge erheblich sind, und vor allem die von der Konkur-

renz ausgehenden Zwänge, insofern sie jeden Produzenten

zu Dingen veranlaßt, die er unterlassen würde, wenn es die

anderen nicht gäbe; Dinge zum Beispiel, die er tut, um vor

den anderen da zu sein. Niemand liest so viele Zeitungen

wie die Journalisten, die im übrigen zu der Ansicht neigen,

daß jedermann sämtliche Zeitungen läse. (Sie vergessen,

daß viele keine Zeitung lesen, und die anderen eine einzige.

Es kommt nicht oft vor, daß man am selben Tag Le Monde,

Le Figaro und Liberation liest, wenn man nicht gerade vom

Fach ist.) Für Journalisten ist Zeitunglesen unerläßlich und

die Presserundschau ein Arbeitsinstrument: Um zu wissen,

was man sagen wird, muß man wissen, was die anderen

gesagt haben. Dies ist einer der Mechanismen, die Homo-

geneität unter den Produkten erzeugen. Wenn Liberation

auf der ersten Seite über ein Ereignis berichtet, muß Le

Monde nachziehen; gleichzeitig wird sich diese Zeitung ein

wenig absetzen, um Distanz an den Tag zu legen und ihrem

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Ruf als niveauvolles, seriöses Blatt gerecht zu werden. Aber

diese kleinen Unterschiede, auf die Journalisten subjektiv so

viel Wert legen, verbergen enorme Ähnlichkeiten. In den

Redaktionskonferenzen verbringt man beträchtlich viel

Zeit damit, von anderen Zeitungen zu sprechen, besonders

von dem, »was sie gemacht haben und wir nicht« (»das

haben wir verschlafen!«) und was man – selbstverständlich

– hätte machen müssen, da die anderen es gemacht haben.

Diese wechselseitige Bespiegelung bringt eine schreck-

liche Abkapselung, eine geistige Einzäunung hervor. Ein

anderes Beispiel dieser gegenseitigen Abhängigkeit, die alle

Interviews mit Journalisten bestätigt haben: Den Ablauf der

Mittagsnachrichten im Fernsehen kann man nur gestalten,

wenn man die Nachrichtensendung vom Vorabend gesehen

und die Morgenpresse gelesen hat; Entsprechendes gilt für

die abendlichen Nachrichtensendungen. Das gehört zu den

stillschweigenden Anforderungen des Berufs. Und zwar

gleichzeitig, um auf dem laufenden zu sein und um sich

abheben zu können, und das oft durch verschwindend klei-

ne Unterschiede, denen die Journalisten eine phantastische

Bedeutung beimessen und die vom Fernsehzuschauer völlig

unbemerkt bleiben. (Ein besonders typischer Effekt dieses

Feldes: Man glaubt, den Wünschen des Kunden am besten

zu entsprechen, bezieht sich aber nur auf die Konkurrenz.)

Journalisten sagen zum Beispiel (ich zitiere): »Wir ha-

ben die Nase vorn gehabt«; sie geben damit zu, daß sie in

Konkurrenz stehen und daß ein gut Teil ihrer Bemühungen

der Produktion winziger Unterschiede gilt. »Wir haben

die Nase vorn gehabt«, das heißt: Wir sind ein Sinndiffe-

rential; »sie haben den O-Ton nicht, wir haben ihn«. Vom

Durchschnittszuschauer absolut nicht wahrnehmbare Dif-

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ferenzen – er könnte sie nur wahrnehmen, wenn er gleich-

zeitig mehrere Programme verfolgte -, Differenzen also, die

völlig unbemerkt bleiben, sind von den Produzenten aus

gesehen äußerst wichtig, denn wenn sie wahrgenommen

würden – so stellen sich die Produzenten vor -, trügen sie

zu einer höheren Einschaltquote bei, dem verborgenen Gott

dieses Universums, und der Verlust von einem Prozent bei

der Einschaltquote kann schon der Tod der Sendung sein.

Dies ist nur ein Beispiel für die in meinen Augen falschen

Gleichsetzungen zwischen dem Inhalt von Sendungen und

der unterstellten Wirkung.

Die Entscheidungen, die im Fernsehen getroffen werden,

sind gewissermaßen subjektlos. Zum Beleg dieser vielleicht

ein wenig übertriebenen Behauptung möchte ich nur die

Auswirkungen des kurz erwähnten Effekts zirkulärer

Zirkulation anführen: Die Journalisten, die im übrigen

viele Gemeinsamkeiten aufweisen, solche der beruflichen

Voraussetzungen, aber auch der Herkunft und Ausbildung,

lesen einander, sehen einander, begegnen sich bei Debatten,

bei denen man immer auf dieselben Gesichter trifft, und

all das führt zu einer Geschlossenheit des Milieus und

– scheuen wir uns nicht, es auszusprechen – zu einer Zensur,

die ebenso wirksam ist wie die einer zentralen Bürokratie,

eines förmlichen politischen Eingriffs, ja wirksamer noch,

weil unauffälliger. (Um die Undurchlässigkeit dieses Teu-

felskreises zu ermessen, braucht man bloß den Versuch zu

unternehmen, eine nicht ins Schema passende Nachricht

über Algerien, über den Status von Ausländern in Frank-

reich oder dergleichen einzuschleusen, in der Hoffnung,

sie würde in die Öffentlichkeit gelangen: Pressekonferenz,

Presseerklärung – nichts hilft; Analysen gelten als langwei-

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lig und kommen als Meldung nicht in Frage, es sei denn,

sie sind von einer Berühmtheit unterzeichnet, deren Name

Aufsehen erregt. Um den Teufelskreis aufzubrechen, muß

man in ihn einbrechen, was aber nur möglich ist, wenn man

sich dabei mediengerecht verhält; man muß einen »Coup«

landen, der die Medien interessiert, oder wenigstens eines

von ihnen, dessen Meldung die anderen aufgrund des Kon-

kurrenzeffekts möglicherweise aufgreifen.)

Wenn man sich die naiv scheinende Frage stellt, wie die

Leute sich eigentlich informieren, deren Aufgabe darin be-

steht, uns zu informieren, zeigt sich, daß sie, grob gesagt,

von anderen Informanten informiert werden. Natürlich, es

gibt die Presseagenturen, offizielle Quellen (Ministerien,

Polizei usw.), mit denen die Journalisten auf komplexe Wei-

se zusammenarbeiten müssen, usw. Das Entscheidende aber

an der Information, jene Information über die Information

nämlich, die zu entscheiden ermöglicht, was wichtig, was

übermittelnswert ist, kommt zum großen Teil von anderen

Informatoren.

Und das führt zu einer Art Nivellierung, einer Homoge-

nisierung der Wichtigkeitshierarchien. Ich erinnere mich an

ein Interview mit einem Programmdirektor, der sich seiner

Sache völlig sicher war. Ich fragte ihn: »Warum plazieren

Sie das an erster und jenes an zweiter Stelle?« Er antwortete:

»Das versteht sich von selbst.« Und wahrscheinlich saß er

ebendeswegen an der Stelle, wo er saß; weil nämlich seine

Wahrnehmungskategorien genau den objektiven Anforde-

rungen entsprachen. (Während ich ihm zuhörte, mußte

ich an eine Äußerung Godards denken: »Verneuil ist im

Vergleich zu dem Direktor von FR ein Zigeuner. Naja, im

Vergleich.«) Gewiß, in demselben journalistischen Milieu

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finden unterschiedliche Journalisten auf unterschiedlichen

Posten seine Selbstverständlichkeiten in ungleichem Maße

selbstverständlich. Die Programmdirektoren, denen die

Einschaltquote zur zweiten Natur geworden ist, haben

ein Gespür für das Selbstverständliche, das der kleine An-

fänger unter den Reportern nicht unbedingt teilt, der auf

seinen emenvorschlag zur Antwort erhält: »Völlig unin-

teressant...« Man darf sich das Milieu nicht als homogen

vorstellen: Es gibt die kleinen, die jungen, die subversiven

Mitarbeiter, die Quertreiber, die verzweifelt darum ringen,

kleine Keile in den enormen homogenen Brei zu treiben,

den der (Teufels-)Kreis der zirkulär zirkulierenden Infor-

mation Leuten aufnötigt, die – nicht zu vergessen – mit-

einander gemein haben, der Einschaltquote unterworfen zu

sein, wobei die Führungskräfte selbst nur die ausübenden

Organe der Einschaltquote sind.

Die Einschaltquote ist ein Meßinstrument, mit dessen

Hilfe die verschiedenen Sender feststellen können, wieviel

Zuschauer sie erreichen (einige Sender verfügen bereits über

die Möglichkeit, alle Viertelstunden ihre Einschaltquote zu

ermitteln, und sogar – diese Verfeinerung wurde kürzlich

erst eingeführt – die Schwankungen nach groben sozialen

Kategorien). Man weiß also sehr genau, was ankommt und

was nicht. Dieses Meßinstrument ist für den Journalisten

das göttliche Gericht: bis hin in die autonomsten Refugien

des Journalismus – in der französischen Presse mögen sich

vielleicht gerade noch der Canard Enchaine, Le Monde diplo-

matique und ein paar kleine, von idealistischen »Träumern«

redigierte Avantgardezeitschriften dem entziehen – steckt

die Einschaltquote jetzt in allen Köpfen. In Redaktions-

stuben, in Verlagshäusern, allerorten regiert heutzutage

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die »Einschaltquotenmentalität«. Überall ist Maßstab der

Verkaufserfolg. Vor knapp dreißig Jahren noch, und das seit

der Mitte des . Jahrhunderts, seit Baudelaire, Flaubert

usw., war der unmittelbare Verkaufserfolg bei Avantgar-

deschriftstellern – also bei Schriftstellern, die von Schrift-

stellern gelesen, von Schriftstellern anerkannt wurden,

und ebenso bei Künstlern, die von Künstlern anerkannt

wurden – verdächtig: als Anzeichen dafür, daß jemand sich

mit den Zeitläufen, mit dem Geld usw. arrangiert hatte.

Gegenwärtig dagegen gilt der Markt mehr und mehr als

legitime Legitimationsinstanz. Das zeigt eine andere neue

Einrichtung deutlich: die Bestsellerliste. Noch heute mor-

gen hörte ich einen Radiosprecher den letzten Bestseller

gelehrt kommentieren: »Die Philosophie ist dieses Jahr

aktuell, denn Sophies Welt hat   Exemplare erreicht.«

Als unumstößliches Verdikt, als göttliches Urteil zitierte er

Verkaufsziffern. Über die Einschaltquote schlägt die Logik

des Kommerzes auf die Kulturerzeugnisse durch. Man muß

aber wissen, daß historisch gesehen alle Kulturerzeugnisse,

die ich jedenfalls schätze – ich hoffe, ich bin nicht der einzi-

ge – und die auch noch manch anderer zu den höchsten Er-

rungenschaften der Menschheit zählen mag, Mathematik,

Poesie, Literatur, Philosophie -, daß all das gegen das Äqui-

valent der Einschaltquote, gegen die Logik des Kommerzes

entstanden ist. Daß die Einschaltquotenmentalität selbst

bei Avantgardeverlegern Einzug hält, in wissenschaftliche

Institute dringt, die sich jetzt aufs Marketing verlegen, ist

sehr beunruhigend, denn damit geraten die Voraussetzun-

gen für die Herstellung von Werken in Gefahr, die esote-

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risch erscheinen mögen, weil sie der Publikumserwartung

nicht entgegenkommen, sich aber, auf Dauer gesehen, ihr

Publikum schaffen.

Die Dringlichkeit und das »Fast-inking«

Im Fernsehen zeitigt die Einschaltquote eine ganz

besondere Wirkung: Sie setzt sich in Zeitdruck um. Die

Konkurrenz zwischen den Zeitungen, zwischen den Zei-

tungen und dem Fernsehen, zwischen den einzelnen Fern-

sehsendern nimmt die Form eines Wettlaufs um den Scoop

an, darum, der erste zu sein. Alain Accardo zeigt in einem

Buch, in dem er eine Reihe von Interviews mit Journalis-

ten veröffentlichte, wie Fernsehjournalisten dazu gebracht

werden, von einer Überschwemmung zu berichten, weil die

Konkurrenz von einer Überschwemmung berichtet hat, und

möglichst etwas darüber zu bringen, was der andere nicht

gebracht hat. Kurzum, es gibt emen, die den Zuschau-

ern aufgedrängt werden, weil sie sich den Produzenten der

Sendung aufdrängen; und sie drängen sich ihnen auf, weil

die Konkurrenzsituation sie ihnen aufdrängt, in der sie sich

gegenüber anderen Produzenten von Sendungen befinden.

Diese Art wechselseitiger Pression bringt eine ganze Reihe

von Konsequenzen hervor, die sich in Entscheidungen für

oder gegen emen niederschlagen.

Zu Beginn sagte ich, daß das Fernsehen die Artikulation

von Gedanken nicht gerade begünstigt. Ich stellte eine Ver-

bindung zwischen Geschwindigkeit und Denken her, und

zwar eine negative. Das ist ein alter Topos des philosophi-

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schen Diskurses: Schon Platon unterschied zwischen dem

Philosophen, der Zeit hat, und den Leuten auf der agora, auf

dem öffentlichen Platz, die es eilig haben. Er behauptet in

etwa, daß man nicht denken kann, wenn man es eilig hat.

Das ist eine eindeutig aristokratische Einstellung. Es ist

der Gesichtspunkt des Privilegierten, der Zeit hat und sein

Privileg nicht allzusehr in Frage stellt. Aber hier ist nicht

der Ort, diesen Aspekt zu diskutieren; fest steht jedenfalls,

daß es eine Verbindung zwischen Denken und Zeit gibt.

Und eines der Hauptprobleme des Fernsehens ist die Frage

der Beziehungen zwischen Denken und Geschwindigkeit.

Kann man denken, wenn man es eilig hat? Wenn das Fern-

sehen immer nur Denkern das Wort erteilt, die als beson-

ders reaktionsschnell gelten, muß es sich mit fast-thinkers

abfinden, Denkern, die, wie ein gewisser Westernheld,

schneller schießen als ihr Schatten...

Es fragt sich, warum sie diesen ganz besonderen Um-

ständen gewachsen sind, warum sie es schaffen, unter

Voraussetzungen zu denken, unter denen keiner außer ih-

nen denkt. Die Antwort liegt, scheint mir, darin, daß sie

in »Gemeinplätzen« denken. »Gemeinplätze«, von denen

Flaubert in Bouvard und Pécuchet berichtet, das sind banale,

konventionelle Vorstellungen, wie alle sie haben; es handelt

sich aber auch um Vorstellungen, die jeder versteht, so daß

das Problem ihres Verständnisses sich gar nicht erst stellt.

Nun lautet jedoch die Grundfrage aller Kommunikation,

sei es eine Rede, ein Buch oder eine Fernsehbotschaft, ob

die Voraussetzungen des Verständnisses erfüllt sind: Ver-

fügt der Hörer über den Kode, mit dem er dekodieren kann,

was ich sage? Wenn Sie einen »Gemeinplatz« von sich ge-

ben, ist das Problem von vornherein gelöst. Die Kommuni-

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kation gelingt augenblicklich, weil sie in gewisser Hinsicht

gar nicht stattfindet. Oder nur zum Schein. Der Austausch

von Gemeinplätzen ist eine Kommunikation ohne anderen

Inhalt als eben den der Kommunikation. Die »Gemeinplät-

ze«, die im alltäglichen Gespräch eine enorme Rolle spielen,

haben den Vorteil, daß jedermann sie aufnimmt und augen-

blicklich versteht: Aufgrund ihrer Banalität sind sie dem

Sender wie dem Empfänger gemeinsam. Im Gegensatz

dazu ist Denken von vornherein subversiv: Es muß damit

beginnen, die »Gemeinplätze« zu demontieren, und damit

fortfahren, daß es demonstriert, Beweise führt. Wenn

Descartes von Beweisführung spricht, spricht er von

langen Begründungsketten. Das braucht Zeit, eine ganze

Reihe von Aussagen, die mit »also«, »folglich«, »damit«,

»vorausgesetzt, daß« usw. untereinander verkettet sind,

muß aneinandergefügt werden. Diese Entfaltung denken-

den Denkens ist unaufhebbar an Zeit gebunden.

Wenn das Fernsehen bestimmte fast-thinkers bevorzugt,

die geistiges fast-food anbieten, vorgekaute, vorgedachte

geistige Nahrung, so liegt das nicht nur daran; daß man

(was auch zur Unterwerfung unter den Zeitdruck gehört)

sein Adreßbuch hat, in dem immer dieselben Namen stehen

(zu Rußland Herr oder Frau X, zu Deutschland Herr Y);

es gibt obligatorische Interviewpartner, die die Suche nach

jemandem erübrigen, der wirklich etwas zu sagen hätte,

das hieße oft: nach jungen, noch unbekannten Leuten, die

in ihrer Forschungsarbeit stecken und wenig dazu neigen,

Medien zu frequentieren – man müßte sie erst auftreiben,

wo man doch die Medienhirsche bei der Hand hat, die stets

disponibel und bereit sind, ihre schriftliche Stellungnahme

abzusondern oder ihre Interviews zu geben. Es liegt auch

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daran, daß man, um unter Voraussetzungen zu denken, un-

ter denen sonst keiner mehr denkt, Denker von einem ganz

besonderen Schlage sein muß.

Echt falsche und falsch echte Debatten

Ich muß auf die Fernsehdiskussionen zurückkommen,

hier kann ich mich kurz fassen, weil die Beweisführung,

wie ich denke, leichter ist. Zunächst einmal gibt es die echt

falschen Debatten, die man sofort als solche erkennt. Wenn

Sie im Fernsehen Alain Mine und Attali, Alain Mine und

Sorman, Ferry und Finkielkraut, Julliard und Imbert sehen,

dürfen Sie davon ausgehen, daß die unter einer Decke ste-

cken. (In den Vereinigten Staaten gibt es Leute, die davon

leben, daß sie im Duo von Universität zu Universität ziehen,

um solche Auftritte zu bestreiten...) Das sind Leute, die sich

kennen, die sich treffen, die zusammen essen gehen. (In sei-

nem Tagebuch L‘annee des dupes, das  bei Seuil erschien,

hat Jacques Julliard erzählt, wie so etwas funktioniert.) Bei

einer Sendung von Durand über die Eliten zum Beispiel, die

ich mir genauer ansah, waren sie alle dabei: Attali, Sarkozy,

Mine ... Einmal wandte Attali sich an Sarkozy und sprach

ihn an mit »Nicolas... Sarkozy«, wobei zwischen Vor- und

Familienname eine kleine Pause entstand. Hätte er nur den

Vornamen genannt, wäre deutlich geworden, daß sich beide

gut kennen, daß sie unter einer Decke stecken, während sie

zum Schein zwei entgegengesetzte Standpunkte einnah-

men. So blieb es bei einem kleinen, kaum merklichen Si-

gnal zwischen Komplizen. Und wirklich ist das Universum

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der ständigen Fernsehgäste eine geschlossene Welt, in der

jeder jeden kennt und die einer Logik ständiger Selbstbe-

stätigung lolgt. (Die Debatte zwischen Serge July und Phi-

lippe Alexandre bei Christine Ockrent oder ihre Parodie

bei den Guignols,

die das Wesentliche davon zeigt, ist ins

dieser Hinsicht beispielhaft.) Man widerspricht einander,

aber das ist ein abgekartetes Spiel... So sollen Julliard und

Imbert zum Beispiel die Rechte bzw. die Linke vertreten.

Von jemandem, der alles durcheinanderbringt, sagen die

Kabylen: »Er hat mir den Osten in den Westen gesteckt.«

Diese Leute stecken einem die Rechte in die Linke. Ist sich

das Publikum ihrer Komplizenschaft bewußt? Sicher ist das

nicht. Sagen wir: vielleicht. Solche Skepsis äußert sich in

Gestalt einer totalen Ablehnung der Hauptstadt Paris, einer

Ablehnung, die die faschistische Kritik am Parisertum für

ihre Zwecke einzuspannen versucht und die sich anläßlich

der Novemberstreiks  oft mit Worten Luft machte wie:

»Das sind ja alles bloß Pariser Geschichten.« Diese Leute

spüren durchaus, daß da etwas ist, verstehen aber nicht,

bis zu welchem Punkt diese Welt in sich geschlossen, also

gegenüber anderen, gegnüber der schieren Existenz anderer

abgeschlossen ist.

Es gibt auch scheinbar echte, zum Schein echte Debatten.

Eine von ihnen möchte ich kurz untersuchen: diejenige, die

Cavada während der Novemberstreiks organisiert hat. Al-

lem Anschein nach eine demokratische Debatte, die gerade

dadurch ein bezeichnendes Licht auf andere wirft. Wenn

Les Guignols de l‘Info, eine satirische Sendung des privaten Fernsehpro-

gramms Canal +, die Größen aus der Welt der Politik und der Medien

karikiert. (A. d. Ü.)

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man sich nämlich anschaut, was während dieser Debatte

vor sich ging (ich werde wieder mit dem Sichtbarsten an-

fangen und versuchen, zum Verstecktesten vorzudringen),

stellt man eine Reihe von Zensurmaßnahmen fest.

Zunächst einmal: die Rolle des Moderators. Sie frappiert

die Zuschauer immer. Sie sehen genau, daß seine Einwür-

fe die anderen Teilnehmer einengen. Er legt das ema

fest, bestimmt die Fragestellung (die oft, wie in Durands

Sendung »Sollen die Eliten verbrannt werden?«, so absurd

ist, daß alle Antworten, positive wie negative, es gleicher-

maßen sind). Er wacht über die Einhaltung der Spielregeln,

die nicht für alle dieselben sind: für einen Gewerkschaftler

gelten andere als für Herrn Peyrefitte von der Académie

Française. Der Moderator erteilt das Wort, er signalisiert

die Wichtigkeit von Beiträgen. Manche Soziologen ha-

ben versucht, das in verbaler Kommunikation implizierte

Nichtverbale herauszuarbeiten: Mit unseren Blicken, durch

Schweigen, Gesten, Mimik, Augenbewegungen usw. sagen

wir ebensoviel wie mit Worten. Auch mit der Betonung,

mit allem möglichen. Wir geben daher viel mehr von uns,

als wir kontrollieren können (was diejenigen eigentlich

beunruhigen müßte, die dem Spiegel des Narziß fanatisch

ergeben sind). Schon auf der Ebene des Sprechens gibt es

so viele Ausdrucksmöglichkeiten – konzentriert man sich

auf die phonologische Ebene, konzentriert man sich nicht

auf die syntaktische usw. -, daß niemand, nicht einmal der

Kontrollierteste (außer vielleicht, wenn er eine Rolle spielt

oder Parteichinesisch spricht), alles im Griff hat. Auch der

Moderator greift unbewußt ein, durch seine Fragestellung,

seinen Tonfall. Die einen fährt er an: »Antworten Sie, Sie

haben meine Frage nicht beantwortet«, oder »Ich erwarte

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Ihre Antwort. Werden Sie den Streik wiederaufnehmen?«

Auch die verschiedenen Weisen, »danke« zu sagen, sind

sehr bezeichnend. »Danke« kann heißen: »Ich danke Ih-

nen, ich bin Ihnen dankbar, ich nehme Ihre Worte mit

Dankbarkeit auf.« Es gibt aber auch eine Art, jemandem

zu danken, die wie eine Entlassung klingt. »Danke« heißt

dann: »O.k., Schluß jetzt. Der nächste bitte.« Das alles äu-

ßert sich in infinitesimaler Weise, in winzigen Nuancen des

Tons, aber der Gesprächspartner registriert es, er registriert

die offenkundige Semantik und die versteckte, er registriert

beide und kann dadurch heillos verwirrt werden.

Der Moderator gibt die Redezeit vor, er gibt den Rede-

ton vor: respektvoll oder herablassend, entgegenkommend

oder ungeduldig. Man kann zum Beispiel auf eine Art

»ja, ja« sagen, die Druck ausübt, die den Gesprächspartner

Ungeduld spüren läßt oder Gleichgültigkeit ... (Wir wissen,

daß es bei den Interviews, die wir machen, sehr wichtig

ist, den Menschen Zustimmung, Interesse zu signalisie-

ren, sonst sinkt ihnen der Mut und sie verstummen. Sie

erwarten nur wenig, ein »ja, ja«, ein Kopfnicken, kleine

Signale des Einverständnisses, wie man so sagt.) Diese

Zeichen des Einverständnisses manipuliert der Moderator,

unbewußt häufiger als bewußt. So wird der Respekt vor

den Größen des Kulturlebens jemanden, der als Autodidakt

gerade einmal in diese Welt hineingeschnuppert hat, zur

Bewunderung falscher Größen bewegen, zur Bewunderung

von Mitgliedern der Académie Française und von Trägern

anderer ehrfurchtgebietender Titel. Eine andere Moderato-

renstrategie besteht darin, den Zeitdruck zu manipulieren,

die Uhr einzusetzen, um das Wort abzuschneiden, unter l

)ruck zu setzen, zu unterbrechen. Und wie alle Moderato-

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ren macht auch der unsere sich zum Anwalt des Publikums:

»Ich unterbreche Sie, ich verstehe nicht, was Sie meinen.«

Er will damit nicht sagen, daß er ein Idiot ist, er will sagen,

daß der Durchschnittszuschauer, der zwangsläufig ein Idiot

ist, nichts versteht und daß er selbst sich zum Sprecher der

»Dummköpfe« macht, um eine intelligente Darbietung zu

unterbrechen. Dabei sind, wie ich feststellen konnte, die

Leute, in deren Namen er sich diese Zensorenrolle heraus-

nimmt, über die Unterbrechungen am aufgebrachtesten.

Das Ergebnis war, daß der Vertreter der Gewerkschaft

CGT in einer zweistündigen Sendung alles in allem genau

fünf Minuten Redezeit hatte, alle Beiträge zusammenge-

nommen (dabei hätte es bekanntlich ohne die CGT keinen

Streik, keine Sendung usw. gegeben). Während gleichzeitig

scheinbar – und insofern war die Sendung Cavadas von

Interesse – alle äußeren Anzeichen formaler Gleichheit

respektiert waren.

Und das stellt unter demokratischem Gesichtspunkt ein

äußerst wichtiges Problem dar: Offenkundig sind nicht alle

Teilnehmer gleichermaßen mit solchen Diskussionsrunden

vertraut. Es gibt die Profis in der Runde, professionelle

Wortführer und Studiogäste, und die Amateure (das können

Streikteilnehmer sein, die, säßen sie in einer gemütlichen

Ecke beisammen...) – eine extrem ungleiche Zusammenset-

zung. Um ein gewisses Gleichgewicht herzustellen, müßte

der Moderator ungleich sein, das heißt den Unbeholfensten

ein wenig nachhelfen, wie wir es bei unseren Erhebungen

für La misère du monde taten. Wenn man will, daß jemand,

der nicht zu den Wortgewaltigen gehört, es schafft, etwas

zu sagen (und oft sagt er dann ganz außerordentliche Dinge,

Dinge, die diejenigen, die ständig das Wort führen, nicht

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einmal denken können), muß man ihn beim Sprechen un-

terstützen. Um das ein bißchen edler auszudrücken, könnte

ich sagen: Das ist die sokratische Aufgabe in Reinkultur.

Es geht darum, sich jemandem zur Verfügung zu stellen,

der etwas Wichtiges zu sagen hat und von dem man wissen

will, was er zu sagen hat, was er denkt; es geht darum, ihm

zu helfen, es herauszubringen. Das machen die Fernseh-

moderatoren ganz und gar nicht. Nicht nur helfen sie den

Hilflosen nicht, sie schlagen ihnen sozusagen auch noch die

Krücken weg. Dafür gibt es -zig Methoden: nicht zur rech-

ten Zeit das Wort geben, das Wort geben, wenn nicht mehr

damit gerechnet wird, Ungeduld zeigen usw.

Bisher sind wir auf der Ebene der Erscheinungen. Wir

müssen uns jetzt auf eine zweite Ebene begeben: die der

Zusammensetzung der Diskussionsrunde. Sie ist entschei-

dend. Die Runde selbst ist das Ergebnis einer unsichtbar

bleibenden Arbeit. Da ist zum Beispiel die ganze Arbeit

der Einladung: Manche Leute lädt man gar nicht erst ein;

andere lädt man ein, und sie lehnen ab. Schließlich steht

die Runde, und das Sichtbare verbirgt das Unsichtbare: Ein

konstruiertes Sichtbares zeigt die sozialen Voraussetzungen

seiner Konstruktion nicht.

Darum sagt man sich nicht: »Sieh an, der und der ist

nicht dabei.« Ein Beispiel dieser Manipulationsarbeit

(eines unter tausenden): Während der Streiks gab es zwei

aufeinanderfolgende Sendungen des Cercle de Minuit

iiber

die Intellektuellen und die Streiks. Es existierten, grob

gesagt, zwei Lager unter den Intellektuellen. Bei der ers-

ten Sendung vermittelten die Intellektuellen, die gegen

den Streik waren, im großen ganzen den Eindruck, zum

rechten Spektrum zu gehören. Bei der zweiten Sendung

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(die diesen Eindruck korrigieren sollte) änderte man die

Zusammensetzung der Runde, fügte Teilnehmer hinzu, die

noch weiter rechts standen, und eliminierte die Befürwor-

ter des Streiks, womit diejenigen, die in der ersten Sendung

rechts gestanden hatten, als links erschienen. Rechts und

links, das ist nun einmal relativ. In diesem Fall also änderte

eine Zusammensetzung der Diskussionsrunde den Sinn der

Botschaft.

Die Zusammensetzung der Runde ist wichtig, weil sie

den Eindruck demokratischer Ausgewogenheit vermitteln

muß (der Grenzfall ist die Konfrontation von zwei Kontra-

henten: »Ihre dreißig Sekunden sind abgelaufen ...«). Man

demonstriert Gleichheit, und der Moderator geriert sich als

Schiedsrichter. In Cavadas Runde traten zwei Kategorien

auf: Engagierte Akteure, Protagonisten, Streikende; und

dann andere, die auch Protagonisten waren, aber die Positi-

on von Beobachtern einnahmen. Es gab solche, die sich zu

erklären hatten (»Warum machen Sie das, warum bereiten

Sie den Benutzern der öffentlichen Verkehrsmittel Schere-

reien?« usw.), und andere, die da waren, um zu erklären, um

einen Meta-Diskurs zu liefern.

Ein anderer unsichtbarer und doch ganz entscheidender

Faktor: die in Vorbereitungsgesprächen mit den späteren

Teilnehmern festgelegten Spielregeln, die manchmal zu

einer Art Drehbuch mit mehr oder weniger strengen An-

weisungen ausarten können, denen die Fernsehgäste zu

 Um Mitternacht herum (daher der Titel) ausgestrahlte Talkshow mit

kulturellem Schwerpunkt (inzwischen abgesetzt). Pierre Bourdieu stellte

hier mit Hans Haacke ihr gemeinsames Buch Libre-echange vor (deutsch:

Freier Austausch, Frankfurt/M., Fischer Verlag ). (A. d. Ü.)

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folgen haben (die Vorbereitung kann in bestimmten Fäl-

len, etwa bei Unterhaltungssendungen, fast die Form einer

Generalprobe annehmen). In diesem von vornherein festge-

legten Drehbuch gibt es praktisch keinen Raum mehr für

Improvisation, für freie, ungezügelte Meinungsäußerung

– sie wäre für den Moderator und seine Sendung zu riskant,

ja gefährlich.

Eine andere unsichtbare Eigenschaft dieses Raumes ist

die Logik des Sprachspiels, wie die Philosophen sagen. Es

gibt stillschweigend anerkannte Regeln für das Spiel, das

ablaufen soll, denn jedes soziale Universum, in dem geredet

wird, verfügt über eine Struktur, die einiges zuläßt und an-

deres nicht. Die erste stillschweigende Voraussetzung dieses

Sprachspiels: Die demokratische Diskussion folgt den Re-

geln des Catch-as-catch; man braucht Konfrontationen, den

Guten, das Biest... Aber dennoch sind nicht alle Schläge er-

laubt. Die Schläge müssen der Logik einer formalen, kunst-

vollen Sprache folgen. Weitere Eigenschaften des Raumes:

die schon erwähnte Komplizität zwischen den Profis, denen,

die ich die fast-thinkers nenne, den Spezialisten des Weg-

werfdenkens; die Fernsehleute nennen sie bons clients, gute

Kunden. Das sind Leute, die man einladen kann, von denen

man weiß, daß sie sich benehmen werden, daß sie keine

Schwierigkeiten verursachen, keine Vorfälle provozieren

und daß sie redselig sind. Es gibt ein Universum solch

»guter Kunden«, die sich hier wohl fühlen wie der Fisch im

Wasser, und andere, die sind wie Fische auf dem Trockenen.

Und ein letztes unsichtbares Element: das Unbewußte der

Diskussionsleiter. Es ist mir sehr oft passiert, und das sogar

mit Journalisten, die mir ausgesprochen wohlwollten, daß

ich alle meine Antworten damit beginnen mußte, die Frage

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in Frage zu stellen. Mit ihrer Brille, mit ihren Denkkatego-

rien versehen, formulieren die Journalisten Fragen, die mit

nichts etwas zu tun haben. Zum Beispiel haben sie über die

Probleme der Vorstädte all die Phantasmen im Kopf, von

denen ich vorhin sprach, und man kann nicht darauf ein-

gehen, ohne zuerst höflich zu sagen: »Ihre Frage ist sicher

sehr interessant, aber mir scheint, es gibt noch eine andere,

wichtigere...« Wenn man nicht wenigstens einigermaßen

gut vorbereitet ist, antwortet man auf Fragen, die sich über-

haupt nicht stellen.

Widersprüche und Spannungen

Das Fernsehen verfügt als Kommunikationsinstrument

nur über sehr wenig Autonomie, es ist einer ganzen Reihe

von Zwängen ausgesetzt, die von den sozialen Beziehungen

zwischen den Journalisten herrühren: heftige, unerbittliche,

bis zum Absurden reichende Konkurrenz zwischen ihnen,

aber zugleich auch heimliches Einverständnis und objektive

Komplizenschaft, die auf gemeinsamen Interessen beruhen,

welche ihrerseits mit ihrer Position im Feld der symboli-

schen Produktion und damit zusammenhängen, daß sie

gemeinsame geistige Strukturen, Wahrnehmungs- und

Bewertungskategorien haben, die aus ihrer sozialen Her-

kunft, ihrer Ausbildung (oder Nichtausbildung) resultie-

ren. Woraus hervorgeht, daß dieses scheinbar entfesselte

Kommunikationsinstrument Fernsehen in Wirklichkeit

gefesselt ist. Als das Fernsehen in den sechziger Jahren

aufkam, haben eine Menge »Soziologen« (in ganz großen

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Anführungszeichen) vorschnell erklärt, das Fernsehen

als »Massenkommunikationsmittel« werde die Menschen

»vermassen«. Das Fernsehen werde alle Zuschauer nach

und nach nivellieren, homogenisieren. Dabei hat man die

Widerstandskräfte unterschätzt. Und vor allem hat man

die Fähigkeit des Fernsehens unterschätzt, diejenigen um-

zuformen, die es machen, und darüber hinaus die anderen

Journalisten und die Gesamtheit der Kulturproduzenten

(durch die unwiderstehliche Faszination, die es auf man-

che unter ihnen ausübte). Das wichtigste und kaum recht

vorhersehbare Phänomen war der außerordentliche Einfluß

des Fernsehens auf die Gesamtheit der kulturellen Tätig-

keiten, einschließlich der wissenschaftlichen und künstleri-

schen. Heute hat das Fernsehen einen Widerspruch bis zum

Äußersten, bis an seine Grenze getrieben, der alle Bereiche

der Kulturproduktion befällt. Ich meine den Widerspruch

zwischen einerseits den ökonomischen und sozialen Vor-

aussetzungen für die Hervorbringung bestimmter Werke

(ich habe das Beispiel Mathematik genannt, weil es am

einleuchtendsten ist, aber dasselbe gilt für Avantgardedich-

tung, für Philosophie, Soziologie usw.), Werke, die man

»rein« nennt – ein lächerliches Wort, sagen wir: autonom

im Hinblick auf kommerzielle Zwänge -, und andererseits

den sozialen Voraussetzungen für die Verbreitung der un-

ter solchen Voraussetzungen entstandenen Produkte; den

Widerspruch zwischen den Voraussetzungen, die gegeben

sein müssen, um avantgardistische Mathematik, avantgar-

distische Poesie usw. zu machen, und den Voraussetzungen,

die man braucht, um diese Dinge aller Welt bekannt zu

machen. Das Fernsehen treibt diesen Widerspruch zum

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Äußersten in dem Maße, in dem es mittels Einschaltquote

mehr als alle anderen Bereiche kultureller Produktion dem

Druck des Kommerziellen unterworfen ist.

Entsprechend stark sind in diesem Mikrokosmos, der

Welt des Journalismus, die Spannungen zwischen denen,

die Werte wie Autonomie, Freiheit gegenüber dem Kom-

merziellen, gegenüber Aufträgen, Chefs usw. verteidigen

möchten, und denen, die sich den Zwängen unterwerfen

und von ihnen dafür belohnt werden... Diese Spannungen

gelangen kaum zum Ausbruch, jedenfalls nicht auf dem

Bildschirm, denn die Voraussetzungen dafür sind selten

gegeben: Ich denke etwa an den Gegensatz zwischen den

großen Stars mit den Rieseneinkünften, die im Rampen-

licht stehen und dafür besonders entlohnt werden, aber

auch besonders unterwürfig sind, und den unsichtbaren

Handlangern der Nachrichtensendungen und Reportagen,

die immer kritischer, weil infolge der Logik des Arbeits-

marktes immer besser ausgebildet sind und dabei immer un-

interessantere, unbedeutendere Dinge zu tun haben. Hinter

den Mikrophonen, den Kameras stehen heute Menschen,

die viel gebildeter sind als ihre Kollegen in den sechziger

Jahren; anders gesagt: Die Spannung zwischen dem, was

beruflich verlangt wird, und den Ansprüchen, die man in

den Journalistenschulen und auf den Universitäten erwirbt,

steigt immer weiter – obwohl, wer wirklich Karriere ma-

chen will, sich schon vorgreifend anpaßt... Ein Journalist

sagte neulich, aus der Krise im Alter von  (mit  ent-

deckte man, daß der Beruf nicht hält, was man sich von

ihm versprochen hatte) werde eine Dreißiger-Krise. Die

Fernsehleute entdecken die fürchterlichen Zwänge ihres

Berufs immer früher, und vor allem die von der Einschalt-

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quote ausgehenden Zwänge. Im Journalismus finden sich

mit die meisten Unruhigen, Unzufriedenen, Empörten oder

zynisch Resignierten; unter ihnen (natürlich vor allem am

unteren Ende der Hierarchie) breiten sich Zorn, Ekel oder

Lustlosigkeit gegenüber einer Arbeit aus, die man zugleich

als »anders als die anderen« erlebt oder erleben will. Die

Situation ist jedoch alles andere als eine, in der Mißmut

und Ablehnung die Gestalt echten individuellen oder gar

kollektiven Widerstands annehmen könnten.

Wenn man verstehen will, wovon ich gesprochen habe

und was, obwohl ich mir alle Mühe gab, nicht mißverstan-

den zu werden, doch als individuelle Schuldzuweisung an

Moderatoren und Kommunikatoren aufgefaßt worden sein

wird, muß man sich auf die Ebene der Mechanismen, die

das Ganze steuern, die Ebene der Strukturen begeben. Pla-

ton (um ihn noch einmal zu zitieren) sagte, wir seien Mari-

onetten der Gottheit. Das Fernsehen ist ein Universum, das

den Eindruck vermittelt, daß die Akteure, trotz allem An-

schein von Wichtigkeit, von Freiheit, von Autonomie und

manchmal sogar einer erstaunlichen Aura (man braucht

nur die Fernsehzeitschriften zu lesen), Marionetten eines

Zwangszusammenhanges sind, der zu beschreiben, einer

Struktur, die herauszuarbeiten und ans Licht zu bringen

ist.

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Zweiter Vortrag

Die unsichtbare Struktur und ihre Auswirkungen

Um nicht nur, wenn auch noch so penibel, die Vorgänge in

einem Fernsehstudio zu beschreiben, sondern um die Me-

chanismen ausfindig zu machen, die diese erklären, bin ich

gezwungen, einen ein wenig technisch klingenden Begriff

einzuführen: den des journalistischen Feldes. Die Welt des

Journalismus ist ein Mikrokosmos mit eigenen Gesetzen.

Dieser Mikrokosmos ist definiert durch seine Stellung in

einem umfassenden Ganzen und durch die Anziehung und

Abstoßung, die andere Mikrokosmen auf ihn ausüben. Er

ist autonom, folgt seinem eigenen Gesetz, das heißt: Was

in ihm vor sich geht, kann nicht direkt von äußeren Fak-

toren her erschlossen werden. Daher mein Einwand gegen

die bloß ökonomische Erklärung der Entwicklungen im

Journalismus. Was bei TF vor sich geht, kann man zum

Beispiel nicht durch die bloße Tatsache erklären, daß

dieser Kanal Bouygues gehört. Natürlich wäre eine Erklä-

rung unzureichend, die das nicht berücksichtigt, aber eine

Erklärung, die nur das berücksichtigt, wäre nicht weniger

unzureichend. Und sie wäre vielleicht noch unzureichender,

weil sie den Eindruck erwecken würde, zureichend zu sein.

Es gibt einen mit der marxistischen Tradition verbundenen

Materialismus, der zu kurz greift und nichts erklärt, der

anprangert, ohne das geringste aufzuklären.

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Marktanteile und Konkurrenz

Um zu verstehen, was bei TF vor sich geht, muß man alle

Faktoren berücksichtigen, die dazu beitragen, daß TF sich

in einem Universum objektiver Beziehungen zwischen den

verschiedenen Fernsehkanälen befindet, die zueinander

in Konkurrenz stehen, in einer Konkurrenz jedoch, deren

Form, von außen nicht erkennbar, durch Kräfteverhält-

nisse definiert ist, die über Indikatoren wie Marktanteile,

Stellenwert bei den Werbekunden, das von angesehenen

Journalisten verkörperte kollektive Kapital usw. erfaßt

werden können. Anders gesagt, es finden zwischen diesen

Anstalten nicht nur Interaktionen statt, man hat es nicht

nur mit Leuten zu tun, die miteinander sprechen (oder

auch nicht), Leuten, die einander beeinflussen, einander

lesen, all das, was ich bisher erzählt habe; es existieren auch

völlig unsichtbare Kräfteverhältnisse, und das hat zur Folge,

daß, wer verstehen will, was bei TF oder Arte vor sich geht,

die Gesamtheit der objektiven Kräfteverhältnisse berück-

sichtigen muß, aus denen die Struktur des Feldes besteht.

Im Feld der Wirtschaftsunternehmen zum Beispiel kann

ein sehr mächtiges Unternehmen den Wirtschaftsraum

fast völlig umgestalten; es kann die Preise so senken, daß

neue Unternehmen nicht Fuß fassen können, und so eine

Art Zugangsbarriere errichten. Solche Auswirkungen sind

nicht unbedingt gewollt. TF hat die Fernsehlandschaft

einfach dadurch verändert, daß dieser Sender eine Menge

spezifischer Faktoren in sich versammelte, die in diesem

Universum Einfluß haben und sich effektiv in Marktanteile

umsetzen. Diese Struktur wird weder von den Fernsehzu-

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schauern noch von den Journalisten wahrgenommen. Sie

nehmen die Auswirkungen wahr, sehen aber nicht, wie

weit der relative Stellenwert der Institution, in der sie sich

befinden, sie selbst, ihre Stellung und ihren Stellenwert

innerhalb der Institution bestimmt. Wenn ein Journalist

verstehen will, was er bewirken kann, muß er sich eine Rei-

he von Parametern bewußt machen: einerseits die Position

seines Unternehmens innerhalb des journalistischen Feldes,

ob er also im Fernsehen oder für eine Tageszeitung arbeitet,

zweitens seine eigene Position im Raum seines Presseor-

gans oder seines Senders.

Ein Feld ist ein strukturierter gesellschaftlicher Raum,

ein Kräftefeld – es gibt Herrscher und Beherrschte, es gibt

konstante, ständige Ungleichheitsbeziehungen in diesem

Raum -, und es ist auch eine Arena, in der um Verände-

rung oder Erhaltung dieses Kräftefeldes gekämpft wird. In

diesem Universum bringt jeder die (relative) Kraft, über

die er verfügt und die seine Position im Feld und folglich

seine Strategien bestimmt, in die Konkurrenz mit den

anderen ein. Die wirtschaftliche Konkurrenz der Sender

oder Zeitungen um Leser oder Zuschauer oder, wie es

auch heißt, um Marktanteile spielt sich konkret in Form

einer Konkurrenz zwischen den Journalisten ab, und diese

Konkurrenz hat ihre eigenen, spezifischen Ziele: den Scoop,

die Exklusivmeldung, das berufliche Ansehen, und sie wird

nicht als rein wirtschaftlicher Kampf um finanzielle Ge-

winne erfahren und verarbeitet, obwohl sie den Zwängen

unterliegt, die mit der Position eines Informationsmediums

innerhalb ökonomischer und symbolischer Kräfteverhält-

nisse verbunden sind. Es gibt heute objektive, unsichtbare

Beziehungen zwischen Leuten, die sich vielleicht niemals

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begegnen – zwischen Mitarbeitern von Le Monde Diplo-

matique und TF etwa, um einen Extremfall zu wählen

-, aber gezwungen sind, bei dem, was sie tun, bewußt oder

unbewußt Zwänge oder Einflüsse zu berücksichtigen, die

sich aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu demselben Universum

geltend machen. Anders gesagt, wenn ich heute wissen will,

was dieser oder jener Journalist denken oder schreiben wird,

was er einleuchtend oder undenkbar, selbstverständlich oder

seiner unwürdig findet, muß ich die Position kennen, die er

in diesem Raum innehat, das heißt den spezifischen Stel-

lenwert des Mediums, für das er arbeitet und das sich unter

anderem ökonomisch bemißt, in Marktanteilen, aber auch,

und das ist schwerer zu quantifizieren, in seinem symboli-

schen Stellenwert. (Wenn man alles erfassen wollte, müßte

man im Grunde auch die Position des inländischen Me-

dienfeldes innerhalb des globalen Feldes einbeziehen und

zum Beispiel die auf ökonomisch-technischer und vor allem

symbolischer Ebene dominierende Stellung des amerikani-

schen Fernsehens berücksichtigen, das für viele Journalisten

ein Vorbild und eine Inspirationsquelle darstellt, aus der sie

ihre Einfalle, Szenarios, Verfahren beziehen.)

Die heutige Form dieser Struktur läßt sich besser verste-

hen, wenn man die Geschichte des Prozesses nachzeichnet,

aus der sie hervorging. In den fünfziger Jahren spielte das

Fernsehen im journalistischen Feld kaum eine Rolle; wer

von Journalismus sprach, dachte kaum an das Fernsehen.

Die Fernsehleute waren doppelt untergeordnet: Weil man

sie im Verdacht hatte, von politischen Instanzen gesteuert

zu werden, waren sie in ihrem Prestige kulturell, symbo-

lisch untergeordnet, und sie waren zugleich wirtschaftlich

untergeordnet, insofern sie von staatlichen Subventionen

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abhingen und also weniger effizient, weniger mächtig waren.

Mit den Jahren (der Prozeß wäre im Detail zu beschreiben)

kehrte sich diese Beziehung vollständig um; heute tendiert

das Fernsehen dazu, im journalistischen Feld ökonomisch

und symbolisch zu dominieren. Das macht vor allem die

Pressekrise spürbar: Zeitungen verschwinden, andere

kämpfen unablässig ums Überleben, um die Gewinnung

oder Wiedergewinnung ihrer Leserschaft, wobei jedenfalls

in Frankreich diejenigen am meisten bedroht sind, die vor

allem Vermischtes und Sport boten und einem Fernsehen

nicht viel entgegenzusetzen haben, das sich immer mehr

auf diese emen hin orientiert, und zwar in dem Maße,

in dem es vom seriösen Journalismus nicht mehr dominiert

wird (der nämlich an erster Stelle, auf der ersten Seite,

Nachrichten aus dem Ausland, politische Meldungen, ja

sogar politische Analysen bringt oder brachte und die »Ver-

mischten Meldungen« und den Sport auf die angebrachten

Plätze verwies).

Mit dieser Beschreibung breche ich die Dinge übers

Knie; man müßte ins Detail gehen, eine Sozialgeschichte

(es gibt sie leider nicht) der Entwicklung der Beziehungen

zwischen den verschiedenen Nachrichtenmedien anferti-

gen (und nicht nur die Geschichte eines Mediums). Das

Wichtigste wird auf der Ebene der Strukturgeschichte der

Gesamtheit dieses Universums deutlich. Was in einem Feld

zählt, ist der relative Stellenwert: Eine Zeitung kann völ-

lig identisch bleiben, sie braucht keinen einzigen Leser zu

verlieren, sich in nichts zu ändern und kann sich nichtsdes-

toweniger völlig transformieren, weil ihr Stellenwert und

ihre relative Position im Raum sich transformieren. Zum

Beispiel hört eine Zeitung auf zu dominieren, wenn ihre

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Macht, den sie umgebenden Raum zu gestalten, sich ab-

schwächt, wenn sie nicht mehr den Ton angibt. Man kann

sagen, daß Le Monde im Bereich der Presse den Ton angab.

Es existierten bereits ein Feld und der Gegensatz, den alle

Pressehistoriker feststellen, zwischen den Zeitungen, die

news, Nachrichten, Vermischtes liefern, und denen, die

views, Meinungen, Analysen usw. liefern; zwischen Zei-

tungen mit hoher Auflage wie France Soir und solchen mit

relativ niedriger Auflage, die dafür eine quasioffizielle Au-

torität ausüben. Le Monde stand unter beiden Aspekten gut

da: Die Auflage war hoch genug, um für Anzeigenkunden

eine Macht darzustellen, und zugleich verfügte die Zeitung

über genug symbolisches Kapital, um Autorität auszuüben.

Sie versammelte die beiden in diesem Feld ausschlaggeben-

den Machtfaktoren.

Die Meinungspresse ist im . Jahrhundert aufgekom-

men, und zwar in Reaktion auf die auflagenstarken Blätter,

die einem breiten Publikum Sensationen boten, was bei

gebildeten Lesern immer schon Angst oder Abscheu aus-

gelöst hat. Das Fernsehen, dieses Massenmedium schlecht-

hin, ist als Phänomen, abgesehen von seiner Reichweite,

nicht vollkommen neu. Nebenbei gesagt, eines der großen

Probleme der Soziologen besteht darin, nicht auf eine der

beiden symmetrisch einander entsprechenden Illusionen

hereinzufallen: die Illusion des jamais vu, noch nie dage-

wesen (es gibt Soziologen, die das hinreißend finden, und

es wirkt auch sehr schick, vor allem im Fernsehen, unerhört

Neues, Revolutionäres anzukündigen), und die des toujours

ainsi, alles wie gehabt (das findet sich eher bei konservativen

Soziologen: »Nichts Neues unter der Sonne, immer wird es

oben und unten geben, reich und arm...«). Die Gefahr ist

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immer sehr groß und um so größer, als der Vergleich zwi-

schen Epochen äußerst schwierig ist: Nur Strukturen lassen

sich miteinander vergleichen, und man läuft ständig Gefahr,

sich zu täuschen und als unerhört zu beschreiben, was banal

ist – einfach aus mangelndem Wissen. Darin liegt einer

der Gründe dafür, daß Journalisten manchmal gefährlich

sind: Da sie nicht immer wirklich gebildet sind, wundern

sie sich über Dinge, die nicht sehr verwunderlich sind, und

über wirklich Staunenswertes wundern sie sich nicht... Die

Geschichte ist für uns Soziologen unerläßlich; leider wissen

wir in vielen Bereichen, vor allem im zeitgeschichtlichen,

noch nicht sehr viel, vor allem über neue Phänomene wie

den Journalismus.

Eine banalisierende Kraft

Um auf die Frage der Konsequenzen zurückzukommen, die

das Auftauchen des Fernsehens mit sich bringt: Zwar hat

der Gegensatz schon früher bestanden, aber nie in dieser

Schärfe (ich wähle einen Mittelweg zwischen »nie dage-

wesen« und »wie gehabt«). Durch seine Reichweite stellt

das Fernsehen den Pressejournalismus und überhaupt die

Welt der Kultur vor ein furchtbares Dilemma. Neben ihm

scheint die Massenpresse ziemlich belanglos, die dereinst

schaudern ließ (Raymond Williams

stellte die Hypothese

auf, daß die ganze romantische Dichtung in England von

dem Horror ausgelöst wurde, den das Aufkommen der

Massenpresse den Schriftstellern einflößte). Durch seine

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Reichweite und seinen außerordentlichen Stellenwert löst

das Fernsehen Effekte aus, die, obwohl nicht völlig neu,

doch sehr neuartig sind.

Zum Beispiel kann das Fernsehen an einem Abend wäh-

rend der Acht-Uhr-Nachrichten mehr Menschen erreichen

als die ganze französische Morgen- und Abendpresse zu-

sammengenommen. Wenn die von einem solchen Medium

gelieferten Meldungen aseptische, homogenisierte Omni-

bus-Meldungen werden, liegen die möglichen politischen

und kulturellen Auswirkungen auf der Hand. Das Gesetz

ist altbekannt: Je breiter das Publikum ist, auf das ein Pres-

seorgan oder überhaupt ein Kommunikationsmedium zielt,

je stromlinienförmiger muß es sich verhalten; es muß alles

Kontroverse meiden und sich befleißigen, »niemanden zu

schockieren«, wie es heißt, niemals Probleme aufzuwer-

fen, oder höchstens Scheinprobleme. Im täglichen Leben

spricht man oft vom Wetter, weil man bei diesem ema

sicher sein kann, nicht auf Widerspruch zu stoßen – das

Softthema schlechthin, wenn Sie sich nicht gerade als Ur-

lauber mit einem Bauern unterhalten, der auf Regen wartet.

Je breiter das Publikum ist, auf das ein Informationsmedi-

um zielt, desto mehr problemfreie Omnibus-emen stellt

es in den Vordergrund. Das ema wird entsprechend den

Wahrnehmungskategorien des Rezipienten konstruiert.

Deshalb kommt die ganze kollektive Anstrengung um

Homogenisierung und Banalisierung, um »konform« und

»unpolitisch« zu sein, die ich beschrieben habe, perfekt

 Vgl. Raymond Williams, Gesellschaftstheorie als Begriffsgeschichte. Studien

zur historischen Semantik von >Kultur<, München, Rogner & Bern-.

hard, . (A.d.Ü.)

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an, obwohl eigentlich kein Subjekt sie lenkt, obwohl sie

niemals von irgend jemandem so gedacht und gewollt war.

Solche Dinge beobachtet man oft in der sozialen Welt: Es

ereignet sich etwas, das keiner will und das doch ganz den

Anschein haben kann, als sei es gewollt (»Man macht das,

um...«). Hier wird die vereinfachende Kritik gefährlich:

Sie dispensiert von der notwendigen Arbeit, Phänomene

zu verstehen wie etwa dies, daß jenes höchst merkwürdi-

ge Produkt »Fernsehnachrichten« zustande kommt, ohne

daß jemand es wirklich so will, ohne daß die Geldgeber

spürbar einzugreifen hätten – ein Produkt für den Durch-

schnitts-geschmack, das Altbekanntes bestätigt und vor

allem die mentalen Strukturen unangetastet läßt. Gewöhn-

lich spricht man von Revolutionen, wenn die materiellen

Grundlagen einer Gesellschaft angetastet werden (durch

Verstaatlichung von Kircheneigentum z. B.); es gibt aber

auch symbolische Revolutionen, solche, die von Künstlern,

Wissenschaftlern oder auch großen religiösen oder manch-

mal, seltener, von politischen Propheten ausgelöst werden

– Revolutionen, die an die mentalen Strukturen rühren, das

heißt: unsere Sicht- und Denkweisen verändern. Auf dem

Gebiet der Malerei war dies der Fall bei Manet, der einen

grundlegenden Gegensatz erschütterte, eine Struktur, auf

der die ganze akademische Ausbildung beruhte: den Ge-

gensatz zwischen dem Zeitgenössischen und dem Antiken.

Wenn ein so mächtiges Instrument wie das Fernsehen sich

auch nur im geringsten auf eine solche symbolische Revolu-

tion zubewegen würde, es würde, dessen bin ich mir sicher,

sofort gebremst... Aber ohne daß das irgendwer verbieten

müßte, bloß von der Konkurrenz getrieben und den anderen

erwähnten Mechanismen, tut das Fernsehen sowieso nichts

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dergleichen. Es ist den mentalen Strukturen des Publi-

kums vollendet angepaßt. Zu dieser Logik zählt auch der

Moralingehalt des Fernsehens, seine »Aktion Sorgenkind«-

Mentalität. »Gute Gefühle«, sagte Gide, »bringen schlechte

Literatur hervor«; aber gute Gefühle bringen hervorragende

Einschaltquoten. Es wäre der Mühe wert, einmal über den

Moralismus der Fernsehleute nachzudenken: Oft genug

Zyniker, sind sie in ihren Äußerungen zu moralischen Fra-

gen doch unwahrscheinlich konformistisch. Unsere Nach-

richtensprecher, Moderatoren, Sportreporter haben sich zu

Moralaposteln entwickelt; mühelos schwingen sie sich zu

Verkündern einer typisch kleinbürgerlichen Moral auf, die

bestimmen, »was zu halten ist« von dem, was sie »die Pro-

bleme der Gesellschaft« nennen, von Aggressionen in den

Vorstädten oder von der Gewalt an den Schulen. Dasselbe

gilt für Kunst oder Literatur: Die sogenannten literarischen

Sendungen, gerade die bekanntesten, fördern die etablier-

ten Werte, den Konformismus und Akademismus oder

auch das, was gerade hoch im Kurs steht, und zwar tun sie

es immer dienstfertiger.

Die Journalisten (genauer gesagt: das journalistische

Feld) verdanken ihre Bedeutung in der sozialen Welt dem

Umstand, daß sie ein faktisches Monopol über die Instru-

mente zur Herstellung und Verbreitung von Informationen

auf nationaler Ebene innehaben, und vermittels dieser In-

strumente ein Monopol über den Zugang einfacher Bürger,

aber auch anderer Kulturproduzenten – Wissenschaftler,

Künstler, Schriftsteller – zu dem, was man manchmal

»Öffentlichkeit« nennt, das heißt zum breiten Publikum.

(Dieses Monopol macht sich störend bemerkbar, sobald

man versucht, als Individuum oder als Mitglied einer Verei-

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nigung, irgendeiner Gruppierung, ein breites Publikum zu

informieren.) Obwohl sie eine untergeordnete, dominierte

Stellung in den Feldern der Kulturproduktion einnehmen,

üben sie eine ganz seltene Form von Herrschaft aus: Sie

haben die Verfügungsgewalt über die Mittel, sich öffentlich

zu äußern, öffentlich zu existieren, gekannt zu werden, zu

öffentlicher Bekanntheit zu gelangen (was für Politiker und

für manche Intellektuelle ein entscheidendes Ziel darstellt).

Dies führt dazu, daß sie (jedenfalls die mächtigsten unter

ihnen) ein Ansehen genießen, das zu ihren intellektuellen

Meriten oft in keinerlei Verhältnis steht... Und sie können

einen Teil dieser Macht, Ruhm zu vergeben, zugunsten

ihrer eigenen Person verwenden (daß selbst die anerkann-

testen Journalisten gesellschaftlichen Kategorien, die sie

gelegentlich dominieren können, wie Intellektuellen – zu

denen sie brennend gern gehören würden – und Politikern

strukturell untergeordnet sind, trägt wohl zur Erklärung

ihres konstanten Hangs zum Antiintellektualismus bei).

Vor allem aber verhilft ihnen ihr ständiger Zugang zu öf-

fentlicher Sichtbarkeit, zur Äußerung vor einem breiten Pu-

blikum – etwas, was jedenfalls bis zur Erfindung des Fern-

sehens sogar für hochberühmte Kulturproduzenten ganz

undenkbar war – dazu, daß sie der ganzen Gesellschaft

die Grundlagen ihrer Weltsicht, ihre Problemstellung, ihre

Optik aufnötigen können. Man wird einwenden, daß die

Journalistenwelt uneinheitlich ist, daß sie differenziert und

diversifiziert und also in der Lage ist, alle Meinungen, alle

Gesichtspunkte zu vertreten oder ihnen Gelegenheit zu

geben, sich zu äußern (und tatsächlich kann man die un-

tereinander konkurrierenden Journalisten und Medien bis

zu einem gewissen Punkt gegeneinander ausspielen, sofern

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man über ein Minimum an symbolischem Stellenwert ver-

fügt). Aber das journalistische Feld beruht wie die anderen

Felder unweigerlich und jenseits aller Unterschiede von Po-

sition und Meinung auf einer Gesamtheit von allen geteilter

Grundannahmen und Dogmen. Aus diesen Grundannah-

men, die in einem bestimmten System von Denkkategorien

wurzeln, in einer bestimmten Beziehung zur Sprache

– eben in allem, was zum Beispiel ein Urteil wie »kommt gut

beim Zuschauer an« impliziert -, ergibt sich der Ausschnitt,

den Journalisten in der sozialen Wirklichkeit und auch in

der Gesamtheit der symbolischen Produktionen wahrneh-

men. Kein Diskurs (wissenschaftliche Analyse, politisches

Manifest usw.), keine Aktion (Demonstration, Streik usw.),

die nicht, um überhaupt öffentlich diskutierbar zu werden,

die Probe der journalistischen Auswahl bestehen müßten

– das heißt eine erbarmungslose Zensur, die die Journa-

listen ausüben, ohne es überhaupt zu wissen, und bei der

nur durchschlüpft, was in der Lage ist, sie zu interessieren,

ihre »Aufmerksamkeit zu wecken«, das heißt ihren Kate-

gorien, ihrem Wahrnehmungsschema zu entsprechen, und

bei der sie als unbedeutend oder gleichgültig symbolische

Äußerungen zurückweisen, die es verdienen würden, alle

zu erreichen.

Eine weitere, schwieriger zu erfassende Folge des relati-

ven Gewichts des Fernsehens im publizistischen Raum und

des Einflusses kommerzieller Zwänge auf dieses dominie-

rend gewordene Fernsehen ist der Übergang von einer Po-

litik kultureller Aufklärung zu einer Art spontaneistischer

Demagogie (die sich natürlich vor allem im Fernsehen

breitmacht, aber auch die seriöse Presse ergreift, in der

in Form »freier Stellungnahmen«, »offener Aussprachen«

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usw. Leserbriefen immer mehr Platz eingeräumt wird).

Das Fernsehen der fünfziger Jahre erhob einen kulturellen

Anspruch und bediente sich seines Monopols in gewisser

Weise, um jedermann Produkte mit kulturellen Intentionen

(Dokumentarfilme, Fernsehbearbeitungen klassischer Wer-

ke, Kulturdebatten usw.) aufzudrängen und den Geschmack

des breiten Publikums zu formen; das Fernsehen der neun-

ziger Jahre will diesen Geschmack nur mehr bedienen und

ausschlachten, um über Rohprodukte die größtmögliche

Zuschauerzahl zu erreichen – paradigmatisch dafür die

Talkshow, die Psychoshow, hüllenlose Erfahrungsberichte

oft extremer Art, die einer Form von Voyeurismus und

Exhibitionismus entgegenkommen (wie übrigens auch die

Unterhaltungssendungen, an denen man sogar als einfacher

Zuschauer brennend gern teilnimmt, um wenigstens einen

Augenblick lang sichtbar zu sein). Indessen teile ich nicht

die Nostalgie mancher nach dem pädagogisch-paternalis-

tischen Fernsehen der Vergangenheit; ich denke, daß es zu

einer wirklich demokratischen Nutzung der Massenmedien

in nicht geringerem Gegensatz steht als der populistische

Spontaneismus und die demagogische Unterwerfung unter

populäre Geschmacksrichtungen.

Von der Einschaltquote entschiedene Kämpfe

Wir müssen nun über den bloßen Anschein hinausgehen,

müssen das, was sich vor der Kamera abspielt, und auch die

Konkurrenz innerhalb des journalistischen Feldes hinter

uns lassen und uns mit dem Kräfteverhältnis zwischen den

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verschiedenen Organen beschäftigen insofern, als dieses

Verhältnis selbst die Form der Interaktionen bestimmt. Um

zu verstehen, warum wir heute regelmäßig diese und jene

Debatte zwischen diesem und jenem Journalisten sehen,

müssen wir die Positionen der verschiedenen Presseorgane

einbeziehen, die sie im journalistischen Raum vertreten,

und ihre Position innerhalb dieser Organe. Und auch wenn

wir verstehen wollen, was ein Kommentator in Le Monde

schreiben und was er nicht schreiben kann, müssen wir die-

se beiden Faktoren immer im Kopf haben. Die mit der Posi-

tion verbundenen Zwänge werden als Verbote oder ethische

Anweisungen erfahren: »Das ist mit der Tradition von Le

Monde unvereinbar«, oder: »Das steht dem Geist von Le

Monde entgegen«, »hier kann man das nicht machen«, usw.

Alle diese Erfahrungen, die in Form ethischer Vorschriften

verkündet werden, übersetzen die Struktur des Feldes in

das Verhalten einer Person, die eine bestimmte Position in

diesem Raum einnimmt.

Die verschiedenen Protagonisten in einem Feld haben

oft abwertende Vorstellungen von den anderen Akteuren,

zu denen sie in Konkurrenz stehen, und äußern sich ste-

reotyp und beleidigend über sie (so produziert im Raum

des Sports jede Sportart stereotype Vorstellungen von den

anderen – die Rugbyspieler nennen die Fußballer manchots,

Armamputierte). Bei diesen Vorstellungen handelt es sich

oft um Kampfstrategien, die das bestehende Kräftever-

hältnis verändern oder erhalten sollen. Gegenwärtig ist zu

beobachten, daß Pressejournalisten in dominierter Position

– solche, die bei kleinen Blättern in untergeordneter Stellung

tätig sind – gegenüber dem Fernsehen einen sehr kritischen

Diskurs entwickeln.

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Im Grunde genommen sind solche Vorstellungen Stel-

lungnahmen, in denen sich vor allem die Position dessen

niederschlägt, der sie in mehr oder weniger verschleierter

Form artikuliert. Zugleich aber sind dies auch Strategien,

die auf eine Veränderung der Position abzielen. Heutzutage

ist die Auseinandersetzung um das Fernsehen im journalis-

tischen Milieu zentral; das macht die Untersuchung dieses

Gegenstands besonders schwierig. Der Diskurs über das

Fernsehen, der wissenschaftlichen Anspruch erhebt, ist

zum Teil nichts anderes als die Wiedergabe dessen, was

die Fernsehleute über das Fernsehen sagen. (Journalisten

halten einen Soziologen für um so besser, als das, was er

sagt, sich dem annähert, was sie denken. Man darf daher

nicht hoffen – und das ist übrigens auch gut so -, sich bei

Fernsehleuten beliebt zu machen, wenn man die Wahrheit

über das Fernsehen sagt.) Nun gibt es Indizien dafür, daß

der Pressejournalismus gegenüber dem Fernsehen immer

mehr auf dem Rückzug ist: In allen Blättern schwillt die

Fernsehbeilage an, und die Pressejournalisten selbst legen

größten Wert darauf, vom Fernsehen übernommen zu

werden (und natürlich auch darauf, im Fernsehen gesehen

zu werden, was ihren Preis bei der Presse hochtreibt: Ein

Journalist muß seine Fernsehsendung haben, wenn er etwas

gelten will; es kommt sogar vor, daß Fernsehjournalisten

sehr wichtige Positionen bei der Presse erhalten, womit das

Spezifische des Schreibens, des Metiers überhaupt in Frage

gestellt wird: Wenn eine Fernsehjournalistin von einem Tag

auf den anderen die Leitung eines Presseorgans überneh-

men kann, fragt man sich, worin spezifisch journalistische

Kompetenz eigentlich besteht

); und schließlich wird dieser

Rückzug auch dadurch indiziert, daß das, was die Amerika-

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ner agenda nennen (die emen, über die man zu sprechen,

die man zu kommentieren hat, die wichtigen Probleme),

immer mehr vom Fernsehen vorgegeben wird (in der zir-

kulären Zirkulation der Nachrichten, die ich beschrieben

habe, hat das Fernsehen einen entscheidenden Stellenwert,

und selbst wenn einmal ein ema – eine Affäre, eine

Debatte – von Pressejournalisten lanciert wird, so erlangt

es zentrale Bedeutung doch erst, wenn es vom Fernsehen

aufgegriffen, orchestriert und gleichzeitig damit politisch

relevant gemacht wird). Dadurch wird die Position der

Pressejournalisten bedroht und gleichzeitig die Besonder-

heit ihrer Arbeit in Frage gestellt. Alles, was ich hier sage,

wäre zu präzisieren und zu überprüfen: Ich bilanziere eine

Reihe von Forschungsergebnissen und entwickle zugleich

ein Programm für weitergehende Untersuchungen. Diese

Dinge sind sehr kompliziert, und ihre Kenntnis kann nur

durch aufwendige empirische Arbeiten vorangebracht wer-

den (was einige selbsternannte Päpste einer nichtexistenten

Wissenschaft, der »Mediologie«, nicht hindert, noch vor

jeder Bestandsaufnahme ihre oreiligen Schlußfolgerungen

über den Zustand der Medienwelt zu verkünden

).

Das Wichtigste aber ist, daß aufgrund des Anwachsens

der symbolischen Bedeutung des Fernsehens und aufgrund

der Bedeutungszunahme jener Fernsehkanäle, die sich mit

dem größten Zynismus und dem größten Erfolg der Jagd

 Bourdieu spielt auf den Fall der populären Fernsehsprecherin Christine

Ockrent an, die Chefredakteurin des Nachrichtenmagazins L‘Express

wurde. (A.d.Ü.)

 Vgl. Regis Debray, Cours de mediologie generale (Paris, Gallimard, )

und die von ihm seit  herausgegebene Zeitschrift Les Cahiers de

Mediologie. (A. d. Ü.)

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nach dem Sensationellen, dem Spektakulären, dem Un-

gewöhnlichen hingeben, sich tendenziell ein bestimmtes

Konzept von Nachricht, wie es bislang der dem Sport und

Vermischten gewidmeten sogenannten Sensationspresse

vorbehalten war, des gesamten journalistischen Feldes

bemächtigt. Und damit prägt gleichzeitig eine bestimmte

Kategorie von Journalisten – diejenigen nämlich, die man

mit Traumhonoraren anwirbt, weil sie es fertigbringen,

sich skrupellos den Erwartungen des anspruchslosesten

Publikums unterzuordnen, also die zynischsten, jedem

Berufsethos und erst recht allen politischen Fragen ge-

genüber unempfindlichsten unter ihnen – tendenziell die

»Werte«, die Vorlieben, die Verhaltens- und Sprechweisen,

das »menschliche Ideal« der Gesamtheit der Journalisten.

Getrieben von der Konkurrenz um Marktanteile, greifen

die Fernsehanstalten mehr und mehr auf die alten Tricks

der Sensationspresse zurück: Was auch immer in der Welt

geschehen sein mag, die Fernsehnachrichten beginnen

immer häufiger mit Fußballergebnissen oder diesem oder

jenem anderen Sportereignis, das eigens programmiert

wurde, um in die Acht-Uhr-Meldungen zu kommen, oder

mit den Anekdotenhaftesten, ritualisiertesten Aspekten

des politischen Lebens (Besuchen ausländischer Staats-

oberhäupter, Besuchen des eigenen Staatsoberhaupts im

Ausland usw.), ganz zu schweigen von Naturkatastrophen,

Unfällen, Feuersbrünsten, kurz allem, was bloß die Neugier

kitzelt und keinerlei spezifische Kompetenz voraussetzt,

vor allem keine politische. Die »Vermischten Meldungen«,

ich habe es schon gesagt, produzieren politische Leere; sie

entpolitisieren und reduzieren die Welt auf Anekdoten und

Klatsch (der überregional oder global sein kann, man denke

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an das Leben der Stars, der Königsfamilien usw.), wobei

man die Aufmerksamkeit auf Ereignisse ohne politische

Konsequenzen lenkt und fixiert, die man dramatisiert, um

»Lehren daraus zu ziehen« oder sie in »Probleme unserer

Gesellschaft« zu verwandeln. Hier werden dann oft die

Fernsehphilosophen zu Hilfe gerufen, auf daß sie dem

Sinnlosen Sinn geben, dem Anekdotischen und Beiläufi-

gen, das künstlich in den Vordergrund geschoben und zum

Ereignis stilisiert wird, dem Tragen eines Kopftuchs

in der

Schule, dem Angriff auf einen Lehrer oder irgendeinem

anderen »gesellschaftlichen Vorfall«, der geeignet ist, die

pathetische Empörung eines Finkielkraut auszulösen oder

einen Comte-Sponville zu moralisierenden Betrachtungen

zu veranlassen. Dieselbe Bemühung um das Sensationelle,

also um den kommerziellen Erfolg, kann auch zu Meldun-

gen führen, die, den wilden Konstruktionen (spontaner oder

kalkulierter) Demagogie überlassen, durch das Appellieren

an elementare Instinkte und Leidenschaften (man denke an

Kindesentführungen und Empörung auslösende Skandale)

ungeheures Interesse hervorrufen können und Formen rein

sentimentaler undl karitativer Mobilisierung auslösen oder

auch ebenso leidenschaftliche, aber aggressive, dem sym-

bolischen Lynchen verwandte Reaktionen, etwa bei Kin-

desentführungen oder Vorfällen, die mit stigmatisierten

Gruppen in Verbindung gebracht werden.

 Die Frage, ob es islamischen Mädchen erlaubt sein soll, auch in den

überkonfessionellen öffentlichen Schulen ihrer Religionszugehörigkeit

durch Anlegen eines Kopftuchs Rechnung zu tragen, spielte in Frank-

reich in den Mitte der neunziger Jahre eine große Rolle. (A. d. Ü.)

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Infolgedessen stehen die Pressejournalisten heute vor der

Entscheidung: Sollen sie die Richtung auf das dominieren-

de Modell hin einschlagen, also Zeitungen nach dem Vor-

bild der Fernsehnachrichten machen, oder den Unterschied

betonen und eine Strategie der Produktdifferenzierung

entwickeln? Sollen sie den Wettbewerb aufnehmen und das

Risiko eingehen, auch noch das der kulturellen Botschaft

strikter Observanz verbliebene Publikum zu verlieren, oder

den Unterschied vertiefen? Das Problem stellt sich auch

innerhalb des Fernsehens selbst, das ein Feld für sich und

zugleich ein Unterfeld innerhalb des journalistischen Feldes

ist. Bei dem heutigen Stand meiner Überlegungen denke

ich, daß die Entscheidungsträger Opfer der »Einschaltquo-

tenmentalität« sind und sich unbewußt weigern, wirklich

zu wählen. (Es läßt sich sehr oft beobachten, daß die wich-

tigen gesellschaftlichen Entscheidungen von niemandem

getroffen werden. Wenn der Soziologe immer eine Art Stö-

renfried ist, so deswegen, weil er darauf drängt, sich Dinge

bewußt zu machen, über die man eigentlich lieber im un-

klaren bliebe.) Ich denke, die Haupttendenz bringt die Or-

gane der Kulturproduktion alten Schlages dahin, auf ihren

spezifischen Charakter zu verzichten und sich auf ein Ter-

rain zu begeben, auf dem sie von vornherein verloren sind.

So ist der Kulturkanal Arte von einer Position intransigenter,

ja aggressiver Hermetik sehr rasch auf einen mehr oder we-

niger schmählichen Kompromiß mit den Anforderungen

der Einschaltquote eingeschwenkt; heute kompromittiert

es sich doppelt: leichte Kost zur Prime time, Hermetisches

zu vorgerückten Nachtstunden. Le Monde steht vor einer

ähnlichen Entscheidung. Ich will die Analyse jetzt nicht

weitertreiben; ich habe, glaube ich, hinlänglich gezeigt, wie

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man von der Untersuchung unsichtbarer Strukturen – die,

wie die Schwerkraft, zu den Dingen gehören, die keiner

sieht, die man aber voraussetzen muß, um zu verstehen, was

geschieht – zu persönlichen Erfahrungen übergehen kann,

wie unsichtbare Kräfteverhältnisse sich in persönliche Kon-

flikte, in existentielle Entscheidungen umsetzen.

Das Feld des Journalismus hat eine Besonderheit: Es ist

viel stärker von externen Kräften abhängig als alle anderen

Felder der Kulturproduktion, das Feld der Mathematik, das

der Literatur, der Rechtsprechung, der Naturwissenschaf-

ten usw. Es hängt ganz unmittelbar von der Nachfrage

ab, es unterliegt der Sanktion durch den Markt, durch das

Plebiszit, vielleicht mehr noch als das politische Feld. Der

in allen Feldern beobachtbare Gegensatz zwischen dem

»Reinen« und dem »Kommerziellen« (beim eater zum

Beispiel der Gegensatz zwischen Boulevard und Avantgar-

de, ein Gegensatz, der dem zwischen TF und Le Monde

entspricht: gebildeteres Publikum auf der einen Seite, we-

niger gebildetes auf der anderen, mehr Studenten auf der

einen, mehr Geschäftsleute auf der anderen) setzt sich hier

mit besonderer Brutalität durch, und der kommerzielle Pol

ist besonders stark: Noch nie war er so einflußreich, und

auch im Vergleich mit der Rolle, die er zur selben Zeit in

anderen Feldern spielt, ist seine Machtstellung ohne Bei-

spiel. Darüber hinaus existiert in der journalistischen Welt

kein Äquivalent zu der etwa in der wissenschaftlichen Welt

beobachtbaren immanenten Justiz, die Regelverletzungen

ahndet, während derjenige, der sich an die Spielregeln hält,

von seinen Kollegen Beachtung erfährt (die sich zum Bei-

spiel in Verweisen, Zitaten niederschlägt). Wo gibt es im

Journalismus positive, wo negative Sanktionen? Die einzige,

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embryonale Form von Kritik stellen satirische Sendungen

wie die Guignols dar. Und was positive Sanktionen angeht,

so ist mehr als die ausdrückliche Übernahme einer Mel-

dung durch ein anderes Informationsorgan kaum auszuma-

chen; und das ist ein seltenes, wenig ins Auge fallendes und

zweideutiges Indiz.

Der Einfluß des Fernsehens

Die Welt des Journalismus ist ein Feld für sich, das jedoch

vermittels der Einschaltquote unter der Fuchtel des öko-

nomischen Feldes steht. Und dieses zutiefst heteronome,

kommerziellen Zwängen sehr stark unterworfene Feld übt

seinerseits strukturell Druck auf andere Felder aus. Dieser

strukturelle, objektive, anonyme, unsichtbare Effekt hat

nichts zu tun mit dem, was man unmittelbar sieht und was

man gewöhnlich denunziert, das heißt mit dem Eingriff

dieser oder jener Person... Man kann, man darf sich nicht

damit begnügen, die Verantwortlichen namhaft zu machen.

Karl Kraus zum Beispiel attackierte eine Person sehr heftig,

deren Funktion mit der des Herausgebers des Nouvel Obser-

vateur von heute zu vergleichen ist: Unablässig denunzierte

er deren kulturzerstörerischen kulturellen Konformismus,

ihre Gefälligkeit gegenüber dürftigen oder erbärmlichen

Skribenten, ihren geheuchelten Pazifismus, der die pazi-

fistischen Ideen diskreditierte... Fast immer richtet Kritik

sich gegen Personen. Wenn man aber Soziologie betreibt,

erfährt man, daß Männer und Frauen gewiß Verantwor-

tung haben, daß sie in dem, was sie tun können und was

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nicht, aber weitgehend definiert sind durch die Struktur,

in der sie stecken, und durch die Position, die sie in dieser

Struktur innehaben. Man kann sich also nicht mit der Kri-

tik an diesem oder jenem Journalisten, Philosophen oder

Journalphilosophen zufriedengeben... Jeder hat seine priva-

ten Zielscheiben, auch ich: Bernard-Henri Levy ist eine Art

Symbol des Medienschriftstellers oder Medienphilosophen

für mich geworden. Aber es ist eines Soziologen unwürdig,

über Bernard-Henri Levy zu sprechen... Denn er ist nur

eine Art Epiphänomen einer Struktur, Ausdruck seines

Feldes, ganz wie ein Elektron. Man versteht nichts, wenn

man das Feld nicht versteht, das ihr hervorbringt und ihm

seine schwache Kraft verleiht.

Das ist wichtig, um die Analyse zu entdramatisieren und

um rational zu handeln. Ich bin wirklich der Überzeugung,

daß Untersuchungen wie diese (und daß ich sie im Fernse-

hen vortrage, zeigt es) vielleicht zum Teil dazu beitragen

können, die Dinge zu ändern. Alle Wissenschaften erheben

diesen Anspruch. Auguste Comte sagte: »Aus Wissenschaft

folgt Prognose, aus Prognose folgt Handlung.« Die Sozial-

wissenschaft darf diesen Ehrgeiz ebenso hegen wie alle

anderen. Wenn der Soziologe einen Raum wie den Journa-

lismus beschreibt – wobei er zunächst Instinkte, Gefühle,

Leidenschaften einbringt, Instinkte und Leidenschaften,

die sich durch die Untersuchungsarbeit sublimieren -, dann

hat er eine gewisse Hoffnung darauf, Wirkungen auszulö-

sen. Zum Beispiel kann er, indem er das Bewußtsein der

Mechanismen erhöht, dazu beitragen, Menschen, die von

diesen Mechanismen manipuliert werden, ob Journalisten

oder Fernsehzuschauern, ein wenig mehr Freiheit zu geben.

In Klammern gesagt: Ich denke, daß Journalisten, die sich

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hier gewissermaßen »objektiviert« fühlen können, dann,

wenn sie mir gut zuhören, sagen werden – so hoffe ich je-

denfalls -, daß ich, indem ich Dinge durchleuchte, die sie in

etwa erahnen, aber lieber nicht genau wissen wollen, ihnen

Befreiungsinstrumente gebe, mit denen sie diese Mechanis-

men meistern können. In der Tat sind zeitungsübergreifen-

de Allianzen denkbar, die manche der von der Konkurrenz

ausgelösten Effekte auszuschalten in der Lage wären. Wenn

ein Teil dieser unheilvollen Effekte aus Struktureffekten

hervorgeht, die Konkurrenzsituationen erzeugen, die ih-

rerseits den Zeitdruck auslösen, der wiederum zur Jagd

nach dem Scoop zwingt, die dazu führen kann, extrem

gefährliche Meldungen zu lancieren, bloß um einen Kon-

kurrenten außer Gefecht zu setzen, ohne daß das auch nur

ein Zuschauer mitbekommt – wenn das alles so läuft, dann

kann die Tatsache, daß diese Mechanismen bewußt und ex-

plizit gemacht werden, zu einer gegenseitigen Abstimmung

führen mit dem Ziel, die Konkurrenz zu neutralisieren (in

etwa so, wie es in Extremsituationen, bei Kindesentfüh-

rungen zum Beispiel, manchmal geschieht, könnte man

sich vorstellen – oder erträumen -, daß die Journalisten

sich darauf einigen, Politiker, die für – und durch – ihre

fremdenfeindlichen Äußerungen bekannt sind, nicht mehr

einzuladen, bloß weil er die Einschaltquote hochtreibt; was

sehr viel wirksamer wäre als alle scheinheiligen »Proteste«

zusammengenommen). Ich mache hier wirklich in Utopie,

und ich bin mir dessen auch bewußt. Aber denen, die dem

Soziologen immer seinen Determinismus und Pessimismus

vorwerfen, möchte ich nur entgegenhalten, daß ein Be-

wußtsein von den strukturellen Mechanismen, aus denen

unmoralisches Verhalten hervorgeht, es ermöglichen würde,

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etwas zu ihrer Kontrolle zu unternehmen. In diesem hoch-

gradig zynischen Universum ist viel von Moral die Rede.

Als Soziologe weiß ich, daß Moral nur effizient ist, wenn

sie sich auf Strukturen, auf Mechanismen stützt, durch die

Menschen an der Moral Interesse gewinnen. Und wenn so

etwas wie moralische Unruhe aufkommen soll, dann muß

sie in dieser Struktur selbst Stützpunkte und Verankerun-

gen, muß sie Anerkennung finden. Diese Anerkennung

könnte auch vom Publikur ausgehen (wenn es aufgeklärter

wäre und sich die Manipulationen bewußt machen würde,

denen es zum Opfer fällt).

Ich denke also, daß gegenwärtig alle Felder der Kultur-

produktion dem strukturellen Druck des journalistischen

Feldes ausgesetzt sind – und nicht diesem oder jenem

Journalisten, diesem oder jenem Programmdirektor, die

selber von den in diesem Feld wirkenden Kräften überrollt

werden. Und dieser Druck übt auf alle Felder sehr ähnliche

Effekte aus. Das journalistische Feld wirkt als Feld auf die

anderen Felder ein. Anders gesagt, ein Feld, das selbst

immer stärker von der kommerziellen Logik dominiert ist,

übt immer mehr Druck auf andere aus. Durch den von der

Einschaltquote ausgehenden Druck wirkt die Wirtschaft

auf das Fernsehen ein und durch die Bedeutung des Fernse-

hens für den Journalismus auf alle Presseerzeugnisse, auch

auf die »reinsten«, und auf die Journalisten, die sich nach

und nach vom Fernsehen die emen vorgeben lassen. Und

in gleicher Weise lastet er durch den Stellenwert, den die

Gesamtheit des journalistischen Feldes innehat, auf allen

Feldern der Kulturproduktion.

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In einem Heft der Actes de la recherche en sciences sociales,

das wir dem Journalismus gewidmet haben, ist ein sehr

schöner Artikel von Remi Lenoir erschienen, der zeigt,

wie hohe Justizbeamte, Angehörige des Felds der Recht-

sprechung, die sich den internen Normen ihres Universums

nicht immer sehr verpflichtet fühlen, das Fernsehen dafür

einspannen konnten, das Kräfteverhältnis innerhalb ihres

Feldes zu ändern und die internen Hierarchien auszuschal-

ten. Was in manchen Fällen sehr gut sein, aber auch einen

hart erarbeiteten Stand kollektiver Rationalität gefährden

kann, oder genauer: was von der Autonomie eines Univer-

sums der Rechtsprechung gesicherte und gewährleistete

Errungenschaften in Frage stellen kann – Errungenschaf-

ten eines Universums, das in der Lage ist, dem intuitiven

Gerechtigkeitssinn, dem gesunden Menschenverstand, der

für puren Anschein oder Leidenschaften anfällig ist, seine

eigene Logik entgegenzusetzen. Man hat das Gefühl, daß

der Druck von Journalisten – mögen sie ihre Sicht oder ihre

eigenen Werte formulieren oder in bestem Glauben als

Sprachrohr »in der Bevölkerung verbreiteter Emotionen«

oder der »öffentlichen Meinung« auftreten – die Arbeit der

Richter bisweilen sehr stark beeinflußt. Manche sprachen

schon von einer förmlichen Übertragung der richterli-

chen Gewalt. Parallelen dazu lassen sich bis ins Feld der

Naturwissenschaften verfolgen, wo, wie die von Patrick

Champagne untersuchten »Affären« gezeigt haben, es

ebenfalls vorkommt, daß die Logik der Demagogie – die

der Einschaltquote – sich an die Stelle der Logik interner

Kritik setzt.

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Das alles mag sehr abstrakt scheinen; ich werde versu-

chen, es noch einmal und einfacher zu sagen. In jedem Feld,

im Feld der Universitäten, der Historiker usw., dominieren

nach Maßgabe der internen Werte des Feldes einige, andere

werden dominiert. Ein »guter Historiker« ist jemand, von

dem die guten Historiker sagen, daß er ein guter Historiker

ist. Das ist zwangsläufig zirkulär. Die Heteronomie fängt

aber an, wenn einer, der selber nicht Mathematiker ist,

intervenieren kann, um seine Ansicht über Mathematiker

kundzutun, wenn einer, der nicht als Historiker anerkannt

ist (ein Fernsehhistoriker zum Beispiel), seine Ansicht über

Historiker kundtun und Gehör finden kann. Mit der »Au-

torität«, die ihm das Fernsehen verleiht, sagt Herr Cavada

Ihnen, daß der größte französische Philosoph Herr X ist.

Kann man sich vorstellen, daß eine Meinungsverschieden-

heit zwischen zwei Mathematikern, zwei Biologen oder

zwei Physikern durch ein Referendum oder durch eine

Debatte entschieden wird, deren Teilnehmer Herr Cavada

auswählt? Aber die Medien greifen ständig mit ihren Ver-

dikten ein. Die Wochenmagazine lieben das förmlich: das

verflossene Jahrzehnt bilanzieren, die zehn größten »Intel-

lektuellen« des Jahrzehnts designieren, die des Monats, die

der Woche, die »Intellektuellen«, die zählen, die im Kurs

steigen oder fallen... Warum hat das solchen Erfolg? Weil

dies Instrumente sind, mit denen man die intellektuellen

Börsenwerte beeinflussen kann, Instrumente, deren die

Intellektuellen, das heißt die Aktionäre (oft Kleinaktio-

näre, die aber im Journalismus oder im Verlagsgeschäft

Einfluß haben), sich bedienen, um den Kurs ihrer Aktien

hochzutreiben. Auch Nachschlagewerke (über Philosophen,

über Soziologen oder Soziologie, über Intellektuelle usw.)

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spielen hier ihre Rolle. Sie sind und waren immer schon

Instrumente der Machtausübung, der Bestätigung einer

Karriere. Nun besteht eine weitverbreitete Strategie darin,

zum Beispiel Personen aufzuführen, die (nach spezifischen

Kriterien) davon ausgeschlossen werden könnten oder

müßten, oder Personen auszuschließen, die aufgenommen

werden könnten oder müßten, oder auch, wie es in einer

dieser »Starparaden« geschieht, Claude Levi-Strauss und

Bernard-Henri Levy, also einen undiskutierbaren Wert und

undiskutierbar diskutierbaren Wert, nebeneinander aufzu-

führen, um so die Bewertungsstruktur zu verändern. Die

Zeitungen greifen aber auch ein, um Probleme zu stellen,

die dann umgehend von Medienintellektuellen aufgegriffen

werden. Der Antiintellektualismus, eine (überaus verständ-

liche) strukturelle Konstante der journalistischen Welt,

treibt die Journalisten zum Beispiel immer wieder dazu, pe-

riodisch nach den Irrtümern der Intellektuellen zu fragen

oder emen aufzuwerfen, die nur Medienintellektuelle

mobilisieren können und die oft nur dazu da sind, diese in

die Lage zu versetzen, sich eine »Marktnische« zu erobern

und in der Medienwelt zu existieren.

Diese Eingriffe von außen sind sehr bedrohlich, und zwar

vor allem, weil sie Uneingeweihte täuschen können, die im-

merhin soweit von Belang sind, als die Kulturproduzenten

Hörer, Zuschauer, Leser brauchen, die zum Verkaufserfolg

der Bücher beitragen, und über den Verkauf auf die Verleger

Einfluß nehmen, und über die Verleger auf die künftigen

Möglichkeiten zu veröffentlichen. Bei der heutigen Ten-

denz der Medien, kommerzielle Produkte zu feiern, die für

die Bestsellerlisten verfertigt wurden, und Seilschaften zwi-

schen Journal-Schriftstellern und Schriftstellerjournalisten

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zu etablieren, werden junge Autoren mit Auflagen von 

Exemplaren, ob Poeten, Romanautoren, Soziologen oder

Historiker, immer weniger Publikationschancen haben. (In

Klammern gesagt: Die Soziologie, und ganz besonders die

Intellektuellensoziologie, hat, denke ich, zu dem Stand der

Dinge, den wir heute im intellektuellen Feld Frankreichs

beobachten, paradoxerweise wohl selbst beigetragen. Völlig

ungewollt hat sie zwei entgegengesetzte Lesarten ihrer Er-

gebnisse möglich gemacht: eine zynische, die darin besteht,

daß man die Kenntnis der Gesetze der verschiedenen Sozi-

almilieus dazu einsetzt, um die Effizienz seiner Strategien

zu verbessern, neben der anderen, die man die klinische

nennen könnte und die darin besteht, die Kenntnis von Ge-

setzen oder Tendenzen zu nutzen, um diese zu bekämpfen.

Ich bin der Überzeugung, daß eine Reihe von Zynikern

– Propheten des Regelverstoßes, Fernseh-fast-thinkers und

Medienhistorikern, Autoren von Nachschlagewerken oder

von mit dem Tonbandgerät erstellten Bilanzen zeitgenös-

sischen Denkens



– sich bewußt der Soziologie bedienen –

oder dessen, was sie davon verstehen -, um Coups zu landen,

Handstreiche im intellektuellen Feld zu verüben. Ähnlich

sind die möglicherweise wirklich kritischen Elemente im

Denken von Guy Debord zweckentfremdet worden – heute

dient der große Denker der Bildwelt, zu dem er aufgebaut

wurde, einem unechten, zynischen, verharmlosenden Radi-

kalismus als Alibi.)

 Eine Anspielung auf Francois Dosse, Histoire du structuralisme, Paris,

La Dicouverte, . (A. d. Ü.)

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Die Kollaboration

Aber die journalistische Manipulation kann auch subtiler

agieren, nämlich mit Hilfe der Logik des Trojanischen

Pferdes, das heißt, indem sie in die autonomen Bereiche

außenstehende Produzenten einschleust, die es mittels

externer Kräfte zu einer Anerkennung bringen, die sie von

ihresgleichen nicht erhalten können. Diese Schriftsteller

für Nichtschriftsteller, Philosophen für Nichtphilosophen

und so fort stehen beim Fernsehen in viel höherem Kurs

und haben einen viel größeren Stellenwert bei der Presse

als in ihrem eigenen, spezifischen Universum. Tatsache ist:

In bestimmten Disziplinen wird die Bestätigung durch die

Medien sogar von Kommissionen des CNRS



in Rechnung

gestellt. Wenn dieser oder jener Produzent von Fernseh-

oder Radiosendungen einen Forscher einlädt, erweist er

ihm damit eine Anerkennung, die in der Vergangenheit

eher etwas Abwertendes hatte. Noch vor nicht einmal drei-

ßig Jahren wurden die gewiß unstrittigen akademischen

Qualitäten eines Raymond Aron angezweifelt, weil er als

Mitarbeiter des Figaro Verbindung zu den Medien hatte.

Heute ist die Umkehrung im Kräfteverhältnis zwischen den

Feldern so weit gediehen, daß externe Evaluationskriterien

– eine Einladung bei Pivot, Anerkennung durch Magazine,

Presseporträts – über das Urteil von Kollegen triumphieren.

Hier wären Beispiele aus dem »reinsten« Universum, dem

 Die Kommissionen des CNRSCentre National de Recherche Scienti-

fique«, eine den Max-Planck-Instituten in Deutschland vergleichbare

Gruppierung von Forschungsinstitutionen) rekrutieren einen Großteil

des wissenschaftlichen Nachwuchses in Frankreich. (A. d. Ü.)

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der »harten« Wissenschaften, anzuführen (mit dem Uni-

versum der Sozialwissenschaften verhält es sich nicht so

einfach, weil die Soziologen von einer Welt sprechen, in der

jedermann seine Zwecke, seine Interessen verfolgt, so daß

aus Gründen, die mit Soziologie nichts zu tun haben, jeder

seine guten und seine schlechten Soziologen hat). Auch in

scheinbar unabhängigeren Disziplinen wie Geschichte und

Anthropologie, Biologie und Physik wachsen die Medien

immer mehr in eine Schiedsrichterrolle hinein, insofern die

Mittelzuweisungen von einem Bekanntheitsgrad abhängen

können, von dem man nicht mehr genau weiß, wieviel er

der Berücksichtigung in den Medien und wieviel der Aner-

kennung durch Fachleute verdankt. Es sieht so aus, als wür-

de ich übertreiben, aber leider könnte ich vielfache Beispiele

für das Eindringen der Macht der Medien, das heißt der

von den Medien dazu ermächtigten ökonomischen Mächte,

in das Universum auch der reinsten Wissenschaft nennen.

Deswegen ist die Frage, ob man im Fernsehen auftritt oder

nicht, ganz zentral, und mir liegt sehr daran, daß die Wis-

senschaftler sich gemeinsam darüber Gedanken machen.

Es wäre nämlich wichtig, daß die Bewußtwerdung all der

Mechanismen, die ich beschrieben habe, zu kollektiven

Anstrengungen führt, gegenüber der wachsenden Macht

des Fernsehens jene Autonomie zu schützen, die Vorausset-

zung wissenschaftlichen Fortschritts ist.

Damit die Medien in Welten wie denen der Wissen-

schaft ihren Einfluß geltend machen können, müssen sie in

dem entsprechenden Feld auf Komplizenschaft treffen. Die

Soziologie hilft, solche Komplizenschaft zu durchschauen.

Journalisten bemerken oft mit großer Befriedigung, daß die

Wissenschaftler sich auf die Medien geradezu stürzen, Be-

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richte anregen, Einladungen erbetteln, protestieren, wenn

sie vergessen werden. Angesichts solch erschreckender

Zeugnisse könnte man von tiefen Zweifeln an der subjek-

tiven Autonomie von Schriftstellern, Künstlern, Gelehrten

befallen werden. Man muß diese Abhängigkeit zur Kennt-

nis nehmen und versuchen, die Gründe oder Motive zu

verstehen. Man muß gewissermaßen zu begreifen suchen,

wer kollaboriert. Ich benutze das Wort mit Absicht. Wir

haben in den Actes de la recherche en sciences sociales ein Heft

mit einem Beitrag von Gisele Spiro über das literarische

Feld in Frankreich während der deutschen Besetzung he-

rausgebracht. In dieser sehr schönen Untersuchung geht es

nicht darum, wer Kollaborateur war und wer nicht, und um

nachträgliche Abrechnungen. Es geht darum, ausgehend

von einer gewissen Anzahl an Variablen zu begreifen, war-

um Schriftsteller wann welches Lager gewählt haben. Kurz

zusammengefaßt kann man sagen, daß sie um so mehr zum

Widerstand tendierten, als sie von ihren Kollegen anerkannt

waren, also über spezifisches Kapital verfügten, und daß sie

umgekehrt um so mehr zum Kollaborieren neigten, je he-

teronomer sie in ihrer eigentlich literarischen Produktion

waren, je stärker sie sich am Kommerz orientierten (wie

Claude Farrère, ein Erfolgsschriftsteller, dessengleichen es

auch heute gibt). Ich muß aber genauer erklären, was unter

autonom zu verstehen ist. Ein sehr autonomes Feld, das der

Mathematik zum Beispiel, ist ein Feld, in dem die Produ-

zenten nur ihre Konkurrenten zu Kunden haben, Leute, die

an ihrer Stelle die Entdeckung hätten machen können, die

sie ihnen bekanntgeben. (Mein Traum ist, daß es in der

Soziologie auch so zuginge; leider mischt sich da jeder ein.

Jeder glaubt, etwas davon zu verstehen, und Herr Peyrefitte

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will mir Lektionen in Soziologie erteilen. Und warum auch

nicht, werden Sie mir sagen, wo er doch Soziologen und

Historiker findet, die bereit sind, mit ihm zu diskutieren

– im Fernsehen...) Um Autonomie zu erlangen, muß man

jene Art Elfenbeinturm errichten, innerhalb dessen man

einander beurteilt, kritisiert, auch bekämpft, aber in Kennt-

nis der Sache; man rivalisiert, aber mit wissenschaftlichen

Waffen, mit Instrumenten, Techniken, Methoden. Als ich

einmal mit einem Historikerkollegen im Radio diskutierte,

sagte er mir während der Sendung: »Lieber Kollege, ich

habe Ihre Korrespondenzanalyse (eine statistische Un-

tersuchungsmethode) über die Unternehmer noch einmal

gemacht und komme durchaus nicht zu demselben Ergeb-

nis.« Ich dachte: »Wunderbar! Endlich jemand, der mich

wirklich kritisiert.« Es stellte sich heraus, daß er eine andere

Definition des Unternehmertums benutzt und die Bankiers

aus der untersuchten Population herausgenommen hatte.

Man brauchte sie bloß wieder einzuführen (was allerdings

weitreichende theoretische und historische Entscheidungen

einschloß), um zu übereinstimmenden Ergebnissen zu ge-

langen. Erst eine hochgradige Übereinstimmung über das

Gebiet auf dem man nicht übereinstimmt, und über die

Mittel, mit denen ein Meinungsunterschied beizulegen ist,

macht eine echte wissenschaftliche Debatte möglich und

kann zu einer echten wissenschaftlichen Übereinstimmung

oder Nichtübereinstimmung führen. Man staunt manch-

mal, daß die Historiker im Fernsehen untereinander nicht

einig sind. Oft aber sitzen sich bei diesen Diskussionen

Personen gegenüber, die nichts gemeinsam haben und die

nicht miteinander debattieren sollten (so wenig wie ein As-

tronom mit einem Astrologen, ein Chemiker mit einem Al-

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chimisten, ein Religionssoziologe mit dem Anführer einer

Sekte usw. – Paarungen, wie sie von schlechten Journalisten

bevorzugt werden).

Im Verhalten der französischen Schriftsteller unter der

Okkupation haben wir einen Fall dessen, was ich das Sh-

danowsche Gesetz nenne: Je autonomer ein Kulturproduzent

ist, je mehr spezifisches Kapital er besitzt und je ausschließ-

licher er den eingeschränkten Markt beliefert, auf dem

man nur seine eigenen Konkurrenten zu Kunden hat, um

so mehr tendiert er zum Widerstand. Je mehr er mit seinen

Produkten hingegen den Markt des breiten Publikums be-

dient (wie Essayisten, Presseschriftsteller, konformistische

Romanschreiber), um so mehr tendiert er dazu, mit exter-

nen Mächten wie Staat, Kirche, Partei, und heutzutage mit

Journalismus und Fernsehen, zu kollaborieren, sich ihren

Anfragen oder ihren Aufträgen zu unterwerfen.

Das ist ein sehr allgemeines Gesetz, das auch für die

Gegenwart gilt. Man wird mir entgegenhalten, mit den

Medien kollaborieren sei ganz und gar nicht dasselbe wie

mit den Nazis kollaborieren. Das ist sicher richtig, und ich

verurteile natürlich nicht a priori jede Form der Zusammen-

arbeit mit den Zeitungen, dem Radio oder dem Fernsehen.

Im Hinblick auf die Faktoren jedoch, die zur Kollaboration

– verstanden als bedingungslose Unterordnung unter Zwän-

ge, die die Normen der autonomen Felder zerstören – ten-

dieren lassen, ist die Übereinstimmung frappant. Wenn die

wissenschaftlichen, politischen, literarischen Felder durch

die Medien bedroht sind, so deswegen, weil es innerhalb

dieser Felder von außen bestimmte, von den spezifischen

Werten des Feldes nicht ganz durchdrungene Personen gibt,

oder, um es in der Alltagssprache zu sagen, »Versager« oder

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solche, die im Begriff sind zu versagen. Sie haben Interesse

an Heteronomie, Interesse daran, die Bestätigungen, die sie

innerhalb des Feldes nicht erlangten, außerhalb (und in vor-

eiliger, verfrühter und schnell vorübergehender Form) zu

finden. Bei den Journalisten aber sind sie sehr gern gesehen,

denn sie machen ihnen (im Unterschied zu autonomeren

Autoren) keine Angst und sind bereit, ihre Forderungen

zu erfüllen. Wenn es mir unerläßlich scheint, diese hetero-

nomen Intellektuellen zu bekämpfen, so deswegen, weil sie

das Trojanische Pferd sind, durch das die Heteronomie, das

heißt die Gesetze des Kommerzes, der Ökonomie, in das

Feld Einzug halten.

Ich möchte ganz kurz das Beispiel Politik streifen. Das

politische Feld selbst hat eine gewisse Autonomie. Das

Parlament etwa ist eine Art Arena, in der eine Reihe von

Streitfällen zwischen Leuten mit divergierenden oder auch

antagonistischen Interessen durch Aussprache und Ab-

stimmung nach bestimmten Regeln ausgetragen werden

soll. Das Fernsehen produziert hier analoge Effekte wie

in jedem anderen Feld, insbesondere dem der Rechtspre-

chung: Es stellt das Recht auf Autonomie in Frage. Um das

zu zeigen, werde ich rasch eine Geschichte erzählen, die

in der schon erwähnten Nummer der Actes de la recherche en

sciences sociales berichtet wurde: die Affäre der kleinen Kari-

ne, eines Mädchens aus Südfrankreich, das ermordet wurde.

Das Lokalblatt gibt die Tatsachen wieder, berichtet über die

empörten Proteste des Vaters, des Bruders des Vaters, der

eine kleine Demonstration im Ort organisiert, die von einer

kleinen Zeitung aufgegriffen wird, dann von einer weiteren.

Stimmen werden laut: »Wie gräßlich, ein Kind! Die To-

desstrafe muß wieder her!« Politiker aus dem Wahlbezirk

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mischen sich ein, besonders aktiv sind die Parteigänger des

Front National. Ein etwas gewissenhafterer Journalist aus

Toulouse versucht zu warnen: »Vorsicht, das läuft auf Lyn-

chen hinaus, nichts überhasten!« Anwaltsvereine mischen

sich ihrerseits ein und warnen vor der Versuchung, zur

Selbstjustiz zu greifen... Der Druck steigt, und am Ende

steht die Wiedereinführung der lebenslangen Haftstrafe.

In diesem Zeitraffer wird sichtbar, wie über Medien, die als

Instrument mobilisierender Information agieren, eine per-

verse Form direkter Demokratie um sich greifen kann. Sie

schafft die Distanz zum Zeitdruck, zum Druck kollektiver,

nicht unbedingt demokratischer Leidenschaften ab, den

die relativ autonome Logik des politischen Feldes norma-

lerweise garantiert. Es zeigt sich, wie eine Logik der Rache

wiederersteht, gegen die die gesamte juristische und auch

die politische Logik aufgebaut worden sind. So werden aus

Journalisten, die die zum Nachdenken notwendige Distanz

nicht wahren, Brandstifter. Sie können zur Schaffung eines

Ereignisses beitragen, indem sie eine »Vermischte Mel-

dung« aufbauschen (die Ermordung eines jungen Franzosen

durch einen anderen, der aber »afrikanischer Herkunft« ist),

um anschließend die anzuklagen, die Öl in das von ihnen

selbst entzündete Feuer gießen, die Parteigänger des Front

National nämlich, die die »durch den Vorfall geweckte

Emotion« ausschlachten oder auszuschlachten versuchen

– einen Vorfall, den die Journalisten selbst geschaffen haben,

indem sie ihn auf die erste Seite setzten, ihn zu Beginn der

Fernsehnachrichten wiederkäuten, um sich als schöne hu-

manistische Seelen anschließend noch einen Tugendpreis

dafür zu sichern, daß sie lauthals moralisierend die rassisti-

sche Intervention einer Partei verurteilen, die sie überhaupt

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erst zu dem gemacht haben, was sie ist, und der sie immer

| wieder ihre schönsten Manipulationsinstrumente zur Ver-

fügung stellen.

Der Eintrittspreis und die Pflicht zur Äußerung

Ich möchte jetzt noch ein paar Worte über die Frage der

Beziehungen zwischen Hermetik und Elitismus sagen. Ein

Problem, mit dem sich alle Denker seit dem . Jahrhundert

abgemüht und in dem sie sich manchmal verfangen haben.

Mallarme zum Beispiel, das Symbol des hermetischen,

reinen Dichters schlechthin, der nur für wenige schreibt

in einer Sprache, die der gemeine Sterbliche nicht versteht,

hat sich sein Leben lang gefragt, wie er die Entdeckungen

bei seiner schriftstellerischen Arbeit allen zugänglich ma-

chen könne. Hätte es die heutigen Medien gegeben, hätte

er sich die Frage gestellt: »Soll ich im Fernsehen auftreten?

Wie kann ich den jeder wissenschaftlichen oder überhaupt

geistigen Tätigkeit immanenten Anspruch auf >Reinheit<

vereinbaren mit der demokratischen Bemühung darum,

die Ergebnisse möglichst vielen zugänglich zu machen?«

Ich habe darauf hingewiesen, daß das Fernsehen zweierlei

Effekte produziert. Es senkt den Eintrittspreis in einer ge-

wissen Reihe von Feldern, der Philosophie, Juristerei usw.:

Es kann zu Soziologen, Schriftstellern, Philosophen usw.

Leute ernennen, die unter dem Gesichtspunkt der internen

Definition der Zunft den Eintrittspreis nicht bezahlt haben.

Andererseits ist es in der Lage, das breitestmögliche Publi-

kum zu erreichen. Schwer zu rechtfertigen scheint mir aber,

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daß man sich auf die große Reichweite beruft, um den Ein-

trittspreis in dem entsprechenden Feld zu senken. Man wird

mir vorwerfen, daß ich hier elitäre Dinge von mir gebe, daß

ich die belagerte Zitadelle der Wissenschaft und der Hoch-

kultur verteidige oder sogar dem Volk den Zugang verbiete

(indem ich versuche, den Zugang zum Fernsehen denen zu

verbieten, die sich trotz ihrer phantastischen Honorare und

ihrer luxuriösen Lebenshaltung manchmal zu Sprechern

der Bevölkerung ernennen, nur weil sie es fertigbringen,

sich ihr verständlich zu machen, sich von der Einschaltquo-

te akklamieren zu lassen). In Wirklichkeit verteidige ich die

notwendigen Voraussetzungen zur Produktion und Vertei-

lung der höchsten Schöpfungen der Menschheit. Will man

der Alternative zwischen elitärer Haltung und Demagogie

entkommen, muß man für die Beibehaltung, ja Erhöhung

des Eintrittspreises zu den Produktionsfeldern eintreten

– wie ich gerade gesagt habe, wäre es mir lieb, wenn dies mit

der Soziologie geschehen würde, deren Unglück überwie-

gend daher kommt, daß der Eintrittspreis hier zu niedrig

ist – und gleichzeitig die Verpflichtung unterstreichen, sich

zu äußern sowie für eine Verbesserung der Voraussetzungen

und Mittel dazu einzutreten.

Man beschwört die drohende Nivellierung (ein immer

wiederkehrendes ema des reaktionären Denkens, das sich

vor allem bei Heidegger findet). In Wirklichkeit kann sie

aus dem Eindringen der Forderung nach medienadäquater

Präsentation in das Feld kultureller Produktion resultieren.

Es gilt, sowohl für die jedem Avantgardismus (zwangs-

läufig) immanente Hermetik einzutreten, als auch für die

Notwendigkeit, das Hermetische aufzubrechen und dafür

zu kämpfen, daß die entsprechenden Mittel zur Verfügung

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stehen. Anders gesagt, man muß dafür kämpfen, daß die

zur Förderung des Universellen notwendigen Produkti-

onsbedingungen bereitgestellt werden, und gleichzeitig

an der Verallgemeinerung der Zugangsbedingungen zum

Universellen arbeiten, damit immer mehr Menschen die

Voraussetzungen erfüllen, sich das Universelle anzueignen.

Je komplexer ein Gedanke ist, weil er in einem autonomen

Universum erzeugt wurde, um so schwieriger ist seine Wei-

tergabe. Um diese Schwierigkeit zu überwinden, müssen

die Produzenten aus ihrer kleinen Zitadelle ausbrechen und

um gute Verbreitungsmittel, um das Eigentum an ihren

Verbreitungsmitteln kämpfen, und zwar kollektiv; und in

Verbindung mit Lehrern, Gewerkschaften, Verbänden usw.

auch darum kämpfen, daß die Adressaten so ausgebildet

werden, daß ihre Kompetenz steigt. Man vergißt oft, daß

die Gründer der Französischen Republik im . Jahrhundert

das Ziel der Schulbildung nicht nur darin sahen, daß man

lesen, schreiben, rechnen lernt, um ein guter Arbeiter zu

werden, sondern auch darin, daß man die Voraussetzungen

erwirbt, ein guter Staatsbürger zu sein, die Gesetze zu

verstehen, seine Rechte zu verstehen und zu verteidigen,

gewerkschaftliche Vereinigungen ins Leben zu rufen... Es

gilt, an der Universalisierung der Zugangsbedingungen

zum Universellen zu arbeiten.

Man kann und muß im Namen der Demokratie gegen

die Einschaltquote kämpfen. Das scheint sehr paradox,

denn die Parteigänger der Einschaltquote behaupten, daß

es nichts Demokratischeres gebe (das Lieblingsargument

der zynischsten unter den Anzeigenkunden und Werbe-

agenturen, das einige Soziologen übernehmen, ganz zu

schweigen von gedankenarmen Essayisten, die die Kritik

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an Umfragen – und an Einschaltquoten – mit der Kritik am

allgemeinen Stimmrecht gleichsetzen), daß man den Leu-

ten die Freiheit lassen müsse, zu urteilen, zu wählen (»Bloß

eure elitär intellektuellen Vorurteile lassen euch all das als

verächtlich erscheinen«). Die Einschaltquote ist die Sank-

tion des Marktes, der Wirtschaft, das heißt einer externen

und rein kommerziellen Legalität, und die Unterwerfung

unter die Anforderungen dieses Marketinginstruments ist

im Bereich der Kultur genau dasselbe wie die von Mei-

nungsumfragen geleitete Demagogie in der Politik. Das

unter der Herrschaft der Einschaltquote stehende Fernse-

hen trägt dazu bei, den als frei und aufgeklärt unterstellten

Konsumenten Marktzwängen auszusetzen, die, anders als

zynische Demagogen glauben machen wollen, mit dem

demokratischen Ausdruck einer aufgeklärten, vernünftigen

öffentlichen Meinung, einer öffentlichen Vernunft, nichts

zu tun haben. Die kritischen Denker und die Organisati-

onen zur Wahrnehmung der Interessen der Dominierten

sind noch weit davon entfernt, dieses Problem klar zu sehen.

Was nicht wenig dazu beiträgt, all die Mechanismen zu

verstärken, die zu beschreiben ich versucht habe.

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Angaben zu den beiden Fernsehvorträgen

Literatur

ACCARDO (Alain), mit G. Abou, G. Balastre, D. Marine, Journa-

listes au quotidien. Outils pour une socioanalyse des pratiques journa-

listiques, Bordeaux, Le Mascaret, .

ACCARDO (Alain), »Le destin scolaire«, in: P. Bourdieu, La misere

du monde, Paris, Editions du Seuil, , .-.

BOURDIEU (Pierre), »L‘emprise du journalisme«, Actes de la recber-

cbe en sciences sociales, -, März , S. -. In diesem Band

S. -.

– (mit Wacquant, Loic), Reponses, Paris, Èditions du Seuil, .

CHAMPAGNE (Patrick), »La construction mediatique des >malai-

ses sociaux<«, Actes de la recherche en sciences sociales, , Dezember

, .-.

– »La vision mediatique«, in: La misere du monde, op. dt., S.-

– »La loi des grands nombres. Mesure de l‘audience et represen-ta-

tion politique du public«, Actes de la recherche en sciences sociales,

-, März , S. -.

DELEUZE (Gilles), A propos des nouveaux philosophes et d‘un Proble-

me plus general, Paris, Editions de Minuit, .

GODARD (Jean-Luc), Godard par Godard. Des annees Mao aux an-

nees , Paris, Flammarion, .

LENOIR (Remi), »La parole est aux juges. Crise de la magistrature

et champ journalistique«, Actes de la recherche en sciences sociales, -

, März , S. -.

SAPIRO (Gisele), »La raison litteraire. Le champ litteraire français

sous l‘Occupation (-)«, Actes de la recherche en sciences so-

ciales, -, März , S. -.

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– »Salut litteraire et litterature du salut. Deux trajectoires de ro-

manciers catholiques: Franc, ois Maunac et Henry Bordeaux«,

Actes de la recherche en sciences sociales, -, März , S. -.

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Personenverzeichnis

ALEXANDRE, Philippe (geb. ), Presse- und Rundfunkjourna-

list, ständiger Mitarbeiter u.a. bei Combat (-), Paris-Match (

-), Le Parisien (-), bei dem Rundfunksender RTL (-),

heute bei BFM (s. Ockrent), bei den staatlichen Fernsehsendern TF

(-) und FR (seit ), regelmäßiger Gast von Talkshows, in

denen er zusammen mit Serge July (s. d.) das politische Geschehen

der Woche kommentiert, Verfasser politischer Romane und Sachbü-

cher (Man livre de cuisine politique, ).

ATTALI, Jacques (geb. ), Wirtschaftsprofessor, Mitglied der

Sozialistischen Partei, Berater des Präsidenten Mitterrand, -

Direktor der europäischen Entwicklungsbank BERD, seither vor

allem als Polygraph tätig: neben vier Bestsellerromanen u. a. drei

Bände Erinnerungen an Mitterrand (Verbatim,  -), historische,

medizinische, musikologische usw. Abhandlungen; publizistische

Interventionen vor allem über den Nouvel Observateur.

BOUYGUES, Martin (geb. ), Sohn des Firmengründers Francis

Bouygues, Generaldirektor des gleichnamigen führenden französi-

schen Baukonzerns, dem insgesamt  Gesellschaften in aller Welt

zugeordnet werden (DAFSA ), seit  im Besitz der Aktien-

mehrheit des hinsichtlich Werbebudget wie Einschaltquote (um )

führenden Ersten französischen Fernsehprogramms (TF), dessen

Werbesparte seine Schwester Corinne Bouygues leitet; besitzt außer-

dem das Nachrichtenfernsehen LCI (La Chaîne Info).

CAVADA, Jean-Marie (geb. ), seit  Mitarbeit an diversen

Rundfunk- und Fernsehsendern (France Inter, Antenne , TF), seit

 Mitproduzent und Moderator der Informationssendungen La

marche du siede (FR, Mi. .-. Uhr) und Etats d‘urgence, -

 Generaldirektor des Schul- und Bildungsprogramms La Cinquieme

(das seit  mit arte liiert ist), seit Februar  Generaldirektor des

staatlichen Rundfunk- und Fernsehprogramms RFO (Radio-televisi-

on francaise d‘Outre-mer).

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COMTE-SPONVILLE, André (geb. ), Dozent an der Univer-

sität Paris , Verfasser zahlreicher, überwiegend moralphilosophischer

Abhandlungen (Petit traite des grands vertus, ), ständiger Mitar-

beiter der Wochenzeitschrift L‘Express.

DEBORD, Guy (-), avantgardistischer Kunsttheoretiker,

Gründer der Internationale Situationniste () und Herausgeber der

gleichnamigen Zeitschrift. La Societe du Spectacle (), der Versuch

einer Neufassung der marxistischen Entfremdungskritik unter Ein-

beziehung der von den Medien produzierten Bilderwelt, ist seit seiner

Veröffentlichung der Klassiker der Medienkritik in Frankreich.

DURAND, Guillaume (geb. ), Fernsehjournalist und Moderator,

seit  Mitarbeiter von TF und Paris-Match, seit  bei LCI (La

Chaine Info, das Nachrichtenfernsehen des Bouygues-Konzerns) und

Canal +, wo er seit Herbst  die tägliche Talkshow produziert und

moderiert (Nulle part ailleurs, Mo.-Fr. .-. Uhr).

FERRY, Luc (geb. ), Philosophieprofessor und Publizist, seit

 regelmäßiger Mitarbeiter der Wochenzeitschrift L‘Express, seit

 Kolumnist bei Le Point, Mitglied der Fondation Saint-Simon (s.

Minc), Kritiker des »er Denkens«, zu dem für ihn u. a. Bourdieu,

Derrida und Foucault zählen (La Pensée , ), und des ihm ebenso

unheimlichen ökologischen Denkens (Le Nouvel Ordre ecologique,

); Herausgeber einer philosophischen Buchreihe (bei Grasset),

seit  Vorsitzender der für die Schulprogramme verantwortlichen

Kommission des Erziehungsministeriums.

FINKIELKRAUT, Alain (geb. ), Philosoph und Publizist,

Verfasser allgemein zeitkritischer (La Defaite de la pensée, ) und

aktuell politischer Werke (Comment peut-on être croate?, ), Mitar-

beiter des staatlichen Rundfunkprogramms France Culture (ständige

Sendung: Repliques, samstags .-. Uhr).

IMBERT, Claude (geb. ), seit den fünfziger Jahren vorwiegend

als Pressejournalist tätig (Reporter bei AFP, L‘Express, Paris-Match),

 Gründer und seither Herausgeber des Nachrichten-

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magazins Le Point, seit  Mitarbeiter bei Europe , Autor eines

seinerzeit vielbeachteten kulturkritischen Resümees der modernen

Welt (Ce queje crois, ).

JULLIARD, Jacques (geb. ), Zeithistoriker, Dozent an der

EHESS (Ecole des HaMes Etudes en Sciences Sociales), Mitglied der

Redaktionsleitung und Kolumnist des Nouvel Observateur, Mitglied

der Fondation Saint-Simon (s. Minc), zahlreiche Schriften zur Zeitge-

schichte und zur aktuellen Politik (Pour la Bosnie, ).

JULY, Serge (geb. ), ehemaliger Studentenfunktionär, ab 

führendes Mitglied der  verbotenen Gauche Proletarienne, 

Mitgründer und Chefredakteur der Tageszeitung Liberation (die er

seit  als Herausgeber leitet), Mitglied der Fondation Saint-Simon

(s. Minc), zusammen mit Ph. Alexandre (s. d.) regelmäßiger Gast der

Fernsehsendungen Ch. Ockrents (s. d.).

LEVY, Bernard-Henri (geb. ), Philosoph, Dozent, Essayist (La

Barbarie a visage humaine, ), Roman- und eaterautor, Filmpro-

duzent und -regisseur (Bosna!, ; Le Jour et la nuit, ), literari-

scher Berater des Verlags Grasset (seit ), Gründer und Herausge-

ber der Vierteljahresschrift La regle du jeu (seit ), Kolumnist der

Wochenzeitschrift Le Point (seit ), Vorsitzender des Aufsichtsra-

tes der Fernsehproduktionsgesellschaft La Sept/Arte (seit ).

MINC, Alain (geb. ), Politologe, seit  Mitarbeiter von

L‘Express und Le Debat, Industriemanager (Direktor des Chemiekon-

zerns Saint-Gobain -) und Unternehmensberater, führendes

Mitglied der Fondation Saint-Simon (ein  gegründeter Club, der

Wirtschaftsführer mit Wissenschaftlern und Mediengewaltigen

zusammenbringen soll; Mitgl. u. a.: Ferry, Julliard, July, s. d.), ein-

flußreiche Position bei der Tageszeitung Le Monde (»President de la

Societe des Lecteurs du Monde«); zahlreiche Schriften zu Fragen der

französischen und europäischen Politik (La Grande Illusion, ; La

Vengeance des nations, ).

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OCKRENT, Christine (geb. ), Presse- und Fernsehjournalis-

tin, langjährige Nachrichtenredakteurin und -Sprecherin bei dem

staatlichen Fernsehsender Antenne  und bei RTL, - Redak-

tionsleitung des L‘Express, seit  Mitproduzentin und Moderatorin

des politischen Wochenmagazins Dimanche Soir (FR), seit 

Leitung der Holding FCC (Finance Communication et compagnie), der

der private Rundfunksender BFM (Spezialität: Meldungen aus der

Wirtschaft) gehört; dort regelmäßige Wochenchronik (samstags .,

., ., . Uhr); offizielle Lebensgefährtin des Gründers der

»Medecins du Monde« und Staatskretärs für Gesundheitsfragen (seit

) Bernard Kouchner.

PEYREFITTE, Alain (geb. ), Jurist, Diplomat (Botschaftssek-

retär in Bonn -), gaullistischer Abgeordneter (-, -),

mehrfach Regierungsmitglied in wechselnden Ressorts (-,

-), Mitglied der Academie Francaise (seit ), Vorsitzender des

Herausgeberkomitees der konservativen Tageszeitung Le Figaro (seit

), Senator der Französischen Republik (seit ); Autor vielgele-

sener politischer und zeitgeschichtlicher Veröffentlichungen (Quand

la Chine s‘eveillera, ; Le Mal francais, ).

PIVOT, Bernard (geb. ), Fernsehjournalist, bekannt geworden

durch seine Sendung Apostrophes (-), mit der er das Genre der

literarischen Talkshow in Frankreich begründete; seit  Bouillon de

Culture (France , freitags .-. Uhr), seit  Redaktionsleiter,

seit  Herausgeber der Monatszeitschrift Lire, seit  Kolumnist

des Journal du Dimanche.

SARKOZY, Nicolas (geb. ), Jurist, gaullistischer Abgeordneter

(- und seit ), Finanzminister der Regierung Balladur (-

), Mitherausgeber parteipolitischer Periodika (Initiatives, Pour

la reforme), Mitglied des Politischen Büros und (seit Sommer )

Sprecher der gaullistischen Partei RPR.

SORMAN, Guy (geb. ),. Politologe, Verlagsgründer (Editions

Sorman, ) und Verleger (vor allem kommunalpolitischer Zeit-

schriften: La lettre du maire usw.), Propagandist wirtschaftlicher Li-

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beralisierung und Globalisierung (La solution liberale, ; Le monde

est ma tribu, ), Mitarbeit bei Le Figaro, L‘Express, gaullistischer

Parlamentskandidat, Berater des ehemaligen Premierministers Juppe
(-).

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Im Banne des Journalismus

1

Es geht hier nicht um die »Macht der Journalisten« und

noch weniger um den Journalismus als »vierte Macht« -,

sondern um den Einfluß, den die Mechanismen eines den

Anforderungen des Marktes (der Leser und der Anzei-

genkunden) immer stärker unterworfenen journalistischen

Feldes ausüben, einen Einfluß, der sich zunächst auf die

Journalisten (und die als Journalisten arbeitenden Intel-

lektuellen) selbst auswirkt und anschließend, und zum

Teil durch ihre Vermittlung, auf die verschiedenen Felder

der Kulturproduktion, das juristische, das literarische, das

künstlerische, das wissenschaftliche. Es handelt sich also

darum, zu prüfen, wie tief der von diesem – selbst von den

Zwängen des Marktes dominierten – Feld ausgehende

strukturelle Zwang die Kräfteverhältnisse innerhalb der

verschiedenen Felder modifiziert, wie weit er beeinflußt,

was man dort macht und was dort geschieht, und wie in

diesen auf der Erscheinungsebene sehr unterschiedlichen

Welten sehr ähnliche Effekte hervorgerufen werden. Wobei

keiner der beiden entgegengesetzten Fehler begangen wer-

den soll: weder der, an ein ganz neues Phänomen zu glau-

ben, noch der, nur das Immergleiche am Werk zu sehen.

 Ich hielt es für nützlich, diesen bereits in den Actes de la rechercbe en sci-

ences sociales veröffentlichten Text hier einzurücken, da er die meisten der

oben in einer zugänglicheren Version behandelten emen auf striktere,

kontrolliertere Weise resümiert.

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Der Einfluß des journalistischen Feldes, und durch es

der Marktlogik, auch noch auf die Felder der autonoms-

ten Kulturproduktion hat nichts umwerfend Neues: Mit

Texten von Schriftstellern des vergangenen Jahrhunderts

ließe sich mühelos ein durchaus realistisches Bild der ge-

nerellsten Effekte zusammenstellen, die er innerhalb dieser

geschützten Welten heute hervorbringt.

Man sollte den

spezifischen Charakter der gegenwärtigen Situation aber

nicht übersehen, die über solche aus homologen Effekten

hervorgehende Übereinstimmungen hinaus praktisch nie

dagewesene Merkmale zeitigen. Die von der Entwicklung

des Fernsehens im journalistischen Feld ausgelösten Konse-

quenzen, die dieses Feld in alle anderen Felder der Kultur-

produktion weiterträgt, sind an Intensität und Reichweite

ungleich nachhaltiger als diejenigen, die das Auftreten der

industrialisierten Literatur (der Massenpresse und des Fort-

setzungsromans) hervorrief und die bei den Schriftstellern

 Davon überzeugt das Werk von Jean-Marie Goulemot und Daniel Oster,

Gens de lettres. Ecrivains et Bohemes, das überaus zahlreiche Beispiele von

Beobachtungen und Bemerkungen enthält, aus denen sich jene spontane

Soziologie des literarischen Milieus zusammensetzt, zu der die Autoren

gelangen, ohne indes ihres Prinzips innezuwerden, vor allem nicht, wenn

sie sich bemühen, ihre Gegner oder die Gesamtheit dessen zu objekti-

vieren, was ihnen in der literarischen Welt nicht gefällt (vgl J.-M. Gou-

lemot und D. Oster, Gens de lettres. Ecrivains et Bohemes, Minerve, ).

Aber der intuitive Sinn für Homologien kann auch zwischen den Zeilen

einer Untersuchung des literarischen Feldes in . Jahrhundert eine

Beschreibung des versteckten Funktionierens des heutigen literarischen

Feldes erkennen (wie bei Philippe Murray geschehen, »Des regles de l‘art

aux coulisses de sa misère«, Art Press, , Juni ,S.-).

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zu jenen entrüsteten, empörten Reaktionen führten, aus de-

nen Raymond Williams zufolge die modernen Definitionen

von «Kultur» hervorgingen.

Das journalistische Feld erzeugt in den verschiedenen

Feldern kultureller Produktion eine Menge von Effekten,

die in Form wie Durchschlagskraft an seine eigene Struktur

gebunden sind, das heißt an den Stellenwert der verschie-

denen Presseorgane und Journalisten nach Maßgabe ihrer

Autonomie gegenüber externen Kräften, denen des Leser-

und denen des Anzeigenmarktes. Die Autonomie eines

Presseorgans läßt sich gewiß daran messen, wie weit es von

Werbung und Staatssubventionen (in Form von Anzeigen

oder Geldzuweisungen) unabhängig ist, und auch an der

Konzentration der Anzeigenkunden. Was die Autonomie

eines einzelnen Journalisten angeht, so hängt sie zunächst

einmal vom Konzentrationsgrad der Presse ab (bei Verrin-

gerung der Anzahl potentieller Arbeitgeber steigt die Unsi-

cherheit des Arbeitsplatzes); sodann von der Position seines

Periodikums im Raum der Presse, das heißt, ob näher am

»intellektuellen« oder am »kommerziellen« Pol; ferner von

seiner Position bei dem Presseorgan (Angestellter, freier

Mitarbeiter usw.), die für die verschiedenen (vorwiegend

an Bekanntheit gebundenen) ihm zur Verfügung stehenden

Statusgarantien entscheidend ist, auch für seine Entlohnung

(ein Faktor, der für die sanften Formen von Öffentlichkeits-

arbeit weniger zugänglich machen kann und unabhängiger

von bloß dem Broterwerb dienenden, bestellten Arbeiten

– ein Einfallstor für externe Auftraggeber); schließlich

seine Fähigkeit zur autonomen Erzeugung von Informa-

tion (Journalisten aus den Bereichen Populärwissenschaft

oder Wirtschaft zur Beispiel arbeiten unter besonders

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heteronomen Bedingungen). Klar ist, daß verschiedene In-

stitutionen, und besonders die der Regierungen, nicht nur

ökonomischen Druck einsetzen, sondern auch alle mög-

lichen anderer Pressionen, die ihr Monopol an legitimer

Information – durch offizielle Quellen vor allem – zuläßt;

dieses Monopol liefert zunächst den Regierungs- und Ver-

waltungsbehörden, der Polizei zum Beispiel, aber auch den

juristischen, wissenschaftlichen usw. Einrichtungen Waf-

fen für den Kampf mit den Journalisten, einen Kampf, bei

dem sie versuchen, Informationen oder Übermittler von In-

formationen zu manipulieren, während die Presse ihrerseits

versucht, die Besitzer von Informationen zu manipulieren,

um sich in deren Besitz zu bringen und sich die exklusive

Verfügung darüber zu sichern. Wobei die außerordentliche

symbolische Macht nicht vergessen werden sollte, die darin

besteht, daß die obersten staatlichen Behörden in der Lage

sind, durch ihre Aktionen, ihre Entscheidungen und ihre

Interventionen im journalistischen Feld (Interviews, Pres-

sekonferenzen usw.) die Tagesordnung und die Hierarchie

von Ereignissen zu bestimmen, denen sich die Presse nicht

entziehen kann.

Einige Eigenschaften des journalistischen Feldes

Will man verstehen, auf welche Weise das journalistische

Feld dazu beiträgt, in allen Feldern das »Kommerzielle« zu-

ungunsten des »Reinen« zu stärken, die den Versuchungen

durch ökonomische und politische Mächte zugänglichsten

Produzenten gegenüber denjenigen, die den Grundsätzen

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und Werten ihres »Metiers« am stärksten verhaftet sind,

dann muß man sowohl davon ausgehen, daß es homolog

zu den anderen Feldern strukturiert ist, als auch davon, daß

das »Kommerzielle« hier einen viel größeren Stellenwert

einnimmt.

Das journalistische Feld hat sich als solches im . Jahr-

hundert um folgenden Gegensatz herum konstituiert: auf

der einen Seite Zeitungen, die vor allem »Neuigkeiten«

boten, vorzugsweise »sensationelle«, oder besser: »Sensa-

tionen auslösende«; auf der anderen Seite Zeitungen, die

Analysen und »Kommentare« boten und darauf achteten,

ihren Unterschied von den ersteren durch Betonung der

Werte der »Objektivität« hervorzuheben.

Zwei Logiken

und zwei Legitimationsprinzipien treten einander hier ge-

genüber: die Anerkennung, die den am vollständigsten den

internen »Werten« oder Grundsätzen Verpflichteten durch

ihresgleichen zuteil wird, und die Anerkennung durch die

 Im amerikanischen Journalismus tauchte der Gedanke der »Objekti-

vität« als Ergebnis der Bemühung um ihre Respektabilität besorgter

Zeitungen auf, die Information von der schlichten Erzählung in der

populären Presse zu unterscheiden (vgl. M. Schudson, Discovering the

news, New York, Basic Books, ). In Frankreich hat der Gegensatz

zwischen dem literarischen Feld zugewandten, um ihren Stil bemühten

Journalisten und denen, die dem politischen Feld nahe standen, zu die-

sem Differenzierungsprozeß und zur Erfindung eines eigenen »Metiers«

(und der Gestalt des Reporters) beigetragen (vgl. T. Ferenczi, L‘invention

du journalisme en France: naissance de la presse moderne à la fin du XIX‘

siécle, Paris, Plon, ). Zu der Form, die dieser Gegensatz im Feld der

französischen Presse annimmt, und zur Beziehung zwischen den un-

terschiedlichen Kategorien von Lektüren und Lesern vgl. P. Bourdieu,

La distinction. Critique sociale du judgement, Paris, Ed. de Minuit, ,

.- (deutsch: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen

Urteilskraft, Frankfurt/M., Suhrkamp, stw, , S.  -).

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Menge, wie sie sich in der Anzahl von verkauften Eintritts-

karten, von Lesern, Hörern oder Zuschauern, also von

Verkaufszahlen (best-sellers), und im finanziellen Gewinn

niederschlägt, wobei die Sanktion durch das Publikum hier

unlösbar mit dem Verdikt des Marktes verbunden ist.

Wie das literarische Feld oder das künstlerische ist daher

auch das journalistische Feld der Ort einer spezifischen,

durchaus kulturellen Logik, die sich den Journalisten durch

Zwänge und wechselseitige Kontrollen aufnötigt und deren

Respektierung (bisweilen als Berufsethos bezeichnet) die

Reputation beruflicher Ehrbarkeit einbringt. Allerdings

gibt es über Zitate aus erschienenen Artikeln hinaus – Ver-

weise, deren Wert und Bedeutung ganz von der Position der

Zitierenden und der Zitierten im Felde abhängen – wenig

an einigermaßen unbestrittenen positiven Sanktionen; und

die negativen – gegenüber denen zum Beispiel, die verges-

sen, ihre Quellen anzugeben – sind nahezu inexistent, so

daß journalistische Quellen, zumal wenn es sich um ein

weniger wichtiges Organ handelt, fast nur zitiert werden,

um sich einer Formalität zu entledigen.

Aber ähnlich wie das politische und das ökonomische

Feld und viel stärker als das wissenschaftliche, künstleri-

sche oder literarische oder auch das juristische Feld ist das

journalistische Feld über die direkte Sanktion durch die

Kunden oder die indirekte durch die Einschaltquote per-

manent dem Verdikt des Marktes unterworfen (selbst dann,

wenn staatliche Subvention eine gewisse Unabhängigkeit

von unmittelbaren Marktzwängen gewährleisten kann).

Und die Journalisten neigen wohl um so stärker dazu, das

»Kriterium Einschaltquote« in ihrer Produktion (»einfach

darstellen«, »sich kurz fassen« usw.) oder in der Bewer-

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tung von Produkten und sogar Produzenten (»kommt gut

an«, »verkauft sich gut« usw.) zu berücksichtigen, je höher

ihre Position ist (Programmdirektor, Chefredakteur usw.)

und je unmittelbarer vom Markt abhängig ihr Medium

(ein kommerzieller Fernsehsender im Vergleich zu einem

kulturellen usw.), während die jüngsten und am wenigsten

etablierten Journalisten hingegen am meisten dazu neigen,

den sei‘s realistischeren, sei‘s zynischeren Anforderungen

der »alten Hasen« Grundsätze und Werte des »Metiers«

entgegenzuhalten.

In der spezifischen Logik eines auf die Produktion des

leichtverderblichen Produkts Neuigkeiten ausgerichteten

Feldes tendiert die Konkurrenz um den Kunden dazu, die

Form einer Konkurrenz um das Allerneueste (den Scoop)

anzunehmen – und dies natürlich um so mehr, je mehr wir

uns dem kommerziellen Pol nähern. Der Markt übt seinen

Druck nur über den Feldeffekt aus, und viele Scoops, die

als Trümpfe bei der Eroberung der Kundschaft gesucht und

geschätzt sind, bleiben Lesern oder Zuschauern tatsächlich

 Wie im literarischen Feld, so stellt auch hier die Rangfolge nach dem

externen Kriterium, dem des Verkaufserfolgs, ungefähr die Umkehrung

der Rangfolge dar, die sich bei Anwendung des internen Kriteriums

ergibt, des journalistisch »Seriösen«. Und die Komplexität der aus dieser

chiastischen Struktur (die auch die des literarischen, künstlerischen oder

juristischen Feldes ist) sich ergebenden Verteilung wird dadurch noch

verdoppelt, daß sich innerhalb jedes Presseorgans, jedes Rundfunk- oder

Fernsehprogramms, die selbst alle wie Unter-Felder funktionieren, der

Gegensatz zwischen einem »kulturellen« und einem »kommerziellen«

Pol als Organisationsprinzip herausstellt, so daß man mit einer Serie

ineinander verschachtelter Strukturen (des Typs a:b:b:b) zu tun

hat..- (deutsch: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaft-

lichen Urteilskraft, Frankfurt/M., Suhrkamp, stw, , S.  -).

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verborgen und werden überhaupt nur von den Konkur-

renten wahrgenommen (da die Journalisten die einzigen

sind, die sämtliche Zeitungen lesen...). In der Struktur

und den Mechanismen des Feldes verankert, erfordert und

begünstigt die Konkurrenz um den Zeitvorsprung Akteure,

deren berufliche Einstellung sie dazu prädisponiert, alle

journalistische Praxis unter das Gebot der Geschwindig-

keit (oder Übereilung) und der permanenten Innovation

zu stellen

– Dispositionen, die die Zeitgebundenheit der

journalistischen Praxis selbst unaufhörlich verstärken. Die-

se Praxis verpflichtet nämlich dazu, ständig von der Hand

in den Mund zu leben und zu denken und eine Nachricht

auf ihre Aktualität hin zu bewerten (der »Aufmacher« bei

den Fernsehnachrichten), und begünstigt damit eine Art

permanenter Amnesie, die Kehrseite der Begeisterung für

das Neue, und auch eine Neigung dazu, die Beurteilung von

Produzenten und Produkten nach dem Gegensatzschema

»neu – überholt« vorzunehmen.

Ein anderer, völlig paradoxer, der Ausübung kollektiver

oder individueller Autonomie entgegenstehender Effekt des

Feldes: Die Konkurrenz verleitet dazu, die Tätigkeit der

 Über den oft willkürlich verhängten Zeitdruck wirkt sich die strukturelle

Zensur auf die Äußerungen von Studiogästen im Fernsehen praktisch

unerkannt aus.

 Wenn die Behauptung »das ist überholt« heute so oft und weit über

die Grenzen des journalistischen Feldes hinaus alles kritische Argu-

mentieren ersetzen kann, so auch deshalb, weil eilige Nachrücker ein

ganz natürliches Interesse an der Geltung dieses Bewertungsprinzips

haben, das dem zuletzt Gekommenen, das heißt dem Jüngsten, einen

unbestreitbaren Vorteil einräumt und, da es in etwa auf das nahezu leere

Gegensatzpaar vorher – nachher hinausläuft, ihnen die Mühe abnimmt,

ihre Fähigkeiten erst einmal unter Beweis zu stellen.

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Konkurrenten permanent zu überwachen (was bis zu ge-

genseitigem Ausspionieren gehen kann), um ihr Scheitern

zu nutzen, ihre Fehler zu vermeiden, ihre Erfolge zu kon-

terkarieren, wobei versucht wird, die Instrumente zu ent-

lehnen, von denen angenommen wird, daß sie zum Erfolg

führten: emen von Sondernummern, die zu übernehmen

man sich verpflichtet fühlt, von anderen besprochene Bü-

cher, »über die man sprechen muß«, Interviewpartner, die

man einzuladen hat, Gegenstände, über die zu berichten

ist, weil andere sie entdeckt haben, und sogar Journalisten,

die man sich streitig macht, nicht nur, um sie wirklich zu

haben, sondern ebensosehr, damit die Konkurrenz sie nicht

bekommt. Auf diesem Gebiet wie auf anderen tendiert

Konkurrenz – die keineswegs automatisch Originalität

und Abwechslung hervorbringt – oft zur Uniformisierung

des Angebots, wovon sich leicht überzeugen kann, wer den

Inhalt der großen Wochenzeitschriften oder der an ein

breites Publikum gerichteten Radio- oder Fernsehsendun-

gen miteinander vergleicht. Dieser Wirkungsmechanismus

führt aber auch dazu, der Gesamtheit des Feldes unmerk-

lich die »Entscheidungen« der den Verdikten des Marktes

am unmittelbarsten und vollständigsten unterworfenen

Medien, etwa des Fernsehens, aufzunötigen, was dazu bei-

trägt, die ganze Produktion auf die Bewahrung etablierter

Werte auszurichten, wie zum Beispiel deutlich wird, wenn

die periodisch erscheinenden Empfehlungslisten, über

die Medienintellektuelle versuchen, ihre Sicht des Feldes

(und die Anerkennung von ihresgleichen – in Erwartung

einer Gegenleistung ...) durchzusetzen, fast immer Autoren

hochverderblicher Kulturprodukte, die sich dank solcher

Unterstützung ein paar Wochen lang in den Bestsellerlisten

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halten, neben anerkannten Schriftstellern aufführen, die als

»Klassiker« geeignet sind, den guten Geschmack derer zu

bestätigen, die sie ausgewählt haben, und überdies selbst zu

den Longsellern zählen. Womit gesagt ist, daß die Mecha-

nismen, denen das journalistische Feld unterliegt, und die

Effekte, die sie in anderen Feldern auslösen, in ihrer Inten-

sität und Richtung durch die Struktur bestimmt sind, die es

kennzeichnet, mögen sich jene Effekte auch fast immer nur

durch das Handeln einzelner vollziehen.

Die Intrusionseffekte

Die Ausstrahlungskraft des journalistischen Feldes stärkt

tendenziell in jedem Feld die Akteure und Institutionen,

die dem Pol am nächsten stehen, der dem Effekt der Menge

und des Marktes am stärksten unterworfen ist; und dieser

Effekt wirkt sich um so nachhaltiger aus, je direkter die ent-

sprechenden Felder strukturell dieser Logik gehorchen und

das journalistische Feld, von dem er seinen Ausgang nimmt,

selbst wiederum zyklisch externen Zwängen ausgesetzt ist,

die es strukturell stärker infizieren als andere Felder kultu-

reller Produktion. Heute ist zum Beispiel festzustellen, daß

interne Sanktionen ihre symbolische Macht tendenziell

verlieren und die »seriösen« Journalisten und Presseorgane

ihre Aura einbüßen und genötigt sind, der von dem kom-

merziellen Fernsehen eingeführten Logik des Marktes und

des Marketing und dem neuen Prinzip der Legitimierung

durch die Anzahl und die »Medientauglichkeit« Konzes-

sionen zu machen, wodurch bestimmten (kulturellen oder

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auch politischen) Produkten oder bestimmten »Produzen-

ten« der scheinbar demokratische Ersatz für spezifische,

von speziellen Feldern ausgehende Sanktionen verliehen

wird. Manche »Analysen« des Fernsehens verdankten ihren

Erfolg bei Journalisten, und zwar vor allem bei den dem

Einschaltquoteneffekt ergebensten, dem Umstand, daß sie

der kommerziellen Logik eine demokratische Legitimität

verliehen, indem sie sich damit begnügten, ein Problem kul-

tureller Produktion und Verbreitung als ein solches der Po-

litik, und also plebiszitärer Entscheidung, zu formulieren.

So tendiert der zunehmende Einfluß eines der direkten

oder indirekten Herrschaft der kommerziellen Logik im-

mer stärker ausgesetzten journalistischen Feldes dazu, die

Autonomie der verschiedenen Felder kultureller Produktion

zu bedrohen, indem er innerhalb eines jeden die Akteure

oder Unternehmen stärkt, die am ehesten der Versuchung

»externer« Gewinne nachgeben, weil sie über weniger

spezifisches (wissenschaftliches, literarisches usw.) Kapital

verfügen und der spezifischen Gewinne, die ihnen das Feld

sofort oder in mehr oder weniger ferner Zukunft gewährt,

weniger sicher sind.

 Es reicht dazu aus, Probleme eines Journalisten (wie die Wahl zwischen

TF und Arte) in einer journalistisch klingenden Sprache zu formulie-

ren: »Kultur und Fernsehen: zwischen Kohabitation und Apartheid« (D.

Wolton, Eloge du grand public, Paris, Flammarion, , S. ). Es mag

erlaubt sein, im Vorbeigehen darauf hinzuweisen, wie unumgänglich

notwendig der Bruch mit den Vorformulierungen und Voraussetzungen

der gewöhnlichen Sprache, und insbesondere der journalistischen, ist,

wenn der Gegenstand wissenschaftlich adäquat konstruiert werden soll.

Soviel zur Rechtfertigung der möglicherweise schwierigen, ja schwerfäl-

ligen Züge des vorliegenden Textes.

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Das journalistische Feld gewinnt in den Feldern kulturel-

ler (vor allem philosophischer und sozialwissenschaftlicher)

Produktion hauptsächlich durch den Eingriff kultureller

Produzenten an Boden, die zwischen dem journalistischen

Feld und den spezialisierten (literarischen, philosophischen

usw.) Feldern zu situieren sind – wo genau, ist schwer zu sa-

gen. Diese »Medienintellektuellen«,

die sich ihrer Doppel-

zugehörigkeit bedienen, um den spezifischen Anforderun-

gen beider Welten aus dem Weg zu gehen und in jede ihren

in der anderen mehr oder weniger wohlerworbenen Status

einzubringen, sind in der Lage, zweierlei Effekte hervorzu-

rufen: zum einen die Einführung neuer Formen kultureller

Produktion irgendwo auf halbem Wege zwischen den eso-

terisch-universitären und den exoterisch-journalistischen

Erzeugnissen; zum zweiten die Durchsetzung anderer Be-

wertungsprinzipien kultureller Produkte dadurch, daß sie,

die »Medienintellektuellen«, den Sanktionen des Marktes

namentlich durch ihre kritischen Urteile einen Schein

intellektueller Autorität verleihen und somit die spontane

Neigung bestimmter Verbraucherkategorien zur Allodo-

xia verstärken, was den Einfluß der Einschaltquoten und

Bestsellerlisten auf die Rezeption kultureller Produkte und,

indirekt und auf Dauer gesehen, auch auf deren Produk-

 Innerhalb dieser nicht scharf zu fassenden Kategorie wären diejenigen

gesondert aufzuführen, die einer mit der »Industrialisierung« der kul-

turellen Produktion aufgekommenen Tradition folgend einen journa-

listischen Beruf ausüben, um Existenz- und nicht um Machtmittel zu

erwerben, zumal nicht, um in den spezialisierten Feldern Kontroll- oder

Sanktionsfunktionen auszuüben (Shdanow-Effekt).

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tion zu verstärken tendiert und die Entscheidungen (von

Verlegern zum Beispiel) auf weniger anspruchsvolle, besser

verkäufliche Produkte lenkt.

Und sie können mit der Unterstützung all derer rechnen,

die, Objektivität mit einer Art allseitiger Verträglichkeit

und eklektischer Neutralität gegenüber allen Beteiligten

in eins setzend, Erzeugnisse mittlerer Kultur für Avant-

gardewerke halten oder die künstlerische Avantgarde (und

nicht nur die künstlerische) im Namen des gesunden Men-

schenverstands kritisieren;

letztere wiederum dürfen auf

die Zustimmung oder das heimliche Einverständnis all der

Konsumenten zählen, die wie sie aufgrund ihrer Entfer-

nung von den »kulturellen Brennpunkten« und ihrer inter-

essierten Neigung, die Grenzen ihrer Aneignungsfähigkeit

nicht wahrzunehmen, zur Allodoxia neigen – einer Logik

der self deception folgend, die von Lesern populärwissen-

schaftlicher Magazine häufig so formuliert wird: »Dies ist

eine wissenschaftliche Zeitschrift von sehr hohem Niveau

und jedermann zugänglich.«

So können Errungenschaften in Gefahr geraten, die von

der Autonomie des Feldes und seiner Fähigkeit zum Wi-

derstand gegenüber Ansprüchen der Außenwelt ermöglicht

wurden – Ansprüchen, wie sie heute von der Einschalt-

quote symbolisiert werden und gegen die sich schon die

Schriftsteller des vergangenen Jahrhunderts ausdrücklich

verwahrten, wenn sie sich über die Vorstellung empörten,

 Viele neuere Proteste gegen die moderne Kunst unterscheiden sich

allenfalls durch die Prätention ihrer Motive von Verdikten, wie sie sich

aus einem Plebiszit über Avantgardekunst – oder, was auf dasselbe hin-

ausläuft, aus Meinungsumfragen – ermitteln ließen.

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die Kunst (und dasselbe ließe sich von der Wissenschaft

sagen) könnte dem Verdikt des allgemeinen Stimmrechts

ausgeliefert werden. Zwei Strategien können gegen diese

Gefahr verfolgt werden, und sie werden je nach den Fel-

dern und ihrem Grad an Autonomie verschieden häufig

eingesetzt: die Grenzen des Feldes deutlich markieren und

sie gegenüber dem drohenden Eindringen journalistischer

Denk- und Verhaltensweisen wiederherstellen und befesti-

gen, oder aber (nach dem von Zola inaugurierten Modell)

den Elfenbeinturm verlassen, um draußen die Werte zur

Geltung zu bringen, die innerhalb seiner gewonnen wurden,

und sich in den spezialisierten Feldern und außerhalb ihrer,

bis hin zum journalistischen Feld, aller verfügbaren Mittel

in der Absicht zu bedienen, den von der Autonomie mög-

lich gemachten Ergebnissen und Entdeckungen andernorts

Geltung zu verschaffen.

Um zu einem aufgeklärten wissenschaftlichen Urteil zu

gelangen, bedarf es ökonomischer und kultureller Voraus-

setzungen, und man wird vom allgemeinen Stimmrecht

(oder der Meinungsumfrage) nicht erwarten können, über

Probleme der Wissenschaft zu entscheiden (obwohl man

es manchmal indirekt und unbewußt tut), wenn man

nicht die eigentlichen Voraussetzungen wissenschaftlicher

Produktion außer Kraft setzen will, das heißt die Barriere,

die den Zugang zur Wissenschaft (oder zur Kunst) gegen

das zerstörerische Eindringen externer, also ungeeigneter

und deplazierter Produktions- und Evaluationsprinzipien

schützt. Daraus folgt jedoch nicht, daß die Barriere nicht

in entgegengesetzter Richtung überschritten werden kann

und es schlechthin unmöglich wäre, an der demokratischen

Weitergabe durch Autonomie ermöglichter Ergebnisse zu

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arbeiten. Dies allerdings unter der Voraussetzung, daß man

sich darüber im klaren ist, daß jeder Versuch, die höchst

raren Errungenschaften wissenschaftlichen oder künstle-

rischen Experimentierens zu popularisieren, die Infrage-

stellung des Monopols der Verbreitungsinstrumente dieser

(wissenschaftlichen oder künstlerischen) Information vor-

aussetzt, welches das journalistische Feld faktisch innehat,

und auch die Kritik an der Darstellung der Erwartungen

der Mehrheit der Menschen – einer Darstellung, wie sie

die kommerzielle Demagogie derer hervorbringt, welche

über die Mittel verfügen, sich zwischen die kulturellen

Produzenten (unter die in diesem Fall die Politiker gezählt

werden können) und die große Masse der Konsumenten zu

drängen.

Der Abstand zwischen professionellen Produzenten

(oder ihren Produkten) und einfachen Konsumenten

(Lesern, Hörern, Zuschauern, auch Wählern), der in der

Autonomie der spezialisierten Felder seine Grundlage hat,

ist je nach Feld mehr oder weniger groß, mehr oder weni-

ger schwer zu überwinden und unter dem Gesichtspunkt

des Prinzips Demokratie mehr oder weniger inakzeptabel.

Und entgegen dem Anschein ist er auch in der Politik zu

bemerken, zu deren erklärten Grundsätzen er in Gegen-

satz steht. Obwohl die Akteure des journalistischen und

des politischen Feldes miteinander konkurrieren und sich

ständig bekämpfen und das journalistische Feld in gewisser

Weise in das politische einbezogen ist, innerhalb dessen es

sehr starke Effekte ausübt, haben beide Felder doch dies

gemeinsam, sehr direkt von der Sanktion des Marktes

und des Plebiszits betroffen zu sein. Daraus folgt, daß der

Einfluß des journalistischen Feldes bei den im politischen

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Feld Agierenden die Tendenzen verstärkt, sich dem Druck

der manchmal unreflektierten und von Leidenschaft ge-

steuerten, oft von der Presse überhaupt erst zu politischen

Losungen umgeformten Erwartungen und Ansprüchen der

Menge zu beugen.

Wenn der Journalismus sich nicht der Freiheiten und der

Macht der Kritik bedient, die seine Autonomie ihm erlaubt,

agiert er, und vor allem sein (kommerzieller) Ableger, das

Fernsehen, wie die Meinungsumfrage, mit der er selbst zu

rechnen hat. Die Umfrage als Instrument rational gesteuer-

ter Demagogie bewirkt zwar tendenziell einen verstärkten

Selbstbezug des politischen Feldes. Sie stellt aber auch eine

unmittelbare, unvermittelte Beziehung zu den Wählern her,

eine Beziehung, die alle gesellschaftlich mit der Erarbeitung

und Vertretung einmal gebildeter Meinungen beauftragten

individuellen oder kollektiven Akteure (wie Parteien und

Gewerkschaften) aus dem Spiel drängt; alle Mandatsträger

und alle politischen Repräsentanten verlieren ihren gemein-

samen Anspruch (den einst auch große Zeitungsherausge-

ber erhoben) auf das Monopol zur legitimen Äußerung

der öffentlichen Meinung und gleichzeitig damit auf ihre

Befähigung, bei der kritischen (und manchmal, wie in den

gesetzgebenden Körperschaften, kollektiven) Herausar-

beitung der wirklichen oder unterstellten Meinungen ihrer

Auftraggeber mitzuwirken.

All dies bewirkt, daß der unaufhörlich zunehmende

Einfluß eines selbst einem wachsenden Einfluß der kom-

merziellen Logik unterliegenden journalistischen Feldes

auf ein der ständigen Versuchung zur Demagogie (und

ganz besonders dann, wenn die Umfrage sie in rationaler

Version praktizierbar macht) ausgesetztes politisches Feld

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dazu beiträgt, die Autonomie dieses politischen Feldes zu

schwächen und mit ihr zugleich die den (politischen oder

sonstigen) Repräsentanten zuerkannte Befugnis, sich auf

ihre Kompetenz als Experten oder auf ihre Autorität als

Hüter kollektiver Werte zu berufen.

Unvermeidlich drängt sich abschließend der Fall der

Juristen auf, die nur um den Preis einer »frommen Heuche-

lei« immer noch glauben können, daß ihre Verdikte nicht

auf äußeren, namentlich ökonomischen Zwängen beruhen,

sondern in transzendenten Normen gründen, zu deren Hü-

tern sie bestellt sind. Das Feld der Rechtsprechung ist nicht,

was es zu sein glaubt, nämlich ein von allen Kompromissen

mit den politischen oder wirtschaftlichen Notwendigkeiten

befreites Universum. Daß es ihm aber gelingt, als solches

anerkannt zu werden, trägt zur Produktion vollkommen

realer sozialer Effekte bei, und zwar zunächst einmal bei

denen, deren Beruf es ist, Recht zu sprechen. Was aber

wird aus den Juristen, diesen mehr oder weniger aufrech-

ten Inkarnationen der kollektiven Heuchelei, wenn einmal

allgemein bekannt wird, daß sie, weit davon entfernt, tran-

szendentalen und universellen Werten zu gehorchen, ganz

wie alle anderen gesellschaftlichen Akteure Zwängen aus-

geliefert sind – Zwängen wie denen, die ohne jeden Respekt

vor Prozeduren oder Hierarchien der Druck ökonomischer

Notwendigkeiten oder die Versuchung durch journalisti-

sche Erfolge ausübt?

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Kleines normatives Postskriptum

Die verborgenen Zwänge enthüllen, die auf den Journalisten

lasten und die sie ihrerseits an alle kulturellen Produzenten wei-

tergeben, heißt nicht – muß es eigens betont werden? – Verant-

wortliche anprangern, mit dem Finger auf Schuldige zeigen



Es

heißt, den einen wie den anderen eine Chance geben, sich durch

Bewußtwerdung von dem Bann zu lösen, der von diesen Mecha-

nismen ausgeht, und vielleicht das Programm einer konzertier-

ten Aktion zwischen Künstlern, Schriftstellern, Wissenschaft-

lern und Journalisten (als Inhabern des Quasi-Monopols an den

Verbreitungsmitteln) entwerfen. Nur eine solche Zusammenar-

beit würde es möglich machen, effizient die Popularisierung der

universellsten Forschungsergebnisse zu fördern und auch, zum

Teil wenigstens, zur praktischen Universalisierung des Zugangs

zum Universellen beizutragen.

 Um den Effekt des »Aufspießen« oder »Karikieren« zu vermeiden, der

leicht entsteht, wenn aufgenommene Äußerungen oder gedruckte Tex-

te umstandslos zitiert werden, haben wir manches Mal auf die Wieder-

gabe von Dokumenten verzichten müssen, die der Beweisführung noch

mehr Nachdruck verliehen hätten und durch den entbanalisierenden

Effekt, den die Sprengung des vertrauten Zusammenhangs auslöst,

den Leser darüber hinaus an all die gleichgearteten Besipiele hätten

erinnern können, die dem routinierten Blick gewöhnlich verborgen

bleiben.

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Ein Untersuchungsprogramm

Die Olympischen Spiele

1

Was meinen wir genau, wenn wir von Olympischen Spie-

len sprechen? Der offenkundige Referent ist die »wirkliche«

Veranstaltung, also eine Sportveranstaltung im eigentlichen

Sinne, die Begegnung von Athleten aus aller Welt im Zei-

chen universalistischer Ideale, und ein Ritual mit nationa-

lem, ja nationalistischem Beigeschmack, der Aufmarsch

von Nationalmannschaften, die Medaillenverleihung mit

Fahnen und Nationalhymnen. Der verborgene Referent

aber ist die Gesamtheit der von den Fernsehgesellschaften

aufgenommenen und verbreiteten Bilder dieser Veranstal-

tung, die jeweils eine nationale Auswahl aus dem national

scheinbar nicht differenzierten (die Wettkämpfe sind ja in-

ternational), im Stadion dargebotenen Material vornehmen.

Ein doppelt verborgenes Objekt, da niemand es in seiner

Gänze sieht und niemand sieht, daß es nicht gesehen wird,

so daß jeder Fernsehzuschauer die Illusion hegen kann, er

sehe wahrhaft die Olympiade.

Da die Fernsehsender aus den verschiedenen Ländern ei-

nem Athleten oder einer sportlichen Disziplin um so mehr

Platz einräumen, je mehr Aussichten sie haben, nationalen

oder nationalistischen Stolz zu befriedigen, verwandelt das

Fernsehbild, mag es auch den Anschein einer bloßen Wie-

 Dieser Text ist die Kurzfassung eines bei der Jahresversammlung der

Philosopbical Society for the Study of Sport am . Oktober  in Berlin

gehaltenen Vortrags.

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dergabe besitzen, den sportlichen Wettkampf unter Athle-

ten aus aller Welt in eine Konfrontation von Vorkämpfern

(im Sinne ordnungsgemäß beauftragter Protagonisten) ver-

schiedener Nationen.

Wollte man diesen Prozeß symbolischer Transmutation

verstehen, wäre zunächst einmal die soziale Konstruktion

des olympischen Schauspiels zu untersuchen, die der Wett-

bewerbe selbst, aber auch all der Kundgebungen, die sie

einrahmen, wie der Eröffnungsaufmarsch und die Schluß-

zeremonie. Sodann wäre die Produktion der Bilder zu un-

tersuchen, die das Fernsehen von diesem Schauspiel liefert

– Bilder, welche, da von Werbespots unterbrochen, zu einem

kommerziellen, der Marktlogik gehorchenden Produkt

werden und daher so konzipiert werden müssen, daß sie das

breiteste Publikum erreichen und seine Aufmerksamkeit so

lange wie möglich fesseln: Nicht nur müssen sie in den öko-

nomisch dominierenden Ländern zu den Hauptsendezeiten

geliefert werden, sie müssen sich auch Publikumserwar-

tungen unterwerfen und den Präferenzen von Zuschauern

unterschiedlicher Nationen für diesen oder jenen Sport und

sogar ihren nationalen oder nationalistischen Hoffnungen

entgegenkommen, was voraussetzt, daß eine umsichtige

Auswahl unter den Sportarten und Wettkämpfen Erfolge

für die Mitglieder ihrer jeweiligen Nationalmannschaft

und damit die Befriedigung nationalistischer Gefühle

garantiert. Daraus folgt zum Beispiel, daß der relative

Stellenwert der verschiedenen Sportarten bei den internati-

onalen Sportveranstaltungen immer mehr von ihrem Fern-

seherfolg und den entsprechenden ökonomischen Profiten

abhängt. Die mit den Fernsehübertragungen verbundenen

Zwänge beeinflussen auch mehr und mehr die Auswahl

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der olympischen Sportarten, der Ausstragungsorte und des

Zeitpunkts, und sogar den Verlauf der Wettkämpfe und

der Zeremonien. So wurden bei den Spielen in Seoul die

Abschlußwettkämpfe in der Leichtathletik (nach Verhand-

lungen, bei denen es um enorme Finanzzusagen ging) so

gelegt, daß sie in den Vereinigten Staaten am frühen Abend

gesehen werden konnten, wenn die meisten Zuschauer zu

erwarten waren.

Gegenstand der Untersuchung müßte daher das gesamte

Feld der Produktion der Olympischen Spiele als Fernseh-

veranstaltung (oder besser, nämlich in der Marketingspra-

che: als »Kommunikationsinstrument«) werden, das heißt

die Gesamtheit der objektiven Beziehungen zwischen

Akteuren und Institutionen, die um die Produktion und

Kommerzialisierung der Bilder und Diskurse zu den Spie-

len konkurrieren: das Internationale Olympische Komitee

(IOK), das, dominiert von einer kleinen Kamarilla von

Sportfunktionären und Vertretern großer Industrieunter-

nehmen (Adidas, Coca-Cola usw.), die den Verkauf der

Übertragungsrechte (für Barcelona auf  Milliarden

Dollar geschätzt) und der Sponsorenrechte sowie auch die

Wahl der Austragungsorte kontrolliert, sich nach und nach

in ein kommerzielles Großunternehmen mit einem Jahres-

budget von  Millionen Dollar verwandelt hat; die großen

Fernsehgesellschaften (vor allem die amerikanischen), die

(auf nach Staaten oder Sprachräumen unterschiedener

Ebene) um die Übertragungsrechte konkurrieren; die

multinationalen Unternehmen (Coca-Cola, Kodak, Ricoh,

Philips usw.), die um die Exklusivrechte konkurrieren, ihre

Produkte (als »offizielle Lieferanten«) mit den Olympischen

Spielen in Verbindung bringen zu dürfen

und schließlich

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die Produzenten von Bildern und Kommentaren für Fern-

sehen, Rundfunk und Presse ( ooo waren es in Barcelona),

die in Konkurrenzbeziehungen untereinander stehen, die

ihre individuelle und kollektive Arbeit an der Konstrukti-

on der Darstellung der Spiele – Auswahl, Einstellung und

Montage der Bilder, Ausarbeitung des Kommentars – aus-

richten. Und schließlich wären die vom Fernsehen über die

Planetarisierung des olympischen Schauspiels ausgehenden

Auswirkungen auf die Intensivierung des Wettbewerbs

unter den Nationen zu untersuchen, etwa die Entstehung

einer auf internationale Erfolge ausgerichteten Sportpolitik

der Staaten, die symbolische und ökonomische Ausnutzung

der Spiele und die Industrialisierung der Sportproduktion

mit ihrem Rückgriff auf Doping und autoritäre Trainings-

formen

.

 Den Sponsoren wurde ein »komplettes Kommunikationspaket« ange-

boten, das »auf der Exklusivität in der Produktkategorie und der Kon-

tinuität der Botschaft über vier Jahre hinweg aufbaut. Das Programm

für jedes der  Sportereignisse schloß die Stadionwerbung, den Titel

>offizieller Lieferant<, die Benutzung von Maskottchen und Emblemen

ebenso wie Franchisemöglichkeiten ein.« Für  Millionen Francs hatte

jeder Sponsor  die Möglichkeit, am »weltgrößten Fernsehereignis«

teilzuhaben und über ein »einmaliges, jeden anderen Sport überbieten-

des Schaufenster« zu verfügen (V. Simson und A. Jennings, Mains basses

sur les JO, Paris, Flammanon, , S. ).

 Der Wettkampfsport setzt mehr und mehr eine industrielle Technologie

ins Werk, die den menschlichen Körper durch den Beitrag verschiedener

biologischer und psychologischer Wissenschaften in eine leistungsfähi-

ge, unermüdliche Maschine verwandeln soll. Die Logik der Konkurrenz

unter den Nationalmannschaften und den Staaten macht den Rückgriff

auf verbotene Stimulantien und zweifelhafte Trainingsmethoden immer

unvermeidlicher (vgl J. Hoberman, Mortal Engines. Tbe Science of Per-

formance and the Deshumanization of Sport, New York, e Free Press,

).

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Ganz wie in der künstlerischen Produktion die un-

mittelbar sichtbare Tätigkeit des Künstlers das Wirken

all der Agenten, Kritiker, Galeristen, Konservatoren usw.

kaschiert, die miteinander konkurrierend dazu beitragen,

Sinn und Wert des Kunstwerks und, grundsätzlicher noch,

jenen Glauben an den Wert der Kunst und des Künstlers zu

produzieren, auf dem das ganze Kunstspiel aufbaut,

so ist

auch im Sport der Champion, der Hundertmeterläufer oder

Zehnkämpfer nur das scheinbare Subjekt eines Schauspiels,

das in gewisser Weise zweimal produziert wird

ein erstes

Mal für eine Gesamtheit von Akteuren, zu denen Athleten,

Trainer, Ärzte, Organisatoren, Kampfrichter, Zeitnehmer

und Regisseure des ganzen Zeremoniells gehören, die am

Ablauf der Wettkämpfe im Stadion mitwirken; ein zweites

Mal für alle die, welche die Reproduktion dieses Schau-

spiels in Bildern und Worten produzieren, meist unter dem

Druck der Konkurrenz und des ganzen Systems von Zwän-

gen, die das sie umschließende Netz objektiver Bedingun-

gen auf sie ausübt.

Die Teilnehmer des globalen Ereignisses, das wir meinen,

wenn wir von »Olympischen Spielen« sprechen, könnten

die Mechanismen, die das Handeln der bei dieser zweistu-

figen sozialen Konstruktion Mitwirkenden bestimmen und

deren Effekte jeder verspürt und die er zugleich anderen zu

spüren gibt, kollektiv meistern, wenn sie sich diese durch

 Vgl. Pierre Bourdieu, Les regles de l‘art, Paris, Editions du Seuil, .

 Ein brutaler Indikator für den realen Wert der verschiedenen Akteure

des olympischen »Showbusineß« waren die von den koreanischen Be-

hörden verteilten Geschenke: von  Dollar für die Athleten bis zu 

Dollar für die lOK-Mitglieder (vgl. V. Simson und A. Jennings, Mains

basses sur les JO, op, dt., S. ).

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Untersuchung und Reflexion bewußt machten. Damit trü-

gen sie auch zur Entfaltung der in den Olympischen Spielen

angelegten, heute vom Verschwinden bedrohten Potentiale

des Universalismus bei.

 Man könnte zum Beispiel an eine Olympische Charta denken, in der die

Grundsätze zu definieren wären, auf die sich die mit der Produktion der

Veranstaltungen und ihrer Wiedergabe befaßten Akteure zu verpflich-

ten hätten (angefangen natürlich bei den Leitern des Olympischen

Komitees, die als erste von der Überschreitung des Gebots materieller

Interesselosigkeit profitieren, dessen Einhaltung sie überwachen sollen),

oder an einen Olympischen Eid, der nicht nur die Athleten in die Pflicht

nehmen würde (indem er ihnen zum Beispiel nationalistische Schaustel-

lungen verböte wie die, sich bei der Ehrenrunde in ihre Nationalfahne

zu hüllen), sondern auch diejenigen, die die Bilder ihrer Leistungen

produzieren und kommentieren.

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Nachwort

Journalismus und Politik

Wie ist die außerordentliche Heftigkeit zu erklären, die die

vorstehende Untersuchung bei den bekanntesten französi-

schen Journalisten auslöste?

Sie kann nicht nur daher rühren, daß jedenfalls diejeni-

gen unter ihnen, die direkt oder indirekt, vermittels ihnen

Nahestehender oder Gleichender, zitiert wurden, sich trotz

meiner vorsorglichen Dementis persönlich angegriffen

fühlten. Die moralinschwere Empörung, die sie an den Tag

legten, ist wohl zum Teil auf die Transkription zurückzu-

führen, die unvermeidlicherweise das Ungeschriebene, den

Tonfall, die Gesten, die Mimik verschwinden läßt – das

heißt alles, was für jeden gutwilligen Zuschauer den Unter-

schied zwischen der um Erklären und Überzeugen bemüh-

ten Rede und dem polemischen Pamphlet ausmacht, das die

meisten Journalisten darin gesehen haben. Sie erklärt sich

aber vor allem durch einige der typischsten Eigenschaften

des journalistischen Blicks (der sie noch vor kurzem für

mein Buch Das Elend der Welt einnahm): die Neigung etwa,

das Neue mit sogenannten »Enthüllungen« zu identifizie-

ren, oder den Hang, den sichtbarsten Aspekt der sozialen

Sur la télévision – die Buchveröffentlichung der beiden einleitenden

Fernsehvorträge – war Gegenstand einer breiten Kontroverse, in die alle

Berühmtheiten der französischen Tages- und Wochenpresse wie auch

des Fernsehens über Monate hinweg – solange das Buch an der Spitze

der Bestsellerlisten lag – eingriffen.

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Welt in den Vordergrund zu stellen, die Individuen nämlich,

ihre Taten und vor allem ihre Untaten, und zwar in einer oft

denunziatorischen, anklagenden Perspektive und auf Kos-

ten jener unsichtbaren Strukturen und Mechanismen (hier

derjenigen des journalistischen Feldes), die Handeln und

Denken bestimmen und deren Kenntnis eher verständnis-

volle Nachsicht fördert als empörte Verurteilung; oder auch

die Tendenz, sich mehr für die (unterstellten) »Schlußfol-

gerungen« zu interessieren als für den Weg, auf dem man

zu ihnen gelangt. Ich erinnere mich eines Journalisten, der

mich nach dem Erscheinen meines Buchs La noblesse d‘Etat,

der Bilanz zehnjähriger Forschungen, zu einer Debatte über

die Grandes Écoles einlud, wobei der Vorsitzende des Vereins

ehemaliger Studierender dieser Elitehochschulen »pro« und

ich »contra« sprechen sollte, und er verstand nicht, daß ich

es ausschlagen konnte. Genauso haben die »berühmten Fe-

dern«, die mein Buch angriffen, die Methode, die ich dort

anwandte (insbesondere die Untersuchung der journalisti-

schen Welt als Feld), schlicht und einfach ausgeklammert

und es, ohne sich dessen überhaupt bewußt zu werden, da-

mit auf eine Reihe banaler, mit einigen polemischen Spitzen

gespickter Meinungsäußerungen reduziert.

Ebendiese Methode möchte ich erneut illustrieren und,

sei es auch auf die Gefahr neuer Mißverständnisse hin, zu

zeigen versuchen, wie das journalistische Feld eine ganz

besondere Sicht des politischen Feldes produziert und

durchsetzt, eine Optik, die ihr Prinzip in der Struktur des

journalistischen Feldes und in den spezifischen Interessen

der Journalisten findet, die es hervorbringt.

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In einem Universum, das von der Furcht beherrscht ist, zu

langweilen, und von der Bemühung, um jeden Preis unter-

haltsam zu sein, muß die Politik als undankbares ema er-

scheinen, das man zu den Hauptsendezeiten nach Möglich-

keit meidet – ein wenig aufregendes, ja deprimierendes und

schwer zu vermittelndes Schauspiel, das doch interessant

gemacht werden soll. Daher die in den Vereinigten Staaten

wie in Europa beobachtbare Tendenz, den Kommentator

und den recherchierenden Reporter durch den Spaßmacher

zu ersetzen, Information, Analyse, vertiefte Diskussion,

Expertenrunde, Reportage durch reine Unterhaltung, und

insbesondere durch das bedeutungslose Geschwätz der

Talkshows mit ihren immer wiederkehrenden und unterein-

ander austauschbaren Teilnehmern (als Beispiel zitierte ich

einige Namen, ein unverzeihlicher Fauxpas). Um wirklich

zu verstehen, was bei diesem fiktiven Austausch gesagt wird

und vor allem, was nicht gesagt werden darf, müßte man im

einzelnen die Bedingungen untersuchen, nach denen die in

den Vereinigten Staaten so genannten panelists ausgewählt

werden: stets disponibel sein, das heißt allzeit zur Teilnah-

me bereit und auch dazu, die Spielregeln zu akzeptieren und

auf alle Fragen der Journalisten einzugehen, auch auf die

albernsten und schockierendsten (genau das definiert den

tuttologo); zu vielem, das heißt auch zu allen Konzessionen

(hinsichtlich des emas, der anderen Teilnehmer usw.) be-

reit sein, zu allen Kompromissen und Kompromittierungen

nur um dabei zu sein und sich damit die direkten und indi-

rekten Profite der »Medienbekanntheit« zu sichern, Prestige

bei der Presse, Einladungen zu lukrativen Vorträgen usw.;

bei den Vorinterviews, von denen manche Produzenten in

den Vereinigten Staaten und zunehmend auch in Europa

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die Auswahl ihrer panelists abhängig machen, einfache

Standpunkte deutlich und brillant formulieren und vermei-

den, sich mit komplexem Wissen zu belasten (der Maxime

folgend: »e less you know, the better off you are«).

Die Journalisten, die diese Politik demagogischer Ver-

einfachungen (in allem der Gegensatz zu der demokrati-

schen Intention, zu informieren oder auf unterhaltsame

Weise zu bilden) mit der Berufung auf die Erwartunger

des Publikums rechtfertigen, tun nichts anderes, als ihre

eigenen Neigungen, ihre eigene Optik auf dieses zu pro-

jizieren; und zwar ganz besonders dann, wenn ihre Angst

zu langweilen sie dazu treibt, den Streit der Debatte, die

Polemik der Dialektik vorzuziehen und alles daranzusetzen,

daß die Konfrontation von Personen (namentlich Politi-

kern) gegenüber der Konfrontierung ihrer Argumente die

Oberhand gewinnt – gegenüber dem also, worum es dabei

eigentlich geht, sei es das Haushaltsdefizit, die Steuersen-

kung oder die Auslandsverschuldung. Da ihre Kenntnis der

politischen Welt im wesentlichen mehr auf persönlichen

Kontakten und vertraulichen Mitteilungen (ja Gerüchten

und Klatsch) beruht als auf durch Beobachtungen oder

Recherchen erworbener Sachkenntnis, tendieren sie näm-

lich dazu, alles auf die eine Ebene zu bringen, auf der sie

sich auskennen. Und so interessieren sie sich weit mehr für

das Spiel und für die Spieler als für den Einsatz, mehr für

rein taktische Fragen als für die Substanz der Auseinan-

dersetzungen, mehr für den Effekt, den Äußerungen in der

Logik des politischen Feldes (der Logik von Koalitionen,

Bündnissen oder Konflikten zwischen Personen) auslösen,

als für ihren Inhalt (wenn sie nicht so weit gehen, völlig

künstliche emen zu erfinden und zu popularisieren, wie

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bei der letzten Parlamentswahl in Frankreich die Frage, ob

die Debatte zwischen der Linken und der Rechten von zwei

– Jospin, dem Oppositionsführer, und Juppe, dem rechten

Premierminister – oder von vier Diskutanten auszutragen

wäre – von Jospin und Hue, seinem kommunistischen

Verbündeten, auf der einen, Juppe und Leotard, seinem

zentristischen Verbündeten, auf der anderen Seite – eine

Frage, die unter dem Anschein der Neutralität auf eine

politische Intervention hinauslief, die die konservativen

Parteien durch das Hochspielen möglicher Divergenzen

innerhalb der Linken begünstigen sollte). Aufgrund ihrer

zweideutigen Stellung in der politischen Welt, wo sie als

Akteure großen Einfluß haben, ohne doch ganz dazuzu-

gehören, und in der Lage sind, den Politikern unerläßliche

symbolische Dienste zu leisten, die diese sich selbst nicht

verschaffen können (außer heute als Buchautoren, die sich

gegenseitig die Stange halten), tendieren sie zur Optik eines

ersites und zu einer spontanen Form des generalisierten

Verdachts, die sie dazu treibt, die Gründe auch noch der

interesselosesten Stellungnahmen und der aufrichtigsten

Überzeugungen in Interessen zu suchen, die mit Positionen

im politischen Feld (wie Rivalitäten innerhalb einer Partei

oder einer »Strömung«) verflochten sind.

All das führt sie dazu, in der Begründung ihrer Kom-

mentare oder der Fragestellung ihrer Interviews eine

zynische Sicht der politischen Welt zu produzieren und

anzubieten: den Blick auf eine Arena, in der Ehrgeizlinge

ohne jede Überzeugung Manöver durchführen, bei denen

sie sich von konkurrenzbedingten Interessen leiten lassen.

(In dieser Sichtweise werden sie allerdings, nebenbei gesagt,

von all den Ratgebern und Experten bestärkt, die Politiker

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bei jener Art von ausdrücklich kalkuliertem, wenn auch

nicht notwendig zynischem politischem Marketing unter-

stützen, das für einen die Anforderungen des journalisti-

schen Feldes berücksichtigenden politischen Erfolg immer

notwendiger wird – ein wahrer Caucus, der die Politiker

und ihren Ruf zunehmend »macht«.) Die ausschließlich

auf den politischen »Mikrokosmos« und auf die von ihm

ausgehenden Fakten und Effekte gerichtete Aufmerksam-

keit produziert tendenziell einen Bruch mit der Sichtweise

der Öffentlichkeit oder jedenfalls ihrer um die wirklichen

Folgen politischer Stellungnahmen für ihre Existenz und

für die soziale Welt am meisten besorgten Fraktionen. Ein

Bruch, den zumal bei den Fernsehstars die mit dem ökono-

mischen und sozialen Privileg verbundene Distanz verstärkt

und steigert. Bekanntlich verfügen die Medienstars in den

Vereinigten Staaten und den meisten Ländern Europas seit

den sechziger Jahren nicht nur über äußerst erhebliche

Gehälter – in der Größenordnung von   Dollar

und mehr in Europa, von mehreren Millionen Dollar in

Amerika

-, sie beziehen außerdem oft horrende Honorare

für ihre Teilnahme in Talkshows, an Vortragstourneen, für

regelmäßige Mitarbeit bei der Presse, für die Übernahme

der Moderation vor allem bei Versammlungen von Berufs-

verbänden (auf diese Weise wächst die unterschiedliche

Verteilung von Macht und Privilegien im journalistischen

Feld in dem Maße, in dem neben kapitalistischen Kleinun-

ternehmern, die ihr symbolisches Kapital durch eine Politik

permanenter Präsenz im Fernsehen – die zur Pflege ihres

Kurses auf dem Markt der Vorträge und Moderationen nö-

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tig ist – wahren und mehren, sich ein breites Subproletariat

entwickelt, das seine prekäre Lage zu einer Art Selbstzen-

sur verurteilt).

Damit nicht genug: Zu diesen Effekten treten die bereits

erwähnten, von der Konkurrenz innerhalb des journalis-

tischen Feldes hervorgerufenen hinzu, etwa die Jagd nach

dem Scoop und die selbstverständliche Bevorzugung der

neuesten und am schwierigsten zu beschaffenden Meldung

oder auch das gegenseitige Überbieten bei der Konkur-

renz um die subtilste und paradoxeste, das heißt sehr oft:

zynischste Interpretation, oder auch jene von Amnesie

geschlagenen Vorhersagen in bezug auf weitere Entwick-

lungen, Pro- und Diagnosen, die (ähnlich wie Sportwetten)

wenig kosten und sogar völlig straflos bleiben, weil das

von der fast vollständigen Diskontinuität journalistischen

Berichtens und dem rapiden Rotieren sukzessiver Konfor-

mismen erzeugte Vergessen sie deckt (man erinnere sich

beispielshalber daran, wie Journalisten aller Länder nach

 innerhalb weniger Monate von schwärmerischer Be-

geisterung für das glorreiche Auftauchen neuer Demokra-

tien zur unerbittlichen Verurteilung gräßlicher ethnischer

Kriege übergehen konnten).

Alle diese Effekte tragen dazu bei, daß sich ein Gesamt-

effekt der Entpolitisierung oder genauer: politischer Des-

illusioniertheit ergibt. Das Bemühen um Unterhaltsamkeit

tendiert dazu, immer dann, wenn sich ein wichtiges, aber

scheinbar langweiliges politisches Problem einstellt, die

 Vgl. James Fallows, Breaking the News. How Media Undermine American

Democracy, New York, Vintage Books, .

 Vgl. Patrick Champagne, »Le journalisme entre precarite et concurrence«,

Liber , Dezember .

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Aufmerksamkeit auf ein spektakuläres Ereignis (oder einen

Skandal) umzulenken, ohne daß dies explizit gewollt sein

muß – oder, subtiler noch, die sogenannte »Aktualität« auf

eine Abfolge unterhaltsamer Ereignisse zu reduzieren, die

oft, wie beispielhaft bei dem Prozeß gegen O.J. Simpson,

auf halbem Weg zwischen der »Vermischten Meldung« und

der Show liegen; auf eine ungereimte Abfolge von Ereignis-

sen, die nichts miteinander zu tun haben und bloß von den

Zufällen chronologischer Koinzidenz zusammengebracht

werden, ein Erdbeben in der Türkei und die Vorstellung

von Kürzungen im Staatshaushalt, ein Sieg im Sport und

ein Sensationsprozeß, und die man dadurch vollends ad ab-

surdum führt, daß man sie auf das herunterbringt, was sie

augenblicklich, aktuell vorstellen, und sie von ihrer ganzen

Vorgeschichte wie von ihren Konsequenzen abschneidet.

Daß jedes Interesse für unmerkliche Veränderungen fehlt

– für alle Prozesse nämlich, die, wie das Auseinanderdriften

der Kontinente, lange unbemerkt bleiben und ihre Aus-

wirkungen erst mit der Zeit ganz offenbaren -, vermehrt

die Effekte der strukturellen Amnesie, der die Logik eines

Denkens Vorschub leistet, das nur von einem Tag zum

anderen reicht, und die Konkurrenz, die dazu zwingt, das

Wichtige mit dem Neuen (dem Scoop) zu identifizieren,

und die Journalisten, diese Tagelöhner des Alltäglichen,

zur Produktion einer Wiedergabe der Welt verurteilt, die

sie als diskontinuierliche Abfolge von Momentaufnahmen

erscheinen läßt. Aus Mangel an Zeit und vor allem an In-

teresse und Information (sie informieren sich meist nur an-

hand zu demselben ema bereits erschienener Pressearti-

kel) können sie die Ereignisse (zum Beispiel eine Gewalttat

in einer Schule) nicht wirklich verständlich machen, wozu

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es ja erforderlich wäre, sie in das System von Beziehungen

zu stellen, in das sie gehören (etwa die Familienstruktur,

die mit dem Arbeitsmarkt zusammenhängt, der wiederum

mit der Steuerpolitik zu tun hat usw.) – worin sie gewiß

durch die Tendenz der Politiker bestärkt werden (vor allem

der Regierungsmitglieder, die sie ihrerseits wiederum be-

stärken), bei ihren Entscheidungen und deren Bekanntgabe

die kurzfristigen Aktionen herauszustreichen, ein »Ankün-

digungseffekt«, dem meist nicht viel folgt, und Unterneh-

mungen ohne sofort sichtbaren Effekt zu vernachlässigen.

Dieser enthistorisierte und enthistorisierende, atomisier-

te und atomisierende Blick findet seinen paradigmatischen

Ausdruck in dem Bild, das die Fernsehnachrichten von der

Welt geben: eine Abfolge scheinbar absurder Geschichten,

die sich schließlich alle ähneln, ununterbrochene Aufmär-

sche dem Elend anheimgegebener Völker, eine Reihenfolge

von Ereignissen, die, unerklärt aufgetaucht, ungelöst ver-

schwinden werden, heute der Kongo, gestern Biafra, mor-

gen der Sudan, und die, jeder politischen Zwangsläufigkeit

enthoben, allenfalls ein vages humanitäres Interesse auszu-

lösen vermögen. Diese zusammenhanglosen Tragödien, die

einander ablösen, ohne je historisch eingeordnet zu werden,

unterscheiden sich eigentlich nicht von Naturkatastrophen,

Tornados, Waldbränden, Überschwemmungen, die eben-

falls in den Fernsehmeldungen einen wichtigen Stellenwert

einnehmen, sind es doch traditionelle journalistische e-

men, um nicht zu sagen rituelle, und vor allem: es ist leicht,

darüber zu berichten, und kostet nicht viel. Die Opfer

sind, kaum anders als von Zugentgleisungen und anderen

Unfällen Betroffene, nicht geeignet, politische Solidarität

oder Empörung hervorzurufen. Somit liegt es durchaus in

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der Logik des journalistischen Feldes, namentlich durch die

besondere Form, die hier die Konkurrenz annimmt, und die

Routinen und Denkgewohnheiten, die es unausgesprochen

durchsetzt, eine Vorstellung von der Welt zu produzieren,

in der Geschichte als absurde Serie von unverständlichen

und unbeeinflußbaren Desastern erscheint. Diese von eth-

nischen Kriegen und rassistischem Haß, von Gewalt und

Verbrechen überfüllte Welt ist derart unbegreiflich und

angsteinflößend, daß man sich vor ihr nur zurückziehen

und in Sicherheit bringen kann. Und das durch den Jour-

nalismus vermittelte Weltbild ist um so weniger geeignet,

zu mobilisieren und zu politisieren, wenn es (wie dies im

Zusammenhang mit Afrika oder der banlieue oft geschieht)

mit ethnozentrischer oder offen rassistischer Verachtung

einhergeht – im Gegenteil: Es werden xenophobe Ängste

geschürt, ganz wie der trügerische Eindruck, Verbrechen

und Gewalt nähmen ständig zu, die Beklemmungen und

Phobien bestärkt, von denen sich das Sicherheitsdenken

nährt. Das Gefühl, die Welt, wie das Fernsehen sie zeigt,

biete dem gewöhnlichen Sterblichen keine Handhabe,

verbindet sich mit dem Eindruck, daß das politische Spiel

ähnlich wie der Hochleistungssport mit seiner scharfen

Trennung zwischen Praktizierenden und Zuschauern eine

Sache für Profis ist, und bestärkt vor allem bei wenig Po-

litisierten die fatalistische Ablehnung jeden Engagements,

die natürlich der Konservierung der bestehenden Verhält-

nisse dient. Man muß schon ein sehr zähes Vertrauen in

das (unleugbare, aber doch begrenzte) Potential des Volkes

zum »Widerstand« haben, um mit einer gewissen »postmo-

dernen Kulturkritik« davon auszugehen, der Zynismus der

Fernsehproduzenten, die sich in ihren Arbeitsbedingungen,

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ihren Zielen (dem Ringen um maximale Vermehrung des

Publikums, um das »gewisse Plus«, das ausmacht, daß

etwas »sich besser verkauft«) und ihrer ganzen Denkweise

immer mehr den Werbeagenten nähern, fände seine Grenze

oder sein Gegengift in dem aktiven Zynismus der Zuschau-

er (den vor allem das zapping illustriert): Die Fähigkeit, bei

strategischen Spielen des Typs »Ich weiß, daß du weißt, daß

ich weiß« reflexiv und kritisch mitzuhalten und die vom

manipulatorischen Zynismus der Fernseh- und Werbe-

produzenten angebotenen »ironischen und metatextuellen«

Botschaften auf einer dritten und vierten Verstehensebene

zu überbieten, als universell gegeben voraussetzen, heißt

nämlich, einer der perversesten Formen der scholastischen

Illusion in ihrer populistischen Fassung aufsitzen.

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