Terra Fantasy 01 John Jakes Schiff Der Seelen Brak 1

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Brak, der Barbar



Er lebt in den nördlichen Steppen seiner Welt, bis seine

Stammesgenossen ihn aus der Gemeinschaft der Krieger
ausstoßen, weil er den Göttern seines Volkes die notwen-
dige Ehrerbietung versagt.

Jetzt ist Brak, der flachshaarige, muskulöse Barbar, auf

dem Weg in die südlichen Länder. Die Worte eines alten
Schamanen, der von den Wundern und dem Reichtum des
Südens sprach, haben den jungen Krieger zutiefst beein-
druckt. Brak will selbst sehen, was es mit dem Goldenen
Süden auf sich hat.

Brak fürchtet keine Gefahren, solange er das Schwert an

seiner Seite weiß. Er hat ein Kämpferherz, und er ist im
Kriegshandwerk geübt. Noch ahnt er nicht, daß es dunkle
Mächte gibt, denen mit dem Schwert allein nicht beizu-
kommen ist.

Doch er erfährt es inmitten von Not, Tod und unsägli-

chem Grauen, inmitten von düsteren Verliesen und Mani-
festationen schwarzer Magie.

Dennoch geht der Barbar unbeirrt seinen Weg − ihn

lockt der Süden, das Goldene Khurdisan.









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John Jakes

Schiff der Seelen


Titel der Originalausgabe:

BRAK THE BARBARIAN


Aus dem Amerikanischen

von Lore Straßl


TERRA FANTASY-Taschenbuch

2. Auflage

erscheint vierwöchentlich im

Erich Pabel Verlag KG. Pabelhaus, 7550 Rastatt

Copyright © 1968 by John Jakes

Redaktion: Hugh Walker

Vertrieb: Erich Pabel Verlag KG

Gesamtherstellung: Clausen & Bosse, Leck

Printed in Germany

Juni 1977




ERICH PABEL VERLAG KG RASTATT/BADEN

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Vorwort


Lieben Sie das Phantastische?
Das heroische Abenteuer?
Hat Ihnen Robert E. Howards Conan gefallen?
Oder Fritz Leibers Schwerter-Zyklus?
Oder J. R. R. Tolkiens Herr der Ringe?
Oder Dragon, die erste deutsche Fantasy-Serie?

Wenn ja, dann wird unsere Fantasy-Taschenbuchreihe, von

der Sie nun den ersten Band in Händen halten, sicherlich Ihr
Herz höher schlagen lassen. Denn das ist es, was wir Ihnen hier
und mit den kommenden Bänden bieten wollen: Türen in wilde,
prunkvolle, glitzernde Welten der Phantasie.

Jeder Band öffnet Ihnen solch eine Tür in die Vergangenheit,

in die Zukunft, in eine andere Dimension.

Sie brauchen nur umzublättern …

Fantasy ist nichts Neues.
Fantasy ist so alt wie die Menschheit selbst. Sie ist in den Sa-

gen und Märchen aller Völker, in den Mythen und Überliefe-
rungen, denn die Glorifizierung und Ausschmückung der
Wahrheit ist bereits ein erster Schritt zur Fantasy. Manches
Stück Jägerlatein oder Seemannsgarn wird Sindbads Abenteuer
in den Schatten stellen.

Früher, als die Welt noch kleiner war, das Reisen beschwerli-

cher und die Bereitschaft zum Aberglauben größer, da waren
ferne Inseln und Länder die Phantasiewelten, in denen magi-
sche und mystische Dinge geschahen, von denen Menschen
träumten oder Barden und Gaukler an fürstlichen Höfen berich-
teten. Denken wir an die Abenteuer des Odysseus oder an
Sindbads Seefahrten.

Aber wir dürfen diese Erzählungen auch nicht einfach als

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phantastische Geschichten abtun, denn es handelt sich dabei
nicht um bewußt phantastische Dichtung. Die phantastischen
Elemente resultierten weitgehend aus dem begrenzten Weltver-
ständnis früherer Zeiten heraus.

Die Mystifizierung erfolgte durch ein uns heute magisch an-

mutendes Verständnis der Dinge. Erkenntnisse wurden mühsam
gewonnen, die Wahrheit oft mit Blut bezahlt. Selbst die soge-
nannte Wissenschaft mußte in jenen Zeiten wie Hexerei anmu-
ten.

Nach und nach aber schrumpfte die Welt und wurde über-

schaubar. Das Phantastische konnte bald nur noch in wenigen
Gegenden glaubhaft angesiedelt werden, im Inneren des
Schwarzen Kontinents, in Indien und anderen Flecken im Her-
zen der großen Kontinente, woher es noch wenig Berichte gab,
und sie waren bereits wundersam genug.

Anfang unseres Jahrhunderts, als es schien, als würden auch

die letzten großen Geheimnisse fallen, als die Zeit der individu-
alistischen Abenteuerer vorbei schien, da öffnete eine junge,
spekulative Literatur neue Wege, schuf neue Welten für das he-
roische, phantastische Abenteuer.

Noch niemand hatte den Boden des Mondes oder der Planeten

betreten. Über sie konnte man noch träumen. Daran vermoch-
ten auch immer größer und aufwendiger werdende Teleskope
nichts zu ändern. Erst Mondflug und Raumsonden beraubten
die phantastischen Spekulationen ihrer Grundlage.

Die moderne Fantasy ist weniger bedacht auf Glaubhaftigkeit

und Realitätsbezogenheit. Wenn sie eine Welt braucht, so
schafft sie eine. Vielleicht in der Vergangenheit, vielleicht in
der Zukunft oder in einem parallelen Universum; vielleicht aber
auch wissen wir gar nicht, wo sie ist.

Es ist auch nicht so wichtig. Wichtig ist vielmehr das Aben-

teuer, der freie Fluß der Phantasie und blutvolle Gestalten, die
uns mitempfinden lassen.

Öffnen wir also die erste der Türen.

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Vor uns liegt Braks einfache Welt mit den hohen kalten Step-

pen im Norden und dem tropischen Khurdisan im Süden. Brak
ist der ewige Wanderer, der Barbar, der in die Zivilisation vor-
stößt.

Er ist damit ein naher Verwandter Conans, des Cimmeriers.

Aber Braks Welt ist einfacher, sein Weg geradliniger. Nur eine
Kraft treibt ihn, der Traum von den Wundern und Reichtümern
und dem ewigen Sommer Khurdisans. Sein Weg bringt ihn in
Konflikt mit Ungeheuern, mit Menschen und sogar mit den
Göttern seiner Welt. Seine Abenteuer sind aufgereiht wie Per-
len auf einer Schnur. Und manch kostbare ist dabei.

Ebenso wie die Conan-Stories gehören Braks Abenteuer einer

Literaturgattung an, die Fritz Leiber, selbst ein erfolgreicher
Autor des Genres, mit dem Etikett Sword und Sorcery versehen
hat (Schwert-und-Magie-Erzählung). Eine Mischung von histo-
rischen bzw. pseudohistorischen Abenteuergeschichten und ü-
bernatürlichen Elementen, wie sie R. E. Howard erstmalig in
größerem Stil mit seinen Storys um Kull von Atlantis und Co-
nan von Cimmeria
in den dreißiger Jahren für das Pulp-
Magazin Weird Tales schrieb. Er fand damit nicht nur viele
Anhänger, sondern auch eine ganze Reihe von Nachahmern,
die berühmtesten wohl C. L. Moore mit ihren Geschichten von
Jirel of Joiry, einer weiblichen Fantasy-Heldin (doch überwiegt
hier das übernatürliche Element weitaus im Vergleich zu Ho-
ward), und Henry Kuttner mit Elak von Atlantis.

Ende der dreißiger Jahre erschien ein neues Fantasy-Magazin,

Unknown Worlds, in dem die ersten Stories von Fafhrd und
dem Grauen Mausling veröffentlicht wurden, die Wan-Tengri-
Romane von Norwell W. Page und die Harold-Shea-
Geschichten von L. Sprague de Camp und Fletcher Pratt, neben
vielen anderen.

Mit der Veröffentlichung der gesammelten Conan-Bände bei

Lancer Books begann in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre
eine neue Fantasy-Welle. Neue Autoren wandten sich dem

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Genre zu. Lin Carter, Gardner F. Fox, Michael Moorcock, And-
re Nordon, Jack Vance, John Jakes und viele andere.

Heute ist das Fantasy-Angebot nur noch schwer überschau-

bar.

Wir werden uns jedoch bemühen, in unserer Reihe eine gute

Auswahl zu bringen, von den dreißiger Jahren bis zu den sieb-
ziger Jahren, und mancher Reiz mag in dieser Gegenüberstel-
lung liegen.


Die vorliegenden drei Novellen von Brak, dem Barbaren, er-

schienen erstmals gesammelt in der Ausgabe BRAK THE
BARBARIAN bei Avon Books 1968. Nur eine Story,
GEISTER IM STEIN, ist älteren Datums (1965). BRAK THE
BARBARIAN ist der erste von nunmehr drei amerikanischen
Bänden über Brak.

Schreiben Sie uns, wie Ihnen Brak gefällt, und ob Sie mehr

über ihn lesen möchten. Wenn ja, so werden wir Ihnen das vor-
handene Material nicht vorenthalten.


Als John Jakes in den sechziger Jahren seine ersten Brak-

Geschichten schrieb, tat er es aus einem sehr persönlichen Mo-
tiv heraus: Er fand, daß es zu wenig Schwert-und-Magie-
Erzählungen gab, daß mit Howards Tod und dem allgemeinen
Trend zur Science-Fiction hin eine breite Lücke geblieben war.
Diese Lücke wollte er füllen helfen, und so entstand Brak mit
dem Löwenfell und dem gelben Zopf und dem Traum vom Sü-
den.

John Jakes wurde 1932 in Chikago geboren und lebt heute als

Werbeagent in Columbus, Ohio. Er schrieb Science-Fiction,
Fantasy- und Horror-Stories seit Anfang der fünfziger Jahre für
die verschiedensten Magazine, vor allem Amazing Stories und
Fantastic. In Fantastic erschienen seit etwa 1963 die meisten
der Brak-Stories.

Für seine Arbeit an der Brak-Saga wurde er auch Mitglied

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von S.A.G.A. (Swordsmen and Socerers’ Guild of America,
Limited), einer Gemeinschaft von (lebenden) Autoren des Gen-
res der Schwert-und-Magie-Erzählung.

Die übrigen Mitglieder dieses exklusiven Zirkels sind: Fritz

Leiber, Jack Vance, Poul Anderson, Lin Carter, L. Sprague de
Camp, Michael Moorcock und Andre Norton.

Und nun viel Spaß. Vor Ihnen ist die erste der versprochenen

Welten.

Hugh Walker





INHALT


Vorwort

Seite ............................................................... 7

Das Heiligtum des Schreckens

(THE UNSPEAKABLE SHRINE)

Seite ............................................................... 13

Geister im Stein

(GHOSTS OF STONE)

Seite ............................................................... 67

Das Schiff der Seelen

(THE BARGE OF SOULS)

Seite ............................................................... 89



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Das Heiligtum des Schreckens



Während Helden müßig träumen,

zieht das Unheil ein.

Priester beten, stammeln, fluchen,

donnernd stürzen Tempel ein.

Es naht die Finsternis der Seelen.

Yob-Haggoth herrscht in seinem Schrein!

Nestoriamus’ Vision



»Gott ist tot!« kicherte der Bettler mit irrem Blick. Speichel

tropfte aus seinen Mundwinkeln, und verfilztes Haar hing ihm
bis zu den Schultern. Seine Zähne waren faulig-braune Stum-
mel.

Er schüttelte seinen Kupferteller und versperrte die enge Gas-

se. Als der breitschultrige muskulöse Fremde sich nicht um ihn
kümmerte, kreischte er nur um so schriller.

»Gott ist tot, die Schrecklichen seien gepriesen! Einen Din-

scha für den würdigsten und demütigsten Diener des Schwar-
zen Gottes.«

»Eine Münze?« brummte der Fremde. »Bettle anderswo!«
»Einen Dinscha nur, Barbar.«
»Geh mir aus dem Weg!«
»Nur einen einzigen, o Herr!«
»Ich sagte, geh mir aus dem Weg!«
Übelkeit erfaßte den hochgewachsenen stämmigen Fremden,

dem der Bettler den Weg verstellte. Der Gestank von faulenden
Fischen vermischte sich mit dem Rauch von schwelenden Fa-
ckeln und dem eklig süßen Duft von Rauschmitteln. Selbst die
frostige Winterluft vermochte diesen penetranten Gestank nicht

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aus der engen Gasse zu vertreiben. Der breitschultrige Barbar
wußte nicht, ob er sich übergeben oder fluchen oder beides tun
sollte. Bei Sonnenuntergang war er durch das Stadttor vom
Kambda Kai marschiert und hatte sich stundenlang in den über-
füllten Straßen der Stadt umgesehen.

Aber er hatte nichts als Schmutz, Betrügereien und Lieder-

lichkeit gefunden. Wenn das die Pracht der großen zivilisierten
Königreiche sein sollte, die zwischen ihm und dem sagenum-
wobenen Khurdisan lagen, dann hatte er vielleicht einen Fehler
gemacht, als er sich aus den hohen Steppen des wilden Nord-
lands auf den Weg in den Süden machte.

Der Bettler war hartnäckig.
»Nur einen einzigen Dinscha, Fremder. Eine ganz geringe

Münze, dafür führe ich euch in ein gewisses Haus, wo zu Ehren
Yob-Haggoths, des Gottes der Finsternis, der den Namenlosen
Gott vertrieben hat, erfreuliche Dinge vollzogen werden. Wenn
Ihr das richtige Wort wißt, läßt man Euch ein in dieses Haus,
und Ihr werdet Erstaunliches zu sehen bekommen, wie verzau-
berte Bergziegen und dralle junge Dirnen, die sich verwan-
deln …«

»Mir liegt nichts an solchen Lastern«, knurrte der Barbar.

Seine Rechte legte sich um den Griff des gewaltigen Breit-
schwerts an seiner Seite. »Gib den Weg frei!«

Die Wieselaugen des Bettlers sahen sich nach Unterstützung

um. Die enge Gasse mit den paar geschlossenen Läden war
leer. Geradeaus endete sie in einer Steintreppe, die ein halbes
Stockwerk hoch zu einem Platz führte. Fackellichter erhellten
ihn, und Nachtschwärmer schienen dort ihren Vergnügen nach-
zugehen.

»Ihr könntet nicht deutlicher offenbaren, daß Ihr keinen Re-

spekt vor den Bürgern der Eismarschen habt, Fremder. Eine
sehr unkluge Einstellung.«

»Ich weiß nichts von dem Land, das du die Eismarschen

nennst«, erwiderte der Barbar. »Und ich will auch gar nichts

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davon wissen. Ich bin auf der Durchreise. Willst du mich nun
endlich vorbeilassen?«

Er zog das Schwert halb aus der Hülle. Der Bettler machte ei-

lig einen Schritt rückwärts, unsicher, ob der Fremde es nicht
vielleicht ganz zog und ihm in den Wanst stieß.

Der kraftstrotzende Barbar entblößte die weißen Zähne zu ei-

nem Grinsen. »Wenn du es wirklich darauf anlegst, mich auf-
zuhalten, Bettler, so sage es. Ich werde dann sehen, ob ich dei-
nen Entschluß nicht ändern kann.«

Der Bettler fluchte in einer dem Barbaren unbekannten Spra-

che. Aber ein grollendes Lachen kam aus der Kehle des Frem-
den, der sich bereits an dem Alten vorbeigeschoben und ihn in
eine dunkle Nische zwischen zwei Häusern gedrängt hatte. Der
Bettler kauerte sich zusammen und blickte mit angstverzerrtem
Gesicht zu der hochgewachsenen Gestalt mit dem gelben Haar
auf, das zu einem dicken Zopf geflochten den Rücken herun-
terbaumelte. Ein glänzender Pelzumhang, auf dem das Fackel-
licht sich spiegelte, hing von seinen mächtigen Schultern. Ab-
gesehen davon und von einem Kleidungsstück aus Löwenfell
um seine Hüften, war der Barbar nackt.

Der Fremde wartete ab. Der Gesichtsausdruck des Bettlers

änderte sich zu einer schmeichlerischen Maske.

»Möge Yob-Haggoth sich meiner Zunge erbarmen«, winselte

er. »Ich erkannte in Euer Ehren nicht einen Mann von solcher
Entschlossenheit. Selbstverständlich seid Ihr frei, Eures Weges
zu ziehen. Ich werde mir einen anderen suchen, um meine arm-
selige Schüssel zu füllen.«

Mit diesen Worten hob er den Kupferteller, als wolle er ihn

dem Barbaren zeigen. Aber mit einer schnellen Bewegung
schleuderte er den Inhalt in das Gesicht des Fremden, daß die-
ser verwirrt den Kopf schüttelte. Der Bettler quiekte und sauste
an ihm vorbei.

Der Barbar wirbelte herum, als der Bettler auf die Stufen am

Gassenende zurannte und schrill kreischte: »Es wird sich noch

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herausstellen, wie weit Ihr mit Eurer Arroganz bei den magi-
schen Blinden kommt, Tölpel.«

Er schwenkte beide Arme und brüllte: »Heh, Werfer! Zur Zu-

ckerbäckergasse! Ein Fremder!«

Aus der von Fackellicht durchbrochenen Dunkelheit des Plat-

zes über der Steintreppe tauchte eine Gruppe schmächtiger,
flinker Gestalten auf. Der gelbhaarige Barbar stellte sich mit
dem Rücken gegen eine Hauswand und machte sich zum
Kampf bereit. Auf der anderen Gassenseite öffnete sich ein
Fenster. Ein junges Mädchen blickte heraus auf das Dutzend
oder mehr schmutzstarrender Burschen, die johlend die Treppe
herunterhüpften. Gleichgültig schob sie ihre Rauschgiftpfeife
zwischen die roten Lippen und schloß das Fenster wieder. Aus
der Ferne drangen der rhythmische Schlag eines Tamburins,
heftiges Klatschen und Gelächter zu ihm.

Ehe der Barbar die hohen Steppen verließ und über rauhe

Hügel die Grenze zu diesem zerklüfteten Land der Eismarschen
überquerte und Kambda Kai erreichte, hatte er noch keine Be-
kanntschaft mit der Zivilisation gemacht. Aber so, wie es aus-
sah, bestand diese aus nicht viel mehr als Diebereien, Blasphe-
mie und Verderbtheit. Und nun hatte es gar den Anschein, als
müßte er auch noch gegen eine Horde von Jungen kämpfen.
Die Bürschchen bildeten weiter oberhalb einen Halbkreis. Es
waren zerlumpte, unterernährte und völlig verdreckte Gestalten
mit strähnigem Haar und spitzen Raubtierzähnen. Mit leisem
Grauen stellte der Barbar fest, daß ihren Gesichtern etwas fehl-
te. Wo die Augen sein sollten, trug jeder der Jungen zwei
knopfähnliche, silberkristallene Scheiben, die irgendwie zwi-
schen Brauen und Wangenknochen eingebettet waren. Auch ih-
re Fingerspitzen bedeckte Silberkristall, doch hier lief es in na-
delscharfen Enden aus.

»Die kleinen Akolyten Yob-Haggoths«, kicherte der Bettler

aus dem Hintergrund, »sind recht fähig, wenn es darum geht,
sich Fremden anzunehmen, die den Finsteren Gott nicht ehren.

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Auf ihn, Werfer!«

Einer der Jungen, der die anderen etwas überragte, machte ei-

nen Schritt vorwärts. Die Silberkristalle glitzerten, und der
Schein der rauchigen blauen Fackeln brach sich darin. Die be-
mitleidenswert zerbrechlich aussehende Gestalt in ihren Bein-
kleidern aus Tierhaut verbeugte sich spöttisch.

»Unsere ehrerbietigen Grüße, Fremder«, piepste der

schmächtige Bursche. »Willkommen in Kambda Kai, der
Hauptstadt der Eismarschen. Gibt es Schwierigkeiten hier?«

»Eine habe ich bereits beseitigt«, brummte der Barbar. »Eine

weitere beginnt möglicherweise, wenn ihr euch mit mir anlegen
wollt. Mach dich aus dem Staub, Kleiner, ehe ich dir mit die-
sem Schwert den Hintern versohle.«

Die spitzen Zähne des Werfers blitzten. Einige seiner Kame-

raden hüpften von einem Fuß auf den anderen und stießen
Zischlaute hervor. Die Silberkristallscheiben ihrer Augen
strahlten ein eigenartiges Leuchten aus. Der Rücken des Barba-
ren kribbelte.

Er fand es durchaus nicht komisch, daß sich ein erwachsener

Mann wie er mit einem Pack unterernährter Halbwüchsiger
herumraufen sollte. Im Gegenteil, es schien ihm ein böses O-
men. Er spürte lauernde Gefahr um sich.

Vielleicht war es die Fremdheit der Stadt, die er voll Wunder

geglaubt hatte. Es war die erste Stadt, die er in seinem Leben je
betreten hatte. Sie hatte sich als ein Ort der Niederträchtigkeit
herausgestellt, die hinter den Tausenden von eisernen Ziergit-
tern zu Hause war.

»Wir werden Euch Eure Unhöflichkeit verzeihen, Fremder«,

bedeutete ihm der Bursche und klickte zwei der silbernadligen
Fingerspitzen zusammen, »wenn Ihr uns ein oder auch zwei
Fragen beantwortet.«

Der stämmige Barbar hielt es für klüger, sie mit Reden hinzu-

halten, als einen Angriff mit seiner Klinge zu starten. Der Ge-
danke, mit dem Schwert gegen einen Haufen von Kindern vor-

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zugehen, gefiel ihm nicht. »Dann fragt«, knurrte er.

»Woher kommt Ihr?« erkundigte sich der Bursche und schob

seinen Kopf vor, als könne er so besser verstehen.

»Aus dem Norden.«
»Und wo wollt Ihr hin?«
»In den Süden.«
»Habt Ihr einen Namen.«
»Dort, woher ich komme, nennt man mich Brak.«
Er hielt es nicht für erforderlich, zu erwähnen, daß ihn seine

eigenen Stammesgenossen ausgestoßen hatten. Doch schon
vorher war sein Entschluß gefaßt gewesen, sie zu verlassen.
Von einem wandernden Schamanen hatte er von den reichen
warmen Ländern im Süden gehört, und dorthin hatte es ihn von
diesem Augenblick an gezogen. Und als man ihn schließlich
verbannte, weil er die kriegerischen Götter seines Volkes zu oft
mißachtet hatte, machte er sich auf den Weg in das Land seiner
Träume.

In den warmen Breiten Khurdisans, weit im Süden, wollte er

sein Glück machen. Und unterwegs würde er durch viele präch-
tige Städte und Königreiche kommen, hatte ihm der Schamane
erzählt. Er war bereit, sich, wenn nötig, mit dem Schwert einen
Weg zu dem halbmondförmigen Khurdisan zu bahnen, das wie
der Schamane ihm versichert hatte von den Pfeilern Ebons im
Westen bis zu den Rauchbergen reichte, wo die Welt im Osten
endete.

Khurdisan! Das goldene Khurdisan!
Der Name war ihm Musik und steter Begleiter. In Khurdisan,

so hatte der Schamane gesagt, lag das Gold auf der Straße. Und
es gab goldenen Sonnenschein und goldhäutige Frauen.

*


Und nun, kaum daß er sich richtig auf den Weg gemacht hat-

te, fand Brak sich bereits aufgehalten. Aufgehalten von einer

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Meute seltsamer Kinder, die zwischen spitzen Zähnen zischten
und keinen Blick von ihm wandten.

»Noch eine Frage, Brak«, und wieder klickte der Werfer mit

den Fingerspitzen. »Vor welchem Gott verbeugt Ihr Euch?«

»Ich hörte, es gebe viele Götter in den Königreichen zwi-

schen hier und dem Süden«, erwiderte Brak. »Das finde ich
sehr verwirrend. Ich kenne keinen von ihnen und beuge mich
vor keinem.«

Mit einem bösartigen Knurren sprang der Bursche einen

Schritt näher und hob das augenlose Gesicht zu ihm.

»Es gibt keinen Gott außer Yob-Haggoth, Fremder. Wir sind

seine Diener.«

Er fuchtelte mit seinen Nadelspitzenfingern vor Braks Nase.
»Wenn Ihr auf die Knie fallt und Yob-Haggoth Treue

schwört, dessen Macht sich nicht nur über die Eismarschen,
sondern bald über die ganze Welt erstrecken wird, dann dürft
Ihr ungehindert weiterziehen.«

Braks Blut begann zu wallen.
»Ich sagte dir doch, du spinnenbeiniges Großmaul, daß ich

mich vor keinem Gott beuge.«

»Yob-Haggoth ist allmächtig. Yob-Haggoth breitet seinen

dunklen Mantel über die ganze Welt. Über jene, die ihn anbeten
und über jene, die es nicht tun. Er hat den Namenlosen Gott
verbannt. Er ist der Herrscher über alle gute Dunkelheit. Ihr
werdet ihm den Treueeid leisten!«

Brak verlor die Geduld. Er hob seine Rechte und drückte die

Handfläche auf die Stirn des Jungen, mit der Absicht, ihn weg-
zustoßen.

Aber kaum war er mit der Haut des Anführers in Berührung

gekommen, da überfiel ihn ein scheußliches Prickeln, das in ei-
nem stechenden Schmerz in seiner Schulter endete, der ihn
keuchend zurückfahren ließ. Die silberkristallenen Scheiben im
Gesicht des Burschen funkelten.

Er lachte: »Heh, Freunde, ich glaube, wir haben unseren mys-

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tischen dritten gefunden. Einen Gläubigen, einen Anhänger des
Namenlosen Gottes und jetzt diesen Fremden, der keinen Gott
anerkennt. Ehe die Sonne aufgeht, wird ihr Blut sich zu Ehren
Yob-Haggoths vermischen.«

Während dieser ihm unverständlichen Rede stand Brak ange-

spannt gegen die Mauer gelehnt. Der Schmerz pochte schier
unerträglich in seinem Arm. Er versuchte, die Finger zu bewe-
gen, um sein Breitschwert aus der Scheide zu ziehen. Die
Halbwüchsigen schlurften im dichten Halbkreis näher. Ihr Zi-
schen wurde aufgeregter. Der Bursche, den Brak mit der Hand-
fläche berührt hatte, deutete mit dem Finger auf ihn.

»Holt ihn euch, Freunde!« befahl er. »Holt ihn zur Ehre des

Finsteren Gottes.«

Die Werfer sprangen vorwärts. Ihre Silberkristallscheiben

funkelten.

Brak kämpfte gegen den betäubenden Schmerz in seinem

rechten Arm an und zerrte sein Breitschwert hervor. Die Zeit
für Skrupel war vorbei.

Todesstille senkte sich über die schmale Gasse. Mit einem

Schrei sprang der Anführer der Werfer gewandt in die Höhe. Er
bekam einen aus dem ersten Stock hervorstehenden Balken zu
fassen und baumelte mit den Beinen hoch über Brak. Er lachte
höhnisch und winkte seinen Kameraden mit einer Hand zu,
jetzt anzugreifen. Brak machte einen Schritt vorwärts. Irgend-
wo kicherte der Bettler schadenfroh.

Der Barbar schwang das Schwert mit aller Kraft. Plötzlich

schnellten die Hände der Werfer vor. Aus ihren Fingerspitzen
schossen winzige Silberstrahlen. Einer der geschmolzenen
Tropfen traf Braks Klinge und explodierte in einem Regen von
grünen und roten Funken. Ein anderer schlug auf seiner Schul-
ter auf und verursachte einen brennenden Schmerz, der Brak
die Zähne zusammenbeißen ließ.

Er schwang das Breitschwert vor sich. Da prasselte ein Hagel

der silbernen Geschosse herab. Jedes, das auf seiner Klinge

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aufprallte, verursachte ein Feuerwerk gleißender Funken und
blendete ihn.

Andere der geschmolzenen Tropfen verbrannten seine Haut,

und der Schmerz war kaum noch zu ertragen. Brak warf seinen
Kopf zurück und brüllte.

Er ließ das Schwert zu Boden fallen und riß sich den Pelzum-

hang von den Schultern, damit er sich ungenierter bewegen
könne. Dann bückte er sich, um die Klinge wieder aufzuheben.
Er starrte auf glühende Funken, die immer greller wurden und
ihn schließlich so blendeten, daß er den glitzernden Knauf sei-
nes Schwertes kaum noch zu erkennen vermochte.

Doch dann gelang es seinen Fingern, ihn zu umklammern.

Die Klinge schien unendlich schwer, und es kostete ihn alle
Kraft, sie hochzuheben. Der immer intensiver werdende Hagel
der Silbergeschosse trieb ihn die Gasse zurück. Er fluchte in
seiner Heimatsprache und schwang das Schwert durch den
Feuersturm explodierender Tropfen, die unermüdlich aus den
Fingerspitzen der Werfer schossen. Wie durch einen Schleier
hindurch bemerkte er, daß der Halbkreis um ihn immer enger
wurde.

Silberkristallscheiben gleißten durch das Funkenfeuerwerk.
Sie trieben ihn wie ein Stück Vieh an den Häusermauern ent-

lang. Jedesmal, wenn er mit schmerzendem Arm das Schwert
schwang, drang es durch nichts weiter als sprühende Funken.
Und das zischende Gelächter der Werfer peinigte seine Ohren.
Er taumelte durch eine offene Tür in einen Innenhof. Er stolper-
te ein paar Schritt weiter, immer noch geblendet von den feuri-
gen Geschossen. Beinahe wäre er in ein schmutziges Becken
gestürzt, auf dem ein toter Fisch mit dem Bauch nach oben
schwamm.

Mit letzter Kraft wirbelte er herum, sprang und warf seine

gewaltigen Schultern gegen die riesige Lindentür. Einer der
Werfer stürmte gerade hindurch. Die zuschlagende Tür warf
ihn zurück. Er schrie.

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Brak stemmte sich gegen die Tür, aber sie ließ sich nicht völ-

lig schließen, weil der Werfer den Arm dazwischen hatte. Aus
den Fingerspitzen flammten Silbergeschosse, die den Hof er-
hellten.

Brak biß die Zähne zusammen und versuchte sich klarzuma-

chen, daß die Werfer keine Kinder waren, sondern Höllenkrea-
turen in Kindergestalt. Er hob seinen Schwertarm, während er
mit der anderen Schulter weiter gegen die Tür preßte. Erbar-
mungslos hackte er den hereinhängenden Arm ab.

Er fiel zu Boden, aber kein Blut quoll heraus, nur eine Wolke

faulig riechenden gelben Rauchs.

Von der Straße drang wütendes Zischen und ein Mark und

Bein erschütternder Schmerzensschrei. Brak drückte noch ein-
mal fest mit der Schulter gegen die Tür und vermochte sie nun
zu schließen. Hastig legte er den gewaltigen Riegel vor.

Keuchend lehnte er sich kurz gegen die Tür und schloß die

Augen. Sein Körper schien nur noch aus Schmerz zu bestehen.
Die unzähligen Geschosse, die ihn getroffen hatten, hatten ihm
übel mitgespielt.

Welcher Wahnsinn war das?
Wie verrucht war diese sogenannte Zivilisation? Wie verderbt

waren die fabelumwobenen Königreiche und Städte, durch die
er auf Suche nach Reichtum zu ziehen beschlossen hatte? Wel-
che Ausgeburten der Hölle trieben hier ihr Unwesen? Mit ei-
nem Male bereute er es bitter, daß er es bis zu seiner Verban-
nung hatte kommen lassen und seinem Drang nach dem Süden
gefolgt war.

Aber schon einen Augenblick später gewann seine im Grund

genommen unkomplizierte Natur wieder die Oberhand, und er
erkannte, daß er gar nicht anders konnte, als seinen geraden
Weg zu gehen. Er packte den Schwertgriff fester und schritt
über den Hof. Nur die kalten Sterne des Nordens, oben am
samtschwarzen Himmel, spendeten ihm ein wenig Licht. Er
mußte aus diesem Haus und aus dieser Stadt herauskommen.

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Immer noch ertönte wütendes Zischen von der Straße. Brak

umschritt das Becken mit dem fauligen Wasser. Er war halb-
wegs bei den Innenmauern des Hauses angekommen, als plötz-
lich perlmuttglitzernde Helle heraus drang. Geblendet blieb er
stehen.

Das Licht umflutete ein Mädchen von unbeschreiblicher

Schönheit. Mitternachtfarbige Seide umhüllte sie. Ihre Augen
waren von der gleichen Schwärze, genau wie das lange Haar,
das sie wie eine Wolke umgab. Sie lächelte mit roten Lippen,
die in ihrem liebreizenden Gesicht glänzten.

War das eine neue Teufelsfalle, fragte sich Brak.
Die Perlmuttwolke schien über ihr zu schweben. Beide Hände

hatte sie gegen die Kupferornamente der Tür gedrückt. Brak
nahm an, daß sie sie von innen geöffnet hatte und dadurch das
Perlmuttlicht herausgedrungen war. Aber obwohl er in die
Richtung geblickt hatte, war ihm das eigentliche öffnen dieser
Tür nicht aufgefallen. Sein Schädel pochte. Sein Körper
schmerzte von den Geschossen der Werfer. Über ihm schienen
die Sterne zu wirbeln.

»Kommt hierher, Fremder«, lud das Mädchen ihn mit betö-

rendem Lächeln ein.

Hoffnung erwachte in Brak. Vielleicht hatte er in diesem

wunderschönen Mädchen endlich unter all der Schlechtigkeit
dieser Stadt eine gütige Seele gefunden. Er nickte, um ihr zu
zeigen, daß er verstanden hatte. Er schritt auf die offene Tür zu,
hinter der er immer noch nichts erkennen konnte, nur das Perl-
muttlicht, das ihn blendete. Plötzlich tauchte hinter dem wal-
lenden Gewand des Mädchens ein wohlbekannter Kopf auf.
Silberkristallscheiben funkelten. Wie vom Blitz gerührt blieb
Brak stehen. Der Anführer der Werfer sprang hinter dem Mäd-
chen hervor, wo er sich bis jetzt versteckt gehalten hatte.

»Gut gemacht, schöne Tochter der Hölle«, lobte er und

streckte seine Nadelspitzenfinger aus.

»Ich Narr!« brummte Brak und zog sein Breitschwert.

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»Richtig!« pflichtete das Mädchen ihm spöttisch bei. Ihre

schwarzen Augen glitzerten jetzt heller als zuvor, aber mit ei-
nem kalten, gnadenlosen Licht. »Die Werfer riefen mich von
weit, weit herbei, denn die mystische Dreiheit muß bei Sonnen-
aufgang auf Yob-Haggoths Altar geopfert werden, um seine
Macht zu erneuern.«

Der Werferanführer hüpfte ungeduldig von einem Fuß auf

den anderen. »Darf ich ihn jetzt mitnehmen, Ariane? Darf ich?«

»Ja. Und schnell. Die Sterne erblassen. Ich höre meines Va-

ters Ruf. Wir müssen uns beeilen.«

Die Fingerspitzen des Werfers flammten in bisher unerreich-

ter Helligkeit auf. Hunderte, Tausende von geschmolzener Sil-
bertropfen schlugen auf Braks Haut auf, durchdrangen seine
Schädeldecke, trieben ihn in ein Chaos von Schmerz.

Mit aller Willensstärke versuchte er das Schwert festzuhalten.

Aber jegliche Kraft verließ ihn. Seine Beine wurden weich, ga-
ben nach. Langsam sank er durch ein Feuerwerk sprühender
Funken auf den feinen Sand. Und während er fiel, drehte er
sich. Durch den silbernen Glitzerregen bemerkte er etwas, das
ihn mit Grauen und Verzweiflung erfüllte. Er erkannte die
Ausmaße ihrer Schwarzen Magie. Wo er vorher durch die Lin-
dentür in diesen Innenhof geflohen war, erhob sich jetzt nur
noch eine festaneinandergefügte Steinmauer.

Brak sank in tiefen Fieberwahn und wußte nicht mehr, was

mit ihm geschah.

Hin und wieder erwachte er für Augenblicke. Er hing mit dem

Bauch auf dem stinkenden Rücken eines Kamels, das mit flin-
ken Beinen über den gefrorenen Schnee der offenen Eismar-
schen lief. Vereinzelte Sterne blinkten noch vom hellerwerden-
den Himmel. Die Meute der Werfer rannte mit dem Kamel um
die Wette. Als er erneut erwachte, war ihm, als läge er mit dem
Rücken auf klammen Pflastersteinen. Seine Augen waren noch
verschleiert.

Er starrte in die Höhe. Gewaltige Steine bildeten ein hohes

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Gewölbe, das von Spinnweben bedeckt war. Aber es waren un-
gewöhnlich dicke Fäden, die es bildeten, und sie waren von ei-
nem Scharlachrot, das pralle Tropfen herunterregnen ließ. Ein
ekelerregender Gestank drang in seine Nase, wenn sie in seiner
Nähe aufschlugen.

Es dauerte eine lange Weile, bis seine Augen klarer wurden

und er im Netz eine Kreatur erkannte, deren rote Facettenaugen
sich weit öffneten. Eine menschliche Gestalt spiegelte sich
hundertfach in den einzelnen Facetten wider. Sie war nackt und
geschlechtslos, und sie wand und krümmte sich, als röste sie
auf glühenden Kohlen.

In seiner unmittelbaren Nähe murmelten Stimmen. Brak ver-

suchte seinen Kopf zu drehen, vermochte es jedoch nicht. Kalte
Zugluft streifte seine bloße Brust. Nun sah er auch weit entfernt
die hohen Wände des Gewölbes. Sie waren von den Flammen
eines Feuers, das er nicht sehen konnte, rot umspielt. Und ir-
gendwie wußte Brak, dieses Feuer hielt das Böse noch zurück,
das überall lauerte und älter als die Menschheit war.

Plötzlich verschwanden die Augen des Beobachters dort oben

in den Fäden des riesigen Netzes. Nein, sie wurden nur ver-
schwommener, erkannte Brak. Eine opalisierende Barriere hing
mit einemmal zwischen der Spinnenkreatur und ihm. Sie wurde
zu einer riesigen schillernden Kugel, schwarz am Rand, neblig-
grau in der Mitte. Sie war doppelt mannsgroß und enthielt eine
menschliche Gestalt Ariane, das Mädchen im mitternachtfarbe-
nen Gewand.

Brak knurrte wie ein wildes Tier. Ihre roten Lippen verzogen

sich zu einem interessierten Lächeln, und die dunklen Augen in
ihrem kalkweißen Gesicht brannten mit unirdischer Neugier. Er
versuchte sich zu erheben, aber eine schreckliche Übelkeit ließ
es nicht zu.

Die Kugel schwebte näher heran. Ariane hob ihre rechte

Hand und drückte die Fingerspitzen, ihm einen Kuß zusendend,
an die Lippen. Ihre Augen leuchteten. Dünne Rinnsale frischen

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Blutes sickerten an ihren Handgelenken herab. Irgendwie wuß-
te Brak, daß es nicht ihr eigenes Blut war. Ariane lächelte,
lockte ihn mit roten Lippen, winkte ihn herbei. Brak schauder-
te, erstarrte. Seine Augen verschleierten sich erneut. Wild poch-
te der Schmerz in seinem Kopf. Namenlose Angst erfüllte ihn.

Die Kugel schwebte höher und entfernte sich. Arianes immer

kleiner werdende Gestalt verschwand. Brak biß in seine Unter-
lippe und stöhnte. Er war in Schweiß gebadet. Wortfetzen
drangen zu ihm.

»Wer? Wer?« flüsterte eine Stimme.
»Verrät deine Gänsehaut es dir denn nicht?« hörte Brak eine

andere. Sie klang heiser, angespannt. »Seine Tochter ist es. Der
Fremdling interessiert sie. Sie bewundert seine Kraft, nehme
ich an.«

Die erste Stimme, älter und zittrig, erklang aufs neue.
»Aber die Dämmerung naht, Bruder! Sie hat keine Zeit mehr,

ihn zu lieben.«

»Kennst du denn ihre Kräfte nicht, Alter? Dieses Geschöpf

der Hölle kann mit ihrer Zauberkunst einen Herzschlag in Äo-
nen verwandeln. In dieser Zeit vermag sie tausend Liebhaber zu
nehmen, oder auch nur einen, die sich danach wünschten, nie
geboren zu sein.«

Über Brak schlossen sich nun die roten Augen der Spinnen-

kreatur. Die zweite Stimme, irgendwo außerhalb seiner Sicht,
murmelte weiter.

»Wenn Ariane sich für diesen Fremdling interessiert, Alter,

dann wird nichts mehr von seiner Seele für Yob-Haggoth üb-
rigsein, wenn das Ritual beim ersten Morgenlicht beginnt.«

Die Stimme verklang. Brak fragte sich voll Grauen, was mit

ihm geschehen würde, nun, da er die Neugier der Hexe in der
Kugel erweckt hatte.

Er mußte sich erheben!
Hilflos durchzuckte der Schmerz ihn erneut. Er stöhnte laut

auf, dann fiel sein Kopf zur Seite. Die Schatten des Feuers tanz-

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ten die Wände des gewaltigen Gewölbes empor.

Die Sinne verließen ihn.

*


Das Erwachen kam mit brutaler Plötzlichkeit. Der klamme

harte Stein war Wirklichkeit unter seinem nackten Rücken, und
der zusammengeballte Löwenschwanz seines kurzen Beinklei-
des ebenfalls, der gegen sein verlängertes Rückgrat drückte.
Seine Augen öffneten sich weit. Er wußte, daß der Zauber vor-
bei war.

Über ihn gebeugt standen zwei fremdartig aussehende Män-

ner. Einer war in schmutzige Lumpen gehüllt. Er hatte einen
zerzausten Backenbart, einen langen Schnurrbart und strähni-
ges, ungekämmtes Haar. Früher einmal mochte er groß und
stattlich gewesen sein, aber das Alter hatte ihn gebeugt. Seine
Zunge benetzte ruhelos seine aufgesprungenen Lippen.

Er war blind.
Wo einst seine Augen gewesen waren, befanden sich jetzt nur

noch die Lider, mit schwarzem Zwirn an die Wangen genäht.
Der dicke Faden war teilweise mit wildem Fleisch überwuchert
oder von häßlichem Schorf bedeckt.

Das Äußere des anderen war weniger abstoßend, und doch er-

schreckte er Brak mehr als der Blinde. Er war ein stämmiger,
kahlköpfiger Mann von kleiner Statur. Er trug eine graue Kutte
mit Kapuze. Eine Schnur aus Holzperlen war um seine Mitte
geschlungen. In seiner Rechten hielt er ein kleines Kreuz aus
gespaltenem grauem Stein, dessen horizontales Stück genauso
lang war wie das vertikale. Er hatte es am unteren Ende des
vertikalen Teiles umklammert und schwenkte es über Braks
Kopf durch die Luft.

Das fremdartige Symbol und das Gefühl, daß etwas Finsteres

sich über ihm zusammenbraute, ließ Brak auf die Füße taumeln.

»Nimm das Ding von meinen Augen, Zauberer!« schrie er

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aufgebracht. Seine gewaltigen Pranken legten sich um den Hals
des Kapuzenmannes, der sich verzweifelt zu befreien suchte
und keuchend nach Luft schnappte.

»Er will Euch nichts Böses! Nichts Böses!« schrillte der blin-

de Alte, dem die verräterischen Geräusche nicht entgangen wa-
ren.

Immer noch vom Grimm übermannt, blickte Brak in das rote

Gesicht des gedrungenen Mannes. Es waren freundliche, offene
Züge ohne Schuld. Brak ließ ihn los und schnaufte heftig.

Das Steinkreuz war auf den Boden gefallen. Brak deutete

darauf.

»Ich weiß nicht, was das Ding da soll, Kuttenbruder. Aber ich

dulde nicht, daß Ihr versucht, damit einen Zauber über mich zu
verhängen.«

Der Mann in der grauen Kutte bückte sich. Er hob das Kreuz

auf und drückte es inbrünstig an sich.

»Woher kommt Ihr, Barbar?« fragte er sanft. Dann zogen sei-

ne Augen sich zusammen, als er riet: »Aus dem Norden? Von
den Steppen?«

»Aye«, erwiderte Brak wachsam.
»Dann habt Ihr demnach nie ein Kreuz des Nestoriamus ge-

sehen?«

»Nestoriamuskreuz? Nein, nie. Zeigt es mir.«
Er streckte die Hand danach aus. Der Kapuzenmann preßte es

noch fester an sein Herz und machte keine Anstalten, es Brak
zu geben.

Nach einem kurzen Schweigen erklärte er Brak: »Dies ist das

Kreuz des Namenlosen Gottes, dessen Gesicht niemand kennt,
und dessen Name für immer ein Geheimnis bleiben wird.

Ich bin der Hüter dieses Kreuzes. Ich bin ein Priester des

Nestorianerordens. Man nennt mich Bruder Jerome.«

Brak schien ihn gar nicht gehört zu haben. Er blickte sich in

dem riesigen Gewölbe um und stieß einen Pfiff aus. Es war tat-
sächlich so gewaltig, wie er es in seinem Alptraum gesehen hat-

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te. Eine ganze Armee hätte hier Platz gefunden. Es gab keine
Fenster und offensichtlich nur einen Ausgang ein riesiges Por-
tal, das fünfmal so hoch wie er selbst war.

Das einzige Licht in diesem düsteren Riesenkerker kam von

einer nicht sehr tiefen Grube in der Mitte des gepflasterten Bo-
dens. Buchenscheite speisten das prasselnde Feuer, das ge-
spenstische Schatten gegen die hohen Wände warf. Der würzi-
ge Rauch vermochte jedoch nicht den abscheulichen Gestank
der roten Tropfen auszulöschen, die gleichmäßig von dem tita-
nischen Spinnennetz unter der Decke herabsickerten und den
Boden färbten.

»Ich weiß nicht, weshalb man mich hierhergebracht hat«,

brummte Brak und stapfte auf das Feuer zu. »Nur, daß Zauber-
wesen mich in der Stadt Kambda Kai überwältigten, die ich in
friedlicher Absicht besuchen wollte.«

Das Feuer erwärmte kaum seine Hände. Eine klamme Kälte

erfüllte das ganze Gewölbe. Seine Stimme dröhnte hohl, als er
den Mönch und den blinden Alten finster musterte.

»Ich weiß nicht, wer Ihr seid. Und ich lege auch keinen Wert

auf Eure Gesellschaft.«

Der Nestorianer hob eine plumpe Hand.
»Friede, Fremdling. Warum sollten wir streiten? Keiner von

uns kann mehr tun, als auf den Untergang der Sterne zu warten.
Mit dem ersten Tageslicht wird der Priester dieses Ortes …«

»Welcher Art ist dieser Ort?« fragte Brak und ließ sich auf

dem Mauerwerk nieder, das die Feuergrube umgab. »Ist es eine
Gruft? Ein Palast?«

»Ein Heiligtum«, flüsterte der Blinde. »Ein Bauwerk von

dreifacher Manneshöhe. Es hebt sich bis zu den Sternen empor
und wirft Dunkelheit um alles um sich herum.«

Die Lippen des Greises verzogen sich, als bisse er auf etwas

Bitteres.

»Es ist der nördlichste Tempel Yob-Haggoths, Barbar, und

das größte seiner Abbilder überhaupt. Denn wisse, es ist von

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außen eine gewaltige Statue mit gar schrecklichen Zügen. Es
wacht über die Grenze, wo die Eismarschen enden und die end-
lose Öde des Nordens beginnt.«

Es gelang Brak, ein trockenes Lachen auszustoßen. »Endlose

Öde? Ich bin dort geboren und groß geworden. Ich habe dort
gelebt und gekämpft, bis man mich ausstieß, weil ich nichts
von ihren alten Göttern hielt. Und nun bin ich hier, ein harmlo-
ser Pilger …« Bruder Jerome musterte Brak ein wenig skep-
tisch, schwieg jedoch. »Ein harmloser Pilger«, wiederholte
Brak, dem des Mönches Skepsis nicht entgangen war, »gefan-
gen im Tempel eines obskuren Gottes, dem ich geopfert werden
soll. Ich will nichts mit diesen blutrünstigen Ritualen zu schaf-
fen haben!«

Der Blinde ließ sich neben Brak auf der Brüstung nieder.
»Wie Bruder Jerome bereits sagte, wir können nichts dage-

gen tun.«

Der Mönch nickte. »Auch uns haben die Werfer in Kambda

Kai aufgelesen. Auch wir sind Gefangene. Im Morgengrauen
werden sie uns in einer Zeremonie opfern, die zu grauenhaft ist,
sie zu beschreiben.«

Hoffnungslosigkeit sprach aus Jeromes Zügen.
»Diese Rituale finden zweimal im Jahr statt. Durch sie über-

trägt Yob-Haggoth demjenigen seine Macht, der sie vollzieht.«

Fragend blickte Brak den Mönch an.
»Und wer ist das?«
»Septegundus«, flüsterte Jerome fast unhörbar und schwenkte

das Kreuz.

Kalter Schweiß strömte Braks Rücken hinab.
Dunkle Schatten schienen durch das riesige Gewölbe zu strei-

fen. Hoch oben in dem bluttropfenden Netz öffneten sich die
Facettenaugen und starrten herunter.

Septegundus. Septegundus. Wie Glockengedröhn hallte der

Name in Brak wider, erfüllte ihn mit eisiger Kälte. Plötzlich
sprang er auf die Beine. Er stieß einen wilden Schrei aus. Mit

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fliegendem gelbem Zopf schoß er auf die mächtige Tür zu und
warf sich mit den immer noch schmerzenden Schultern dage-
gen.

Sie erzitterte nicht einmal. Brak legte den Kopf zurück und

stieß einen tierischen Schrei aus. Er hämmerte mit den Fäusten
gegen das Portal, bis sie bluteten. Doch es gab nicht nach.

Erst jetzt begann seine hoffnungslose Lage ihm in allen

Schrecken klarzuwerden. Keuchend taumelte er zur Feuergrube
zurück. Der augenlose Alte mit den festgenähten Lidern starrte
blicklos zur grauenerregenden Spinnwebdecke empor. Seine
Wangen zuckten spasmodisch. Bruder Jerome schüttelte milde
den Kopf.

»Ich brauche Euer Mitleid nicht!« schrie Brak. »Ich brauche

kein Mitleid von dem Priester eines wesenlosen Gottes.«

Ein Schauder der Angst, des Unglaubens, des Schreckens vor

Mächtigen, die zu gewaltig waren, um sie zu verstehen, rieselte
Braks Rücken hinab. Als Jerome ihm zuwinkte, sich zu ihm zu
setzen, gehorchte er widerstandslos.

Er war innerlich verärgert auf sich selbst.
Diese Männer waren keine Feinde, sondern Verbündete. Si-

cher, er hatte sie sich nicht als Kampfgefährten ausgewählt.
Nicht einmal als flüchtige Bekanntschaften, mit denen er bei
einer zufälligen Begegnung auf einem einsamen Bergpfad ein
paar Worte gewechselt hätte.

Aber nun hatte das Schicksal sie zusammengeworfen, darum

wollte Brak versuchen, zu begreifen, wer sie waren und welche
Bedeutung ihre Anwesenheit hatte.

Etwas ruhiger fragte er: »Ich verstehe nichts davon, wenn Ihr

von Eurem Namenlosen Gott redet, oder diesem Yob-Haggoth,
oder er wollte gerade den Namen Septegundus aussprechen, a-
ber wieder schien eine Glocke drohend in seinem Inneren zu
erdröhnen oder jenem anderen.«

Der Mönch nickte. Er erhob sich und begann hin und her zu

schreiten. Seine Sandalen tappten leise über die Pflastersteine.

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»Das kommt daher, weil Ihr von einem fernen Land stammt.

Darf ich fragen, was Euch hierher brachte?«

Stockend erzählte Brak, was er über die Wunder Khurdisans

weit, weit unten im Süden gehört und wie er beschlossen hatte,
dorthin zu ziehen, um sein Glück zu finden. Es fiel ihm schwer,
sich den beiden anzuvertrauen, denn seine Sprache dünkte ihm
unbeholfen, und er fühlte sich nackt in ihrer Gegenwart, und
hilflos. Ihm schien, man habe ihm mit seinem Breitschwert
auch seine Sicherheit genommen.

»Euer Unwissen, was diesen Ort betrifft, ist verständlich,

Freund Brak. Doch der Schamane belog Euch nicht. Es gibt
viel Pracht und Schönheit in dieser Welt der Menschen und ih-
rer Königreiche, die zwischen dem hohen Norden und dem hei-
ßen Halbmond Khurdisans im Süden liegen. Doch es gibt auch
viele Gefahren. Die Welt ist voll unglaublich mystischer Krea-
turen und Götter. Die meisten davon sind grausam.

Vielleicht jedoch ist der Mensch der Grausamste.«
Die Worte echoten unheimlich in dem leeren Gewölbe. Ein

Scheit barst knackend in der Grube. Funken sprühten. Unwillig
wischte Brak sie von den nackten Schenkeln. »Erleuchtet mich,
Bruder Jerome. Erzählt mir von diesen Göttern. Wenn ich rich-
tig verstehe, will einer von ihnen uns bei Sonnenaufgang ans
Leben.«

»Jedes Königreich, ja jede souveräne Stadt auf dieser Welt,

Freund Brak«, erklärte Jerome schleppend; »hat einen eigenen
Gott. Manche sind mächtig und wissen sich vieler Zaubersprü-
che und wirkungsvoller Magie zu bedienen. Doch die mächtigs-
ten von allen sind jene beiden, die einander unerbittlich um die
Alleinherrschaft über die Welt bekriegen. Die wenigsten der
Könige und Prinzen und einfachen Bürger und Magier ahnen
auch nur etwas von ihnen, denn sie sind zu sehr mit ihren unbe-
deutenden Göttern beschäftigt.

Vor vielen Jahrhunderten, ehe das Blatt der Geschichte sich

mit den ersten Zeilen füllte, herrschte einer von ihnen bereits

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über die ganze Welt, Yob-Haggoth.«

Jeromes Lippen verzogen sich, als schmerze es ihn, diesen

Namen auch nur auszusprechen.

»Wie Ihr schon gehört habt, ist dieses Heiligtum eines seiner

unheilvollen Abbilder, ein Übrigbleibsel jener vergangenen
Zeiten, als er offen in blutigen Riten verehrt wurde. Yob-
Haggoth und sein Kult sind seit unzähligen Jahren verbannt.
Aber er selbst hat kein Ende gefunden. Er schlummert nur.
Doch seit einiger Zeit beginnt ein Teil seiner Macht wiederzu-
erwachen. Vielleicht, weil dieser Glaube -«

Jeromes Finger tasteten nach dem Steinkreuz, das er sich in

die Perlenschnur um seine Mitte gesteckt hatte »hier und dort
so manche bekehrt hat. Die Welt, müßt Ihr verstehen, ist ein
schwer verständliches, wunderliches Gefüge.

Eine Kraft erweckt gewöhnlich eine Gegenkraft. Bis vor kur-

zem vermochte Yob-Haggoth sorglos zu ruhen, denn wenn die
kleinen Magier für ihre unbedeutenden Götter zauberten, so ta-
ten sie es doch im Sinne des einen Dunklen Gottes. Es mag
sein, daß dieses Symbol hier -« wieder deutete er auf das graue
Kreuz »die Waagschale ein bißchen ins Lot bringt und der
Finstere Gott ein unerfreuliches Erwachen erlebt.«

»Und dieser Septegundus?« fragte Brak und mußte sich an-

strengen, den Namen auszusprechen, »ist wohl ein Priester die-
ses Höllengottes?«

Jerome nickte und schüttelte sich ungewollt.
»Manche sagen, er sei der mächtigste Zauberer seit Urbeginn

der Tage. So alt ist er und kennt doch kein Altern. Er ist Yob-
Haggoths Oberpriester und sein irdischer Beauftragter. Er ist
kein Mensch, und ist es doch. Seine Gestalt ist die eines Irdi-
schen, aber da er aus dem Wesen des Gottes ist, kennt er keinen
Tod. Als ich in der Stadt gefangengenommen wurde und man
mich hierherbrachte, mußte ich zu meinem Entsetzen feststel-
len, daß er wieder auferstanden ist. Und so kommt es, daß wir
in jenen Ritualen geopfert werden sollen, die Yob-Haggoth

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zweimal im Jahr von seinen Anhängern verlangt. Und Yob-
Haggoths Amyr, Septegundus, wird sie überwachen.«

Jerome beugte den Kopf und fügte flüsternd hinzu: »Der A-

myr des Bösen auf der Erde.« Schnell machte er vor Braks er-
staunten Augen das Zeichen des Kreuzes auf seiner Brust.

»Und mit diesem mystischen Kreuz, das Ihr da in die Luft

zeichnet, hofft Ihr, ihn abzuwehren?« erkundigte er sich skep-
tisch.

»Aye, darum bete ich.« Jeromes Augen, wurden ernst. »Aber

der Glaube an den Namenlosen Gott verspricht keine Sinekure,
noch garantiert er Schutz vor dem Bösen. Seine Anhänger wur-
den in den vergangenen Generationen schwer geprüft. Und in
dieser Stunde wird der Kampf immer unerbittlicher, denn viele
Seelen wenden sich Yob-Haggoth zu, der sowohl ihre offenen
als auch geheimen Gelüste zu befriedigen versteht. Die Welt,
Freund Brak, durch die Ihr Euch zu reisen entschlosset, ist eine
Welt des Krieges. Und mein Gott, der keinen Namen und kein
Abbild hat, muß gegen eine Übermacht ankämpfen.«

Als Brak eine reichlich ungeduldige und spöttische Frage ü-

ber die Natur dieses Namenlosen Gottes stellte, war der Mönch
weder beleidigt noch wurde er unwirsch. Ruhig erklärte er, daß
der Namenlose Gott eine Gottheit war, die über die ganze Welt
herrschte, ohne auf Grenzen oder Nationalität zu achten; so
zumindest glaubten seine Anhänger. Das schien Brak eine recht
eigenartige und erstaunliche Religion. Nie zuvor hatte er von
Göttern gehört, die die Grenzen der Völker überschritten. Of-
fenbar war der erste, der diese Religion verbreitete, ein Ziegen-
hirt namens Nestoriamus gewesen.

Vor vielen Jahrhunderten, so berichtete Jerome, hatte dieser

Ziegenhirt, der Gründer der Religion, seinen Tod gefunden, als
er versuchte, das Symbol des Namenlosen Gottes, ein Stein-
kreuz, in die Rauchberge zu tragen. Die Rauchberge, so erzähl-
te man, seien die Wiege und der Sitz aller Götter. Nestoriamus
wurde nie wieder gesehen. Das bekräftigte die Meinung seiner

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Familie, Freunde und Nachbarn, daß er sonderlich gewesen
war. Eine Weile danach war die Anhängerzahl dieser Religion
ein wenig gesunken. Doch nun, erklärte der Mönch, gab es ü-
berall auf der Welt vereinzelte kleine, aber wehrhafte Gruppen
von Nestorianern.

Brak schnaubte. »Wir könnten ein paar von ihnen hier brau-

chen, wohlbewaffnet mit eisernen Klingen.«

Bruder Jerome schüttelte den Kopf. »Unsere Macht liegt in

diesem«, wieder deutete er auf sein Steinkreuz.

»Nicht die meine«, knurrte Brak. »Wenn es eine Tür aus die-

ser Hölle gibt, dann kann sie nur durch ein wohlgeführtes
Schwert geöffnet werden.«

Ein Schatten überflog die Züge des Mönches, als sei er ent-

täuscht über Braks Ablehnung seines gewaltlosen Glaubens.
Aber der Barbar vermochte diese Feinheiten nicht zu sehen. Er
sprang auf seine Füße und lief unruhig auf und ab, und der Zopf
hüpfte auf seinem Rücken. Schließlich hielt er abrupt vor Jero-
me und dem blinden Alten an. Ein Tropfen der ekelerregenden
roten Flüssigkeit vom Spinnennetz platschte vor seinen Füßen
auf den Boden. Ein winziger Bruchteil davon spritzte auf sein
nacktes linkes Bein. Es brannte höllisch. Brak beachtete es
nicht.

»Was wird bei Sonnenaufgang geschehen?« fragte er.
»Es wird eine Zeremonie stattfinden«, murmelte der Alte mit

den zugenähten Lidern. »Wir sterben zum Ruhme Yob-
Haggoths.«

Brak kratzte sich nachdenklich am Kinn. Endlich erinnerte er

sich. »Einer der Werfer sagte, drei Personen seien für dieses Ri-
tual erforderlich …«

Der Blinde zupfte seine Lumpen zurecht und beugte sich nä-

her zu Brak. Sein Atem stank nach saurem Wein.

»Aye. So verlangt es das Ritual, Fremder. Yob-Haggoth muß

ein dreifaches Opfer dargebracht werden. Eines davon hat ein
Anhänger von Yob-Haggoths Erzfeind zu sein.«

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Jerome schob seine Kapuze zurück und wischte sich über die

schweißnasse Glatze. »Das bin ich.«

»Sie sprachen auch von einem Ungläubigen«, warf Brak ein.

»Bin ich das?«

Der hagere Alte nickte. »So scheint es.« Bitter verzog er die

Lippen. »Ich bin der dritte der Dreiheit. Ich bin jener, der
glaubt. Früher einmal tat ich es nicht, müßt Ihr verstehen. Aber
als ich noch ein junger Mann war, schloß ich einen Pakt mit
diesem Septegundus. Dafür, daß ich meine sterbliche Seele
dem Dienste Yob-Haggoths verschrieb und ihm als Beweis
meiner Ehrlichkeit auch meine Augen opferte …«

»Der Gott blendete Euch?« fragte Brak atemlos.
»Nein, nein. Das tat Septegundus’ Tochter.«
»Ariane. Die schwarzhaarige Hexe«, fiel Jerome ein. »Sie

war hier, als Ihr das Bewußtsein noch nicht wiedererlangt hat-
tet. Sie musterte Euch voll Neugier und vielleicht auch mehr.
Aus gutem Grund nennt man sie die Tochter der Hölle. Ihre
Schönheit ist wie ein Festtagskuchen, der mit giftigen Rosinen
gespickt ist.«

»Sie war damals so jung und schön wie sie es heute ist«, fuhr

der blinde Alte fort. »Sie war es, die die grünen Zweige von ei-
nem Baum brach. Sie spitzte ihre Enden zu, und während ich
auf der Erde lag und mich bemühte, mein Zittern zu unterdrü-
cken. Ihr müßt verstehen, ich hatte mich bereit erklärt, den
Preis für das zu bezahlen, wonach es mich dürstete –, nahm sie
die dünnen Zweige, stach mir beide Augen aus und entfernte
sie. Mein Geist und Scharfsinn erhöhten sich danach erheblich.
Viele lange Jahre sang meine Zunge herrliche Lieder.« Das
greise Haupt beugte sich tief, und die leeren Augenhöhlen
schienen zu zucken, als der Alte leise fortfuhr.

»Ich bin Tyresias.«
Brak blinzelte. Der Name bedeutete ihm nichts. Aber Jerome

öffnete erstaunt die Lippen.

»Tyresias, der fahrende Sänger? Die Nachtigallenstimme, die

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selbst den härtesten Kriegern Tränen zu entlocken vermochte?«

Tyresias nickte. »Aye. So war es. Alle Königreiche der Welt

öffneten mir weit die Tore, als ich mich in der Blüte meines
Ruhmes befand. Der Wein floß in Strömen für mich, und die
schönsten Maiden so versicherte man mir küßten den Saum
meines Gewandes und flehten mich an um ein einziges Wort.«
Er schüttelte den Kopf. »Dies alles ist vorbei. Die Jugend und
meine Kraft sind dahin. Yob-Haggoth schloß Unsterblichkeit
aus unserem Pakt aus. Doch immer noch habe ich ein paar
Reime und Weisen in mir. Zumindest glaubte ich es, bis man
mich überwältigte und hierherbrachte. Wie leicht könnte ein
Lied davon über Euch sein, Barbar. Aus dem Ton Eurer Stim-
me erkenne ich, daß Ihr ein lebensfroher Bursche und tapferen
Sinnes seid. Doch das wird Euch in dieser Welt der Falschheit
wenig von Nutzen sein aber ich spreche, als gäbe es für uns
beide noch ein Morgen.« Er hob sein blindes Haupt empor zur
blutroten Dunkelheit, wo die Spinnenkreatur sich bewegte.
»Für uns gibt es nur noch das Ritual und den Tod«, murmelte
er tonlos.

Ein bedrückendes Schweigen senkte sich auf die drei herab.
Brak warf einen langen Blick auf den blinden Barden und da-

nach auf den untersetzten nestorianischen Mönch, der mit ge-
senktem Kopf auf dem Mauerwerk saß und, das Kreuz in den
Händen haltend, etwas vor sich hin murmelte. Mit einemmal
begann Tyresias eine Weise zu summen. Es klang rauh und
schmerzte in den Ohren. Brak begann ruhelos um die Feuer-
grube herumzumarschieren. Seine Augen schienen die Mauern
durchdringen zu wollen. Aber es gab kein Versteck, keinen
Spalt, der ihnen zur Flucht verhelfen könnte. Lähmende Kälte
breitete sich in seinem Herzen aus. Er fuhr hoch, als plötzlich
eine Glocke viermal dumpf anschlug.

Tyresias hörte zu summen auf und seufzte.
»Bald graut der Morgen, dann wird es nicht mehr viel länger

als die Umkehrung eines Stundenglases bis zum Sonnenauf-

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gang dauern.«

»Aber wir können doch nicht einfach wie Vieh herumstehen,

das auf den Schlächter wartet!« brüllte Brak.

Sein heiserer Schrei echote im Gewölbe. Das durchdringende

Lachen einer Frau übertönte ihn, obwohl es aus weiter Ferne zu
kommen schien. Plötzlich begann die Luft um die drei Schick-
salsgefährten zu verschwimmen.

Bruder Jerome sprang auf die Beine und streckte die Hände

mit dem Kreuz aus. Ein pulsierender glühender Strahl schoß
auf ihn zu, als reagiere etwas unwillig auf das steinerne Sym-
bol. Mit einem Wehlaut brach der Mönch bewußtlos zusam-
men.

Als er stürzte, entfiel seinen Händen das Kreuz und polterte

auf den Boden. Obwohl er ihm nichts bedeutete, war Brak, als
griffe eine kalte Hand nach seinem Herzen, als er sah, daß das
Kreuz unweit von Jeromes Fingern zerschmettert lag.

Tyresias begann zu wimmern.
»Sie ist hier! Sie ist wiedergekommen!«
Brak wirbelte herum. Nun sah er, woher der weißglühende

Lichtstrahl gekommen war. Die ihm bereits bekannte opalisie-
rende Kugel senkte sich aus der Dunkelheit herab. Immer noch
war sie am Rande schwarz und heller der Mitte zu. Aber dieses
Mal beobachtete ihn kein verträumtes Gesicht. Die Kugel war
von sich windenden, ineinander verschwimmenden, nebelarti-
gen Schwaden ausgefüllt.

Immer tiefer senkte sie sich, genau auf ihn zu.
Tyresias zitterte am ganzen Leib. Er spürte die Gefahr. »Es ist

die Tochter der Hölle, Fremdling. Doch sie sucht nicht mich,
auch nicht den Mönch. Lauft, Freund, lauft, irgendwo in eine
Ecke!«

Brak schluckte schwer, aber er wich keine Handbreit zur Sei-

te. Der entsetzliche Anblick der Kugel erschreckte ihn. Aber
vielleicht brachte sie ihn von hier weg, an einen anderen Ort,
wo er seine Fäuste benutzen konnte, um sich zu wehren. Alles

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war besser, als untätig hier mit einem hilflosen Mönch und ei-
nem greisen Sänger auf ein blutiges Geschick zu warten. Mit
aller Gewalt unterdrückte er seine Furcht.

Die Blase tanzte unmittelbar über seinem Kopf. Dann berühr-

te sie ihn. Unbeschreibliche Kälte durchdrang den Barbaren.
Sein Herzschlag wurde langsamer. Er vermochte nichts mehr
zu sehen, als die windenden Schwaden ihn verschlangen. Es
war ihm, als habe er jedes Gewicht verloren und er schwebe
schwerelos nach oben.

Als er endlich wieder zu sehen vermochte, erblickte er tief

unter sich den immer noch bewußtlosen Bruder Jerome neben
seinem zerschmetterten Kreuz. Tyresias kauerte neben der Feu-
ergrube und schüttelte mitleidig den Kopf. Brak erkannte, daß
er sich nun in der Kugel befand, ihr Gefangener war.

Er streckte seine Arme aus, die Hände zu Fäusten geballt, und

schlug gegen den frostigen Nebel, der trotz der schmerzenden
Kälte eine wohltuende Wirkung hatte. Als die Kugel das eklige
Spinnennetz erreichte, wurden die Nebelschwaden, die ihn ein-
hüllten, noch dichter. Merkwürdigerweise durchdrangen die di-
cken Spinnwebfäden die Kugel. Gegen Übelkeit ankämpfend,
hieb Brak mit den nackten Fäusten auf sie ein. Aber alles, was
er berührte, war frostige Luft.

Das Netz war durch die Kugel gedrungen und durch ihn hin-

durch. Und nun schwebte die Kugel noch höher, berührte die
steinerne Gewölbedecke und verschwand Handbreit um Hand-
breit darin.

Brak blickte angstvoll an sich herab. Ungläubig und voll

Furcht sah er, wie seine Beine sich aufzulösen schienen und
durch den dicken Deckenstein drangen. Eine unheimliche
Taubheit erfüllte seinen Körper, je weiter er von dem Stein ver-
schlungen wurde. Er versank mit den Beinen voraus langsam in
der Mauer. Als die betäubende Dunkelheit als letztes sein Ge-
sicht einsaugte, vernahm er ein wohltönendes Lachen.

»Komm, mein Starker«, lockte eine sanfte Stimme. »Du

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brauchst dich nicht vor Ariane zu fürchten.«

Nun zweifelte Brak nicht länger, daß Zauberkräfte am Werk

waren. »Man nennt Euch Tochter der Hölle«, rief er. »Ich will
nichts zu tun haben mit Euch oder Eurer …«

Doch da umfaßte die Dunkelheit nicht nur seinen Kopf, son-

dern auch seinen Geist.

*


Wind peitschte in sein Gesicht. Furcht erfüllte Brak. Verge-

bens kämpfte er dagegen an.

Der Wind biß in seine Haut, zwang ihn zum Blinzeln. Tief

unter dem zerbrechlichen Gefährt aus von Mondschein durch-
drungenem Kupfer, das heftig schlingerte, brauste die Erde
schräg vorbei. Schwindel erfaßte ihn, Übelkeit würgte ihn. Has-
tig streckte er die Hände nach der Haltestange des merkwürdi-
gen Fahrzeugs aus und hielt sich fest.

Ein Gefühl der Unwirklichkeit erfüllte ihn. Sicher träumte er

nur, in einem reich verzierten kupfernen Streitwagen zu sitzen,
der durch die Lüfte flog. Der volle Mond schwamm wie eine
leuchtende Goldmünze am fernen Horizont. Im Osten, weit jen-
seits der frostklirrenden Grenze der Eismarschen, dort, wo sich
die Rauchberge in den Himmel hoben und wo Nestoriamus, der
Ziegenhirt, sein Leben gelassen hatte, stieg das erste Tageslicht
auf.

Braks Herz klopfte wild vor Angst. Er fühlte sich unvorstell-

bar leicht, unwirklich und doch wirklich. Es schien, als wäre
sein Selbst, das hier hoch über der Welt mit dem Wind in einem
von einer überirdischen Zauberin gelenkten Streitwagen dahin-
brauste, nicht körperlich, nicht mehr als sein von einem Magier
hierher versetztes Abbild. Mit offenen Sinnen versuchte er, all
die Wunder, die sich ihm hier offenbarten, in sich aufzuneh-
men.

Am nordwestlichen Horizont kauerte Kambda Kai in der

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Dunkelheit. Ganz nahe wuchs aus dem mit Eis überzogenen
blauen Fels eine titanische Skulptur. Je weiter der Streitwagen
sich davon entfernte, einen desto besseren Überblick gewann
Brak.

Es war die gigantische Steinabbildung einer nur teilweise

menschlichen Figur, deren gewaltige Granitfäuste auf ihren ü-
berkreuzten Schenkeln ruhten. Das finstere Gesicht überblickte
die Ebenen unter sich, als gedächte es, alles Land zu verflu-
chen, das seine graueneinflößenden Steinaugen zu sehen ver-
mochten. Plötzlich wurde Brak klar, daß dieses Monument in
der Wildnis die Tempelstatue Yob-Haggoths war.

Doch von viel dringlicherer Bedeutung war für ihn das Mäd-

chen, das die Zügel in ihren weißen Händen hielt. Sie drehte
den Kopf und sah ihn über eine Schulter hinweg an, während
ihr langes ebenholzfarbiges Haar hinter ihr her wallte. Es ver-
fing sich in dem schleierdünnen Gewand, daß es schwierig zu
erkennen war, wo das Kleid begann und das Haar endete.

Arianes Lippen hatten sich zu einem erwartungsvollen Lä-

cheln geöffnet, das ihre kleinen weißen Zähne freigab. Sie zog
an den wie aus Spinnwebfäden geflochtenen Zügeln, und die
beiden pferdeähnlichen Kreaturen sausten noch flinker über den
Himmel. Noch nie hatte Brak ihresgleichen gesehen. Ihre Mäh-
nen brannten, und wenn sie schnaubten, sprühten rot – und o-
range – und gelbschillernde Funken durch die Nacht.

»Warum habt Ihr mich hierhergebracht?« brüllte Brak durch

den tosenden Wind.

»Weißt du denn wirklich, wer ich bin, Barbar?« lachte das

Mädchen statt einer Antwort. »Haben sie es dir gesagt, diese
beiden armseligen Kreaturen, deren Zeit bald um ist?«

»Ihr seid die Frau, die mich in Kambda Kai in die Falle lockte

und nichts weiter als eine billige Hexe!«

Wütend schnippte Ariane mit den Spinnwebzügeln gegen sei-

ne Wange. Aus einem tiefen Schnitt wie von einem scharfen
Messer rann Blut.

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Brak hob die Hand, um es abzuwischen. Aber seine Finger

blieben trocken. Die Wunde hatte sich offenbar bereits wieder
geschlossen, obwohl der Schmerz noch brennend anhielt.

Nun war Brak ganz sicher, daß weder er noch Ariane hier

wirklich waren. Sein Körper (oder vielleicht gar seine Leiche?)
schlummerte dort unten in Yob-Haggoths Tempel, während
seine Seele dazu verdammt war, mit der schwarzäugigen Hexe
und den feuermähnigen Pferden über den Himmel zu jagen.

»Ich bin Ariane, die Tochter Septegundus’« sagte das Mäd-

chen zwischen grimmig zusammengebissenen Zähnen. »Ich
verlange Respekt!«

»Kann ein Mann Respekt vor der Verderbtheit haben?« rief

Brak.

Eine plötzliche Verwandlung ging mit Arianes Augen vor.

Sanft zog sie am Zügel. Mit unbeschreiblicher Grazie wendeten
die Feuerpferde und galoppierten nun südwärts.

»Die Werfer sagten mir, du seist nur ein ungehobelter Tölpel

aus dem Norden. Und doch scheinst du mir über einen recht re-
gen Verstand zu verfügen, Brak.«

»Ihr kennt meinen Namen?«
»Aye, und mehr!«
»Ich kenne Euren ebenso. Und mehr noch, nämlich seine Be-

deutung.«

»Ariane«, flüsterte sie, und es klang spöttisch und lockend

zugleich. »Ariane!«

»Tochter der Hölle nannte der Mönch Euch!«
Das Mädchen zuckte die Schultern. Das schleierdünne Gewe-

be ihres nachtschwarzen Gewandes flatterte im Wind und wand
sich um Braks Hals. Wie liebkosend streifte es über seine Wan-
gen, und ein betörender Duft stieg in seine Nase. Heftig befreite
er sich aus dem mitternachtfarbigen Gewebe. Der Mond war
nun schon fast untergegangen. Die Eismarschen verloren sich
in dem blauen Dunst am nördlichen Rande der Welt, während
sich vor ihnen eine goldene Stadt in der Ebene erstreckte.

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»Wenn Yob-Haggoth sich ihn holt, wird des Nestorianers

Zunge kein Gift mehr verspritzen, Brak.«

»Glaubt Ihr, das war noch nötig, nachdem Ihr mich mit Euren

Teufelskünsten so hereingelegt habt, und ich nun das Opfer für
einen Götzen sein soll, von dem ich nie zuvor gehört habe?«

Nun funkelten Arianes Augen. »Du wagst zu lästern? Yob-

Haggoth ist der Dunkle Gott. Er ist allmächtig!«

»Meinetwegen. Doch was wollt Ihr von mir? Ihr beobachtetet

mich aus Eurer Zauberkugel, als ich noch halbbewußtlos lag.
Warum habt Ihr das getan?«

Eine rosige Zunge benetzte Arianes Lippen. Statt auf seine

Fragen einzugehen, höhnte sie: »Was hat dir dieser Nestorianer
noch über mich erzählt? Daß ich mit meinen Liebhabern nicht
geize? Nun, das stimmt. Mein Vater und ich sind nicht eigent-
lich Wesen dieser Welt. Aber es macht uns durchaus Vergnü-
gen, den irdischen Hunger zu stillen, der sich durch unsere
Menschenkörper auf uns überträgt. Du bist ein Mann nach mei-
nem Geschmack, Barbar. Ein starker Mann mit gewissen Vor-
zügen, und du verfügst über eine primitive Art von Mut. Doch
Mut, würde ich sagen, nützt dir wenig auf dieser Welt. Tugen-
den wie diese sind unter den Menschen nicht gefragt. Wenn du
ein kleiner Mann wärst, Brak, ein Schwindler und Betrüger,
und keine Skrupel hättest ah, dann gelänge es dir vielleicht,
Khurdisan zu erreichen.«

Es überlief Brak eiskalt. Sie wußte also von seinem Traum.

Aber er schwieg, als sie fortfuhr: »Aye. Dann würdest du
Khurdisan vielleicht lebend erreichen. Aber die Welt will nichts
wissen von dir und deiner Art, die herausfordernd ihren gera-
den Weg geht.« Sie lachte. »Es ist unsere Welt. Meines Vaters
und die meine. Eine finstere Welt!«

Braks buschige Brauen zogen sich zusammen.
»Woher wißt Ihr, daß ich nach Khurdisan unterwegs bin?«
»Ich weiß alles über dich. Ich habe dein Gehirn leergesaugt

wie eine Meeresmuschel. Es ist ein unkompliziertes Gehirn in

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mancher Hinsicht, doch komplex in anderen.« Das lockende
sinnliche Lächeln umspielte erneut ihre Lippen. »Alles in allem
finde ich dich von bemerkenswerter Anziehungskraft.«

»Verhöhnt Ihr mich mit Eurem Gerede, Weib? Ich bin zum

Opfertod ausersehen. Schon graut der Morgen.«

Ariane winkte mit ihren langnageligen Fingern ab, als die

gewaltige goldene Stadt mit ihren Türmen und Kuppeln und
Marktplätzen und Tempeln unter ihnen vorbeiglitt, und sie mit
der Schnelle des Windes, der sie trug, dahinbrausten.

»Das Ritual ist nicht von Bedeutung, Brak.«
»Nicht von Bedeutung?«
»Das stimmt, denn ich kann seinen Ablauf ändern.«
»Mein Leben retten?«
»Ja. Die Werfer können in den Gassen von Kambda Kai noch

rechtzeitig einen anderen Ungläubigen finden.«

»Und der Preis dafür, Weib?«
Ariane musterte ihn begehrlich. Funken von den brennenden

Pferdemähnen sprühten wie Juwelen in ihrem Haar.

»Du gehörst mir!«
»Für wie lange? Bis die Hölle sich öffnet und die Welt Yob-

Haggoth zu Füßen fällt?«

Ein wildes Licht glitzerte in ihren Augen.
»Diese Zeit ist nicht mehr fern, Brak, glaube es mir. Wie lan-

ge mein Interesse an dir anhält, wer weiß das schon zu sagen?
Doch ich, nur ich allein bestimme die Zeit. Und dieses Recht
mußt du mir aus freiem Willen zugestehen, denn das ist etwas,
was ich durch keinen Zauberspruch gewinnen könnte. Dir je-
doch bleibt nur die Wahl zuzustimmen oder den Opfertod zu
erleiden.«

Mit einer heftigen Bewegung wandte Brak sich von ihr ab

und starrte hinunter auf die ausgedehnte Ebene. Eine gewaltige
Armee zog in der Morgendämmerung dahin. Tausende und a-
ber Tausende von Fußsoldaten, Reitern, Streitwagen und Fanfa-
renbläsern. Das Traumgefährt raste über sie hinweg, aber kei-

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ner der gewaltigen Kriegsschar vermochte es zu schauen.

Brak deutete hinunter auf die Streitmacht.
»Warum stellt Ihr mir diese Frage ausgerechnet hier, Ariane?

Hier, in diesem fliegenden Wagen, der fast schneller als das
Licht dahinbraust und von dem aus ich Wunder über Wunder
zu beobachten vermag?«

Wieder vermied Ariane eine direkte Antwort. Ihre Lippen

glänzten feucht, als sie ihren Kopf zu ihm hob.

»Gib mir deine Seele, Barbar.«
»Ich weiß nicht, wovon Ihr sprecht. Ich habe einen kräftigen

Arm, der das Schwert zu schwingen versteht, und zwei Beine,
die mich weit zu tragen vermögen, aber wovon Ihr redet …«

»Du hast auch eine Seele, Brak«, flüsterte sie sanft. »Doch du

mußt sie mir aus eigenem freiem Willen geben.«

»So wie der Sänger Tyresias?«
»Was meinst du damit?«
»Daß Ihr mit meiner Seele auch meine Augen haben und sie

selbst ausstechen wollt.«

Ariane schien wie in Trance. Sie reagierte nicht wütend auf

seine Worte, wie er erwartet hatte. Im Gegenteil, völlig ent-
spannt lehnte sie sich gegen seinen bronzefarbenen Arm. Sie
rieb ihre Wange voll eigenartiger Zärtlichkeit an seiner Haut
und weckte Gefühle in ihm, gegen die er ankämpfte.

»Brak«, murmelte sie. »Mein starker Brak. Es gibt nichts auf

dieser Welt, wofür nicht ein Preis bezahlt werden müßte. Ich
kann dir soviel geben. Meine Liebe, und mehr. Alles, was du
dir von dieser Welt und ihren herrlichen Städten wünschst.
Wenn du nicht glaubst, wie wundervoll es ist, dann schau!«

Der Wind nahm an Stärke zu. Das Kupfergefährt brauste mit

einer Schnelligkeit dahin, die Brak um sein Leben fürchten ließ.
Unter ihm löste ein Königreich das andere ab. Er sah wehrhafte
Grenzwälle und türkise Meere, wo prächtige Schiffe mit bunten
Segeln durch das Wasser schnitten. Er sah Tempel aller Arten,
vergessene Städte, die der Wüstenwind schon halb begraben

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hatte. Er sah zerklüftete Gebirge und Silberminen, wo Tausen-
de von Menschen nach dem edlen Metall gruben.

Weiter raste der fliegende Streitwagen. Über trutzige Burgen

hinweg, über Wälder, Prärien, Hochebenen, über kämpfende
Armeen und reitende Nomadenstämme, über spitze Gebetstür-
me, wo heilige Männer den Morgen begrüßten.

Unter den fliegenden Hufen der Feuerpferde zogen alle Kö-

nigreiche der Welt vorbei, und sie nannte ihm ihre Namen
Phrixos und Phryx und Toct, Gat und Chambalor und Rigarim,
Bemkah und Kopt, Tyros und Thanzid und Tobool.

Und dort, in einem gelben Dunst, lag das gewaltige halb-

mondförmige Land am südlichen Rande der Welt. Braks Herz
pochte wild. Über den Wind hinweg rief Ariane ihm zu.

»Das ist Khurdisan, Brak, mein Geliebter. Das goldene Khur-

disan!«

Die Hände so heftig um die Haltestange geklammert, daß die

Knöchel weiß hervortraten, starrte Brak hinunter. Seine Augen
strengten sich an, den glänzenden goldenen Dunst zu durch-
dringen.

Ariane lachte laut auf. Sie peitschte die Pferde und zerrte am

Zügel. Der Streitwagen wendete und schoß nach Norden davon.

Das gelbe Glühen Khurdisans verschwand hinter ihnen.
»Noch nicht, Brak, noch nicht«, murmelte Ariane. »Es wird

erst dein, wenn du dich mir gibst, aus freiem Willen.«

Die Versuchung überschwemmte ihn. Doch Zweifel und ein

Schuldbewußtsein waren nicht verstummt. Was wäre so
schlimm, wenn du nachgibst, bohrte ein Teil seines Ichs. War
sie denn nicht eine begehrenswerte Frau? Ihre Arme sanft, ihre
Haut betörend duftend. Sie würde sein Leben retten. Und er
konnte eine Abmachung mit ihr treffen. Sobald sie seiner müde
wurde, sollte sie ihn im goldenen Khurdisan absetzen. Er öffne-
te seine Lippen, um ein Ja zu murmeln. Es würde alles so ein-
fach machen.

Arianes samtschwarze Augen leuchteten erwartungsvoll. Sie

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lehnte sich noch fester gegen ihn. Doch plötzlich stand das Bild
von Tyresias mit den festgenähten Lidern vor seinem Auge.
Das Böse war mächtig auf dieser Welt. Damit hatte Jerome
recht. Und das hier war eine Verlockung des Bösen.

»Nein«, knurrte er. Nur mit größter Anstrengung gelang es

ihm, dieses Wort auszustoßen. Doch dann war seine Zunge frei.
»Nein!« brüllte er. Er schlug mit seinen mächtigen Fäusten ge-
gen die Haltestange des Streitwagens. Sein dicker gelber Zopf
bäumte sich im Wind. »Nein, Höllentochter. Du sollst meine
Seele nicht haben. Auch wenn ich nicht an sie glaube, so sagen
mir doch deine Augen, daß es sie gibt. Und du bekommst sie
nicht!«

Einen flüchtigen Moment verzerrte Arianes Gesicht, sich zu

einer haßerfüllten Fratze. Doch dann musterte sie ihn ruhig und
voll Interesse.

Er hatte den Kopf zurückgeworfen, die entblößten Zähne fest

zusammengepreßt und die Augen geschlossen. Er betete zu
namenlosen Göttern, von denen er nichts wußte und deren
Macht er nicht kannte. Aber er bat sie, ihm zu helfen, damit er
der Versuchung nicht erliege.

Und Ariane erkannte, daß er stark war, und irgendwie löste es

keinen Grimm in ihr aus, sondern machte sie traurig.

Sie nahm die dünne Silberkette, an der ein Edelstein hing,

von ihrem Hals. Noch ehe Brak sie daran hindern konnte,
streifte sie ihm diese über den Kopf. Das kugelförmige Juwel
drückte gegen Braks Brust, und seine Haut darunter prickelte.
Er blickte auf den Anhänger. Es war eine winzige Abbildung
der Zauberkugel, ein dunkler Edelstein, in dessen Mitte grauer
Nebel zu wirbeln schien.

Ariane berührte sanft sein Kinn.
»Mein armer Barbar. Ich sollte dich mit jeder Faser meines

Herzens hassen. Aber ich kann es nicht. Ich begehre dich im-
mer noch.«

Er schüttelte den Kopf und wandte sich von ihr ab. Er hatte

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Angst, zu lange in ihre Augen zu sehen.

Überall um sie herum ballten sich schwarze Wolken, als wäre

der grauende Morgen, durch den sie gekommen waren, nur Il-
lusion. Die feuermähnigen Pferde kehrten zur Erde zurück.
Brak erkannte es an der Schräglage des Gefährts. Das Bild des
goldenen Khurdisan erstand noch einmal vor seinen Augen.
Würde das Land seiner Träume ihm für immer verloren sein?

»Mit dieser kleinen Kugel binde ich mich an dich«, wisperte

Ariane zärtlich und traurig zugleich. »Bis zum Augenblick dei-
nes Todes kannst du mich damit rufen, mein Barbar. Wenn du
deinen Entschluß änderst, brauchst du sie nur zu berühren und
meinen Namen zu flüstern, dann werde ich kommen. Tust du es
nicht …« Ihre Züge wurden hart. »Yob-Haggoth ist allmächtig.
Yob-Haggoth verlangt seinen Tribut.«

»Euer Yob-Haggoth sei verflucht, und die ganze Welt, die ich

nicht verstehe, mit ihm!« brüllte er, aber ein gewaltiger Don-
nerschlag verschlang seine Worte. Das Traumgefährt, Ariane
und die Feuerpferde, alles löste sich auf.

Brak schwenkte die Arme, um nicht so schnell zu fallen. Es

wurde dunkel um ihn. Entsetzliche Furcht erfüllte ihn. Er war
nahe daran, das Kugelamulett zu berühren. Im letzten Augen-
blick gelang es ihm, der Versuchung zu widerstehen.

Aus der undurchdringlichen Finsternis hörte er boshaftes La-

chen. Es war das Gelächter Septegundus’, der ihn willkommen
hieß. Es schien allgegenwärtig und peinigte seine Ohren. Er
preßte die Hände dagegen, aber es wurde so laut, daß seine
Schläfen schmerzten. Und lauter.

Lauter als hunderttausend Krieger, die nebeneinander über

die Erde marschierten.

Ein blauer Blitz durchzuckte die Dunkelheit und blendete ihn.

Er spürte, daß er fiel. Wie ein Bleigewicht stürzte er blind
durch das Nichts. Die Angst schnürte ihm die Kehle zu. Doch
mit einem Mal war der Bann gebrochen. Die Wirklichkeit war
jedoch noch viel schrecklicher. Blaues Sonnenlicht, das sich im

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Eis brach, peinigte seine Augen. Das grauenhafte steinerne Ab-
bild blickte direkt auf ihn herab. Er erkannte es sofort als den
Tempel Yob-Haggoths. Die gigantische, aus Granit gehauene
Statue strömte trotz der frischen Morgenluft einen ekelerregen-
den Modergeruch aus.

Brak hörte Geräusche neben sich. Er lag ausgestreckt auf sei-

nem Rücken auf kaltem Stein. Er wandte den Kopf nach rechts.
Tyresias lag dort, die Augen zum Himmel erhoben, den er nicht
zu sehen vermochte.

Neben ihm setzte Bruder Jerome sich gerade halb auf und

schüttelte seinen kahlen Kopf. Brak erkannte, daß sie sich zu
dritt auf einer riesigen steinernen Plattform befanden, die über
das Fundament der Statue hinausragte.

Brak stützte sich auf einen Arm und fragte sich, wie sie wohl

hier herausgekommen waren. Sicher hatte man sie getragen.
Hinter sich vernahm er das Trippeln vieler Füße. Er verdrehte
den Kopf und sah eine Zweierreihe Werfer aus einem dunklen
Portal in Yob-Haggoths Knie kommen. Braks Gesicht verzerrte
sich vor hilfloser Wut. Fünf Dutzend der Halbwüchsigen zählte
er. Sie stellten sich am Rand der Plattform auf und umringten
so die drei Gefangenen, von denen sie keinen Blick ließen.

»Ihr habt tief geschlafen, Barbar«, murmelte der Nestorianer.

»Ariane holte sich Euren Geist für eine Weile und ließ nur Eu-
ren Körper zurück. Ihr wimmertet und stöhntet und schlugt um
Euch. Einmal warft Ihr Euch sogar über das Mauerwerk, als
wolltet Ihr Euch in die Feuergrube stürzen. Ich vermochte Euch
nur mit größter Mühe zurückzuhalten. Die ganze Zeit hattet Ihr
jedoch Eure Augen fest geschlossen. Nach einer Weile wurdet
Ihr ruhig, als hätte sie Euch aus ihrem Bann entlassen. Da wur-
de ich plötzlich müde und weiß nichts mehr, bis wir hier er-
wachten.«

Tyresias umklammerte den Arm des Mönches. Er zitterte wie

Espenlaub. »Bruder, ruft Euren Namenlosen Gott. Fleht ihn an,
uns zu retten!«

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Müde schüttelte Jerome den Kopf. »Ich weiß nicht, ob er

mich erhören wird. Ich sagte Euch doch, seine Anhänger sind
großen Prüfungen ausgesetzt. Mein einziges Machtmittel, das
steinerne Kreuz, ist zerbrochen. Ich …«

Jerome hielt wie vom Donner gerührt inne, starrte die Kette

um Braks Hals an. »Was habt Ihr da, Barbar? Hat sie Euch da-
mit an sich gebunden?« Er wollte nach dem Kugelamulett grei-
fen, um es abzureißen. Brak packte das Handgelenk des Mön-
ches und drückte zu, bis Jerome wimmerte.

»Es zu berühren«, quetschte Brak zwischen den Zähnen her-

vor, »bedeutet, sie herbeizurufen. Und dann gehöre ich ihr.«

Tyresias nickte schwach mit dem Kopf.
»Was bot sie Euch dafür, Fremdling?«
Braks Herz wollte schier brechen.
»Die Welt«, antwortete er leise. »Und das goldene Khurdi-

san.«

»Mir scheint, das ist ein besserer Preis als eine kräftige Lunge

und eine schmelzende Stimme«, sagte Jerome trocken. »Doch
vielleicht liegt es an der Jugend unseres Freundes hier.«

»Ich will nichts mit ihr zu tun haben!« brauste Brak auf.

Plötzlich jagte ein kalter Schauer seinen Rücken hinab. Er spür-
te, daß jemand ihn beobachtete, jemand außer den Werfern. Er
hob den Blick.

Über ihm stand Ariane auf dem Knie der Statue. Der frostige

Morgenwind spielte mit ihrem Haar und dem Schleiergewand.
Sie hob eine Hand, winkte ihm lockend.

Wie einfach es doch wäre, dachte Brak müde. Er brauchte nur

die Kugel zu berühren, ihren Namen zu rufen und sich ihr zu
ergeben. Dann würde sie ihn hinwegbringen von diesem grau-
enhaften Ort und den Werfern, die erwartungsvoll mit ihren
kristallenen Fingerspitzen klickten.

Grimm stieg in ihm hoch. War er ein Kind, das sich ein-

schüchtern ließ? Das wilde, ungebärdige Blut des Steppenvol-
kes floß in seinen Adern. Nein, er würde nicht wimmern und

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sich ducken. Er würde sterben wie ein wahrer Sohn des rauhen
Nordens. Und ein paar dieses Höllengezüchts würde er mit sich
nehmen.

Was er brauchte, war eine Waffe, damit er hocherhobenen

Hauptes in den Tod gehen konnte.

Das Klicken der kristallenen Fingerspitzen wurde intensiver.

Dreimal drei weitere Werfer marschierten aus dem offenen
Knie. Jener in der Mitte trug einen goldenen Schild, auf dem
fünf Gegenstände lagen. Ein Stoffetzen, der zweifellos von Ty-
resias’ Gewand gerissen war; die zwei Steinfragmente des zer-
brochenen Kreuzes; und Braks Breitschwert.

»Ich fragte mich schon, wohin mein Kreuz verschwunden

war«, murmelte Bruder Jerome. »Offenbar brauchen sie für das
Ritual etwas von jedem von uns.«

»Wenn ich nur mein Schwert in die Hände bekäme«, brumm-

te Brak.

»Dazu wird Euch keine Zeit bleiben«, erwiderte der Nestoria-

ner flüsternd. »Seht Euch das fünfte Objekt auf dem Schild an.«

Es war ein kurzer schwerer Bronzedolch, dessen Klinge mit

Grünspan überzogen war abgesehen von jenen Stellen, an de-
nen noch altes Blut haftete! Der Schaft stellte Yob-Haggoths
Kopf dar.

Die Neunerformation der Werfer blieb sechs Schritte vor den

drei Gefangenen entfernt stehen. Dann traten sie zur Seite und
ließen den Schildträger allein mit seiner Last.

Verzweifelt blickte Brak sich um. Außer ihnen und den Wer-

fern gab es weit und breit kein menschliches Wesen. Das Portal
im Knie der Statue schien der einzige Eingang zu sein. Ein von
Wind und Wetter geschaffener Riß befand sich im Bauch des
Idols, aber er war weder tief genug, um sich darin zu verste-
cken, noch breit genug, um sich hineinzuzwängen und von dort
aus mit geschütztem Rücken zu kämpfen.

Einer der Werfer hob seinen Kopf und schrillte: »Der Ge-

sandte Yob-Haggoths.« Die anderen Werfer fielen in den Ruf

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ein. »Der Gesandte Yob-Haggoths kommt! Septegundus
kommt! SEPTEGUNDUS KOMMT!«

Aus dem schwarzen Portal glitt lautlos der Amyr des Böden

auf Erden.

Brak wischte sich ungläubig die Augen. Der Mann war alles

andere als von imposanter Statur. Er war in ein einfaches
schwarzes Gewand mit weiten Ärmeln gehüllt. Sein Schädel
war geschoren, seine Nase krumm. Seine Lippen waren dünn
und blutlos, und sein Kinn und seine Ohren spitz.

Seine großen dunklen und durchdringenden Augen schienen

fast nur aus Pupillen zu bestehen, denn vom Weiß war kaum
etwas zu sehen. Er hatte keine Lider. Offenbar waren sie opera-
tiv entfernt worden. Weiße Narben, zum Teil mit Wildem
Fleisch überwuchert, zeugten davon.

Aber was Brak vor Grauen zusammenzucken ließ, war Septe-

gundus’ Fleisch. Es lebte. Es krabbelte. Winzige nackte
menschliche Gestalten zu Hunderten schlangen sich ineinander
und schienen sich in ewigen Höllenqualen zu winden. Irgend-
wie waren diese Miniaturmenschen zwischen dünnen Fleisch-
schichten gefangen. Und sie krabbelten und krochen und be-
wegten sich in einem Wirrwarr von Rümpfen, Köpfen, Armen
und Beinen.

Brak biß sich auf die Lippe, bis Blut kam.
Zeremoniös glitt Septegundus näher, bis er unmittelbar vor

ihnen stand.

»Willkommen, Dreiheit«, grüßte er sie mit leicht piepsender

Stimme. Er verbeugte sich vor Tyresias.

»Willkommen Gläubiger, Ihr seid mir ja nicht fremd.«
Dann eine Verbeugung vor Bruder Jerome.
»Willkommen, Nestorianer.«
Und danach neigte er seinen Oberkörper ein wenig, und seine

abstoßenden Augen hefteten sich auf Brak, der wie gelähmt auf
die von winzigen Menschenkörpern krabbelnde Stirn Septe-
gundus’ starrte.

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»Willkommen, Ungläubiger«, sagte der Amyr schließlich.
»Ihr wähltet nicht den Ausweg, den meine Tochter Euch bot,

darum sollt Ihr in den dreifach geschürten Höllengluten Yob-
Haggoths rösten.«

Die Kreatur mit dem krabbelnden Fleisch kicherte.
»Doch noch ist Zeit, Barbar. Ich kann meiner Tochter keinen

Wunsch versagen. Noch läßt sich ein anderer finden, der Euren
Platz einnimmt und dessen Blut Yob-Haggoth schlürfen mag,
damit seine Macht erneuert werde. Meine Tochter ist eine wun-
derschöne Frau. Sie kann Euch Freuden bieten, wie Ihr sie
Euch nicht im Traum vorzustellen vermögt. Sie kann …«

Während Septegundus dahinbrabbelte, schwach, trotz der ge-

radezu greifbaren Aura des Bösen, die ihn umgab, verlor Brak
den letzten Rest seiner Beherrschung. Er sammelte Speichel im
Mund und spuckte ihn in des Amyrs krabbelndes Gesicht.
Gleichzeitig gab er ihm mit der Faust einen mächtigen Stoß.

Tyresias krümmte den Rücken, als durchsteche ihn mit Sep-

tegundus’ Schrei unerträglicher Schmerz.

»Ihr Narr!« kreischte er.
Septegundus taumelte rückwärts. Die flatternden Ärmel ga-

ben die bisher noch verborgenen Hände frei. Auch ihr Fleisch
krabbelte und kroch mit ewig verdammten Miniaturmenschlein.

Brak sprang. Er packte Septegundus und schleuderte ihn ge-

gen den Schildträger. In diesem Augenblick senkte sich tiefe
Nacht herab und hüllte alles ein. Ein roter Blitz zuckte durch
die Finsternis und tanzte brennend und zischend auf der stei-
nernen Plattform.

Ein ohrenbetäubender Donner folgte. Ein weiterer. Immer

noch tanzte der rote Blitz, einmal rechts, einmal links von Brak.
Die Plattform erhitzte sich unter seinen nackten Sohlen. Rauch
umhüllte ihn von allen Seiten. In den Augen der Werfer spie-
gelte sich der rote Blitz wider. Sie setzten sich in Bewegung.
Brak sprang mit einem durchdringenden Schrei hervor. Weitere
Blitze umzuckten die steinerne Riesenstatue. Septegundus hatte

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sich wieder gefangen. Er schwenkte wild die Hände und stieß
Beschwörungsformeln aus.

Brak stolperte und taumelte gegen den Schildträger. Er um-

klammerte dessen Hals und drückte so fest zu, daß das Genick
brach. Der Schild schlug auf dem Boden auf.

Brak bückte sich und tastete in dem dichten Rauch herum.

Unaufhörlich zuckten Blitze und dröhnte Donner. Seine Finger
schmerzten von der Suche auf dem heißen Stein, aber noch hat-
te er sein Schwert nicht gefunden. Irgendwo hinter den wir-
belnden Rauchschwaden schrie Tyresias in tödlicher Angst,
und Bruder Jerome murmelte ein Gebet. Endlich stießen seine
Finger auf die wohlvertraute Klinge. Er riß sie an sich und rich-
tete sich auf.

Septegundus wankte durch die Rauchschleier auf ihn zu. In

seinen erhobenen Händen hielt er schwarze Schlangen mit drei-
fach gespaltenen Zungen. Jede von ihnen war so lang, wie Brak
hoch war. Mit einem kichernden Schrei schleuderte er erst eine,
dann die andere auf ihn zu.

Mit einem flinken Streich trennte Brak die erste der fauligen

Bestien in zwei Hälften. Sie stürzten zu Boden, und beide Teile
glitten durch den Rauch davon. Die andere Schlange pfiff über
seine Schulter hinweg. Ihre Zunge schnellte gegen einen der
Werfer, der gerade auf Brak zusprang. Ein Kuß dieser dreige-
spaltenen Zunge genügte. Der Halbwüchsige brach mit heraus-
quellenden Kristallscheiben zusammen. Sein Körper schüttelte
sich in spasmatischen Krämpfen, während die Schlange sich
um seinen Hals wand.

Brak kämpfte wie ein Berserker. Er stieß sein Schwert links

durch die Kehle eines Werfers. Schnell zog er es heraus und
hieb rechts damit den Kopf eines anderen ab. Gelbe Schwaden
und eine ekelerregende schleimige Flüssigkeit drangen aus dem
Hals, während der Schädel davonrollte. Donner grollte unauf-
hörlich. Wahnsinnige Angst, die jedes klare Denken verhinder-
te, erfüllte Brak. Er wußte, sein wilder plötzlicher Angriff auf

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Septegundus hatte den Zorn Yob-Haggoths herausgefordert.

Dort oben in der tobenden Dunkelheit begann das titanische

Idol zu vibrieren. Immer noch umzuckten es Blitze. Mit einem
furchtbaren Donnerknall schlug einer in den Kopf ein und ein
weiterer in den Bauch.

Die Statue begann zu leuchten, bis sie schließlich völlig in ei-

nem gespenstischen Rot flackerte. Am unheimlichsten waren
die grellglühenden Augen. Septegundus’ Beschwörungen wur-
den lauter.

Ein Regen von Eidechsen und Kröten fiel auf Brak herab.

Wild zertrampelte er sie. Eine Hand packte ihn am Ellenbogen.
Er wirbelte herum, bereit, einen weiteren Kopf abzuhacken. Die
Hand zog sich zurück. Der Rauch war so dick, daß er will-
kommene Verwirrung unter Septegundus’ Akolyten stiftete. Sie
prallten und taumelten gegeneinander. Ihre Flüche trugen nur
noch mehr zu dem Chaos bei.

Bruder Jeromes schweißüberströmtes Gesicht tauchte vor

Brak auf.

»Ihr habt Yob-Haggoth selbst geweckt«, keuchte er. »Seht!«
Der Nestorianer deutete nach oben.
Scharlachrotes Licht drang nun aus dem Stein. Die Augen des

Idols sprühten. Leuchtendrote Strahlen schossen aus dem
Bauch. Es schien, als habe sich die faulige Essenz des Bösen in
dem Idol gesammelt und quoll nun heraus.

»Yob-Haggoth, hilf!« schrillte Septegundus, und einen Au-

genblick war sein verzerrtes krabbelndes Gesicht in dem Höl-
lenlicht sichtbar. »Yob-Haggoth, sende deine Macht herab und
hilf deinem treuen Diener!«

In schaudernder Faszination starrte Brak hinauf zu den Strah-

len, die aus dem Spalt im Bauch der Statue heraus schossen.
Der Riß hatte sich erweitert.

Mit einem wilden Schrei, das Breitschwert erhoben, begann

Brak zu rennen. Wie halbreale Phantasmen versuchten die Wer-
fer, ihm den Weg zu verstellen. Brak schwang seine Klinge in

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mörderischem Bogen und mähte sie nieder. Eine Angst, so alt
wie die Menschheit, sagte ihm, daß die Welt nun in Donner und
Blitz unterging. Wenn das so war und es für niemanden mehr
eine Rettung gab, hatte er auch nichts mehr zu verlieren.

Wie ein Besessener kämpfte er. Sein Breitschwert sang ein

mörderisches Lied. Ein paar der geschmolzenen Kristalltropfen
aus den Fingerspitzen der Werfer versengten seine Haut, aber
er ignorierte es. Schon bald wichen die noch übriggebliebenen
magischen Kreaturen vor ihm zurück.

Mit schleimverschmierter Klinge erreichte Brak die über-

kreuzten Schenkel des Idols. Eine Hand krallte sich im Stein
fest, die andere schleuderte das Schwert hinauf, ehe er sich
schließlich mit beiden Händen emporzog. Seine wilde Wut ver-
lieh ihm neue Kraft. Er packte das Schwert und taumelte wei-
ter, um zu tun, was zu tun war.

Das Chaos aus Rauch, Blitz und Donner wuchs mit jedem

Herzschlag und quälte Augen und Ohren und Nase. Es war
kaum noch erträglich. Unten auf der Plattform rief Septegundus
ohne Unterlaß Yob-Haggoth heulend um Hilfe an. Über Brak
flackerte das höllische Glühen des Idols, und grelles Leuchten
schoß immer wieder aus den Augen und dem Spalt im Bauch.

Plötzlich fiel wieder Zauberregen auf Brak herab. Diesmal

waren es Hunderte von Spinnen. Manche waren dick und gelb.
Aus ihren Beinspitzen quollen Gifttropfen. Andere waren klein
und gefleckt. Schaudernd riß sich Brak drei, sechs, dann eine
ganze Handvoll von seinen Armen und seinem nackten Ober-
körper und zerstampfte andere unter seinen Füßen, während er
durch die ekelerregende Masse zerdrückter Leiber weiterstapf-
te.

Er taumelte gegen den Granitbauch des Idols und zuckte mit

einem Schrei zurück. Der Stein war kochend heiß. Er hatte sei-
ne Festigkeit verloren und war zu einem lebenden Höllengewe-
be geworden.

Brak war überzeugt, daß Fieberträume ihn erfaßt hatten. Er

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blickte zu dem gräßlichen Antlitz des Idols empor. Der Kopf
neigte sich ein wenig.

Die gekreuzten Schenkel, auf denen Brak mit gespreizten

Beinen mühsam stand, begannen eine schreckliche Hitze aus-
zuströmen. Glühende Strahlen flammten aus Yob-Haggoths
Augen und quollen aus dem gespaltenen Bauch.

Der Kopf neigte sich weiter, und nun blickte der Gott zu ihm

herab. Schreckerfüllt und überzeugt, daß ihm nur noch wenige
Augenblicke zu leben blieben, stieß Brak das mächtige Breit-
schwert in den feuerspeienden Spalt.

Windstöße von unvorstellbarer Heftigkeit fegten über ihn,

drohten, ihn in die Tiefe zu schmettern. Der wirbelnde Rauch
wurde noch dunkler. Ein Gestank wie aus einer Gruft, in der
Tausende von Leichen verwesten, quoll aus dem Spalt.

Das Leuchten im Innern des Idols begann zu verblassen. Ein

Donnerknall überlagerte den nächsten. Braks Sicht wurde im-
mer schwächer. Der Wind zerrte an ihm. Verzweifelt stemmte
er sich dagegen.

Finsternis senkte sich über die Welt. Die Statue Yob-

Haggoths wandelte sich aus dem lebenden flackernden Licht-
gewebe zurück in grünüberzogenen Stein. Aus dem Herzen des
Idols klang ein titanisches Mahlen.

»Du menschlicher Unrat!«
Brak wandte vorsichtig den Kopf. Sein Mund öffnete sich vor

Grauen. Septegundus kroch über den Rand der Steinschenkel.
Die menschlichen Leiber in dem abstoßenden Fleisch wanden
sich in Höllenqualen. Seine lidlosen Augen starrten aus dem
krabbelnden Gesicht wie dunkle Laternen. In seiner Rechten
hielt der Amyr den Bronzedolch mit Yob-Haggoths abgebilde-
ten Kopf als Griff.

Brak spürte seine Beine schwach und zittrig werden. Er ver-

suchte, sie fester gegen den abkühlenden Stein des bebenden
Idols zu stemmen. Septegundus, das fleischgewordene Böse,
richtete sich auf und fixierte Brak mitleidslos. Dann nahm er

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die Hand von der Klinge.

Brak starrte ungläubig und furchterfüllt auf den Dolch, der

leicht schwankend, aber frei im tobenden Wind hing. Die mit
krabbelndem Fleisch überzogenen Hände des Amyrs schrieben
mystische Zeichen in die Luft. Seine blutigen Lippen, die er
sich vor rasender Wut durchgebissen hatte, formten Silben, die
Brak nicht verstand.

Der Barbar wußte, daß er etwas tun mußte, fliehen, versuchen

zu entkommen. Aber der Sturm rüttelte ihn, und das Entsetzen
ließ ihn keinen klaren Gedanken mehr fassen. Sein rechtes Bein
zuckte und gab nach.

Der vor Septegundus schwebende Dolch begann kirschrot zu

glühen. Langsam, unendlich langsam flog er geradewegs auf
Braks Brust zu.

Der Barbar hatte keine Kraft mehr. Sein Verstand war wie ge-

lähmt. Immer näher kam die teuflische Klinge. Plötzlich, ohne
zu denken, zuckte seine Rechte hoch und umklammerte die
Kugel an dem silbernen Kettchen.

»Ariane!« schrie er durch die tobenden Elemente.
Ein flimmernder Silberschleier erschien zwischen ihm und

dem Dolch. Ariane nahm vor seinen Augen Gestalt an.

Ihre Augen leuchteten triumphierend. Ihre roten Lippen nä-

herten sich seinen, um in einem zärtlichen Kuß seine Seele auf-
zusaugen. Ihre Finger legten sich sanft auf seine Schultern. Der
Wind zerzauste ihr Haar und ließ es wie eine schwarze Gloriole
um ihren Kopf flattern. Immer näher kamen ihre Lippen und
flüsterten liebkosende Worte.

»Tochter!« brüllte Septegundus. Aber es war zu spät. Arianes

Finger verkrampften sich, ihre Fingernägel krallten sich in sein
Fleisch, als ihr Rücken sich jäh krümmte. Ihre wunderschönen
Augen trafen Braks in ihrer Qual. Dann wurden sie glasig.

Brak stieß einen schrillen Schrei aus und sprang zurück in

den wirbelnden Rauch unterhalb des wankenden Idols. Als er
fiel, sah er auch Ariane fallen. Der Dolch ihres Vaters drehte

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sich noch in ihrem Rücken und bohrte sich immer tiefer in ihr
bereits lebloses Fleisch.

Septegundus kniete neben ihr. Über ihm öffnete sich ein ge-

waltiger Riß in Yob-Haggoths Steinschädel. Er wurde tiefer.
Mit unvorstellbarer Geschwindigkeit spaltete sich das Idol.

Septegundus riß seine Tochter in die Arme und drückte sie an

seine Brust. Dann wandte er den Kopf und stierte haßerfüllt
Brak an, der unendlich langsam fiel.

Plötzlich schlug Brak auf der Plattform auf und begann zu

rollen. Rauch nahm ihm die Sicht. Gewaltige Trümmer lösten
sich von der Statue und polterten in die Tiefe, als ein neues
Feuerwerk der roten Blitze ausbrach. Yob-Haggoth neigte sich.

Brak fand keinen Halt.
Immer schneller rollte er abwärts über rauhe Steine. Schmerz

raubte ihm den Verstand. Aber klar und deutlich hörte er die
Stimme des Amyrs, als befände er sich an seiner Seite.

»Der Weg ist lang nach Khurdisan, Barbar. Irgendwo warte

ich auf dich!«

Weiter rollte Brak nach unten, über spitze Steine, die er nicht

sehen konnte. Die furchtbare Drohung hallte in seinem Schädel
wider.

Irgendwo warte ich auf dich! IRGENDWO WARTE ICH AUF

DICH! IRGENDWO

Ein kaltes, bohrendes Schweigen hüllte ihn ein, dröhnte in

seinen Ohren wie das Echo des Nichts, einer leeren, zerstörten
Welt.

Dann war alles zu Ende.

*


Tyresias und Bruder Jerome hatten überlebt.
In dem Chaos, der Braks Angriff auf Septegundus folgte, war

es ihnen gelungen, von der Plattform zu fliehen. Nun zogen sie
den bewußtlosen Barbaren über die Trümmer des zusammenge-

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stürzten Idols in die Sicherheit eines überdachten Felsspalts.

Der Nestorianer strich Salbe aus einem Beutel, der von seiner

Mitte hing, auf die Schlimmsten von Braks Wunden. Die Sonne
stand bereits hoch am Himmel, als Brak erwachte. Sein Körper
war ein einziger Schmerz. Ohne mehr als seine Augen zu be-
wegen, blieb er liegen. Tyresias saß mit ausgestreckten Beinen,
den Rücken an den Fels gelehnt, neben ihm und summte eine
noch holprige Weise vor sich hin. Bruder Jerome kniete den
ganze Nachmittag mit gefalteten Händen und gesenktem Kopf
und betete zu seinem Namenlosen Gott.

Bei Sonnenuntergang fühlte Brak sich stark genug, zu der

eingefallenen Statue zu taumeln.

Aus vereinzelten Trümmerhaufen ragten zermalmte Körper-

teile der Werfer. Hier blickte ein kaltes graues Steinauge des
gefallenen Idols zu den ersten Sternen empor. Dort ragte die
zerschmetterte Faust Yob-Haggoths machtlos aus verstreuten
Steinbrocken hervor. Immer noch halb im Fieber, blickte Brak
sich um. Seine Augen blieben auf stumpfem Metall hängen.

Einen heiseren Schrei ausstoßend, fiel er auf die Knie. Er

kämpfte gegen seine Schwäche an und zerrte mühsam sein
Breitschwert unter den Gesteinsbrocken hervor. War es ein
Omen? Die Klinge wies einige Scharten auf, aber davon abge-
sehen, war die Waffe völlig heil.

Brak wollte nicht denken, sich nicht erinnern müssen. Sich

auf das Schwert stützend, torkelte er zu dem breiten Felsspalt
zurück. Bruder Jerome hatte inzwischen trockene Äste von na-
hen Büschen gesammelt, und Tyresias entfachte gerade ein
Feuer.

Brak ließ sich neben ihm auf den Boden fallen. Er umklam-

merte das Schwert fest wie ein Talisman.

»Wo sind sie?« Seine Stimme war so heiser, daß der Mönch

und der Sänger ihn kaum verstanden.

Müde blickte Jerome ihn an.
»Wer? Septegundus?«

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»Ja.«
»Fort.«
»Tot?«
»Nicht tot, Nur fort für eine Weile. Zurückgezogen. Versteckt

in jenem Universum von Finsternis, das Yob-Haggoth hervor-
brachte. Eine andere Welt, glaube ich. Unsere Augen vermögen
sie nicht zu sehen, und doch ist sie für jene, die der Dunkle Gott
zu sich holt, nur ein Augenzwinkern entfernt. Ihr zerstörtet le-
diglich die sterbliche Hülle des Amyrs und seiner Tochter,
Brak. Sie zu töten ist unmöglich.«

Schwermütig starrte der Barbar hinauf zu den Sternen. Er

drehte den Kopf, bis er die samtige, juwelenbesteckte Schwärze
des südlichen Himmels zu sehen vermochte. Weiß und lockend
funkelten die fernen Sterne.

»Er sagte, daß er irgendwo auf dem Weg nach Khurdisan auf

mich warten wird«, murmelte Brak.

Der Nestorianer nickte.
»Dann wird er es auch. Und seine Tochter ebenfalls. Noch nie

widerfuhr ihnen dergleichen von einem Sterblichen.«

Er erhob sich langsam und legte seine Hand auf die Schulter

des Barbaren.

»Kehrt um, Freund Brak. Hört auf meinen wohlgemeinten

Rat.«

»Ich habe nichts und niemanden, zu dem ich zurückkehren

könnte, Bruder Jerome. Unsere Wege trennen sich hier. Ich
ziehe nach dem Süden, bis ich ein Pferd kaufen oder stehlen
kann. Dann reite ich.«

Irgendwo warte ich auf dich! echote es in Braks Kopf und er-

füllte ihn mit Angst. Irgendwo warte ich auf dich! Nein, es war
keine leere Drohung.

Das Sternenlicht warf gnädig seinen milden Schein über die

Ruinen des Heiligtums. Braks Augen schweiften kurz darüber,
dann wandte er sich schaudernd ab.

»Ich muß weg von diesem Ort. Weit fort. Eine Nacht hier war

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mehr als genug.«

»Und doch wollt Ihr Euren Weg unbeirrt fortsetzen«, mur-

melte Jerome. Er tastete nach seinem Gürtel und zog ein kleines
Nestoriamus-Kreuz hervor, das er sich aus zusammengebunde-
nen Zweigen gemacht hatte.

»Ihr gehört nicht in diese finstere Welt, Barbar. Ihr gehört in

eine einfachere, wo die Menschen einander nicht belügen und
betrügen oder sich mit dem Teufel abgeben. Wenn Ihr nicht
gewillt seid, in Eure Heimat zurückzukehren, so nehmt dies. Es
soll Euch Schutz sein.«

Fast verlangend blickte Brak auf das Kreuz aus Zweigen.

Dann schüttelte er den Kopf.

»Ich bin kein Kind Eures Gottes, Bruder Jerome. Ich darf es

nicht nehmen.«

»Ihr seid sein Kind, nur wißt Ihr es nicht.«
»Was ändert es, wenn es mir nicht bewußt ist.«
Ungeduldig hob Brak sein Schwert zum Gruß, denn das Ge-

spräch nahm eine Wendung, die ihn verwirrte und befangen
machte.

»Ich grüße Euch, Nestorianer. Und Euch, Sänger«, rief er ü-

ber das Feuer.

Blauädrige Hände hielten ein Messer und lösten das Fell des

mageren Tieres. Tyresias hörte Brak nicht. Er schien einer an-
genehmen Vision nachzuhängen.

»Ich glaube, er brütet über einem neuen Lied. Den ganzen

Tag ist er schon daran, seit wir wissen, daß wir Eurem Mut un-
ser Leben zu verdanken haben. Ein paarmal habe ich ihn bereits
Euren Namen singen hören. Seine Stimme klang fester und,
klarer als zuvor. Vielleicht werdet Ihr eines Tages auf Eurer
langen Reise jemanden das Lied singen hören, das er über Euch
ersinnt.«

Jerome blickte ihn lange an, dann fügte er hinzu. »Ihr habt

das Zeug, aus dem Legenden entstehen. Ihr und Euer Schwert.«

Verlegen zuckte Brak die mächtigen Schultern und schüttelte

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den Kopf, daß der gelbe Zopf auf seinem Rücken hüpfte. Dann
drehte er sich auf seinen nackten Sohlen und zog hinaus in die
purpurne Dunkelheit der Tundra!































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Geister im Stein


Der Ort, wo nachts ein Klagen tönt,

und sich des müden Wand’rers Blick

in hohen, mächt’gen Säulen fängt,

wo einst ein höllisches Geschick

Verdammnis bracht’ wie nie zuvor –

ist Chambalor.

Der Wand’rer hält vor Grauen an,

denn überall im kalten Stein,

da blicken ihn Gesichter an –

zu Tausenden erstarrt in Pein!

Der Wand’rer flieht wie nie zuvor –

aus Chambalor.

Rhodymandias, IV. Gesang



Als der breitschultrige Barbar die Augen öffnete, glaubte er

einen Augenblick, er habe den Verstand verloren.

Der Wind heulte, und die rote Sonne brannte ihm heiß ins

Gesicht. Erst da entsann er sich. Es lag nicht an seinem
Verstand, sondern am Wind und am Sand.

Wie lange befand er sich schon hier? Einen Tag? Oder eine

Ewigkeit? Langsam kehrte die Erinnerung vollständig zurück.

Nicht umsonst hatte man ihn in der Oase, wo die Karawanen-

straßen kreuzten, gewarnt, daß der kürzeste Weg nach Khurdi-
san nicht auch der sicherste war.

Der wenig benutzte direkte Karawanenpfad würde ihn durch

die rote Sandwüste führen, wo der Odem der Götter häufig
Himmel und Erde hinter wirbelnden, undurchdringlichen
Sandwolken verbarg.

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Trotzdem hatte Brak diesen Weg gewählt. Und dann war der

Sturm aufgekommen. Ein gewaltiger Sandsturm, etwas, das für
den Barbaren aus dem hohen Norden völlig fremd war. Er ver-
lor die Orientierung. Nun hatte der Sturm sich gelegt, und nur
noch der hier nie ruhende Wind pfiff um sein Gesicht. Er ent-
sann sich, vor Erschöpfung eingeschlafen zu sein, als der heiße
Sturmwind schwächer zu werden begonnen hatte. Er durfte den
Göttern danken, daß er noch lebte.

Brak blinzelte. Die glühende Sonne ging am westlichen Hori-

zont unter. Er tastete nach seinem Breitschwert. Es hing noch
von seinem Gürtel. Er rollte sich herum.

Wohin er auch blickte, erstreckten sich endlose unberührte

Sandebene und Dünen. Sein Pferd lag noch neben ihm, wo es
gefallen war, als es sein Bein brach. Der Sturm hatte es mit
Sand bedeckt, daß es wie eine groteske Skulptur aussah. Es hat-
te ihm sein Leben gerettet und ihm durch seinen sterbenden
Körper Schutz geboten, als der Sturm am heftigsten tobte. Sanft
strich er dem toten Tier über das sandige Fell.

Der Barbar setzte sich auf. Seine Zunge war ausgedörrt, aber

er hatte weder Wasser noch Proviant. Er wußte auch nicht, wo
er sich befand, außer, daß er sich irgendwo in der Mitte der rie-
sigen Wüste verirrt hatte. Allzugut erinnerte er sich der wohl-
gemeinten Warnungen in der Oase. Nur Nomaden, die hier ge-
boren waren und einen sechsten Sinn für diese Sandöde hatten,
durchquerten sie. Und selbst sie nur am Rand und nicht wie er,
mitten hindurch.

Früher einmal, hatten die Männer in der Oase ihm gesagt, war

diese Wüste fruchtbares Land gewesen. Aber nun lag ein böser
Zauber auf ihm.

Brak erhob und streckte sich, um die Müdigkeit aus seinen

schmerzenden Knochen zu schütteln.

»Hallo? Hallo?« rief er.
Hal-lo, hal-lo, echote die gewaltige Einsamkeit gespenstisch

zurück. Lo-lo-lo-lo.

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Brak stapfte zum Kamm der Düne. Bis zu den Knien versank

er im Sand. Noch einmal schrie er sein Hallo hinaus. Diesmal
echote der Ruf seltsam verzerrt. Einen Augenblick später sah
er, warum. Etwas unterbrach die Monotonie. Erstaunt riß er den
trockenen Mund auf.

»In der Oase hat man davon gesprochen«, murmelte er. »Und

ich hielt es nur für ein Gruselmärchen. Sie nannten sogar den
Namen. War es nicht Chambalor? Chambalor, die Stadt der
goldenen Wagen!« Der Barbar verzog das Gesicht. »Zumindest
ist es eine recht imposante Grabstätte.«

Nichts war von der einst so mächtigen Stadt geblieben als

zwei Säulenreihen, die sich in der Ferne verliefen. Alles andere
war von dem nun in der untergehenden Sonne blutrot beleuch-
teten Sand vergraben. Die Säulen jedoch waren sehr eindrucks-
voll. Sie mußten dereinst eine gewaltige Prunkstraße gesäumt
haben. Die beiden Reihen standen gut eine Meile auseinander.
Bei fünfzig Säulen in jeder Reihe hörte Brak zu zählen auf. Der
Rest war zu weit entfernt und schien, von hier aus gesehen, zu-
sammenzulaufen. Jede der Säulen war gut hundertmal so stark
wie ein Mann und fünfzigmal so hoch, schätzte er.

Sie schienen mit kunstvollen Skulpturen verziert zu sein, die

im Schein der letzten Sonnenstrahlen gespenstisch lebendig
wirkten. Mit Schaudern dachte Brak an die krabbelnde Haut
des Erzzauberers Septegundus’, an die diese Säulen ihn ir-
gendwie erinnerten.

Er nahm seinen ganzen Mut zusammen und beschloß, sich die

Ruinen Chambalors etwas näher anzusehen. Mit fliegendem
gelbem Zopf rutschte er die andere Seite der Düne hinab.

Der Sturm hatte offenbar einen blaugeäderten Basaltstein

freigelegt. Brak stieß im Vorübergehen mit dem Fuß dagegen.
Kaum hatte er zwei weitere Schritte getan, als ein entsetzlicher
Schmerz sein linkes Bein durchzuckte.

Wie gelähmt blieb er stehen und betrachtete es erstaunt. Ein

schwarzbehaarter Fühler hatte sich mehrmals um seine kräftige

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bronzefarbige Wade gewunden.

Noch während Braks Faust den Griff seines Breitschwerts

umklammerte, drehte er den Kopf. Was er als Basalt angesehen
hatte, war ein quallenartiges Ding, dessen bläuliches Adernnetz
sich vom Schwarz seiner Haut abhob. Das Geschöpf schob sich
aus dem Sand, in dem es offenbar seinen Schlaf gehalten hatte.

Durch die durchsichtigen Adern pulsierte eine milchigblaue

Flüssigkeit mit dunklen Klumpen. Zwei Säcke öffneten sich an
den Seiten der schwarzen Monstrosität. Große, pupillenlose
weiße Augen starrten ihn an. Weitere Fühler rollten sich unter
dem plumpen Leib auf und streckten sich aus. Einer davon
wand sich um Braks freien Arm. Der stechende Schmerz ver-
doppelte sich.

Der Sand wallte auf. Das grauenerregende Ding hob sich auf

dünne Spinnenbeine und wackelte auf Brak zu. Plötzlich klaffte
ein Maul auf, aus dem ein rhythmisches Klack-klack erklang.

Die Haare auf Braks Nacken stellten sich auf. Mit dem Breit-

schwert versuchte er, den Fühler um seinen linken Arm zu zer-
trennen. Aber die scharfe Klinge vermochte kaum etwas auszu-
richten. Das Klack-klack des Schlundes klang näher. Das eklige
Ding hatte gut zwei Dutzend Beine, auf denen es sich fortbe-
wegte, und mindestens doppelt so viele Fühler, die sich su-
chend in die Luft reckten.

Brak sägte an dem Tentakel um seinen Arm. Sein Herz häm-

merte heftig. Fester umklammerte er den Knauf seines
Schwerts und hob es über seinen Kopf. Dann ließ er es mit aller
Gewalt nach unten sausen. Es gelang ihm, den Fühler abzuha-
cken.

Der zertrennte Teil schnellte ihm ins Gesicht. Tropfen grüner

Flüssigkeit rannen klebrig über sein Kinn. Sie brannte schlim-
mer als glühendes Eisen. Der Schmerz war noch heftiger als je-
ner, den der um sein Bein gewickelte Fühler verursachte.

Das Klack-klack der häßlichen Kreatur erstarb. Die weißen

Augen färbten sich zu einem dunklen Beige. Plötzlich stieß sie

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einen wimmernden Schrei aus und schnellte sich die Düne em-
por. Für ihre gewaltige Größe bewegte sie sich überraschend
schnell. Brak sah noch, wie ihre Fühler medusenähnlich die
Luft peitschten, dann war sie schon auf der anderen Dünenseite
verschwunden.

Der Barbar hielt sein Breitschwert noch fest umklammert. Er

befürchtete, das Alptraumwesen würde umkehren. Er rieb sich
die Wange. Der Schmerz war kaum noch auszuhalten. Stöh-
nend ließ er sich auf die Knie fallen.

Er nahm eine Handvoll Sand und rieb damit über die bren-

nende Wange. Aber der Schmerz war nicht zu betäuben. Ein
Schwindel erfaßte ihn. War die Lebensflüssigkeit dieser Krea-
tur giftig? War sie bereits in seinem Blut? Die beiden Säulen-
reihen schwankten vor seinen Augen. Brak stieß einen fast un-
menschlichen Schmerzensschrei aus und fiel auf den Rücken.

Spasmisch zuckten seine Beine. Er wand sich hilflos vor im-

mer ärger werdendem Schmerz. Einmal bildete er sich ein, am
Kamm einer Düne die Umrisse von zwei langhalsigen Noma-
dendromedaren zu sehen. Und hörte er nicht die Glöckchen, die
um ihren Hals hingen?

Aber der Schmerz verwischte das Bild. Brak wälzte sich von

Seite zu Seite. Alles verschwamm um ihn, bis ihn schließlich
gnädige Dunkelheit umfing.

*


»Lurchschenkel, Krötenwarzen, Saphirpuder hmm, ja. Ich

habe genügend davon.«

»Es ist nicht recht, Vater, daß Ihr seine Lage nutzen wollt.

Mit ihm zu feilschen, wenn er vielleicht im Sterben liegt!«

»Ohne Zweifel, Tochter. Aber es wird noch bis zum Mittag

dauern, ehe es soweit ist. Die Lebensflüssigkeit des T’muk ist
zwar ein tödliches, aber ein sehr langsam wirkendes Gift. Ich
glaubte, die Karawanenführer hätten diese Untiere längst aus-

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gerottet. Doch hierher nach Chambalor wagt sich wohl keiner
von ihnen, so konnten die abscheulichen Kreaturen in den
Sanddünen überleben. Ich bin überzeugt, dieser Barbar hier
vermochte den T’muk nicht zu töten, und die Bestie treibt sich
noch in der Nähe herum. Und verwundet sind diese Tiere noch
viel gefährlicher.«

Ganz schwach vernahm Brak dieses Gespräch im pfeifenden

Wind und dem Prasseln eines Feuers. Er öffnete seine Augen
einen Spalt. Eine Art Lagerfeuer beleuchtete zwei Personen in
wallenden Umhängen. Beide waren klein. Eine ein älterer
Mann, die andere ein junges Mädchen.

Glöckchen bimmelten. Ein Dromedar schnaubte lautstark. Al-

so war doch nicht alles Halluzination gewesen.

Der Barbar unterdrückte ein Stöhnen und setzte sich mühsam

auf.

»Die Wunde am Kinn«, murmelte er, »brennt wie verrückt.«
Der Mann erhob sich und schritt um das Feuer herum. In sei-

ner knochigen Hand hielt er eine krummen Dolch. Sein Gesicht
unter der turbanartigen Kopfbedeckung schien nur aus Runzeln
zu bestehen. Seine Lippen waren nicht mehr als Striche, über
denen eine dicke Nase kauerte. Obwohl er unsagbar dürr war,
ging doch eine Aura von Kraft von ihm aus.

Er blieb ein paar Schritt von Brak entfernt stehen und muster-

te ihn abschätzend mit scharfen, grünen Augen.

»Der Schmerz wird noch ärger werden«, prophezeite er.

»Und er wird schließlich zum Tod führen wenn ich nicht ein
Gegenmittel auftrage. Ich bin ein sehr vielseitiger Mann, Frem-
der. Ich bin Heil- und Pflanzenkundiger und verstehe auch et-
was von Magie, aber nicht so viel wie vom Handeln und Feil-
schen.« Er kicherte. »Es wird mir eine Freude sein, das nötige
Mittel zuzubereiten und aufzutragen, vorausgesetzt, Ihr ver-
dingt mir Euren starken Arm und Euer Breitschwert für mein
Vorhaben.« Seine dürren Finger mit langen Nägeln deuteten
auf die gewaltigen Steinsäulen.

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»Wer seid Ihr?« fragte Brak. »Ein Banditenanführer?«
»Nein«, kicherte der Alte. »Aber ein kluger Händler. Zama

Khan ist mein Name.«

»Ich schäme mich für Euch«, murmelte die zweite Person am

Feuer.

Zama Khan wirbelte herum. »Ich habe nicht verlangt, daß du

auf diese Reise mitkommst, Dareet«, knurrte er. Dann wandte
er sich mit einem boshaften Lächeln wieder Brak zu. »Meine
Tochter leidet unter einer merkwürdigen Krankheit, Fremdling.
Sie hat Skrupel.«

Der Barbar hatte inzwischen sein Bewußtsein voll wiederer-

langt. Grimm stieg in ihm auf. Ehe er jedoch etwas sagen konn-
te, sprang Dareet vom Feuer auf und stellte sich mit funkelnden
Augen vor ihren Vater.

»Solange ich mich erinnere«, begann sie, »folgte ich Euch

von einem unehrenhaften Handel zum anderen, weil ich hoffte,
ich könnte Euren Sinn doch noch wandeln. Aber Ihr wurdet nur
noch hartherziger und habsüchtiger. Doch nun reicht es mir.
War es nicht genug, daß Ihr Schlafpulver in den Wein des
Kaufmanns in Vishnuzin gabt und dann mit diesen Tontafeln,
die Ihr ihm stahlt, aus der Stadt geflohen seid? Nun ist Eure
Gier nach Schätzen, die es gar nicht gibt, so arg geworden, daß
Ihr von einem Unschuldigen verlangt, Euch in Eurem Wahn-
sinn zu helfen, wenn er nicht sterben will.«

»Jene Silbertüren sind vom Alter verzogen«, brummte Zama

Khan. »Wir können sie nicht allein öffnen.«

»Also muß dieser arme Fremde, der vom Kuß des T’muk im

Todeskampf liegt, Euch helfen, damit Ihr ihm helft?«

»Ihr sprecht von vielen Dingen, die mir fremd sind«, knurrte

Brak. »Welche Art von Schatz sucht Ihr? Und was ist ein
T’muk?«

Zama Khan benetzte seine dünnen Lippen und kauerte sich

neben Brak in den Sand. Immer noch hielt er den Dolch um-
klammert.

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»T’muk ist der Name für die Sandqualle, die Euch angriff.

Ich wette, die Bestie, der Ihr die Tentakel abgeschlagen habt, ist
noch irgendwo in der Nähe. Das ist ein weiterer Grund, warum
wir von hier verschwinden sollten, ehe der Mond untergeht.«

Hinter dem Mann sah Brak das Gesicht des Mädchens Dareet

vom Dungfeuer beleuchtet. Es war ein schmales, unterernährtes
Gesicht. Sie hatte sanfte Rehaugen, tiefgebräunte Haut und wä-
re recht hübsch gewesen, wenn die Angst sich nicht in ihre Zü-
ge eingegraben hätte. Sie spürte das namenlose Böse in der
dunklen Wüstennacht. Etwas noch Böseres als das, was die
grünen grausamen Augen verbargen, die Brak beobachteten.
Was es wohl sein mochte, fragte sich der Barbar.

Brak unterdrückte seinen Grimm, um vielleicht doch noch

vernünftig mit diesem merkwürdigen Alten sprechen zu kön-
nen. »Als ich durch die Oase kam, hörte ich von dieser verwun-
schenen Stadt Chambalor«, erklärte er. »Was ist es, das Ihr hier
sucht?«

»Erst möchte ich wissen, was Euch hierherbrachte«, entgeg-

nete Zama Khan.

»Mein Name ist Brak. Ich komme von den hohen Steppen des

Nordens und reise nach Khurdisan im Süden.«

Zama Khan lachte abfällig.
»Ein Barbar! Der nichts von Magie hält! Doch das tut nichts

zur Sache, Brak. Ihr habt einen breiten Rücken, und Eure Mus-
keln sind nicht zu verachten. Eure Kraft sollte genügen, die Sil-
bertüren zur Schatzkammer zu öffnen.

Mit Hilfe der Tontafeln, die ich von einem Kaufmann in

Vishnuzin ah bekam, lese ich dann die Beschwörungsformel
ab. Dann werde ich über der Elfenbeintruhe, die in einem
Marmorblock eingelassen ist, den dafür vorgesehenen Zauber-
spruch sagen. Danach öffnet sich die Truhe, und ich kann die
darin enthaltenen Schätze in den Satteltaschen der Kamele da-
vontragen. Die Arbeit einer einzigen Nacht wird mich für ein
Leben der Armut und Katzbuckelei entschädigen.«

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»Nun sehe ich Euch zum ersten Mal im wahren Licht, Vater«,

sagte Dareet leise. »Ihr seid durch und durch schlecht. Es sitzt
zu tief in Euch.«

»Schweig!« brüllte Zama Khan. »Du machst mich krank,

auch wenn du von meinem Fleisch bist.«

»Und mir geht es mit Euch nicht besser, nun da ich Euch end-

lich sehe, wie Ihr wirklich seid!«

Braks Wange begann wieder heftig zu brennen. Der Schmerz

ließ ihn auf den Sand zurückfallen. »Ihr Ihr habt mich nicht be-
logen?« keuchte er mühsam. »Ihr vermögt wahrhaftig ein Mit-
tel zu mischen, das mir helfen kann?«

»Das fällt mir nicht schwer«, versicherte ihm Zama Khan.

»Doch dafür müßt Ihr meine Tochter und mich in die Ruinen
begleiten und uns die Türen öffnen helfen.«

Voll Abscheu vor ihrem Vater wandte Dareet sich um. Wilde

Wut stieg in Brak hoch. Seine Hand packte den Knauf des
Breitschwerts.

Aber Zama Khan war schneller. Der Dolch blitzte. Er sprang

überraschend schnell auf den Barbaren zu. Mit der breiten Flä-
che der Klinge drückte er so fest auf Braks Handgelenk, daß
dieser nicht imstande war, das Schwert aus der Scheide zu zie-
hen.

Trotz der gleichmäßigen weißen Zähne, strömte fauliger A-

tem aus Zama Khans Mund. »Wagt es, die Waffe gegen mich
zu heben«, warnte er, »und Ihr werdet keinen Sonnenuntergang
mehr erleben, Fremder, das verspreche ich Euch!«

Brak warf Dareet einen schnellen Blick zu. Sie nickte.
»Er spricht die Wahrheit, Brak. Selbst wenn es Euch gelingen

sollte, ihm den Beutel mit den Wundermitteln durch Gewalt
abzunehmen, so könntet Ihr doch die heilende Mischung nicht
selbst herstellen. Genausowenig wie ich.«

»Also gut«, knurrte der gelbhaarige Barbar. »Ich werde ver-

suchen, Euch die Silbertüren zu öffnen. Jetzt macht schon. Be-
reitet die Medizin und tragt sie auf.«

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Kichernd erhob sich Zama Khan und steckte seinen Dolch in

die Scheide zurück. »Aber selbstverständlich, Freund Brak. Ich
habe einen Vorteil über Euch, wißt Ihr? Ich bin überzeugt, daß
Ihr ein einmal gegebenes Versprechen auch haltet. Während
ich …« Zama Khan zuckte die Schultern. »Nun, Ihr werdet mir
eben vertrauen müssen.«

Er öffnete seinen Beutel, holte einen Mörser heraus und meh-

rere Zutaten, die er jedoch Brak nicht sehen ließ. Dann begann
er zu mischen. Schließlich trug er etwas breiartiges Gelbes auf
Braks Wange und Kinn auf und legte ein paar trockene Blätter
darüber.

»Haltet das«, befahl er. »Es wird sehr schnell wirken.«
Das zumindest stimmte. Schon nach ein paar Herzschlägen

ließ der Schmerz nach. Der Alte reichte Brak einen Leinenfet-
zen, mit dem er sich das Gesicht abwischen sollte. Während er
es tat, erkundigte der Barbar sich: »Glaubt Ihr denn wirklich,
daß es in Chambalor noch verborgene Schätze gibt, Alter?«

»Was wißt denn Ihr von Chambalor?« brummte Zama Khan

abfällig. »Habt Ihr Euch die Säulen schon näher angesehen?«

»So weit bin ich noch nicht gekommen«, erwiderte Brak.
»Dann seht sie Euch gut an, wenn wir sie erreichen. Denn auf

oder auch in diesen Säulen, in ewigen Qualen festgefroren und
für immer in Stein gebannt, sind die Prinzen und Kurtisanen
von Chambalor, welche die Stadt einst berüchtigt und gefürch-
tet machten.«

Fast träumerisch blickte der Alte auf die Obelisken, die der

Mond beleuchtete.

»Sie war ein Sündenpfuhl, diese Stadt. Ein Hort der Grau-

samkeiten und Ausschreitungen. Ein Mann, der es verstand, die
Macht an sich zu reißen, zog diese Menschen hinab in die tiefs-
ten Lüste des Lasters.«

»Der König?« fragte Brak.
»Nein, ein Zauberer. Er nannte sich Septegundus.«
Wie ist das möglich, dachte Brak. Chambalor, das liegt doch

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schon so lange zurück. Aber wie hatte Bruder Jerome gesagt?
Septegundus kennt keinen Tod. Er zieht nach Belieben durch
die Welt und bringt die Mächte der Finsternis, wohin immer er
auch geht.

»Dem König von Chambalor«, fuhr Zama Khan leiernd fort,

»wurden die Ausschreitungen zuviel. Er stach dem Zauberer
einen Dolch ins Herz. Aber kein Blut sprudelte aus der tödli-
chen Wunde, so zumindest behauptet es die Legende. Doch ein
schrecklicher Gestank und ein heftiger Rauch erhob sich von
der Stelle, wo er stand. Ehe Septegundus verschwand, verfluch-
te er die Stadt.

Ihre ganzen Schätze, unendliche Mengen von Smaragden aus

den reichen Minen außerhalb der Stadt, sammelte er durch ei-
nen Zauberspruch in einer elfenbeinernen Truhe hinter silber-
nen Türen. Und um sich an dem König zu rächen, ließ er alle
Bürger Chambalors erstarren, selbst seine treusten Anhänger.

Jeweils Tausende von ihnen bannte er in die gewaltigen Säu-

len, welche die Prunkstraße einsäumten. Das alles geschah im
Hauch eines Augenblicks.

Generationen später behauptete ein wandernder Bettler, er

nannte sich Juhad, er sei in seiner Jugend bei dem Meister Sep-
tegundus in der Lehre gewesen. Juhad trug Tontafeln bei sich,
die mit einem Griffel beschriftet waren. Nie trennte er sich von
ihnen. Auf diesen Tafeln war der Zauberspruch eingeritzt, der
die gequälten Seelen von Chambalor zu befreien vermochte
und auch die elfenbeinerne Schatztruhe öffnete.

Gegen viele Diebe mußte Juhad diese Tafeln verteidigen.

Doch eines Tages verschlang ihn ein Sandsturm, ähnlich jenem,
dem Ihr bald zum Opfer gefallen wärt, Barbar. Die Tafeln aber
wurden gefunden und wanderten im Laufe vieler Jahre von
Hand zu Hand. Keiner wagte, sie zu benutzen. Bis ich sie von
diesem Kaufmann in Vishnuzin borgte.«

»Das ist doch alles nur Fabel, Alter«, sagte Brak kopfschüt-

telnd.

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Mit angstverzerrtem Gesicht blickte Dareet ihn an.
»Nein, Fremdling, da täuscht Ihr Euch leider. Der Schatz

wurde nur deshalb noch nicht geplündert, weil, die Geschichte
wahr ist. Viele haben es schon versucht. Die schrecklichen
T’muk haben manche vertrieben, andere … nun, Chambalor ist
eben verwünscht.

Doch keiner war so raffsüchtig oder wahnsinnig genug wie

diese diese habgierige Seele hier, die einst mein Vater war …«

Mit einem Wutschrei schlug Zama Khan ihr ins Gesicht. Brak

sprang auf seine Beine und zog sein Breitschwert. Doch schon
hatte der Alte seinen krummen Dolch in der Hand.

»Ich täte es nicht!« drohte er. »Versprechen ist Versprechen!«
»Dann laßt uns aufbrechen«, knurrte Brak.
Er war fest davon überzeugt, daß der Alte den Verstand verlo-

ren hatte. Von Chambalors legendärem Reichtum konnte nichts
weiter als ein Traum geblieben sein, den Generation um Gene-
ration weitergeträumt hatte. Aber als Dareet zu weinen begann,
kamen Brak doch Zweifel. Er legte einen Arm um ihre Schul-
tern und versuchte sie zu beruhigen.

Der Alte lachte spöttisch und schritt zu einem der schnauben-

den Dromedare.

Zum erstenmal in seinem Leben hatte Brak den Wunsch, sein

Wort zu brechen. Am liebsten hätte er Zama Khan das Breit-
schwert in die Eingeweide gestoßen. Dareet war der einzige
Grund, der ihn zurückhielt.

Sie zitterte am ganzen Körper, als der Alte mit einem in

Lammfell verschnürten Bündel zurückkam.

»Das sind Juhads Tontafeln«, flüsterte er, während er sie vor-

sichtig auspackte.

Seine Lippen bebten vor Aufregung.
»Nun sollen sie uns ihren Wert beweisen. Nehmt Euer Breit-

schwert, Barbar, und das Mädchen, wenn sie zu gehen imstande
ist. Oder sie mag bleiben, wenn sie es vorzieht.«

»Nein!« rief Dareet ängstlich. »Der Fluch reicht bis hierher.

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Ich fürchte mich allein.«

*


Mit grauenverzerrtem Gesicht betrachtete Brak die gewalti-

gen Säulen. In ihrem ganzen immensen Umfang schmückten
Reliefs sie. Die Prinzen von Chambalor und ihre vollbusigen
Gespielinnen wirkten so echt, so lebendig, daß Brak das Gefühl
hatte, die Tausende von verdammten Augen beobachteten ihn.

Ihre prunkvollen Gewänder waren in jeder Einzelheit wieder-

gegeben. Und die Figuren selbst …

Der Magen wollte sich Brak schier umdrehen. Schnell wandte

er sich von der Säule ab, deren unterste Ruhe er betrachtet hat-
te. Dort schwangen Steinsoldaten Säuglinge an den Beinen und
schlugen ihnen die Schädel an Mauern ein. Mord, Plünderung,
Folterung, Wollust, alle Arten von Verderbtheit kein Laster,
keine Todsünde fehlte, als Septegundus’ Fluch sie in Stein
bannte. Obwohl Brak viel erlebt hatte, sah er hier doch so man-
che Grausamkeit, die ihm nicht einmal in seinen Alpträumen
untergekommen war.

Das Furchtbarste von allem war jedoch der Gesichtsausdruck

der versteinerten Figuren. Der Mond leuchtete auf viele der
Züge, während Brak hastig an den Säulen vorbeischritt. Sie alle
sahen aus, als litten sie entsetzliche Qualen.

Er hatte gequälte Gesichter wie diese einmal zuvor gesehen

auf der krabbelnden Haut Septegundus’.

»Dort!« rief Zama Khan und rannte voraus. Brak hatte bereits

fünfundfünfzig Säulen auf der Seite links von ihm gezählt. Er
sah zumindest noch ein Dutzend mehr. »Die letzte auf dieser
Seite, das ist der Schatzturm!« brüllte der Alte zurück. »Die
Kammer liegt unter der Erde.«

Plötzlich blieb Brak stehen. Dareet umklammerte seinen Arm.
»Was hört Ihr, Barbar?«
»Sicher nur Einbildung«, brummte er. Er blickte zurück auf

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die im silbernen Mondlicht gebadete Düne, von der sie ge-
kommen waren. Hatte der Wind wirklich ein Klack-klack von
dorther getragen?

Als sie die letzte Säule links erreichten, sah Brak eine dunkle

Öffnung im Fundament. Zama Khan wartete davor, sein Bündel
fest an sich gepreßt. Wo die Tontafeln aus dem Lammfell her-
ausragten, wirkten sie stumpf grau. Uralte, eingeritzte Zeichen
bedeckten sie. Mit einem Mal begann Brak zu glauben …

Zama Khan war auf seine Art verrückt. Aber die Geschichte

des verwünschten Chambalor mochte wahr sein. Nein, das war
unmöglich! Aber warum hatte er dann dieses schreckliche Ge-
fühl, daß unter der steinernen Oberfläche jenes Abschaums der
Menschheit in Reliefform ein gefangenes Leben sich in Seelen-
qualen wand und auf Erlösung hoffte?

»Es sind Fackeln an der Wand«, flüsterte Zama Khan. »Ich

werde eine anzünden.«

Fäulnisgestank hing in der Luft, und dichte Staubschichten

wirbelten auf, als sie eine Wendeltreppe nach unten eilten. Sie
führte in eine weite, gepflasterte, kreisrunde Halle. Direkt ge-
genüber erhoben sich gewaltige Silbertüren, die stellenweise
mit grünblauem Moder bedeckt waren.

»Der rechte Flügel gibt ein wenig nach«, rief Zama Khan lei-

se, aber aufgeregt. »Der linke überhaupt nicht.«

»Spürt Ihr denn nicht, daß es unrecht ist?« Dareet zitterte.

»Und viel zu gefährlich. Vater«, sie zerrte am Arm des Alten.

»Warum glaubt Ihr, war noch niemand vor uns hier? Weil sie

wußten …«

»Nichts wird mich mehr aufhalten!« brüllte Zama Khan und

schlug dem Mädchen die Hand ins Gesicht. Schluchzend stürz-
te Dareet zu Boden.

Brak zog grimmig die Brauen zusammen. Der Alte benetzte

seine Lippen. »Vergeßt Euer Wort nicht«, warnte er. »Ihr
verspracht, die Türen zu öffnen.«

Wortlos wandte Brak sich um und preßte mit der Schulter ge-

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gen den rechten Flügel. Ein Ächzen erklang, doch sie bewegte
sich so gut wie gar nicht.

Er stemmte sich mit den Händen gegen die Tür und drückte

mit aller Kraft. Die Muskeln seiner mächtigen Schultern und
Arme quollen hervor. Schweiß näßte seine Hände. Er mußte in-
nehalten und sie sich an seinen Löwenfellbeinkleidern abwi-
schen. Er drückte noch heftiger. Dick hoben sich seine Bauch-
muskeln hervor. Seine Sehnen spannten sich. Ein Spalt öffnete
sich. Drei Handbreit, vier …

»Noch ein wenig!« schrie Zama Khan und stellte sich mit der

Fackel dicht hinter den Barbaren. »Ein bißchen noch, und Ihr
habt Euer Versprechen eingelöst.«

Brak warf sich nun mit seinem ganzen Gewicht gegen die

Tür. Mit einem rostigen Quietschen gab sie nach. Gleichzeitig
schrie Dareet gellend auf.

»Brak!«
Sein gelber Zopf schwang durch die Luft, als der Barbar her-

umwirbelte. Zama Khan hatte die Fackel in einen rostigen Hal-
ter an der Wand gesteckt. Den krummen Dolch erhoben, sprang
er auf Brak zu.

»Ich habe mein Wort gehalten«, brabbelte er. »Doch ich wer-

de der einzige sein, der durch die Tür zur elfenbeinernen Tru-
he …«

Die Klinge des Breitschwerts in Braks beiden Händen schnitt

Zama Khans Worte ab und die Hälfte seines Kopfes ebenfalls.

Einen kurzen Moment hielt der Körper sich noch aufrecht.

Der triumphierende Blick erlosch, während der Schädel halb
durchschnitten zur Seite sank und eine Fontäne von Blut aus
dem Hals emporspritzte. Zama Khans Hände öffneten sich.
Dolch und Tontafeln polterten zu Boden.

Als die Tafeln in hundert Stücke zerschellten, grollte ein oh-

renbetäubender Donnerschlag. Ein unerträglich grelles Licht
blendete sie. Brak wurde gegen die Wand geschleudert. Dareet
schrie schrill. Der weißglühende Schein hinter der halboffenen

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Tür kam von einer elfenbeinernen Truhe, die in einen Marmor-
block eingelassen war.

Eine gleißende grüne Wolke schoß aus dem Block empor. Sie

löste sich auf, und ein Hagel von funkelnden Smaragden fiel
herab. Die Wände begannen zu schwanken. Brak hastete
schreckerfüllt durch die runde Vorhalle. Die Luft wurde dunk-
ler, schien zu wirbeln.

Von irgendwoher schrillte eine Kakophonie von Tausenden

und aber Tausenden heulender verdammter Seelen.

»Die Säule bricht zusammen!« schrie Brak und zerrte Dareet

die Treppe hoch. »Die zerschmetterten Tontafeln brachen den
Fluch. Doch nicht nur das, denn …«

Milchweiße runde Augen starrten Brak vom oberen Ende der

Treppe entgegen. Blaue Flüssigkeit pulsierte in den durchsich-
tigen Adern des Quallenkörpers. Ein Klack-klack drang aus
dem Maul des T’muk. Zwei seiner Fühler hingen halbiert und
schlaff von seinem Körper. Auf ihren Spinnenbeinen schnellte
die gräßliche Bestie sich die Stufen herunter, ihrem Feind ent-
gegen.

»Zurück, Mädchen!« brüllte Brak. »Versteckt Euch!«
Brak hob das Breitschwert über seinen Kopf und wartete auf

das aufgedunsene Monstrum. Nackte Angst lähmte ihn halb.
Wenn er den T’muk wieder verwundete, würde erneut dessen
Lebensflüssigkeit spritzen. Diesmal konnte kein Zama Khan
ihn retten. Und er war der einzige gewesen, der das Heilmittel
zu mischen verstanden hatte.

Klack-klack. Immer näher kam die scheußliche, tödliche Bes-

tie. Brak zog sich vorsichtig, am ganzen Körper vor Erschöp-
fung und Hilflosigkeit zitternd, eine Stufe zurück. Dann noch
eine und noch eine.

Wenn er starb, würde auch das Mädchen sterben.
Er war nun wieder am Fuß der Treppe angekommen. Das

Fundament der Säule schwankte. Die schreckliche Kakophonie
klang nun noch durchdringender. Sie kam von über dem Erd-

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boden.

Es gab nur einen möglichen Ausweg. Einen einzigen. Brak

hatte keine Wahl.

Er umfaßte das Breitschwert an der scharfen Klinge. Sie

schnitt an beiden Seiten in seine Hand ein, daß das Blut floß.
Aber wenn er sie nicht fest genug hielt, bekäme er nicht den
notwendigen Schwung.

Er zog seinen rechten Arm zurück und schleuderte das

Schwert wie einen Speer. Die Klinge drang bis zum Knauf in
das rechte Auge des T’muk.

Klack-klack. Klack-klack. Das Maul öffnete und schloß sich

konvulsivisch. Die haarigen Fühler zuckten. Brak stolperte zu
Dareet und warf sich über sie, um sie im Notfall vor dem sprit-
zenden Lebenssaft des Ungeheuers zu schützen.

Doch noch sprühte kein Tropfen aus dem vom Schwertgriff

verborgenen Auge, dafür träufelte um so mehr Blut aus seiner
eigenen zerschnittenen Rechten auf das Mädchen. Mit um sich
schlagenden Fühlern und zuckenden Spinnenbeinen starb der
T’muk auf den Stufen.

»Wir müssen über ihn hinwegklettern«, drängte Brak mit

leicht bebender Stimme. »Es ist nicht gefährlich. Höchstens aus
seinem Auge könnte etwas von der tödlichen Flüssigkeit trop-
fen.«

Als sie die Stufen hinaufstiegen, schlug ihnen der betäubende

Gestank der toten Kreatur entgegen. Dareet stieß einen halber-
stickten Schrei aus und fiel schlaff zusammen. Brak hob sie ü-
ber seine Schulter. Er konzentrierte sich voll auf das bevorste-
hende Unterfangen. Er setzte seinen Fuß auf den Rücken des
verendeten Quallentiers und zog sich mit der Linken an den
Fühlern empor.

Einmal glitt er aus.
Mit zusammengebissenen Lippen klammerte er sich an den

Fühlern fest. Sein Fuß war nur ein paar Fingerbreit von der aus
dem Auge sickernden Flüssigkeit entfernt.

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Ganz langsam, doch mit aller Kraft, die noch in ihm steckte,

zog er das Bein hoch und kletterte weiter. Sein Breitschwert
ließ er in dem Kadaver stecken.

Ein schrecklicher Sturm herrschte draußen. Gewaltige dunkle

Sandwolken stoben durch die Nacht, peitschten in sein Gesicht,
gegen seinen nackten Oberkörper. Mit der noch bewußtlosen
Dareet über der Schulter kämpfte Brak sich vorwärts. Der
Sturm prallte so stark gegen ihn, daß er sich nur gebückt und
mit aller Mühe Schritt um Schritt vorarbeiten konnte. Irgendwie
wußte er, daß die jetzt tobenden Elemente nichts mit dem
Sandsturm gemein hatten, der ihm sein Pferd gekostet hatte.
Der Wind wirbelte fast greifbar um die gewaltigen Säulen. Im-
mer heftiger, immer schneller. Dann hob er sich gen Himmel
mit Wolken von sich windenden Phantomen in menschlicher
Gestalt. Ein erbärmliches Heulen und Winseln und Stöhnen
ging von diesen Wolken aus.

Brak versuchte, seine Ohren gegen diese unerträglichen Töne

zu verschließen. Blindlings taumelte er bis zum Ende der ehe-
maligen Prachtstraße. Dort verließ ihn die letzte Kraft. Mit Da-
reet in den Armen ließ er sich zu Boden sinken.

Im Morgengrauen kehrte Brak zu der Schatzsäule zurück, um

Zama Khans Leiche und sein Breitschwert zu holen. Er warf
einen kurzen Blick in die Kammer, wo sich die Elfenbeintruhe
befunden hatte. Doch nur vereinzelte Splitter fanden sich von
ihr zwischen dem grünen Smaragdstaub. Der unermeßliche
Schatz war zerfallen und wertlos.

Zurück in ihrem dürftigen Lager half Dareet ihren Vater be-

graben. Da er an keine Götter gebunden war, dachte Brak an
Bruder Jeromes Namenlosen Gott. Aus verdorrten Wurzeln
band er ein nestorianisches Kreuz zusammen und steckte es in
den Sandhügel. Vielleicht würde es der Seele des Toten helfen.

Dareet schaute ihm mit hängendem Kopf zu. Brak wischte

sich über die Lippen. Ein Schuldbewußtsein quälte ihn.

»Mein Schwert tötete ihn«, murmelte er schwer. »Es es tut

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mir leid.«

»Es ist mir einerlei«, erwiderte das Mädchen tonlos. »Ich will

weg von hier.«

»Die Dromedare werden uns tragen.«
Immer noch drückte das Schuldbewußtsein Brak nieder.
»Mädchen, ich hatte keine andere Wahl. Ich mußte ihn tö-

ten.«

»Es berührt mich nicht mehr«, sagte sie. »Er war von Grund

auf schlecht. Die Habsucht, die ihn hierher trieb, wo kein ver-
nünftiger Mensch sich gewagt hatte, machte ihn mir schon
längst zum Fremden. Er war nicht mehr mein Vater.«

Aber trotz ihrer Worte begann sie zu weinen, und bald schüt-

telte heftiges Schluchzen sie.

Tröstend legte Brak seinen Arm um ihre Schultern.
»Mädchen, ich habe darüber nachgedacht. Euer Vater kam

hierher, um zu plündern. Doch dadurch, daß die Tontafeln zer-
brachen, wurden Tausende von gequälten Seelen erlöst, die der
Fluch des Zauberers in Stein gebannt hatte. Auch wenn er es
nie beabsichtigte, so hat er durch ihre Befreiung doch ein gutes
Werk getan. Und das ist etwas, wofür Ihr ihn ehren könnt. Jeder
Mensch muß etwas haben, woran man sich in Ehren erinnern
kann.«

Der Wind pfiff über den Grabhügel.
»Dareet, hört Ihr? Ich spreche die Wahrheit. Ihr könnt es se-

hen! So schaut doch! Schaut!«

Sie hob den Kopf, und ihr Blick folgte seinem ausgestreckten

Arm. Die gewaltigen Säulen von Chambalor, auf die die glü-
hende Wüstensonne herabbrannte, waren nun ringsum glatt.
Keine lebensechten Reliefs schmückten sie mehr.

Keine Steinfiguren hoben sich davon ab.
Langsam begannen Dareets Augen sich mit Tränen der

Dankbarkeit zu füllen.

»Ja, ich sehe es«, flüsterte sie. »Er erlöste sie. So hat er we-

nigstens im Tod ein gutes Werk vollbracht.«

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Noch ehe die Sonne im Zenit stand, waren Brak und das

Mädchen mit den Dromedaren am Horizont verschwunden.





































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Das Schiff der Seelen


Aus dem Norden ritt ein blonder Barbar,

aus dem Norden, das Schwert in der Hand.

Aus dem Norden ritt Brak, der Barbar,

auf der Suche nach einem gar fernen Land.

Er ritt nach den Landen der Sonne

und träumte einen lockenden Traum.

Des Barbaren Ziel, des Barbaren Wonne
war Khurdisan, der Welt gold’ner Saum.

Es gab manch schmerzlichen Schlag,

manch Kampf ließ den Schwertarm ermüden.

Doch Sehnsucht trieb Brak

die endlose Straße nach Süden.

Tyresias: Das Lied von Brak



Am unteren Lauf machte das trockene Flußbett, dem der

hochgewachsene und breitschultrige Barbar folgte, eine Bie-
gung um einen Obsidianfelsen. Von dort war der in Todesnot
ausgestoßene Schrei gekommen.

Brak hatte am Rande der Uferböschung gesessen, während

sein Pferd graste. Jetzt sprang er hoch. Sein ohnehin straffer
Bauch zog sich noch mehr zusammen, als der schreckliche
Schrei aufs neue ertönte, unmittelbar gefolgt von einem un-
heimlichen Geräusch. Es hörte sich an wie das langsame Scha-
ben von schwielenüberzogenen Kriegerhänden, die über rauhen
Fels strichen. Doch damit endete die Ähnlichkeit. Das schaben-
de Geräusch war so laut, daß der Krieger Hände von Braks
ganzer stattlicher Größe hätte haben müssen.

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Schaben und Schleifen. Das war das Geräusch, das sich mit

unheimlicher Eindringlichkeit wiederholte.

Brak zögerte. Er hielt nichts davon, sich in Angelegenheiten

zu mischen, die ihn nichts angingen. Doch da folgte ein
schreckliches Stöhnen, das ohne Zweifel von einem Menschen
stammte. Und bald danach kam wieder das Schaben und
Schleifen. Offenbar drang das Stöhnen aus der Kehle des glei-
chen Mannes, der den Schrei ausgestoßen hatte.

Brak rutschte den Abhang hinunter und klopfte dem Pferd auf

den Hals. »Genug der Rast«, erklärte er ihm. Er schwang sich
auf seinen Rücken. »Wir werden nachsehen, was dort den Fel-
sen abschleift, und wer solch entsetzliche Angst davor hat.«

Sanft lenkte der Barbar das Pferd mit den Knien. Er legte die

Rechte um den Griff des mächtigen Breitschwerts, das in seiner
riesigen Hülle am Gürtel steckte. Die Dämmerung begann sich
herabzusenken.

Das Land, durch das der Barbar schon seit sechs Tagen ritt,

war ein Gewirr von zerklüftetem vielfarbigem Gestein.

Es sah aus, als hätte ein ergrimmter Gott seine Wut an einem

titanischen Felsen ausgelassen, ihn mit seiner Riesenfaust in
Tausende und aber Tausende von Bruchstücken zerschmettert.
Die meisten davon waren zum größten Teil von glasiger
Schwärze, durch das sich in unterschiedlicher Stärke alle Re-
genbogenfarben brachen. Abgesehen von Streitwagen, die in
die entgegengesetzte Richtung fuhren und die er nur aus weiter
Ferne erspähte, hatte er in den sechs Tagen seines Rittes durch
diese Öde keine Spur menschlichen Lebens entdeckt.

Das Fleisch auf seinem bloßen Rücken kribbelte, als er sich

der Flußbettniederung näherte. Er zog an der milchweißen
Mähne seines Rosses, um es zu einem langsamen Trott anzu-
halten, der seine Hufe fast lautlos werden ließ. Zwei Geräusche
wurden nun klar erkenntlich.

Das erste stammte von einem Menschen (den schrecklicher

Schmerz oder furchtbare Angst, oder auch beides quälten), der

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einen nichtendenwollenden Schrei ausstieß, unterbrochen nur
von ein paar unverständlichen Silben, die vielleicht ein Hilferuf
sein mochten. Das zweite war das nervtötende Schaben und
Schleifen, als ob etwas Unaussprechliches über felsigen Grund
kröche.

»Was immer auch dieses Geräusch verursacht«, murmelte

Brak vor sich hin, »es ist sicher nicht klein.«

Ehe der Barbar den Obsidianfels umrundete, hielt er sein

Pferd an. Er zog das Breitschwert aus der Scheide. Das düstere
Licht der versinkenden Sonne warf seine letzten Schatten über
das Land rechts von ihm. Vor dem südlichen Horizont wirbel-
ten dunkle Rauchschleier. Der Rauch war nun näher als am
Morgen, als Brak ihn zum erstenmal bemerkt hatte. War es
Rauch von einem Schlachtfeld? Es schien wahrscheinlich,
nachdem alle Streitwagen, die er gesehen hatte, nach dem Nor-
den geeilt waren. Auf der Flucht, wie es schien.

Brak hatte keine Ahnung, wer die Gegner sein mochten. Er

war ein Fremder in einem ihm unbekannten Königreich.

Plötzlich hob die Stimme hinter den Felsen sich hysterisch:

»Gehörnte Göttin, hilf mir! Nimm meine Seele und trage sie
durch die dunklen Schleier zum Paradies. Laß sie Frieden,
Gnade und Wohlwollen in deiner Umarmung finden.«

Brak drückte seine nackten Fersen gegen den Leib des Pfer-

des und trieb es zu schnellerer Gangart an. Der Mann stieß ein
Gebet aus, und es hörte sich so an, als bliebe ihm nicht mehr
viel Zeit.

»O Göttin, erbarme dich meiner in ewiger Umarmung«, hörte

Brak, gerade als er um den Obsidianfelsen bog.

Wo das Flußbett breiter wurde, verschwammen Licht und

Schatten ineinander. Als Brak sich vom Pferd schwang, nahm
er das vor ihm liegende Geschehen in einem Blick auf.

Ein hochrädriger Bronzestreitwagen war gekippt und hatte

seinen Lenker herausgeschleudert. Der obere Rand des Ge-
fährts war jeweils in einem Abstand von drei Fingern mit kur-

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zen glänzenden Klingen gespickt. Der Lenker war von zwei
dieser spitzen Dolche, die zweifellos zur Verteidigung gegen
anstürmende Angreifer gedacht waren, auf den Boden gespießt
worden. Er lag in einer roten Lache unter dem Fahrzeug.

Brak erkannte sofort, daß dieser Streitwagen von anderer Art

war als jene, die er in der Ferne gen Norden rollen gesehen hat-
te. Ein kunstvolles Bronzebasrelief, das eine Göttin darstellte,
schmückte das Gefährt. Es war die Abbildung einer schönen
jungen Frau mit entblößtem Oberkörper. Zwischen ihren Brüs-
ten hing an einer Halskette ein schmaler Dolch. Aus ihrer Stirn
wuchsen zwei widderähnliche Hörner. In ihrer erhobenen Lin-
ken hielt sie ein Füllhorn. Mit der Rechten holte sie einen Blitz
vom Himmel.

Das also war die gehörnte Göttin, die der Wagenlenker ange-

rufen hatte, dachte Brak. Plötzlich hörte er wieder das Schaben
und Schleifen. Es war hier so laut, daß es seine Ohren schmerz-
te.

Brak wirbelte herum. Am Hang entdeckte er die Ursache des

Geräuschs. Er zog heftig den Atem ein. Es war eine wurmähn-
liche Kreatur, gut sechsmal so lang wie er. Hoch oben im Obsi-
dianfels gähnte der Eingang zur Höhle dieses Monstrums, wo
es vermutlich durch das Kreischen der Räder und den kippen-
den Wagen aus seinem Schlaf geschreckt worden war. Am
ganzen zylindrischen Körper entlang hatte es kleine weiße gal-
lertige Auswüchse, rudimentäre Beine.

Es kroch jedoch offenbar nicht mit ihnen, sondern schob sich

durch windende Bewegungen hangabwärts langsam auf den
sterbenden Wagenlenker zu. Seine Haut bestand aus einer Art
Schuppenpanzer. Die einzelnen metallisch glänzenden grauen
Schuppen waren durch feuchtrosige Membranen verbunden,
wie Brak erkennen konnte, wenn der Körper sich vorwärts
schob. Das Schleifen der Schuppen auf dem Fels verursachte
das schabende Geräusch. Und während die monströse Kreatur
sich nach unten bewegte, zermalmte sie das Gestein unter sich

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zu Staub.

Was war das nur für ein Panzer, dachte Brak, der Obsidian zu

Pulver zerreiben vermochte. Ein Beweis, daß er es tat, war die
gewaltige Staubwolke, die dem windenden Ungeheuer folgte.

Aus dem Schädel des röhrenähnlichen Tiers leuchteten teller-

runde, opalisierende Augen, die so groß wie Braks Kopf waren.
Das Ungeheuer näherte sich bereits dem trockenen Flußbett,
mit dem größten Teil seines Körpers noch auf dem Felshang.
Plötzlich öffnete sich ein gewaltiger Schlitz im unteren Teil
seines Schädels.

Brak spannte jeden Muskel und zog sein Breitschwert. Das

Blut hämmerte im Angesicht der drohenden Gefahr heftig
durch die Adern. Rotes Zwielicht spiegelte sich auf seiner
Klinge. Er war eine ungebändigte Kreatur, ähnlich jenen wilden
Bestien, die er in den rauhen nördlichen Steppen seiner Heimat
gejagt hatte.

Immer noch brabbelte der Wagenlenker im Delirium Gebete

vor sich hin. Langsam rollte sich eine feuchte rote Zunge aus
dem Maulschlitz des Ungetüms. Winzige Saugnäpfe dehnten
sich und zogen sich wieder zusammen. Immer länger wurde die
Zunge. Sie glitt durch das Flußbett, als besäße sie ein eigenes
Leben. Dann, mit einem Mal, als spüre die Bestie Braks Ge-
genwart, schnellte sich die Zunge in seine Richtung.

Die gräßlichen Saugnäpfe dehnten sich und zogen sich in

noch heftigerem Rhythmus zusammen. Plötzlich jedoch rollte
die Zunge sich zurück und verfolgte wieder ihren alten Kurs.

Der Streitwagenlenker hatte sich inzwischen auf seine Hand-

flächen gestützt. Er starrte mit weit aufgerissenen Augen auf
das Ungeheuer. Von der Mitte abwärts lag sein Körper unter
den tödlichen Klingen des Gefährts. Er unterdrückte einen neu-
erlichen Schrei, als die Zunge wieder auf ihn zuglitt und der
Panzerschuppenkörper dabei, weiter das Gestein unter sich
zermalmend, folgte.

Brak schüttelte den Kopf, um seinen Verstand von der Ver-

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wirrung zu befreien, die ihn erfaßt hatte.

Hastig hob er mit seiner freien Linken einen ovalen Felsbro-

cken vom Flußbett hoch und schleuderte ihn mit aller Gewalt
auf die lange Zunge.

Stinkige, ekelerregende Flüssigkeit spritzte aus zerquetschten

Saugnäpfen. Das ferne Schwanzteil des Untiers schlug wild um
sich. Dabei zerschmetterte es mächtige Felsblöcke, deren
Trümmer herunterhagelten. Ein paar Splitter trafen den gelb-
haarigen Barbaren. Er schüttelte sich, wagte jedoch nicht, seine
Aufmerksamkeit von dem Ungeheuer abzuwenden.

Die opalisierenden Augen wandten sich wieder in seine Rich-

tung. Aber der süßliche Blutgeruch um den Streitwagen, den
das Monstrum offensichtlich witterte, lenkte es wieder ab. Er-
neut schnellte die Zunge auf den aufgespießten Wagenlenker
zu. Brak überlegte nicht lange. Er wußte, was er tun mußte. Mit
Riesenschritten rannte er auf den Wagen zu und stieß das
Schwert in die Scheide zurück.

»Bedeckt Euren Kopf!« brüllte er im Laufen. »Schützt Euer

Gesicht und betet, daß die eisernen Zähne Euch diesmal verfeh-
len!«

Er sprang über die Deichsel, von der sich die Zugpferde los-

gerissen hatten, auf die andere Wagenseite. Er hoffte nur, daß
das Gefährt mit dem richtigen Schub auch weit genug fallen
würde.

Im Vorübereilen streifte er gegen das hochstehende Rad, daß

es sich zu drehen begann. Dann warf er sich mit ganzer Kraft
gegen die Unterseite des Wagens und drückte, so fest er konnte.

Das Bronzefahrzeug war unvorstellbar schwer. Und zu allem

Überfluß begann der Lenker erneut vor sich hin zu brabbeln.
Vielleicht aus Angst, daß er zerdrückt würde, wahrscheinlich
jedoch, nahm Brak an, weil die Zunge noch näher gekommen
war und begann ja, was eigentlich? Das Fleisch von seinen
Knochen zu saugen?

Brak spannte sich und schob. Brennender Schmerz durch-

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zuckte seinen Rücken. Sein linker Fuß rutschte. Ein spitzer
Stein riß ihn auf, bevor er Halt fand.

Der Streitwagen bewegte sich ein wenig.
Er mußte ihn ganz kippen. Seine Stirnadern schwollen an, als

er sich mit aller Kraft dagegen stemmte.

Immer näher kam das Schaben und Schleifen. Es war bereits

so durchdringend, daß es jeden anderen Laut verschlang.

Nun drohten die Stirnadern schier zu bersten. Die Muskeln

spannten sich über Gebühr. Endlich gab der Wagen nach.

Aber er fiel nicht.
Der Wagenlenker stieß den gräßlichsten Schrei aus, den Brak

je aus einer menschlichen Kehle gehört hatte. Der große Barbar
wußte, daß die Zunge des Monstrums nun das Fleisch des Ver-
wundeten berührt hatte. Mit einem wilden Schrei stemmte Brak
sich noch einmal gegen das Gefährt. Die Anstrengung raubte
ihm schier die Sinne. Aber der Wagen begann nun zu kippen.

Einen Augenblick schien er in der Luft zu hängen, dann end-

lich fiel er mit den Rädern nach oben.

Brak sprang zurück. Der Wagenlenker brüllte, als eine der

Klingen seinen Schenkel streifte.

Das Fahrzeug kam umgekippt direkt auf der Zunge des Un-

geheuers zu ruhen. Seine Dolche spießten sie auf dem Grund
des Flußbetts fest.

Wild peitschte der Schwanz des Untiers. Die Steine, die er

streifte, schwirrten durch die Luft. Ein Brocken schlug gegen
Braks Stirn, gerade als er auf das umgedrehte Gefährt sprang.

Das Ungeheuer versuchte, seine Zunge freizubekommen.

Seine Bemühungen schüttelten den Wagen. Brak stemmte sich
gegen eines der Räder und lehnte sich über die Seite. Mit aller
Gewalt stieß er sein Breitschwert in das rechte Auge der Bestie.
Der Grimm verlieh ihm ungeahnte Kräfte. Er zog es heraus und
durchbohrte damit auch das linke. Immer wieder hackte er dar-
auf ein, bis beide Augen nur noch blutige Teiche waren. Erst
dann sprang er erschöpft vom Wagen und sank kraftlos nieder.

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Das gewaltige Ungeheuer peitschte seinen Schwanz ein letz-

tes Mal. Ein Zittern erschütterte die Erde. Während Steinsplitter
und Staub herabregneten, starb die Bestie.

Keuchend richtete Brak sich auf. Er reinigte sein Schwert im

Flußsand und steckte es in die Hülle zurück. Mit noch weichen
Knien taumelte er auf den Wagenlenker zu und beugte sich ü-
ber den Sterbenden.

»Die gehörnte Göttin … wird mich nun in Ehren … empfan-

gen können«, röchelte dieser.

»Das hätte sie auch so«, versicherte ihm Brak. »Aufgespießt,

wie Ihr wart, hättet Ihr Euch gar nicht gegen das Untier zur
Wehr zu setzen vermocht.«

»Die gehörnte Göttin … erwartet einen … ruhmvollen Tod.

Doch zumindest verfolgte ich … unsere Feinde, als der Wa-
gen … kippte.«

»Der Himmel hängt voller Rauch«, murmelte Brak. »Es gab

eine Schlacht?«

»Aye. Eine Schlacht.« Der Atem des Sterbenden kam nun

pfeifend. »Wir, das Volk der gehörnten Göttin, die Bewohner
des Landes … am Phrixos, dem Glitzernden Fluß, schlugen …
die Armeen … der haarigen Männer von Gat zurück. Dort …«,
er deutete südwärts, »kämpften wir gegen sie. Lange schon …
bedrohten uns die Männer von Gat. Phrixos … ist das Delta …
des Glitzernden Flusses. Ein schmales, fruchtbares Land …
entlang beider Ufer. Wir verteidigten unser Land. Wir … ver-
trieben die haarigen Männer von Gat … mit nur einem zehnten
Teil der Macht, mit der sie uns überfielen. Aber wir mußten …
einen Preis zahlen. Viele von uns …«

Ein furchtbarer Husten schüttelte den Wagenlenker. Brak

nagte an seiner Lippe.

»Wo sind Eure Heiler?« fragte er.
»Zurück in die Städte … am Glitzernden Fluß. Mich sandte

man, nach dem flüchtenden Feind … zu sehen. Der Wagen
kippte, seine Dolche durchbohrten mich. Im Staub und dem

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Lärm der rasselnden Räder … bemerkten meine Kameraden
nichts davon … und zogen nichtsahnend weiter. Mein eigener
Wagen …«

Wieder schüttelte ihn heftiger Husten.
»Ein schlechter Witz, eh? Ein Arzt … kann mir nicht mehr

helfen. Aber Ihr halft mir, Fremder. Zu sterben, ohne mich …
gegen das schreckliche Untier … wehren zu können, wäre un-
ehrenhaft. Die Steinbestien … hausen in diesen Bergen, seit
Anbeginn der Zeit. Und sterben, ohne zu kämpfen, das wüßte
die gehörnte Göttin. Sie … würde mich nicht den Glitzernden
Fluß herabholen … in ihr Paradies. Bitte …« Die schwache
Stimme schien kräftiger. »Ich kann mein Schwert nicht heraus-
ziehen. Tut Ihr es für mich?«

»Damit die Göttin es sieht?« fragte Brak.
Der Sterbende nickte.
Brak holte die schmale Klinge aus der Scheide. Der süßliche

Geruch von Blut drang betäubend in seine Nase, und das rote
Naß färbte seine Finger. Er drückte das Schwert in die kraftlose
Hand des Wagenlenkers.

»Was kann ich für Euch tun?« erkundigte der Barbar sich er-

schüttert. »Ich kann Euch doch nicht hilflos hier sterben las-
sen.«

»Für mich gibt es keine Hilfe mehr«, erwiderte der Soldat

schwach. »Aber nun macht … es mir nichts mehr aus, denn …
die gehörnte Göttin wird mich in Ehren aufnehmen. Ich wollte,
ich … könnte Euch meine Schuld bezahlen. Ihr habt einen ei-
genartigen Akzent. Seid Ihr ein Fremdling?«

»Aye. Mein Name ist Brak.«
»Ihr seht wie ein Barbar aus, obgleich … Euer Gesicht im

Schatten ist.«

»Ich bin auf einer langen Reise von den hohen Steppen.«
»Die gehörnte Göttin schütze Euch auf Eurem Weg.«
Der Wagenlenker zitterte.
Jeder Muskel schmerzte Brak. Er richtete sich auf. Voll Mit-

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leid schüttelte er den Kopf. Der fremde Soldat starb, und er
konnte nichts für ihn tun.

Einen langen Moment stand Brak reglos und starrte auf den

Sterbenden hinab. In diesem Augenblick spielte einer der letz-
ten Strahlen der untergehenden Sonne über sein Gesicht. Er
vernahm ein Stöhnen unter sich und sah, wie der Wagenlenker
sich aufbäumte.

»Was ist mit Euch?« fragte er erschrocken.
»Überquert den Glitzernden Fluß nicht«, rasselte der Sterben-

de. »Barbar, überquert ihn nicht! Nun sehe ich … zum ersten-
mal Euer Gesicht. Kehrt zurück in den Norden. Kehrt um!«

Brak runzelte die Stirn. Sprach der Fremde im Fieberwahn?
»Ich verstehe nicht, was Ihr meint«, brummte er. »Ich muß in

den Süden.«

»Phrixos, der Glitzernde Fluß … liegt im Süden!« stöhnte der

Wagenlenker. »Ich meine es … gut mit Euch! Überquert ihn
nicht!«

»Erkläre mir, warum ich es nicht tun soll.«
»Ich sehe das Zeichen … auf Eurem Gesicht. Das Zei-

chen …«

Der Soldat stieß einen tiefen Seufzer aus. Sein Körper zuckte

ein letztes Mal.

Brak schüttelte verwirrt den Kopf, dann ging er, um sein

Pferd zu holen. Jeder Knochen schmerzte. Er verstand die letz-
ten Worte des Toten nicht. Außerdem, wie könnte er umkeh-
ren? Er mußte in den warmen Süden, zum goldenen Khurdisan,
um dort sein Glück zu finden.

Und um hinzukommen, blieb ihm nichts übrig, als den Phri-

xos, den Glitzernden Fluß, zu überqueren.

Müde kletterte er auf den Rücken seines Pferdes. Bestimmt

war der Wagenlenker nicht mehr bei Sinnen gewesen.

Er schnalzte mit der Zunge, und das Pferd setzte sich das

Flußbett aufwärts in Bewegung. Brak wollte das erschlagene
Untier so schnell wie möglich hinter sich lassen, und auch den

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Wagenlenker, der ihn gewarnt hatte.

Ein Zeichen auf seinem Gesicht. Was für ein Zeichen?
Aber es spielte ohnehin keine Rolle. Er mußte über den Phri-

xos, komme, was da wolle.

Im spärlichen Licht weniger Sterne ritt er durch das dunkle

Land. Der Rauch am südlichen Himmel wurde dichter, und das
Gefühl einer drohenden Gefahr wuchs in ihm.

*


Die nächste Nacht schlief Brak auf einem Schlachtfeld, auf

dem die Geister lebendig waren. Den ganzen folgenden Tag
hindurch, nachdem er dem toten Wagenlenker die Augen zuge-
drückt hatte, ritt er über die vom Kampf versengte Ebene, auf
der die Krieger Phrixos’ die haarigen Männer von Gat zurück-
geschlagen hatten.

Gegen Morgengrauen hatte Brak die Grenze des Schlacht-

felds erreicht, die an einem gewaltigen Haufen Leichen von ge-
drungenen, krummbeinigen Männern in lederner Rüstung zu
erkennen war. Sie waren am ganzen Körper stark behaart, und
ihr vorstehendes Kinn gab ihnen ein tierhaftes Aussehen.

Er stieß auf diesen Haufen Gefallener, als sein Pferd um einen

niedrigen Hügel bog. Die Größe der Ebene war schwer abzu-
schätzen. Viele Wagen mit Proviant und seidene Zelte waren
im Laufe des Kampfes vom Feuer erfaßt worden und sandten
immer noch den schwarzen Rauch zum Himmel, den Brak
schon am Tag zuvor aus weiter Ferne bemerkt hatte.

Als er an dem Leichenhaufen vorbeiritt, wurde der Rauch so

dicht, daß er kaum ein paar Schritte weit zu sehen vermochte.
Nur mit Mühe konnte er sein scheuendes Pferd beruhigen.

Gegen Mittag schien die Sonne am Zenit fahl durch den

Rauch hindurch. Überall lagen nun Leichen am Boden. Manche
waren grausam verstümmelt. Es stank nach ihrem Blut, das sich
mit dem dunkleren der Pferde vermischt hatte, die zu Hunder-

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ten abgeschlachtet worden waren.

Ganze Einheiten von Fußsoldaten lagen dahingestreckt zwi-

schen den Wracks von Kriegsmaschinen und Handwaffen.

Der Boden unter den Hufen des Pferdes war lehmig. Viele der

Toten bedeckte dieser weiche Schmutz. Aber trotzdem war oh-
ne Zweifel zu erkennen, daß die überwiegende Zahl zu den haa-
rigen gedrungenen Männern und nicht zu jenen in eiserner Rüs-
tung mit dem Schild der gehörnten Lady gehörten.

Aber auch das Königreich Phrixos war nicht ungeschoren da-

vongekommen.

Während Brak den ganzen Tag durch den Rauch ritt, vernahm

er hin und wieder Stöhnen und Ächzen von Überlebenden.
Zweimal hatte er versucht, sie zu finden. Aber das graue düste-
re Licht, das durch die Rauchschwaden drang, führte ihn nur in
die Irre, und es gelang ihm nicht, die Verwundeten aufzuspü-
ren.

Dreimal entdeckte Brak in einiger Entfernung gespenstische

Gruppen von schweigenden Männern. Sie trugen brennende
Kerzen, deren Licht jedoch kaum durch den Rauch drang. Brak
nahm an, daß es sich um Beauftragte von Phrixos handelte, die
ihre Toten bestatten sollten. Wenn er sie näher kommen sah,
blieb er reglos auf dem Pferd sitzen und wartete, bis sie außer
Hörweite waren. Dann erst ritt er weiter.

Dem Barbaren gefiel dieser Weg über das Schlachtfeld, das

sich jedoch nicht umreiten ließ, absolut nicht. Er kam sich vor
wie ein Aasgeier, der nur darauf wartete, sich etwas holen zu
können. Aber so sehr er es auch verabscheute, war er doch ge-
zwungen, gerade das zu tun. Sein kleiner Beutel, der an den
Löwenfellbeinkleidern hing, enthielt keinen einzigen Dinscha
mehr. Zwar machte Brak sich durchaus nichts aus Geld, aber es
war eben doch hin und wieder sehr notwendig.

Darum hielt er nun die Augen offen, ob er nicht Schmuckstü-

cke oder eine wertvolle Waffe fände, die er später gegen eine
Bleibe und etwas zu essen eintauschen könnte.

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Er brachte es jedoch nicht über sich, die Toten zu durchsu-

chen. Und die Waffen, die herumlagen, sahen nicht sehr viel-
versprechend aus. Hinter einem ausgebrannten Wagen endlich
spiegelte die untergehende Sonne sich auf etwas Glitzerndem.
Als er näher heranritt, stellte er fest, daß es sich um ein kostba-
res Schwert handelte, das gut zur Hälfte in einem gefallenen
Phrixoskrieger steckte.

Andere würden ihn sicher für einen Narren halten, aber ihm

käme es einer Schändung des Toten gleich, nähme er dieses
Schwert an sich. Also ritt er mit leeren Händen und leerem
Beutel weiter.

Wie Brak bald bemerkte, begann die Ebene unter des Pferdes

Hufen leicht schräg abzufallen. Der Himmel bewölkte sich. Ein
Wind kam auf und wirbelte den Rauch von tausend Feuern em-
por. Brak hoffte, daß er die Luft reinigen würde, denn der Ge-
stank peinigte seine Nase, und der Rauch brachte seine Augen
zum Tränen.

Der Ritt in der anbrechenden Dunkelheit wurde immer

schwieriger. Der Glitzernde Fluß schien weiter entfernt, als
Brak gedacht hatte.

Als er zu den Überresten eines großen seidenen Zeltes auf ei-

nem niedrigen Hügel kam, beschloß er, dort sein Lager für die
Nacht aufzuschlagen. Die Zeltstützen waren eingeknickt und
das kostbare Gewebe von Rußschwaden geschwärzt. Brak stieg
ab. Es wurde immer düsterer, doch er war froh darüber, denn
die Dunkelheit würde ihm den weiteren Anblick der Toten
ringsum ersparen.

Brak sammelte die geknickten Stützen und größere Fetzen ro-

ter und goldener Seide und benutzte sie zur Errichtung eines
leidlichen Unterschlupfs. Während er daran arbeitete, bemerkte
er, daß eine der Bestattungsgruppen hier bereits am Werk ge-
wesen sein mußte. Er fand frische Pferdespuren, und die Erde
war zweifellos aufgegraben und wieder zugeschüttet worden.
Ob hier wohl eine höhere Persönlichkeit ihr Leben gelassen

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hatte?

Brak hackte ein paar Zedernholzspeichen von einem zerbro-

chenen Wagenrad und entzündete ein wärmendes Feuer. Er ließ
sich daneben nieder. Nachdem er ein Stück zähes Fleisch aus
der Satteltasche geholt und verspeist hatte, streckte er sich aus.
Er deckte sich mit einem Fetzen roter Seide zu, rollte sich auf
die Seite und versuchte zu schlafen.

Im ersten Augenblick wußte er nicht, ob er noch wach war

oder bereits träumte.

Gewaltige Armeen stellten sich auf einer dunstigen Ebene

zum Kampf. Waffen klirrten. Schreie erschollen. Er hörte Äch-
zen und Stöhnen und Wehklagen aus Tausenden von Kehlen.
Er setzte sich auf. Dunkelheit hüllte ihn ein. Nur ein paar Feu-
erpunkte tanzten vor seinen Augen. Diese erkannte er schließ-
lich als ersterbende Glut seines Lagerfeuers. Die rote Seide glitt
von seinen Schultern, als er sich lauschend erhob. Außerhalb
des winzigen Zeltes, das er sich errichtet hatte, raschelte etwas.
Instinktiv griff Brak nach dem Schwert.

Der Himmel hatte sich während seines Schlafes aufgehellt.

Ein paar vereinzelte Sterne funkelten herab, und nur noch ver-
einzelte Rauchschwaden schienen danach greifen zu wollen. Im
Osten deutete schmutziges Grau die nahende Morgendämme-
rung an.

Der Wind brachte Kälte mit sich und bauschte die Seide des

behelfsmäßigen Zeltes auf.

Plötzlich hörte Brak ganz deutlich eine Frauenstimme.
»Nah oh, so nah mein Liebster? Weit führe meine Suche

mich. Ich spüre deinen Geist ganz nah!«

Die Stimme klang kummervoll und von gespenstischen Echos

begleitet. Irgendwie schien sie unwirklich. Verwirrt legte Brak
die Stirn in Falten. Ein Schauder lief seinen Rücken hinab.

Irgend etwas an der Stimme war unnatürlich.
Sie schwoll an, wurde schwächer und dann wieder lauter. Der

stämmige Barbar hatte das seltsame Empfinden, Weinen zu hö-

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ren, das sich irgendwie zu Worten formte: »Diese ganze Ebene
des Wehs haben sie abgesucht. Und kamen zurück und sagten,
die Schlächter von Gat taten ihr Werk zu sorgfältig. Sie sagten,
nichts war geblieben, was mich von dir durch die dunklen
Schleier begleiten kann. Es erfüllt mich mit Leid, die dunkle
Nacht mit Suchen zu verbringen, mein Liebster. Aber ich nehme
es auf mich, denn ich muß dich finden, sonst wird der Fluß
dunkel, und das Paradies leer für mich sein
. Ich weiß, daß sie
sich täuschen. Ich weiß, du kannst gefunden werden. Ganz nahe
jetzt, spüre ich einen Geist, seine Wärme.
«

So unwahrscheinlich klar klang die Stimme, daß Brak gera-

dezu erwartete, eine Frau außerhalb des Zeltes zu finden. Doch
um hinauszusehen, mußte er ein paar Schritte nach links ma-
chen. Vorsichtig tastete er sich mit nackten Sohlen an die Sei-
de. Da stießen seine Zehen gegen etwas, das stumpf glänzte.
Der Wind stöhnte. Ohne zu überlegen, bückte Brak sich. Seine
Finger schlossen sich um den gerollten Metallrand von etwas
sehr Schwerem.

Er zerrte daran. Unter dem vom Sturm angehäuften Sand zog

er einen gewaltigen Schild hervor.

Gerade als er ihn hochhob, erfaßte ein heftiger Windstoß das

provisorische Zelt und trug die Seide davon.

Wie festgewurzelt, die Hände in den ledernen Schlaufen des

Schildes, blieb Brak stehen, als er sie sah. Sein Herz pochte wie
verrückt. Seine Augen mußten ihm einen Streich spielen.

Die Frau, die das dunkle Schlachtfeld absuchte, war schlank,

von königlicher Haltung, und noch verhältnismäßig jung. Ihre
dunklen Locken reichten bis zur Taille, aber sie wallten hinter
ihr her, als schwämme sie unter Wasser. Die Sterne begannen
bereits zu erlöschen. Die Morgendämmerung war schon sehr
nah. Es war hell genug für Brak, Einzelheiten zu erkennen. Die
flehend ausgestreckten Arme der Frau waren rund und weiß.
Ihr Gewand war noch weißer, außer an der Brust, wo sich ein
riesiger Fleck getrockneten Blutes befand. Grauen lähmte Brak

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einen Moment. Das Blut konnte nur von einer tödlichen Wunde
stammen.

Irgendwie fühlte Brak, daß die Frau königlicher Herkunft sein

mußte. Ihre ganze Haltung deutete darauf hin. Doch wo ihre
Füße unter dem Gewand hervorlugen sollten, befand sich nur
schwarzer Nebel. Durch ihr Gesicht, ihren Körper, durch die
dunklen Augen, die sich ihm plötzlich zuwandten, sah Brak den
Himmel und die bleichen Sterne. Instinktiv hob er den Schild.
Aus dem Wind drang ein Seufzen.

»Sie suchten nicht gut genug. Ich habe dich gefunden. Dein

Gesicht ist fremd, nicht mehr ganz das gleiche. Aber du hast
den großen Schild.«

Inmitten gespenstischer Nebelschleier schien das Mädchen

näher an Brak heranzuschweben.

»Eile, mein Liebster. Streck mir deine Hand entgegen. Du

mußt mich berühren. Dann können wir zusammen von hier
fort.
«

Immer näher schwebte das Geistermädchen mit dem traurigen

Lächeln. Immer näher.

Hilflos blickte der große Barbar ihr entgegen. Wie konnte er

sich gegen eine Erscheinung zur Wehr setzen? Er spürte, sobald
sie ihn berührte, würde er sein wie sie tot.

»Mein Liebster? Liebster, komm berühre mich. Dann wird

mein Totenbett nicht länger einsam sein.«

Die ausgestreckten Finger waren bereits ganz nahe an Braks

Schulter, berührten ihn fast.

Plötzlich färbte die aufgehende Sonne die Leichen auf dem

Schlachtfeld rosig. Brak schluckte schwer. Mit fest zusammen-
gepreßten Lidern schüttelte er den Kopf. Ein kalter Wind braus-
te durch die Seidenreste. Er trug ein bitteres Weinen mit sich.

Brak öffnete seine Augen wieder. Er stand allein auf dem

niedrigen Hügel, doch überall lagen die Toten.

Wer sie wohl war? Warum hatte sie ihn auserkoren? Wegen

des Schildes? Nachdenklich drehte er ihn in der Hand.

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Es war kein Messing, stellte er fest. Er betastete die erhabe-

nen Ornamente. Gold! Reines Gold, von Meisterhand verarbei-
tet. In der Mitte hob sich in glänzendem Basrelief die gehörnte
Göttin hervor. Brak hatte viele herrenlose Waffen auf dem
Schlachtfeld gesehen, aber bei weitem keine, die auch nur an-
nähernd mit diesem Schild vergleichbar war.

Wem hatte er gehört? Einem Prinzen? Einem König? Er hatte

gute Lust, ihn wieder von sich zu werfen. Aber er erinnerte sich
seines leeren Beutels. Vielleicht war der Schild der Göttin ge-
weiht? Vielleicht ließe er sich in einer der Städte Phrixos’ für
ein Nachtlager und Reiseproviant eintauschen? Langsam ver-
scheuchte der immer heller werdende Tag und das Nachlasses
des Rauches die Angst, die ihn seit dem Augenblick des Zu-
sammentreffens mit der toten und doch lebenden Schönheit er-
füllt hatte. War alles nur ein Traum gewesen? Auf dem Boden
gab es keine Fußspur von ihr, wie es hätte sein müssen, wenn
ein Mensch aus Fleisch und Blut sich dort bewegt hätte.

Brak dachte über seine Lage nach. Sein Geschick schien eine

neue, dunkle Wendung genommen zu haben. Und doch blieb
sein Entschluß unabänderlich. Er hatte keine andere Wahl, als
weiter zum Phrixos zu reiten und ihn zu überqueren, denn nur
so vermochte er je das Ziel seiner Reise zu erreichen.

*


Er löschte die letzte Glut des Feuers und schwang sich auf

sein Pferd. Den Schild schlang er sich mit den Schlaufen über
die linke Schulter, so daß er nun schräg über seinem breiten
Rücken hing.

Schon bald hatte er das Schlachtfeld hinter sich gelassen und

ritt durch ein kleines Wäldchen, durch dessen ausladende
Zweige das Morgenlicht kaum zu dringen vermochte. Ein Vo-
gel mit roten Augen flog ganz nah an ihm vorbei und kreischte
schrill. Brak nagte an seiner Lippe und versuchte sich zu erin-

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nern, was die Stimme des gespenstischen Mädchens gerufen
hatte. Irgend etwas, daß sein Gesicht fremd und nicht mehr das
gleiche war.

Welchem gleich? Er schüttelte sich leicht, als er sich der Be-

merkung des Wagenlenkers entsann, der von einem Zeichen in
seinem Gesicht gesprochen hatte.

Die Vorsicht hieß ihn den mächtigen gebogenen Schild zu-

rückzulassen, aber er war hungrig und in Eile. Er behielt ihn
und ritt weiter.

Ein Weg führte aus dem Wald heraus, vorbei an einfachen

Hütten, die dicht aneinander in einer offenbar fruchtbaren Ge-
gend kauerten. Rechts, noch weit in der Ferne, glänzten die
spitzen Türme einer Stadt. Geradeaus, ebenfalls noch sehr weit
weg, glitzerte das Silberband eines Flusses im Sonnenlicht.

Brak schnalzte mit der Zunge, und sein Pferd trabte etwas

schneller dahin. Wieder spielte die Entfernung ihm einen
Streich, denn er ritt fast den ganzen Tag, bis endlich der Fluß
vor ihm lag. Er sah nun nicht mehr glitzernd und verzaubert aus
wie von fern, sondern war nichts weiter als ein breiter Strom
mit grauem Wasser, der zu beiden Seiten von Weide- und A-
ckerland begleitet wurde. Das Land hier neigte sich ein wenig
schräg bis zum diesseitigen Ufer.

Eine Fähre hatte angelegt. Nicht weit davon befand sich ein

langgestrecktes, niedriges Wirtshaus. Dort würde er rasten und
sich stärken, und dann sollte die Fähre ihn fort aus diesem ge-
spenstischen Land bringen.

Mit dem riesigen Schild auf dem Rücken beeilte Brak sich, zu

dem Wirtshaus zu kommen. Er hatte es jedoch noch nicht er-
reicht, als er hastig sein Pferd zügelte.

Halbwegs zwischen ihm und seinem Ziel mündete die furchi-

ge Landstraße, der er bis hierher gefolgt war, in eine breitere
Straße, die mit quadratischen blauen Steinen gepflastert war.
Zweifellos führte sie zu der Stadt, deren spitze Türme hin und
wieder aus den tiefhängenden Wolken auftauchten.

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Eine Gruppe von einem halben Dutzend bewaffneter Reiter

näherte sich im Zwielicht des einbrechenden Abends zu seiner
Linken. Er und sie würden zur gleichen Zeit an der Kreuzung
ankommen. Brak spannte sich.

Die Reiter waren ohne allen Zweifel Soldaten, allerdings et-

was eigenartig uniformiert. Von den Schultern eines jeden flat-
terte ein schwarz und gelb gestreifter Umhang, der Brak an Ti-
gerfelle erinnerte. Schwerter hingen von ihrer Mitte. Irgendwie
schienen sie Brak unheilkündend. Ihre Gesichter wirkten fins-
ter. Alle saßen auf glänzenden Rappen mit wild rollenden wei-
ßen Augen. Die Gleichartigkeit ihrer Pferde, der Rüstungen und
der gestreiften Umhänge ließ darauf schließen, daß sie Gefolgs-
leute ein und desselben Herrn waren.

Obgleich Brak sich nicht vor einer Begegnung mit diesen

Männern fürchtete, war ihm doch klar, daß er nichts gewänne,
wenn er ihre Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Darum zügelte er
sein Pferd und gedachte, die Reiter erst die Kreuzung überque-
ren zu lassen, ehe er sich ihr näherte.

Die Uniformierten kamen in vollem Galopp daher. Die Hufe

ihrer rassigen Rappen sprühten Funken auf den blauen Pflaster-
steinen.

Nur langsam ritt Brak weiter und kauerte sich absichtlich tief

in den Sattel. Er schaute hinüber zu der Fähre, die ihn über den
Fluß tragen sollte. Wollte er sein Ziel erreichen, war es besser,
einer Begegnung aus dem Weg zu gehen.

Aber etwas in ihm lehnte sich bei dem Anblick des dahin-

stürmenden, brüllenden Reiterpacks auf. Sein grundloser Ärger
darüber irritierte ihn selbst. Doch Brak hatte auf seinen Reisen
den Wert der Vorsicht in manchen Situationen kennengelernt.
Darum versuchte er, sich im Schatten zu halten, als die Reiter
auf die Kreuzung preschten. Es war das Pech des stämmigen
Barbaren, daß einer der Reiter zufällig in seine Richtung blick-
te.

Sofort zog der Mann heftig an den Zügeln. Das schwarze Roß

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schlitterte ein wenig, ehe es zum Halt kam. Der Fremde hob
seine schwarzbehandschuhte Rechte.

Nun hielten die anderen ebenfalls an. Einer der Männer war

etwas größer als die anderen. Er hatte ein schmales, eingefalle-
nes weißes Gesicht.

»Fremder!« rief er. »Reitet ein wenig näher. Wir möchten uns

ein bißchen mit Euch unterhalten.«

Brak zögerte. Seine Hand sank zum Griff seines Breit-

schwerts. Mit einem Mal schien das Gewicht des Goldschilds
verdoppelt zu drücken. Er spannte die Muskeln seiner Schenkel
und überlegte, was er tun sollte. Die Gefolgsleute redeten laut
durcheinander und verrenkten ihre Hälse, um ihn in der Düster-
nis besser zu sehen.

»Bestimmt ist er nur irgendein Bauerntölpel«, hörte Brak ei-

nen der Reiter sagen. »Die Abendschatten sind trügerisch.«

»Nein. Ich konnte sein Gesicht genau sehen«, warf der Reiter

ein, der Brak als erster erspäht hatte. Mit flinker Bewegung zog
er ein glänzendes Schwert. »Vielleicht ist die Ähnlichkeit nicht
vollkommen, aber sie genügt, um …«

Der Mann bemerkte, daß Brak sich noch nicht von der Stelle

gerührt hatte.

»Heh, Ihr! Habt Ihr nicht gehört? Kommt sofort hierher!«
Ein anderer tupfte dem Anführer auf den Arm.
»Hauptmann, was ist denn das auf seinem Rücken?«
Langsam zog Brak sein Schwert aus der Scheide. Er blieb un-

bewegt auf seinem Pferd sitzen.

»Auf seinem Rücken?«
Der Hauptmann stellte sich in den Steigschlaufen auf, doch

dann ließ er sich hastig wieder auf den Sattel fallen und schüt-
telte sich. Ein Ausdruck tiefsten Entsetzens huschte kurz über
seine Züge.

»Die gehörnte Göttin beschütze uns«, rief er mit bebender

Stimme. »Er muß ein Leichenschänder sein. Er trägt Nicors
Kriegsschild.«

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Die Schwarzuniformierten flüsterten aufgeregt untereinander

und machten Zeichen gegen den bösen Blick. Nur einer von ih-
nen schien etwas kühner als die anderen.

»Wenn das so ist, dann sollten wir ihm dafür die Hände abha-

cken und den Schild zurückbringen.«

Er zog sein Schwert aus der Hülle.
»Halt!«
Trotz des Befehls trieb der Gefolgsmann sein Pferd auf die

Landstraße zu. Fluchend stach der Hauptmann mit seiner eige-
nen Klinge gegen den Arm des anderen, daß jener aufheulte.

»Ich sagte, halt!« brüllte der Anführer und riß ihm die Zügel

aus der Hand. Er zog so heftig daran, daß es den Mann fast aus
dem Sattel warf. »Ich werde meine Hand nicht an diesen Schild
legen, und du wirst es auch nicht!«

Dann rief er Brak zu: »Fremder, steckt Euer Schwert ein und

kommt. Es wird Euch nichts geschehen.«

Brak hielt nicht viel von dem Versprechen. Er legte das Breit-

schwert griffbereit über seine muskulösen Schenkel und lenkte
sein Pferd zur wartenden Gruppe. Es war klüger zu gehorchen,
als einen Kampf oder eine Verfolgung zu riskieren. Der vor-
sichtigste Weg war diesmal auch der direkteste.

Als Brak die Kreuzung erreicht hatte, bemerkte er die scheu-

en, ja sogar ängstlichen Blicke, die seinem Schild galten. Die
Reiter hielten sich mit einem unfreiwilligen Respekt zurück.
Alle hatten ihre Klingen in die Scheiden zurückgesteckt.

Die Hufe seines Pferdes klapperten laut auf dem Pflaster.

Brak hielt vor der Gruppe an. Sie musterten ihn aufmerksam,
betrachteten seine kräftige, große Statur, den gelben Zopf, der
über seinen mächtigen Rücken herunterhing, und das Löwenfell
um die Hüften.

»Ich tat also recht daran, Euch einen Fremdling zu nennen«,

brummte der Hauptmann. »Ihr kommt von weit her?«

Brak entspannte sich ein wenig. »Aye. Und ich will nichts

anderes als ungehindert weiterreiten.«

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»Wo wollt Ihr hin?«
»Nach Khurdisan im fernen Süden.«
»Da habt Ihr noch einen weiten Weg vor Euch«, stellte der

Hauptmann fest. Er hielt kurz inne, ehe er sich vorsichtig er-
kundigte: »Wie kamt Ihr zu dem Schild auf Eurem Rücken?«

»Ich fand es auf einem Schlachtfeld, das ich überqueren muß-

te«, erwiderte Brak. »Ich entdeckte es zufällig. Falls es jeman-
dem Hochgestellten in Eurem Land gehört, bin ich gern bereit,
es gegen ein wenig Reiseproviant und ein paar Münzen Finder-
lohn einzutauschen.«

Der Hauptmann lachte unsicher.
»Für einen Barbaren wißt Ihr recht gut zu feilschen.«
»Wem gehört dieser Schild?« fragte Brak. »Einem, der in der

Schlacht fiel?«

Die Lippen des Hauptmanns wurden schmal.
»Es ist unwichtig«, murmelte er. »Nun, da ich es näher sehe,

bemerke ich, daß es gar nicht der Schild ist, den wir meinten.«

Brak wußte, daß der Mann log. Die Antwort kam zu schnell.

Nervöse schwarze Augen wichen denen des Barbaren aus. Der
Hauptmann winkte mit dem Handschuh ab.

»Aye. Wir hatten uns getäuscht.«
Mit einem scharfen Blick verbannte er das Erstaunen in den

Gesichtern seiner Leute. Höflich, aber mit einer versteckten
Drohung, machte er dem Barbaren Platz.

»Ihr könnt wieder Eures Weges ziehen, Fremder. Verzeiht,

daß wir Euch aufhielten. Aber wie einer meiner Männer bereits
bemerkte, das Zwielicht ist trügerisch. Mögen die Götter Euch
geleiten.«

Sein Lächeln wirkte unecht und eingefroren.
Der große Barbar zögerte keinen Augenblick. Er schnalzte

mit der Zunge, und sein Pferd setzte sich in Bewegung. Mehre-
re Personen standen im Hof des Wirtshauses neben dem Fäh-
renanlegeplatz. Brak ritt darauf zu, blieb aber noch einmal kurz
stehen und schaute zurück. Auf der Prunkstraße hoben sich die

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schwarzen Reiter gegen den roten Abendhimmel ab. Sie beo-
bachteten ihn noch immer. Brak war überzeugt, daß er dem
Hauptmann trotz seiner freundlichen Abschiedsworte nicht
trauen konnte. Und er war auch sicher, daß der Kriegsschild auf
seinem Rücken einer bedeutenden Persönlichkeit gehört hatte.
Je eher er ihn los wurde und über den Strom fuhr, desto wohler
würde er sich fühlen.

Der Wind spielte mit seinem langen gelben Zopf, während er

keinen Blick von den schwarzen Reitern ließ. Er vernahm ein
scharfes Kommando, dann brauste die ganze Gruppe mit flie-
genden Umhängen und funkensprühenden Hufen dahin.

Brak beobachtete sie, bis sie außer Sicht waren. Dann wandte

er sich wieder um und lenkte sein Pferd erneut auf Wirtshaus
und Anlegeplatz zu. Plötzlich begann er laut zu brüllen und
trieb sein Roß mit den Schenkeln zur Eile an.

»Fährmann!« rief er. »Wartet! Ich komme mit! Halt! So war-

tet doch!« Aber es war bereits zu spät.

In der kurzen Zeit, während Brak die Soldaten beobachtet

hatte, waren einige Leute aus dem Wirtshaus gekommen und
hatten sich auf die Fähre begeben, die daraufhin sofort ablegte.

Braks Pferd trabte in den Hof des Wirtshauses. Ein wohlbe-

leibter Mann mit einem gewaltigen roten Bart und einer Laterne
in der Hand wollte gerade ins Haus zurück. Brak sprang vom
Pferd.

»Heda, Wirt!« rief er. »Haltet die Fähre an. Ich muß über den

Fluß.«

Der Bärtige hob das flackernde Licht.
»Zu spät, Fremder. Nach Sonnenuntergang kann sie nicht

mehr übersetzen. Sie wird bei Morgengrauen zurückkommen.«

Der Schein der Laterne flog über Braks Gesicht und Gestalt

und brach sich im Gold des Schildes. Der Wirt wurde bleich
wie Wachs.

»Woher habt Ihr …?« begann er.
Hastig machte er das Zeichen gegen den bösen Blick und füg-

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te schnell hinzu: »Wir haben kein Nachtlager mehr frei. Wir
sind voll besetzt. Ihr müßt weiterreiten.«

Er öffnete eilig die Tür zu der nun offensichtlich leeren

Wirtsstube.

Braks Verwirrung und Grimm kannten keine Grenzen mehr.

Er sprang vorwärts und packte den Wirt an der Schulter. Er riß
ihn herum und drückte ihn gegen die Hauswand.

»Jetzt reicht es mir«, knurrte er grimmig. »Seit ich in diesem

verdammten Land bin, sieht mich jeder, dem ich begegne, wie
ein Gespenst oder einen Aussätzigen an. Ich will etwas zu essen
und Wein, und dann einen Platz, wo ich mich ausstrecken kann.
Ich wünsche außerdem, über diesen Fluß gesetzt zu werden.
Sorgt dafür. Dann könnt Ihr dieses güldene Spielzeug behalten,
das soviel Aufsehen erregt.«

Brak nahm den Schild vom Rücken und hätte ihn dem Dick-

wanst zugeworfen. Aber der hob abwehrend die Hände und
drückte sich seitwärts an der Mauer entlang, als hätte er Angst,
mit dem Schild in Berührung zu kommen.

»Nein, behaltet ihn nur! Ich könnte ihn nicht nehmen! Ich will

ihn nicht. Nächtigt im Stall, wenn Ihr wollt. Ich schicke Euch
Essen heraus. Doch verseucht mir mein … Betretet mein Haus
nicht, ich flehe Euch an.« Der Wirt wandte sein feistes Gesicht
von Brak ab. »Wir mußten genug Leid erdulden in Phrixos, wir
brauchen nicht noch mehr.«

Er deutete auf das Trauertuch, das an die Tür genagelt war.

Dann huschten seine Augen von Braks Gesicht zum Schild, ehe
er sie ängstlich senkte. Dicker Schweiß stand auf seiner Stirn
und rann die Wangen herab in den Bart. Der Wirt bebte vor
Furcht.

Brak versuchte seine Verachtung zu verbergen.
»Wirt?«
»Was wollt Ihr noch?«
»Bin ich vom Aussatz gezeichnet?«
»Ich verstehe Euch nicht.«

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»Oder bin ich irgendeine Monstrosität? Verratet mir, was hat

mein Gesicht an sich, das euch alle so erschreckt? Und wer ist
dieser Nicor, von dem ich gehört habe?«

»Nicor! Blasphemie! Gehörnte Göttin, man wird mich bestra-

fen!«

»Dieser Schild gehörte Nicor, nicht wahr? Wer war er?«
Der Wirt versuchte davonzulaufen.
Brak zog sein Breitschwert. »Du feister Jämmerling! Wenn

du nicht sofort zu wimmern aufhörst und meine Fragen beant-
wortest, spalte ich deinen Schädel.«

Vor Angst schlotternd sprang der Wirt, erstaunlich behende

für sein Gewicht, zur Seite. Es gelang ihm durch die Tür zu
sausen und sie hinter sich zu verriegeln. Ein vor Angst geweite-
tes Auge starrte durch ein Astloch heraus, um zu sehen, ob
Brak noch nicht weggegangen war. Dann erschien ein feister
Schatten hinter dem schwach beleuchteten Fenster, der heftige
Bewegungen machte.

Der Barbar fluchte lauthals vor sich hin. Er warf sich den

Schild wieder über die Schulter und suchte nach dem Stall und
Futter für sein Pferd.

Eine Laterne spendete ein düsteres Licht. Brak fütterte sein

Pferd und striegelte es. Inzwischen war der Wirt offenbar an
der Tür gewesen, denn auf der Schwelle standen eine irdene
Flasche und eine Schüssel mit einem großen Stück Fleisch und
einer Kante grauem Brot.

Halb ausgehungert stürzte Brak sich über diese Mahlzeit. Mit

vollem Magen fühlte er sich gleich viel wohler. Gefürchtet zu
werden – aus welchem Grund auch immer –, hatte offenbar
auch Vorteile. Zweifellos war der Wirt nur zu gern bereit gewe-
sen, ihn mit Essen zu versorgen, solange er dem Haus fernblieb.

Mit dem Arm wischte er sich den Mund ab, dann ließ er sich

auf einem Heuhaufen nieder, das Schwert an seiner Seite.
Schließlich blies er noch die Laterne aus. Noch ehe er, wie er
vorgehabt hatte, über die merkwürdigen Ereignisse des vergan-

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genen Tages nachzudenken vermochte, übermannte ihn der
Schlaf.

*


Das Klirren von Waffen, das Stampfen von Hufen und Later-

nenlicht rissen ihn aus tiefstem Schlummer. Doch bevor er auf-
springen konnte, fiel ein dickes Netz auf ihn herab.

Wütend hackte er mit der Klinge dagegen.
»Nehmt ihm das Schwert ab«, befahl eine barsche Stimme.
»Aber verwundet ihn nicht!«
Brak kämpfte wie ein Schlafwandler. Seine Augen waren

noch wie verschleiert, und er konnte nicht richtig wach werden.
Männer tanzten um ihn herum und wickelten ihn immer enger
in das schwere Netz. Es gelang ihm, Kopf und Schultern hin-
durchzuschieben. Da sauste ein Speerschaft auf seinen Schädel
herab.

Der Schlag betäubte ihn fast. Er sank auf die Knie, und schon

wurde das Netz weiter um ihn herumgewickelt.

Plötzlich stampfte ein Stiefel auf seinen ausgestreckten Arm.

Jemand zerrte ihm das Breitschwert aus der gefühllosen Hand.
Dann drehte man Brak so, daß er auf dem Rücken lag. Mit ei-
ner an den Dachbalken befestigten Winde wurde das Netz mit
dem Barbaren vom Boden hochgehoben.

Halberstickt, mit einem dicken Netzstrang um den Mund ge-

wickelt, baumelte Brak wie ein gefangener Fisch vor zwei Rei-
tern, die eben erst in den Stall gekommen waren. Krieger mit
Fackeln und gezückten Waffen eilten geschäftig umher.

Ein heiserer Wutschrei entrang sich Braks eingeschnürter

Kehle. Im Fackellicht sah er gut zwei Dutzend der Schwarzbe-
kleideten, die zum Teil eben erst von den Dachbalken herunter-
sprangen. Ihr Anführer war einer der beiden Reiter. Er war
groß, schlank und wirkte ungesund. Trotzdem verriet er ge-
schmeidige Kraft, die sich bemerkbar machte, als er sich vor-

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lehnte und mit der Spitze seines scharfen schmalen Schwertes
durch das Netz hindurch unsanft in Braks Rippen stocherte.

Er war gekleidet wie seine Gefolgsleute. Nur ein Schmuck-

stück unterschied ihn von ihnen eine Spange aus einer riesigen
Tigerkralle, die den Umhang auf der rechten Seite raffte. Der
Mann drehte seine Hand ein bißchen, so daß die Schwertspitze
Braks Haut ritzte. Das Metall der Klinge war die halbe Länge
von einem dunklen Braunrot gefärbt.

»Wir kennen Euren Namen nicht, Barbar. Mich nennt man

Hel. Ich bin der Tigerlord. Ich handle im Auftrag Ihrer Hoheit.«

Der Mann deutete auf den zweiten Reiter, eine Frau, die auf

einem Schimmel saß. Obgleich sie einen grünen Umhang und
einen Jaschmak, einen dichten Schleier, trug, der die untere
Partie ihres Gesichts bedeckte, erkannte Brak doch eine starke
Ähnlichkeit mit dem Geistermädchen, dem er auf dem
Schlachtfeld begegnet war. Sie hatte dunkles Haar, sanfte Au-
gen und war von großem Liebreiz. Sie wirkte auf ihrem herrli-
chen Roß irgendwie hilflos neben der finsteren Gestalt des Ti-
gerlords.

»Ich nehme an, ich schulde Euch eine Erklärung, Fremder.

Sie ist einfach genug. Königin Rhea herrscht jetzt über Phrixos,
seit ihre ältere Schwester, die Königin Joenna, auf dem
Schlachtfeld ihr Leben ließ. Sie starb, als unsere Armee die
Männer von Gat zurückschlug. Auch der Gemahl der Königin
Joenna, Prinz Nicor, fiel in dieser Schlacht. Unglücklicherweise
konnte sein Leichnam nicht geborgen werden. Um jedoch die
Zeremonien abhalten und die Wahrsagungen erfüllen zu kön-
nen, damit Königin Rhea ihre Herrschaft anzutreten vermag,
müssen sowohl Joenna als auch Nicor den Strom hinab und
durch die dunklen Schleier ins Paradies gesandt werden. Ge-
schieht das nicht, werden unsere Auguren die Kunde von bösen
Omen bringen und den neuen Herrscher aus einem anderen Ge-
schlecht bestimmen. Und das ist der Grund, weshalb meine
Männer mir sofort von ihrem Zusammentreffen mit Euch be-

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richteten. Sie sagten, Ihr seid auf dem Weg nach Khurdisan.
Das heißt, Ihr wart es.«

Lord Hels Lachen klang kalt und boshaft. Königin Rhea

beugte sich zu ihm.

»Lord, wenn wir schon dieses entsetzliche Spiel treiben müs-

sen, so laßt es uns schnell hinter uns bringen. Er ist ein Un-
schuldiger. Er kennt unsere Bräuche nicht.«

Gereizt drehte Hel sich im Sattel um.
»Verzeiht, wenn mir Eure Worte unpassend dünken. Ich

nehme an, Ihr wißt, was auf dem Spiel steht. Eure Herrschaft
hängt allein von der Vollführung des Rituals ab. Sie hängt da-
von ab, daß die Leichname Eurer Schwester und ihres Gemahls
Nicor zusammen auf dem heiligen Schiff in das Paradies ein-
ziehen. Joennas Leiche ist bereits einbalsamiert. Und nun haben
wir auch Nicor.«

»Mir gefällt Euer Ton nicht, Lord. Ihr nehmt zuviel als gege-

ben an.«

»Meine Königin, ich will nur …«
»Ihr beweist auch eine gewisse Berechnung in Eurem Eifer

das Volk zu täuschen, es glauben zu machen, wir hätten Prinz
Nicors Leichnam gefunden.«

»Meine Königin, es ist nur zu Eurem Besten!« erwiderte Hel

irritiert.

»Und zu Eurem, nun da die Priester uns vermählt haben, nicht

wahr?«

Der Tigerlord zuckte vielsagend die Schultern.
»Wie Ihr meint, meine Königin. Ich habe keine Bedenken,

diesen Fremden für unsere gute Sache zu benutzen. Durch eine
Fügung des Schicksals hat er Nicors geheiligten Kriegsschild
gefunden, nach dem unsere eigenen Leute vergeblich suchten.
Und durch eine weitere Schicksalsfügung ist er für unsere Zwe-
cke wohl geeignet. Die königlichen Kosmetiker werden wenig
Arbeit mit ihm haben.«

»Und Euer Gewissen plagt Euch nicht?«

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»Nein, meine Königin. Eure Herrschaft hängt vom Erfolg

dieses Plans ab. Außerdem sollte dieser Fremdling, wer immer
er auch ist, sich geehrt fühlen. In welch armseligem Land er
auch geboren sein mag, die Götter meinten es gut mit ihm. Es
widerfährt nicht jedem Dahergelaufenem die Ehre, Begleiter
einer toten Königin sein zu dürfen. Habe ich recht, Barbar?«

Lord Hel ritt näher an den im Netz baumelnden Brak heran.
Aus seiner Tunika holte er etwas Goldenes und hielt es Brak

vor die Augen. Brak erinnerte sich nun an vieles.

An die Worte des Wagenlenkers. An die unirdische Stimme

der schimmernden Erscheinung, die auf dem Schlachtfeld nach
ihrem Gemahl, ihrem Mitherrscher, suchte.

Gegen den Hintergrund der bleichen, zu ihm emporstarrenden

Gesichter von Hels Gefolgsleuten sah Brak das Ding, das Hel
emporhielt. Es war eine Münze. Auf einer Seite trug sie das
Bild der toten Königin und auf der anderen das eines Mannes.
Zweifellos stellte es Nicor dar.

»Seht es Euch gut an, Barbar«, höhnte Hel. »Fühlt Ihr Euch

nicht geehrt?«

Brak zuckte vor Entsetzen in den Schlingen des Netzes zu-

rück.

Das Gesicht auf der Münze hätte sein eigenes sein können.

*


Die Schleier der Bewußtlosigkeit begannen sich langsam auf-

zulösen. Braks Ohren nahmen eine Kakophonie von unheimli-
chen Geräuschen auf.

Eines davon war das schrille, durchdringende Klingen in sei-

nem Schädel. Es verursachte ungeahnte Schmerzen.

Er vermochte sich nicht zu bewegen. Seine Augen waren ge-

schlossen. Irgendwie wußte er, daß beträchtliche Zeit verstri-
chen war, vielleicht mehrere Tage und Nächte, seit er wie ein
Fisch im Netz gehangen hatte. Er erinnerte sich …

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Hel, der Tigerlord, hatte die Münze wieder eingesteckt und

einen weißhaarigen Greis an seine Seite gerufen. Der uralte
Schamane hatte bereits auf das Zeichen gewartet. Sein weites,
rotbraunes Gewand aus Sackleinen raschelte, als er seine Hände
zu bewegen und unverständliche Beschwörungen unter dem
Netz vor sich hin zu leiern begann.

Plötzlich hatte der Alte mit seinen langnägeligen Fingern et-

was aus den Falten seines schmutzigen Gewands geholt. Seine
Lippen wanden sich wie eine Schlange, und seine Augen roll-
ten wie die eines heiligen Fanatikers.

Der stämmige Barbar entsann sich, womit der Greis durch das

Netz hindurch in seine nackten Schenkel gestochen hatte. Es
war eine rostige, fischhakenähnliche Nadel gewesen, von der
eine gelbschillernde Flüssigkeit zäh heruntertroff. Beim ersten
Stich hatte die gummiartige Flüssigkeit das schreckliche Klin-
gen in Braks Ohren verursacht. Danach erfüllte ihn eine bleier-
ne Schwere, und seine Glieder wurden starr. Er war nicht mehr
imstande gewesen, auch nur mit einem Muskel zu zucken.

Das letzte, das er sah, ehe ihm die Sinne schwanden, waren

Hels zufrieden grinsendes Gesicht und, etwas weiter im Hinter-
grund, das bedrückte der Königin Rhea gewesen.

Als Brak nun wieder zu diesem gräßlichen Klingen in seinem

Schädel erwachte, übermannte ihn unbändiger Grimm, der sich
jedoch mit einer düsteren Vorahnung mischte. Vermutlich lag
sein Ende nicht mehr fern.

Er versuchte seine Arme zu bewegen. Er vermochte es nicht.

Sie waren steif und starr. Angst und das schreckliche Gefühl
der Hilflosigkeit bereiteten ihm Folterqualen.

Immer noch schrillte die grauenerregende Kakophonie in sei-

nen Ohren. Er wußte, daß er immer noch unter dem Einfluß des
Giftes stand. Sein Herz klopfte panisch.

Beruhige dich! mahnte er sich selbst. Der Boden unter ihm

schien leicht zu schaukeln. Er mußte sich auf einem Wasser-
fahrzeug befinden. Sei ganz ruhig, redete er lautlos auf sich ein.

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Du hast genügend Kraft, deine Augen zu öffnen, wenn du es nur
willst. Öffne sie, damit du dir ein Bild von deiner Lage machen
kannst. Dann such dir ein Schwert. Ein Schwert, das dir die
Freiheit zurückgeben kann.

Brak spürte, daß er sein Breitschwert nicht umgegürtet hatte.

Denn obgleich die Droge ihm die Herrschaft über seinen Kör-
per geraubt hatte, war er sich doch seines Zustandes durchaus
bewußt. Er lag horizontal. Seiden- und Leinentücher waren um
seinen Körper gewickelt. Seine unbedeckten Arme waren
schwer von Schmuck.

Und in seine Nase stieg ein betäubender Geruch − ein Geruch

ähnlich jenem, den er einmal in einer Stadt kennengelernt hatte,
durch die er gerade zog, als ein königlicher Prinz bestattet wur-
de. Der Geruch kam von den Ölen und Salben, mit denen Lei-
chen einbalsamiert wurden.

Der plötzliche Schreck verlieh Brak die Kraft, die Augen zu

öffnen. Er starrte in eine lodernde, zuckende Feuerwand. Sein
immer noch verschleierter Blick schreckte zurück, bis die
Wand sich in einzelne Teile auflöste und sein Gehirn registrier-
te, daß er auf eine Reihe eng nebeneinander brennender Fa-
ckeln starrte. Jede von ihnen steckte in einem elfenbeinernen
Halter, der von doppelter Mannshöhe war.

Dann dieses Chaos von Geräuschen. Aber auch das löste sich

langsam in einzelne unterschiedliche Töne und Laute auf. Da
war das Rauschen des Stromes, durch den das Schiff glitt. Dann
hörte er das Klingen von Glocken und das dumpfe Dröhnen
von Trommeln, in das sich das schrille Wehklagen eines Eunu-
chenpriesters mischte.

All dies drang wie durch einen Nebel hindurch in seine Oh-

ren, und manchmal übertönte ein lautes Gelächter es und ein
Stimmengewirr offenbar feiernder Menschen. Schließlich ver-
nahm Brak auch noch eine ferne Menschenmenge, deren Zehn-
tausende von Stimmen eine Hymne sangen.

Ein betäubender Duft von Blumen und Räucherwerk quälte

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seine Nase nicht weniger als jener der Salben und Öle, mit de-
nen er zweifellos einbalsamiert war.

Er stellte fest, daß seine Starre mit jenem Augenblick mehr

nachließ. Verlor das Gift seine Wirkung?

Mühsam noch, gelang es ihm, sich ein wenig auf die linke

Schulter zu rollen. Hier hatte er einen besseren Überblick, aber
einen, der sein Herz schier stillstehen ließ.

Brak lag auf einem hohen goldenen Katafalk am Heck einer

breiten Barke. Die elfenbeinernen Fackelständer befanden sich
an beiden Seiten der Reling. Zu seiner Linken sah er das dunkle
Wasser des Phrixos, in dem sich der Schein der Fackeln, Later-
nen und Lampen gelb und rot widerspiegelte.

Statt des sanften Ufers bei der Fähre stiegen hier schroffe

Klippen in die Höhe. Das bedeutete, daß das Schiff bereits eine
beträchtliche Strecke zurückgelegt haben mußte. Und auf die-
sen Klippen standen dichtgedrängt die Bürger Phrixos’, die eine
Trauerhymne singend auf die Barke herunterstarrten und auf
den Katafalk, der in Fackellicht gebadet war. Natürlich hielten
sie ihn, wie Hel es geplant hatte, für den toten Prinzen Nicor.
Aber Brak hatte nicht die Absicht, das grausame Spiel länger
mitzumachen. Er mußte fliehen.

Er hob den Kopf ein wenig. Sein Blick fiel auf seine Hand.

Entsetzt starrte er sie an, dann brachte er sie, ganz nahe an seine
Augen.

Die Haut war weiß wie die eines Toten. Er roch daran. Da fiel

ihm plötzlich ein, daß Hel etwas von Palastkosmetikern er-
wähnt hatte. Er sollte ja der tote Nicor sein.

Hastig lehnte Brak den Kopf wieder zurück und starrte hoch

auf den pfauenfarbigen Baldachin über dem Katafalk. Die sei-
denen Vorhänge eines großen Pavillons waren zurück gezogen,
um dem Volk einen Blick auf die letzte Reise seiner Herrscher
zu gestatten. Hoffentlich hatte niemand seine Bewegung be-
merkt. Aber das eintönige Singen hielt an.

Ein wenig beruhigt drehte er seinen Kopf Unmerklich nach

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rechts. Dort lag auf einem ähnlichen Katafalk der Leichnam der
Königin Joenna. Ihre Augenlider waren blau gefärbt und ge-
schlossen, ihre Hände auf der Brust gefaltet. Ihre Lippen hatte
man rot gefärbt, und eine Perlenkrone schmückte ihr Haupt.

Auch auf der rechten Uferseite standen Tausende und sangen

die Trauerhymne.

Eine quälende Vorahnung erfüllte Brak plötzlich. Der Leich-

nam der Königin lag tot neben ihm. Aber wo befand sich ihr
Geist, der ihm auf dem Schlachtfeld begegnet war?

Brak spürte, daß er ganz nahe war. Vielleicht schwebte ihre

Seele über dem bleichen Körper, der reglos lag, und ihm doch
so lebendig schien.

Brak fühlte sich hilfloser denn je in seinem Leben. Zwar be-

gann seine Kraft zurückzukehren, aber er hatte keine Waffe.
Sobald er sich von dem Katafalk schwang, würde die Men-
schenmenge an den Ufern es bemerken und aufzuschreien be-
ginnen.

Ganz vorsichtig hob er seinen Kopf, um sich ein besseres Bild

seiner Lage machen zu können.

Die Barke war das größte Wasserfahrzeug, das Brak je gese-

hen hatte. Er schätzte, daß sie so lang war wie hundert Elefan-
tenbullen von Schwanz bis Rüssel, und ein Viertel so breit. Das
Gewimmere des Priesters, die Musik und der laute Trubel der
Feiernden kam von einem hellen Fleck am fernen Bug. Dort
saßen wenigstens drei Dutzend Leute in einem von brennenden
Lampen erhellten seidenen Pavillon. Das Licht spiegelte sich
auf den silbernen Weinkelchen wider.

Zwischen den beiden Pavillons am Bug und Heck war das

Deck des Schiffes stockdunkel. Vielleicht war es früher einmal
mit Ruderbänken ausgestattet gewesen. Jetzt schien es jeden-
falls nur von der Strömung getragen zu werden, denn weder
Ruderer noch Segel waren sichtbar. Das einzige, das er in die-
sem mittleren tieferen Teil undeutlich zu erkennen vermochte,
war ein kleiner Steinaltar, der von drei eigentümlich geformten

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Lampen auf einem dreibeinigen Ständer mit einem rauchigen
Purpurglühen nur schwach beleuchtet wurde.

Brak glaubte neben diesem Altar eine hastige Bewegung be-

merkt zu haben, aber er konnte nicht sicher sein.

Ein Windstoß zerrte an den Vorhängen des Bugpavillons. In

seinem Licht sah er unter den Feiernden Männer mit tigerge-
streiften Umhängen. Bestimmt würden sie nicht auf der Barke
bleiben, denn jenseits der dunklen Schleier, was immer das
auch war, lag das geheiligte Reich der Toten, das sie sicher we-
der betreten durften noch wollten. Jedenfalls bedeutete es, daß
die Priester und Feiernden eine Möglichkeit haben mußten, das
Schiff im rechten Augenblick zu verlassen. Ein Boot vielleicht?
Doch wo befand es sich?

»Barbar?«
Das zischelnde Flüstern ließ die Haare auf seinem Nacken

aufstellen. War der Geist der toten Königin erneut unterwegs?

»Barbar?« Wieder erklang die leise, etwas heisere Stimme.

»Dreht Euren Kopf nicht zu sehr. Ich schlich mich vom Altar
zu Euch.«

Dann hatte er sich die Bewegung dort also nicht eingebildet.
»Wo seid Ihr?« flüsterte er zurück.
»Ich habe mich zwischen den beiden Katafalken versteckt. Es

ist etwas beschämend für eine Königin.«

»Königin Rhea?«
»Ja.«
»Warum seid Ihr …?«
»Fragt nicht!«
Die Antwort kam scharf, aber auch irgendwie gepreßt. Wein-

te das Mädchen vielleicht? Aber im Plätschern der Wellen war
es schwer zu erkennen.

»Ich ändere vielleicht meinen Entschluß. Möglicherweise ist

mir die Erhaltung meines Königreichs doch wichtiger als das
Leben eines namenlosen Fremdlings. Aber inzwischen habe ich
Euch etwas gebracht, womit Ihr Euch vielleicht befreien könnt,

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wenn Ihr es wagt. Doch nun muß ich zurück, ehe man mich
vermißt. Nicht einmal das ausgeliehene Kapuzengewand einer
der Schankmaiden würde mich dann noch vor Entdeckung
schützen.«

»Ich verstehe es nicht«, murmelte Brak. »Ist es denn nicht so,

daß Ihr den Thron verlieren würdet, wenn mein als Nicor zu-
rechtgemachter Körper nicht mit der toten Königin die dunklen
Schleier durchdringt? Die Priester würden es als böses Omen
auslegen.«

»Es ist der Tigerlord, der so versessen ist auf den Thron und

auf mich.«

»Und Ihr seid nicht an der Regentschaft interessiert?«
»Freilich bin ich es, Ihr Einfaltspinsel. Wollt Ihr denn unbe-

dingt, daß ich meine Meinung ändere und das mit zurückneh-
me, was ich für Euch hier habe?«

»Nein«, wehrte Brak eilig ab. »Aber ich muß wissen, warum

Ihr es tut.«

»Weil ich eine Närrin bin und ein Menschenleben, selbst Eu-

res, höher schätze als den Thron. Aber ich warne Euch. Wenn
Ihr noch mehr Zeit mit Reden vergeudet, wird es zu spät für
Euch sein, über Bord zu springen. Wir nähern uns schon der
Stelle, wo die Priester und Feiernden das Schiff verlassen müs-
sen. Die Strömung nimmt bereits zu. Und seht Ihr den Himmel?
Das dort sind die ersten Wolken der dunklen Schleier.«

»Was sind die dunklen Schleier eigentlich?«
»Gewaltige Wolken, die ohne Unterlaß von einem Ufer zum

anderen über dem Phrixos hängen.«

»Und was liegt jenseits von ihnen?«
»Das Paradies«, murmelte sie. »Oder vielleicht auch die Höl-

le. Stetes Donnergedröhn dringt durch die Wolken hindurch,
die meilenweit in allen Richtungen das Land einhüllen. Es ist
ein heiliger Ort, den kein Lebender zu betreten wagt. Wenn
man sich den dunklen Schleiern vom Land aus nähert, kommt
man an eine gewaltige Wolkenbank, die schreckliche Kälte

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ausströmt. Was dahinter liegt, vermag ich nicht zu sagen. Das
Land dort gilt seit undenklichen Zeiten als tabu. Vielleicht
stürzt der Phrixos in die Tiefe, ins Innere der Erde sogar. Aber
die Priester behaupten, es sei das Paradies … Oh, Ihr törichter
Narr! Wollt Ihr mir endlose Fragen stellen? Auch meine Si-
cherheit ist in Gefahr.«

Brak kaute an seiner Unterlippe.
»Die Menschen auf den Klippen werden mich sehen und auf-

schreien, wenn ich mich bewege.«

»Dann laßt sie doch. Ihr müßt gleich in den Fluß springen.

Wenn Ihr stark genug seid, gegen den Strom zu schwimmen,
um nicht in die Schleier getragen zu werden, könnt Ihr viel-
leicht entkommen.«

»Und was ist mit Euch? Mit Eurem Thron?«
Ihre Stimme klang bissig und traurig zugleich, als sie antwor-

tete: »Ich wäre nicht gekommen, Barbar, wenn der Thron mir
mehr bedeutete als Rechtlichkeit. Die Welt besteht nämlich
nicht nur aus Menschen wie Lord Hel. Vielleicht ist es das, was
ich beweisen muß. Joenna, sie war immer die Unerbittliche, die
Kühne, die Kriegskönigin. Ich bin jünger und vielleicht auch
weicher. Die Hofzauberer schimpften mich einmal eine ver-
heulte Gans. Ich weinte über ein Kitzlein, das sie am Altar ab-
schlachteten. Fragt mich nicht, warum ich so töricht bin, die
Ungnade der gehörnten Göttin auf mich herabzubeschwören.
Oder warum ich den Thron aufs Spiel setze, der noch für mich
leersteht, aber für den ich vielleicht gar nicht stark genug bin.
Doch ich blieb fast zu lange. Ich muß zurück. Ich …«

Brak vernahm ein unterdrücktes Schluchzen und das Ra-

scheln von Stoff. Das dunkelhaarige Mädchen erhob sich ab-
rupt aus ihrem Versteck. Ihre Züge waren zum größten Teil un-
ter der rauhen Kapuze verborgen, aber der Barbar vermochte
doch das Glitzern von Tränen auf ihren Wangen zu erkennen.

»Müßt Ihr denn alles aus mir herauslocken, Barbar? Ihr seid

wie das Tier, um das ich mir vor so langer Zeit die Augen aus-

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weinte. Ich kann kein Geschöpf sterben sehen, für das mein
Herz Liebe empfindet.«

Hastig drückte sie ihre Lippen auf die seinen, dann huschte

sie lautlos davon. Einmal noch wandte sie sich um und flüsterte
warnend: »Schwimmt fest, gleich wenn Ihr über Bord seid. Die
Strömung ist beträchtlich hier. Doch Eure Kraft müßte bald zu-
rück sein. Als sie Euch das letzte und tödliche Gift einstechen
wollten, gelang es mir vorher unbemerkt, die Nadel an meinem
Saum abzuwischen. Möge die gehörnte Göttin mir verzeihen.«

Neue Hoffnung durchströmte Brak. Die Barke schien schnel-

ler zu werden. Dicke Wolken hingen tief über dem Schiff. Wa-
ren das bereits die ersten Ausläufer der dunklen Schleier?

Die Seite des Pavillons bauschte sich auf. Der Wind wurde

heftiger.

Braks Lippen erinnerten sich des salzigsüßen Kusses des

Mädchens Rhea. Er war die Erklärung für den schrecklichen
Kampf, den sie mit sich selbst ausgefochten haben mußte, ehe
sie sich entschloß, alles aufs Spiel zu setzen, um ihn zu retten.
Ihr Mut sollte nicht umsonst gewesen sein.

Vorsichtig schob er seine Rechte über die Seite des Katafalks

und tastete nach dem Gegenstand, den sie für ihn zurückgelas-
sen hatte.

Sein Breitschwert! Sie hatte es unter dem Gewand ge-

schmuggelt. Mögen die Götter es ihr lohnen!

Brak spürte, daß er wieder völlig Herr seines Körpers war. Er

umfaßte den Schwertgriff, holte tief Luft und schwang sich ü-
ber die Seite. Die Barke schnitt nun noch schneller als zuvor
durch das Wasser. Eine der tief hängenden Wolken streifte be-
reits das Deck.

Braks Linke zerrte an der juwelengeschmückten Kopfbede-

ckung und warf sie zu Boden. Mit einer wilden Bewegung ließ
er den gelben Zopf über den Rücken fallen. Plötzlich blies der
Wind die Wolke über Schiff und Wasser, die bisher die Sicht
gehemmt hatte, davon.

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Die Menge am Ufer brüllte auf. Sie hatte den vermeintlichen

Toten vom Katafalk springen sehen.

»Hallo! Hallo, Barke!«
Brak stürzte zur Reling. Die aufgeregte Stimme kam von ei-

ner kleineren Barke, die seitlich mit einem dicken Tau an der
großen befestigt war. Ein Schwarzgekleideter mit Tigerumhang
schwenkte eine Laterne und brüllte weiter:

»Lord Hel! Majestät! Beeilt Euch! Wir haben den rituellen

Ort des Abschieds bereits passiert. Ihr müßt aussteigen! Die
Strömung wird immer stärker!«

Die Priester und Feiernden eilten zur Deckmitte in den Bauch

des Schiffes, wo sich früher einmal die Ruderbänke befunden
haben mußten und die Ausstiegluken waren.

Einige der Gefolgsleute begannen hastig eine Art Korbsitz an

ein Tau zu binden. Eine Fackel warf einen kurzauflodernden
Schein auf eine Krone in dunklem Haar. Königin Rhea war
zweifellos die erste, die man von Bord bringen würde. Er muß-
te sofort verschwinden, sollte ihr Einsatz sich noch bezahlt ma-
chen.

Er packte einen der Fackelständer und schwang sich mit sei-

ner Hilfe auf die Reling.

»Nicor!«
»Nicor!«
»Prinz Nicor wandelt!«
Die Menge am Ufer tobte. Tausende und aber Tausende von

aufregenden Stimmen schrien den Namen des Prinzen.

Nun wurden auch die Aufbrechenden auf der Barke darauf

aufmerksam. Lord Hel löste sich aus der Mitte seiner Gefolgs-
leute und gab eilige Befehle.

Mit fliegenden Umhängen und gezogenen Klingen kamen sie

auf Brak zugestürzt. Der Barbar auf der Reling zögerte. Ein
wilder Grimm durchtobte ihn, der zumindest nach dem Leben
eines der Verschwörer schrie, die ihn opfern hatten wollen, um
ein ganzes Volk zu betrügen!

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Ein Zeremonienspeer lehnte gegen den Katafalk, auf dem

Brak gelegen hatte. Der Barbar sprang von der Reling herunter,
wechselte das Schwert in die Linke und packte den Speer. Mit
funkelnden Augen wartete er, bis der erste von Hels Männern
die Treppe vom Mitteldeck hochstürmte. Dann warf er den
Speer mit der ganzen Wildheit, die ihn ihm steckte.

Der Mann schrie und warf die Arme hoch. Mit dem Speer

durch den Leib taumelte er die Treppe zurück. Seine ihm fol-
genden Kameraden stießen ihn instinktiv zur Seite, und er
stürzte über die Reling.

Ein schreckliches Gebrüll ertönte. Alle starrten ins Wasser.

Brak wagte einen schnellen Blick. Einer von Hels Offizieren
war über den Bug des kleineren Schiffes geschleudert worden.
Und irgendwie war das starke Tau zertrennt, das die kleine mit
der großen Barke verbunden hatte. Noch ehe Brak Luft holen
konnte, weitete sich der Abstand zwischen den beiden Wasser-
fahrzeugen beträchtlich. So wurde durch einen Zufall − oder
war es eine Fügung des Schicksals? –, als der vom Speer
durchbohrte Soldat fiel, der Rückweg abgeschnitten.

Flüche ertönten, und Panik brach im Bauch der Barke aus.
Wütend über sich selbst sprang Bark von der Reling zurück.

Allein sein Rachedurst hatte dazu geführt. Er kauerte kampfbe-
reit, als der Trupp des Tigerlords sich wieder sammelte und die
Treppe herauf gestürmt kam.

Mit wildem Blick folgte Hel. Er schlug mit den Fäusten auf

seine Leute ein und brüllte: »Packt ihn und erschlagt ihn. Ihm
verdanken wir es, daß wir keine Umkehrmöglichkeit mehr ha-
ben. Daß mir keiner von euch über Bord springt, ehe er nicht
tot ist!«

Vorsichtig schlichen vier von Hels Mannen auf Brak zu. Die

Barke schlingerte. Sie tauchte in die immer dichter werdenden
Wolken ein. Die Tausende auf den Klippen, die ihre Wut und
Angst hinausheulten, waren nun kaum noch sichtbar.

Braks Breitschwert ruckte hoch. Jetzt war er bereit, zu bleiben

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und bis zum Tod zu kämpfen. Erschreckt sah er, daß Hel sich
hinter den Soldaten umgewandt hatte und Königin Rhea heftig
an den Schultern schüttelte. Der Tigerlord beugte sich über sie
und stieß sie mit dem Rücken gegen den Altar.

Ahnte Hel, daß sie ihm geholfen hatte?
»Greift von links an!« befahl einer der Offiziere und stürmte

auf Brak ein. Zwei andere stürzten von der entgegengesetzten
Seite auf ihn zu. Brak sprang heftig atmend zurück, bis seine
Schulter den Katafalk berührte. Er kletterte hinauf. Eine ver-
zweifelte Idee kam ihm.

Der erste der Soldaten griff an. Brak stieß hart nach unten,

dann zog er schnell sein Schwert wieder hoch. Der Angreifer
taumelte zurück. Seine Hand fuhr nach der Kehle. Dann brach
er mit zuckenden Gliedern zusammen. Brak hatte inzwischen
den Seidenbezug des Pavillons abgerissen, um mehr Bewe-
gungsfreiheit zu haben. Wieder schlingerte die Barke und legte
sich schräg. Ihre Geschwindigkeit hatte sich inzwischen ver-
doppelt.

Brak kämpfte um sein Gleichgewicht. Dann zerrte er Prinz

Nicors gewaltigen Schild zu sich heran und legte den Arm
durch die Schlaufen. Schwankend begann er sich wieder seinen
Feinden zuzuwenden.

Fast wäre er vor Entsetzen hinabgestürzt.
Vom anderen Katafalk, wo die tote Königin lag, löste sich ein

durchscheinender Geist.

Vorsichtig näherten sich die Soldaten.
Konnten sie Joennas Geist nicht sehen? Bemerkten sie denn

nicht die brennenden Augen, die sich ihm zuwandten? Hörten
sie nicht die gespenstische Stimme?

»Liebster mein Liebster? Ich schlief friedlich, bis ich spürte,

daß du dich bewegst. Und nun ist der Schild fort, und du willst
nicht bleiben. Ich kann dich nicht gehen lassen, mein Liebster!
Wir müssen gemeinsam durch die dunklen Schleier.

Gemeinsam …«

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Eine ätherische Hand griff nach ihm und umklammerte seinen

rechten Arm.

Der riesige Barbar sah mit grauenerfüllten Augen, daß sein

Fleisch dort, wo die Erscheinung ihn berührte, zu schleimiger
purpurfarbener Substanz wurde. Eine verzehrende Kälte durch-
strömte ihn, die Kälte des Grabes, der toten Seele, die ihn rief,
die das Leben aus ihm sog.

Er versuchte sein Breitschwert zu heben, die Klinge durch

den durchscheinenden Körper der Königin zu stoßen. Aber sei-
ne Rechte war kraftlos, schwer und gelähmt in der fleischlosen
Umklammerung.

Näher schwebte sie, näher.
Braks Arm färbte sich mit purpurner Nässe unter dem krank-

haften Weiß, das die Kosmetiker aufgetragen hatten. Die Tiger-
soldaten machten sich zum Angriff bereit. Lord Hel stürzte mit
bleichem, wutverzerrtem Gesicht durch sie hindurch.

Brak sah alles wie verschwommen. Er versuchte, aus dem ge-

spenstischen Griff freizukommen, wand seinen Arm, bemühte
sich, ihn zurückzuzerren. Er war nun sicher, daß die Soldaten
unten den Geist der Königin nicht zu sehen vermochten. Für sie
mußte er wie ein Besessener wirken.

»Packt ihn endlich!« brüllte Lord Hel. »Laßt ihn die Klinge

spüren. Worauf wartet ihr noch?«

»Seht doch!« flüsterte einer der Offiziere. »Seht doch, wie er

sich windet und krümmt, als hätte er den Teufel in sich. Die
heilige Krankheit hat ihn befallen!«

Hel holte aus und schlug dem Offizier ins Gesicht. Blut schoß

aus dessen Nase.

»Weigert ihr euch, mir zu gehorchen?« brüllte der Tigerlord.

»Auf ihn! Heilige Krankheit oder nicht. Du, Phidor, du bist ihm
am nächsten.«

All das hörte Brak wie durch Watte hindurch. Es schien ihm

so unwirklich. Von entsetzlicher Wirklichkeit war nur die ge-
spenstische Stimme und die Phantomgestalt, die noch näher

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schwebte.

»Ich lasse dich nicht von mir gehen. Ich lasse es nicht zu!«
Irgendwie schien die Erscheinung Hunderte von Händen zu

haben, mit der sie Braks Schultern berührte und sein Gesicht,
seine Beine, seine Brust. Die Todeskälte entzog ihm seine
Kraft.

»Stich zu, Phidor! Stich zu!« kreischte Hels Stimme durch

den tobenden Wind.

Der gelbhaarige Barbar sah nur das Glitzern der Waffe aus

den Augenwinkeln. Er zerrte voll Verzweiflung, um seinen
Arm freizubekommen, und taumelte dabei seitwärts. Das rettete
ihn vor der Klinge, die sonst seinen Leib aufgeschlitzt hätte.

Die vordere Hälfte des Schwertes schien wie in dichten Nebel

getaucht. Der Tigeroffizier stolperte rückwärts und ließ die
Waffe fallen. Brak sah die Haut des Mannes sich auflösen und
wie purpurner Schleim zu Boden tropfen.

Der Offizier biß sich in die Hand und torkelte zur Reling.

Schaum trat aus seinem Mund. Er heulte wie ein tollwütiger
Hund.

Nie hatte Brak je ein gespenstischeres Duell gefochten als

jetzt. Ein Teil seines wie betäubten Verstandes befahl ihm, sich
vor dem Dutzend glänzender Klingen hinter ihm und zu seiner
Linken in acht zu nehmen, wo die Soldaten sich unter den Fa-
ckeln zusammenrotteten. Er wußte, warum sie zögerten, an-
zugreifen. In ihren Augen war er ein sich in Krämpfen winden-
der Besessener. Sie wußten nicht, daß er den schwersten Kampf
seines Lebens gegen dieses schreckliche Phantom focht.

Das Gesicht der toten Königin schwebte näher. Durch die

Züge hindurch sah Brak alles, die Fackeln, die Wolkenschleier,
die Barke, wie in einem Traum verblassen. Die traurigen fle-
henden Geisteraugen dagegen schwollen an, schienen immer
wirklicher, bis Brak das Gefühl hatte, in wirbelnde graue
Schleier gehüllt zu sein. Sein Körper war steif und gehorchte
ihm nicht mehr. Eine Warnglocke dröhnte in seinem Gehirn.

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Doch die Lippen der toten Königin kamen immer näher, wür-
den bald die seinen berühren und den letzten Rest des Lebens-
hauchs von ihm nehmen.

Wie aus ganz weiter Ferne hörte Brak die Tigermänner aufge-

regt durcheinanderrufen.

»Lord«, brüllte einer, »es ist Selbstmord, ihn auch nur zu be-

rühren!«

»Und euer Tod durch meine Hand, wenn ihr es nicht tut!«

heulte Hel aufgebracht und bahnte sich mit den Ellenbogen ei-
nen Weg durch die verängstigte Gruppe. »Feiglinge seid ihr al-
lesamt!« knurrte er. »Geht mir aus dem Weg. Er soll meine
Waffe fühlen.«

Mit schier übermenschlicher Anstrengung versuchte Brak,

sich auf Hels Schwert zu konzentrieren. Aber die Erscheinung
der Königin wand sich um ihn. Überall färbte seine bronzene
Haut sich nun purpurfarben und begann unter dem weißen To-
tenbalsam naß zu glänzen.

Als Hel zum tödlichen Streich ausholte, bemerkte Bark er-

neut, was ihm bereits als Gefangener im Netz aufgefallen war.
Lord Hels scharfe Klinge war halb vom eingetrockneten Blut
eines seiner Feinde bedeckt.

In einem Augenblick erschreckender Klarheit, als hätten seine

Sinne sich verschärft, entdeckte Brak winzige Silberkratzer im
blutigen Überzug. Sie stammten zweifellos vom Werkzeug ei-
nes Waffenschmieds, der vergeblich versucht hatte, die Blut-
schicht abzuschleifen.

»Liebster, Liebster, mein Liebster«, klagte die tote Königin.
Lord Hel legte seine ganze vom Grimm noch erhöhte Kraft in

den Stoß. Wie ein silberner Blitz zuckte die Klinge geradewegs
auf Braks breiten Rücken zu.

»Ich bin nicht Nicor!« versuchte der Barbar auszustoßen,

doch nur sein Geist brüllte es, denn die Zunge versagte. »Ich
bin nicht Nicor!«

Es war ihm, als müsse sein Gehirn unter der Anstrengung

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zerplatzen. »Ich bin nicht Nicor!« bemühte er sich, jede Silbe
zu betonen.

Die Zeit schien stehenzubleiben. Hels Klinge hing scheinbar

bewegungslos in der Luft. Sie funkelte silbern, außer der unte-
ren, mit dem eingetrockneten Blut bedeckten Hälfte. Brak ver-
suchte, sich zu ducken, um ihr auszuweichen. Doch der schim-
mernde Leib der Königin hüllte ihn nun schon fast ganz ein. Ih-
re lautlose Stimme dröhnte in seinem Gehirn, daß es noch mehr
schmerzte.

»Liebster, die dunklen Schleier harren …«
Der Geist der Toten berührte ihn an hundert Stellen gleichzei-

tig, drängte sich an ihn und flutete durch ihn hindurch, wollte
seine Seele in ihre saugen.

Brak zerrte den Kopf zurück. Die Adern an seinen Schläfen

drohten zu zerspringen, aber endlich gehorchten seine Stimm-
bänder:

»ICH BIN NICHT PRINZ NICOR!«
Das Heck der Barke schwang hoch. Panische Schreie erschüt-

terten die Nacht. Brak wurde heftig gegen den Katafalk ge-
drückt. Der Fluß donnerte. Das Schiff war in die finstere Wol-
kenbank eingedrungen und befand sich jetzt inmitten der dunk-
len Schleier. Hels Klinge verfehlte durch das hochschnellende
Heck ihr Ziel. Die Zeit, die stehengeblieben war, raste nun wie-
der mit erschreckender Geschwindigkeit dahin. Mit einem hef-
tigen Ruck warf Brak sich rückwärts, aus der Umarmung der
gespenstischen Erscheinung. Und wieder brüllte er:

»Ich bin nicht Prinz …«
Ein Donnerschlag nach dem anderen erschütterte die dunklen

Wolken. Brak hörte eine tiefe geisterhafte Stimme den Satz be-
enden, den er angefangen hatte:

»… NICOR …«
Brak drehte den Kopf und sah Hels Gesicht nur eine Hand-

breit von seinem eigenen entfernt. Die Augen des Tigerlords
schienen aus ihren Höhlen zu quellen. Seine Klinge, die den

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Barbaren um nur wenig verfehlt hatte, war in die Dunkelheit
eingedrungen, doch die Blutflecken darauf glühten wie feurige
Schrift; so blendend, daß Brak seine Augen schützen mußte.

Die Geisterstimme, aus dem Donner geboren, dröhnte fort:
»NICOR NICOR NICOR NICOR …«
Ein Blitz zuckte auf, ein Wirbel von Licht.
Etwas Perlschimmerndes, Greifbares bildete sich auf der

blutüberzogenen Klingenhälfte, die teilweise im Leib der Köni-
gin eingebettet war. Hel versuchte, den Griff fallen zu lassen.
Doch seine Hand wollte sich nicht davon lösen. Sein ganzer
Körper begann zu zittern und zu zucken.

»N I C O R N I C O R …«, donnerte die Schleierform, die aus

den Blutflecken auf der Klinge entstand. Brak sah, wie das
Purpur von seinem rechten Arm schmolz und er wieder weiß
wurde. In jenem Moment, während Hel verzweifelt versuchte,
das Schwert zurückzuziehen, verstand Brak.

»Mörder!« brüllte er.
Und noch einmal: »Mörder!« Er vermochte sich nun so weit

zu bewegen, daß er seinen linken Arm aus den Schildschlaufen
ziehen konnte. »Dort ist Nicor! Dort ist alles, was von ihm
noch übrig ist. Das Blut auf Eurer Klinge!« Brak holte tief Luft.
Mit einem wilden Lachen ergriff er sein Breitschwert und hob
es über den Kopf. »Mörder!« brüllte er erneut.

Die Offiziere des Tigerlords schienen die Gefahr zu spüren.

Drei Klingen richteten sich gleichzeitig gegen Braks unge-
schützten Leib.

»Mörder! Mörder Eures eigenen Prinzen!« brüllte er weiter.

»Um Rhea zu bekommen und den Thron, habt Ihr ihn erschla-
gen!«

Brak ließ sein Breitschwert niedersausen und spaltete Hels

Schädel.

Mit einemmal verlor Königin Joennas Geisterleib seine Form.

Die Erscheinung vermischte sich mit dem Schleierwesen, das
aus Nicors Blut von Hels Klinge gewachsen war. Vereint wur-

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de es zur wirbelnden Wolke, die sich hochschwebend in den
dunklen Schleiern verlor.

Die Barke schlingerte heftig. Tobende Schaumkronen spülten

über die Reling. Von seinem hohen Stand auf dem Katafalk ließ
Brak sein Schwert durch die Luft sausen und mähte Köpfe und
Arme der Angreifenden ab.

Eine ihrer Waffen schlitzte seinen Schenkel auf. Er glitt in

seinem eigenen Blut aus und kämpfte um sein Gleichgewicht,
während sein Breitschwert durch die Brust jenes drang, der ihn
verwundet hatte.

Grimmig zog er es frei. Der Sturm spielte mit seinem Zopf

und wurde immer heftiger. Brak ging in die Knie. Es war ein
Wind, wie er ihn nie zuvor erlebt hatte: der Wind, der die ver-
einten Schemen der Seelen Joennas und des ermordeten Nicors
emporwirbelte. Es war die Lebenskraft des Prinzen, die in dem
Blut auf Lord Hels Klinge auf den Augenblick der Rache ge-
wartet hatte.

Unter ihm, rund um den Katafalk, stießen die Tigersoldaten

immer noch nach ihm. Brak hieb auf sie ein. Aber seine Ge-
danken waren anderswo. Eine Seele, die sich von dem Schwert
erhob,
dachte er. Nicors Seele. Sein Körper wurde gemordet,
aber seine Seele blieb, bis Joenna sie fand und durch ihre Be-
rührung befreite, nachdem sie endlich erkannt hatte, daß ich
nicht Nicor bin.

Diese Gedanken hallten während des ganzen blutigen Kamp-

fes in seinem Kopf wider. Die verstümmelten Körper der Ti-
germänner häuften sich, während Brak sein Schwert singen
ließ. Das Schiff raste dahin. Schwarze glänzende Felsen an bei-
den Ufern waren undeutlich durch die wirbelnden Wolkenfet-
zen zu erkennen, und eine neue Art von Donner erscholl vor-
aus.

Nun war Brak klar, daß dieses Paradies der Leute von Phrixos

nichts weiter als eine nebelverhüllte Schlucht war, durch die
der Fluß über eine Unzahl von Stromschnellen hinweg dahin-

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brauste. Und wenn seine Ohren ihn nicht trogen, rasten sie nun
direkt auf einen gewaltigen Wasserfall zu.

Die Barke streifte einen Fels und legte sich schief. Eine

schäumende Woge schlug über Bord. Sie knickte die Elfen-
beinständer und löschte die Fackeln. Die letzten der Tigersolda-
ten ließen von ihm ab. Sie schwangen sich über die Reling und
verschwanden mit gellenden Schreckensschreien im tobenden
Wasser.

»Barbar? Barbar! Die Lichter sind erloschen. Wo seid Ihr?«
Über das Tosen der Elemente hinweg hörte Brak die dünne,

verlorene Stimme.

»Hier, meine Lady! Hier, Königin Rhea!« brüllte er mit

schmerzenden Lungen zurück. »Hier, am Heck bei den Kata-
falken! Kommt an der Reling entlang, aber achtet auf die To-
ten.«

»Ich fürchte mich, Barbar. Wir sind bereits in die dunklen

Schleier eingedrungen!«

»Ich sehe Euch!« schrie Brak. »Ich komme Euch entgegen!«
Ein paar Fackeln flackerten noch am Heck. In ihrem Licht sah

Brak eine schreckliche Erscheinung. Eine Frau mit goldenen
Brüsten starrte ihn aus dem Dunkel rachsüchtig an. Ihre Hörner
funkelten.

Der Schild!
»Hierher, meine Lady! Folgt meiner Stimme! Hierher!«
Brak tastete nach den Schlaufen des riesigen Schildes, ehe er

über Bord gespült wurde. Er wußte, daß er ihn retten mußte,
genau wie sich selbst und die Königin, die im Umhang der
Schankmaid vor ihm auftauchte.

Heftig keuchend, lehnte er sich gegen den Katafalk.
»Wir haben ein Sakrileg begangen!« wimmerte sie.
»Du mußt stark sein, Mädchen!« mahnte Brak. »Halte dich an

meinem Arm fest.« Er kletterte von dem Katafalk herunter und
legte schützend beide Arme um Rhea, als die Barke sich auf die
andere Seite legte und beide mit voller Gewalt gegen die Reling

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geschleudert wurden. Das Schiff war von einem gewaltigen
Strudel erfaßt worden und drehte sich wild. Das Tosen des
Wasserfalls war ohrenbetäubend.

Rhea schluchzte und versuchte, ihn von sich zu stoßen. »Wir

haben die gehörnte Göttin erzürnt. Wir haben das Paradies le-
bend betreten, wir haben es verdient, zu …«

»Paradies!« höhnte Brak. Grimmig packte er sie beim Haar

und zog ihren gesenkten Kopf hoch. Er funkelte sie wild an,
daß sie zu zittern begann. »Mädchen!« donnerte er. »Wir wer-
den sterben, ob wir es nun verdienen oder nicht, wenn wir nicht
gleich von Bord springen. Dieses Paradies von Phrixos ist ein
Wasserfall in endlose Tiefen. So, klammere dich an mir fest!«

Mit schwindender Kraft nahm er sie in die Beuge seines lin-

ken Arms, von dem nun der Schild hing. Er stieß sein Breit-
schwert in die Hülle zurück. Dann stützte er sich mit der Rech-
ten gegen einen der geborstenen Elfenbeinständer und hob sich
mit seiner doppelten Last auf die Reling.

Er sprang in den tobenden Fluß.

*


Der Mahlstrom erfaßte sie, wirbelte sie herum und schleuder-

te sie schließlich gegen einen vom Wasser rundgespülten Fel-
sen. Der Aufprall raubte Brak die Besinnung; der Schmerz in
seinem aufgeschlitzten Oberschenkel brachte sie wieder. Er
stellte fest, daß er von den Fingerspitzen bis zum Ellenbogen
blutig war, obwohl das Wasser ihn wild umspülte.

Er blickte auf Königin Rhea hinab. Sie hatte ihren Kopf ge-

gen seine Brust gedrückt. Irgendwie wußte er, daß sie beide
sich die ganze Nacht an dem Fels festgehalten hatten. Das trübe
Licht des Morgens drang durch die wirbelnden Nebelschleier.

»Ich glaube nicht, daß es hier je heller wird«, keuchte er. Mit

zusammengekniffenen Augen musterte er die Stromschnellen.
Es würde nicht leicht sein, das Ufer zu erreichen. Aber sie hat-

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ten keine Wahl. »Meine Lady? Königin Rhea, wir müssen …«

Plötzlich erinnerte er sich. In jenen Augenblicken, als sie dem

Tod nahe waren, hatte er den äußeren Schein fallenlassen und
sie Mädchen genannt und geduzt.

»Die gehörnte Göttin wird uns vernichten«, murmelte Rhea.

»Wir haben eine schwere Sünde auf uns geladen!«

»Nicht wir«, keuchte Brak, »sondern der Tigerlord! Er hat

Nicor auf dem Schlachtfeld erschlagen und seinen Körper zer-
stört. Durch Euch hoffte er, zum Thron zu kommen. Aber Ni-
cors Seele vermochte er nichts anzutun. Sie lebte weiter.«

Braks Stimme wurde leiser. Er hatte in die Luft geredet. Sie

konnte ihn weder hören noch verstehen. Sie war taub vor
Angst.

Schweigend hielt er sie in seinem Arm und gab sich wieder

seinen Gedanken hin. Er hatte auf seiner langen Reise viel
Wunderbares und Erstaunliches gesehen und erlebt. Aber nie
zuvor war er je auf eine Liebe gestoßen, die so stark war wie
jene der toten Königin Joenna für Nicor. Es war eine Liebe, die
den Tod überdauerte und ihre Seele auf Suche geschickt hatte,
bis sie seine fand, vielmehr das, was davon noch übrig war, ge-
kettet an das Schwert seines Mörders. Brak zweifelte, daß er je
den Anblick jener wirbelnden Wolke vergessen würde, die sich
von der Barke gen Himmel erhoben hatte. Zwei befreite Seelen,
die in ein Paradies schwebten, das ihre Götter für sie ausge-
sucht hatten.

Eine gewaltige Welle schlug gegen Braks Rücken. Er blickte

hinab auf das nasse, völlig erschöpfte Mädchen in seiner Arm-
beuge, das der riesige goldene Schild ein wenig schützte. Er
war durchgefroren, müde und fast gleichgültig. Aber der An-
blick des liebreizenden Geschöpfs rüttelte ihn auf.

»Schließlich ist sie die Königin«, murmelte er (oder vielleicht

dachte er es auch nur), »vergiß das nicht.«

Irgendwie gab das Brak ein wenig seiner Kraft wieder. Mit

ihr im Arm kämpfte er gegen Strömung, Strudel und Strom-

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schnellen an. Halb erschlagen, völlig erschöpft, aber doch le-
bend, gelangte er mit ihr am nebelverhangenen Ufer an. Keinen
Schritt weiter vermochte er zu machen! Er legte sie behutsam
aufs Trockene, dann fiel er kraftlos auf die Ufersteine. Der
Schild rollte ihm aus dem Arm, und der Schaum der eisigen
Wellen besprühte ihn.

Undurchdringliche Dunkelheit hüllte ihn ein.

*


Brak saß auf seinem neuen Pferd, viele Meilen südlich der

Phrixosfälle. Er blickte vom Rande eines Feigenhains hinunter
auf die spitzen Türme und vergoldeten zwiebelförmigen Kup-
peldächer jener großen Stadt, zu der sie sich geschleppt hatten.

Viel Zeit war seit ihrer Ankunft vergangen. Eine neue Ernte

war inzwischen herangereift. Brak hatte nicht ohne Absicht die-
se Stadt ausgesucht, nachdem er Rhea davon abgeraten hatte,
nach Phrixos zurückzukehren, ehe die Zeit dafür reif war. Er
hatte sie an die vielen Tausenden erinnert, die von den Ufern
her Zeuge des Spuks gewesen waren; die miterlebt hatten, wie
die Barke in das angebliche Paradies eindrang.

Sie hatten gesehen, wie der vermeintliche Leichnam Nicors

sich erhob und kämpfte. Wenn also Königin Rhea wirklich an
die Macht kommen sollte, brauchte sie ein mächtiges Zeichen,
das stärker war als jegliches böses Omen, das die Priester aus
den unvorhergesehenen Vorfällen auf dem Schiff herauslasen.

Gemeinsam hatten sie einen Plan ausgeheckt.
Sechs Monde lang hatte Brak sich in den Granitsteinbrüchen

außerhalb dieser Stadt verdingt, die berühmt für ihre Feigen
und geschliffenen Edelsteine war. Sie hatten sich ein armseliges
Quartier gemietet und schliefen auf Strohpritschen, zwischen
denen sie eine Trennwand aus Matten aufgerichtet hatten. Sie
lebten zusammen wie Bruder und Schwester. So manche Nacht,
wenn sein breiter Rücken von der schweren Arbeit schmerzte,

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sehnte Brak sich danach, zu ihr zu sprechen. Aber er tat es
nicht, denn er wußte, wenn er den Mund auch nur öffnete, wür-
den Worte herausquellen, die ihn für immer an sie banden.

Und doch schuldete er Königin Rhea sein Leben. Aus diesem

Grund erduldete er ohne Murren die zehnschwänzige Peitsche
der Aufseher im Steinbruch. Er nahm den Spott und die Belei-
digungen der anderen Arbeiter hin, die in ihm nur den ungeho-
belten Barbaren sahen. Jede Woche fügten er und Rhea ein
kleines Häufchen der glitzernden Dinschas zu jenen in einem
guten Versteck hinzu, die das Mädchen Tag und Nacht bewach-
te.

Endlich hatten sie genug gespart.
Zu guter Letzt hatten sie in einer Karawanserei zwei Drome-

dare und einen nicht sehr vertrauenerweckend aussehenden, a-
ber angeblich sehr zuverlässigen Führer gemietet. Dieser warte-
te nun ein paar Kamellängen von ihnen entfernt, ebenfalls am
Rande des Feigenhains, auf sie.

Rhea hatte sich um ihr dunkles Haar einen einfachen himmel-

blauen Schleier gebunden. Ihr Gewand war aus billigem Lei-
nen, aber neu und sauber. Ihre Augen glänzten im Schein der
untergehenden Sonne. Braks Herz schmerzte, als er sich ihre so
liebliche Schönheit einprägte.

»Brak, es es gibt keine Worte …«, stammelte sie.
»Das ist auch besser so«, brummte er. Er versteckte seinen

Schmerz hinter Rauhheit. Sein Pferd tänzelte unruhig. »Was Ihr
mir gabt, war mein Leben. Was ich Euch gab, ist weniger. Nur
ein Stück Metall.«

Er löste die Haltegurte von seinem Rücken und reichte ihr

den gewaltigen goldenen Schild. Sie zuckte unter dem Gewicht
ein wenig zusammen, aber es gelang ihr, ihn zu halten.

»Vergeßt nicht«, mahnte er sie. »Erzähl nichts weiter, als daß

Ihr durch die dunklen Schleier ins Paradies getragen wurdet
und nun zurückkehrt, um über Eure treuen Untertanen zu herr-
schen. Weist ihnen das Zeichen vor, daß die gehörnte Göttin

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Euch schützte und würdig befand, die Regentschaft anzutreten.
Das Zeichen wird sie überzeugen.«

Braks schwielige Hand deutete auf den mächtigen, wieder auf

Hochglanz polierten Schild. Im roten Abendlicht blickte die
gehörnte Göttin mit kriegerischem Blick auf die Betrachter. Der
Dolch hing ihr nach wie vor zwischen den Brüsten, und immer
noch hielt sie in einer Hand das Füllhorn und in der anderen ei-
nen Blitz.

Das Gesicht der gehörnten Göttin war nun in jeder Einzelheit

eine Nachbildung Rheas.

Das Mädchen berührte sanft seinen Arm. Eine Träne glitzerte

auf ihrer Wange. Brak beherrschte sich eisern. Der Schmerz,
der in ihm tobte, war schlimmer als jeder körperliche, den er je
erduldet hatte.

»Brak, reitet nordwärts mit mir. Gemeinsam könnten wir …«
»Aber Khurdisan liegt im Süden«, antwortete er schwer.
»Diese Monate im Steinbruch waren unerträglich für Euch,

nicht wahr?«

»Ich schulde sie Euch, und mehr«, erwiderte er. Obgleich sie

wahrlich schlimmer gewesen waren, als sie sich auch nur vor-
stellen konnte.

»Ihr müßt Ihr denn unbedingt südwärts?«
»Aye. Denn dort liegt Khurdisan, meine Lady. Dorthin muß

ich.«

»Sicherlich ist das ein sehr gefährlicher Weg, der noch vor

Euch liegt.«

»So ist es«, brummte Brak, und flüchtig drängte sich ihm der

Anblick von Arianes leidenschaftlichem Gesicht und Septe-
gundus’ krabbelndem Fleisch vor sein geistiges Auge. Der
Amyr des Bösen würde nie vergessen. Und er wußte, daß Brak
südwärts nach Khurdisan zog. Eines Tages würde er ihm mit all
den Schrecken, die ihm zur Verfügung standen, den Weg ver-
sperren.

Irgendwo warte ich auf dich! hatte Septegundus ihm im Land

background image

der Eismarschen gedroht. Doch Brak ließ sich auch davon nicht
abhalten. »Aber ich muß dorthin!«

»Warum?« fragte sie leise, ihrer Stimme kaum noch mächtig.
»Wenn ich das nur wüßte«, murmelte er. Unwillkürlich dach-

te er laut, »dann müßte ich vielleicht gar nicht. Ein Grund ist,
weil mein eigenes Volk mich ausgestoßen hat. Ein anderer,
weil ich das goldene Khurdisan sehen will, seit ich zum ers-
tenmal davon hörte. Doch den Hauptgrund verstehe ich selbst
nicht. Etwas zieht mich dorthin, und ich kann nicht gegen die-
sen Drang an. Es ist das Schicksal selbst, das darauf besteht.«

»Dann kommt auf dem Rückweg nach Phrixos«, flüsterte

Rhea.

»Selbst wenn es erst in zehn Jahren ist oder in hundert. Es

wird nur eine Königin geben, keinen König. Keinen Mann, au-
ßer Ihr kommt zurück!«

»Vielleicht gewährt es mir das Schicksal. Aber es wird viel

Zeit vergehen. Und ich …«

Brak war so aufgewühlt, daß er seinen Ton ändern mußte, um

überhaupt weitersprechen zu können.

Fast barsch sagte er: »Meine Lady, der Führer drängt zum

Aufbruch. Die Sonne geht unter. Nehmt den Schild und
herrscht weise. Lebt wohl!«

»Brak!«
Sie rannte ihm ein paar Schritte nach, als sein Pferd bereits

zwischen den Feigenbäumen hindurchtrottete. Ihre süße, trauri-
ge Stimme verfolgte ihn, aber er wandte sich nicht mehr um. Er
wagte es nicht.

Erst als er bereits am Fuß des Hügels mit dem Feigenhain an-

gekommen war, warf er einen Blick zurück. Sie und der Führer
waren schon mit den Dromedaren über dem Hügelkamm ver-
schwunden.

Er gab dem Pferd einen freundschaftlichen Klaps.
»Ich hoffe, du bist ein flinker Renner, mein Großer«, murmel-

te er. »Ich habe viel Zeit verloren und beinahe noch mehr. Denn

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ich sage dir, was ich niemandem sonst verraten würde: es hat
nicht viel gefehlt, und ich wäre mit ihr gegangen.«

Er spornte sein Pferd an und ritt in das Gewühl der großen

Stadt zurück, um von dort aus der Straße nach Süden zu folgen.


ENDE


Ein weiterer Band mit Abenteuern von

Brak, dem Barbaren,

befindet sich in Vorbereitung.






















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Als Terra Fantasy 2 erscheint

André Norton

Gefangene der Dämonen

Hexenwelt 01

Ein Mann von heute in der Welt der Hexen

Simon Tregarth, vormals Colonel der US-Armee, befindet

sich in aussichtsloser Lage. Überall lauert der Tod auf ihn, denn
er wird von Killern eines Gangstersyndikats gnadenlos gejagt.

Simon hat bereits mit dem Leben abgeschlossen, da bietet

sich ihm noch eine winzige Chance, seinen Häschern zu entge-
hen. Jorge Petronius greift ein, ein mysteriöser Mann, der schon
vielen gesuchten Gesetzesbrechern oder Flüchtlingen geholfen
hat. Simon befolgt Petronius’ Anweisungen.

Er erreicht den SIEGE

PERILOUS, den uralten Thronfel-
sen der Macht, dessen Kräfte schon
der Zauberer Merlin und der legen-
däre König Artus zu nutzen wußten.

Der SIEGE PERILOUS hilft auch

Simon. Er versetzt ihn in eine phan-
tastische Welt − in die Welt der He-
xen.

Der vorliegende Band schildert

Simon Tregarths Ankunft und seine
ersten Abenteuer in der Hexenwelt.

Weitere Romane des Zyklus AUS

DER HEXENWELT sind in Vorbe-
reitung.


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