Der schüchterne Drache


Der schüchterne Drache (Jindra Strnad)

 

'Hoh, ho, du bist wirklich zu gar nichts nütze. Du hast ja noch nicht einmal eine richtige Prinzessin entführt!' lachte sein großer Bruder. 'Du wirst ja ganz rot! Du kannst ja nicht mal richtig Feuer speien!'

 

Weit, weit entfernt im Land der Drachen lebte einmal ein kleiner Drache. Für unsere Begriffe war er natürlich gar nicht so klein; er war immerhin so groß wie drei Elefanten zusammen. Aber für einen Drachen war er wirklich sehr klein. Und nicht nur das, er war auch ganz schrecklich schüchtern. Sobald man ihn nur ansah, wurde der kleine Drache über und über rot wie eine Tomate. Verlegen fing er an, mit den Füßen zu scharren, und statt Feuer zu speien, spuckte er nur ganz kleine Fünkchen.

Natürlich wurde er von allen anderen ausgelacht: 'Hoh, ho, du bist wirklich zu gar nichts nütze. Du hast ja noch nicht einmal eine richtige Prinzessin entführt!' lachte sein großer Bruder. 'Du wirst ja ganz rot! Du kannst ja nicht mal richtig Feuer speien!'
Und so ging es die ganze Zeit. Der kleine Drache wurde immer schüchterner. Mit der Zeit traute er sich nicht mehr aus seiner Höhle heraus. Ganz traurig hockte er in einer Ecke: 'Was soll ich bloß machen? Alle lachen mich aus. Dabei bin ich genau so mutig wie sie. Oder ... beinahe. Ich will's denen schon zeigen!' Und heimlich entschloß er sich, eine Prinzessin zu entführen.

Als es Abend wurde und die anderen schlafen gingen, machte sich der schüchterne Drache auf den Weg. Er wanderte über Berge und durch Täler, er sah Seen und Flüsse, und er ging und ging, bis er in der Ferne eine Stadt erblickte. In der Stadt war auch ein Schloß. 'Prima, wo ein Schloß ist, da gibt es auch eine Prinzessin. Hier will ich auf sie warten', dachte der Drache und versteckte sich hinter einem großen Felsen.

Tatsächlich lebte eine Prinzessin in der Stadt. Jeden Abend spazierte sie zum Felsen, hinter dem sich der Drache versteckt hielt.
Und so auch an jenem Abend. Der kleine Drache sah sie kommen. Schon wollte er hervorspringen und sie fangen. Aber da schaute die Prinzessin zufällig in seine Richtung. Sofort wurde er über und über rot. Und bis er sich fassen konnte, war die Prinzessin schon längst fort. 'Na, dann eben morgen', dachte er. Am nächsten Abend aber getraute er sich wieder nicht, sie zu fangen.

Am dritten Abend endlich faßte sich der Drache ein Herz. Er sprang hervor, warf die Prinzessin auf seinen Rücken und rannte davon, so schnell er konnte, aus Angst, jemand könnte ihn ansehen.

Die arme Prinzessin mußte sich mit aller Kraft an seinen Hals klammern. Der kleine Drache lief und lief tief in den Wald hinein bis zu einer Höhle. Dort versteckte er die Prinzessin und verschnaufte erst mal.

Inzwischen hatte man in der Stadt festgestellt, daß die Prinzessin verschwunden war. Man schlug Alarm und suchte sie überall. Als man dann die Spuren des Drachen fand, setzte sich sofort ein tapferer Prinz auf sein Pferd, rief: 'Ich werde sie befreien!' und stob davon.

Er ritt, bis auch er zur Höhle im Wald kam. 'Hier muß es sein', dachte er und schrie: 'He, Drache, komm raus! Ich will mit dir um die Prinzessin kämpfen!' Der Drache stürzte heraus und wollte ein schauerliches Gebrüll ausstoßen. Da merkte er, daß der Prinz ihn entschlossen anschaute, und schon errötete er zutiefst. Aus seinem Gebrüll wurde ein erbärmliches Quieken. Er scharrte mit den Füßen, senkte den Kopf und spuckte ein paar klägliche Fünkchen. Der Prinz war überrascht.

'Mein Lieber', meinte er, 'du bist mir vielleicht ein komischer Drache. Du wirst ja rot!' 'Ich weiß', schluchzte der kleine Drache. 'Aber ich kann doch nichts dafür. Ich bin nun mal ein schüchterner Drache.' Aus seinen Augen flossen dicke Drachentränen. 'Und alle lachen mich aus!' Und jetzt weinte er wie ein Wasserfall.

Der Prinz hatte Mitleid mit dem schüchternen Drachen. Er überlegte lange, wie man ihm helfen könnte. Plötzlich hatte er eine Idee: 'Das ist ganz einfach', sagte er zu dem Drachen, der noch immer dastand wie ein Häuflein Drachenelend. 'Du gibst mir die Prinzessin, damit ich sie nach Hause bringen kann. Dafür bekommst du ihre Krone und mein Schwert. So kannst du daheim im Drachenland erzählen, wie du die Prinzessin entführt und mich besiegt hast. Das wird dir jeder glauben, wenn er die Krone und das Schwert sieht.' 'Schon', meinte der Drache, 'aber wenn sie mich fragen, warum ich die Prinzessin nicht mitgebracht habe?' 'Dann sagst du, du habest sie laufen lassen. Was soll man mit einer Prinzessin im Drachenland?' 'Aber würde ich dann nicht lügen? Ich bin ja gar nicht so mutig, wie ich erzähle.' Der Prinz beruhigte ihn: 'Doch, doch. Ich finde, du bist wirklich mutig. Wenn man so schüchtern ist wie du, ist es keine leichte Sache, ganz allein so weit zu wandern und ein solches Abenteuer durchzustehen. Du bist der mutigste Drache der Welt!' Da strahlte der Drache vor Stolz. Er gab dem Prinzen die Prinzessin und nahm Schwert und Krone.

Als der Drache nach Hause kam, liefen alle aufgeregt zusammen. 'Wo bist du nur so lange gewesen? Woher hast du das Schwert? Und die Krone?' fragte sie durcheinander. Da erzählte ihnen der kleine Drache, wie weit er gewandert war und die Prinzessin geraubt hatte. Und als die anderen das Schwert sahen, dachten sie, er habe auch einen Prinzen besiegt und sei nur zu bescheiden, um es zuzugeben. Von da an bewunderten sie alle den schüchternen Drachen, und niemand lachte ihn mehr aus, nicht einmal, wenn er rot wurde. Und man nannte ihn nur noch den mutigen Drachen.




Wyszukiwarka

Podobne podstrony:
Rawn, Melanie Drachenprinz 6 Der Brand Der Wüste
Heyne 4452 Jane Gaskell Atlantis Zyklus 2 Der Drache
Benzin, Philipp Das Erbe der Drachenkriege 02 Marathum
Saul, John Die Blackstone Chroniken Teil 3 Der Atem Des Drachen
Ritter Roland 03 Ekkehart Reinke Der Kampf mit dem Drachen
Rawn Melanie Drachenprinz 06 Der Brand Der Wüste
Bekker, Alfred Drachenring 02 Teil 01 Prinz Rajin Der Verdammte
Das Schwarze Auge 08 Zietsch, Uschi Der Drachenkönig
Benzin, Philipp Das Erbe der Drachenkriege 01 Magische Verwicklungen
Gegenstand der Syntax
60 Rolle der Landeskunde im FSU
Zertifikat Deutsch der schnelle Weg S 29
dos lid fun der goldener pawe c moll pfte vni vla vc vox
Christie, Agatha 23 Der Ball spielende Hund
Glottodydaktyka Grundlagen der Nieznany
Der Erlkoenig ( Król Olch )
julis haben angst vor der piratenpartei 2009
45 Progression Stufen der Sprachfertigkeit ( variationsloses, gelenkt varrierendes und freies Sprech

więcej podobnych podstron