Expressionismus (1905-1925)
1. Wortbedeutung
Von lat. "expressio" = Ausdruck; 1911 anlässlich einer Ausstellung in Berlin zur Bezeichnung der Bilder junger französischer Maler gebraucht; von dem Schriftsteller Kurt Hiller auf junge Dichter der damaligen Zeit übertragen. Expressionismus im literarischen Sinn bedeutet Ausdruckskunst, mit Hilfe derer innerlich gesehene Wahrheiten und Erlebnisse im Sinne der Moderne dargestellt werden.
2. Weltanschaulicher Anspruch
Am Vorabend des Ersten Weltkrieges waren immer mehr Künstler mit ihrer Zeit unzufrieden und ahnten die nahe Katastrophe. Man
"fühlte immer deutlicher die Unmöglichkeit einer Menschheit, die sich ganz und gar abhängig gemacht hatte von ihrer eigenen Schöpfung, von ihrer Wissenschaft, von Technik, Statistik, Handel und Industrie, von einer erstarrten Gemeinschaftsordnung, bourgeoisen und konventionellen Bräuchen. Diese Erkenntnis bedeutete zugleich de Beginn des Kampfes gegen die Zeit und die Realität. (...) Aus den Ausbrüchen der Verfluchung (der Zeit) brachen die Schreie und Aufforderungen zur Empörung, zur Entscheidung, zur Rechenschaft, zur Erneuerung..., um durch die Empörung das Vernichtende und Vernichtete ganz zu vernichten, so dass Heilendes sich entfalten konnte. Aufrufe zum Zusammenschluß der Jugend, zum Aufbruch einer geistigen Phalanx ertönten; (...) Und so gemeinsam und wild aus diesen Dichtern Klage, Verzweiflung, Aufruhr aufgedonnert war, so einig und eindringlich posaunten sie in ihren Gesängen Menschlichkeit, Güte, Gerechtigkeit, Kameradschaft, Menschenliebe aller zu allen."
Kurt Pinthus, Zuvor, in: Theorie des Expressionismus, hrg. von Otto F. Best, Stuttgart 1976, S. 86 f.
Die Expressionisten, die davon überzeugt waren, dass die Entwicklung der Menscheit chaotisch verlaufen und die Welt amoralisch war, wollten also die Kunst wieder in den Dienst einer Sache stellen. Mit Hilfe der Kunst sollten die Menschen verändert werden, um eine neue Welt hervorzubringen.
3. Problematik
Bei den Expressionisten blieben die Ziele ihrer Bewegung sehr allgemein (s.o.). Man machte sich wenig Gedanken darüber, wie diese Ziele konkret zu verwirklichen seien. Stattdessen feierte man die Opferbereitschaft, die Begeisterung, das Engagement an sich; man machte sie zu eigenständigen Werten, an denen man sich berauschte, ohne zu fragen, auf welche Ziele sie denn bezogen werden sollten.
Es war den Expressionisten meist gleichgültig, in welchem Sinne sich etwas änderte, was zu tun war; Hauptsache für sie war, dass überhaupt etwas geschah, dass man etwas tat (Aktivismus). Die Folge davon war z.B., dass ein und dieselben Künstler sich nacheinander sowohl für den Nationalsozialismus als auch den Kommunismus engagierten oder dass man den Ersten Weltkrieg als ersehnte Veränderung begrüßte.
4. Merkmale expressionistischer Literatur
Der Expressionismus ist daher nicht wegen seines weltanschaulichen Anspruchs bedeutsam. Von Bedeutung ist vielmehr vor allem die expressionistische Literatur dieser Zeit, da sich in ihr die Abkehr von traditionellen und die Hinwendung zu den neuen Formen und Themen der Moderne vollzog.
Die Sprache des Expressionismus ist nicht einheitlich. Sie ist ekstatisch übersteigert, metaphorisch, symbolistisch überhöht und versucht, die traditionelle Bildungssprache zu zerstören. Sie betont die Ausdrucksfähigkeit und Rhythmen, die fließen, hämmern oder stauen können. Sprachverknappung, Ausfall der Füllwörter, Artikel und Präpositionen, Worthäufung, nominale Wortballungen, Betonung des Verses, Wortneubildung und neue Syntaxformung sind typisch expressionistische Stilmerkmale.
Lyrik
Die Lyrik kommt dem Anliegen des des Expressionismus am nächsten. Gottfried Benn beschreibt es als "Wirklichkeitszertrümmerung, als rücksichtsloses An-die-Wurzel-der-Dinge-Gehen". Das Gedicht "Weltende" des Frühexpressionisten Jakob van Hoddis (1911) stellt quasi das Glaubensbekenntnis dieser Generation dar. Dieses auf den ersten Blick eher unscheinbare Gedicht wird Tagesgespräch in den literarischen Kreisen der Avantgarde, weil es nicht nur die Verachtung einer Welt der stumpfen Bürgerlichkeit zum Ausdruck bringt, sondern bereits die Katastrophe (1914) vorwegnimmt.
Als ein Meilenstein expressionistischer Lyrik gilt die 1920 von Kurt Pinthus herausgegebene Anthologie "Menschheitsdämmerung". Dieser Gedichtsammlung wird das van-Hoddis-Gedicht "Weltende" als Motto vorangestellt. Schon die Kapitelüberschriften spiegeln das Lebensgefühl der Expressionisten wider:
Sturz und Schrei
Erweckung des Herzens
Aufruf und Empörung
Liebe den Menschen
Vertreten sind Autoren wie G. Heym, F. Werfel, G. Benn, Else Lasker-Schüler, Ernst Stadler, G. Trakl.
Die typischen Themen- und Motivkomplexe sind Angst, Tod, Wahnsinn, Melancholie, Krieg. Ähnlich wie in der Malerei die Künstler ihre Emotionalität, ihren seelischen Ausdruck in neue vereinfachte Formen, grelle Farben kleiden und verfremden, so bedienen sich die Literaten neuer sprachlicher Mittel: Die Sprache ist oftmals stakkatohaft, abgerissen, voller Neologismen und erscheint in ungewohnten Rhythmen. Für den Leser entsteht eine unwirkliche Welt, doch geht es dem expressionistischen Autor eben nicht um die Wirklichkeit, sondern um die Wahrheit, die er vermitteln will.
Epik
Die erzählende Dichtung tritt im Expressionismus zunächst etwas in den Hintergrund: Die Dichter lehnen die Psychologie und Kausalität zur Erklärung von Mensch und Welt ab. Dabei tendieren sie zur Kürze, zu Wucht und Prägnanz des Ausdrucks.
Während des Ersten Weltkriegs wird die erzählende kurze Prosa dann wichtiger. Eines der Hauptmotive ist "Der jüngste Tag". Zu den wichtigen Autoren zählen A. Ehrenstein ("Tubusch", C. Einstein ("Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders"), A. Döblin ("Die Ermordung einer Butterblume") G. Heym ("Der Dieb"), F. Kafka ("Amerika", "Die Verwandlung", "Das Urteil"), C. Steinheim ("Busekow", "Napoleon", "Schuhlin").
Dramatik
Im Drama können expressionistische Dichter ihre Ideen der Wandlung und Steigerung wirkungsvoll demonstrieren. Daher übernimmt es neben der Lyrik eine beherrschende Rolle. Auf der Bühne wird zunächst die Geburt des neuen, gewandelten Menschen dargestellt. - Als Reaktion auf die Kriegserschütterung werden dann ab ca. 1915 auch Technikfeindlichkeit und Zivilisationshass zu wichtigen Themen, die von den Dramatikern auf die Bühne gebracht werden.
Hauptvertreter sind R.J. Sorge ("Der Bettler"), W. Hasenclever ("Der Sohn", "Menschen"), Kornfeld ("Die Verführung"), R. Goering (Seeschlacht"), F. von Unruh ("Ein Geschlecht", "Platz"), E. Barlach" (Der tote Tag", "Der arme Vetter"), E. Toller ("Die Wandlung", "Masse Mensch"). C. Sternheims Komödien "Aus dem bürgerlichen Heldenleben", G. Kaisers "Die Koralle", "Gas I" und "Gas II"; O. Kokoschkas "Mörder, Hoffnung der Frauen" und "Der brennende Dornbusch".
Typisch für das expressionistische Drama sind nicht nur lange Monologe, lyrisch-hymnische Bilderfolgen, sondern auch Gebärde, Tanz, Pantomime, zeitloses Kostüm, abstraktes Bühnenbild und eine neue Beleuchtungstechnik. Es geht nicht mehr um Charakter, sondern um "Seele" oder "Psyche"; die Figuren erscheinen weit gehend als überindividuelle Typen ("Mann", "Frau", "Tochter" ...) und totale Ich-Projektionen.