Obraz3 (14)

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Fortreisen! dachte ich, ging in den Bahnhof, starrte auf die Fahrplane an den Wanden, trank etwas Wein, yersuchte, mich zu besinnen. Immer naher, immer deutlicher begann ich das Gespenst zu sehen, vor dem ich mich fiirchtete. Es war die Heimkehr, die Riickkehr in meine Stube, das Still-haltenmiissen vor der Verzweiflung! Dem entging ich nicht, auch wenn ich noch viele Stunden herumlief, mit der Riickkehr zu meiner Tur, zum Tisch mit den Biichern, zum Diwan mit dem Bild meiner Geliebten dariiber, nicht dem Augenblick, da ich das Rasiermesser abziehen und mir die Kehle durchschneiden mufite. Immer deutlicher tat dies Bild sich vor mir auf, und immer deutlicher, mit rasend klopfendem Herzen, fiihlte ich die Angst aller Angste: die Todesfurcht! Ja, ich hatte eine grauenhafte Furcht vor dem Tode. Obwohl ich keinen andern Ausweg sah, obwohl Ekel, Leid und Verzweiflung rings um mich geturmt standen, obwohl nichts mehr mich zu locken, mir Freude und Hoff-nung zu machen imstande war, graute mir doch unaus-sprechlich vor der Hinrichtung, vor dem letzten Augenblick, vor dem kalten, klaffenden Schnitt ins eigene Fleisch!

Ich sah keinen Weg, dem Gefiirchteten zu entrinnen. Wiirde im Kampf zwischen Verzweiflung und Feigheit heute auch vielleicht die Feigheit siegen, morgen und jeden Tag wiirde von neuem die Verzweiflung vor mir stehen, noch erhóht durch die Selbstverachtung. Ich wiirde so lange das Messer zur Hand nehmen und wieder wegwerfen, bis es endlich doch einmal getan war. Dann lieber heute noch! Vernunftig sprach ich mir selber zu, wie einem geangstig-ten Kind, aber das Kind hórte nicht, es lief davon, es wollte leben. Zuckend rifi es mich weiter durch die Stadt, in wei-ten Bogen umkreiste ich meine Wohnung, stets die Heimkehr im Sinn, stets sie verzógernd. Da und dort blieb ich in einer Kneipe hangen, einen Becher lang, zwei Becher lang, dann jagte es mich weiter, im weiten Kreise um das Ziel, um das Rasiermesser, um den Tod herum. Todmiide safi ich zuweilen auf einer Bank, auf einem Brunnenrand, auf einem Prellstein, hórte mein Herz klopfen, wischte mir den SchweiG von der Stirn, lief wieder weiter, voll tódlicher Angst, voll flackernder Sehnsucht nach Leben.

So zog es mich, spat in der Nacht, in einer entlegenen und mir wenig bekannten Vorstadt in ein Wirtshaus hinein, hin-ter dessen Fenster heftige Tanzmusik erscholl. Uberm Tor las ich im Hineingehen ein altes Schild: Zum schwarzen Adler. Drinnen war Freinacht, lautes Menschengetummel, Rauch, Weindunst und Geschrei, im hintern Saale wurde getanzt, don wutete die Tanzmusik. Ich blieb im vordem Raume, wo lauter einfache, zum Teil armlich gekleidete !,eute sich aufhielten, wahrend hinten im Ballsaal auch ele-gante Erscheinungen zu erspahen waren. Vom Gedrange durch den Raum gestofien, ward ich neben dem Biifett an einen Tisch gedrangt, ein hiibsches bleiches Madchen saB auf der Wandbank, in einem diinnen, tief ausgeschnittenen Ballkleidchen, eine verwelkte Blume im Haar. Das Madchen blickte mich, ais es mich kommen sah, aufmerksam und freundlich an, lachelnd riickte es ein wenig beiseite und machte mir Platz.

„Darf ich?“ fragte ich und setzte mich neben sie.

„Gewifi, du darfst“, sagte sie, „wer bist du dcnn?“

„Danke", sagte ich, „ich kann unmóglich nach Hause gehen, ich kann nicht, ich kann nicht, ich will hierbleiben, bei Ih-nen, wenn Sie es erlauben. Nein, ich kann nicht heimge-hen.“

Sie nickte, ais verstunde sie mich, und indem sie nickte, be-trachtete ich die Locke, die von ihrer Stirn am Ohr vorbei-fiel, und ich sah, dafi die welke Blume eine Kamelie war. Von driiben schmettene die Musik, am Biifett riefen die Kellnerinnen hastig die Bestellungen aus.

„Bleib nur hier“, sagte sie mit einer Stimme, die mir wohl-tat. „Warum kannst du dcnn nicht heimgehen?"

„Ich kann nicht. Zu Hause wartet etwas auf mich - nein, ich kann nicht, es ist zu schrecklich."

„Dann iaB es warten und bleib da. Komm, wische dir erst die Brille ab, du kannst ja gar nichts sehen. So, gib dein Ta-schentuch. Was wollcn wir denn trinkcn? Burgunder?"

Sie wischte mir meine Brille ab; nun sah ich sie erst deut-lich, das bleiche feste Gesicht mit dem blutrot gemalten Mund, mit den hellen grauen Augen, mit der glatten kiihlen Stirn, mit der kurzeń straffen Locke vorm Ohr. Giitig und ein klein wenig spottisch nahm sie sich meiner an, bestellte Wein, stieB mit mir an und sah dabei auf meine Schuhe hin-unter.

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