Wie bereits gesagt, verstand man im Mittelalter unter corset urspriinglich ein Herrengewand. Seit 1317 auch ais Bezeichnung fiir ein meist mit Pelz gefiittertes Damenobergewand (surcot) benutzt, scheint corset im ausgehenden 14. Jahrhundert das Wort cotardie mehr und mehr zu ersetzen. Es be-zeichnet nun in erster Linie ein korperbetontes, mehr oder weniger tief dekolletiertes Kleid, das auf der Vorderseite einen bis zur Taille reichenden Schlitz aufweist,74 der zwar eng verschniirt wird, aber dennoch bisweilen, vor allem im bauerlichen und kleinbiirgerlichen Milieu, das darunter getra-gene Hemd erkennen laBt, was durch zahlreiche Abbildungen, unter anderem im bertihmten Stun-denbuch des Herzogs von Berry, belegt ist. Die Armel konnen kurz sein, so daB darunter die Hemdsarmel hervorschauen. (Tafel C, Fig. 2) Die-se werden auBerhalb der Arbeit durch Wechselar-mel verborgen, welche entweder angenestelt oder mit Nadeln festgesteckt werden. Wie man sieht. handelt es sich demnach bei diesem weiblichen corset keinesfalls um ein Untergewand, sondern um ein durchaus gangiges Obergewand. Ein wei-teres Merkmal des corset scheint die grundsatzlich fehlende Schleppe zu sein; denn selbst in Texten aus dem hofischen Bereich wird dieses Kleid zu-meist von dem Adjektiv „kurz“ (corset court) be-gleitet. Auch die geringere Anzahl von Stickerei-en, die zur Schmiickung eines corsets notwendig waren, spricht dafiir, daB es sich um ein Gewand mit weniger Oberflache ais bei einem normalen Surkot gehandelt haben muB.
Nun findet man in der Sekundarliteratur immer wieder Hinweise auf angeblich Ende des 14. Jahr-hunderts aufkommende Schniirmieder ais direkte Vorlaufer unserer heutigen Korsetts. Danach wur-den die Obertesile (haut der cors oder corsage) der corsets der zur Fiille neigenden franzosischen Ko-nigin Isabeau de Baviere mit Walbeinstreifen ver-steift, um ihrem aus der Form geratenen Korper neuen Halt zu geben.75 Allerdings habe ich bislang vergeblich nach Belegstellen fiir diese angebliche Ersterwahnung einer Korsage in den zeitgenossi-schen franzosischen Texten gesucht. Was ich hin-gegen gefunden habe, sind Hinweise auf die Ver-wendung von Tuchbinden ais Biistenhalter. So empfiehlt der franzosische Autor Jean de Meung in seiner Fortsetzung des Rosenromans Frauen mit schweren Briisten, sie sollten sich Kopftiicher oder Tuchstreifen eng um die Rippen wickeln und durch Nahte oder Knoten befestigen, um so ihren Briisten Halt zu geben.76 Diese Empfehlung erklart sich durch das damalige Schonheitsideal, zu dem kleine rundę Briiste und eine schlanke Giirtellinie gehorten, wobei letztere hoher angesetzt wurde ais heute, sowie ein hervorstehender Bauch. Fiir ver-heiratete Frauen, die dank des kirchlichen verord-neten Gebarzwangs fast permanent schwanger waren, diirfte der letzte Punkt kein Problem gewesen sein. Nicht schwangere oder ausgesprochen schlanke Frauen, denen es hier an der entspre-chenden Rundung fehlte, halfen der Natur durch das Unterschieben entsprechender Polster nach.
Konigin von Saba im Corset mit Dusing (Bellisfortis Handschrift 5, UB Gottingen)
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