tive). Mehr noch, dadurch fallt sie ein geschichtliches Urteil iiber sich selbst. Sie startet aus der Vergangenheit ais der ideenhaften Grund-lage (»Konzept«). Wer aber mit der Vergangenheit beginnt, der gibt zu wissen, daft er keine Zukunft hat, dafi er nicht an sie glaubt und nicht mit ihr rechnet. Dies ist eigentlich die einzige grofie Wahrheit, die die Mittelklasse (dereń ideenhafte Voraussetzungen ihre Ideologen zum Niveau des Prinzips erheben und formulieren) in Form der histo-rischen Selbstkritik mit sich tragt. Denn, in der Tat, da sie selbst -geschichtlich gesehen - Vergangenheit ist, ist ihre Zukunft nur von kurzer Dauer. Sie ist sich dessen bewuftt. Ihr Interesse ist unmittelbar materiell und aktuell. Deshalb will sie rasch, je rascher nur jetzt sein. Dies aber reich, standardmafiig, gutsituiert, skrupellos, von heute auf morgen, ohne tieferen geschichtlichen Grund und Sinn, also aufier-geschichtlich und (explizit so ausgedruckt) - antigeschichtlich. Sie mufi dem Geschichtlichen den Riicken kehren ais dem Zukiinftigen, Móglichen, denn die Zukunft ist fur sie ein offener Abgrund, in den sie untergehen oder in ihm vergehen kónnte. Und die nachste Zukunft kónnte erweisen, daft diese auf reine Aktualitat reduzierte Existenz, nur auf die Vergangenheit gestiizt, zugleich ihr geschichtlicher To-tengraber ist. Sie ais solche kommt aus der Vergangenheit-Gegenwart nie zur Zukunft.9 Nun, dies will sie auch nicht. Der Zeitraum ihres wesentlichen Daseins ist das blofie Gegenwartige. Auf dem geistigen Gebiet herrscht hier allerdings vóllige Sterilitat. Die Anregung zum Schaffen kommt immer und iiberall aus der Zukunft. Das iibrige ist ein Vegetieren im Bestehenden.
Auf sozialer Ebene, die auf das Niveau der ideellen Auseinander-setzung und Orientierung erhoben wurde, beruft sich die Mittelklasse - wie schon gesagt wurde - auf das Primat des Nationalen- ais dem Kreis, in dem sich ihre wesentlichen Interessen bewegen. Ihre Ideologen und Sprecher haben deshalb recht, wenn sie von den nationalen Klassen und Parteien sprechen, denn dabei denken sie inhaltmafiig an ihre (Mittel-, biirgerliche) Klasse, und sogar den Bund der Kom-munisten beanspruchen sie in diesem Sinn fur sich ais ihre Partei, wollen ihn fur ihre Ziele verwenden. Wie schon erwahnt, mufi sich die Mittelklasse vor allem zunachst im Nationalen konstituieren, im Sinne einer Verteidigung und Durchfiihrung der eigenen Interessen, die ideologisch immer ais die Interessen einer Nation oder eines Vol-kes dargestellt werden, in der Form einer unteilbaren und homogenen Ganzheit (einer historischen Entitat und Totalitat), wobei der ge-schichtliche Sinn des Verhaltnisses von Volk und Nation zu einander uberhaupt nicht bedacht wird. Sie sind konsequent, da sie sich aber in dieser Zeit und dem Prozefi der ideologischen Selbstandigwerdung immer noch auf Marx berufen »miissen« und auf den Marxismus, »re-interpretieren« sie Marx in der Frage der Klasse, der Partei, der Nation, oder sie verfalschen ihn einfach, um zu beweisen, dafi auch Marx in ihrem Namen und in ihrem (biirgerlichen) Interesse sprach. So wird
In der biirgerlichen in der kommunisti-
• Im Kommunistischen Manifest steht daruber folgcndes- » Gesellschaft herrscht die Vergangenheit iiber die Gegenwart schen die Gegenwart uber die Vergangenheit«. Ebenda S 476
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