Gefühlsarbeit in Pflege und Betreuung Sichtbarkeit und Bewertung gelungener Beziehungsarbeit

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Mag. PhDr. Silvia Neumann-Ponesch, DGKS

Leitung Gesundheitsdienstleistungen,
FH O ¨

O Studienbetriebs GmbH, Linz, ¨

Osterreich

Alfred H¨oller, DGKP

Pflegeberater und Lehrer f ¨ur Gesundheits- und Krankenpflege

Wr. Neustadt, ¨

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ISBN 978-3-7091-0137-7 SpringerWienNewYork

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Inhaltsverzeichnis

Dank

1

Vorwort

3

Einleitung

5

1

Gefühle – was sind das?

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

8

1.1

Affekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

8

1.2

Gefühl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

1.3

Emotion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

10

1.4

Empathie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

2

Gefühlstheorien / Emotionstheorien . . . . . . . . . . . . . .

12

2.1

Verhaltenswissenschaftlich-behavioristische Theorien

.

12

2.2

Kognitivistische Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

2.3

Neurobiologische Theorien . . . . . . . . . . . . . . . .

14

2.4

Kulturell-soziale Theorien . . . . . . . . . . . . . . . . .

15

3

Gefühlsarbeit – was ist das? . . . . . . . . . . . . . . . . . .

17

3.1

Zielgruppe von Gefühlsarbeit . . . . . . . . . . . . . . .

23

4

Thesen der Gefühlsarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

24

5

Bedeutung von Gefühlen und Emotionen . . . . . . . . . . .

28

5.1

Gefühl / Emotion festigt soziale Strukturen

. . . . . . .

29

5.2

Gefühl / Emotion schützt vor Unversehrtheit . . . . . .

30

5.3

Gefühl / Emotion macht Werte und Bedürfnisse sichtbar

30

6

Ziele der Gefühlsarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

31

6.1

Prävention und Gesundheitsförderung durch
Gefühlsarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

31

6.2

Sichtbarkeit von Gefühlsarbeit als Professionsarbeit . . .

36

6.3

Ausgestaltung humanistischer bzw. fürsorglicher
(caring) und interaktionistischer Theorie- und
Modellansätze

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

39

6.4

Gefühlsarbeit als Wertemerkmal einer Organisation

. .

41

6.5

Positive volkswirtschaftliche Auswirkungen . . . . . . .

42

7

Prinzipien der Gefühlsarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . .

43

7.1

Gegenwartsorientierung . . . . . . . . . . . . . . . . .

43

7.2

Authentizitätsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

43

7.3

Normalitätsprinzip / Individualitätsprinzip . . . . . . . .

44

7.4

Prinzip der Bedingungslosigkeit

. . . . . . . . . . . . .

45

7.5

Prinzip der Ressourcenorientierung . . . . . . . . . . .

45

V

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 Inhaltsverzeichnis 

7.6

Prinzip der Freiwilligkeit

. . . . . . . . . . . . . . . . .

46

7.7

Dienstleistungsprinzip

. . . . . . . . . . . . . . . . . .

48

7.8

Prinzip der Geschichtslosigkeit . . . . . . . . . . . . . .

48

8

Gefühlsarbeit als Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

50

8.1

Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

50

8.2

Modul ,,Erkennen der Ressourcen und Auffälligkeiten‘‘ .

52

8.3

Modul ,,Formulierung einer Gefühlsdiagnose‘‘

. . . . .

55

8.4

Modul ,,Bewerten der Gefühlsdiagnose durch die
Klientin‘‘

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

57

8.5

Modul ,,Setzen einer Betreuungshandlung /
Gefühlsarbeit‘‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

58

8.6

Modul ,,Formulierung des / eines gemeinsamen
Pflege- / Betreuungszieles und Festlegen des
Outcomes‘‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

61

8.7

Modul ,,Bewertung des Outcomes durch die Patientin /
Klientin / Bewohnerin‘‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . .

61

8.8

Modul ,,Bewertung des Outcomes durch den
Professional‘‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

62

8.9

Modul ,,Regelmäßiges Messen des Outcomes und
Abgleichen der Zielsetzung‘‘ . . . . . . . . . . . . . . .

62

9

Entwicklung des Praxiskonzepts ,,Gefühlsarbeit‘‘ . . . . . . .

63

10 Rahmenbedingungen von Gefühlsarbeit . . . . . . . . . . . .

67

10.1 Fähigkeit zur (professionellen) Wahrnehmung . . . . . .

67

10.2 Wille zur (professionellen) Wahrnehmung . . . . . . . .

68

10.3 Integration der Gefühlsarbeit in Aus- und Weiterbildung

69

10.4 Integration der Gefühlsarbeit in die Organisation . . . .

70

10.5 Offenheit in der Kommunikation . . . . . . . . . . . . .

70

11 Fallbeispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

75

11.1 Fallbeispiele zum Thema: Identitätsarbeit . . . . . . . .

75

11.2 Fallbeispiel zum Thema: Behaglichkeitsarbeit . . . . . .

92

11.3 Fallbeispiele zum Thema: Abschiedsarbeit . . . . . . . . 100
11.4 Fallbeispiele zum Thema: Da-Sein-Arbeit

. . . . . . . . 115

11.5 Fallbeispiel zum Thema: Ablenkungsarbeit . . . . . . . . 131

12 Resümee und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134

Literaturverzeichnis

137

VI

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Dank

Unser besonderer Dank gilt allen Menschen, deren persönliche Ge-
schichten uns in der Entwicklung des Konzepts und in unseren eigenen
persönlichen Fragen unterstützt haben. Besonders wird uns die Gefühls-
arbeit mit allen Pflege- und Betreuungsbedürftigen, allen Angehörigen
und Freundinnen der Betroffenen sowie die Zusammenarbeit mit den
Teams der verschiedenen Organisationen in Erinnerung bleiben. Wir
möchten uns auch bei all den unzähligen Kolleginnen bedanken, mit
denen wir die Konzeption immer wieder diskutieren durften und die uns
bestärkten am Thema „dran zu bleiben“.

Ein besonderer Dank gilt auch unserer Lektorin Susanne Speigner, die
sich mit hoher Professionalität und großer Effizienz des Themas ange-
nommen hat.

Auch unsere Lieben kamen während der Arbeit am Thema der Gefühls-
arbeit an diesem ebenfalls nicht vorbei. Sie entwickelten ein besonderes,
eigenes Gespür für das Thema. Ihnen ein inniges Danke für ihr Verständ-
nis und ihre Liebe und dafür, dass sie uns manchmal korrigierten – ein
wichtiger Beitrag zur Gesamtkonzeption!

1

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Vorwort

Wir fühlen uns unter Menschen wohl.
Wir wünschen uns eine Begegnung als Mensch
mit Menschen gleichgültig in welcher Lebens-
situation wir uns oder unser Gegenüber
sich befinden.
Wir wollen als Mensch unser Dasein leben.
Wir fühlen uns den Menschen verpflichtet.

Die Motivation zu diesem Buch lieferte die Auseinandersetzung mit den
Erlebnissen und Erfahrungen aus dem Gesundheits- und Sozialbereich als
Pflegende und als Angehörige von zu pflegenden Personen. Unser Han-
deln wird von der Frage begleitet, wie möchten wir gepflegt und betreut
werden? Was wäre notwendig, damit wir sowohl als potentielle Patien-
tin, Klientin oder Pflegebedürftige als auch als Professional in Würde und
Identität, mit Sinn und Freude den (Arbeits-) Alltag verbringen können?
Was macht uns zum Menschen? Was lässt uns unser Mensch Sein aus den
Augen verlieren? Wir und unsere Kolleginnen in den Gesundheits- und So-
zialorganisationen stoßen in unserem Bemühen um die uns Anvertrauten
an unsere eigenen Grenzen und an die des Systems. Gefühle und Emotio-
nen sind Zeichen des Lebendigen:
Es erfüllt uns mit Freude und Stolz, wenn
wir das Wohlbefinden der Menschen und sei es für wenige Augenblicke,
fördern konnten. Wir sind traurig und immer wieder auch wütend und zor-
nig, wenn es uns nicht gelungen ist, den erforderlichen Raum und die Zeit
für den Pflegebedürftigen und seine Familie aufzubringen. Hin und wieder
erfuhren wir auch Geringschätzung und Ignoranz. Durch diese Erfahrung
wurde uns die Bedeutung der Fähigkeit, unsere eigenen Gefühle wahrzu-
nehmen und sie in Worte zu fassen, bewusst. Dadurch können Gefühle
rational bearbeitet werden, ein wichtiger Schritt in der Gefühlsarbeit.

Gefühlsarbeit kommt im Umfeld mit Kranken und Bedürftigen täglich

zum Einsatz und leistet wichtige Aufgaben. Dennoch ist diese Arbeit kaum
sicht- und somit nicht bewertbar – auch ein Phänomen der zugeschrie-
benen, scheinbar geringen Bedeutung des Emotionalen im Arbeitsalltag
unseres kulturellen Umfelds. Viele Studien und Arbeiten beweisen (aber
gerade) das Gegenteil: den hohen gesundheitsfördernden und präventiven
Aspekt von eingebrachten positiv erlebten Gefühlen, ja sogar existentielle
Effekte auf das Leben. Diese Erkenntnisse wurden auch im ersten Lehrgang
„Pflegeberatung“ vor 7 Jahren deutlich. Hier lernten sich die Autorinnen
kennen: Herr Höller als Lehrgangsteilnehmer, Frau Neumann-Ponesch als
Lehrgangsleiterin. Das Thema der Gefühlsarbeit fesselte beide so, dass sie
beschlossen, an diesem bis heute zu arbeiten und den Fragen nachzugehen:

3

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 Vorwort 

Wie kann Gefühlsarbeit gelebt werden?
Welche Wirkung hat Gefühlsarbeit?
In welchem Kontext und unter welchen Rahmenbedingungen kann Ge-
fühlsarbeit geleistet werden?

Dieses Buch soll Mut machen, diese für uns so befriedigende und erfolg-
reiche Arbeit mit pflegebedürftigen Menschen und unseren Kolleginnen
in den Organisationen, selbst auszuprobieren. Wir möchten dafür sen-
sibilisieren, dass ein AngenommenWerden als Mensch durch das Erle-
ben von positiven Gefühlen, unglaublich große Wirkung auf Psyche und
Körper haben kann. Gefühlsarbeit kann Wohlbefinden herstellen und er-
halten und hat einen enormen Anteil am Gesundwerdungsprozess und
somit an der ökonomischen Ausrichtung des Gesundheitswesens.

Das Buch gliedert sich in einen theoretischen und in einen prakti-

schen, von vielen Beispielen begleitenden Teil. Das von den Autorinnen
entwickelte Konzept der Gefühlsarbeit

®

1

zeichnet sich durch folgende

Elemente aus:
• Prinzipien der Gefühlsarbeit, die denk- und handlungsleitend sind und

einen ethisch-moralischen Kontext vorgeben.

• Thesen der Gefühlsarbeit, die die Prinzipien untermauern und von

den Autorinnen validiert werden konnten.

• Einen Gefühlsprozess, eine Anzahl von Modulen, die der Gefühlsarbeit

einen systematischen Handlungsrahmen vorgeben.

• Reale Beispiele aus der Pflegepraxis, die die Anwendung des Konzepts

der Gefühlsarbeit deutlich machen.

Wer im ersten Anlauf weniger Interesse am theoretischen Teil hat, dem
empfehlen wir, gleich in die Beispiele einzusteigen, günstig wäre mit dem
Beispiel von Herrn Leitner (Ablenkungsarbeit – letztes Beispiel im Buch)
zu beginnen.

Die passende Vorgehensweise bei der Arbeit mit Gefühlen findet sich

in der Art der Begegnung der beiden „Gefühlspartnerinnen“. Das Wie
der Durchführung und einer individuellen Lösung ist immer von den
handelnden Personen deren Qualifikation und Persönlichkeit abhängig.

Wir verwenden im Buch die weibliche Form.

Wir wünschen viele Anregungen und Freude beim Lesen des Buches!

1

Das „

®

“ wird aufgrund der Lesbarkeit des Buches im Text nicht mehr weiter

angeführt.

4

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Einleitung

„Die einzige Wahrheit auf unserer Erde ist
unser Gefühl.“

(Gustav Mahler in Pieringer 2010, 2)

Durch die Entwicklungen der letzten Jahre in der Pflege hat sich zuse-
hends die Überzeugung durchgesetzt, Pflege leiste einen eigenständigen
Beitrag zum Wohlbefinden, zur Gesundheitsförderung und zur Heilung
der Klientinnen

2

im Gesundheits- und Sozialwesen

3

. Die Fähigkeit, Bezie-

hung zu den ihnen im Arbeitsprozess Anvertrauten herzustellen, gehört
zur Schlüsselqualifikation von Pflegenden. So schreiben auch die Gesell-
schaftsmitglieder den Pflegenden Erwartungen wie Freundlichkeit, Ver-
ständnis, Hilfsbereitschaft, zugewandtes Verhalten und Einfühlungsver-
mögen zu (vgl. Eslbernd/Glane, 1996; ifD-Allensbach 2009; Press 1996.
in: Dézsy 2003; Smith 1992).

Im österreichischen Gesundheits- und Krankenpflegegesetz von 1997

wird im eigenverantwortlichen Bereich die Aufgabe zur psychosozialen
Betreuung ausgewiesen. Der Begriff ist nicht definiert und kann von ei-
nem liebevollen, tröstenden Wort bis hin zur Sterbebegleitung ausgelegt
werden. Die starke Verschränkung zwischen körperlicher und gefühls-
und emotionsbezogener Arbeit ist ein Merkmal von Pflegearbeit, das
spezifische Kommunikationszugänge eröffnet.

Auf der einen Seite wissen wir aus vielen Beobachtungen aus der

Praxis der Pflege, dass Gefühlsarbeit ständig geleistet wird. Die Art
und Weise wie sie geleistet wird, erfolgt jedoch größtenteils beiläufig,
d. h. ungeplant und kann somit nicht als Professionsarbeit

4

ausgewie-

sen werden. Dementsprechend erfährt Gefühlsarbeit weder innerhalb
noch außerhalb des Professionssystems eine Bewertung. Dies ist umso
bedauerlicher, als Gefühlsarbeit von den Erbringerinnen ein hohes Maß
an Sensibilität und Konzentration verlangt und sich für uns als Arbeit
von hoher Qualität ausweist. Nicht zu unterschätzen ist das Ausmaß
der Sinnstiftung für die Pflegenden selbst, so haben viele den Beruf er-
griffen, um andere Menschen (beziehungsmäßig) zu unterstützen. Eine
positiv bewertete und gelungene Beziehung zu unseren Mitmenschen im

2

Der Begriff Klientin steht für Patientin, Bewohnerin und Angehörige.

3

In weiterer Folge wird von Gesundheitswesen gesprochen, wobei speziell für

Österreich auch der Sozialbereich, in dem Pflege und Betreuung durchgeführt
wird, gemeint ist.

4

Zur weiteren Vertiefung: Neumann-Ponesch 2010.

5

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 Einleitung 

Arbeitsalltag schafft Freude, Motivation, gibt Kraft und verleiht unserer
Arbeit Sinn.

Auf der anderen Seite werden in Studien (vgl. Bauer 1996; Elsbernd/
Glane 1996) Ergebnisse ausgewiesen, die Pflegende als aggressiv, sich
gegenüber den Klientinnen abwertend äußernd, wenig einfühlsam, als
nicht am Pflegeprozess beteiligt oder grenzüberschreitend darstellen.
Viele Pflegende haben Schwierigkeiten eine empathische Beziehung mit
den Klientinnen einzugehen. Viele verfügen über ausgewiesene niedrige
Empathiewerte (vgl. Bischoff-Wanner 2002). Die zugeschriebenen indi-
viduellen und gesellschaftlichen Erwartungen können häufig nicht erfüllt
werden. Dies kann zum Rückzug der Klientinnen aus der Beziehung bis
zum Misstrauen der Berufsgruppe gegenüber führen.

Die neuen neurobiologischen Erkenntnisse weisen dem Einsatz von Ge-
fühlen und Emotionen bei der Gesunderhaltung und Wiederherstel-
lung vor allem emotionaler Defizite einen hohen Stellenwert zu. Badura
(1996) spricht den Emotionen seit vielen Jahren einen Schlüsselfaktor in
der Vermittlung zwischen Mensch und seiner Umwelt zu. Siegrist (1997)
ist überzeugt, dass Theorien von Gesundheit und Krankheit letztendlich
auf Emotionstheorien basieren sollten. Die Autorinnen glauben, durch
die „Nähe“ zu den Klienten der Berufsgruppe der Pflegenden, wäre diese
am ehesten prädestiniert, Gesundheitsförderung und Prävention durch
emotionale Zuwendung auszuüben.

Die Beschäftigung mit dem Thema der Gefühlsarbeit war stark von den
Beobachtungen aus der Praxis geprägt: obwohl sich viele Kolleginnen
scheinbar intensiv um ihre Klientinnen bemühten, war ein Wahrnehmen
des betreuenden Menschen als Mensch in den Alten- und Pflegeheimen,
in Krankenhäuser oder in der mobilen Pflege kaum institutionalisiert.
Viel zu oberflächlich schienen die Beziehungen, viel zu häufig war der
Alltag vor allem der Alten und chronisch Kranken, durch Einsamkeit, Lan-
geweile und scheinbarer Sinnentleerung geprägt. Sichtbar waren diese
Ausprägungen in Pflegedokumentationen, in denen „ … ritualisierte Flos-
keln in ritualisierten Situationen ritualisierte Antworten provozieren und
ritualisiert … festgeschrieben werden …“
(vgl. Kühne-Ponesch et al. 2002,
175).

Das vorliegende Buch hat die Intention, der Gefühlsarbeit Sprache und
dadurch Sensibilität im Professionsumfeld der Pflege und ausgeweite-
ter angrenzender Berufsfelder zu verleihen Die Grundlage für die vor-

6

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 Einleitung 

liegende Arbeit ist die Betrachtung von Pflege als Fürsorgeberuf. Die
Pflegewissenschaft verwendet den Ausdruck „Care“. Wir lehnen uns an
Watson (1996) an, die sich wiederum auf Nightingale bezieht (1969),
die in ihrer Theorie von transpersonaler Zuwendung spricht und Pflege
in einen humanwissenschaftlichen und künstlerischen Kontext setzt. Die
Theorie beschäftigt sich mit der „Wechselbeziehung zwischen Pflegekraft
und Klienten unter Einbezug von Körper, Geist und Seele im Kontext der
Intersubjektivität“
(Watson 1996, 73) und sieht menschliche Zuwendung
als moralisches Ideal der Pflege. Als solches fördert es die Menschlich-
keit, die Würde und die Selbstentfaltung der Person.

Das Konzept der Gefühlsarbeit setzt bei der Überzeugung an, dass

ohne Mitwirkung bzw. Eigenwirkung der Klientinnen keine gelungene
Pflegearbeit geleistet werden kann. Diese Mitwirkung, hervorgerufen
durch ein Verständnis der Umstände, was gesund hält und krank macht,
kann nach Überzeugung der Autorinnen neben einer intellektuellen Leis-
tung der Klientin nur durch Vertrauensarbeit mit den betreuenden Per-
sonen hergestellt werden.

Gefühlsarbeit beschreibt eine Haltung und einen Weg, wie Pflegende
und Betreuende durch gelungene Beziehungsarbeit Ressourcen aller
am Pflegeprozess Beteiligter mobilisieren.

Durch die intensive Beschäftigung mit dem Thema sind die Autorinnen
zur Überzeugung gelangt, dass Gefühlsarbeit eines jener Tätigkeitsfelder
von Pflege sein kann, das der Pflege durch den zunehmend hohen Stel-
lenwert des Themas für die Gesellschaft und ihre Mitglieder zu einem
enormen und bedeutenden Einfluss auf die Gestaltung von Gesellschaft
verhilft, sofern Pflege diese Chance wahrnimmt!

7

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 Gefühle -- was sind das? 

1

Gefühle – was sind das?

Die Auseinandersetzung mit Gefühlen ist insofern spannend, da es sich
um ambivalente Phänomene bzw. Zustände handelt. Gefühle werden
häufig in Gegensatzpaaren ausgedrückt: sympathisch-unsympathisch,
lieben-hassen udgl. Gefühle können sich ebenso gegenseitig stärken als
sich auch gegenseitig schwächen. Begriffe wie Gefühle, Emotionen oder
Affekte werden in der Fachliteratur äußerst uneinheitlich, häufig syn-
onym verwendet. Kleinginna und Kleinginna (1981) fanden in einer Re-
cherche über Emotion in der damaligen Literatur 92 unterschiedliche
Definitionen! Das Begriffsverständnis ist abhängig von der Perspektive
und der Disziplin, die danach fragt, was Gefühl und Emotion wohl seien.
Gefühle und Emotionen üben große Macht über uns aus. Sie lassen uns
Lebendiges als auch Überwältigendes spüren. Spontan bringen wir sie
durch Lachen, Schreien, Weinen, … aber auch durch Schweigen (Sprach-
losigkeit) zum Ausdruck.

Wir sind dennoch den Gefühlen nicht hilflos ausgeliefert, wir können

lernen, mit ihnen mündig umzugehen. Das Ziel der Autorinnen ist es
ebenso, den Leserinnen Möglichkeiten, welche den mündigen Umgang
mit Gefühlen fördern, aufzuzeigen.

Es soll an dieser Stelle der Versuch unternommen werden, die Begriffe
des Affekts, der Emotion und des Gefühls zu definieren. Empathie als
wichtige Grundlage für Gefühle und Emotionen wird kurz angespro-
chen.

1.1

Affekt

Das Wort Affekt kommt von „afficere“ (lat.) und bedeutet so viel wie
„anregen“ oder „in eine Stimmung versetzen“. Affekte sind meist kurze
und intensive Gefühlsformen und verweisen eher auf passiv erfahrene
psychologische oder körperliche Gestimmtheit des Einzelnen. Die Wir-
kung ist meist unangenehm und befremdlich, vor allem für diejeni-
gen, die sie trifft. Der Affekt ist dadurch gekennzeichnet, dass er an-
dere Menschen meist in ihrem Handlungsspielraum beschränkt und die
menschlichen, komplexen Zusammenhänge stark vereinfacht (vgl. Kü-
pers/Weibler 2005).

Ein Affekt ist eine umfassender körperlich-seelische Gestimmtheit oder
Befindlichkeit von unterschiedlicher Qualität, Bewusstseinsnähe und

8

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 Gefühl 

Dauer (vgl. Ciompi 2002). Bei Ciompi kann ein Affekt sowohl bewusst
als auch unbewusst auftreten.

1.2

Gefühl

Im Gegensatz zum Affekt ist das Gefühl eher durch aktives Wahrnehmen
und Erleben geprägt. Gefühle verbinden den Menschen mit ihrer Welt:
Fühlend ist der Mensch mit der Welt verflochten und engagiert sich in
ihr“
(Küpers/Weibler 2005, 39). Gefühle sind bewusst wahrgenommene
und steuerbare Empfindungen (im Gegensatz zum Affekt) (vgl. Gerhards
1988; Krey 2003; Zimbardo et al. 2008). Gefühle treten meist nicht isoliert
auf, Phantasien, Bewertungen, Bedürfnisse und Wünsche erfahren mit
dem Gefühl ein umfassendes Erleben. Fühlen richtet sich dabei immer
auf etwas „Spezifisches“: „ich freue mich über …“ oder „ich bin zornig,
weil …“ Gefühle sind somit auf etwas gerichtet und verfügen über In-
tentionalität

5

. Fühlen ist dabei grundlegende Funktion der physischen

Erfahrung und des physischen Erlebens im Kontext zur menschlichen Be-
zogenheit auf die Welt. Ein Gefühl veranlasst einen Menschen, sich gegen
oder nach einer Wahrnehmung, einen Gedanken oder eine Handlung zu
richten (vgl. Orlando 1972).

Viele Forscherinnen (vgl. Ekman 1984; Krell/Weiskopf 2001) haben ver-
sucht so genannte Basisgefühle zu definieren und eine Klassifikation
vorzunehmen, allerdings ist die Annahme der Existenz von diesen sehr
umstritten. Die Emotionsforschung bleibt klare Kriterien für Basisgefühle
und -emotionen schuldig. So sind folgende vorgeschlagene Basisgefühle
nicht verbindlich durch die Forschung bearbeitet: Angst / Furcht, Ekel,
Ehrfurcht, Erregung, Freude, Glück, Interesse, Scham, Scheu, Schuld,
Traurigkeit, Verachtung oder Wut.

Viele Gefühle treten als Mischgefühle auf: Aggression könnte eine Mi-
schung aus Angst und Unsicherheit sein, Liebe eine Mischung aus Freude
und Angst.

5

Der Begriff der Intentionalität bezeichnet das Vermögen des Bewusstseins,

sich auf etwas zu beziehen (etwa auf reale oder nur vorgestellte Gegenstände,
Eigenschaften oder Sachverhalte). In: www.wikipedia.org. 25.08.2010.

9

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 Gefühle – was sind das? 

Gefühle sind die emotionalen Spuren, die die Ereignisse, Zustände und
Geschehnisse in Bezug auf unsere Bedürfnisse, Motive, Wünsche und
Interessen hinterlassen.

1.3

Emotion

Der Begriff „Emotion“ (lat.) geht auf „emovere“ (= herausbewegen) und
moveri (= bewegt werden) zurück. Emotion ist das „breitere“ Phänomen
als Gefühl. Emotionen ergeben sich aus wesentlich komplexeren, sozia-
len und kulturellen Begebenheiten. Emotionen konstituieren sich immer
in verschiedenen Beziehungsgeflechten in sozialen Situationen. Die In-
tention, die Absicht des Gefühls und die Expression, der Gefühlsausdruck
stehen in wechselhafter Beziehung.

Folgende Abbildung 1 zeigt die Beziehung zwischen Gefühl und Emotion:

 Abb. 1: Bezugsrahmen Gefühl – Emotion und Kontext (Küpers/Weibler 2005, 44)

In der Abbildung wird deutlich, dass Gefühle eine subjektive, persönliche
Dimension des Emotionalen sind, während die Emotionen sich zwischen
den Subjekten ausformen und vom jeweiligen gesellschaftlichen Kontext
bzw. der jeweiligen Situation mitbestimmt werden.

10

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 Empathie 

Damásio (1994, 2000) trennt zwischen Emotionen („emotions“), die
er als die durch somatische Marker verursachten Körperzustände be-
schreibt, und Gefühlen („feelings“), die das bewusste Wahrnehmen der
emotionalen Körperzustände darstellen. So lernt der Mensch im Laufe
seiner Entwicklung beispielsweise den Körperzustand, der mit der re-
flexartigen Flucht vor einer Gefahr verbunden ist, als Angst oder Furcht,
als ein bewusstes Gefühl, wahrzunehmen. Während die Emotionen an-
geboren sind und ein von außen beobachtbares körperliches Verhal-
ten produzieren, beruhen die Gefühle auf Erfahrungen und ermöglichen
Schutzstrategien gegen Gefahren von außen.

Gemeinsam haben Emotionen und Gefühle ihren biologischen, geneti-
schen und neurologischen Ursprung basierend auf Wahrnehmungs- und
Erfahrungsprozessen. Gefühle und Emotionen entstehen aufgrund einer
subjektiven Bewertung einer Situation, die positiv, neutral oder negativ
beschrieben werden kann. Das daraus erwachsende Erleben wird häufig
von körperlichen Reaktionen, wie z. B. Spannung, begleitet. Ein Gefühl
oder eine Emotion tritt immer dann auf, wenn ein Umstand von einer
Person als bedeutsam wahrgenommen wird.

1.4

Empathie

Der Begriff der Empathie ist deshalb von Bedeutung, da diese als Vor-
aussetzung zur Konstruktion von Gefühlen und Emotionen von manchen
Autorinnen genannt wird. Für Watson (1979) ist Empathie die Fähigkeit,
die Gefühle und die Wahrnehmungen anderer Menschen zu erfahren
und dadurch zu verstehen und dieses Verstehen mitzuteilen. Gefühle
und Wahrnehmungen können durch andere Menschen „wahr“ genom-
men werden, dies ist eine Grundvoraussetzung, um Gefühle in Worte zu
fassen und bewusst zu machen. Empathie kommt zur Anwendung, um
die Gefühle und Erlebnisse der Klientin sensibel zu erfassen, so Rogers
(1990).

11

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 Gefühlstheorien / Emotionstheorien 

2

Gefühlstheorien / Emotionstheorien

Gefühlstheorien / Emotionstheorien sind wissenschaftliche Abhandlun-
gen über die verwandten Begriffe: Gefühle, Emotionen, Affekte, Stim-
mungen. Erklärungen bzgl. Entstehung und Wirkung von Gefühlen und
Emotionen kommen aus verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen (vgl.
Dörig 2009; Hartmann 2005; Wollheim 2001). Die Auswahl der Theorien
und ihre Erklärungen sind in diesem Buch kurz gehalten, zur weiteren
Vertiefung sind o.g. Autorinnen empfohlen:

2.1

Verhaltenswissenschaftlich-
behavioristische Theorien

Der verhaltenswissenschaftlich-behavioristische Ansatz sieht Gefühl und
Emotion als passive Reaktion auf einen Reiz, d. h. Gefühle werden durch
körperliche Prozesse ausgelöst. Die von James (1884) und Lange (1887)
etwa zur gleichen Zeit verkündete Annahme besagt, Emotionen seien nur
Begleiterscheinungen körperlicher Vorgänge bzw. körperlicher Verände-
rungen seien die Ursache emotionalen Erlebens. Es gibt eine kausale
Priorität der physiologischen vor den emotionalen Reaktionen. Demnach
weinen wir nicht, weil wir traurig sind, sondern wir sind traurig, weil wir
weinen. Ein weiteres Beispiel ist, wir haben Angst, weil wir weglaufen.

Alltagsverständnis

Reiz

Gefühl

Reaktion

(Schlange)

(Angst)

(Erstarren)

(Streicheln)

(Zuneigung)

(Erregung, Rötung der Haut)

Verständnis

Reiz

Reaktion

Gefühl

Behaviorismus

(Schlange)

(Erstarren)

(Angst)

(Streicheln)

(Erregung)

(Zuneigung, Rötung der Haut)

 Abb. 2: Unterschied zwischen Verständnis von Gefühl im Alltag und jenes der Be-

havioristen

In dieser Theorie tritt entgegen dem Alltagsverständnis nicht zuerst das
Gefühl auf, sondern eine spezifische Reaktion, gefolgt von einem Ge-
fühl. Die Beobachtung der Gefühle ist stark auf äußerliche Merkmale
gerichtet.

James (1884) unterscheidet bereits zwischen Gefühl („feeling“) und Emo-
tion („emotion“): Die Emotion ist das mit den körperlichen Verände-

12

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 Kognitivistische Theorien 

rungen einhergehende Gefühl: in dem Maße, in dem wir körperliche
Veränderungsprozesse wahrnehmen und in uns spüren, in dem wir sie
„fühlen“, können wir Emotionen wie beispielsweise Angst oder Wut ha-
ben.

2.2

Kognitivistische Theorien

Kognitionstheoretische Ansätze erforschen gefühlsmäßiges Erleben und
Verhalten nicht alleine durch Äußerlichkeiten, sondern berücksichtigen
systematisch kognitive Prozesse in der Auseinandersetzung von Person
und deren Umwelt. In der Überzeugung der Kognitionstheoretiker sind
Überzeugungen, Wertungen und Urteile wichtige Bestandteile von Ge-
fühlen. Nach Arnold (1960) sind Emotionen durch die vorgenommene
Bewertung eine empfundene Tendenz zu etwas hin oder weg, d. h. et-
was wird als gut, sinnvoll bzw. nützlich oder etwas wird als schlecht, nicht
sinnvoll bzw. nutzlos bewertet. Als Beispiel sei hier nochmals jenes der
Schlange aufgegriffen:

Situation

Bewertung

Gefühl und Verhalten

Schlange in der Wiese

schlecht

Angst, Vermeidungsverhalten

Schlange im Tierpark

gut, nützlich

Freude, Erstaunen, Annäherung

 Abb. 3: Bewertung einer Situation und das daraus abgeleitete Gefühl und daraus

resultierendes mögliches Verhalten

Die Entstehung und die Qualität eines Gefühls ist Produkt einer so ge-
nannten Bedeutungsanalyse. Die Bedeutungsanalyse ist eine kognitive
Bewertung der vielfältigen Erfahrungen, Erlebnisse und Erwartungen ei-
nes Menschen und stellt dadurch eine individuelle Konstruktion von
Beziehungsgeflechten und der in sich bewegenden Umwelt dar (vgl.
Mandler 1984).

Es gibt jedoch keine einheitliche Schule des „Kognitivismus“, vielmehr
dienen die Ansätze, deren Aussagen verständlich zu machen. Mit den äl-
teren kognitivistischen Theorien werden Emotionen und Gefühle als Re-
sultat von Informationen und deren Verarbeitung erklärt, was bedeutet,
der Mensch zeigt nur dann Emotion bzw. Gefühl, wenn ein Sachverhalt
oder ein Phänomen mit Wertungen verknüpft wird. Gefühle und Emotio-
nen werden intrinsisch aufs Engste mit Kognitionen wie Wahrnehmen,
Erinnern, Denken, Bewerten oder Sprechen verflochten und unterlie-

13

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 Gefühlstheorien / Emotionstheorien 

gen einer Rationalisierung: Ein Gefühl, so Solomon (1993, in: Hartmann
2005, 72), ein klassischer Vertreter dieser Strömung, „ist ein […] Urteil,
das unsere Welt konstituiert […] ein Urteil über meine Situation und über
mich und / oder andere Leute“.
Diese kognitiven Komponenten werden
zum einen als mögliche Ursache betrachtet, zum anderen sind sie auch
wesentliche Bestandteile des Gefühls selbst. Durch diese Ausrichtung
können Gefühle in bestimmten Situationen als berechtigt oder unbe-
rechtigt, als angemessen oder unangemessen klassifiziert werden. Die
neueren Strömungen, in denen kognitionswissenschaftliche sowie neu-
robiologische Erkenntnisse miteinander verknüpft werden, liefern die
Beweise: Es gilt heute als gesichert, dass Denken und Fühlen untrennbar
zusammengehören. Es konnte gezeigt werden, dass komplexe emotio-
nale Erfahrungen sich in einer Vielzahl kognitiver und neurologischer
Prozesse begründen und im Weiteren Emotionen und Gefühle die Ba-
sis rationaler Erkenntnisse und Entscheidungen vernünftigen Handelns
darstellen
(vgl. Sousa 1997).

2.3

Neurobiologische Theorien

Die neurobiologischen Erklärungen von Emotionen und Gefühlen sind
Ergebnisse der jüngsten Forschungsrichtung. Diese Erklärungen haben
eindrucksvoll die Verstrickung zwischen Gehirn und Emotion darlegen
können. Markowitsch (1997, 1998) hat als einer der ersten festgestellt,
dass das, was uns emotional anspricht, in ein breiteres Nervenzellen-
Netzwerk eingebunden wird und in ein so genanntes Wissenssystem
im Gedächtnis gespeichert wird. Das heißt, dass die Erfahrung, posi-
tive Emotionen zu erleben, in uns verankert ist und diese Erfahrung
auch wieder (z. B. bei emotionaler Deprivation

6

) durch aktive Unter-

stützung hervorgerufen werden kann. In Bezug auf die Wirkung auf die
Gefühle und Emotionen finden sich vor allem drei wichtige Botenstoffe
im Gehirn: das Dopamin, die endogenen Opioide und Oxytozin, die im
Motivationszentrum des Gehirns, eine Gruppe von Nervenzellen, (vgl.
Damasio 1994, 2000; Bauer 2005; Markowitsch 1997, 1998), gebildet
werden: Das vom Motivationszentrum ausgeschüttete Dopamin erzeugt
das Gefühl von Wohlbefinden und versetzt die Person in den Zustand

6

Deprivation (von lateinisch de-„privare“ = berauben) bezeichnet allgemein den

Zustand der Entbehrung, eines Entzuges oder der Isolation von etwas Vertrau-
tem, eines Verlustes, eines Mangels oder das Gefühl einer (sozialen) Benachtei-
ligung.

14

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 Kulturell-soziale Theorien 

von Handlungsbereitschaft und Konzentration. Dopamin beeinflusst den
Antrieb, der für die Verfolgung eines bestimmten Ziels verantwortlich
ist. Die endogenen körpereigenen Opioide sind der Wirkung von Opium
und Heroin ähnlich, allerdings in einer weit abgeschwächteren Form. Sie
wirken auf das Emotionszentrum des Gehirns und haben positive Effekte
auf das Ich-Gefühl, die Lebensfreude und generell auf die emotionale
Gestimmtheit und das Immunsystem. Der dritte Botenstoff, der einen
überaus positiven Effekt auf das Wohlbefinden hat, ist das Oxytozin.
Jene Regionen, in denen die drei Botenstoffe im Körper erzeugt wer-
den, sind miteinander verschaltet und werden deshalb auch als großes
Gesamt-Motivationssystem bezeichnet. Als Ergebnis dieses Zusammen-
spiels kann ein bestimmtes Gefühl als die Wahrnehmung des Körpers,
der sich in einer bestimmten Verfassung befindet, empfunden werden
(vgl. Damasio 2000).

Die eigentliche Revolution in der Erkenntnis der Neurobiologie war die
Erkenntnis, das Motivationssystem dient der Generierung und Aufrecht-
erhaltung aller sozialer Systeme (womit auch das Darwinsche System,
die Durchsetzung des Stärkeren massiv ins Wanken kommt). Anerken-
nung und Akzeptanz eines Menschen als Mensch ist ureigenster Grund
für alle Arten von Motivation unseres Handelns.

Wenngleich die Neurowissenschaften unmissverständlich den Zusam-
menhang zwischen emotionalem Erleben, Verhalten und Handeln als Teil
der Gehirnfunktion zu erkennen geben, kann damit aber nicht gleichzei-
tig der Rückschluss gezogen werden, dass dieser Ansatz alle Phänomene
zu erklären imstande ist (vgl. Damasio 1994). So können beispielsweise
komplexe sozial-kulturelle Gefühlsphänomene nicht ausreichend darge-
stellt werden.

2.4

Kulturell-soziale Theorien

Weitere Strömungen haben sich mit Emotion und Gefühl als kulturel-
len Prozess befasst: Emotionen und Gefühle sind Produkte einer sozial-
kulturellen Ausformung und haben gemeinschaftliche Zwecke zu erfül-
len. Die Ausformung einer Emotion äußert sich in bestimmten Rollen
und Mustern. Goffman (2005) sieht in der emotionalen Individualität
eine soziale Rolle, die wir zu spielen gelernt haben. Wut, Aggression
udgl. sind vorübergehende „gespielte“ Rollen. Rollen geben gesellschaft-
liche Anwendungs- und Gültigkeitsbereiche vor, d. h. auch bestimmte

15

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 Gefühlstheorien / Emotionstheorien 

angenommene Rollenidentitäten werden positiv oder negativ bestätigt.
Verschiedene Kulturen bringen verschiedene Qualitäten und verschie-
dene Ausdrucksmuster von Emotionen hervor. Beispielsweise wird die
Geburt eines Kindes oder Tod eines anvertrauten Menschen im südländi-
schen Teil dieser Erde anders willkommen geheißen bzw. verabschiedet
als im nördlichen Teil. Die Vertreterinnen des „sozialen Konstruktivis-
mus“ (Gergen 1994; Oatley 1993; Weber 2000) sehen wahrgenommene
Wirklichkeiten als Aushandlungsprozess gesellschaftlicher Sachverhalte.
Emotionsverhalten und -verständnis erfahren dadurch historische Prä-
gung, denn gesellschaftliche Vereinbarungen und Aushandlungen brau-
chen Zeit, um sich an neue Gegebenheiten „anzupassen“. Liegt es nun an,
Emotionen speziell auf die verschiedenen sozio-kulturellen Einflüsse hin
zu überprüfen, so ist ein Blick in die Vergangenheit dieser Gesellschaft
vonnöten.

Ein Blick auf all die vorher dargestellten Erklärungsversuche von Gefüh-
len und Emotionen macht die Multikausalität sichtbar. Gefühle und Emo-
tionen, so sind sich alle Theorien einig, sind stets an die Informationsver-
arbeitung eines Menschen in einer konkreten Situation gebunden und
wirken über innerpsychische Vorgänge hinaus. Sie steuern und regulie-
ren Handlungen und dienen durch ihre Darstellungs- bzw. Signalfunktion
kommunikativen Zwecken.

16

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 Gefühlsarbeit – was ist das? 

3

Gefühlsarbeit – was ist das?

Besonders in modernen „jüngeren“ Dienstleistungsgesellschaften erfah-
ren Gefühls- und Emotionsarbeit an steigernder Bedeutung (vgl. Wegge
2001). Es gilt als sicher, neben der physischen und kognitiven Eignung
sind im Umgang mit Anderen, ob dies nun beruflich oder privater Natur
ist, emotionale Kompetenzen immer mehr erwünscht (vgl. Zapf 2000).
Weder Dienstgeberin noch Dienstnehmerin sind zweckrational und sach-
bezogen ausgerichtet, menschliche Interaktionen sind – wie bereits er-
wähnt – immer von Gefühlen begleitet. Jede Organisation verfügt über
ein bestimmtes „Gefühlsklima“ bzw. eine „Gefühlskultur“, welche wie-
derum die Gefühle jedes Einzelnen beeinflusst. In dieser Gefühlskultur
wird aufgezeigt, welche Gefühle der Mensch selbst in welcher Situation
einbringt, welche Bedeutung bestimmte Gefühle haben und wann und
von wem welche Gefühle unterdrückt oder frei geäußert werden dür-
fen. Ob aggressives Verhalten einer Bewohnerin in einem Pflegeheim
aufgegriffen und einer Bearbeitung zugeführt wird oder mittels Sanktio-
nen von Seiten der Mitbewohnerinnen oder des Personals belegt wird,
ist gefühlskulturspezifisch. Besonders in kontaktintensiven Dienstleistun-
gen wie beispielsweise im Pflegebereich existieren häufig so genannte
Gefühlsnormen, die die Art, die Stärke und die Dauer eingesetzter Ge-
fühle regeln (vgl. Hochschild 1990). Diese Gefühlsnormen sind meist
dem Bewusstsein jedes Einzelnen verborgen, was ein Arbeiten mit und
an Gefühlen am Beginn von Gefühlsarbeit schwierig macht. In der Ge-
fühlsarbeit werden Gefühle und Emotionen selbst zur Arbeit.
Strauss
et al. (1980, 629) konzeptionalisieren Gefühlsarbeit zum ersten Mal als
„klassische“ Arbeit, „… die im Dienste des Hauptarbeitsverlaufes Ener-
gie, Zeit, Können, Arbeitsteilung und Entlohnung erfordert“
und weiter
bemerken sie, Gefühlsarbeit sei unverzichtbare Voraussetzung für den
medizinischen Arbeitsprozess. Wittneben (2001a, 2001b) definiert Ge-
fühlsarbeit als eine personenbezogene Dienstleistung bzw. Arbeit an den
Gefühlen anderer und den eigenen. Dunkel (1988) definiert Gefühlsarbeit
als den Versuch des Handelnden, das eigene Empfinden und den Gefühls-
ausdruck den geltenden Gefühlsregeln anzupassen. Dienstleistungen, in
denen Gefühle zum Arbeitsgegenstand werden, sind notwendiger Be-
standteil medizinischer oder pflegerischer Arbeit am Menschen. Gefühle
sollen beeinflusst werden, damit die ärztliche oder pflegerische Behand-
lung besser gelingen oder überhaupt durchgeführt werden kann. Anders
ausgedrückt: Gefühlsarbeit dient der Erreichung von Handlungszielen.

17

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 Gefühlsarbeit – was ist das? 

Dem beruflichen Umfeld schreiben Grandey (2000) und James (1989)
der Gefühlsarbeit eine Verhaltenserwartung bzw. Arbeitshaltung zu, die
durch den regelmäßigen Einsatz spezifischer Gefühle in beruflichen Inter-
aktionen, das Erreichen des Organisationszieles zu unterstützen und zu
regulieren vermag. Besonders im beruflichen Kontext bei kontaktinten-
siven Dienstleistungen, zu der die Pflege zählt, unterliegen Gefühle, wie
bereits erwähnt, bestimmten Normen. Diese Normen werden sowohl in
der Ausbildung als auch in der Praxis durch immer wiederkehrende Be-
stätigung erlernt und erfahren. Wer sich außerhalb einer Norm verhält,
erfährt in unserer Gesellschaft häufig Sanktionierungen oder Stigmati-
sierungen

7

. Werden beispielsweise in einer Organisation innerhalb ihrer

Mitglieder ausschließlich ritualisierte, oberflächliche Beziehungen ge-
lebt und geduldet, würde eine Person, die vermehrt Nähe und Tiefe zu
Patientinnen oder Heimbewohnerinnen sucht, möglicherweise von den
Kolleginnen ausgegrenzt werden.

Gefühlsarbeit ist für die Autorinnen dieses Buches ein Praxiskonzept, das
Fürsorge und die Beziehung zum Menschen in den Mittelpunkt des Han-
delns rückt. Gefühlsarbeit wird als Professionsarbeit in Form der erwei-
terten vertieften Pflegepraxis
zur Erreichung eines definierten Gefühls-
ziels gesehen und ist definiert als ein bewusster, gesteuerter Einsatz von
Gefühlen in der Gegenwart mit dem Ziel, die Ursachen von auftreten-
den Irritationen im Pflegekontext zu identifizieren, zu interpretieren und
gemeinsam mit den Klientinnen, zu bearbeiten. Eine identifizierte Irrita-
tion ist Initial für den Einsatz von Gefühlsarbeit.
Als Irritation wird eine
wahrgenommene Abweichung eines Phänomens von Gewohntem oder
Üblichen bezeichnet (weiteres siehe Kapitel 8, Gefühlsarbeit als Metho-
dik).

Ob Gefühlsarbeit gelingt, ist eine Frage der Ausformung und der Quali-
tätsarbeit in der Beziehung zwischen den betreuenden und pflegenden
Personen zu den Klientinnen. Argyle und Henderson (1990, 12) definie-
ren Beziehungen im Sinne persönlicher Beziehungen als „regelmäßige
soziale Begegnungen mit bestimmten Personen über eine gewisse Zeit
hinweg“
. Die Kontakte sind tiefgründig durch starke, emotionale Bindung
geprägt. Nur so kann von persönlicher Beziehung gesprochen werden.

7

Ein Stigma ist eine unerwünschte Andersheit. Stigmatisierung bedeutet die

Zuordnung von Menschen durch andere Menschen in eine bestimmte Kategorie
(„in eine Schublade stecken“) aufgrund eines offensichtlich anders Sein als die
anderen. www.wikipedia.org, 25.8.2010

18

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 Gefühlsarbeit – was ist das? 

Würde man sich einer Person, zu der man keine persönliche Beziehung
pflegt, öffnen? Wenn ja, so ist dies wohl bei den meisten von uns mit
dem Wunsch einer gewissen Beständigkeit verbunden.

An dieser Stelle wird kurz auf die Voraussetzungen für das Gelingen

einer Beziehung eingegangen (vgl. Bauer 2007; Honneth 1998; Peplau
1997):

• Erste Voraussetzung ist Sehen und Gesehen werden. Menschen wollen

als Person wahrgenommen werden. Dieses Wahrnehmen als Person
erzeugt die Bereitschaft für eine Beziehung. „Jemanden wie eine(n)
unter vielen zu behandeln, erzeugt keine Beziehung.“
(Bauer 2007,
191). Will jemand nicht gesehen werden, wird er sich bemühen un-
auffällig zu bleiben. Es steigt die Gefahr, des nicht Gesehen-Werdens.
Bei diesem Bemühen handelt es sich nicht selten um einen unbewuss-
ten Vorgang. Gesehen zu werden heißt, Bereitschaft zu zeigen, für
andere sichtbar zu sein. Dies impliziert Offenheit für sich selbst und
für andere. Diese Eigenschaft scheint auch besser geeignet, andere
Personen wahrzunehmen als ein sich Zurückziehen. Der erste Schritt
zur Beziehung spricht auch den Mut jeder Person an, Bereitschaft zur
Beziehung zu zeigen.

• Der zweite Schritt eine Beziehung wahrscheinlicher zu machen, ist

von gemeinsamer Aufmerksamkeit gekennzeichnet. Unter gemeinsa-
mer Aufmerksamkeit versteht man sich derjenigen Person zuzuwen-
den, die für einen Aufmerksamkeit aufbringt. Diese Situation findet
sich in den Alltagsgesprächen häufig wieder und verlangt von den Ge-
sprächspartnerinnen ein Bemühen füreinander. Im Alltag ist sie sich
durch die gelebte und für die Beobachterin wahrnehmbare gegen-
seitige Wertschätzung erkennbar. Ein ignorantes oder interessenloses
Begegnen des Gegenübers wird aufgrund der eigenen Erfahrung mit
der Botschaft, das Gegenüber ist an Beziehung mit dem Gegenüber
nicht interessiert, interpretiert. „Doch der Impuls, Beziehungen auf
eine Art und Weise zu kontrollieren, die unsere eigenen Interessen be-
friedigt, ist natürlich und normal. Trotzdem führt Ich-Bezogenheit im
Laufe der Zeit in die Isolation. Die anderen werden uns Vertrauen und
Respekt entgegenbringen, wenn wir die Interessen der Allgemeinheit
an erster Stelle berücksichtigen. Wir knüpfen tiefere, vertrauensvollere
Beziehungen.“
(Quinn 2005, 12)

• Als drittes, sehr verbindendes Beziehungselement ist die emotionale

Resonanz zu nennen. Unter emotionaler Resonanz versteht man die
Fähigkeit und die Bereitschaft, sich stimmungsmäßig einzustellen. Per-
sonen, die diese Fähigkeit nicht besitzen, können nur bedingt Bezie-

19

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 Gefühlsarbeit – was ist das? 

hungen eingehen. Im gemeinsamen Handeln wird konkret gemeinsam
„angepackt“. Dieses gemeinsame etwas tun, ist stark beziehungsstif-
tend. Dieser Effekt trifft nicht auf das Delegieren von Aufgaben im
Sinne der Unterstützung von anderen zu.

• Das vierte, für uns am stärksten greifende Beziehungselement ist das

Verstehen von Motiven und Absichten. Es ist zu beobachten, dass die-
ses vierte Element erst dann zum Tragen kommen kann, wenn die
ersten vier gelebt werden. Verstehen setzt Gespräche, Reflexion die-
ser, Intuition und vor allem bewusst eingesetzte Beobachtungsgabe
voraus.

Die Autorinnen teilen die zwei letztgenannten Punkte nur bedingt: durch
die definierten Prinzipien der Gefühlsarbeit (siehe Kapitel 7, Prinzipien
der Gefühlsarbeit) ist ein emotionales Einstellen auf das Gegenüber
wenn überhaupt, nur in Ansätzen möglich. Denn Gefühle sollen weder
sich selbst noch anderen vorgespielt werden, so auch das Authentizitäts-
prinzip. Die Beziehung zwischen zwei Menschen ist von deren Geschichte
geprägt. Durch die nicht vorhandene Geschichtslosigkeit (siehe Kapitel 7,
Prinzipien der Gefühlsarbeit) werden deren gegenseitige Handlungen
beeinflusst.

Wir stellen den Anspruch, der Professional hat ein authenti-
sches Verhalten gegenüber seinen wahrgenommenen Gefühlen
einzunehmen.

Gefühlsarbeit ist nur dann Teil der pflegerischen Arbeit, wenn sie institu-
tionell nachweisbar ist und als gelebtes Wertemanagement ausgewiesen
werden kann, so Strauss et al. (1980).

Gefühlsarbeit ist heute in vielen Bereichen wichtiger denn je, denn:

• Verzicht auf Gefühlsarbeit kann auf Seiten der Klientinnen zu Fehlleis-

tungen mit Konsequenzen wie Verletzung der Privatsphäre, Erniedri-
gung, dem Gefühl, wie ein Objekt behandelt zu werden oder auch zu
früherem Tod führen (vgl. Strauss et al. 1980; Bischoff-Wanner 2002;
Lankers et al. 2010).

• Verzicht auf Gefühlsarbeit kann auf Seiten der Pflegenden zur emo-

tionalen Abstumpfung bis zum Burn-out führen.

• Oberflächlichkeit, Institutionsorientierung und Funktionalität hem-

men ein Wahrgenommen-Sein als Mensch.

• Symptome, die sich aus der Lebenssituation eines Menschen ent-

wickelt haben, werden aus der Sicht der Medizin und der Pflege

20

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 Gefühlsarbeit – was ist das? 

nicht in ihrem Zusammenhang, sondern nach wie vor isoliert betrach-
tet.

• Ökonomischer Druck forciert die Konzentration der Pflege auf Körper-

lichkeiten.

• Die Konzentration auf Körperlichkeiten beschränkt die Wahrnehmung

der vielfältigen Kompetenzen der Pflegenden bei allen Beteiligten.

• Der Innovationsschub setzt einseitige Akzente: Hightech anstatt High-

touch.

• Pflegende in Ausbildung und Praxis werden mit ihrer eigenen Verwir-

rung der Gefühle und jener der Klientinnen und Patientinnen alleine
gelassen.

• Arbeit ist ohne Kooperation der Klientinnen und Patientinnen nicht

erfolgreich zu verrichten.

• Der Erhalt oder die Wiederherstellung der Ressourcen und des Wohl-

befindens bedürfen des Vertrauens in sich selbst und in das Pflege-
und Betreuungsumfeld.

• Der medizinischen Arbeit wird Priorität eingeräumt. Deshalb findet

Gefühlsarbeit, wenn überhaupt, ad hoc, ungeplant und unbewusst
statt.

Die Autorinnen teilen nicht die Haltung mancher Kritikerinnen, durch für-
sorgliche Zuwendung würde ein über normal hinausreichendes berufliches
Engagement der Pflegenden der Rahmen gesprengt werden, und wei-
ter die Meinung, Fürsorge würde ausschließlich in den Privatbereich ei-
ner jeden Person fallen. Zudem befürchten Kritikerinnen, dass Pflegende
überfordert werden könnten, wenn sie Zuwendung als Regelleistung zur
Verfügung stellen müssen. Das in der Ausbildung geprägte Professionsver-
ständnis ist gekennzeichnet durch die Notwendigkeit des Sich-Abgrenzens
zur Patientin und Klientin. Aber wie auch Stemmer (2002, 43) betont:
„Das Besondere des anderen kann nur begriffen werden, wenn die Pflege-
person sich auf eine persönliche Begegnung einlässt.“
Diese persönliche
Begegnung ist Fundament der hier zugrunde liegenden und dargestellten
Gefühlsarbeit, die dadurch gekennzeichnet ist, dass sie

mess- und bewertbar ist,
von einer ungeplanten, aber bewussten Einzelmaßnahme bis zu ei-

nem geplanten Maßnahmenkonvolut reicht und

in Form eines geplanten Gefühlsprozesses abgebildet werden kann.

Gefühlsarbeit als Professionsarbeit erkennt Nuancen im Emotionsver-
ständnis der Kommunikationspartnerin und ist in der Lage, diese Nu-

21

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 Gefühlsarbeit – was ist das? 

 Tabelle 1: Merkmale des Konzepts der Gefühlsarbeit®

Theoretische Grundlagen und
Erklärungsmodelle

Handlungstheoretischer Bezug
Humanistische (Fürsorge) Modelle
Interaktionistische Modelle
Neurobiologie

Ziele

Soll für den Menschen
• Identität
• Würde
• Sinn
• Motivation
• Empowerment
erhalten oder wiederherstellen.

Soll
• Einsamkeit
• Langeweile
• „Losigkeit“
• „sich als Mensch aufgeben“
vermeiden

Soll Beziehungsarbeit
• sichtbar
• bewertbar
machen

Anwendung

Präventiv
im unmittelbaren Pflegeprozess

Klientinnenebene
Organisationsebene

Professionsarbeit
weniger komplexe Pflegesituation bis zu hoch
komplexen Pflegesituation

Methodik

• klientinnengeleitet / patientinnengeleitet
• bewusst
• gesteuert durch Gefühlsprozess
• gegenwartsorientiert
• prinzipienorientiert
• (meist) geplant
• ergebnisorientiert
• reflexiv

ancen aufzugreifen, anzusprechen und gemeinsam mit der Klientin zu
bearbeiten. Eine auf der Oberfläche „stattfindende Kommunikation“,
lässt dieses Erspüren nicht zu. Die Fähigkeit, Nuancen wahr zu neh-
men, unterscheidet den Professional vom (Gefühls) Laien.
Wichtig ist
zu betonen, dass Gefühlsarbeit nur dann im professionellen Umfeld des

22

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 Zielgruppe von Gefühlsarbeit 

Gesundheitswesen zum Einsatz kommt, wenn es für Menschen keine
anderen auf der Gefühlsebene ansprechbaren Personen gibt, denn von
Seiten der Klientinnen besteht im alltäglichen Umgang kein Bedürfnis
eines engeren Kontakts zum Pflegepersonal. Ein normaler, natürlicher
Umgang ist die gewünschte Norm (vgl. Busch 1996).

In diesem Zusammenhang wollen wir auf den von Fritz Perls in Rogoll
(1990, 137), einem der Begründerinnen der Gestalttherapie formulierten
Lebensleitspruch verweisen der da lautet:

Ich gehe meinen Weg, und du gehst deinen Weg.
Ich lebe nicht in dieser Welt,
um deinen Erwartungen zu entsprechen,
und du lebst nicht in dieser Welt,
um den meinen zu entsprechen.
Ich bin ich und du bist du,
und wenn wir uns begegnen sollten –
ist es wunderschön.

3.1

Zielgruppe von Gefühlsarbeit

Das Konzept kommt bei spürbaren und identifizierten Irritationen so-
wohl von Klientinnen in Pflegeheimen und deren Angehörigen, als auch
bei Pflegeteammitgliedern zum Einsatz. Eine Definition, wer in der Ge-
fühlsarbeit Klientin ist, ist von besonderer Bedeutung. In der vorliegen-
den Konzeption ist Gefühlsarbeit im Alten- und Pflegebereich an verbal
kommunizierfähigen Einzelpersonen entwickelt, erprobt und evaluiert
worden, wobei die involvierten Gefühlspartnerinnen voll orientiert bis
leicht verwirrt waren und Gefühlsarbeit sowohl an Klientinnen als auch
an Teammitglieder durchgeführt wurde. Von Bedeutung für den Einsatz
von Gefühlsarbeit ist die Bereitschaft aller Beteiligten, sich individuell
und als Organisation auf Gefühlsarbeit einzulassen und das „Gefühls-
handeln“ auf die Prinzipien des Konzepts auszurichten. Einer der Grund-
thesen des Konzepts ist die Annahme der Erreichbarkeit aller Menschen
auf der Gefühlsebene, deshalb kann das Konzept auf andere Gruppen,
wie bewusstlose und stark verwirrte Personen sowie auf Kinder, ausge-
weitet werden. Der Professional ist in diesem Fall besonders auf Reaktio-
nen aller Art des Gegenübers angewiesen. In der vorliegenden Fassung
von „Gefühlsarbeit“ sind diese Zugänge noch nicht erprobt worden, wei-
tere Erfahrungen müssen gesammelt werden.

23

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 Thesen der Gefühlsarbeit 

4

Thesen der Gefühlsarbeit

Gefühlsarbeit unterliegt sieben formulierten Thesen:

These 1: Jede Irritation ist ein Zeichen
These 2: Wir können jedem Menschen auf der Gefühlsebene be-

gegnen

These 3: Gefühlsarbeit ist keine Selbstverständlichkeit
These 4: Gefühlsarbeit braucht ein Geben und Nehmen
These 5: Gefühlsarbeit braucht eine fundierte Reflexionsfähigkeit

und hohe Sensitivität der Pflegenden

These 6: Gefühlsarbeit birgt die Chance einer Befindens- und Ver-

haltensänderung

These 7: Gefühlsarbeit hat keine Kostensteigerung zur Folge

Die erste These – Jede Irritation ist ein Zeichen – besagt, dass Irrita-
tionen Aufträge an die Pflegenden sind
, nach Gründen der Irritation zu
suchen und Handlungen zu setzen. Solche Irritationen können in einem
Rückzugsverhalten der Klientinnen, in Aggression, in einer Ablehnung

8

der Mithilfe bei der Pflege oder in einer plötzlichen Inkontinenz sichtbar
werden. Mit den Worten Fuchs’ (2004, 12): „Irritation stellt sich ein, wenn
Wahrnehmungen den Routine-Zugriffen des Bewußtseins nicht mühelos
unterworfen werden können und damit die Anschlußselektivität dieses
Systems problematisch machen.“
Eine Irritation ist eine Abweichung von
der Normalität, je nach „Definition“ von Normalität und Anwendung des
Normalitätsbegriffs in einem bestimmten Handlungskontext. Ein Igno-
rieren der Irritation kann entweder zu ihrer Verstärkung, zum Rückzug
aus der Umwelt oder zum Vertrauensverlust führen.
Die zweite These – Wir können jedem Menschen auf der Gefühlsebene
begegnen
drückt das in unserer Begegnung mit anderen für alle zu
identifizierende Mitfühlen (Haltung) aus. Es ist über Körperhaltung, Mi-
mik, Gestik, Sprache oder Tonfall zu erkennen. In dieser These erlangen
die Prinzipien der Authentizität und der Geschichtslosigkeit besondere
Bedeutung. Ebenso kann der Zugang jedes Individuums auf der Gefühl-
sebene als Ressource betrachtet werden, die in der Ressourcenorientie-
rung Ausdruck findet.

8

Die Autorinnen lehnen das Wort „Verweigerung“ mit der Begründung des stark

negativ Besetzten ab.

24

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 Thesen der Gefühlsarbeit 

Die dritte These Gefühlsarbeit ist keine Selbstverständlichkeit

weist auf die enorme persönliche Arbeit im Gefühlsprozess hin, die nicht
von jeder Pflegenden geleistet werden kann und geleistet werden mag:
„Die innere Diskrepanz zwischen dem, was nicht gefühlt und gezeigt
werden darf (Ekel, Abscheu, Zorn) und dem, was gezeigt werden soll
(Freundlichkeit und Zuwendung), macht eine erhebliche Arbeit an den
eigenen Gefühlen notwendig.“
(Bischoff-Wanner 2002, 61) Und weiter:
„Weder der Patient noch das Pflegepersonal können sich die Beziehung
aussuchen“
(ebd.). Diese Aussage teilen die Autorinnen nicht, denn die-
ser Ausspruch widerspricht im Konzept Gefühlsarbeit dem Prinzip der
Authentizität. Würde eine Person Beziehungsarbeit leisten müssen, ohne
von sich aus zu wollen, wäre sie ihrer Klientin gegenüber nicht authen-
tisch. Goffmann (2005) unterstreicht, eine Akteurin könne zwar in einer
bestimmten Situation ihren Gefühlsausdruck regulieren, nicht aber ihre
wirklichen Gefühle! In dieser These kommt insbesondere das Prinzip der
Freiwilligkeit zum Einsatz.

Die These des Gebens und Nehmens besagt, dass Gefühlsarbeit auf

der Bereitschaft der Pflegeperson aufbaut, etwas von sich „herzuge-
ben“; Gefühlsarbeit heißt bewusst mit seinem Gegenüber während ei-
nes Arbeitsprozesses eine vertrauensvolle Beziehung einzugehen, um
definierte Pflege- und Betreuungsziele zu erreichen. Menschen mit de-
nen wir gute Erfahrungen gemacht haben, die uns Zuwendung und
auch Liebe entgegenbringen, Situationen, die uns Wohlbefinden spü-
ren lassen, werden, wie bereits erwähnt, ins emotionale Gedächtnis
eingespeichert. Dieser Vorgang kann nicht bewusst gesteuert werden,
er passiert automatisch. „Was sich hier abspielt, ist das neurobiologi-
sche Substrat eines Phänomens, das wir im Alltag als Vertrauen und
in der Psychologie als Bindung bezeichnen.“
(Bauer 2007, 51) Men-
schen mit denen wir positive Erlebnisse verbinden, wirken auf uns
stimulierend. Und da Erinnerungen an schöne Erlebnisse die gleiche
Wirkung haben, wird diese Erkenntnis von uns bewusst in der Ge-
fühlsarbeit als Maßnahme eingebracht. Es wird beispielsweise als Me-
thode der gegenseitigen Geschichten wirksam. Im angeführten Beispiel
von Herrn Leitner (siehe Kapitel 11.5) ist dieses Phänomen nachzuvoll-
ziehen.
Gefühlsarbeit verfolgt unter anderem das Ziel, das Motivationssystem
eines Menschen aktiv zu halten bzw. bei verlorener Motivation, dieses
wieder zu reaktivieren. Dabei muss Gefühlsarbeit immer auf das Ziel der
immer wieder kehrenden positiven Befriedigung sozialer Bedürfnisse
abzielen.

25

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 Thesen der Gefühlsarbeit 

Die fünfte These – Gefühlsarbeit braucht fundierte Reflexionsfähigkeit
und hohe Sensitivität der Pflegenden
– weist auf die Notwendigkeit ho-
hen Reflexionsvermögens der Pflegenden hin. Es bedingt eines Arbeit-
sumfeldes, in dem Reflexion institutionalisiert und hoch geschätzt wird.
Sollten diese Umstände nicht gegeben sein, bedarf es im Vorfeld der An-
wendung einer Reaktivierung der emotionalen „Fühler“ der Mitglieder
der Organisation. Gefühlsarbeit an und mit der Klientin kann nicht zum
Einsatz kommen, weil die organisatorischen und emotionalen Fähigkei-
ten degeneriert sind. Das Prinzip der Bedingungslosigkeit ist besonders
an diese These geknüpft.

Die sechste These lautet: Gefühlsarbeit birgt die Chance einer Befin-

dens- und Verhaltensänderung. Werden Irritationen nicht weiter ver-
folgt, heißt das, das Phänomen hinter der Irritation zu ignorieren und
der Klientin keine Möglichkeiten einer Bearbeitung anzubieten. Diese
These ist eng an die These des „Gebens und Nehmens“ geknüpft. Das
Normalitäts- / Individualitätsprinzip ist häufiger Begleiter dieser These.

Die siebte These – Gefühlsarbeit hat keine Kostensteigerung zur

Folge – unterstreicht Gefühlsarbeit als eine generelle Haltung der Pfle-
genden ihren Klientinnen gegenüber. Gefühlsarbeit ist bewusste Arbeit,
die nicht zwingend eigener Zeitressourcen bedarf. Das Prinzip der Res-
sourcenorientierung kommt hier zum Tragen. Strauss et al. (1980) wei-
sen auf Gefühlsarbeit im Sinne des „Hauptarbeitsgangs“ hin und mei-
nen damit, dass Gefühlsarbeit abgekoppelt von der täglichen Pflege,
wie beispielsweise Körperarbeit, mit Patientinnen wenig sinnvoll ist. Die
Autorinnen haben selbst im Zuge der Gefühlsarbeit die Erfahrung des
rascheren Zugangs über die körperlichen Beschwerden der Klientinnen
gemacht. Dies lässt sich auch durch die häufig notwendige enge kör-
perliche Annäherung im Zuge der Pflege intimer Körperteile begründen.
Gefühlsarbeit kann so, häufig erprobt, durchaus in die Körperpflege „in-
tegriert“ werden, denn die Fertigkeit von Pflege ist häufig ritualisiert und
eingeübt, d. h. sie bedarf (im positivem Sinn) keiner besonderer Denk-
arbeit. Somit stehen durchaus zeitliche Ressourcen für Gefühlsarbeit in
einer Organisation zur Verfügung. Zudem setzt Gefühlsarbeit als präven-
tives Konzept Ressourcen frei, indem Defizite bei Klientinnen minimiert
werden.

Gefühlsarbeit ist die wichtige Voraussetzung für die Ermöglichung von
„Nichtgefühlsarbeit“.
Gefühlsarbeit als bewusst gesetzte Handlung be-
dingt den professionellen Einsatz von Empathie. Die Erkenntnis dass
diese nicht aufgebaut werden kann, unterstreicht professionelles (Nicht-)
Handeln. Diese Erkenntnis ist insofern von großer Bedeutung als Ge-

26

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 Thesen der Gefühlsarbeit 

fühlsarbeit eine bewusst gesetzte Handlung ist und dadurch von jeder
Person ein bewusstes Nein zur Gefühlsarbeit gesetzt werden darf und
sogar gesetzt werden soll, wenn Empathie nicht aufgebaut werden kann.
Gefühlsarbeit ist als Werkzeug der Kommunikation zu sehen, das unter
bestimmten Bedingungen (siehe Kapitel 7, Prinzipien von Gefühlsarbeit)
von Person und Organisation zum Einsatz kommen kann.

Setzen einer Betreuungshandlung in Form von Gefühlsarbeit kann sich
ausdrücken in Identitätsarbeit, in Trostarbeit, in Ablenkungsarbeit, in
Abschiedsarbeit, in Da-Sein-Arbeit oder in Fassungsarbeit uvm.

27

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 Bedeutung von Gefühlen und Emotionen 

5

Bedeutung von Gefühlen und
Emotionen

Auf der einen Seite sind wir alle „Expertinnen in Sachen Gefühle“, wir
erleben wie Hermann Hesse (1975) schreibt, unser ganzes Leben vor-
wiegend mit Gefühl. Und dennoch wissen wir zumindest wissenschaft-
lich höchst ungenau, was ein Gefühl eigentlich ist, welchen Sinn es hat
oder wie es funktioniert (Ciompi 2002). Gefühle scheinen uns irrational,
schwer fassbar und in vielen Situationen störend. Über viele Jahrzehnte
war die geläufige Meinung, Gefühle seien aus allem „objektiven Denken“
zu verbannen. Dies führte zu einem einseitigen kopflastigen Verständnis
unseres Menschenbilds. Menschenbilder bestimmen nicht nur, wie wir
uns selbst und andere sehen, sondern auch wie wir miteinander umge-
hen.

Bereits Aristoteles (348– 322 v.C.) schreibt den Emotionen eine moti-
vationale Rolle zu (vgl. Küpers/Weibler 2005). Emotion sei ein eigener,
leidenschaftlicher Zustand des Lebendigen und Bewussten. Gefühle spie-
len in allen psychischen und sozialen Geschehnissen eine enorme Rolle
und dennoch finden diese erst seit kurzem in der Wissenschaft vermehrt
an Bedeutung. Vor allem die Hirnforschung befasst sich in den letzten
zwei Jahrzehnten intensiver mit der Natur von Gefühlen. Im Zentrum der
Beobachtungen stehen vor allem die Wechselwirkung zwischen Fühlen
und Denken. Und es zeigt sich klar, dass „funktionell untrennbar inein-
ander verflochtene Denk- und Fühlzentren sich gegenseitig ständig aufs
engste beeinflussen“
(Ciompi 2002, 17). Es gibt kein reines emotions-
freies Denken!

Aus den Erkenntnissen der Neurobiologie sind wir alle auf soziale Re-
sonanz und Kooperation ausgelegte Wesen. „Kern aller menschlichen
Motivation ist es, zwischenmenschliche Anerkennung, Wertschätzung,
Zuwendung oder Zuneigung zu finden und zu geben.“
(Bauer 2007, 21).
Studien beweisen, nichts aktiviert einen Menschen so sehr als die Aus-
sicht auf soziale Anerkennung, das Erleben von positiver Zuwendung,
der Wunsch als Mensch gesehen zu werden und die Erfahrung der Liebe.
So konnte neurobiologisch auch nachgewiesen werden, dass die Motiva-
tionssysteme abschalten, wenn soziale Zuwendung verwehrt wird bzw.
keine Chance auf sie besteht (vgl. Winslow/Insel 2004; Insel/Fernald
2004; Panksepp 2003, 2005). Vergegenwärtigen wir uns die Bilder von
Armen, Kranken, Alten und Behinderten, die gesellschaftlich eine Stig-

28

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 Gefühl / Emotion festigt soziale Strukturen 

matisierung erfahren und zu jenen Gruppen gehören, die in unserer
Gesellschaft häufig sozial ausgegrenzt sind oder in einem Umfeld le-
ben (müssen), in dem keine Zeit und keine Motivation aufgebracht wird,
sich mit dem Mensch als Menschen zu beschäftigen. Die Folge ist, sie
regredieren, werden apathisch, nicht nur körperlich, auch geistig und
sozial. Ein weiteres Beispiel ist das Phänomen von Menschen (vor allem
bei älteren Personen), die ebenfalls rasch nach dem Tod einer geliebten
Partnerin „verfallen“ oder sogar sterben. Der Verlust der Bindung führt
häufig zum Einbruch der Lebensmotivation und dem Gefühl des nicht
mehr Gebrauchtwerdens bis zum Gefühl der Sinnlosigkeit. Allerdings ist
diese innere Motivation nicht verloren, sie kann durch Zuwendung und
Anerkennung wieder aktiviert werden. Allein das In-Aussicht-Stellen ei-
nes zukünftigen sozialen Kontakts bzw. eines Umfeldes, im dem vermehrt
Kontakte wahrscheinlich werden, weckt die Reaktion der Eigenmotiva-
tion „Dieses „In-Aussicht-Stellen“ eines sozialen Kontakts wird von den
Emotionszentren registriert und führt von hier aus zu einer unverzügliche
Mobilisierung der Motivationssysteme, die wiederum psychisches Begeh-
ren und körperliche Handlungsbereitschaft auslösen, das heißt, sie setzen
Lebewesen sowohl im direkten als auch im übertragenen Sinne in Rich-
tung Artgenosse bzw. Mitmensch in Bewegung.“
(Bauer 2007, 39) Das
Beispiel von Frau Bauer in diesem Buch (siehe Kapitel 11.1), bringt diese
Erkenntnis gut zum Ausdruck. Eine unserer Absichten ist es, mit Hilfe der
in diesem Buch angeführten Fallbeispiele, diese Zusammenhänge für die
Leserinnen bewusst wahrnehmbar und für die Praxis nachvollziehbar zu
machen.

Wurde früher der dichotome Ansatz Ratio versus Gefühl vertreten, ist der
heutige Ansatz durch die Untrennbarkeit von Denken und Handeln von
Individuen in Organisationen gekennzeichnet. Emotionen wird heute ein
wichtiger Stellenwert in Organisationen zugewiesen. Manchmal haftet
der Gefühls- und Emotionsdiskussion hartnäckig, obwohl widerlegt, das
Weibliche an und erschwert eine sinnvolle Diskussion über die Bedeu-
tung von Emotionsarbeit vor allem auch im Management.

5.1

Gefühl / Emotion festigt soziale
Strukturen

Wie die Definition von Emotion zeigt, ist sie ein Produkt von Interaktion in
den Kontexten, in denen wir uns bewegen. Die Beziehungen, die immer
von Gefühlsaspekten begleitet sind, zeigen Menschen ihre gemeinsamen

29

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 Bedeutung von Gefühlen und Emotionen 

Motivationen, Werte und Haltungen. Emotionale Prozesse ermöglichen
eine Verständigung untereinander und generieren eine „gemeinsame“
Identität (vgl. Bosma/Kunnen 2001).

5.2

Gefühl / Emotion schützt vor
Unversehrtheit

Der Mensch als sozial konstruiertes Wesen ist auf Beziehung angewie-
sen. Ist dieser von Kontakten (langfristig) ausgeschlossen, reagiert der
Körper wie auf körperlichen Schmerz. Das Gehirn macht kaum einen
Unterschied zwischen körperlichen und sozialen Leiden, so Panksepp
(2003, 2005). Emotion und Gefühl sind angelegt, den Organismus vor
störenden Einflüssen und Unversehrtheit zu bewahren. Beispielsweise
ist bewiesen, dass aggressives Verhalten so eine bewahrende Rolle ein-
nimmt: der Verlust von Beziehungen soll vermieden werden und auf das
Nichtvorhandensein von Beziehung aufmerksam gemacht werden.

5.3

Gefühl / Emotion macht Werte und
Bedürfnisse sichtbar

Emotionen zu haben heißt, über ein Werturteil zu verfügen welches ein
bestimmtes Gefühl hervorruft. Fühlen ist eine Form des Wertens und
somit sind Emotion und Wert in engstem Zusammenhang zu sehen. Zu
betonen gilt, dass Emotionen sich nicht nur auf das Selbst und seine
Werte beziehen, sondern auch auf soziale Dimensionen (vgl. Scheele
1990). Simmel (2000) geht davon aus, dass Emotionen Individuen anein-
ander binden und die Gesellschaft an sich durch die vielen Interaktionen
miteinander verbunden wird.

Emotionen und Gefühle stehen grundsätzlich in engem Verhältnis zu den
Grundbedürfnissen von Menschen.

30

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 Prävention und Gesundheitsförderung durch Gefühlsarbeit 

6

Ziele der Gefühlsarbeit

Die Konzeption der Gefühlsarbeit dient sowohl den Klientinnen als auch
den Mitarbeiterinnen der Organisation und verfolgt die Ziele,

• Freude und Sinnstiftung in der Pflege und durch die Pflege zu gewähr-

leisten.

• die Würde des Menschen zu erhalten.
• das Empowerment (das Gefühl, befähigt bzw. fähig zu sein) zu stärken.
• die Sichtbarkeit und Bewertbarkeit von Gefühlsarbeit als „klassische“

Arbeit darzustellen.

• die Qualitätssicherung durch Hightouch als Wertmerkmal einer Or-

ganisation herauszuarbeiten und vor allem

• den Phänomenen Langeweile, Einsamkeit, Identifikationsverlust,

Desorientierung, Autonomieverlust und dem „Losigkeitssyndrom“
(Hilflosigkeit, Sinnlosigkeit, Ausweglosigkeit, Wertlosigkeit, Gefühl-
losigkeit …) präventiv entgegenzutreten.

Gefühlsarbeit ist Mittel zum Zweck (Zielerreichung) und nicht Zweck an
sich.

6.1

Prävention und Gesundheitsförderung
durch Gefühlsarbeit

Es kommen von Jahr zu Jahr neue Forschungserkenntnisse, die das Bild
der großen Bedeutung von Gefühlen und Emotionen für die Gesund-
heitsarbeit verdeutlichen (vgl. Bauer 2007; Birbaumer/Schmid 2006).
Für die Pflege können sich neue Herausforderungen herauskristallisie-
ren, die im Speziellen auf das Wissen über die Wechselwirkungen von
sozialen, seelischen und physiologischen Prozessen aufbauen: „ohne
die Konstruktion jener Wechselwirkungen, …, steht die praktische Ge-
sundheitsarbeit auf tönernen Füßen, entbehrt auch die therapeutische
Wirkung interaktionsintensiver Versorgungsleistungen als Ergänzung
und Alternative zur heute stark favorisierten technisierten Medizin ei-
ner wissenschaftlichen Begründung
“ (Badura et al. 1996).

Gefühlstheorien müssen in der Konstruktion neuer Arbeitsformen im
Mittelpunkt stehen.

31

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 Ziele der Gefühlsarbeit 

6.1.1

Prävention von Identitätsverlust

Identität ist ein Grundbedürfnis, eine Ich-Qualität einer Existenz (vgl.
Erikson 1981, 18), wie Essen, Trinken oder Sexualität. Der Mensch ver-
liert dann seine Identität, wenn er sich so verändert bzw. von außen
beeinflusst wird, dass wesentliche Kriterien entfallen, anhand deren er
identifiziert wird bzw. an denen er sich selbst identifiziert. Dies kann
vor allem dann zutreffen, wenn die Kriterien der Identifizierung geän-
dert werden oder verändert sind. Beispielsweise ein Mensch, der krank
oder pflegebedürftig wird und aus diesem Grund die Institution eines
Krankenhauses oder Pflegeheims aufsucht, muss eine enorme Anpas-
sungsleistung vollziehen: er befindet sich in der Patientinnen- bzw. Pfle-
gebedürftigenrolle. Die Rollenveränderung und der Verlust der vorher
besessenen Rollen führen nicht selten zum Identitätsverlust bis (mit
Hilfe) die neue Rolle adaptiert ist. Die Patientinnenrollen entsprechen
nicht jenen eines normalen Erwachsenenlebens: erwachsene Menschen
werden häufig zu passiven Empfängerinnen von Gesundheits- und Sozi-
aldienstleistungen. Dies umso mehr, je weniger die aktiven, förderbaren
Anteile der Patientin in den „Patientinnen“- bzw. „Pflegekontrakten“
zwischen Professional und Klientin eingebracht werden. Patientinnen-
und Pflegekontrakte sind der Ausdruck dessen, was als Pflegeverständ-
nis von den Pflegenden in die Organisation und somit an die zu Be-
treuenden eingebracht wird bzw. eingebracht werden darf. Meist sind
Kontrakte psychosoziale und geistige Haltungen, die selten in schriftli-
cher Form vorliegen.

Abbildung 4 zeigt jene Faktoren, durch die Identität gestärkt oder

geschwächt werden kann.

 Abb. 4: Indentitätsfördernde bzw. -hemmende Faktoren

32

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 Prävention und Gesundheitsförderung durch Gefühlsarbeit 

Zum besseren Verständnis, was Identitätsverlust sein könnte, folgendes
weiteres Beispiel einer gesunden Person: Eine schwangere Frau liegt
in der Ambulanz eines Universitätsspitals und wird im Zuge der Mutter-
Kind-Pass-Untersuchung einem Vaginalultraschall unterzogen. Der Intim-
bereich ist frei einsehbar und nicht durch Hilfsmittel geschützt. Während
dieses Vorgangs betritt eine Medizinerin mit sieben Medizinstudentin-
nen die Ambulanz. Sie alle stellen sich neben das Ultraschallgerät mit
dessen Hilfe den Studierenden erklärt wird, was auf dem Bildschirm zu
sehen ist. Die Frau wird weder gegrüßt noch eines Blickes von einem
der ins Zimmer Tretenden gewürdigt. Der Frau ist die Situation äußerst
peinlich, dennoch ist sie nicht in der Lage, in irgendeiner Weise darauf
zu reagieren, sie lässt stumm die verbleibende Untersuchung über sich
ergehen. In dieser Situation ist sie ihrer Identität beraubt, was ihr die
Sprache und den Aktionsrahmen ihres Handelns nimmt. Erst als sie mit
ihrem Namen gebeten wird, wieder von der Liege aufzustehen, wird sie
sich ihrer selbst wieder bewusst.

6.1.2

Prävention von Sinnverlust, Sinnlosigkeit und
Mangel an Würde

Die Gefühlsarbeit als eine Pflegende-Patientinnen-Beziehung hat zum
Ziel, das Wohlbefinden von Klientinnen über die Aufnahme und das
Gestalten von Beziehung zu fördern. Elsbernd und Glane (1996) sehen
in dieser Haltung ein bedeutendes Arbeitsmotiv, dass dem Beruf eine
sinnstiftende Ideologie beimisst. Viktor Frankl, nach dem Sinn seines
Lebens gefragt, soll geantwortet haben: Der Sinn seines Lebens besteht
darin, anderen bei der Suche nach dem Sinn ihres Lebens behilflich zu
sein, denn „auf Grund seines Willens zum Sinn ist der Mensch darauf aus,
Sinn zu finden…“
(Frankl 1980, 71). Und in Anlehnung an Moritz Schlick
(In: Mettnitzer 2005), der feststellte, der Sinn des Lebens kann nicht
definiert, sondern müsse von jedem erarbeitet werden, ist Hilfestellung
eines kranken und pflegebedürftigen Menschen und deren Angehörige
sowohl für diese als auch für die Helfenden selbst sinnstiftende Arbeit.
„Sinn läßt überleben.“, so auch Paterson und Zderad (1997, 168).

Gefühlsarbeit zielt auf die Selbstbestimmung von Menschen und be-
stätigt ihm dadurch seine Würde: „Die Würde des Menschen liegt in
der Möglichkeit der Selbstbestimmung“
(Geißler/Hege, in: Rogers 1990,
69). Der betroffene und irritierte Mensch ist Partner im Beziehungs-
prozess und legt die Ausrichtung einer möglichen Kooperation fest. Die
Annahme durch die Gesundheitsökonomie (vgl. Dézsy 2003), die Klientin

33

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 Ziele der Gefühlsarbeit 

sei Koproduzentin im Gesundheitsprozess, der Professional der Produ-
zent, wird von der Autorin (vgl. Neumann-Ponesch 2009) abgeändert. Sie
stellt die These auf: Die Patientin / Klientin ist in vielen Betreuungs- und
Kontextsituationen Produzentin ihrer eigenen Gesundheit. Die Gesund-
heitsprofessionals sind die Koproduzenten. Erst diese Sichtweise des Zu-
gangs zu Gesundheits- und Sozialleistungen ermöglicht eine wirkliche
Klientinnenorientierung, die die Selbstbestimmung in den Mittelpunkt
der professionellen Betrachtung rückt. Denn wer außer den Klientinnen
bestimmt, was diese für sich als Wohlbefinden und / oder Gesundheit
definieren? Und nur diese selbst können durch aktive Beteilung ihrer
selbst das gewünschte Ergebnis herstellen. „Die Autoritätsperson und
der wichtigste Entscheidungsträger in Bezug auf die Pflege ist der zu
Pflegende, nicht die Pflegekraft.“
(Rizzo-Parse 1987, 137)

6.1.3

Prävention von Einsamkeit und Langeweile

Soziale Netze, die wir positiv wahrnehmen, schützen Gesundheit und
erhöhen die Lebensqualität. Studien haben gezeigt, dass beispielsweise
(ungewollte) Einsamkeit krank macht. Es werden nicht nur Tür und Tor für
körperliche Leiden geöffnet, Cacioppo (2002) glaubt in seinen Studien
beweisen zu können, dass die Lebenserwartung durch Einsamkeit ge-
senkt wird. Begründet wird diese Tatsache, dass Einsamkeit starken Ein-
fluss auf (erhöhten) Blutdruck nimmt und somit das Herz-Kreislaufsystem
belastet wird. Lankers et al. (2010) weisen in ihrer Studie über De-
menzkranke in die gleiche Richtung: Im Altersheim gepflegte demenz-
kranke Bewohnerinnen haben nach Ausschluss des Einflusses von Alters-,
Geschlechts- und vor allem Schweregradunterschieden ein signifikant
um 53,1% höheres relatives Sterberisiko als zuhause gepflegte Men-
schen. Dies entspricht einer über zwei Jahre längeren Lebensdauer. Mit
dem Ziel der Verlängerung von Lebenszeit bedeutet also eine Heim-
unterbringung eine bisher so nicht bekannte gravierende Verkürzung der
Lebenszeit. Als mögliche Gründe werden von den Forscherinnen die ver-
mutlich weniger günstigere Befriedigung der sozialen Bedürfnisse nach
zwischenmenschlichen Kontakten und sinnvoller Beschäftigung bei den
Demenzkranken angeführt.

6.1.4

Prävention des „Losigkeitssyndroms“

Was ein Losigkeitssyndrom sein kann, soll hier am besten mit einem
Fallbeispiel erklärt werden:

34

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 Prävention und Gesundheitsförderung durch Gefühlsarbeit 

Im Rahmen einer Pflegeberatung fällt dem Pflegeberater vormittags eine
auf dem Gang sitzende Frau auf. Ihre gebückte Körperhaltung und der
auf den Boden gerichtete Blick erweckt in ihm den Eindruck, dass sie
sich sehr traurig fühlt. Er fragt sie, ob er sich zu ihr setzen darf und sie
gibt ihre Zustimmung durch ein Nicken. Nach einer kleinen Pause erhebt
sie ihre Augen, blickt ihm ins Gesicht und beginnt zu sprechen. Es ist
ein ca. zwanzigminütiger Monolog. Die Art der Sprachmelodie sowie die
Sprachgeschwindigkeit lässt ihn erkennen, dass sie in diesem Augenblick
etwas ganz Wichtiges zu sagen hatte. Sie sagt:

„Mein Gedächtnis ist ein Wirrwarr!
Mein Neffe hat mir versprochen, mich abzuholen.
Ich bin enttäuscht!
Hat er mich alleine gelassen?
Er ist mein einziger Verwandter und jetzt lässt er mich alleine!
Ich kann gar nichts machen. Sie sehen, ich bin am Ende und er will nicht!
Vielleicht, weil er zu wenig Geld bekommt?
Es ist alles verloren.
Ich hatte eine schöne Wohnung.
Ich weiß nicht ein noch aus!
Ich bräuchte natürlich jemanden, der sich ernstlich für mich interessiert.
Ich hatte Freunde, aber die haben sich in letzter Zeit verflüchtigt.
Es ist nichts mehr zu holen bei mir.
Ich habe in meinem Leben viel gelernt – Sprachen – Englisch und Französisch.
Ich habe diese Sprachen an der Hochschule für Touristik weitergegeben.
Meine Schule im 1. Bezirk habe ich mit Erfolg absolviert.
Und dann ist es mit mir bergab gegangen.
Mein Gehirn hat ausgelassen.
Wieso? Das ist mir ein Rätsel!“

Erwin Ringel (1986, 45f.) verweist in diesem Zusammenhang auf den
Zustand der situativen Einengung: „Das Gefühl, nichts ändern zu kön-
nen, wird zum Eindruck der Ausweglosigkeit, aus dem Pluralismus der
Möglichkeiten wird die Einseitigkeit des Zwanges …“
Ringel verweist auf
Hochhuth (1976) und dem von ihm beschriebenen Losigkeitssyndrom.
Bringt man dieses Syndrom in Zusammenhang mit der Situation, in wel-
cher sich die oben genannte Frau befindet, lässt sich ihre Situation wie
folgt beschreiben: Sie ist (empfindet sich)

• ihr Gedächtnis los
• ihren Neffen, ihre Verwandten und ihre Freunde
• ihr Vertrauen los
• ihre Wohnung los

35

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 Ziele der Gefühlsarbeit 

• ihre Identität
• ihren Erfolg los
• kontaktlos los
• rettungslos
• hilflos
• hoffungslos
• ausweglos
• bedeutungslos
• wertlos
• ihr Gelerntes los
• haltlos
• kraftlos
• ratlos

Um nicht ebenfalls im Losigkeitssyndrom zu versinken, bietet der Pfle-
geberater der Frau die Gefühlsarbeit „Da-Sein-Pflege“ an (genauere Be-
schreibung siehe Gefühlsprozess in Kapitel 8.1). Durch den Einsatz dieser
Pflege ist es der Frau möglich, ihre Gefühle in Worte zu fassen. Dieses in
Worte fassen, ist ein Mittel gegen die Sprachlosigkeit.

6.2

Sichtbarkeit von Gefühlsarbeit als
Professionsarbeit

Wir sehen Professionsarbeit in Anlehnung an Oeverman (1997) als einen
handlungsorientierten Ansatz, der zwischen den Erfordernissen der
Praxis und den wissenschaftlichen begründeten Lösungsorientierungen
(nach Oevermann Problemorientierung) vermittelt. Dabei handeln Pfle-
gende und Medizinerinnen nach verschiedenen Paradigmen (vgl. Savage
1995). So ist die Medizin nach wie vor stark naturwissenschaftlich ange-
legt, während die Pflege sich auch an den sozial- und geisteswissenschaft-
lichen Paradigmen orientiert. Eine wirksame therapeutische Beziehung

9

mit den Klientinnen im Zentrum der Pflege stärkt nicht nur das Wohlbe-
finden, sondern trägt wahrscheinlich auch zur Heilung bei. Mangelnde
Daten und Fakten vereiteln eine Stützung der zwar plausibel artikulierten
Begründungen, was Gefühlsarbeit wirklich leisten kann. Es fehlt an kon-

9

Unter Therapeutischer Beziehung verstehen die Autorinnen jene Qualität einer

Beziehung, die ein Professional im Gesundheitswesen anbieten können muss,
die einen Menschen befähigen, sich selbst zu beobachten, zu reflektieren und
zu analysieren, um Selbsterkenntnis erlangen zu können. Erst diese Qualität der
Beziehung ermöglicht Veränderung und Wohlbefinden.

36

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 Sichtbarkeit von Gefühlsarbeit als Professionsarbeit 

tinuierlich produzierten, als integraler Bestandteil von Pflegedokumen-
tation ausgewiesenen, Ergebnissen. Pflegende müssen intuitiv wissen,
was gute Pflege und hohe Pflegequalität ausweist, doch Pflege benö-
tigt mehr Macht und Mittel, die Veränderungen der Arbeitsbedingungen
zu realisieren vermögen (vgl. Bischoff-Wanner 2002). Unter dem Begriff
„Arbeitsbedingung“ kann nun vieles subsumiert werden. Von Bedeutung
für eine Sichtbarkeit von Gefühlsarbeit ist ein ausgewiesenes und geleb-
tes Leitbild, das Gefühlsarbeit als bedeutende konzeptionelle ethische
Grundhaltung und Methodik im Unternehmen ausweist. Diese Grund-
haltung muss in den Instrumenten der Pflege verankert werden, der
Gefühlsprozess von der Anamnese bis zur Outcomemessung ist selbst-
verständlicher Bestandteil der Pflegedokumentation. Gefühlsarbeit ist
nur dann Teil der pflegerischen Arbeit, wenn sie institutionell nachweis-
bar und benannt ist. Nicht zuletzt müsste sich dieses neue, vermehrt auf
Beziehung ausgerichtete Paradigma gegenüber den bestehenden Macht-
verhältnissen innerhalb der Berufsgruppe Pflege und zwischen den Be-
rufsgruppen durchsetzen. Ein Paradigmenwechsel hat nach Kuhn (1976)
dann eine Chance, wenn normale Problemlösungsstrategien offensicht-
lich versagen: das Auftauchen eines neuen Konzepts wie die Gefühlsar-
beit eine ist, kann in diesem Fall als Antwort auf eine Krise verstanden
werden. Sollten Krisen notwendige Voraussetzung für neue Theoriekon-
struktionen sein, heißt dies in erster Linie immer nach Alternativen zu
suchen ohne dabei aber das alte Paradigma gleich von vornherein zu ver-
werfen. Erst nachdem eine neue Theorie den Status eines Paradigmas

10

erlangt hat, kann die alte für üngültig erklärt, ausgetauscht und durch
das neue erstetzt werden (vgl. Kuhn 1976). Ein Paradigmenwechsel kann
als ein Prozess angesehen werden, in dem die gleichen vorherrschenden
Daten und Informationen wie im alten Paradigma in ein neues System
gegenseitiger Beziehungen übertragen werden. Alle Krisen – und diese
Beobachtung kann in allen Wissenschaften vollzogen werden – enden in
einer der drei folgenden Varianten:

• Die Wissenschaft ist fähig, mit dem krisenerzeugenden Problem fertig

zu werden: ein neues Paradigma und eine auf diesem Paradigma ge-
stützte Theorie hat sich entwickelt, die nun um gesellschaftliche und
somit auch pflegerische Anerkennung kämpft.

10

Ein Paradigma ist ein Objekt, für Artikulierung und Spezifizierung unter neuen

oder strengen Voraussetzungen (Kuhn 1976, 37).

37

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 Ziele der Gefühlsarbeit 

• Die Wissenschaft kommt zum gegenwärtigen Stand zu keiner Lösung,

sie ortet einen Mangel an Wissen und das Problem wird zur Seite
geschoben und / oder späteren Generationen zur Lösung überant-
wortet.

• Die Wissenschaft löst das Problem mit bestehenden alten Paradig-

men, wodurch es zu einer Bestätigung des alten kommt.

Die Unfähigkeit für ein Problem eine Lösung zu finden, diskreditiert Wis-
senschaft und Praxis und nicht das Konzept selbst. Ohne an dieser Stelle
näher darauf einzugehen: mangelnde Effektivität und Effizienz des öster-
reichischen Gesundheits- und Sozialwesens, die vielfach auch vom Rech-
nungshof ausgewiesen wurden, bedürfen neuer menschenachtender
Verbesserungsansätze. Damit Pflege diese mitgestalten kann, muss sie
sich um mehr Empowerment bemühen, sei dies nun in den Organisatio-
nen oder in der Gesellschaft. Gefühlsarbeit in die Organisation einzubrin-
gen, ist für manche scheinbar nicht so attraktiv als bspw. der Neuzukauf
eines Hightech-Gerätes, aber sicherlich um ein vielfaches menschenwür-
diger und – was natürlich zukünftig bewiesen werden muss – mindestens
so wirksam. Und im Übrigen bleiben viele neue technische und pharma-
kologische Errungenschaften Antworten auf Evidenz schuldig.

Die Beziehungsebene in den Mittelpunkt eines Konzepts zu stellen, ruft
ebenso Kritikerinnen auf den Plan, die Beziehungsarbeit nicht ausschließ-
lich als Professionsarbeit betrachten: auch Laien seien in der Lage diese
zu leisten. Die Autorinnen betrachten den Unterschied zwischen Lai-
entätigkeit und Professionsarbeit im Erkennen von Nuancen, das Spü-
ren und Wahrnehmen von Veränderungen in Verhalten, Gestik, Spra-
che und Tonfall. Auf diese Veränderung wird der Professional aktiv und
geht in weiterer Folge mit Systematik in der Pflege und Betreuung vor.
Er setzt Maßnahmen der Diagnostik, die zur Ein- und Ausgrenzung zu-
künftiger Pflege- und Betreuungshandlungen führt, die er gezielt und
gesteuert beobachtet, misst und evaluiert und bei Bedarf verändert.
Die Autorinnen stimmen mit Dunlop (1986) überein, die Arbeit auf der
Beziehungsebene ist auch für viele andere Berufe wie Psychologinnen,
Seelsorgerinnen, Pädagoginnen udgl. von außerordentlicher Bedeutung.
Beziehungsarbeit und somit auch Gefühlsarbeit sollten jedoch auch bei
ihnen Professionsarbeit sein, die in einer Begegnung bewusst wahrge-
nommen, als solche durchgeführt und deren Wirkung ausgewiesen wird.

38

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 Ausgestaltung humanistischer und interaktionistischer Theorie- und Modellansätze 

Die Autorinnen schließen sich jedoch den Bedenken von Franken (2010)
an, ob die Einbringung der Emotionsperspektive in eine konkrete Hand-
lungs- und Veränderungsperspektive führt. Das Ziel ist, sowohl die Berei-
che der Gesundheitsförderung als auch jener der Professionalisierung zu
stärken. Ob dies unter den restriktiven Verhältnissen im Pflegebereich
nur ein „zynisch wirkender Vorschlag“ (ebd., 140) ist, bleibt offen. Den-
noch glauben wir an die einzigartige große Chance, dem Beruf und ihren
Partnerinnen und Klientinnen neuen Sinn zu verleihen.

6.3

Ausgestaltung humanistischer
bzw. fürsorglicher (caring) und
interaktionistischer Theorie- und
Modellansätze

Das Konzept der Gefühlsarbeit findet Erklärungen in den verschiedenen
angeführten Theorien und Modellen.

11

Es ergänzt und verhilft den ver-

schiedenen Fürsorge- bzw. humanistischen Theorien und Interaktions-
theorien beispielsweise von Benner (1997), Benner und Wrubel (1997),
Böhm (1999), Eriksson (1970, in: Kirkevold 1997), Martinson (1989, in:
Kirkevold 1997), Paterson und Zderad (1988), Peplau (1997), Travelbee
(1966), Watson (1996) oder Wiedenbach und Falls (1978) zu einer prak-
tischen Umsetzung. Viele Theoretikerinnen haben sich bemüht, Modelle
und Theorien basierend auf humanistischen Werten und anhand inter-
aktionistischen Methoden zu formulieren. Viele Modelle und Theorien
haben sich nicht in der Praxis durchgesetzt oder sind gescheitert, wo-
für es vielfältige Gründe gibt (vgl. Neumann-Ponesch 2010). Was haben
jene Theorien gemein, die in diesem Buch für die Gefühlsarbeit vor-
geschlagen werden? Was lässt eine Ausformulierung des Konzepts Ge-
fühlsarbeit in diesen Theorien und Modelle als sinnvoll erscheinen? Zum
einen handelt es sich bei den meisten oben genannten Theorien und
Modellen um so genannte Grand Theories, die lediglich einen Rahmen
für Pflege, aber keine Handlungsanweisungen für die Umsetzung in der
Praxis vorgeben. Alle diese Theorien und Modelle weisen zentral den Be-
ziehungsaspekt zwischen Pflegenden und Klientinnen aus. Meleis (1999,
321) schreibt über das Bild der Pflegekraft bei den Interaktionistinnen
von einer Person, „…, die gegenwartsorientiert ist, situationsbezogen,

11

Zur Unterscheidung zwischen Modell und Theorie siehe Neumann-Ponesch

2010.

39

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 Ziele der Gefühlsarbeit 

eine Humanistin, eine prozeßorientierte Fachkraft, deren Interesse auf
Interaktion gerichtet ist und bei manchen auch auf die Person“.

Die humanistischen Modelle implizieren einen besonderen persönlichen
Bezug, der bis zur „Verschmelzung von Gedanken, Gefühlen und Hand-
lungen“
(Benner/Wrubel 1997, 21) reicht. Watson (1996) stellt den emo-
tionalen Bezug zur Klientin ins Zentrum von Pflege.

Zusammenfassend sind humanistischen und interaktionistischen

Theorien und Modellen folgende Merkmale gemein (vgl. Kirkevold 1997,
Paterson/Zderad 1997, Watson 1996):

• Die Theorien und Modelle nehmen Bezug zu phänomenologischen

und hermeneutischen Überlegungen und rücken den Menschen in
spezifische Beziehungen zu sich selbst und zu ihrer Umwelt.

• Den Theorien und Modellen liegt eine Philosophie der Selbstbestim-

mung und Verantwortung zugrunde.

• Fürsorge und Beziehungsarbeit sind eine menschliche Verhaltens-

weise und jeder Mensch ist in seinem Innersten fähig, Fürsorge und
Beziehungsarbeit zu leisten.

• Beziehung ist Voraussetzung für gelungene Fürsorge.
• Fürsorge und Beziehungsarbeit ist praktisches Handeln, dem eine

gesundheitsfördernde und präventive Absicht zu Grunde liegt.

• Fürsorge ist ein Beziehungsbegriff, der sowohl nahe als auch offene

Verbindung zwischen zwei Menschen beschreibt.

• Fürsorge ist ein moralischer Begriff, der an das Prinzip der Verantwor-

tung für die Schwachen geknüpft ist.

• Dem Gegenüber wird bewusst und verstärkt mit großer Tiefe begeg-

net. Nähe zur Patientin / Klientin ist eine sine qua non, Distanz zur
Patientin wird abgelehnt.

• Die Beziehung zwischen Klientin und der Pflegenden soll ohne Maske,

Fassade, mit Echtheit, emotionaler Wärme und gegenseitiger Akzep-
tanz gelebt werden.

• Die Klientin als auch die Pflegende sollen durch Beziehungsarbeit zu

persönlichem Wachstum und emotionaler Reife geführt werden.

• Wissen wird durch Erfahrung und Reflexion gewonnen.
• Der Mensch kann nicht getrennt von seiner Umwelt gesehen werden.
• Die unterstützungsbedürftige Person wird als ganzheitlicher Mensch

wahrgenommen.

• Die Pflegende und die unterstützungsbedürftige Person treten in

einen Verhandlungsprozess und suchen gemeinsam nach der best-
möglichen Lösung.

40

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 Gefühlsarbeit als Wertemerkmal einer Organisation 

• Die Pflegeperson bringt ihre Persönlichkeit in die Beziehung ein und

ist bereit, Persönliches mitzuteilen.

• Die Erkenntnistheorie stützt sich neben Empirik auf Werte, Intuition,

Kunst und Ästhetik. Sie hat ein offenes wissenschaftliches Weltbild.

• Der (Forschungs) Prozess verlangt ebenso intuitives Verständnis wie

analytischen Verstand.

Kritisiert wird, humanistische und interaktionistische Theorien unter-
stellen eine Form der Hilfeleistung, die über das krankheitsbedingt Not-
wendige hinausgeht und zu einer Überforderung der Pflegenden führen
kann. Dies kann im Einzelfall durchaus zutreffen, allerdings durch die Aus-
führung von Gefühlsarbeit, der das Prinzip der Freiwilligkeit zugrunde
liegt, kann es bei konsequenter Durchführung des Konzepts sowie durch
Ehrlichkeit zu sich selbst und zur Arbeitsumgebung zu keiner Überforde-
rung kommen.

Gefühlsarbeit setzt o.g. Theorien und Modelle in Handlungen um.

6.4

Gefühlsarbeit als Wertemerkmal einer
Organisation

Wie in der Einleitung zu lesen war, wünschen sich Patientinnen alltäg-
liche Umgangsformen und wenig spezifische Hilfestellung von den Pfle-
genden. Eine Studie in den USA an über einer Million Menschen in 545
Krankenhäuser zur Frage, was für Patientinnen in einem Krankenhaus
vorrangig wichtig ist, erbrachte das erstaunliche Ergebnis, das unter den
zehn am häufigsten genannten Kriterien jene standen, die die Patientin-
nen als Menschen wahrnahmen (vgl. Press 1996, in: Dézsy 2003, 26):

„Verständnis des Personals für meinen Zustand und mein Problem“

(71% der Antworten).

Gefolgt von:

„Ich erwarte ein gesamthaft freundliches Krankenhaus“ (70%).
„Verhältnis des Personals zu meiner Privatsphäre“ (65%).
„Berücksichtigung meiner persönlichen Bedürfnisse“ (63%).
„Ich will mit meinem Leiden als Individuum ernst genommen werden“

(63%).

„Maximale Aufmerksamkeit für meine Probleme“ (62%).

41

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 Ziele der Gefühlsarbeit 

Sowohl die ärztliche als auch die spezifisch pflegerische Kompetenz fehlt
in den Antworten. Es scheint so, als ob ärztliches und pflegerisches Kön-
nen ohnedies vorausgesetzt wird. Es scheint eher der Sorge Ausdruck
verliehen zu werden, der Mensch als solches könnte zu kurz kommen.
Selbstverständlich weist Österreich nicht denselben Kulturkreis auf, den-
noch scheint dieses Ergebnis auf einen bedeutenden Trend zu verwei-
sen: psychosoziale Aufmerksamkeit und Begleitung sind für Patientin-
nen wichtige Kriterien für die Auswahl einer Gesundheitsorganisation.
Warum sich nicht diese Wohlfühlkriterien als Konkurrenzmerkmal einer
Organisation zunutze machen und ausbauen? Warum nicht die psycho-
soziale Beziehungspflege als Besonderheit, als speziellen USP (Unique
Selling Proposition) einer Organisation ausweisen? Der Berufsgruppe der
Pflegenden kommt ohnedies der Status zu, für die Softskills im Unter-
nehmen Verantwortung zu tragen. Wir regen deshalb an, Gefühlsarbeit
durch ein Marketingkonzept den Kundinnen, sei es innerhalb oder außer-
halb der Organisation, mit dem Ziel, die hohe Emotionsqualität auszuwei-
sen und bekannt zu machen. Hightouch dient als Abgrenzungsmerkmal
zu anderen Gesundheitsanbieterinnen. Allerdings hat das Unternehmen
Sorge zu tragen, dass die Erwartungen auch erfüllt werden können.

6.5

Positive volkswirtschaftliche
Auswirkungen

Mit diesem Konzept der Gefühlsarbeit wird verlorene Beziehungsfähigkeit
gestärkt. Es kann ein eigener Raum entstehen, indem sich der betreute
Mensch seiner Individualität wieder bewusst werden kann. Das neu er-
langte „Sich-wieder-Spüren“ ist ein Zeichen des Lebendigen und beugt
Einsamkeit und Langeweile vor. In der Zukunft wird es für betroffene Men-
schen aufgrund ihrer Erfahrung mit Gefühlsarbeit wieder möglich sein,
sich an die Erfahrung, wie man sich selbst im Leben Mut zuspricht oder
sich selbst motiviert, zu erinnern. Dieser gesundheitsfördernde Aspekt ist
schwer messbar, dennoch kann eine positive Wirkung auf die Volkswirt-
schaft angenommen werden und wenn es nur jene ist, einige Menschen
vor zukünftigen Depressionen zu bewahren. Denn wie bereits in Kapi-
tel 2.3 (Neurobiologischen Theorien) erwähnt, positive Beziehungsarbeit
beruhigt das biologische Stresssystem, vermag körperliche und psychische
Entspannung zu erzeugen, dämpft dadurch das Angstzentrums, senkt den
Blutdruck und verbessert die Schlafqualität (vgl. Friedman et al. 2005).

Man möge uns an dieser Stelle die scheinbar banale Zusammenfüh-

rung der Fakten verzeihen.

42

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 Authentizitätsprinzip 

7

Prinzipien der Gefühlsarbeit

Dem Konzept der Gefühlsarbeit liegen acht Prinzipien zugrunde:

1. Gegenwartsorientierung
2. Authentizitätsprinzip
3. Normalitätsprinzip / Individualitätsprinzip
4. Bedingungslosigkeit
5. Ressourcenorientierung
6. Prinzip der Freiwilligkeit
7. Dienstleistungsprinzip
8. Prinzip der Geschichtslosigkeit

7.1

Gegenwartsorientierung

Die Gegenwartsorientierung besagt, dass wir in der Gegenwart agieren,
weil Gefühle in der Gegenwart wahrgenommen werden. Pflege und Be-
treuung wird im Hier und Jetzt geleistet. In der metatheoretischen Zusam-
menfassung über die Interaktionstheorien spricht Meleis (1999) ebenfalls
diese Gegenwartsorientierung an. Pflegende und Betreuungskräfte sind
aufgefordert dann zu reagieren, wenn Probleme, Bedürfnisse oder wie in
der Gefühlsarbeit verankert, Irritationen sichtbar und spürbar werden.

7.2

Authentizitätsprinzip

Das Authentizitätsprinzip ist gekennzeichnet von der Prägung, die sowohl
der Professional als auch die Klientin zeigen. Jeder Mensch lebt jene
Identität, die ihn als Mensch formt.

Eingebettet in einen Kultur- und Gesellschaftsrahmen lernen deren Mit-
glieder entsprechende kulturelle Codierungen und Emotionsregeln, de-
nen sie sich anpassen und nach denen sie Empfindungen wahrnehmen.
So steuern Emotionen und Gefühle in sozialen Beziehungen über non-
verbale Gesten das Verhältnis zu den Kommunikationspartnerinnen. Ge-
fühle werden über die Stimme, den Tonfall die Sprechgeschwindigkeit,
die Melodie der Sprache oder über den Blickkontakt und die Körperhal-
tung, über Mimik und Gestik erkennbar. In all diesen Signalen werden
Haltungen ausgedrückt, die die Verbalität weiter zu unterstreichen ver-

43

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 Prinzipien der Gefühlsarbeit 

mögen. Beispielsweise kann Interesse, Da-Sein, Wertschätzung signa-
lisiert werden. Wird wahrgenommen, dass Verbales und Nonverbales
nicht übereinstimmt, so kann jeder aus eigener Erfahrung nachvollzie-
hen, dass den nicht sprachlichen Ausdrucksformen größere Aufmerk-
samkeit geschenkt und diesen mehr vertraut wird.

Auf der Seite der Kommunikationsempfängerin wird eine Art nicht au-
thentischen Verhaltens durch das Senden (das Spürbar-Werden) von
„Ersatzgefühlen“ identifiziert. Dies kann dann der Fall sein, wenn Profes-
sionals verinnerlicht haben, dass sie im Betreuungsprozess keine Person
ablehnen dürfen. Wenn das Ersatzgefühl „enttarnt“ wird, wird das Vor-
spielen von Gefühlen deutlich. Nicht authentische Personen überzeugen
in ihrer Botschaft nicht und wirken auf andere unglaubwürdig. Über die-
sen Weg können beim Gegenüber tiefe Enttäuschung und Vertrauens-
verlust hervorgerufen werden. Gefühle wie das der Wertlosigkeit finden
dadurch möglicherweise Bestätigung. Gefühlsarbeit, die Arbeit an und
mit Gefühlen der Patientinnen und Klientinnen, gelingt umso besser,
je angemessener und authentischer die Gefühle der Dienstleisterinnen
selbst sind.

Die Autorinnen erachten Emotionsarbeit an den eigenen Gefühlen, wie
von Hochschild (1990) beschrieben, mit dem Ziel, die Gefühle der Situa-
tion anzupassen und sich somit selbst gefühlsmäßig „zu belügen“, als
nicht zielführend. Wir lehnen uns an Strauss et al. (1980) an, die beto-
nen, Gefühle können nicht direkt hergestellt werden, da sie immer eine
Eigenleistung des Individuums sind.

7.3

Normalitätsprinzip /
Individualitätsprinzip

Das Normalitätsprinzip bringt zum Ausdruck, was für einen Menschen
„normal“ ist. In Anlehnung an Böhm (1999) wird das persönliche Norma-
litätsprinzip durch Einflüsse der Sozialisation (persönliche Erfahrungen
im kulturellen Umfeld) in einer persönlichen Lebensform ausgeprägt, die
das individuelle Bild von einem „normalen“ Verhalten und Handeln des
Menschen ergibt. Beispielsweise sind dieser Normalität der Umgang mit
anderen Menschen, die Art der Beschäftigung, die Form des öffentlichen
Auftritts nach außen sowie die Interpretation des Lebensinns eigen. Das
heißt, dass jede Person ihre „Normalität“ auf ganz individuelle Weise
zeigt. Unter Normalitätsprinzip ist auch jener Umgang zu verstehen, der

44

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 Prinzip der Ressourcenorientierung 

unter erwachsenen, gleichberechtigten Gesunden gepflegt wird, auch
wenn einer der beiden sich in einer Ausnahmesituation befindet und
Hilfe benötigt. Sowohl verbale als auch nonverbale Kommunikation mit
der Klientin hat sich danach auszurichten. In Situationen, in denen die
betroffene Person auf Unterstützung angewiesen ist, steigt die Gefahr
des Identitätsverlustes. Zur Wahrung ihrer emotionalen Bestimmtheit
und weitgehendsten Selbständigkeit bedienen wir uns der Möglichkei-
ten der Gefühlsarbeit – in diesem Fall der Identitätsarbeit. Unter Indivi-
dualitätsprinzip in der Gefühlsarbeit wird das Reagieren und Agieren auf
das ausgeformte Normalitätsprinzip der Klientin verstanden.

7.4

Prinzip der Bedingungslosigkeit

Das Prinzip der Bedingungslosigkeit macht ein „Erreichen“ unseres Ge-
genübers zu jedem Zeitpunkt in jeder Situation möglich. Das Gegenüber
braucht sich für den Beziehungsaufbau mit dem Professional nicht zu
verändern. Der Professional akzeptiert den Menschen so wie er ist. Das
gelebte Prinzip der Bedingungslosigkeit zeigt sich beim Professional un-
ter anderem in der Akzeptanz einseitiger Forderungen der Klientin. Ge-
lebte Da-Sein-Arbeit zeigt sich im Engagement des zugewandt sorgenden
Verhaltens der Betreuungsperson gegenüber dem Gepflegten. Sie ist frei
von Wünschen und Erwartungen gegenüber der Klientin. Sie bedingt das
Verständnis und die Verinnerlichung des Konzeptes sowie die Akzeptanz
einer möglichen Einseitigkeit.

Der Paradigmenwechsel, den pflegebedürftigen Menschen als Part-

ner zu gewinnen, führt zu einer Stärkung seiner Rolle im Gesundheits-
prozess, vor allem in gesundheitsfördernder und präventiver Hinsicht
(vgl. Stemmer 2002).

7.5

Prinzip der Ressourcenorientierung

Wir gehen davon aus, dass die Ressource – Gefühle empfinden – bis zum
Tod eines Menschen bestehen bleibt und im Kontext zu jeder Pflege- und
Betreuungshandlung steht. Gefühlsarbeit, als Bestandteil des Hauptar-
beitsprozesses geleistet, kann ohne zusätzliche Zeitressourcen erbracht
werden. Es ist unsere Absicht, durch den bewussten Einsatz von Gefühls-
arbeit die Identifikation mit der Ressource – Gesundheit – sowohl bei der
Klientin als auch bei der Mitarbeiterin der Organisation zu fördern.

45

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 Prinzipien der Gefühlsarbeit 

Im Alltag lässt sich die gelebte Ressourcenorientiertheit der Mitar-

beiterinnen an Aussagen wie: „Ich habe gesehen, wie Sie sich beim Ge-
hen anstrengen. Was ich auch gesehen habe war, dass Sie ihr Ziel –
den Tisch an dem Sie das Frühstück im Aufenthaltsraum einnehmen –
erreicht haben.“
Oder: „Ich habe Ihre Anstrengungen während des Klei-
dens wahrgenommen. Ich finde es bewundernswert, dass Sie es immer
wieder versuchen“,
erkennen. In der Reflexion des Erreichten sehen wir
die Chance angenehme Gefühle zu vergegenwärtigen.

Einer Akzeptanz der Krankenrolle wird nur bedingt nachgegeben: Ent-

lastung der Patientin vom Alltag sollte nur in einer Akutsituation zuge-
lassen werden. Das Prinzip der Ressourcenorientierung ist eng an jenes
des Normalitätsprinzips gekoppelt.

7.6

Prinzip der Freiwilligkeit

Das Prinzip der Freiwilligkeit beruht auf dem Recht der freien Entschei-
dung, Gefühlsarbeit anzubieten oder nicht anzubieten. Die Entscheidung
zwischen den beiden basiert auf der Fähigkeit, sich bei der Begegnung
mit der Klientin zu spüren. Diese Fähigkeit ist allen Menschen eigen. Im
Gegensatz zum Laien setzen die Professionals dieses Prinzip bewusst
ein. Dieser bewusste Einsatz ermöglicht die autonome Entscheidung
der Pflegenden zum Angebot von Gefühlsarbeit. Denn keine Pflegende
kann sich allen Pflegebedürftigen mit gleichem Engagement fürsorglich
zuwenden, sei es aus mangelnder Sympathie oder anderer restriktiver
Ursachen. Zudem impliziert Gefühlsarbeit die Einzigartigkeit jedes Men-
schen, der durch differenzierte Beziehungsgestaltung zu begegnen ist
(Curzer 2003). Wie Watson (1996, 33) feststellt: „Es steht uns frei, ob
wir in die eher private, intime Welt zwischenmenschlicher Beziehungen
und menschlicher Erfahrungen eindringen wollen oder ob wir uns lie-
ber mit der eher öffentlichen Welt bestimmter Behandlungstechniken
und Verhaltenweisen zu beschäftigen wünschen.“
Die Autorinnen be-
tonen nochmals, nicht die Meinung von Bischoff-Wanner (2002) und
Stemmer (2002) zu teilen, die die Behauptung aufstellen, dass die Pro-
fessionals keine Wahlmöglichkeit haben, sich die Beziehungen zwischen
Pflegenden und zu Pflegenden auszusuchen. Wenn jene Ziele, die wie
in Kapitel 6 (Ziele der Gefühlsarbeit) ‚festgehalten‘, als Professionsar-
beit der Pflege definiert sind, dann muss die Pflegende eine bewusste
Entscheidung für oder gegen Gefühlsarbeit mit einer Patientin / Klien-
tin treffen. Eine Akteurin kann zwar in einer bestimmten Situation ih-
ren Gefühlsausdruck regulieren, nicht aber ihre wirklichen Gefühle, so

46

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 Prinzip der Freiwilligkeit 

auch Goffmann (2005). Es würde zu viel an Energie, die irgendwo in
einer anderen Pflegesituation eingesetzt werden kann, verbraucht wer-
den. „Die innere Diskrepanz zwischen dem was nicht gefühlt und ge-
zeigt werden darf (Ekel, Abscheu, Zorn) und dem was gezeigt werden
soll (Freundlichkeit und Zuwendung) macht eine erhebliche Arbeit an
den eigenen Gefühlen notwendig“ (Bischoff-Wanner 2000, 38).
Es ist
ein falsch verstandenes Rollenverständnis, zu glauben, eigene Gefühle
bei den Patientinnen und Klientinnen nicht auch zum Ausdruck bringen
zu dürfen. Stellen Sie sich beispielsweise folgende wahre Gegebenheit
vor: Sie sind aufgefordert bei einem Mann im Zuge der Körperpflege
eine Intimwäsche vorzunehmen. Der Penis ist erigiert, was dem Patien-
ten sichtlich unangenehm ist. Auch Sie sind spürbar peinlich berührt.
Was tun? In manchen Fällen, so auch in diesem versuchen beide die
Situation zu überspielen, der Penis wird im erigierten Zustand flüchtig
gewaschen, dabei wird höflich und verlegen gelächelt. Der Vorgang wie-
derholt sich zwischen den beiden in Folge von drei Tagen. Dies führte
dazu, dass die Pflegende beim Vorbeigehen des Zimmers, in dem der Pa-
tient liegt, jedes Mal eine Befangenheit und Herzklopfen verspürt. Was
spricht dagegen die gegenseitige Unannehmlichkeit anzusprechen? Was
spricht dagegen, wenn ein Ansprechen weder seitens der Pflegenden
noch seitens des Patienten möglich ist, das Problem sachlich im Team
einzubringen und zu bitten, jemand anderer möge die Pflege überneh-
men?

Mit etwas größerer Vehemenz bringt Peter Turrini (2002, 11) die Diskre-
panz folgendermaßen zum Ausdruck:

„Wie lange noch

werde ich alles hinunterschlucken
und so tun
als sei nichts gewesen?

Wie lange noch
werde ich auf alle eingehen
und mich selbst
mit freundlicher Miene
vergessen?

Wie lange
müssen sie mich noch schlagen
bis dieses lächerliche Grinsen
aus meinem Gesicht fällt?

47

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 Prinzipien der Gefühlsarbeit 

Wie lange noch
müssen sie mir ins Gesicht spucken
bis ich mein wahres
zeige?

Wie lange
kann ein Mensch
sich selbst nicht lieben?

Es ist so schwer
die Wahrheit zu sagen
wenn man gelernt hat
mit der Freundlichkeit
zu überleben.“

7.7

Dienstleistungsprinzip

Im Dienstleistungsprinzip sehen die Professionals die vorangegangenen
Prinzipien als Dienstleistung am Menschen und als Arbeit mit dem Men-
schen an. Damit wird auch die Professionalität der Pflegenden unter-
strichen. Das Dienstleistungsprinzip ist in allen Pflegesituationen allge-
genwärtig. „Das gemeinsame dieser Dienstleistung (Gefühlsarbeit) ist
aber, dass – durch die betriebliche Ausrichtung auf ein Gefühlsarbeits-
vermögen der Angestellten – aus den persönlichen Kompetenzen des
alltäglichen Umgangs mit Gefühlen fachliche Qualifikationen gemacht
werden.“
(Kästner 2008, 24).

7.8

Prinzip der Geschichtslosigkeit

Das Prinzip der Geschichtslosigkeit besagt, das jede Erstbegegnung die
Chance einer unvoreingenommenen Begegnung ermöglicht, die den
Weg zur Gefühlsarbeit vorbereitet. Diese Erstbegegnung ist immer am
Beginn eines Eintritts in eine Organisation gegeben. Beziehungen zum
Personal sind je nach Länge des Aufenthalts relativ rasch hergestellt. Jede
Person hat sich von der anderen ein Bild gemacht und es wird – wenn
auch nur für kurze Zeit – ein gemeinsamer Lebensweg gegangen. Treten
nun Irritationen auf, so wird sich die irritierte Person, sofern sich diese
Irritationen benennen lässt, im besten Fall jener Person anvertrauen,
mit der sie positive Emotionen und Beziehungen pflegt. Bleibt allerdings
der Zustand der Irritation aufrecht und es können von Seiten des Teams

48

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 Prinzip der Geschichtslosigkeit 

keine Anknüpfungspunkte zur Patientin / Bewohnerin gefunden werden,
so gibt es in vielen Organisationen eine Ressource, Mitarbeiterinnen
anderer Abteilungen, die den Part der geschichtslosen Gefühlsprofes-
sionistin übernehmen können. Diese Erweiterung des Aufgabenbereichs
kann eine Bereicherung des Arbeitsumfelds bedeuten, die Freude an der
Arbeit und möglicherweise eine interdisziplinäre, vertiefte Kooperation
hervorrufen. Verstärkt werden kann der positive Effekt der Geschichtslo-
sigkeit durch einen privaten Kleidungsstil der Professionals: jede Art von
Konformität im Äußeren der betreuenden Personen setzt – auch ohne
Absicht – Distanzen. Zeichen des gelebten Normalitätsprinzips können
über „normale“ Kleidung Ausdruck finden.

49

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 Gefühlsarbeit als Methodik 

8

Gefühlsarbeit als Methodik

8.1

Allgemeines

In diesem Kapitel wird das vielfältige methodische Vorgehen von Ge-
fühlsarbeit vorgestellt. Im Kapitel „Fallbeispiele“ (siehe Kapitel 11) sind
vertieft, reale Ausführungen dargestellt.

Gefühle und Emotionen erweisen sich für das soziale Miteinander als
unabdinglich, jedoch häufig werden diese im Arbeitsumfeld als ambi-
valent und sogar als störend empfunden. Wenn in einer Organisation
eine Gefühlskultur durch Vertrauen und positive Beziehungen geprägt
ist, wird Motivation und Stabilität hergestellt. Sind hingegen negative
Emotionen im Arbeitsumfeld bestimmend, so kann dies zu starkem de-
motivierten bis destruktiven Verhalten eines Einzelnen führen. Jene Ge-
fühlskulturen werden als solche beschrieben, in denen Witze über ihre
Mitmenschen gerissen werden, in denen Mobbing vorherrscht oder in
denen Menschen einfach ignoriert oder (von anderen) isoliert werden
(vgl. Mittelstaedt 1998). Aber auch wenn das Beschriebene nicht zu-
trifft, so werden vielerorts Rituale gelebt, die zum einen für notwendige
Stabilität in den Organisationen sorgen, zum anderen aber durch zuneh-
mende emotionale Abstumpfung und mangelnder Reflexion, Chancen
auf die Qualitätsarbeit von Pflege aufmerksam zu machen, vergeben
werden. Ein nicht mehr Wahrnehmen (-Können) ist ein Zeichen von
Unprofessionalität.
Die Folgen sind ein institutionalisierter Mangel von
Individualität, Selbstbestimmung und Würde jedes Einzelnen.

Das Beispiel von Frau Glück (Name geändert) in diesem Buch (siehe
Kapitel 11.1) wirft die Frage auf, warum ein potentielles selbstschädi-
gendes Verhalten einer Bewohnerin nicht in den Griff zu bekommen ist?
Fakt ist, es gibt keine Zufälle: die potentielle Selbstschädigung scheint
wichtige Aufgaben zu übernehmen. Die Bewohnerin erhält bspw. Auf-
merksamkeit, die ihr sonst verwehrt werden würde. Wenn wir genauer
hinsehen, gibt es viele Frau Glücks, die sich solcher „Hilfen“ bedienen
und es gibt viele Organisationen, die diesen Phänomenen hilflos gegen-
überstehen und mit Stigmatisierungen und Tabus reagieren. Ursachen
des Negierens von Problemen dieser Art können sowohl in der Person
selbst bspw. als vorhandene Scham liegen oder als auch in kulturellen
Gegebenheiten gesehen werden, in dem generell ähnliche Herausfor-
derungen institutionell-geschichtlich verdrängt bzw. gesellschaftlich un-
terdrückt und nicht offen angesprochen werden. Wir stellen die These

50

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 Allgemeines 

auf, dass Gesellschaften die stark tabuisieren, auch die Arbeit und den
Umgang mit Gefühlen vereiteln
. Eine für uns weitere wichtige Begrün-
dung, warum sich Gefühlsarbeit der Tabuisierung der Professionisten im
Gesundheitswesen stellen soll.

Die Aufgaben von Gefühlsarbeit sind in einem Gefühlsprozess definiert,
der sich aus 8 verschiedenen Modulen zusammensetzt. Die Anordnung
der Module hängt von der jeweiligen Gefühlssituation ab.
In einer kom-
plexen Situation kommen alle Module zum Einsatz, in einer wenigen
komplexen Situation nur wenige. Allerdings besteht die Verpflichtung zu
begründen, warum die betreffenden Module im Rahmen des Gefühl-
sprozesses nicht zum Einsatz kommen. Die Bearbeitung einer Auffällig-
keit (Problem) im Gefühlsprozess sollte wenn möglich von einer einzigen
geschichtslosen Person des Vertrauens durchgeführt werden. Ein Wech-
sel kann den Prozess zum Stoppen bringen: Unsere Erfahrung zeigt, dass
ein Übergeben von aufgebautem Vertrauen auf eine zweite Person un-
möglich ist.

Der Gefühlsprozess ist eine Anordnung individuell gereihter Module,

die sich aus der Problemlage der Pflegebedürftigen und des jeweiligen
Kontextes, in dem sich die Pflegebedürftige befindet, ergibt. Eine Zu-
sammenarbeit mit anderen Berufsgruppen wird explizit begrüßt, sofern
diese dem Gefühlsprozess förderlich gegenüber stehen. Wir empfeh-
len aus eigener Erfahrung, sofern es die Situation zulässt, mittels eines
Aufnahmemediums zu arbeiten. Gefühlsarbeit macht auch Professionals
betroffen, was die Wiedergabe eines Gesprächs oder einer Begegnung
durch mögliche eigene gedankliche und emotionale Überlagerungen er-
schweren kann. Die Transparenz, welche durch die Verwendung des Me-
diums gewonnen werden kann, ist für den Gesamtprozess und einen
kontinuierliche Lernprozess besonders wertvoll. Selbstverständlich ist
das Einverständnis eines „informed consent“ bei den Klientinnen dafür
einzuholen.

Der Gefühlsprozess
Modul „Erkennen der Ressourcen / Auffälligkeiten“
Modul „Formulierung einer Gefühlsdiagnose“
Modul „Bewertung der Gefühlsdiagnose durch die Patientin / Klien-

tin / Bewohnerin / Angehörige“

Modul „Setzen einer Betreuungshandlung / Anwendung von Ge-

fühlsarbeit“

51

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 Gefühlsarbeit als Methodik 

Modul „Formulierung des / eines gemeinsamen Pflege- / Betreu-

ungszieles und Festlegen des Outcomes“

Modul „Bewertung des Outcomes durch die Patientin / Klientin /

Bewohnerin“

Modul „Bewertung des Outcomes durch den Professional“
Modul „Regelmäßiges Messen des Outcomes und gemeinsames Ab-

gleichen der Zielsetzung“

8.2

Modul „Erkennen der Ressourcen und
Auffälligkeiten“

Der Gefühlsprozess nimmt seinen Anfang immer mit einer identifizier-
ten Irritation. Eine Irritation ist nur dann als solche gekennzeichnet, wenn
scheinbar eine Abweichung vom Üblichen oder „Normalen“ sicht- oder
spürbar wird. Und: es muss eine Person geben, die in der Organisation
auf ungewöhnliche Vorkommnisse – die sich dem Bewusstsein, wie Fuchs
(2004) behauptet, nicht sofort erklärt – aufmerksam macht. Gefühlsar-
beit setzt dort an, wo wir mit unseren zu behandelnden und betreuenden
Personen Irritationen wahrnehmen. Es irritiert uns, was nicht alltäglich
ist!
Zu den nichtalltäglichen Irritationen von Bewohnerinnen, Klientin-
nen und Patientinnen zählen wir: Wut, Zorn, Schweigen, Weinen, Angst
und z. B. Trauer. Die von uns Betreuten zeigen Gefühl! Die Wahrneh-
mung dieser Gefühle ist ein potentieller Auftrag an uns Professionals.
Diese Wahrnehmung und Interpretation der Irritation unterstreicht die
Kompetenz des Professionals.

Die Organisation muss jene Kultur aufweisen, welche ein Ansprechen

von Irritationen wünschenswert macht. Eine Irritation kann von der Or-
ganisation oder von der Klientin ausgelöst werden. Viele Irritationen
stehen im Dienste sozialer Beziehungen. Als Beispiel kann Aggression
dann zum Ausdruck kommen, wenn eine soziale Beziehung „verteidigt“
wird. Dies kann unter anderem bedeuten, dass eine Beziehung durch
Umzug oder durch Tod eines nahe stehenden Menschen gefährdet wird
bzw. beendet werden muss oder dass eine Beziehung mit einem Men-
schen, z. B. in einem neuen Umfeld wie dem Pflegeheim mit einzelnen
Betreuungspersonen nicht gelingt oder überhaupt fehlt. Irritationen zu
erkennen, verlangen von der betreuenden und pflegenden Person hohe
Sensibilität.

Beispiel einer identifizierten Irritation:

52

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 Modul ,,Erkennen der Ressourcen und Auffälligkeiten‘‘ 

„Das Mobilitätstraining bringt mich zur Verzweiflung,…“

Diese Aussage stammt von einem Bewohner am Beginn einer zu leis-
tenden Gefühlsarbeit. Nach einem beobachteten Gehtraining bei Herrn
Leitner (Name geändert) entsteht beim Pflegeberater das Gefühl, Herr
Leitner erlebt das Training als sinnlos. Für die Bestätigung des Gefühles
des Pflegeberaters ersucht er Herrn Leitner um ein Gespräch, in dem er
ihm die Frage stellt, wie er sein Gehtraining im Moment empfindet.
Seine Antwort ist:

„Ich erlebe das Gehen jedes Mal als Niederlage.
Ich weiß, dass sich meine Situation nicht mehr verbessern wird.
Ich möchte lieber heute sterben als morgen.
Ich weiß, dass ich das nicht beeinflussen kann.
Ich kann mir meine Therapie und die Pflegekosten nicht mehr lange
leisten.
Ich stehe vor dem finanziellen Ruin.
Ich weiß nicht, wie es mit meiner Frau weiter geht. …“

Jetzt entsteht eine Pause. Nach einiger Zeit unterbricht der Pflege-
berater die Stille und stellt Herrn Leitner, er war von Beruf Lehrer,
die Frage, wie er sich und seine Fähigkeiten, bezogen auf das Gehen,
benoten würde.
Seine Antwort ist: „Mit Nicht genügend!“
Nach einer weiteren Pause fragt der Pflegeberater Herrn Leitner, wie
er als Pädagoge Schülerinnen, deren Leistung er mit Nicht genügend
beurteilt hatte, behandelte.
Seine Antwort: „Ich habe nur ganz selten die Note – Nicht genügend –
gegeben. Mir war es wichtig den Menschen als Ganzes zu sehen und
nicht nur seine Leistung.“
Jetzt fragt der Pflegeberater Herrn Leitner, ob er wissen möchte,
welches Gefühl ihn im Moment beschäftigt.
Und als Herr Leitner nickt, sagt der Pflegeberater: „Ich habe das Ge-
fühl, Sie können im Gehen der heutigen Strecke keine von Ihnen er-
brachte Leistung erkennen.“
Herr Leitner nickt wieder und nach einer kurzen Pause, sie ist durch
die Regungslosigkeit von Herrn Leitner gekennzeichnet, sagt er: „Ich
kann meine augenblickliche Situation nicht in Worte fassen. Sie er-
drückt mich.“
Jetzt entsteht Stille und als Herr Leitner sie unterbricht, klingt seine
Stimme gefasst. „Ich weiß, dass sich daran nichts verändern wird. –

53

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 Gefühlsarbeit als Methodik 

Früher habe ich gerne klassische Musik gehört, bin gerne Schi gefah-
ren und habe mich gerne bewegt.“
„Wo sind Sie Schi gefahren?“
fragt der Pflegeberater.
„Auf dem Bödele“, antwortet Herr Leitner sehr spontan.
„Wie sieht es denn auf dem Bödele aus?“ fragt der Pflegeberater.
„Ich war noch nie dort. Welche Berge kann man sehen und welche
Bäume? Wie ist die Beschaffenheit der Pisten?“
Und Herr Leitner beginnt zu erzählen. Er erzählt lange und Zeit ist
in diesem Jetzt kein Thema. Nach Ende des Monologs schweigt Herr
Leitner.
Mit der Frage: „Haben Sie während des Erzählens in ihren Gedan-
ken Bilder von der Landschaft, von den Pisten und vom Schifahren
gesehen?“
unterbricht der Pflegeberater die neuerlich entstandene
Stille.
„Ja!“ ist die spontane Antwort von Herrn Leitner. Und in der Sprach-
melodie ist die Einzigartigkeit seines jetzt Wieder-Erlebten klar zu
erkennen.
„Möchten sie mir sagen, welche Gefühle Sie in diesem Augenblick
verspüren?“
fragt der Pflegeberater.
Herr Leitner schweigt eine Weile. Dann sagt er: „Es sind wunder-
schöne Gefühle.“
Jetzt kehrt Stille ein und nach einigen Minuten hebt Herr Leitner
seinen Kopf, blickt dem Pflegeberater in die Augen und sagt: „Ich
habe Sie verstanden.“
Und als der Pflegeberater sich von Herrn Leitner verabschiedet und
die Türe des Appartements hinter ihm schließt, hörte er in Gedanken
Andre Heller. „Die wahren Abenteuer sind im Kopf und sind sie nicht
im Kopf, dann sind sie nirgendwo“
, hört er ihn singen und er verspürt
ein enorm gutes Gefühl dabei.

Mögliche Ursachen des Verhaltens, die diese Irritationen auslösen, kön-
nen sowohl in der Vergangenheit als auch im Hier und Jetzt liegen: das
Gefühl von Aussichtslosigkeit, das Gefühl von Einsamkeit, das Gefühl
nicht mehr gebraucht zu werden, das Gefühl von mangelnder Identität,
das Gefühl von fehlender Autonomie, das Gefühl von Sinnlosigkeit oder
das Gefühl von niemandem geschätzt zu werden. Martin Buber (1967,
in: Watzlawick 2007, 21) kam in einem Referat diesen Problemen sehr
nah: „… der Wunsch jedes Menschen, von den anderen als das bestä-
tigt zu werden, was er ist, oder sogar als das, was er werden kann,
und die angeborene Fähigkeit der Menschen, seine Mitmenschen in die-
ser Weise zu bestätigen. Daß diese Fähigkeit so weitgehend brachliegt,

54

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 Modul ,,Formulierung einer Gefühlsdiagnose‘‘ 

macht die wahre Schwäche und Fragwürdigkeit der menschlichen Rasse
aus. Wirkliche Menschlichkeit besteht nur dort, wo sich diese Fähigkeit
entfaltet.“

In der von den Autorinnen konzipierten Gefühlsarbeit kommen die Be-
griffe des Problems, Symptoms oder Defizits nicht vor, um nicht zu starke
Assoziationen mit Krankheit auszulösen. Stattdessen wird der Ausdruck
Auffälligkeit“ gewählt. Wir empfehlen deshalb auch genau zu prüfen,
welche Auffälligkeiten wichtige Ressourcen sind:

• ein häufig nächtliches Läuten der Patientinnenglocke,
• ein zorniger oder auch trauriger Gefühlsausbruch,
• regelmäßige Beschwerden oder aber
• eine Ablehnung der Mithilfe bei der Pflege und Betreuung.

Diese Auffälligkeiten lassen Energie und Motivation erspüren, die darauf
abzielen, Aufmerksamkeit zu erwecken und zu erhalten. Jeder dieser
Auffälligkeiten ist ein Ruf, sich dem Menschen, der diese Auffälligkeiten
zeigt, zu widmen.

8.3

Modul „Formulierung einer
Gefühlsdiagnose“

Ressourcen und Auffälligkeiten sind für alle Betroffenen immer im Ge-
fühlsprozess abzuleiten. Der Formulierung der Gefühlsdiagnose gehen
eine Art Anamnese und möglicherweise ein umfassendes Assessment
voraus. Instrumente wie Skalen zur Selbsteinschätzung von Einsamkeit,
Langeweile oder Lebenslust können wichtige zusätzliche Informationen
liefern. Allerdings ist sensibel abzuschätzen, ob überhaupt und wenn
ja, welche Instrumente zum Einsatz kommen sollen. Von Bedeutung ist
ebenso herauszufinden, wie das Gegenüber Beziehungen während ih-
res Lebens erfahren hat und ob das Gegenüber für eine „Ansprache“
auf emotionaler Ebene empfindsam ist. Eine Kombination mit biogra-
phischen Elementen kann helfen, eine bessere Einschätzung zu treffen.
Allerdings kommt es aufgrund der sehr sensiblen Themen nicht selten
vor, dass es eines längeren Zeitraums bedarf bis eine „griffige“ Diagnose
abgeleitet werden kann. Die Annäherung an eine Gefühlsdiagnose führt
dabei über Diagnosen des Körpers. Denn wie bereits von Strauss et al.
(1980) ausgeführt und durch unsere Erfahrung bestätigt, kann nicht so-
fort „mit der Tür in Haus“ gefallen werden. Vertraute Kommunikation

55

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 Gefühlsarbeit als Methodik 

ist die über das Körperbefinden, sie kann als Einstiegshilfe in die Ge-
fühlsarbeit dienen, muss aber nicht. Beispiele für Gefühlsdiagnosen sind
folgende:

• Klientin weiß nicht mehr ein noch aus.
• Klientin hat Angst, vor die Tür zu gehen.
• Klientin ist zornig und lehnt Mitarbeit ab.
• Rückzug und daraus.
• Gefahr der sozialen Isolation.
• Unfähigkeit, in gewissen Situationen die eigene Widersprüchlichkeit

zu erkennen.

• Angst vor kindlicher Behandlung.
• Angst, nicht ernst genommen zu werden.
• Zurückhaltung in der Meinungsäußerung.
• Langeweile.
• Unvermögen, Anschluss an die Gemeinde zu finden.
• Sich-nicht-Einfinden-Wollen / Können in eine neue Wohnumgebung.

Viele der angeführten Diagnosen sind so genannte erste abgeleitete Dia-
gnosen, die so niedergeschrieben werden, wie von der Klientin ausge-
drückt. Nach weiterer Betrachtung und im Zuge der Gefühlsarbeit mit
der Klientin erfahren diese eine sprachliche Adaptierung. Auch wenn
der Professional hinter den Auffälligkeiten verschiedene weitere oder
andere Ursachen vermutet, soll in der Gefühlsarbeit zu frühes Interpre-
tieren vermieden werden. So erfuhren wir aus vielen Beispielen, dass
sich hinter den als Erstdiagnosen sichtbaren Auffälligkeiten weit tief-
gründigere befinden:

• Klientin erfährt keine Wertschätzung mehr, dadurch
• Verlust der Identität.
• Klientin kann keinen Sinn mehr im Leben finden.
• Klientin hat sich aufgegeben.
• Klientin kann ihre Situation nicht annehmen udgl.

Es müssen zusätzlich individuelle Diagnosen formuliert werden, die so im
Dokumentationssystem verankert sind, dass mit möglichst geringem Auf-
wand eine Evaluierung durchgeführt werden kann (immerhin ist Sicht-
barkeit ein wichtiges Ziel von Gefühlsarbeit). Der Begriff Gefühlsarbeit
wird ausschließlich zwischen den Professionals angewendet, da die Klien-
tinnen möglicherweise mit der Deutung des Begriffs überfordert wären
bzw. die Verwendung – zumindest zu diesem Entwicklungszeitpunkt –

56

background image

 Modul ,,Bewerten der Gefühlsdiagnose durch die Klientin‘‘ 

ein Befremden hervorrufen könnte. Das sollte sich in Zukunft insofern
ändern, als „Gefühlsarbeit“ sich im Leitbild oder im Wertemanagement
des Unternehmens wieder findet. Dieses Modul hat seinen Zweck erfüllt,
wenn die Diagnose durch die Klientin bestätigt oder verworfen wird. Die
Diagnose ist dabei kein Dogma, sie kann sich im Laufe des Prozesses
durch neue Informationen und Erkenntnisse neu ausrichten.

Wir geben zu bedenken, dass sich viele Klassifikationssysteme nur bedingt
eignen, die (Gefühls) Bedürfnisse der Klientinnen abzubilden. Die Klassi-
fikationen können nicht nur sprachlich nicht passen, sie treffen auch den
notwendigen Inhalt nicht. Als Beispiel sind in den Klassifikationssystemen
NANDA und ICNP keine einheitlichen Begriffe bspw. der Identität darge-
stellt: so definiert NANDA Identitätsverlust (vgl. Stefan et al. 2010) und
ICNP beschreibt, was „persönliche Identität“ ist (Hinz et al. 2003). Wir
müssen somit im täglichen Klassifikationsgebrauch, sofern die o. g. Be-
griffe als Pflegediagnose herangezogen werden, aus Produkten unter-
schiedlicher Entwicklungen wählen oder die Begriffe selber definieren.

Neu Einzug gehaltene Klassifikationssysteme in die Organisationen wie
beispielsweise POP – Praxisorientierte Pflegediagnostik (vgl. Stefan et al.
2009) beinhalten die Phänomene wie Identität, Würde, Sinn, Langeweile
und Lebensmut überhaupt nicht!
Existieren die Phänomene in der Pflege nicht?

Existieren die Phänomene Identität, Langeweile, Würde und
Lebensmut nicht in der Pflege?

Das Nichtvorhandensein dieser bedeutungsvollen Phänomene der Ge-
fühlsarbeit in Klassifikationssystemen birgt die Gefahr in sich, dass diese
Phänomene als solche (immer) noch nicht wahrgenommen werden. Da-
mit werden sie nicht Bestandteil des Leistungssystems.

8.4

Modul „Bewerten der Gefühlsdiagnose
durch die Klientin“

Die potentielle Gefühlsdiagnose wird immer gemeinsam mit der Klientin
besprochen. Dieser Schritt dient zum einen einer möglichen Bestätigung,
am richtigen Weg zu sein und um sich (gefühlsmäßig) zu versichern, ob
der Klientin eine weitere Bearbeitung mittels Gefühlsarbeit angenehm

57

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 Gefühlsarbeit als Methodik 

ist. Die ersten Diagnoseableitungen sind meist in den Worten der Klien-
tinnen formuliert, um die Wiedererkennung der sensiblen Auffälligkeit
zu erhöhen und um von Anfang an Vertrautheit zu fördern. Die Spra-
che des Professionals ist dabei der Klientin anzupassen, Fachsprache
ist in der Kommunikation mit der Klientin nicht geeignet. Dies bedeutet
auch, dass im Unternehmen verwendete Diagnoseklassifikationssysteme
wahrscheinlich die Bedürfnisse der Klientinnen nicht treffend abbilden
können, sofern sie, wie oben genannt, überhaupt in den Klassifikations-
systemen existent sind.

8.5

Modul „Setzen einer Betreuungs-
handlung / Gefühlsarbeit“

Das Sprichwort: „Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es wi-
der“, findet sich auch in den zwischenmenschlichen Beziehungen: Ver-
trauensvolles Verhalten schafft Vertrauen, Misstrauen und Ablehnung
verunsichern und fördern Aggression. Wie bereits erwähnt hilft bspw.
Aggression, den eigenen Organismus zu schützen. Das Setzen einer
Pflege- und Betreuungshandlung im Gefühlsprozess setzt das Wissen der
Pflegenden voraus, welche Gefühle was zum Ausdruck bringen können.
Als Gefühlspartnerin braucht sie ein Gespür dafür, wie sie am besten auf
das Verhalten des Gegenübers reagieren könnte. Die Pflegekraft muss
Ideen und Gespür entwickeln (können), die den Betroffenen befähigen,
selbst Lösungen vorzuschlagen. Selbstverständlich ist manchmal eine
vorsichtige Versuch- und Irrtum-Annäherung hilfreich.

Das Setzen einer Betreuungshandlung in Form von Gefühlsarbeit kann
sich in Identitätsarbeit, in Trostarbeit, in Ablenkungsarbeit, in Abschieds-
arbeit, in Da-Seins-Arbeit oder in Fassungsarbeit uvm. ausdrücken.
Im Folgenden werden einige Methoden der Gefühlsarbeit vorgestellt.

8.5.1

Da-Sein-Arbeit

Die Da-Sein-Arbeit ist das Fundament, auf der Gefühlsarbeit aufgebaut
ist. Die „Da-Sein-Pflege“ ist eine Methode, bei der der Professional sich
bewusst Zeit für einen Menschen nimmt, weil es ihn gibt. Der Klien-
tin werden verschiedene Angebote gemacht, d. h. häufig mit anderen
Gefühlsmethoden kombiniert (siehe folgend). Ohne Kombination wird
Da-Sein-Arbeit Menschen angeboten, die sich in Situationen der Sprach-
losigkeit wie Verwirrtheit, Regression und Bewusstlosigkeit befinden. In

58

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 Modul ,,Setzen einer Betreuungshandlung / Gefühlsarbeit‘‘ 

allen Fällen werden die Reaktionen auf die gelegten Angebote bewertet
und in den weiteren Prozess mit einbezogen.

„Durch Da-Sein bei sich und bei anderen entwickelt oder erlangt der
Mensch Wohlbefinden:“
, so Paterson und Zderad (1997, 165). Um dieses
Da-Sein in Erinnerung zu rufen und im Berufsumfeld zur Anwendung zu
bringen, bedarf es verschiedener, bewusst gestellter Fragen wie:

• Warum bin ich hier?
• Wie bin ich hier?
• Was sehe ich?
• Habe ich als Pflegende weitreichendere Aufgaben zu erfüllen als eine

angemessene pflegerische Versorgung und Betreuung zu leisten?

Dabei spielt die bewusste und reflexive Auseinandersetzung mit die-
sen Fragen eine wichtige Rolle, denn ich kann mich für oder gegen ein
Da-Sein entscheiden. Watson (1996) spricht von zwischenmenschlicher
Zuwendung. Menschen seien in der Lage, Personen zu identifizieren, die
sich anderen zuwenden (können) und solche, die das nicht tun (können).
Eine nicht zugewandte Person kann die Gefühle ihres Gegenübers nicht
wahrnehmen. Watson (1996) erwähnt frühere Forschungsarbeiten mit
Kolleginnen, die zeigten, dass Zuwendung zu persönlichen Reaktionen
des Gegenübers führt. „Alle Ergebnisse weisen auf die Unabdingbarkeit
eines individuellen Ansatzes und bewußten Handeln hin, in dem Einsicht,
Wille und Motivation zum Ausdruck kommen.“
(Watson 1996, 53)

Benner und Wrubel (1993, 34) bezeichnen dieses Form des Da-Seins als
„Zugegensein“. Sie sehen die Fähigkeit zum Zugegensein als Vorausset-
zung wirksam bei den uns Anvertrauen Hilfe leisten zu können. Wirk-
samkeit von Pflegehandlung ist an „Nähe“ des Wesens Pflegeperson
gebunden.
Watson (1996, 91f.) fordert „den vollen Einsatz des eigenen
Selbst“
und lehnt einen künstlichen Professionalismus, der durch Distanz
und ebenso durch Wissenschaftsgläubigkeit möglicherweise hervorge-
rufen wird, ab.

8.5.2

Arbeit mit Bildern

Unsere Gedanken werden von Bildern begleitet. Die Form der Gesprächs-
führung wie bereits die bei Herrn Leitner beschrieben (siehe Kapitel
8.2) ist die Chance, die beschriebenen Bilder gemeinsam zu vertiefen
und weiter auszuschmücken. Zusätzlich kann von der Pflegenden das

59

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 Gefühlsarbeit als Methodik 

Gespräch zur Chancenerhöhung, Angenehmes zu empfinden, gelenkt
werden. Dadurch werden Bilder wieder neu oder anders gesehen und
interpretiert. Die Klientin wird vom Professional eingeladen, ihre wahrge-
nommenen Gefühle zu verbalisieren bzw. auszudrücken. Ziel ist in erster
Linie auf angenehme Bilder zu fokussieren: der Irritierte kann lernen,
Bilder, die bei ihm angenehme, positive Gefühle hervorrufen, immer
wieder neu abzurufen und zu spüren.

Die Aussage von Herrn Leitner: „Ich habe Sie verstanden“ ; ist die Bestä-
tigung, dass es ihm im Verlauf des Gespräches möglich wird, Freude zu
empfinden.

8.5.3

Arbeit mit gegenseitigen Geschichten

Die Arbeit mit gegenseitigen Geschichten ist eng an die Arbeit mit Bildern
verknüpft. In einer Erstbegegnung nehmen wir ein Gegenüber als sympa-
thisch oder unsympathisch wahr. Diese Wahrnehmung hat mit unserer
persönlichen Geschichte zu tun. In diesem Augenblick kann festgeschrie-
ben werden, in welcher Form Gefühlsarbeit beim anderen ankommt. Ge-
fühlsarbeit ist ein Geben und Nehmen. In der Methode der gegenseitigen
Geschichten werden reale Erzählungen (Authentizität) dem Gegenüber,
mit dem Ziel eventuelle Lösungen zu provozieren, angeboten. Ohne die
Bereitschaft der Pflegenden, selbst Persönliches von sich herzugeben,
würde eine zu große Asymmetrie in der Begegnung entstehen, die einen
gegenseitigen Austausch vor allem essentieller Informationen für die
Hilfestellung in der Gefühlsarbeit hintanhalten.

Gefühlsarbeit ist ein gegenseitiges Geben und Nehmen!

Alle bekannten Gesprächstechniken können die genannten Methoden
unterstützen. Selbstverständlich ist auf einen ungezwungen, natürlichen
Kontext zu achten. Die Gefühlsarbeit als geleistete Maßnahmen soll Lö-
sungen, am besten von der Patientin / Klientin / Bewohnerin selbst,
evozieren. In weiterer Folge unterstützt der Professional das Durchfüh-
ren jener Maßnahmen, die zu einer Gefühlsverbesserung führen. Dies
kann ebenso ein DDA (Differentialdiagnosticher Ausgang – vgl. auch
Böhm 1999) oder das Übernehmen von Vermittlerfunktionen zwischen
der Betroffenen und einem Angehörigen, ein Coaching udgl. sein. Es ist
besonders auf die Einhaltung der Prinzipien von Gefühlsarbeit zu ach-
ten.

60

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 Modul ,,Bewertung des Outcomes durch den Professional‘‘ 

8.6

Modul „Formulierung des /
eines gemeinsamen Pflege- /
Betreuungszieles und Festlegen des
Outcomes“

Dieses Modul ist eines der ersten Schritte, Ergebnisorientierung abzulei-
ten und in eine messbare Form zu bringen. Sowohl die Pflegende als auch
die Betroffene selbst sind aufgefordert, sich Überlegungen bezüglich des
erwünschten Zieles zu machen. Die Überlegungen werden gemeinsam
in einem oder mehreren Gesprächen abgeglichen. Die Ziele können mit
Hilfe der RUMBA-Regel formuliert werden:

Relevant: ist das Ziel jenes, das wirklich erreicht werden will und ist es

jenes, das hilft, die Auffälligkeit zu minimieren bzw. zu beseitigen?

Understandable: verstehen alle am Prozess Beteiligten, worum es

geht?

Measurable: gibt es messbare Kriterien, um das Ziel zu messen?
Behavioral oriented: ist das Ziel durch Verhaltensänderung erreichbar?
Achievable: sind erreichbare und realistische Ziele definiert?

Aus Erfahrung lässt sich sagen, dass sich hinter den auf den ersten Blick
abgeleiteten Diagnosen häufig wesentlich existenziellere Diagnosen ver-
bergen können. Diese müssen identifiziert werden und in Form von ad-
äquaten Zielen in den Gefühlsprozess gemeinsam mit der Klientin fest-
geschrieben werden.

8.7

Modul „Bewertung des Outcomes
durch die Patientin / Klientin /
Bewohnerin“

Der Erfolg der Gefühlsarbeit kann nur bedingt durch die Pflegekräfte
bewertet werden. Die Klientin selbst nimmt für sich eine Art Evaluie-
rung vor, ob das, was gemeinsam als Ziel formuliert wurde, auch erreicht
werden konnte oder nicht. Reflexionsvermögen wird somit auch von der
Klientin abverlangt. Bei Klientinnen, die diese Eigenschaft nur bedingt
aufbringen, müssen alle verbalen und nonverbalen Signale aufgenom-
men, gedeutet und vorsichtig einer Evaluierung zugeführt werden. Um
dem Restrisiko falsch zu liegen entgegenzuwirken kommt das nächste
Modul zum Einsatz.

61

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 Gefühlsarbeit als Methodik 

8.8

Modul „Bewertung des Outcomes
durch den Professional“

Die Einschätzung der Patientin / Klientin / Bewohnerin ist Ausgangs-
lage für die Bewertung der Pflegenden, die alle weiteren Informationen
über den Zeitverlauf der Gefühlsarbeit über ihn heranzieht und versucht,
einen Gesamtüberblick zu gewinnen.

An dieser Stelle sei nochmals erwähnt, dass im Sinne einer Evidenzbe-
stimmung die Organisation die Ergebnisdaten systematisch zu sammeln,
auszuwerten und zu deuten hat. Ansonsten bleibt Gefühlsarbeit nach
wie vor unsichtbar und kann nicht als mögliche „competence of excel-
lence“ ausgewiesen werden.

8.9

Modul „Regelmäßiges Messen des
Outcomes und Abgleichen der
Zielsetzung“

So wie generell im Pflegeprozess eine regelmäßige Evaluierung not-
wendig und gesetzlich festgeschrieben ist, müssen die Ergebnisse der
Gefühlsarbeit im Zuge des Gesamtpflegeprozesses einer kontinuierli-
chen Messung zugeführt werden. Ein Abgleichen der Zielsetzung ist in-
sofern wahrscheinlich, als die Ziele sich erst im Laufe der Zeit als klare
Gefühlsziele formulieren lassen. Damit die vorhandenen Daten nicht das
Schicksal von Datenfriedhöfen erleiden, empfehlen wir in regelmäßigen,
systematisch institutionalisierten Zeitabständen, die Ergebnisse darzu-
stellen und gemeinsam mit den Teams einem Interpretationsprozess zu-
zuführen und mögliches Folgehandeln abzuleiten.

62

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 Entwicklung des Praxiskonzepts ,,Gefühlsarbeit‘‘ 

9

Entwicklung des Praxiskonzepts
„Gefühlsarbeit“

Die Entwicklung des Konzepts basiert auf einer induktiven, iterativen
Vorgehensweise, die dem folgenden Diagramm (Abb. 5) zu entnehmen
ist. In diesem Kapitel wird in den wichtigsten Punkten auf die Methodik
der Entwicklung des Gefühlskonzepts eingegangen. Die folgende Abbil-
dung 5 zeigt die Schritte der Entwicklung:

Thema wir in der Praxis Fragen auf!

Frage: Ist das Thema so bedeutungsvoll um es zu bearbeiten?

Ziel der wissenschalichen Bearbeitung des Themas festlegen

Klärung der Herangehensweise der Themenbearbeitung

Doing

Erkenntnisse und Ergebnisse: Prinzipien des Gefühlsprozesses

Entwicklung des Gefühlsprozess

Reflexion des Doings

Abgrenzung zu anderen Konzepten

Frage: Gibt es weitere erklärende Modelle des Konzepts innerhalb der internaonalen Literatur?

 Abb. 5: Schritte im Entwicklungsprozess des Konzepts der Gefühlsarbeit

Die Bearbeitung der Themen „Gefühl“ und „Gefühlsarbeit“ war unmit-
telbar aus der Praxis initiiert. Die Autorinnen erkannten in ihrer Rolle als
Pflegende, dass der Umgang mit den Bewohnerinnen, Klientinnen oder
Patientinnen im Pflegefeld häufig durch oberflächliche Kontakte geprägt
ist. Bedürfnisse vor allem sozialer, kognitiver und emotionaler Art wer-
den in der täglichen Routine zu wenig wahrgenommen oder ignoriert –
und dies, obwohl von den Klientinnen deutliche Zeichen gesetzt wurden,
die nach einer gemeinsamen bewussten Bearbeitung riefen. Am Beginn
der Erarbeitung des Konzepts standen viele Fragen:

• Warum werden Zeichen emotionaler Bedürftigkeit ignoriert?
• Was bewirkt dieses Ignorieren und Nichtaufarbeiten sowohl bei Kli-

entinnen als auch bei Pflegenden?

• Welche Auswirkungen hat dies für die Organisationen?

63

background image

 Entwicklung des Praxiskonzepts ,,Gefühlsarbeit‘‘ 

• Wie kann dem entgegengewirkt werden?
• Was bewirkt eine vermehrte Arbeit an den Gefühlen?

Diese Phänomene und die in ihrem Gefolge aufgeworfenen Fragen wur-
den in vielen Gesprächen zwischen den Autorinnen intensiv diskutiert. Es
war klar, dass dieses Thema ein in der Pflegelandschaft vernachlässigtes
ist, dessen Bedeutung aber außerordentlich groß ist. Erste Hypothesen
wurden in den Raum gestellt, wie beispielsweise: „Die Beachtung des
Menschen als fühlendes Wesen ist existenziell.“ – „Gefühlsarbeit wirkt
präventiv bei Einsamkeit, Langeweile und vielen weiteren Phänomenen.“
u.v.m.

Das erstformulierte Ziel der wissenschaftlichen Bearbeitung des The-

mas war ganz allgemein und lautete: Ein Konzept der „Gefühlsarbeit“
soll entwickelt werden, das die Würde des Menschen stärkt, das Em-
powerment von Klientinnen und Pflegenden fördert und die Arbeit am
Menschen (wieder) zu einer sinnstiftenden werden lässt.

Die Herangehensweise und die Entwicklung des Konzepts „Gefühls-

arbeit“ sollten nicht in Form einer klassischen Hypothesentestung ab-
laufen, da dieses Thema dafür nicht geeignet schien. Vielmehr sollte
es qualitativ und induktiv mithilfe der Methode der Aktionsforschung
entwickelt werden. Die Aktionsforschung unterliegt folgenden Schritten
(vgl. Lewin 1997): Planung, soziale Intervention im Feld und Reflexion
über die Resultate der Intervention. Aktionsforschung hat das Ziel, di-
rektes soziales Handeln zu ermöglichen und setzt dadurch an konkre-
ten Problemen (in der Gefühlsarbeit Auffälligkeiten) aus der Praxis an.
Die Beziehung zwischen Forscherinnen und Betroffenen zeichnet sich
durch symmetrische Kommunikationsstrukturen aus, um einen direkten
Nutzen bei der Betroffenen rascher und effektiver zu erzielen. In der
Aktionsforschung steht die Forscherin selbst im Forschungsfeld, wobei
sie dieses aktiv mitbeeinflusst. Diese Einwirkung ist ein wichtiger Part
in der Reflexion des Entwicklungs- und Forschungsgeschehens. „Refle-
xion vermag jedem Schicksal die Spitze zu nehmen.“
, so Bubner (1998,
264).

Die Autorinnen mussten sich zu Beginn der Erarbeitung des Konzepts
zwei Fragen stellen: Welche Klientinnen sollten in einem ersten Schritt
in das Konzept mit einbezogen werden? Und welche Organisationen
sind interessiert, motiviert und offen genug, gefühlsmäßiges Gestalten
zuzulassen?

Als diese Auswahl getroffen war, musste in einem nächsten Schritt

die Genehmigung zur Arbeit in den Organisationen eingeholt werden.

64

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 Entwicklung des Praxiskonzepts ,,Gefühlsarbeit‘‘ 

Die Auswahl der Klientinnen, mit denen das Konzept einen Anfang fin-
den konnte, erfolgte über eine wahrgenommene Stigmatisierung der
Klientinnen in der jeweiligen Abteilung der jeweiligen Organisation. Die
Klientinnen fielen den Autorinnen dadurch ins Auge, dass die Teammit-
glieder viel über sie sprachen, (meist) verursacht durch verschiedene
immer wiederkehrende Auffälligkeiten der Klientinnen in der Organi-
sation. Die häufig vorgenommenen Stigmatisierungen von Klientinnen
durch das Team veranlassten die Autorinnen, sich im Rahmen des Ge-
fühlsprozesses mit ihnen zu beschäftigen. Alle Klientinnen waren kognitiv
in der Lage, verbal zu kommunizieren und zu reflektieren. Die Einwilli-
gung wurde insofern bei jeder Klientin eingeholt, als die Autorinnen den
Patientinnen erklärten, dass sie mit ihnen über ihre Situation in der je-
weiligen Organisation sprechen wollten. Eine Ausnahme ist Frau Glück,
hier wurde die Einwilligung von ihrem Sachwalter eingeholt. Erfolgte
eine Zustimmung, wurde ein Termin mit der Klientin vereinbart. Die Be-
gegnung jeder Betreuungseinheit wurde mit einer intensiven Reflexion
der Begegnung innerhalb des Autorinnenteams abgeschlossen. Dabei
stellten sich die Autorinnen folgende Fragen:

• Wie konnte das Gefühl in dieser gegenseitigen Begegnung beschrie-

ben werden?

• War die Begegnung von Vertrauen und Offenheit geprägt?
• Waren die Autorinnen offen genug, um sich dem Gegenüber zu nä-

hern?

• Gab es Störungen in der gegenseitigen Begegnung?
• Was bewegte die Klientin?
• Was trugen die Betreuenden und die Angehörigen dazu bei, wie sich

die Klientin fühlte und was sie bewegte?

• Wie kann das, was die Klientin bewegte, bearbeitet werden?

Nach jedem Reflexionsprozess wurden die nächsten Schritte für ein wei-
teres Doing abgeleitet. Diese Prozessschritte wiederholten sich. Die Be-
gegnung wurde, wann immer möglich, mit der Kamera festgehalten und
der Dialog transkribiert, sodass auch die „Wörtlichkeit“ exakt festgehal-
ten werden konnte. Standen anfangs beide Autorinnen im Praxisumfeld,
zog sich nach der Festlegung eines ersten Rohkonzepts eine Autorin aus
dem Praxisfeld zurück. Sie war die nächsten Monate für die externe und
vertiefte Reflexion verantwortlich; das bedeutete, einander nach jeder
Begegnung mit den Klientinnen zu treffen, um die Situation zu reflektie-
ren, wobei die Person, die nicht im Praxisumfeld stand, für vertiefte und
kritische Fragen zum Prozess verantwortlich zeichnete. In mehreren Ent-

65

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 Entwicklung des Praxiskonzepts ,,Gefühlsarbeit‘‘ 

wicklungsabschnitten wurde das Konzept sowohl Pflegenden als auch
nicht Pflegenden zur Diskussion gestellt. Deren wichtige Beiträge fanden
Eingang in die Konzeption.

Von Bedeutung scheint uns darauf hinzuweisen, dass Gefühlsarbeit

durch eine geschichtslose Person meist sehr eindrückliche Verbesserun-
gen des Zustands der Bewohnerinnen brachte. Dieser Umstand führte
bei den Teammitgliedern vor Ort fast ausnahmslos zur großen Irritation.
Das Aufzeigen, dass mit den Bewohnerinnen mit Hilfe von Gefühlsar-
beit ihre Ressourcen gefördert werden konnten und es auch nach Jahren
eingespielter Pflege eine maßgebliche positive Veränderung eintreten
kann, ließ Skepsis und Widerstand den Forscherinnen gegenüber auf-
treten. Um dem Eindruck, die Pflegenden hätten die letzten Jahre nicht
adäquate Pflege geleistet, entgegen zu wirken, waren positive Haltung
und konstruktive Zusammenarbeit mit dem Management von Seiten der
Autorinnen gefordert. Ein Prozess, der ein hohes Maß an Sensibilität bei
der Aufklärungsarbeit durch die Führungskräften und den Forscherinnen
bedurfte.

Das Produkt dieser Herangehensweise sind definierte Prinzipien der

Gefühlsarbeit, Thesen zur Gefühlsarbeit und ein sich entwickelnder Ge-
fühlsprozess. Die Definition dessen, was Gefühlsarbeit beinhaltet, ent-
wickelte sich im Laufe der Theoriearbeit.

Dieser Entwicklungsprozess zog sich über mehrere Jahre. Erst nach-

dem die Konzeption relativ abgeschlossen war, fragten die Autorinnen,
in welcher Form sich das Konzept national und international von an-
deren Konzepten unterscheidet, wo es Ähnlichkeiten gibt und wo die
Konzeption der Gefühlsarbeit Ergänzungen liefert. Gefühlsarbeit scheint
nach genauer Recherche eines der ersten Konzepte zu sein, welches die
Erkenntnisse über die Wirkung von Gefühl und Emotion in ein Praxis-
konzept umsetzt. Gefühlsarbeit hat ebenso mögliche bedeutende Krite-
rien und Rahmenbedingungen für die Durchführung und das Gelingen
von Gefühlsarbeit abgeleitet. Hilfreiche wissenschaftliche Erklärungen
für die in der Gefühlsarbeit entwickelten Elemente konnten in der in-
ternationalen Literatur gefunden werden. Vor allem die Erkenntnisse
der Neurobiologie sind gut geeignet, das Konzept weiter zu untermau-
ern.

66

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 Fähigkeit zur (professionellen) Wahrnehmung 

10

Rahmenbedingungen von
Gefühlsarbeit

Die Neurobiologie bietet uns Erklärungen für die Phänomene des Rück-
zugs, der Einsamkeit, der Regression, der Sinnlosigkeit und vieles mehr.
Dieses Wissen macht uns in den Dienstleistungsberufen der Pflege und
Betreuung zu Täterinnen oder zu Wohltäterinnen. Ersteres, wenn wir
wegschauen und weghören und „wegfühlen“ und zweiteres wenn wir
uns als Individuen und als Mitglieder der Gesellschaft füreinander enga-
gieren und uns Wertschätzung entgegenbringen. Im Folgenden werden
bedeutende Rahmenbedingungen einer Diskussion unterzogen.

10.1 Fähigkeit zur (professionellen)

Wahrnehmung

Es stellt sich die Frage, ob jede Person Gefühlsarbeit leisten kann. Ist
Gefühlsarbeit lehr- und lernbar? Die Vorstellung, dass Gefühlsarbeit im
Sinne menschlicher Zuwendung und fürsorglichen Verhaltens jedem ei-
gen ist impliziert, dass Menschen aus sich heraus wissen, zu welchem
Zeitpunkt und in welcher Weise gefühlsmäßige Hinwendung gefragt ist.
Woodward (1997) unterstellt, dass Caring eine Fähigkeit ist, die in den
Beruf mitgebracht wird. Dieser Ansatz ist umstritten und findet Wider-
sacherinnen, die behaupten, dass Caring wie andere Fähigkeiten auch
erlernt werden müssen (vgl. Savage 1995).

Ob Gefühlsarbeit greifen kann, hängt in nicht unbeträchtlichem Ausmaß
vom den Prägungen vor allem in der Kindheit eines jeden Einzelnen ab.
Bei jedem von uns sind die Anlagen für unsere Motivationssysteme ge-
legt. Aber im Kindes- und Jugendalter sind wir im Gegensatz zum Erwach-
senenalter darauf angewiesen, dass uns positive Beziehungen geschenkt
werden, die sich – wie bereits erwähnt – im Gehirn emotional verankern.
Fehlen die Erfahrungen positiver Beziehungsqualität hat dies fatale Fol-
gen für die spätere Beziehungsfähigkeit der betroffenen Menschen (vgl.
Bauer 2007). Seckl und Meaney (2004) und Weaver et al. (2004) führen
spätere Handlungsmöglichkeiten auf die programmierten Erfahrungen
jeder Person im Kindesalter zurück, diese beeinflussen, ob bestimmte
Gene im späteren Leben in bestimmten Lebenssituationen abgerufen
werden oder nicht. Es gibt für zukünftige Beziehungen so etwas wie
einen biologischen Fingerabdruck. Wir erkennen dieses Manko der man-

67

background image

 Rahmenbedingungen von Gefühlsarbeit 

gelnden Beziehungsfähigkeit bei Menschen nicht sofort, seien dies Pro-
fessionals oder Menschen, die betreut und gepflegt werden. Deshalb sei
nochmals Bezug auf das Prinzip der Freiwilligkeit genommen: nicht jeder
Mensch will und kann Gefühlsarbeit leisten, nicht jeder Mensch kann
angebotene Gefühlsarbeit erkennen und annehmen. Es bedarf Sensi-
bilität
um „… ein Pflegephänomen durch unmittelbares Erleben, durch
Beobachtung des Verhaltens anderer oder auch durch Nachdenken über
eigene Erfahrungen oder die Erfahrung anderer Menschen intuitiv zu er-
fassen.“
(Paterson/Zderad 1997, 167). Bei den zu betreuenden und zu
pflegenden Menschen kann möglicherweise eine gründliche Biographie-
arbeit besseres Verständnis und eine versiertere Entscheidungsgrund-
lage für oder gegen Gefühlsarbeit bieten. Professionals, die sich sichtlich
mit Beziehungen und dem Ausdrücken von Empathie und Gefühl schwer
tun, sollten von dieser Methode Abstand nehmen.

Morris und Feldmann (1996) und Staehle (1999) erachten für die „Ge-
fühlsarbeit“ folgende Faktoren für besonders wichtig:
• hohe inter- und intrasubjektive Aufmerksamkeit um emotionale Emp-

findung zielgerichtet zu steuern.

• große Emotionsvielfalt und Verschiedenartigkeit, die im Zuge des Ar-

beitsprozesses zum Einsatz kommen können.

• häufige Unstimmigkeiten zwischen erwarteter und vorliegender Ge-

fühlssituation.

• hohe Häufigkeit von zielgerichteten Gefühlsausdrücken.

10.2 Wille zur (professionellen)

Wahrnehmung

Eine der wichtigsten Rahmenbedingungen ist der Wille zur professionel-
len Wahrnehmung v.a. der Wille zum Mitfühlen (kein Mitleiden). Eine un-
serer Thesen ist, jeder hat die Fähigkeit, sich beim anderen fühlbar zu ma-
chen, deshalb vertreten wir die Meinung, dass es jedem Menschen inne
ist, mitzufühlen. Mitfühlen „… ist die Fähigkeit, das subjektive Erleben
eines anderen Menschen wahrzunehmen ohne jedoch dessen Gefühle zu
teilen.“
(Konrad/Hendl 1997, 155). Pflegende können sich auf Gefühls-
arbeit vorbereiten, es bedarf der Bereitschaft, durch Selbstexploration
und Selbsterfahrung Eigenschaften wie Mut, Mitgefühl, Wahrnehmungs-
kompetenz und ethische und moralische Kompetenz zu entwickeln. Per-
sönliche Reife und emotionale Tiefe können ein weiteres Ergebnis mit
der eigenen Gefühls- und Emotionsarbeit sein. Reife hat nur bedingt mit

68

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 Integration der Gefühlsarbeit in die Organisation 

Alter und Erfahrung zu tun, der Wille zum Lernen und Erfahren scheint
den Autorinnen von besonderer Bedeutung.

Eine weitere wichtige Voraussetzung für die Gefühlsarbeit ist der

Wille zur Reflexion. Wie Dahlgaard und Stratmeyer (2005) bemerken
hängt eine optimale Qualität von Pflege und Behandlung wesentlich von
einer patientinnenorientierten Gestaltung einer Gesundheitsversorgung
ab und diese erfordert einen selbstreflexiven Umgang mit der eigenen
Rolle in den kooperationsbezogenen beruflichen Erfordernissen. Spe-
zielle Muster der Kommunikation sowie ritualisierte Handlungsabläufe
sind Gegenstand der Reflexion.

10.3 Integration der Gefühlsarbeit in Aus-

und Weiterbildung

Damit das Konzept der Gefühlsarbeit bei den Professionals internalisiert
werden kann, muss es zum einen zum selbstverständlichen Bestandteil
einer modernen Pflegeausbildung werden und zum anderen einen fi-
xen Bezugspunkt in der Praxis ausweisen. Didaktisch ist mit Hilfe des
(Sich-) Spürens und Fühlens und der Verdeutlichung, was Beziehungen
sind und wie diese hergestellt werden können, zu arbeiten. Gefühle und
Emotionen sind als erstes bei jeder Lernenden über ihre eigenen Ge-
fühle und Emotionen anzusprechen. Ein vertrauensvolles Umfeld und
möglicherweise eine Art „Ehrenkodex“, im Rahmen der Aus- und Wei-
terbildung formulierte Gefühle nicht nach außen, an Dritte, zu tragen,
kann eine sine qua non sein. Die Arbeit an und mit Gefühlen ist praxis-
orientiert, so wie Gefühlsarbeit sich als Praxiskonzept verschrieben hat.
Die (re)produzierten Gefühle sind im Zuge des Lernens und des Umgangs
mit Gefühlsarbeit mit der Kognition zu verknüpfen. Es muss verinnerlicht
werden, welche Wirkung Gefühlsarbeit haben kann und was passiert,
wenn die Dimension der Emotionen und der Gefühle vernachlässigt wird.
Die Voraussetzungen für gelungene Gefühlsarbeit müssen in der Lehre
und in der Anwendung von Gefühlsarbeit allgegenwärtig sein. Deshalb
ist es sinnvoll, im Rahmen der Lehre vor allem in der Grundausbildung,
Gefühlsarbeit aufbauend über mehrere Semester anzubieten.

Aus- und Weiterbildung erfolgt aber nicht ausschließlich im Hörsaal,

sondern direkt in der Beziehung zu den Betreuenden und zu Pflegenden.
Die Pflegelehrerinnen als selbstverständliche institutionellen Coaches sind
ebenso wie die Mitglieder der Pflegeteams Vorbilder und agieren mit ho-
hem Reflexionsvermögen, hoher Sensibilität allen Beteiligten gegenüber und
handeln authentisch, d. h. sie bewahren die Prinzipien von Gefühlsarbeit.

69

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 Rahmenbedingungen von Gefühlsarbeit 

10.4 Integration der Gefühlsarbeit in die

Organisation

Jede Theorie muss in der Praxis geübt werden, was organisatorische Rah-
menbedingungen voraussetzt: Damit in der Zukunft die Nachhaltigkeit
gesichert werden kann, erachten die Autorinnen es als eine sine qua
non das Konzept in das Leistungssystem der Organisation zu integrieren.
Gefühlsarbeit erfordert ein Pflegesystem, in dem ein kontinuierlicher
Bezug zu Klientinnen möglich ist. Die Arbeit mit Menschen und ihren Ge-
fühlen muss als „klassische“ Arbeit ausgewiesen werden. Gefühlsarbeit
als erbrachte Leistung bedingt eine offene Wertediskussion zum Thema
Gefühlsarbeit – Qualitätssicherung des Unternehmens!

Nicht zuletzt müssen neue und / oder junge Kolleginnen im Team Vor-
bilder finden, die Gefühlsarbeit leben und diese Arbeit in Sprache auszu-
drücken vermögen. Folge ist die Sichtbarkeit, was Gefühlsarbeit ist und
wie es als Konzept ins Unternehmen integriert werden kann. Hat sich
ein Unternehmen für die Anwendung von Gefühlsarbeit bewusst aus-
gesprochen, müssen Instrumente zu deren Leistungsdarstellung parallel
implementiert werden. So kann der Wirkung von Gefühlsarbeit Rech-
nung getragen werden und ihre Ergebnisse mit anderen Forschungs-
daten in Bezug gebracht werden. Zu empfehlen ist, vor der Einführung
ein Implementierungskonzept zu erstellen, welches die Frage beantwor-
tet, wie das Konzept der Gefühlsarbeit unter anderem in das Leitbild als
auch in die Leit- und Richtlinien zu integrieren ist. Schriftlichkeit, welcher
Art auch immer, macht den Arbeitsprozess sichtbar und weist Gefühls-
arbeit als Leistung aus.

10.5 Offenheit in der Kommunikation

Offenheit gegenüber dem Phänomen der Pflege heißt Mut sich „zu zei-
gen“,
• sich anderen in seinem Sein zu öffnen,
• empfänglich für die Bedürfnisse anderer zu sein,
• Bereitschaft, sich überraschen zu lassen,
• Bereitschaft, das Wahrgenommene nicht sofort zu schubladisieren,
• Freude, Unbekanntes kennen lernen zu dürfen und
• sich im Zuge des Beziehungsprozess auch mögliche persönliche Be-

fangenheiten einzugestehen.

70

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 Offenheit in der Kommunikation 

Ein Klima des Vertrauens und der Empathie untereinander, in dem es
möglich wird, eigene spürbare Unverträglichkeiten anzusprechen, för-
dert Gefühlsarbeit. Eine Gegebenheit muss verbindlich eingelöst wer-
den. Jeder diagnostische Prozess ist mit der Klientin in einer für sie ver-
ständlichen Sprache zu besprechen. Jede Auffälligkeit und die sich daraus
abgeleiteten Diagnosen, Ziele und Ergebnisse sind mit der Klientin festzu-
schreiben. Welche Wirkung dieses konsequente Miteinbeziehen haben
kann, sei kurz mit zwei Forschungsbeispielen untermauert:

Die Herausforderung im Betreuungs- und Behandlungsprozess liegt in
der Identifikation des Verständnisses der Person von ihrem „Kranksein“
und von ihrem „Gesundsein“, denn „Paßt die Behandlung nicht zum
Verständnis der Person von ihrem Kranksein, wird der Heilungsprozeß
behindert und das Leid verstärkt.“
(Benner/Wrubel 1997, 30). Auf dieser
(gemeinsamen) Ebene von Betreuten und Betreuenden kann und soll Un-
terstützung für die Erreichung eines realistischen, von der zu gepflegten /
betreuten Person akzeptierten Ziels, ansetzen. Damit kann gewährleistet
werden, dass die zu Betreuende keine Behandlung erfährt, die sie zum
einen nicht braucht und zum anderen nicht wünscht. Ohne, dass Pati-
entinnen und Klientinnen verstehen, was mit ihnen zu welchem Zweck
im Gesundheitsprozess passieren kann und soll, können sie weder ei-
ner Behandlung zustimmen noch diese ablehnen.
Die Kommunikation
ist dabei der Schlüssel zur Patientin und Klientin. Hier zeigt sich: Kom-
munikation ist nicht gleich Kommunikation, darauf zielen speziell die
Ausführungen von Gefühlsarbeit ab.
Im Gegensatz zu den sehr plaka-
tiven Schwierigkeiten, wird wenig über die wesentlich bedeutenderen
Kommunikationshindernisse gesprochen: ein Nicht-Verstehen aufgrund
unterschiedlichen Professionsverständnisses zwischen Klientinnen und
Professionals. Miteinander zu kommunizieren ist mehr als das Hören
von Worten: es ist ein Verstehen, was sich hinter den Worten verbirgt.
Im Rahmen einer Studie im Rudolfinerhaus (vgl. Kühne-Ponesch et al.
2002) wurde unter anderem folgenden Fragen nachgegangen:

• Wie erfassen und interpretieren die Pflegenden das, was ihnen die

Patientinnen ihnen sagen und wie wird dies schriftlich ausgedrückt?

• Welche Realitäten werden durch die Benützung einer „Fachsprache“

abgebildet? Was wird ein- und was wird ausgegrenzt?

Pflegende und Gepflegte wurden nach einem Betreuungstag getrennt
voneinander zur Situation der Patientin interviewt. Die Ergebnisse ga-
ben tiefe Einblicke in die Kunst der Kommunikation bzw. Nichtkommu-

71

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 Rahmenbedingungen von Gefühlsarbeit 

nikation. Die Perspektiven von Patientinnen und Pflegenden konnten
unterschiedlicher nicht sein. Worte, die klar von den Patientinnen for-
muliert wurden, konnten von den Pflegenden großteils nicht richtig in-
terpretiert werden. Als Beispiel antwortete eine Patientin auf die Frage
„wie sie sich fühlt“ klar mit den Worten: „ich würde mich gut fühlen,
wenn…“
Eine klare Aussage, dass der Zustand von Wohlbefinden (noch)
nicht eingetreten ist. Die Pflegende, die ihr an diesem Tag zur Seite
stand, nahm diese Schwingung nicht wahr und stellt die Behauptung
auf, es gehe ihr gut. Die weitere Analyse der beiden Interviews zeigte
deutlich, dass in diesem Fall der Patientin die körperliche Pflege zugute
kam, die sie unmittelbar brauchte. Die Deutung der Bedürfnisse nach
deren Priorität kann jedoch kaum unterschiedlicher ausgelegt werden.
Die Patientin hatte deutlich Signale ihrer Ängste, ihres Unwissens be-
züglich ihrer Krankheit gesendet; diese wurden aber von der Pflegenden
nicht weiter aufgegriffen. Das, was die Patientin am meisten belastete,
ihre Unsicherheit, konnte keiner professionellen Bearbeitung zugeführt
werden, da der Interpretationsprozess der Pflegenden ein anderer war.
Die im Pflegeprozess abgeleiteten Diagnosen wurde von der Pflegenden
nicht mehr gemeinsam mit der Patientin besprochen. Die Patientin hatte
an diesem Betreuungstag keine Chance, ihre eigentliche Wahrnehmung
der Situation nochmals einzubringen.

In einer weiteren Arbeit (vgl. Kühne-Ponesch und Smoliner 2001) wurden
Pflegedokumente auf die Durchgängigkeit des Pflegeprozesses gesichtet.
Von Bedeutung war, welche in den Dokumenten angeführten und in der
Praxis verwendeten Diagnosen bei den Pflegenden zu welcher Definition
bzw. Assoziation sowohl bei den Pflegenden als auch bei den Patientin-
nen führte. Zweck war die Beantwortung der Frage, ob unter ein und
demselben Diagnosebegriff von den Professionals die gleiche inhaltliche
Beschreibung abgerufen werden konnte und ob die Nutznießerinnen von
Pflege, die Patientinnen, diese Art von Sprache verstanden bzw. wie sie
diese interpretierten. Das inhaltliche Verstehen einer Diagnose führt zur
Ableitung ganz bestimmter Maßnahmen. Eine Fachsprache, durch Dia-
gnosen ausgedrückt, sollte zur Vereinheitlichung und Professionalisie-
rung der Pflege führen, so die Wissenschaftlerinnen.: „Unter Pflegefach-
sprache wird die Definierung von disziplinspezifischen Pflegekonzepten
in einer eindeutigen, kulturell angemessenen, beruflichen Sprache ver-
standen, die durch Konsens von PflegeexpertInnen festgelegt, überprüft
und innerhalb der Disziplin akzeptiert und praktiziert worden ist.“
(van
Maanen 2001, 6).

72

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 Offenheit in der Kommunikation 

Welchen Konsens haben die Praktikerinnen der Diagnostik? Werden die
Begriffe in ähnlicher Weise sowohl von Patientinnen als auch von Pfle-
genden mit sinngemäß ähnlichen Worten ein- und ausgegrenzt? Für eine
größere Aussagekraft gingen wir methodisch ebenso den umgekehrten
Weg: Welche Formulierungen nennen Patientinnen und Pflegenden bei
gleicher Symptomdarstellung?

Zur Veranschaulichung ein Beispiel und dessen Ergebnis (wörtliche Über-
nahme aus einer Pflegeanamnese):

Der Patient steht nur nach Aufforderung auf, die Körperpflege muss voll-
kommen von den Pflegenden übernommen und auch das Essen muss ein-
gegeben werden; der Patient vermeidet jede Kontaktaufnahme und kann
keinen Augenkontakt aufnehmen; seine Stimme ist leise und zaghaft.“

Frei assoziierte Pflegediagnosetitel der Patientinnen:

„Lethargie“, „Selbstaufgabe“, „Hilflosigkeit“

Frei assoziierte Pflegediagnosetitel der Pflegenden:

„Fehlende Motivation zur Selbständigkeit“, Inaktivitätssyndrom“, „Schwä-
che“

Die in der Dokumentation formulierte Pflegediagnose lautet:

Rückzugstendenz (frei formulierte Pflegediagnose)

Was empfinden Patientinnen bei dieser Aussage?

„empfinde das als negatives Urteil“

„die Pflegende sagt, dass ich ihr misstraue“

„klingt unangenehm“

„negative Aussage“

„kann mir darunter nichts vorstellen“

Was sagt uns dieses und viele ähnliche Beispiele? Pflegeprofessionals
untereinander leiten bei gleich lautender Symptomatik durchaus un-
terschiedliche Diagnosen ab. Das gleiche gilt für Patientinnen; diese
haben im Gesundheitswesen im Gegensatz zu den Pflegenden meis-
tens den Status eines Laien. Die Konfrontation der Patientinnen mit
den Diagnosetiteln bewirkt eine Irritation: die verwendeten Begriffe sind
meist nicht im Wortschatz der Gepflegten und finden im Alltag keinen
Gebrauch. Viele Beobachtungen und Rückmeldungen von Patientinnen

73

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 Rahmenbedingungen von Gefühlsarbeit 

machen verstärkte Bemühungen um Verständlichkeit der Gesundheits-
professionals notwendig. Jendrosch (1998, 55) unterstreicht: „Wenn
Sprache nicht korrekt ist, dann vermittelt das Gesagte nicht das Ge-
meinte; wenn das Gesagte nicht das Gemeinte ist, dann bleibt, was zu
tun, ungetan.“
Der Koproduzent „Gesundheitsprofessional“ verfehlt sei-
nen Beitrag zur Unterstützung der Gesundung und Förderung des Wohl-
befindens. Nicht zuletzt ist die Art und Weise wie kommuniziert wird
eine Frage der Haltung der Professionals!

Diese Beispiele zeigen uns nochmals wie wichtig offene Kommunikation
ist; mit wem ich als Mensch was kommuniziere ist in vielen Fällen eine
Frage des Vertrauens! Wer hat mein Vertrauen, Ängste anzusprechen?
Wer hat mein Vertrauen, Unsicherheiten zu klären? Menschen, mit de-
nen wir positive Beziehungen leben und die in uns positive Gefühle we-
cken, sind Ansprechpartner unseres Vertrauens. Ihnen hören wir zu und
von ihnen lassen wir uns beraten. Der Kontakt zu solchen Menschen gibt
uns Sinn, schafft Geborgenheit und gibt uns Sicherheit, weil wir wissen,
es gibt sie und sie sind für uns da.

Das Kapitel möchten die Autorinnen mit den Worten von Claudio Kür-
ten

12

(1998, 3) abschließen:

„Meine Sehnsucht,
auch als Patient
ganzheitlich
als
Mensch
wahr-genommen
zu werden,
hat eine
entscheidende
Voraussetzung:
daß auch
die Mitarbeiter/innen
in Kliniken
ganzheitlich
gesehen,
geführt
und eingesetzt
werden.“

12

Claudio Kürten lag nach einem Unfall ein Jahr im Spital.

74

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 Fallbeispiele zum Thema: Identitätsarbeit 

11

Fallbeispiele

Die Fallbeispiele sind nach dem definierten Gefühlsprozess aufgebaut,
wobei sich die Reihenfolge der Module sich nach den Bedürfnissen der
Klientinnen richtet. Es werden sowohl kleine, scheinbar einfach (struktu-
rierte) Prozesse als auch Prozesse mit höherer Komplexität dargestellt.
Damit möchten die Autorinnen das breite Spektrum von Gefühlsarbeit
darstellen. Wir weisen auch darauf hin, je nach Persönlichkeit und Erfah-
rung der Pflegenden und je nach Persönlichkeit der Klientinnen sowie un-
terschiedlicher organisatorischer Rahmenbedingungen weist Gefühlsar-
beit verschiedene Varianten auf. Das Ergebnis von Gefühlsarbeit müsste
immer eines sein: die Verbesserung der Gefühls- und Emotionssituation
der Betroffenen.

In all den dargestellten Beispielen kamen immer alle Prinzipien zum
Einsatz:
Prinzip der Gegenwart.
Prinzip der Dienstleistung.
Prinzip der Normalität / Individualität.
Prinzip der Geschichtslosigkeit.
Prinzip der Authentizität.
Prinzip der Freiwilligkeit.
Prinzip der Bedingungslosigkeit.
Prinzip der Ressourcenorientierung.

Alle Fallbeispiele sind in verkürzter bzw. verdichteter Form dargestellt.

11.1 Fallbeispiele zum Thema:

Identitätsarbeit

11.1.1 Ein Beispiel einer Frau, die nicht immer sagt, was sie

sich denkt

Frau Bauer (Name geändert) ist 74 Jahre alt und lebt seit vier Jahren nach
einem Schlaganfall im Pflegeheim. Sie ist vom Beginn an in Pflegestufe
sechs eingestuft. Sie ist nicht in der Lage selbständig aus dem Bett und /
oder aus dem Sessel aufzustehen. Frau Bauer ist übergewichtig und ist
in allen Bereichen orientiert.

75

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 Fallbeispiele 

Irritation – Auslöser für Gefühlsarbeit
Es fällt auf, dass in den Dienstübergaben der Organisation häufig fol-
gende Zuschreibung gegenüber Frau Bauer getroffen werden: Frau Bauer
bewege sich nicht gern, man müsse ihr alles machen. Aus den Aussagen
werden keine Maßnahmen abgeleitet.

Modul – Erkennen der Ressourcen / Auffälligkeiten
Ressourcen Frau Bauer:
• Ist in allen vier Bereichen (örtlich, zeitlich, zur Person und situativ)

orientiert.

• Kann in Begleitung gehen.
• Kann sich den Oberkörper selbständig kleiden.
• Kann selbständig essen und trinken.
• Ist sich ihrer körperlichen Einschränkung bewusst und spricht diese auch

an (siehe Dialog zwischen Pflegeexpertin und Frau Bauer, Seite 75).

Auffälligkeiten Frau Bauer:
• Kommt von der Liegeposition (Bett) nicht in die Sitzposition (Querbett)
• Kann aus einem Sessel nicht aufstehen.

Ressourcen Institution / Betreuungsperson:
• Betreuungspersonal ist auf das Verhalten von Frau Bauer sensibilisiert.
• Sind gegenüber Beratung von außen geöffnet.

Auffälligkeiten Institution / Betreuungspersonen:
Das Betreuungsmuster (Pflege nach Standard) und das Bewertungsmus-
ter (es werden Aussagen getroffen, dass Frau Bauer nicht willig ist, sich
am Pflegeprozess zu beteiligen und dadurch durch Passivität auffällt)
wiederholen sich immer wieder. Das Verhalten von Frau Bauer führt
nicht zu Pflegehandlungen im Sinne der Veränderung der Situation.

Modul – Formulierung einer Gefühlsdiagnose (1)
Es fällt auf, dass Frau Bauer beim Erstkontakt vorrangig körperliche Ein-
schränkungen thematisiert. Aus diesem Grund werden diese in die For-
mulierung der Gefühlsdiagnosen aufgenommen.

Frau Bauer:
• Beeinträchtigtes Gehen.
• Beeinträchtigter Transfer.
• Unfähigkeit sich den Unterkörper zu pflegen und zu kleiden.
• Verlorene Selbstbestimmung.

76

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 Fallbeispiele zum Thema: Identitätsarbeit 

Organisation:
• Team stigmatisiert Frau Bauer.

Modul – Setzen einer Betreuungshandlung / Anwendung
von Gefühlsarbeit
Die Pflegeexpertin sucht den Kontakt zu Frau Bauer über ihren jetzigen
Gesundheitszustand. Es wird am Vortag um ein Gespräch bezüglich ih-
rer Situation gebeten und für den nächsten Tag ein Termin vereinbart.
Zur Vorbereitung bittet die Pflegeexpertin Frau Bauer ihren aktuellen
Pflegeplan durchzulesen.
Sie bedient sich dabei der seit Anbeginn geführten Sozial- und Pflegeana-
mnese.
In einem Dialog mit dem Professional äußert sie bereits nach zirka ein-
einhalb Minuten den Wunsch mehr gehen zu wollen (sich mehr bewegen
zu wollen).

„…Gibt es Wünsche Ihrerseits Frau Bauer?“
„Ich möchte mehr laufen.“
„Warum laufen Sie derzeit nicht?“
„Weil ich es nicht mehr kann.“
„Haben Sie den Willen es wieder zu erlernen.“
„Den Willen habe ich schon.“

Es wird ein Versuch unternommen, der als erste Prüfung ihrer Kraft
und Gehfähigkeit gilt, sie zum Aufstehen und Gehen zu mobilisieren.
Durch geringfügige technische Anleitungen gelingt es Frau Bauer aus
dem Sessel aufzustehen.
Die Pflegeexpertin signalisiert ihr, diesen Wunsch in das tägliche Trai-
ning auf zu nehmen. Zusätzlich fokussiert die Pflegeexpertin auf eine
mögliche Bedeutsamkeit, die vor vier Jahren in der Sozialanamnese fest-
gehalten wurde (und seit diesem Zeitpunkt keine weitere Beachtung
erfuhr). Es handelt sich um das Nichtaussprechen von Wünschen. Und
weiter im Dialog:

„… Gibt es von Ihrer Seite noch andere Wünsche?“
„Eigentlich nicht.“
„Wenn Sie so in sich hineinschauen
(Professional legt sich in der Situation
die Hand auf die Brust) haben Sie noch Wünsche?“
„Das ich nach Hause will.“
„Dass Sie nach Hause möchten?“
„Ja.“

77

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 Fallbeispiele 

„Wohin nach Hause?“
„In eine Wohnung.“
„Haben Sie ihre Wohnung noch?“
„Nein, die haben wir aufgelöst.“
Heißt das, dass Sie den Wunsch nach einer neuen Wohnung haben?“
„Ja.“
„Welche Wohnung hätten Sie den gerne?“
„Eine einfache Wohnung mit zwei Zimmern.“
„Und Sie trauen sich zu, dort wieder alleine und selbständig zu wohnen?“
„Ja.“
„Haben Sie das schon einmal mit jemandem besprochen?“
„Nein.“
„Auch nicht mit Ihrer Tochter?“
„Nein, auch nicht.“
„Und auch nicht mit Ihrer Freundin?“
„Nein. Aber es ist ein großer Wunsch von mir.“

Ein Erstkontakt zur Klientin erfolgte aufgrund der kulturellen

Normung häufig über die Körperlichkeit.

Modul - Formulierung einer Gefühlsdiagnose (2)
• Vermutet verlorene Identität.

Die Pflegeexpertin trifft mit ihr die Vereinbarung, dass sie diesen
Wunsch, wieder nach Hause zu gehen, mit ihrer Tochter und ihrer Freun-
din bespricht und mit diesen auf realistische Umsetzung bewerten. Hilfe-
stellung bezüglich des Gespräches mit ihrer Tochter und Freundin durch
die Pflegeexpertin lehnt Frau Bauer ab. Sie will alleine mit jenen Perso-
nen, die ihr am nächsten sind, sprechen. Die Pflegeexpertin verspricht
ihr, die Pflegedokumentation, aus Sicht der Pflege in Bezug auf einen
zukünftigen Ortswechsel, zu prüfen. Frau Bauer versichert, dass es ihr
Wille sei, das Pflegeheim zu verlassen.

Modul – Bewertung der Gefühlsdiagnose durch die
Bewohnerin
Wenn Angebote gesetzt werden, nimmt Frau Bauer Selbstbestimmung
wahr (möchte das Gespräch mit Tochter und Freundin ohne Beisein einer
Betreuungsperson führen).

In einem Gespräch wird Frau Bauer die Bedeutung ihrer Mithilfe vor

Augen geführt. Weiters wird sie auf die Wichtigkeit hingewiesen, ihre
Möglichkeiten und Grenzen den Professionals während ihrer Unterstüt-

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 Fallbeispiele zum Thema: Identitätsarbeit 

zung mitzuteilen. Sie gibt zu erkennen, dass sie diese Vorgehensweise
mitträgt.

Modul – Formulierung des / eines gemeinsamen Pflege- /
Betreuungszieles und Festlegen des Outcomes
• Kann Motive nennen, für die sich ihr Mobilitätstraining lohnt.
• Bringt verbal und / oder nonverbal Freude über erreichte Ziele zum

Ausdruck.

• Formuliert was sie will und was sie nicht will.
• Zeigt konstruktives Verhalten beim Angebot von Perspektiven und

Chancen, welche sie selbst verfolgen kann.

• Legt sich selbst den Zeitplan für das Erreichen des Zieles fest.
• Das Team findet wieder Freude in der Arbeit mit Frau Bauer.
• Kann in drei Monaten aus dem Bett bzw. Sessel aufstehen und gehen.
• Ist in der Nacht kontinent.
• Gibt zu erkennen, dass sie ihren Wunsch nach Hause zu gehen, ver-

folgt (dranbleiben).

Die Pflegeexpertin sieht eine realistische Chance, dass Frau Bauer diese
Ziele in drei Monaten erreichen kann. Frau Bauer stimmt ihr in einem
gemeinsamen Gespräch zu.
• Teammitglieder bringen sich selbst in den Diskurs der Bewohnerin-

nenbetreuung ein und äußern und bewerten von sich aus in konstruk-
tiver Weise den Betreuungszustand von Frau Bauer. Stigmatisierungen
werden aufgebrochen.

Modul – Regelmäßiges Messen des Outcomes und
gemeinsames Abgleichen der Zielsetzung
• Ist auch in der Lage bei veränderten Situationen alternative Lösungen

für sich zu finden (Umzug ins Eigenheim ist nicht möglich, alternative
Lösung ist die Übersiedelung vom Pflegebereich in den Wohnbereich
der Betreuungseinrichtung).

• Erlangt ihre Selbstbestimmung wieder (verbalisiert immer ihre Mög-

lichkeiten und Grenzen. Widersetzt sich massiv gegen eine Betreu-
ungsperson, die ihr in der Vergangenheit Gewalt angetan hat).

• Hat ihre Harninkontenz nach drei Monaten im Griff.
• Kann nach drei Monaten selbständig aus dem Bett und aus dem Sessel

aufstehen.

Sie scheint ihre Identität wieder gefunden zu haben, denn sie spricht
häufig von zu Hause.

79

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 Fallbeispiele 

Frau Bauer verbessert sich von August bis November von der Pfle-

gestufe sechs in die Pflegestufe 4. Das Team zeigt nach drei Monaten
spürbar erhöhte Motivation in der Betreuung von Frau Bauer und äu-
ßert stolz gemeinsam mit Frau Bauer die Ziele erreicht zu haben.
Das neue Ziel ist die Erhaltung der wiedererlangten Fähigkeiten von Frau
Bauer.

Modul – Setzen einer Betreuungshandlung / Anwendung
von Gefühlsarbeit
Frau Bauer:
Frau Bauer achtet selbständig auf die Einhaltung ihres Pflegeplanes. Ihre
Disziplin und hohe Motivation wird von den Betreuungspersonen gelobt.
Sichtbare Verbesserungen in den Trainingseinheiten werden Frau Bauer
durch die Betreuungspersonen sichtbar gemacht. Die im Vorfeld defi-
nierten Distanzlängen beim Gehen werden gemeinsam mit Frau Bauer
am Ende des Tages bewertet.

Zwei Wochen nach Therapieplan erfolgt der erste Ausgang nach

Hause. Die Gesamtorganisation des Ausganges wird von der Tochter
übernommen. Die Familie grillt im Garten. Frau Bauer ist sehr angetan
und glücklich nach dem Besuch zuhause was sich als zusätzlicher starker
Motivator zeigt. Eine Woche später erfolgt der zweite und letzte Besuch
nach Hause. Im Anschluss an diesen Ausgang vermittelt die Tochter dem
Betreuungsteam, dass für sie eine Rückführung nicht in Frage kommt.
Sie bittet darum, die Mutter im Glauben zu lassen, sie wäre zuhause
willkommen. Es stellt sich heraus, dass in der Wohnung, die ihr von der
Tochter in den letzten Jahren immer wieder angeboten wurde, der Enkel
von Frau Bauer lebt.

Über die Pflegedienstleitung vermittelt das Betreuungsteam der

Tochter die Dringlichkeit, die Mutter persönlich darüber zu informie-
ren, dass eine Rückführung von ihrer Seite aus nicht möglich und nicht
gewünscht ist. Dieses Gespräch zwischen Mutter und Tochter erfolgt.
Anschließend zieht sich die Tochter für zirka ein halbes Jahr aus der Be-
ziehung zu ihr zurück. Trotz Enttäuschung und Ärger über die Handlungs-
weise ihrer Tochter zieht Frau Bauer ihr Trainingsprogramm weiter durch.

Irgendwann im Laufe dieser drei Monate äußert Frau Bauer den

Wunsch aus dem Pflegebereich in den Wohnbereich der Einrichtung zu
übersiedeln. Diesem Wunsch kann leider nicht nachgekommen werden,
da Frau Bauer für diese private Einrichtung nicht über die notwendigen,
finanziellen Mittel verfügt. Öffentliche Förderungen werden nur für ein
Pflegebett gewährt.

80

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 Fallbeispiele zum Thema: Identitätsarbeit 

Team:
• Die Pflegeberaterin erarbeitet gemeinsam mit dem Team den über

drei Monate laufenden Entwicklungsplan.

• In Absprache mit der Pflegedirektorin erfolgen individuelle, persönli-

che Gesprächen zwischen Pflegeberaterin und Teammitgliedern. Ziel
ist die Zusammenstellung einer Gruppe von Personen, welche sich
sowohl mit dem Betreuungsplan identifizieren können als auch die
Betreuung von Frau Bauer als Herausforderung sehen.

• Die Zuteilung der jeweiligen Betreuungsperson erfolgt täglich.
• Den Pflegenden wird die Möglichkeit gegeben mit dem Professional

(hier Pflegeexpertin) jederzeit Rücksprache zu halten und sie erhal-
ten besondere Anweisungen aktivierend tätig zu sein und sich in den
Hilfsangeboten an Frau Bauer zurück zu nehmen.

Es stellt sich nach einer Zeit heraus, dass eine Person in diesem speziell
zusammengesetzten Team nicht mit Frau Bauer harmoniert. Dies führt
dazu, dass Frau Bauer eines Tages ihr den Zutritt in ihr Zimmer verwehrt
und betont, mit dieser Person nichts mehr zu tun haben zu wollen.
In der Reflexion des Konfliktes stellt sich heraus, dass Frau Bauer und
die Pflegende auch in der Vergangenheit immer wieder Zwistigkeiten
austauschten.
Dem Wunsch von Frau Bauer wird nachgekommen. Die betroffene Be-
treuungsperson erhält einige Beratungsgespräche mit der Pflegeberate-
rin um die Situation zu verstehen.

11.1.2 Beispiel einer Frau die vorgibt, einen Schlaganfall zu

haben

Als die heute 83jährige Frau Angler (Name geändert) vor mehreren Jah-
ren in die Betreuungseinrichtung einzieht, bedarf sie keiner Betreuungs-
leistung.

Irritation – Auslöser für Gefühlsarbeit
Vor zirka einem Jahr und bis heute anhaltend behauptet sie konsequent,
einen Schlaganfall erlitten zu haben, nichts mehr zu sehen und völlig
hilflos zu sein. Die medizinische Abklärung erbringt kein körperliches De-
fizit, welches den Schlaganfall von Frau Angler mit vorgegebener Halb-
seitenlähmung bestätigt. Die Beständigkeit mit der Frau Angler ihren
Schlaganfall verbalisiert, führt beim Pflege- und Betreuungspersonal im-
mer wieder zu Unmutsäußerungen. Fühlt sich Frau Angler unbeobach-
tet, steht sie selbständig vom Bett auf und geht alle Strecken innerhalb

81

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 Fallbeispiele 

ihres Appartements. Wird sie spontan auf diese beobachtete Tatsache
vom Betreuungspersonal angesprochen, bestreitet sie dies vehement
und verfällt augenblicklich in die Rolle der halbseitig Gelähmten.
Im Rahmen einer internen Schulung wird der Pflegeberater mit der Ge-
schichte von Frau Angler bekannt gemacht.
Im Anschluss daran macht dieser dem Team den Vorschlag in der Rolle
des Geschichtslosen ohne Begleitung einer Mitarbeiterin Kontakt zu Frau
Angler aufzunehmen. Sollte es bei diesem Kontakt zu keinen Abwehrre-
aktionen seitens Frau Angler kommen, würde er die zu leistende „Mor-
genbetreuung“ für die laufende Woche (Montag bis Freitag) überneh-
men. Der Vorschlag wird vom Team angenommen.

Modul – Erkennen der Ressourcen / Auffälligkeiten
Der Erstkontakt verläuft ohne Abwehrreaktionen von Seiten Frau Anglers
und so übernimmt der Pflegeberater eine Woche lang die bei ihr am
Vormittag zu leistende Pflegearbeit.
Schon unmittelbar nach dem Vorstellungsgespräch fällt dem Pflegebe-
rater auf, dass sich Frau Angler im Bett alleine drehen und aufsetzen
kann. Des Weiteren kann sie sich ohne Hilfe vom Bett auf den neben
dem Bett stehenden Sessel setzen. Der Prozess des Ankleidens dauert
eine halbe Stunde. Was dem Pflegeberater auffällt ist die Tatsache, dass
sie die Ankleidung selbst durchführt.

Ressourcen Frau Angler:
• Gibt an wann und welchen Kontakt sie zu Mitbewohnerinnen aufneh-

men möchte.

• Setzt Ressourcen (siehe oben) im Beisein von (geschichtslosem) Pfle-

geberater ein.

Auffälligkeiten Frau Angler:
• Sagt nachhaltig einen Schlaganfall erlitten zu haben.
• Lebt die Symptomatik des Schlaganfalls wenn sie sich von bekannten

Betreuungspersonen beobachtet fühlt.

• Bittet in einer leidenden Sprachmelodie um Hilfe.
• Kaum nimmt sie eine Betreuungsperson in ihrer Umgebung wahr, gibt

sie Zeichen von Schwindel und / oder Gelähmtheit vor und versucht
sich krampfhaft irgendwo fest zu halten. Einmal sei sie dabei auch
schon gestürzt. „Gott sei Dank habe ich mich nicht verletzt.“, so Frau
Angler.

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 Fallbeispiele zum Thema: Identitätsarbeit 

Die von Montag bis Mittwoch der laufenden Woche im Rahmen der
Morgenarbeit gemachten Beobachtungen des Pflegeberaters sind:
• Eingeschränkte Beweglichkeit der Arm-, Hand-, Bein- und Fußgelenke.
• Eingeschränkte Feinmotorik was besonders beim Schließen von Knöp-

fen zur Geltung kommt.

• Sieht schlecht.
• Gebückte Haltung beim Stehen und Gehen.
• Geht in kleinen Schritten.

Auffälligkeit der Betreuungspersonen:
• Die Betreuungspersonen geben diesem „Leiden“ nach.
• Frau Angler wird im Team als „nervig“ stigmatisiert.
• Die Äußerungen von Frau Angler werden nicht mehr ernst genommen.
• „Alle Mitarbeiterinnen des Teams haben sich über das Verhalten von

Frau Angler geärgert“, so die Aussage einer Pflegenden.

Modul – Formulierung einer Gefühlsdiagnose
Vor der Formulierung der Gefühlsdiagnose erinnert sich der Pflegebe-
rater an einen Text geschrieben von Peter Turrini (2002, 26) in seinem
Buch – Ein paar Schritte zurück:

Im Schlafzimmer
wurde nur eingeheizt
wenn ich Husten hatte.

Tagsüber im Bett liegen
durfte ich nur
mit Fieber.

Etwas Feines zum Essen
bekam ich ausschließlich
bei Durchfall.

Das schönste Leben
und die größte Aufmerksamkeit
dachte ich immer
haben die Todkranken.

Die Botschaft, welche für den Pflegeberater in diesen Worten liegt, lassen
ihn nun folgendes festhalten:
• Begibt sich in die Rolle der Patientin um Aufmerksamkeit zu bekom-

men.

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 Fallbeispiele 

• Versucht über ihre vorgegebene Krankheit Identität zu gewinnen und

verliert dadurch als Frau Angler ihre Identität.

• Fühlt sich nicht ernst genommen und bedeutungslos.
• Dies zeigt sich in folgendem Verhalten und Äußerungen:

Häufiges Läuten.
„Niemand glaubt mir, dass ich mir beim Aufstehen so schwer tue.“
„Für mich hat niemand Zeit.“
„Das
(mein Gesundheitszustand) wird immer schlechter.“
„Ich kann nicht!“

Über die Gefühlsebene können Körperlichkeiten wieder wahr-
genommen und hergestellt werden. (Durch die verbale Refle-
xion der erbrachten Leistung beim Ankleiden fühlt sich Frau
Angler ernst genommen und übernimmt die Selbstfürsorge
beim Kleiden.)

Modul – Setzen einer Betreuungshandlung / Anwendung
von Gefühlsarbeit
• Verbalisierung der Leistung von Frau Angler in Bezug auf ihre Selbst-

pflege im Rahmen der Betreuungsarbeit durch die Betreuungsperso-
nen.

Beispiele:

Frau Angler sagt: „Das Aufstehen (aus dem Sessel) geht schlecht.“
Die Betreuungsperson antwortet: „Ich habe Ihre Anstrengungen beim
Aufstehen wahr genommen. Was ich auch wahrgenommen habe ist,
dass Sie es geschafft haben und jetzt stehen.“
Frau Angler sagt während des Ankleidens ihrer Strümpfe: „Das ist
alles so schwierig.“
Die Betreuungsperson antwortet: „Und Sie versuchen es trotzdem. –
Sie sind für mich bewundernswert.“
Frau Angler zeigt auf ihr Knie und sagt: „Mit dem kann ich gar nichts
mehr machen.“
Die Betreuungsperson antwortet: „Und trotzdem sind Sie vom Bett
aufgestanden und haben sich auf ihren Sessel gesetzt.“
Frau Angler sagt: „Mich strengt das alles so an.“
Die Betreuungsperson antwortet: „Und Sie tun es trotzdem für sich.
Sie sind für mich ein großes Vorbild.“

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 Fallbeispiele zum Thema: Identitätsarbeit 

Modul – Bewertung der Gefühlsdiagnose durch die
Bewohnerin
Am Mittwoch der laufenden Woche gelingt es Frau Angler das erste Mal,
sich beide Strümpfe an zu ziehen. Nachdem ihr von Seiten des Pflegebe-
raters Anerkennung ausgedrückt wird sagt sie: „Ich werde im Alter tüch-
tig. Trotzdem es mich sehr anstrengt möchte ich es auch in Zukunft so weit
wie möglich selbst machen.“
Hier kommt über den Hauptarbeitsprozess
(wie bei Strauss et al. 1980) für den Pflegeberater ein Ernst genommen
werden zum Ausdruck.

Modul – Formulierung des / eines gemeinsamen Pflege- /
Betreuungszieles und Festlegen des Outcomes
• Frau Angler kann Aufmerksamkeit durch Betreuungspersonen für sich

wahrnehmen.

Durch das Erreichen dieses Zieles soll vermieden werden, dass sich Frau
Angler im Zustand mangelnder Aufmerksamkeit erlebt. Durch die Ver-
meidung dieses Zustandes kann sie die Rolle der Kranken ablegen. In
einem ersten Schritt soll der mangelnden Aufmerksamkeit entgegen-
gewirkt werden. Um einem nochmaligen Gefühl des Identitätsverlustes
präventiv entgegen zu wirken, soll in einem zweiten Schritt nach dem-
entsprechenden Maßnahmen gesucht werden.

• Frau Angler erreicht in den Bereichen der Körperpflege, des Kleidens

und der Mobilität in ihrem Appartement Selbständigkeit.

• Frau Angler verbalisiert ohne physischen Grund keine weiteren Krank-

heitsbilder.

• Frau Angler spricht über ihre Gefühlszustände.
• Die Betreuungspersonen können ihre Wahrnehmung gegenüber po-

tentieller Symptome steigern.

Modul – Festlegen des möglichen Outcomes durch die
Bewohnerin
• Wird wieder selbständiger – Körperlichkeit.
• Fällt ohne wirkliche physische Ursachen nicht mehr in die Rolle der

Kranken (erlebt Krankheit nicht als Gewinn, erlebt über Kranksein
keine Identität).

Patientinnen, wie Frau Angler, verwenden Ausdrücke wie „Identität los
sein“, nicht. Diese Worte sind nicht in der Alltagssprache der zu Be-
treuenden zu finden. Es werden zwischen Professional und Frau Angler

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 Fallbeispiele 

Maßnahmen vereinbart, um nicht wieder in die Rolle der Hilfsbedürf-
tigen zu fallen. Ebenso wird vereinbart, dass Frau Angler sich meldet,
wenn sie Hilfe benötigt.

Modul – Setzen von weiterer Gefühls- / Pflegearbeit
• Sensibilisierung des Teams im Rahmen von gezielten Gesprächen bei

Teambesprechungen und bei Dienstübergaben in Bezug auf Sympto-
matik und deren Ursachen um einen Rückfall in das alte Verhalten
(Krankheit als Gewinn) zu verhindern.

• „Selbstpflege“, für die sie vom Pflegeberater in jeder Sequenz Aner-

kennung erhält.

Die vom Pflegeberater gewählte Vorgehensweise bei der Maßnahmen
„Selbstpflege“ am Donnerstag und Freitag der laufenden Woche soll
durch die gewählte Erzählform verdeutlicht werden:

Wie am Vortag ist Frau Angler im Beisein des Pflegeberaters selbstän-
dig aufgestanden, ins Bad gegangen, hat die Körperpflege selbständig
durchgeführt und sich anschließend selbständig gekleidet. Der Pfle-
geberater ist „einfach“ da und spricht Frau Angler für ihre erbrachte
Leistung Anerkennung aus. Nachdem Frau Angler auch ihr letztes
Kleidungsstück, eine für sie typische Kleiderschürze, selbständig an-
gezogen hat sagt der Pflegeberater: „Danke“! „sie sind ein großes
Vorbild für mich.“
Und nach einer kleinen Pause fragt er: „Ist es ihnen
recht wenn ich jetzt das Frühstück serviere und einen Kaffee mit ihnen
trinke?“
„Das ist mir sehr recht“
, erwidert Frau Angler. Während sie das sagt
steht sie aus dem Sessel auf und geht zum Tisch um sich dort wieder zu
setzen. Sie geht langsam und jeder der sie beobachtet kann erkennen,
dass sie jeden Schritt ganz bewusst setzt und sie etwas außer Atem
ist als sie zum Pflegeberater sagt: „Ich freue mich schon wenn sie mit
dem Frühstück wiederkommen.“
Beim ersten Zusammentreffen begegnete der Pflegeberater einer
Frau die vorgab einen Schlaganfall erlitten zu haben, nichts zu se-
hen und völlig hilflos zu sein. Er begegnete einer Frau die versuchte
aus Krankheiten einen Gewinn für sich herauszuschlagen.
Jetzt ist sich der Pflegeberater sicher: Die Frau, welche soeben durch
das Zimmer ging hatte nichts mehr mit ihr zu tun.
Am Donnerstag- und Freitagnachmittag besuchte der Pflegeberater
Frau Angler in ihrem Zimmer. Und da er weiß, dass Frau Angler gerne
Kaffee trinkt und er ihr eine kleine Freude machen will, nimmt er

86

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 Fallbeispiele zum Thema: Identitätsarbeit 

diesen zu jedem Besuch mit. Während dieser gemeinsam verbrachten
Zeit am Donnerstag fragt der Pflegeberater Frau Angler ob er etwas
für sie tun kann.
„Ja“, antwortet Frau Angler, „morgen wieder kommen.“
Diesen Wunsch erfüllt ihr der Pflegeberater gerne.
Am Ende eines jeden Besuches, also auch am Freitag steht Frau Angler
gemeinsam mit dem Pflegeberater auf und geht mit ihm bis zur Türe
ihres Appartements. Dort angekommen greift sie auf die Türschnalle,
öffnet die Türe und sagte: „Schön dass sie mich besucht haben.“
Am Donnerstag sagt sie dann noch nach einer kleinen Pause: „Also
dann – bis morgen.“
Nach dem am Freitag gemeinsam getrunkenen Nachmittagskaffee
verabschiedet sich der Pflegeberater: „Danke für die schöne Zeit, die
ich mit ihnen, Frau Angler, verbringen durfte.“
„Gerne“
, antwortet Frau Angler und dann steht sie gemeinsam mit
dem Pflegeberater auf geht mit ihm bis zur Türe ihres Appartements
und öffnete die Türe.
Der Pflegeberater nimmt ihre Hand und als er Frau Angler in die
Augen sieht lächelt diese. Sie schüttelt ihm die Hand, lässt diese dann
ganz langsam los und dann winkt sie ihm. Sie winkt zum Abschied.
Und der Pflegeberater winkt zurück. Dann dreht er sich um und geht.
Und was er in diesem Augenblick als besonders schön erlebt, ist das
gute Gefühl in ihm.

Die Module Bewertung des Outcomes durch die Bewohnerin, Bewer-
tung des Outcomes durch den Professional, Regelmäßiges Messen des
Outcomes und gemeinsames Abgleichen der Zielsetzung waren insofern
bedeutungslos, als die Auffälligkeit behoben wurde. Ein wieder in das
Muster der Kranken zurückzufallen würde sofort bemerkt werden.

Die Identitätsarbeit bei Frau Angler umfasst fünf Tage: Am ersten Tag
eineinhalb Stunden, die weiteren drei Tage zirka eine Stunde und am
fünften Tag zirka eine halbe Stunde. Diese Stundenaufteilung ist keine
absichtlich gesetzte, sondern resultiert aus der von ihr selbst ausgeführ-
ten Tätigkeiten.

11.1.3 Das Beispiel einer Frau, die keine Hilfe annehmen

kann

An diesem Beispiel kann gesehen werden, dass mit einem Modul gleich-
zeitig Fragen mehrerer Module beantwortet werden.

87

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 Fallbeispiele 

Frau Glück (Name geändert) lebt seit einem halben Jahr in der Betreu-
ungseinrichtung. Vor zirka vier Monaten fällt den Betreuungspersonen
auf, dass Frau Glück am Morgen in einem nassen Bett liegt, dies jedoch
verneint. In den letzten Wochen verstärkt sich diese Tendenz insofern
als sie sich weigert aus dem nassen Bett aufzustehen. Dieses Verhalten
zieht sich an manchen Tagen über mehrere Stunden.

Irritation – Auslöser für Gefühlsarbeit
Am 16. Februar steht der Pflegeberater vor dem Bett von Frau Glück.
Diese liegt auf einem von Harn durchtränkten Leintuch. Den Guten-Mor-
gen-Gruß erwidert sie mit den Worten:

„Lassen Sie mich in Ruhe! – Sprechen Sie nicht so laut! – Ich brauche
nichts von Ihnen!“
Nach Betreten einer weiteren Pflegeperson, die Frau Glück zum Auf-
stehen bewegen will, antwortete diese: „Gehen Sie scheißen!“
Die Pflegende dreht sich wortlos um und verlässt das Zimmer.
Zehn Minuten später betritt eine weitere Pflegeperson das Zimmer.
Die Beiden sprechen über das schlechte Wetter und andere Alltagsthe-
men. Über das auffallend nasse Leintuch sprechen sie fast eine halbe
Stunde lang nicht. Doch nach dieser halbe Stunde, die Betreuungsper-
son dürfte sich jetzt ein Herz gefasst haben, sagt sie zu Frau Glück:
„Ich mache mir ein bisschen Sorgen um Sie.“
„Wieso?“
fragt Frau Glück.
„Dass Sie sich nicht verkühlen.“
„Wieso soll ich mich verkühlen?“
fragt Frau Glück zurück.
„Weil Ihr Bett nass ist“, entgegnet die Betreuungsperson.
Unmittelbar nachdem sie dies ausgesprochen hat, atmet sie tief durch.
„Ich brauche von Ihnen keine Belehrung! Ist das klar!“ so Frau Glück.
Es entsteht eine kurze Pause. Die Betreuende verabschiedet sich und
sagt Frau Glück, dass sie wiederkommen würde.
Frau Glück ergreift die Zeitung und beginnt in dieser zu lesen.

Modul – Setzen einer Betreuungshandlung / Anwendung
von Gefühlsarbeit
Unmittelbar nach diesem Ereignis nähert sich der Pflegeberater Frau
Glück, welche den Kopf hebt und ihm ein Lächeln schenkt.

„Frau Glück, es ist schön, von Ihnen ein Lächeln geschenkt zu bekom-
men. Für mich ist es ein Zeichen, dass Sie mich gerne sehen. – Dass
ich für Sie wichtig bin“
, so der Pflegeberater.

88

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 Fallbeispiele zum Thema: Identitätsarbeit 

Da der Pflegeberater von den Betreuungspersonen weiß, dass sich Frau
Glück Dinge schlecht merkt, spricht er sehr langsam und in kurzen Sätzen
mit ihr. Zwischen den einzelnen Sätzen macht er immer eine Pause.

„Ich möchte Ihnen sagen“, spricht der Pflegeberater jetzt weiter, „dass
Sie für mich ebenfalls sehr wichtig sind. – Ich erlebe Sie als erwachsene
Frau – Ich erlebe Sie als Frau die mit Interesse Zeitung liest. – Was ich
nicht verstehe ist, dass Sie dies im nassen Bett tun.“

Nach einer kurzen Stille hebt Frau Glück ihre Decke hoch und sagt:
„Es ist alles nass, aber das ist mir ‚wurscht‘.“
„Nein“
, entgegnet der Pflegeberater, „das glaube ich Ihnen nicht. Da
ist irgendetwas das Sie hindert aufzustehen. – Ich war einmal in einer
ähnlichen Situation. – Und mir war es sehr, sehr peinlich.“ –
Es entsteht neuerlich eine kurze Stille, welche durch die Frage: „Darf
ich Ihnen aus dieser peinlichen Situation helfen?“
vom Pflegeberater
beendet wird.
Die Antwort von Frau Glück erfolgt nonverbal. Sie nickt.

Modul – Erkennen der Ressourcen / Auffälligkeiten
Ressourcen Frau Glück:
Frau Glück ist mobil. Geht mit Rollator alle Strecken im Betreuungsbe-
reich.
Spürt ihren Harndrang und entleert tagsüber ihre Blase auf der Toilette.
Aufgrund einer bestehenden leichten Tröpfcheninkontinenz trägt Frau
Glück auch tagsüber eine Einlage, welche sie akzeptiert.
Frau Glück kleidet sich selbständig.

Ressourcen Organisation:
Die Organisation holt sich externe Hilfe für die Mitarbeit mit Frau Glück.

Auffälligkeiten Frau Glück:
Frau Glück kann in der Nacht den Harn nicht halten. Vermutlich schläft
sie so tief, dass sie den Harndrang nicht verspürt. Erhält keine Schlafme-
dikation und keine Diuretika.

Auffälligkeiten Organisation:
Die Organisation entzieht sich dem Phänomen des Verleugnens von Frau
Glück.

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 Fallbeispiele 

Modul – Formulierung einer Gefühlsdiagnose
Gefühlsdiagnose Frau Glück:
• Unfähigkeit die Situation (nasses Bett) annehmen zu können, sie ne-

giert ihre Inkontinenz.

• Zeigt Wut und schimpft.
• Nimmt keine Hilfe vom Professional an.

Gefühlsdiagnose Organisation:
• Team stoßt an Grenzen, wenn Teammitglieder von Frau Glück abge-

lehnt werden.

• Hilflosigkeit der Professionals gegenüber Frau Glück.

Modul – Bewertung der Gefühlsdiagnose durch die
Bewohnerin und das Team
Team spricht Hilflosigkeit und Überforderung an und bittet Pflegeberater
um Hilfe. Die Bewertung kam im Modul „Setzen einer Betreuungshand-
lung / Gefühlsarbeit“ zum Ausdruck.

Modul – Formulierung des / eines gemeinsamen Pflege- /
Betreuungszieles und Festlegen des Outcomes
Zeigt Zeichen des Annehmen-Können, ihrer Inkontinenz, indem sie mit
oder ohne Aufforderung am Morgen ihr Bett verlässt.

Modul – Bewertung des Outcomes durch die Bewohnerin
Die Bewertung des Outcomes kann dem Modul „Setzen einer Betreu-
ungshandlung / Gefühlsarbeit“ entnommen werden.

Modul – Bewertung des Outcomes durch den Professional
Der folgende Bericht gibt Auskunft über die Bewertung des Outcomes:
18.02.

Bew. (Bewohnerin) war heute nur kurz aggressiv – zwickt PP
(Pflegeperson) in die Oberarme. Mit Ruhe und viel Geduld konnte
die Körperpflege durchgeführt werden.

20.02.

Körperpflege Vormittag durchgeführt ohne besondere Vor-
kommnisse.

21.02.

Bew. lag im nassen Bett, hat auch Stuhl ins Bett gemacht. Bew.
wurde geduscht, Bew. etwas kooperativ.

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 Fallbeispiel zum Thema: Behaglichkeitsarbeit 

22.02.

Bew. war bei Körperpflege heute kooperativ, Teilwäsche durch-
geführt. Fr. G. (Frau Glück) ist einige Stunden am Vormittag und
am Nachmittag am Gang spazieren gegangen.

24.02.

Fr. G. wollte anfangs nicht beim Faschingsfest anwesend sein,
hat sich aber doch dazu gesetzt, war sehr ruhig, lächelte einige
Male, war 2 Std. dabei, danach ging sie zu Bett.

Bew. wurde heute mit Respekt aber Bestimmtheit am Vormit-
tag aufgefordert aufzustehen. Kommt der Aufforderung nach
ca. 8 Min. unter heftigem Schimpfen jedoch ohne Abwehrhal-
tung nach. Körperpflege und Ankleiden konnten durchgeführt
werden. Nach der Pflegehandlung sieht Gesicht und Mimik ent-
spannt aus. Bew. sagt, dass sie sich wohl fühlt. Lehnte normale
Tagkleidung ab, wollte Nachthemd anziehen.

25.02.

Bew. lag im nassen Bett. Die Körperpflege wurde durchgeführt
(am Anfang Bew. lehnte Körperpflege ab, dann aber etwas mehr
kooperativ).

26.02.

Bew. wurde gepflegt, heute aber nicht mehr kooperativ, verbal
sehr ordinär.

28.02.

Bew. Vormittag möchte nicht waschen, aber um 11.30 hat sie
gewaschen und war kooperativ.

Modul – Regelmäßiges Messen des Outcomes und
gemeinsames Abgleichen der Zielsetzung
Bei einem Besuch nach einer Woche beurteilen die Betreuungspersonen
die Situation wie folgt:
Einige von ihnen sagen, dass sich nichts verändert hat und Frau Glück
genauso schimpft wie immer.
Andere sagen, dass sie schimpft wie immer; manchmal auch in der Spra-
che die nur sie spricht, aber dass sie nach dem Schimpfen aufsteht und
sich teilweise selbst wäscht und kleidet bzw. sich dabei helfen lässt.
Eine der Betreuungspersonen erzählt dem Pflegeberater, dass sie Frau
Glück in den letzten beiden Tagen immer wieder einmal auf dem Gang
begleitete und da sie dabei immer wieder bei der Toilettentüre vor-
beikamen hatte sie Frau Glück immer wieder gefragt, ob sie vielleicht
hineingehen will oder muss. Der Pflegeberater hat das Gefühl, Freude
bei dieser Person zu erkennen als sie erzählt Frau Glück sei die letzten
beiden Tage trocken gewesen.

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 Fallbeispiele 

11.2 Fallbeispiel zum Thema:

Behaglichkeitsarbeit

11.2.1 Das Beispiel eines Mannes, der sich aus seiner

Umgebung zu rasch „zurückzieht“

Dies ist ein Beispiel in dem der Pflegeberater zu Hilfe gerufen wird, weil
die Ehefrau eines Bewohners viel Unruhe stiftet und die Betreuungsper-
sonen keine Lösungsmöglichkeiten der Situation sehen.

In dieser Betreuungssituation wird Gefühlsarbeit als Initial, um den

Prozess des Rückzuges ins Embryonalstadium bei der Demenz entgegen
zu wirken, eingesetzt. Ebenso soll die Ehefrau wieder Freude (die sich
im Laufe des Prozesses als Sinn ausdrückt) am Besuch spüren können
und das Pflegeteam auf die Achtung der Gegenwartsmerkmale eines
Bewohners sensibilisiert werden.

Der Pflegeberater lernt Herrn Tischler (Name geändert) im Rahmen sei-
ner Beratertätigkeit bei der Morgenarbeit des ersten Tages kennen, als
der Pflegeberater eine Kollegin begleitet. Vor dem Zimmer von Herrn
Tischler erzählt sie ihm, dass dieser an Morbus Alzheimer leide, er erst
62 Jahre alt ist und sein Zustand der schon weit fortgeschrittenen Krank-
heit entspricht. Vor ungefähr einem Jahr, erzählt die Kollegin dem Pflege-
berater, sei Herr Tischler in die Betreuungseinrichtung gekommen oder
besser gesagt, wurde er von seiner Frau in diese gebracht. Zum Zeitpunkt
der Aufnahme habe er noch gesprochen. Seit drei bis vier Monaten tue
er dies allerdings nicht mehr, der Zustand verschlechterte sich zusehends
bis zum Rückzug ins Embryonalstadium.

„Vermutlich versteht er uns auch nicht mehr“, sagt die Kollegin zum
Pflegeberater vor dessen erstem Besuch von Herrn Tischler. Dann
dreht sie sich zur Türe, öffnet diese, betritt Herrn Tischlers Zimmer
und begrüßt ihn mit einem: „Guten Morgen.“
Herr Tischler liegt im Bett. Seine Augen sind geöffnet. Der Blick ist
starr zur Decke des Raumes gerichtet. Eine Reaktion auf das Betreten
des Raumes und den Guten-Morgen-Gruß nimmt der Pflegeberater
nicht wahr.

Irritation – Auslöser für Gefühlsarbeit
Als die Pflegende die Hand zum nochmaligen Morgengruß und zum Be-
ginn der Körperpflege ergreift, kann ein Zurückzucken des Kopfes beob-
achtet werden.

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 Fallbeispiel zum Thema: Behaglichkeitsarbeit 

Die Pflegende verrichtet ihre Tätigkeit wortlos und von Seiten Herrn Tisch-
lers ist wiederholt die Reaktion des Zurückziehens des Kopfes zu erken-
nen. Diese Reaktion wiederholt sich während der Pflegearbeit mehrmals.
Eine weitere Irritation erlebt der Pflegeberater während folgender Be-
obachtung:
Herr Tischler wird von seiner Frau besucht und mit: „Rudi! – Rudi! – Ich
bin es, die Anni!
– begrüßt. Auch durch die von seiner Frau gesetzten
verbalen Reize erfolgt keine Reaktion.

Nach dem Begrüßungsversuch dreht Frau Tischler ihren Kopf in alle Rich-
tungen des Raumes. Sie macht einen hilfesuchenden Eindruck. Die einer
Bewohnerin das Essen eingebende Mitarbeiterin sitzt mit dem Rücken
zu Herrn und Frau Tischler und zeigt keine Reaktion. Frau Tischler spricht
diese Mitarbeiterin nicht an.
Als nächstes nimmt Frau Tischler die auf dem Tisch liegende Serviette
und versucht sie ihrem Mann wortlos umzubinden. Darauf reagiert Herr
Tischler mit einer raschen Rückwärtsbewegung seines Kopfes.
Der Versuch von Frau Tischler ihrem Mann die Serviette umzubinden
scheitert.
Frau Tischler, sichtlich überrascht von der Reaktion ihres Mannes, unter-
nimmt einen zweiten Versuch und – auch dieser misslingt.
Was auffällt ist Frau Tischlers Sprachlosigkeit während der beiden Versu-
che ihrem Mann die Serviette umzubinden.
Der dritte Anlauf beginnt mit den Worten: „So! Mach jetzt den Mund
auf! – Ja wollll …!“ – Und noch einen Löffel! – So ist’s gut! …“
Herr Tischler verschluckt sich. Die Suppe spritzt durch die Gegend, wor-
auf Frau Tischler die Serviette nimmt, ihrem Mann den Mund abwischt,
sowie die befleckten Stellen reinigt und abserviert. Im Vorbeigehen sagt
sie zu der mit dem Rücken zu ihr sitzenden Betreuungsperson: „Ich
glaube, er hat heute keinen Appetit.“

Unmittelbar danach bietet sie sich als Helferin für die Essenseingabe

bei anderen Bewohnerinnen an. Die im Raum befindliche Betreuungs-
person nimmt ihr Angebot dankend an und nennt den Namen einer
Bewohnerin, der Frau Tischler das Essen eingeben kann.

Stille steigert den Druck und erhöht den Stress.

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 Fallbeispiele 

Modul – Erkennen der Ressourcen / Auffälligkeiten
Ressourcen Herr Tischler:
• Reagiert auf Körperkontakt wie z. B. Hand geben oder Berührungen

während der Körperpflege mit dem Waschlappen und beim Umbin-
den der Serviette.

• Zeigt eine Verspannung bei vermutlich negativen Reizen wie z. B. beim

Waschen des Gesichtes mit dem Waschlappen.

• Hört wahrscheinlich gut. Dies begründet sich durch eine schreckhafte

Reaktion (Zucken mit den Augen, Zurückzucken des Kopfes, …) auf
laute Reize.

Ressourcen Frau Tischler:
• Besucht ihren Mann täglich, manchmal sogar mehrmals täglich.

Ressourcen Organisation:
• Frau Tischler unterstützt das Pflegeteam durch z. B. Essenseingabe

von Mitbewohnerinnen.

Auffälligkeiten Frau Tischler:
• Keine Reaktion auf die von Herrn Tischler gezeigten Ressourcen.
• Verbalisiert das Bedürfnis nach Hilfestellungen nicht.

Druck der innerlich aufgebaut wird führt zu unreflektierten, we-
nig durchdachten Handlungen. Der gegenüber sitzende Mensch
wird als Objekt wahrgenommen – es passiert eine „Verding-
lichung = Entpersonifizierung“. Mit Verdinglichtem wird nicht
gesprochen.

Auffälligkeiten Herr Tischler:
Ist in der höchsten Pflegestufe: Pflegestufe 7.
• Verlangsamte Denk- und Handlungsgeschwindigkeit.

Auffälligkeiten Organisation / Mitarbeiterinnen:
• Keine Reaktion auf die von Herrn Tischler gezeigten Ressourcen.
• Keine verbale Kommunikation mit Herrn Tischler.
• In dieser Situation werden von der Pflegenden die in der Gegenwart

gesetzten Irritationen von Herrn Tischler nicht identifiziert und sie
verschließt sich damit der Möglichkeit, die Situation durch Gefühle zu
steuern.

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 Fallbeispiel zum Thema: Behaglichkeitsarbeit 

Dieses Phänomen des – Bewusst-Nicht-Wahrnehmens – bezieht sich
nicht auf die Einzelperson(en) sondern auf die Organisation. Es erklärt
das Nicht-Festhalten dieser Ressource in der Dokumentation.

Modul – Formulierung einer Gefühlsdiagnose

Gefühlsdiagnose – Herr Tischler:
• Herr Tischler wird von Betreuungsperson oder Ehefrau ohne verbale

Ankündigung berührt und reagiert mit Zurückwerfen des Kopfes oder
Hochfahren der/des Armes/Arme. Dies könnte als Zeichen für Stress,
Unsicherheit, Mangel an Geborgenheit / Schutz u.ä. interpretiert wer-
den.

Gefühlsdiagnose – Frau Tischler:
• Die Erwartung an ihren Mann als Ehefrau erkannt zu werden wird von

diesem nicht erfüllt.

• Der innere Auftrag, ihren Mann gut zu versorgen sieht sie als ihre Ver-

antwortung, der sie nicht immer gerecht werden kann. Es könnte der
Wunsch bestehen, hin und wieder diese Verantwortung abzugeben.

• Ebenso könnte sich auf Grund der mangelnden Unterstützung durch

das Team das Gefühl der Hilflosigkeit und Unsicherheit in der Betreu-
ungssituation bei ihr einstellen.

Gefühlsdiagnose – Organisation:
• Das Betreuungsteam klärt Frau Tischler bezüglich der realistischen

Erwartungen nicht auf und gibt keine Unterstützung bezüglich der
Aktivitäten des täglichen Lebens ihres Mannes.

• Fehlende Unterstützung in Bezug auf die Selbstpflege von Frau Tisch-

ler durch das Betreuungsteam.

• Sensibilitätsmangel in Bezug auf die Reaktionsmöglichkeit und bereit-

schaft von Herrn Tischler.

• Frau Tischler dürfte durch ihre häufigen Besuche im Pflegeheim eine

Vertrauensstellung bei den Betreuungspersonen einnehmen. Deshalb
ist es nicht verwunderlich, wenn die Betreuungsperson, die am Mit-
tagstisch Herrn und Frau Tischler den Rücken zukehrt, die Aussage – er
hat heute keinen Hunger – als realistisch ansieht und diese Tatsache
nicht weiter hinterfragt.

Selbstpflege ist nur in der Gegenwart möglich.
Um in der Gegenwart zu sein und zu bleiben, ist es notwendig
sich in dieser wohl zu fühlen.

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 Fallbeispiele 

Modul – Bewertung der Gefühlsdiagnose durch die
Angehörige
Bei einem Gespräch am nächsten Tag zwischen Frau Tischler und dem
Pflegeberater, der sie nach dem Gefühl bei der gestrigen Essenseingabe
fragt, antwortet sie spontan: „Ich halte die Situation mit meinem Mann
nicht mehr aus“!
und beginnt zu weinen.
Diese Aussage bzw. das von Frau Tischler gezeigte Verhalten lässt auf die
Diagnose „Verzweiflung“ schließen.
Die von Frau Tischler bestätigte Diagnose ist die, der Hilflosigkeit.
Die Aussage des Pflegeberaters: „Ich habe das Gefühl, Sie erleben sich
hilflos“,
wird von Frau Tischler mit einem Nicken bejaht.

Modul – Setzen einer Betreuungshandlung / Anwendung
von Gefühlsarbeit (1)
Schaffen von Rahmenbedingungen, welche das Gefühl der Geborgen-
heit vermittelt (vgl. Weissenberger-Leduc 2009). In Abstimmung mit der
Ehefrau wird ein Behaglichkeitsbad angeboten und durchgeführt. Die
Dosierung des Behaglichkeitsbades muss dem Reaktivierungsgrad ange-
passt werden um dem Normalitäts- / Individualitätsprinzip zu entspre-
chen. Die ersten vier Wochen erfolgt das Behaglichkeitsbad täglich ab
der fünften Woche bis Ende des sechsten Monats wird es auf ein Mal
wöchentlich reduziert.

Der Pflegeberater schlägt Frau Tischler vor mit ihrem Mann gemeinsam
Kontakt aufzunehmen:

„Ich habe nicht das Gefühl, dass das möglich ist“, antwortet Frau
Tischler noch immer weinend.
„Ich habe das Gefühl, Ihr Mann hat sich zurückgezogen. Ich beobach-
tete seine Körperhaltung gestern Morgen im Bett. Als er so da lag
entstand in mir das Bild eines noch nicht geborenen Kindes im Bauch
seiner Mutter. – Diese Körperhaltung lässt für mich einen Auftrag
erkennen“
, sagt der Pflegeberater.
„Welcher Auftrag?“ fragt Frau Tischler.
„Schafft Rahmenbedingungen, in der sich ein ungeborenes Kind wohl
fühlt!“
sagt der Pflegeberater.

Nachdem Herr Tischler nach wenigen Minuten im Behaglichkeitsbad
einen sehr entspannten Eindruck vermittelt, ziehen sich die Betreuungs-
personen für die nächsten 20 Minuten aus dem Bad zurück.

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 Fallbeispiel zum Thema: Behaglichkeitsarbeit 

Modul – Festlegen des / eines gemeinsamen Pflege- /
Betreuungszieles und Festlegen des Outcomes
In diesem Stadium werden die möglichen Ziele durch den Professional
festgelegt und mit dem Pflegeteam besprochen.

Die Ziele lauten:

• Sensibilisierung des Teams im Bezug auf die Gegenwartsorientierung

in der Betreuung von Herrn Tischler.

• Den Rückzug (die Regression) von Herrn Tischler stoppen bzw. die

möglichen noch vorhandenen Ressourcen aktivieren.

• Frau Tischler erreicht Sicherheit und Vertrauen in Bezug auf die Hilfe-

stellungen der Betreuungskräfte.

• Frau Tischler besitzt die Fähigkeit aktiv Unterstützung einzufordern.

Oben genannte Ziele sind vom Pflegeberater und dem Teammitgliedern
in der Dokumentation festgehalten.

Um die Wirkung der Maßnahme – Behaglichkeitsarbeit – nachweisen

zu können, wird mit den Mitarbeiterinnen vereinbart, darauf zu achten, ob
Herr Tischler während oder nach direkter Ansprache wie z. B.: „Guten Mor-
gen Hr. T. ich bin’s der/die … .“
oder: „Ich habe Ihnen das Essen gebracht.
Heute gibt es … bitte kosten Sie doch einmal.“
eine Reaktion zeigt, die als
Bezug auf das Gesagte oder Durchgeführte gedeutet werden kann. Alle Be-
teiligten sind aufgefordert, wahrgenommene Reaktion zu dokumentieren.

Der Pflegeberater macht das Angebot, jederzeit kontaktiert werden

zu können.
Um oben genannte weitere Ziele zu erreichen, setzt das Betreuungsteam
Maßnahmen der reaktivierenden Pflege, Informations- und Wissensge-
spräche sowie deren Evaluierung bei Frau Tischler um.

Modul – Bewertung des Outcomes durch Bewohner und
Angehörige
Während des Absenkens der Liege in die Badewanne zeigt Herr Tisch-
ler keine Stresssymptomatik. Schon nach wenigen Minuten im Wasser
schläft Herr Tischler ein. Dies wird als Zeichen der Entspannung und
Geborgenheit interpretiert.

„Es war eine sehr, sehr schöne Zeit, die ich heute mit meinem Mann
und Ihnen verbrachte. Ich kann mir gut vorstellen, das Behaglichkeits-
bad – so nannten Sie es doch – in Zukunft alleine durchzuführen“,
sagt
Frau Tischler, als sie sich vom Pflegeberater und der Mitarbeiterin
nach dem Bad verabschiedet.

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 Fallbeispiele 

Diese Aussage deutet darauf hin, dass die Gefühlsdiagnose „Hilflosigkeit“
zutreffend war.

Modul – Regelmäßiges Messen des Outcomes und
gemeinsames Abgleichen der Zielsetzung
In der monatlichen Evaluierung während der nächsten sechs Monate
kann vom Team die „Rückkehr“ von Herr Tischler auf die verbale Kom-
munikationsebene gut nachgewiesen werden.

Ergebnis nach zwei Monaten:
Es kann beobachtet werden, dass Herr Tischler langsam wieder zu spre-
chen beginnt. Die ersten Zeichen sind: Herr Tischler antwortet auf ein-
fachste Fragen mit einem Wort.

Ergebnis nach sechs Monaten:
Nach sechs Monaten ist es ihm möglich, auf Fragen die passenden Ant-
worten zu geben. Weiters ist es Herrn Tischler möglich, mit den Pflege-
personen, seiner Frau und seinem Sohn in einfachen Sätzen zu sprechen.
Das Pflegepersonal gibt an, dass der Sohn seit ca. zwei Monaten wieder
mindestens einmal pro Woche seinen Vater besuchen kommt.

Ein Video zeigt Herrn Tischler während der Morgentoilette mit einer
Pflegeperson im Gespräch.

Unter anderem lädt die Pflegeperson ihn ein, den Rasierapparat selbst

in der Hand zu halten, was ihm auch möglich ist. Vor einem halben
Jahr wäre dies für ihn völlig unmöglich gewesen. Während der dabei
laufenden Kommunikation kündigt die Pflegeperson an, ihm jetzt den
Rasierapparat ins Gesicht zu führen woraufhin er antwortet: „Ja, ja, das
kannst du

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schon machen.“ und „Ah, das ist kalt, das kratzt, oh ist das

kalt, oh …!“

Es ist den Autorinnen nicht möglich, definitiv sagen zu können, welche
der oben erwähnten Maßnahmen die größte Wirkung bei Herrn Tisch-
ler erzeugt. Das auf dem Video gezeigte Resultat rechtfertigt sie jedoch
alle. Die Praxis zeigt jedoch die sehr enge Beziehung zwischen den ein-
zelnen Formen der Gefühlsarbeit. In diesem Beispiel kommt die Nähe
der Behaglichkeitsarbeit zur Berührungsarbeit sehr eindrucksvoll zum
Vorschein.

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Das DU-Wort ist in dieser Region die gängige Form der Ansprache.

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 Fallbeispiel zum Thema: Behaglichkeitsarbeit 

Da dem Pflegeberater von Seiten des Teams in diesen sechs Monaten kei-
nerlei Fragen in Bezug auf die Betreuung von Frau Tischler gestellt werden
und auch keine neuen Ziele bzw. Gefühlsdiagnosen dokumentiert werden,
kann die Erreichung des oben formulierten Zieles angenommen werden.

Die vor sechs Monaten gestellte Gefühlsdiagnose Hilflosigkeit bei Frau
Tischler, wird nicht mehr wahrgenommen.

Modul – Setzen von einer Betreuungshandlung /
Anwendung von Gefühlsarbeit (2)
Das Team führt selbständig die notwendigen Adaptierungen durch.

Modul – Bewertung des Outcomes durch die Patientin /
Klientin / Bewohnerin / Angehörige
Der Outcome kann mit Herrn Tischler aufgrund seines oben beschriebe-
nen Gesundheitszustandes nicht verbal bearbeitet werden.
Frau Tischler zeigt sich jedoch mit den gesetzten Zielen einverstanden.

Modul – Bewertung des Outcomes durch den Professional
Dies wird vom Pflegeteam ohne Beisein des Pflegeberaters übernom-
men.

Das Behaglichkeitsbad ist eine wichtige Komponente auf dem Weg aus
der Hilflosigkeit, wie es in der gemeinsam verbrachten Zeit (siehe oben)
von Frau Tischler erlebt wird.

Das Team ist nicht geschult in der Konzeption der Gefühlsarbeit. Durch
die Reflexion des Teams mit dem Pflegeberater über die Situation von
Herrn und Frau Tischler, sowie die Anweisungen zu oder für bestimmte
Handlungs- und Verhaltensweisen, ist eine Bearbeitung auf der Gefühl-
sebene bei allen Prozessbeteiligten möglich.
Das heißt, durch den Pflegeberater, der bewusst Gefühlsarbeit einsetzt
und durch das Pflegeteam, das Teilaspekte der Gefühlsarbeit aufgrund
der Anweisungen des Pflegeberaters anwendet, wie auch durch den Ein-
satz weiterer physischer, psychischer und sozialer Maßnahmen, können
die gesetzten Ziele erreicht werden.

Wie bereits am Beginn des Beispiels betont, wird hier Gefühlsarbeit

als ein Initial, Veränderung herbeizuführen, eingesetzt. In weiterer Folge
kann diese als Tertiärprävention angewendet werden.

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 Fallbeispiele 

Das Team ist stolz und motiviert, es gelang den Sohn in die Betreuung
zu integrieren und seine Gattin, Frau Tischler, wird wichtiger Bestandteil
der Betreuung.

11.3 Fallbeispiele zum Thema:

Abschiedsarbeit

11.3.1 Ein Beispiel eines Mannes, der sich von zuhause

nicht trennen kann

Am 4. Oktober fährt Herr Bäcker (Name geändert) für alle Betreuungs-
personen völlig überraschend und ohne jede Vorankündigung mit dem
Rollstuhl und seinem Gebäck zur Empfangsmitarbeiterin des Wohnheims
und teilt dieser mit, dass er jetzt auszieht.
Herr Bäcker ist 83 Jahre alt, lebt seit zwei Monaten in der Betreuungsein-
richtung und ist in Pflegestufe fünf eingestuft. Herr Bäcker ist orientiert
und im Vollbesitz seiner geistigen Fähigkeiten.
Vor seiner Pensionierung war Herr Bäcker Leiter eines Kleinunterneh-
mens.

Weder die von der Empfangsmitarbeiterin verständigte Betreuungs-

person noch der herbeigerufene Sohn können ihn von seinem Vorhaben
abbringen.
Die psychisch kranke Tochter, welche mit ihm bis vor kurzem in seinem
Haus lebte, fühlt sich der Situation nicht gewachsen und ruft bereits
einen Tag nach seiner Heimkehr den Rettungsdienst, der ihn über Um-
wege wieder in das Pflegeheim bringt.

Die grundsätzliche Entscheidung für eine institutionalisierte Betreu-

ung wird von den Betreuungskräften (Kinder, Heimhilfe und mobile
Pflege) gemeinsam mit Herrn Bäcker beschlossen und vor zwei Wochen
vor diesem Ereignis durchgeführt.

Das nun folgende Beispiel von Herrn Bäcker umfasst die Gefühlsarbeit
„Abschiedsarbeit“. Darunter ist das Abschiednehmen von zuhause in
eine Betreuungseinrichtung zu verstehen.

In der Betreuungseinrichtung fällt Herr Bäcker über mehrere Wochen

durch Schimpfen sowie Wut und Zornausbrüche auf. Sein Verhalten führt
dazu, dass die daraus resultierenden Konflikte zwischen dem Bewohner
und den Mitarbeiterinnen und Mitbewohnerinnen von diesen verbali-
siert werden. Nach zwei Monaten wird der Pflegeberater vom Team zu
Hilfe gerufen. Diesem wird die Situation geschildert und er macht sich
mit Hilfe der Dokumentation einen Überblick über die Gesamtsituation.

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 Fallbeispiele zum Thema: Abschiedsarbeit 

Hier ein Auszug wörtlicher Zitate von Herrn Bäcker:

„… die (Betreuungsperson) sollen nicht so viel fressen, die sollen was
hackeln
(umgangssprachlich: arbeiten) … das Essen hier ist zum Kot-
zen, das fressen ja nicht einmal die Hunde … alle Suppen sind püriert
oder wahrscheinlich Reste, die im Topf geblieben sind … das Essen ist
aus den Resten der letzten drei Tage zusammengeschmissen … und
das nennt man dann dreitägiges Menü..

„…Alle glauben dass ich so stark bin. – Dabei stimmt das gar nicht. –
Die Kinder wollen von mir nichts mehr wissen. – Dabei bin ich nur
ihnen zu liebe da. – Würde es meine Kinder nicht geben, wäre ich
nicht hier sondern zuhause. – Das tut weh. – Am besten wäre es, ich
könnte mir einen Strick nehmen.“ …
und weiter … „ich würde mir eine
Person wünschen, die mich täglich einen halben Tag besucht und nur
für mich da ist…“
Er sagt auch, „zuhause, das geht nicht mehr…“

Irritation – Auslöser für Gefühlsarbeit
8. Oktober, Ausschnitt aus der Pflegedokumentation: „Herr Bäcker war
heute Nachmittag sehr traurig und unruhig. Sagte mehrmals mit Tränen
in den Augen, dass er nach Hause (Ort ist in der Dokumentation nament-
lich angeführt) möchte. Wir erklärten ihm, dass das nicht so einfach ist,
weil nicht mehr so selbstständig ist, und dass wir das mit seiner Tochter
besprechen müssten, das wer zu Hause ist. Nach dem Gespräch änderte
er mit trauriger Stimme seine Meinung und sagte: „Naja, bleib ich hald
hier.“ Bewohner setzte sich auf die Terrasse und genoss die frische Luft
und war nach ca. einer halben Stunde wieder beruhigt.“

Als weiteres geben die Betreuungspersonen an, dass sich Herr Bäcker
von ihnen abwendet wenn er nicht kommunizieren möchte.

Die von Herrn Bäcker gesetzten Zeichen (Schimpfen, Wut, Zorn, …) ir-
ritieren das gesamte soziale Umfeld. Das Betreuungsteam nimmt diese
Irritationen wahr, stellt sich anschließend jedoch nicht die Frage nach de-
ren Ursache. Es gibt in vergangenen gemeinsamen Teambesprechungen
keine Reflexion über das Verhalten von Herrn Bäcker.

Dementsprechend können keine ursachenbezogene Handlungen ge-

setzt werden. Es werden ausschließlich symptomspezifische Maßnah-
men abgeleitet. Dies sind beispielsweise Ablenkungsversuche mittels Es-
sen, Kaffee und beruhigenden Worte.
Für den Pflegeberater ist die Hilflosigkeit des Betreuungsteams spürbar.

101

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 Fallbeispiele 

Modul – Erkennen der Ressourcen / Auffälligkeiten
Ressourcen Herr Bäcker:
Aus dem, bis zu diesem Zeitpunkt durchgeführten Recherchen ergeben
sich folgende potentielle Ressourcen:
• Artikuliert Wünsche und Gefühle (Unzufriedenheit, Zorn, Wut, …).
• Trifft Entscheidungen bzw. übernimmt Verantwortung für oder gegen

eine Therapie.

• Gibt zu erkennen, dass er sein Da-Sein versteht.

Ressourcen Institution:
• Einzelbetreuung durch Mitglieder des Teams – Soziale Begleitung.

Auffälligkeiten Herr Bäcker:
Erste wahrgenommene Symptome sind:
• Beschimpfungen gegenüber Betreuungspersonen und Mitbewohne-

rinnen.

• Distanzlosigkeit gegenüber Mitbewohnerinnen.
• Zeigt Ablehnung bei versuchter Kontaktaufnahme durch eine Betreu-

ungsperson.

• Zweifel, nicht doch zuhause leben zu können.

Auffälligkeiten Mitbewohnerinnen / Betreuungspersonen:
• Ablehnung Herrn Bäcker gegenüber.
• Herr Bäcker ist ein kontinuierliches Betreuungsthema.
• Bewohnerinnen zeigen Distanzverhalten (ziehen sich vom gemeinsa-

men Tisch zurück).

Auffälligkeiten Angehörige:
• Die Angehörigen haben sich zurückgezogen.

Modul – Formulierung einer Gefühlsdiagnose
Welche Gründe verbergen sich hinter diesem Verhalten? Lassen sich
diese Gründe auch gemeinsam mit dem Bewohner benennen und bear-
beiten?
Als nächstes wird eine potentielle Diagnose des Pflegeberaters festge-
schrieben.
Nach Durchsicht und Reflexion aller Informationen lautet diese im Falle
von Herrn Bäcker vorläufig wie folgt:
• Auf der Gefühlsebene ist die Übersiedelung von seinem alten Zuhause

noch nicht abgeschlossen.

102

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 Fallbeispiele zum Thema: Abschiedsarbeit 

Modul – Bewertung der Gefühlsdiagnose durch den
Bewohner
In einem persönlichen Gespräch im Appartement von Herrn Bäcker ver-
sucht der Pflegeberater die potentielle Gefühlsdiagnose zu validieren
bzw. zu verwerfen:

Herr Bäcker empfängt ihn freundlich.
Einleitend erzählt der Pflegeberater Herrn Bäcker, dass er schon ei-
nige Jahre ins Haus kommt, dass er die Betreuungspersonen immer
wieder berät und dass ihm, dem Pflegeberater, heute Vormittag von
ihm erzählt wurde. „Aus dem Erzählten haben sich jetzt für mich ei-
nige Fragen ergeben“
, sagt der Pflegeberater zu Herrn Bäcker. „Ich
nehme an, sie können mir diese Fragen beantworten.“
„Möglicherweiseise“
, antwortet Herr Bäcker.
„Haben sie sich im Laufe ihres Lebens jemals mit dem Älterwerden
beschäftigt?“ „Nein“
, antwortet Herr Bäcker und nach einer kleinen
Pause spricht er weiter. „Ich habe auch nicht geglaubt jemals in einem
Rollstuhl zu sitzen oder nicht mehr zuhause wohnen zu können oder
keine eigenen Zähne mehr zu haben. – Oder dass ich mir die Schuhe
nicht mehr selbständig anziehen kann. – Oder dass ich Unterstützung
brauche wenn ich aufs WC muss.“
„… Wie geht es Ihnen, wenn Sie mir von all dem erzählen“?
fragt der
Pflegeberater
„Gar nicht gut“, ist die spontane Antwort von Herrn Bäcker.
„Kann ich etwas tun, damit es Ihnen besser geht?“ fragt der Pflege-
berater.
„Ja“, sagt Herr Bäcker, „fahren Sie doch bitte mit mir nach Hause.“
„Wollen Sie mir das Gefühl nennen, welches Sie jetzt verspüren?“
fragt
der Pflegeberater.
„Heimweh“, antwortet Herr Bäcker.
„Ich habe das Gefühl, Sie haben sich von Ihrem Zuhause noch nicht
verabschiedet“,
sagt der Pflegeberater
„Nein“, antwortet Herr Bäcker, „und ich weiß nicht ob mir das jemals
gelingen wird. Ich muss den ganzen Tag daran denken.“
„Was kann ich tun, um Sie bei der Verabschiedung zu unterstützen?“
fragt der Pflegeberater.
„Darüber habe ich noch nicht nachgedacht …“, antwortet Herr Bäcker.

Nach einer kurzen Pause schlägt der Pflegeberater Herrn Bäcker ein
nächstes Treffen vor. Herr Bäcker äußert bei diesem Gespräch nicht den
Wunsch nach Hause gehen zu wollen. Von Seiten des Professionals wird
ihm dieses Angebot aus folgenden Gründen zu diesem Stadium nicht
unterbreitet:

103

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 Fallbeispiele 

• Es wird seine Fähigkeit, Probleme und die daraus resultierenden mög-

lichen Lösungsansätze selbst zu formulieren, respektiert.

• Gefühlsarbeit basiert auf Vertrauen, das durch einen respektvollen

authentischen Umgang miteinander wachsen kann.

• Es sollen zu diesem Zeitpunkt durch den Professional verschiedene

Optionen nicht vorweggenommen werden.

Dahinter verbirgt sich ein weiteres Ziel:
• Erhaltung der Selbstbestimmung des Bewohners.

Die sich für den Pflegeberater aus Sicht Herrn Bäckers ergebende Optio-
nen sind folgende:
Option 1: Er macht einen zweiten selbständigen Anlauf indem er sich ein
Taxi organisiert und nach Hause fährt.
Option 2: Er beschließt nicht mehr nach Hause zu wollen und für sich
das Thema abzuschließen.
Option 3: Er bittet um Unterstützung, das von ihm verbalisierte Problem
zu lösen.
Option 4: Er will sich mit dem Problem nicht auseinander und versucht
es zu verdrängen.

Herr Bäcker ist intellektuell in der Lage, sich seiner Situation bewusst
zu sein und diese systematisch zu reflektieren. Erst im zweiten Gespräch
nach drei Tagen äußert Herr Bäcker von sich aus den Wunsch nach Hause
zu wollen.

Modul – Festlegen des möglichen Outcomes durch den
Bewohner
Zu diesem Zeitpunkt wird der Outcome noch nicht festgelegt, da die Ge-
fühlsdiagnose noch nicht bestätigt werden kann. Wir kennen weder die
Gedanken von Herrn Bäcker noch seine Gefühle, die bei ihm den Wunsch
eines Ausganges hervorriefen. Ist es der Glaube oder die Überzeugung
das Leben zuhause nach wie vor mit einer externen Hilfe meistern zu
können oder ist es der Wunsch sich lediglich von zuhause zu verabschie-
den und für ihn wichtige Gegenstände in die Betreuungseinrichtung zu
holen um sein Appartement persönlicher zu gestalten? Um Herrn Bä-
cker gefühlsmäßig nicht unter Druck zu setzen wird nicht danach gefragt
warum er nach Hause fahren möchte.

„Ich fand immer, dass ich zu viel fühle, um es ausdrücken zu können.“

(Fuchs 2004, 1)

104

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 Fallbeispiele zum Thema: Abschiedsarbeit 

Modul – Setzen einer Betreuungshandlung / Anwendung
von Gefühlsarbeit

Mit Herrn Bäcker wird der Termin für den Besuch seines Hauses in zehn
Tagen vereinbart. Der Grund für den Zeitpunkt der Vereinbarung ergibt sich
aus den Zeitressourcen des Pflegeberaters. Es ist nicht möglich, begonnene
Gefühlsarbeit durch dritte oder vierte Personen durchführen zu lassen.

Herr Bäcker ist mit dieser Vereinbarung einverstanden.

Im Hause angekommen ergibt sich unter anderem folgende Szene:

„… So“, sagt Herr Bäcker nach einiger Zeit. „Jetzt gehen wir ins Haus.“
Er steht aus dem Gartensessel, indem er nach Betreten des Grund-
stücks Platz genommen hat, auf, nimmt die Krücke, hängt sich in be-
kannter Manier beim Pflegeberater ein und lässt sich von diesem ins
Haus begleiten. Abgesehen von der Temperatur, das Haus war nicht
beheizt und es hatte vielleicht zehn Grad Celsius, wirkte es auf den
Pflegeberater bewohnt. Nach Betreten des ersten Raumes, es ist das
Esszimmer mit Blick ins Wohnzimmer, setzt sich Herr Bäcker auf einen
Sessel und lässt seine Blicke, ähnlich wie im Garten, schweifen. „Die
Möbel sind vom Tischler maßgefertigt und sicherlich schon an die
50 Jahre alt“
, sagt Herr Bäcker nachdem er den Rundblick beendet.
„Machen Sie bitte einmal diese Türe auf“, sagt er nach einer kurzen
Pause zum Pflegeberater und zeigt zur Anrichte. Dieser – er hat sich,
nachdem Herr Bäcker auf dem Sessel Platz genommen hat, ebenfalls
gesetzt – steht jetzt auf, geht zur Anrichte und öffnet diese. Neben
Geschirr befinden sich in dieser einige Fotoalben. „Nehmen Sie eines
der Alben – egal welches – heraus und dann setzen Sie sich hier neben
mich“!
sagt Herr Bäcker. Der Pflegeberater folgt der Aufforderung. Er
setzt sich neben Herrn Bäcker, reicht ihm das Album und dieser be-
ginnt darin zu blättern. Auf den Fotos sieht der Pflegeberater Herrn
Bäcker als Vater, Ehepartner, als Freund und Cousin. Er sieht Herrn Bä-
cker in Rollen mit denen sich dieser identifiziert und er nimmt war, dass
sich Herr Bäcker jetzt in diesen Rollen erlebt. Es sind Herrn Bäckers
glänzende Augen, die den Pflegeberater zu diesem Schluss führen.
Der Pflegeberater nimmt es als mögliches Zeichen seiner Identitäts-
arbeit wahr.
Herr Bäcker erzählt dem Pflegeberater, wo und bei welchem Anlass
das Bild aufgenommen worden war. Die gesagten Worte lassen keine
Tiefe in den Gefühlen erkennen. Die Tiefe nimmt der Pflegeberater
in der vibrierenden Stimme von Herrn Bäcker wahr. „Ich habe das
Gefühl, Sie schauen sich die Bilder gerne an“,
sagt der Pflegeberater,
nachdem sie das Album durchgeblättert hatten. „Mhm“, gibt Herr

105

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 Fallbeispiele 

Bäcker von sich. „Wollen Sie Alben in die Betreuungseinrichtung mit
nehmen?“
fragt der Pflegeberater. „Nein, nein, nein! Die bleiben schön
hier zuhause!“
antwortet Herr Bäcker.
Seit Betreten des Grundstückes sind eineinhalb Stunden vergangen
und jetzt macht sich die Kälte bemerkbar. „Diese Scheißkälte. – Ich
glaube es ist gut wenn wir jetzt fahren.“
bemerkt Herr Bäcker.
„Gut“, sagt der Pflegeberater, „wollen Sie noch etwas mitnehmen?“
Herr Bäcker gibt dem Pflegeberater keine Antwort. Er stellt ihm je-
doch eine Frage: „Glauben Sie, dass ich hier wieder wohnen kann?“
Und da der Pflegeberater das Gefühl hat Herr Bäcker stellt diese Frage
nicht ihm sondern sich selbst, lässt er sie im Raum stehen.
„So – gehen wir!“ sagt er. Und dann gehen die beiden aus dem Haus.
In der rechten Hand hält Herr Bäcker die Krücke. Den linken Arm
hängt er in den rechten Arm des Pflegeberaters ein. Herr Bäcker
versperrt das Haus und die Gartentüre. Wortlos gehen sie zum Auto.
Sie fahren einige Minuten schweigend. Dann sagt Herr Bäcker: „In
meinem momentanen Zustand ist es schon besser, ich bin in einem
Heim.“
Der Pflegeberater sagt nichts, er nickt mit dem Kopf und
während er nickt schauen sich die beiden Männer kurz in die Augen.
Die restliche Zeit des Weges schweigen sie. Nach dem Aussteigen
ersucht Herr Bäcker den Pflegeberater ihn mit dem Rollstuhl in sein
Zimmer zu fahren. Im Zimmer angekommen, zieht Herr Bäcker nur
seine Jacke aus und dann sagt er: „Jetzt dauert es ja nicht mehr lange
bis zum Abendessen.“

Modul – Bewertung des Outcomes durch den Bewohner
Zwei Tage später ruft eine der beiden Töchter von Herrn Bäcker beim
Pflegeberater an und bedankt sich für die Begleitung ihres Vaters. Sie er-
zählt ihm von einer sie sehr berührenden Aussage ihres Vaters, während
ihrer gestern gemeinsam verbrachten Zeit. Es ist der Satz: „Um fünf Uhr
sind wir dann wieder nach Hause gefahren.“

Der Pflegeberater und die Tochter sind sich einig. Herr Bäcker ist einen

Schritt auf dem Weg von seinem alten Zuhause hin zu einem möglichen
neuen Zuhause gegangen.

Modul – Formulierung des / eines gemeinsamen Pflege- /
Betreungszieles und Festlegen des Outcomes
Nach abschließender Analyse schließt der Pflegeberater derzeit eine
Rückführung von Herrn Bäcker in sein Haus aus. In erster Linie wird

106

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 Fallbeispiele zum Thema: Abschiedsarbeit 

dies durch die strukturellen Gegebenheiten des Hauses sowie die fami-
liäre Situation begründet. In der Äußerung von Herrn Bäcker „Um fünf
Uhr sind wir dann wieder nach Hause gefahren“,
liegt eine mögliche Rea-
lisierung der Situation seinerseits. Somit wird eine erste Festlegung des
Betreuungszieles abgeleitet. Dieses lautet:
• Herr Bäcker kann die Notwendigkeit der institutionalisierten Pflege /

Betreuung erkennen und annehmen.

Operationalisiert wurde dieses Ergebnis durch:
• die wahrgenommene Verringerung von Wut- und Zornausbrüchen

(Pflegedokumentation).

• das Verbalisieren sich in der Institution wohl zu fühlen und
• vermehrte Kontakte mit Mitbewohnerinnen.

Modul – Formulierung des / eines gemeinsamen Pflege- /
Betreuungszieles und Festlegen des Outcomes
Anknüpfend an das Telefonat mit der Tochter (siehe oben) wird das
Gespräch zu Herrn Bäcker gesucht. In diesem Gespräch fragt der Pflege-
berater Herrn Bäcker ob er sich von zuhause verabschieden konnte.

Diese Frage wurde von Herrn Bäcker mit folgenden Worten beant-

wortet „Ich habe das Gefühl, es ist gut, wenn ich zur Zeit hier wohne“.

Modul – Bewertung des Outcomes durch den Professional
Die gemeinsam formulierten Ziele können realistisch durch die Ressour-
cen sowohl von Herrn Bäcker als auch der Organisation erreicht werden.
Herr Bäcker wird vom Pflegeberater aufgefordert, Wünsche für mögliche
weitere Besuche seiner Wohnung zu äußern. Es wird klargestellt, dass
die organisatorischen als auch die persönlichen Ressourcen von Herrn
Bäcker im Sinne eines weiteren Besuches zu planen sind.

Die Angehörigen sprechen sich mehrfach klar gegen die Durchführung

eines Ausganges aus. Die Verantwortlichkeiten bezüglich einer weiteren
Durchführung sind klar definiert und liegen in der Verantwortlichkeit des
Bewohners und der Pflege- / Betreuungspersonen.

Modul – Regelmäßiges Messen des Outcomes und
gemeinsames Abgleichen der Zielsetzung
In einem Beobachtungszeitraum von fünf Monaten kann folgender Out-
come gemessen werden:
• Die Wut- und Zornausbrüche sind gänzlich verschwunden.

107

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 Fallbeispiele 

• Die Kontakte zwischen Bewohner / Mitarbeiterinnen / Mitbewohne-

rinnen werden als konfliktfrei und angenehm erlebt.

Modul – Setzen von weiterer Gefühls- / Pflegearbeit
Das Setzen von weiterer Gefühlsarbeit ist zurzeit nicht erforderlich.

Der Gefühlsprozess zog sich in diesem Fallbeispiel über ein halbes Jahr.

11.3.2 Ein Beispiel eines Mannes, der Schwierigkeiten hat,

die Toilette zu finden

Herr Sänger (Name geändert), ein 82jähriger Mann lebt seit seiner Kind-
heit in seinem Elternhaus. Er ist unverheiratet und hat keine Kinder. Seit
mehr als 30 Jahren führt eine Haushälterin die Geschäfte des Hauses.
Diese wohnt im Nachbarhaus, ist verheiratet und ist ebenfalls um die
80 Jahre alt. Herr Sänger übernahm nie Hausarbeit. Im Gegensatz zum
Privatleben war Herr Sänger im Berufsleben immer selbständig. Nach ei-
nem Akutgeschehen wird er vom Hausarzt ins Krankenhaus eingeliefert.
Seine Körperlichkeit wird wieder hergestellt allerdings zeigt er das Bild
eines akut desorientierten Menschen. Daraufhin beschließt die Haushäl-
terin die Einweisung in eine Privatstiftung. Die im Heim erbrachten Pfle-
geleistungen beschränken sich auf Serviceleistungen wie: Vorbereitung
der Kleidung, Bett machen, Zimmer aufräumen und Essen servieren. Er
benötigt keine Pflegeleistungen.

Irritation – Auslöser für Gefühlsarbeit
Es ist ein Arbeitstag wie jeder andere in diesem Pflegeheim als der Pfle-
geberater bei zwei auf dem Gang sitzenden Bewohnerinnen vorbeigeht
und folgende Sprachsequenz aufschnappt: „Das ist er! – Der kommt fast
jede Nacht zu mir ins Zimmer.“

Den Blicken der beiden Damen folgend sieht der Pflegeberater einen

großen, leicht gebückt und langsam auf dem Gang gehenden Mann um
den sich offensichtlich das Gespräch dreht. Die Art und Weise wie diese
Aussage: „Das ist er! – Der kommt jede Nacht zu mir ins Zimmer“, getätigt
wird, irritiert den Pflegeberater und diese Irritation veranlasst ihn zu
einer Rücksprache mit dem Betreuungsteam.
In diesem wird folgendes (siehe Auffälligkeiten Herr Sänger) festgehal-
ten.

108

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 Fallbeispiele zum Thema: Abschiedsarbeit 

Modul – Erkennen der Ressourcen / Auffälligkeiten
Ressourcen Herr Sänger:
• Herr Sänger ist mobil.
• Er ist in gewohnter Umgebung orientiert.
• Er ist zur Person und situativ orientiert.

Ressourcen Organisation:
• Bereitschaft der Organisationsmitglieder zur Reflexion der eigenen

Arbeit durch den Pflegeberater.

Auffälligkeiten Herr Sänger:
Die Frage: „Wissen Sie wo Sie sich hier befinden“? beantwortet Herr
Sänger in desorientierten Zuständen immer mit dem Namen seines Hei-
matortes. Dieser ist jedoch nicht ident mit dem Ort, in welchem sich das
Pflegeheim befindet.
• Herr Sänger findet nicht nur häufig die Toilette nicht, sondern uriniert

vereinzelt sowohl tagsüber als auch nachts, in die von ihm gefundenen
Waschbecken oder Blumentöpfe.

Er uriniert nie ins Bett, an Wände oder Ecken sondern immer in ein
„Auffanggefäß“.

Auffälligkeiten Organisation:
Den Teammitgliedern ist sehr wohl bekannt, dass Herr Sänger mehrmals
wöchentlich in der Nacht aufsteht und in das Zimmer der oben erwähn-
ten Mitbewohnerin geht. Dieses Verhalten stellen die Pflegenden bei
Einzug des Bewohners vor neun Monaten fest. Es zeigt sich immer wie-
der folgender ritualisierter Prozess:

Herr Sänger verlässt sein Zimmer in gleicher Richtung, betritt das

Zimmer der Mitbewohnerin, diese ruft per Glocke die Pflegende herbei,
welche Herrn Sänger anschließend auf die Toilette führt (Herr Sänger
und die Mitbewohnerin benutzen die gleiche Toilette). Dieses Ritual kann
auch in der Pflegedokumentation nachvollzogen werden.
• Orientierungsmaßnahmen, die sowohl im Vorraum zu den beiden

Zimmern selber als auch auf der Toilette angebracht hätten werden
können, unterbleiben während der neun Monate.

• Den Pflegepersonen ist bewusst, dass sich Herr Sänger immer wieder

in seinem Haus sieht.

• Eine mögliche Bewertung einer Rückkehr in sein Haus bleibt von Sei-

ten des Betreuungsteams mit Herrn Sänger als auch mit dessen Haus-
hälterin aus.

109

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 Fallbeispiele 

• Das Normalitätsprinzip wird verlassen (Menschen urinieren in Toilet-

ten). Bei Herrn Sänger wird durch das Akzeptieren des Urinierens eine
neue Norm kreiert.

Auffälligkeiten Mitbewohnerin:
Die Mitbewohnerin scheint sich an die nächtlichen Besuche gewöhnt
zu haben. Sie äußert keine negativen Emotionen in Bezug auf Herrn
Sänger. Sie hat die Möglichkeit von sich aus ihre Situation mit einer
Mitbewohnerin immer wieder zu besprechen.
• Diese Auffälligkeit ist gleichzeitig eine „Nichtauffälligkeit“ bei den

Teammitgliedern.

Auffälligkeiten Haushälterin:
Führt trotz ihres relativ hohen Alters und einer eigenen Familie bis zur
Übersiedelung in die Privatstiftung vor zirka neun Monaten für Herrn
Sänger den Haushalt. Sie ist die einzige, die über einen Schlüssel für das
Haus verfügt.

Modul – Formulierung einer Gefühlsdiagnose
• Ist in Gedanken zuhause, in der Realität jedoch im Pflegeheim. Bei-

spiel: Auf die Frage: „Wissen Sie wo Sie sich hier befinden?“ nennt Herr
Sänger seinen Wohnort und nicht den Ort in dem sich das Pflegeheim
befindet.

• Ist situativ desorientiert – uriniert ins Waschbecken und in Blumen-

töpfe.

• Unfähigkeit seine Bedürfnisse zum Ausdruck zu bringen.
• Unfähigkeit Entscheidungen zu treffen.
• Unfähigkeit seinem Wunsch zuhause zu leben nachzukommen.
• Hilflosigkeit und Machtlosigkeit seine Bedürfnisse zum Ausdruck zu

bringen.

• Mangelnde Sensibilität des Betreuungsteams.

Modul – Bewertung der Gefühlsdiagnose durch den
Bewohner
Spontan sagt der Pflegeberater: „Herr Sänger ich habe das Gefühl, Sie
möchten gerne wieder einmal nach Hause.“
Im Nicken kann er den Auf-
trag erkennen. Er verabschiedet sich mit den Worten: „Wir“, mit der
Hand verweist der Pflegeberater jetzt auf die Mitarbeiterin des Hauses,
„werden den Besuch so rasch wie möglich organisieren.“

110

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 Fallbeispiele zum Thema: Abschiedsarbeit 

Modul – Setzen einer Betreuungshandlung / Anwendung
von Gefühlsarbeit
Differenzialdiagnostischer Ausgang

Durch einen Differenzialdiagnostischen Ausgang soll herausgefunden
werden, ob sich Herr Sänger in seiner gewohnten Umgebung zurechtfin-
det. Unmittelbar nach dem Aussteigen aus dem PKW wird Herr Sänger
ersucht den vier Betreuungspersonen, welche ihn bei seinem Ausgang
begleiten, den Weg zu seinem Haus zu zeigen. Diesem Ersuchen kommt
Herr Sänger spontan und offensichtlich sehr gerne nach. In seinem Haus
werden die Betreuungspersonen und Herr Sänger von der Haushälterin
bereits erwartet. Unmittelbar nach der Ankunft setzt Herr Sänger die
Führung fort. Er zeigt den vier Begleitpersonen den Garten und anschlie-
ßend den Wohnbereich. Herr Sänger geht vor und als alle in seinem
Wohnzimmer angekommen sind, sagt er:

„Darf ich vorstellen. – Das ist Frau Müller (Name geändert). – Sie ist
so etwas Ähnliches wie eine zweite Mutter.“

Nach der Vorstellung der Haushälterin durch Herrn Sänger entsteht eine
kurze Stille. In dieser Stille ist es dem Pflegeberater möglich, das Zimmer
mit seiner Einrichtung auf sich wirken zu lassen. Die Einrichtung wirkt
sehr harmonisch auf ihn. In der Ecke steht eine Madonnenstatue.
Folgender auf Video aufgezeichneter Dialog entwickelt sich nun zwischen
Herrn Sänger und dem Kollegen des Pflegeberaters:

„Die Madonna, wie alt ist denn die schon?“
„Das weiß ich nicht. Die habe ich einmal zum Geburtstag bekommen.“
„Die haben Sie zum Geburtstag bekommen.“
„Ja“.
„Das ist ein sehr schönes Stück.“
„Ja, auf das bin ich sehr stolz.“
„Sie sind stolz auf diese Madonna?“
„Ja.“
Nach einer kurzen Stille spricht der Kollege des Pflegeberaters weiter:
Die würde sich sehr gut in ihrem neuen Zimmer in der Betreuungs-
einrichtung machen. Sollen wir sie mitnehmen?“
„Nein, nein, nein!“
ist die Antwort von Herrn Sänger. „Die bleibt so
lange da … wenn ich einmal gestorben bin dann kann man sie hin
geben aber so lange ich lebe bleibt sie bei mir.“
„Nein, nein!“
sagt der Kollege, „ich habe gemeint sie jetzt mit Ihnen
mitzunehmen.“
„Ja“,
antwortet Herr Sänger, „wenn ich einmal ins Pflegeheim gehe,
dann kommt die Madonna mit mir mit.“

111

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 Fallbeispiele 

Die Begegnung mit einem Menschen und sei es im Rahmen
einer Verabschiedung, findet immer dort statt, wo sich dieser
befindet.

Und wieder entsteht eine kurze Pause. Sie wird durch die Frage des
Pflegeberaters: „Ist es Ihnen recht, wenn wir Sie jetzt alleine lassen“?
beendet.
„Ja“, sagt Herr Sänger. „Auf Wiedersehen.“
„Ich finde es schön, dass Sie sich jetzt Zeit für sich nehmen“,
sagt der
Pflegeberater. „Wenn es Ihnen recht ist, kommen wir in einer Stunde
wieder.“
Herr Sänger nickt.

Als der Pflegeberater mit seinem Kollegen und den Mitarbeiterinnen der
Betreuungseinrichtung nach einer Stunde wiederkehrt, saß Herr Sänger
in seinem Ohrensessel. Nach der Begrüßung entwickelt sich der folgende
auch diesmal auf Video festgehaltener Dialog zwischen dem Kollegen des
Pflegeberaters und Herrn Sänger:

„Wissen Sie wo es jetzt hin geht? – Wo wir jetzt dann hin fahren?“
„Nein.“
„Wir fahren jetzt wieder ins Pflegeheim. Und ich hätte jetzt gerne
von Ihnen gewusst, wann wir fahren. Wie lange Sie noch da bleiben
wollen und wann wir fahren?“
„Na ja – das weiß ich jetzt selber nicht. Ah Randl
(ein Wort aus der
Mundart und bedeutet eine Weile) möchte ich noch da bleiben.“
„Wie lange dauert denn ein Randl?“
„Na ja, – ein, zwei Wochen sowas.“
Nach dieser Aussage lächeln sich die beiden Gesprächspartner zu.
„In zehn Minuten oder in einer Viertelstunde? Ist Ihnen das recht, dass
wir dann fahren“?
setzt der Kollege das Gespräch fort.
„Und dann führen Sie mich ins Pflegeheim?“
Diese Frage wird vom Kollegen des Pflegeberaters mit einem Nicken
beantwortet.
Mit den Worten: „Na, ja, – nach dem es ja so wie so sein wird und sein
muss … dann fahren wir halt …“,
beendet Herr Sänger den Dialog.

Am folgenden Tag werden die von ihm während des Ausganges wichtigen
und wahrscheinlich positiv emotional besetzten Gegenstände in die Pri-
vatstiftung geführt. Darunter befinden sich die Madonnenfigur aus Holz,
seine Schallplattensammlung, Bilder sowie an die 20 maßgeschneiderte
Anzüge, die ihn durch seinen Berufsalltag begleiteten.

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 Fallbeispiele zum Thema: Abschiedsarbeit 

Modul – Formulierung des / eines gemeinsamen Pflege- /
Betreuungszieles und Festlegen des Outcomes
Die Prüfung der Gesamtsituation vor Ort zeigt, dass ein Verbleib im Ei-
genheim ausgeschlossen ist. Frau Müller, die Haushälterin, betont mehr-
mals im Vorgespräch, dass es für sie unmöglich sei, ihn zuhause weiter
zu betreuen.

Von dieser Aussage abgeleitet, lauten die Betreuungsziele:
• Übersiedelung von bedeutungsvollen (emotional hoch besetzten) Ein-

richtungsgegenständen um im neuen Zuhause (Pflegeheim) eine ver-
trautere Atmosphäre zu schaffen.

• Schaffen von Möglichkeiten, um eine Verabschiedung zuhause einzu-

leiten.

Modul – Bewertung des Outcomes durch den Bewohner
Noch in seinem Ohrensessel während des Ausganges in seinem Eigen-
heim sitzend sagt Herr Sänger zu sich selbst: „Einmal muss es sein – und
je mehr man zögert um so schlechter ist es.“

Am nächsten Tag in der Privatstiftung tätigt Herr Sänger auf die Frage

wo er sich befindet zum ersten Mal die in eine Frage gepackte Aussage:
In Heringen (Name geändert) vielleicht? – im Altersheim?“

Nach zehn Sekunden, diese Zeit und auch die folgenden Zeitangaben

können den Videoaufzeichnung entnommen werden, kommt Frau Mül-
ler ins Bild und sagt: „Na, hoffentlich kommen’s in zehn Minuten.“ Sie
hat ein Glas in der Hand, welches sie Herrn Sänger mit der Frage: „Magst
du noch was trinken“?
reicht.
Wortlos greift dieser nach dem Glas und trinkt. Frau Müller geht aus dem
Bild und sagt: „Muss ich schauen wo sie jetzt hin gehen.“
Es ist zwar auf dem Video nicht zu sehen aber die Beobachterinnen sind
sich sicher, dass sie jetzt zum Fenster geht. Dort angekommen hört man
sie sagen: „Ah, da stehen sie vor der Türe. – Vor der Stiege stehen sie.“

Während dieser Beobachtung trinkt Herr Sänger das Glas aus und

hält es nun in seiner ausgestreckten Hand. Frau Müller kommt wieder
ins Bild, nimmt das Glas und sagt: „War gut jetzt – nicht?“ Und nach
einer kurzen Pause spricht sie weiter und sagt: „Wenn sie dich fragen
ob du noch etwas essen möchtest, sagst du schon du möchtest noch
etwas. – Nicht. – Du hast ja nichts von ihnen zu essen gehabt heute. – Ein
Kalbfleisch hat es heute gegeben. – Ein Kalbfleisch mit einer Soße und
Dill-Erdäpfel oder was.“
Jetzt geht sie wieder aus dem Bild.

113

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 Fallbeispiele 

Herr Sänger sagt: „Das wäre ja gut gewesen.“
„Ja – gö“,
hört man Frau Müller auf dem Video antworten, „aber

wenn du sagst du hast keinen Hunger, dann bekommst du nichts mehr.“
Während sie das sagt sind die knarrenden Stufen der Stiege zu hören,
welche vom Wohnzimmer in das Vorzimmer führt. Jetzt sitzt Herr Sänger
alleine im Wohnzimmer in seinem Ohrensessel. Nach ungefähr einer
Minute faltet Herr Sänger die Hände zu einem Gebet.

Er beginnt mit: „ … Himmelvater bitte … eine Bitte habe ich noch …

lass mich nicht …“, das weitere Gebet ist nicht zu verstehen. Die Sprach-
melodie und Körpersprache mit der Herr Sänger sein kurzes nicht länger
als zwanzig Sekunden dauerndes Gebet spricht, ist jedoch so berührend,
dass die Autorinnen es nie vergessen werden. Nach dem Gebet verweilt
Herr Sänger noch ungefähr eine Minuten ganz ruhig und nachdenklich
in seinem Ohrensessel. Dann steht er, wie könnte es auch anders sein, in
seiner Geschwindigkeit auf. Und während er aufsteht und aus dem Bild
geht sind die Worte: „Himmlmutta hüf ma – Ich bitt’ di Himmlmutta hüf
ma“
(„Himmelmutter hilf mir. – Ich bitte dich Himmelmutter hilf mir“)
von ihm zu hören. Vielleicht sind es seine Abschiedsworte von seinem
Zuhause.

Es ist Ende Mai, als der Pflegeberater, sein Kollege und die beiden

Mitarbeiterinnen der Betreuungseinrichtung für alte Menschen Herrn
Sänger bei seiner Abschiedsarbeit begleiten.

Modul – Bewertung des Outcomes durch den Professional
Durch seine Aussagen sich im Pflegeheim zu befinden kann abgeleitet
werden, dass Herr Sänger mit seinem Verabschiedungsprozess und An-
kommensprozess im Pflegeheim begonnen hat.

In weiterer Folge ist es wünschenswert Herrn Sänger ein Gefühl des Zu-
hauses zu vermitteln. Damit dies gelingen kann, scheint es wichtig, seine
„Mutter“ (Frau Müller) vermehrt in den Gefühlsprozess mit einzubezie-
hen. Obwohl diese deutlich klar macht, dass sie sich nicht mehr involvie-
ren möchte, ist sie die einzige, die die Gewohnheiten, Wünsche und Be-
sonderheiten von Herrn Sänger genauestens kennt. Erst dann scheint es,
dass eine weitere Zielformulierung im Sinne des Moduls – „Regelmäßiges
Messen des Outcomes und gemeinsames Abgleichen der Zielsetzung“ –
zu formulieren ist.

Noch während dieser Phase im Gefühlsprozess es sind zwei Monate seit
dem Ausgang vergangen, stirbt Herr Sänger.

114

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 Fallbeispiele zum Thema: Da-Sein-Arbeit 

11.4 Fallbeispiele zum Thema:

Da-Sein-Arbeit

11.4.1 Beispiel einer Mutter, die den Kontakt zu ihrem Sohn

scheut

Die 81jährige Frau Sohm (Name geändert) wird von ihrem 47jährigen, al-
koholkranken Sohn, mit welchem sie gemeinsam in ihrer Wohnung lebt
körperlich attackiert. Dies ist nicht das erste Mal. Frau Sohm flüchtet
aus ihrer Wohnung zur Nachbarin. Diese verständigt die Rettung, welche
Frau Sohm ins Krankenhaus bringt. Nach der Erstversorgung im Kran-
kenhaus, Frau Sohm hat eine Platzwunde am Kopf, entscheidet sie sich,
nicht mehr nach Hause gehen zu wollen, sondern in eine Betreuungs-
einrichtung für Seniorinnen zu übersiedeln. Frau Sohm ist vollkommen
selbständig und bedarf keiner Hilfe von außen.

Damit ihr Sohn nicht weiß, wo sie untergebracht ist, beschließen die

Tochter von Frau Sohm sowie zwei Mitarbeiterinnen der Betreuungs-
einrichtung, sie zu verleugnen, sollte der Sohn anrufen. Es kommt dann
auch zu dem Anruf, bei welchem die Mutter, wie vereinbart, verleugnet
wird. Der Sohn lässt sich jedoch nicht abhalten und kommt in die Betreu-
ungseinrichtung. Die Mitarbeiterin des Empfanges alarmiert die Polizei,
welche daraufhin den Sohn des Hauses verweist.

Irritation – Auslöser für Gefühlsarbeit
Der Besuch des Sohnes in der Betreuungseinrichtung löst ein Befremden,
Angst, Unsicherheit und Fassungslosigkeit beim Betreuungspersonal aus.
Aus diesem Tumult ergeben sich Fragen wie:
• „Wie geht es jetzt weiter?“
• „Wie verhalten wir uns, wenn der Sohn wieder kommt?“
• „Was sagen wir Frau Sohm?“
Nach zirka einer Woche erzählt Frau Sohm einer Servicemitarbeiterin
des Hauses, dass sie nicht weiß, wie lange sie den derzeitigen Zustand
noch aushält. Sie sagt, dass sie dieses Alleinsein als sehr bedrückend
empfindet. Sie habe ihr Leben immer in Gesellschaft verbracht. Diese
Aussage gibt die Mitarbeiterin an die Heimleitung weiter. Daraufhin wird
eine externe Beratung angefragt: die Pflegedienstleiterin nimmt Kontakt
zum Pflegeberater auf, welcher Frau Sohm einige Tage später das erste
Mal besucht.

115

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 Fallbeispiele 

Modul – Setzen einer Betreuungshandlung / Anwendung
von Gefühlsarbeit (1)

14

Zwischen Frau Sohm und dem Pflegeberater gibt es bis zu folgendem
Dialog zwei kurze „Kennenlerngespräche“. Frau Sohm verweist dabei
darauf, dass sie nicht wisse, was sie den ganzen Tag machen solle und
dass ihr die Decke auf den Kopf fällt.

Beim dritten Kontakt mit dem Pflegeberater eröffnet dieser mit der

Aussage: „Ich habe das Gefühl, dass Sie Angst haben, Ihrem Sohn zu
begegnen, dass Sie nicht freiwillig von zuhause weggegangen sind und
in diese Betreuungseinrichtung eingezogen sind, sondern weil Sie mit
Ihrem Sohn nicht mehr länger zusammenleben wollen und können“
, das
Gespräch.

Frau Sohm bestätigt dies und im Anschluss ergibt sich zwischen Profes-
sional und Frau Sohm folgender Dialog (Auszug aus diesem):

„Mein Sohn sagte zu mir: ‚Du bist eine Null, du kannst nicht einmal
telefonieren‘. Mein Sohn hat mit dieser Aussage Recht. Ich kann das
wirklich nicht. Ich bin zu nervös.“
„Unsere Hausdame hat mir mitgeteilt, dass Sie nicht aus dem Zimmer
gehen, sich zurückziehen, …“
sagt der Pflegeberater.
„Ich hatte ein furchtbares Gefühl, als mein Sohn anrief und als er beim
Empfang auftauchte.“
„Sie und Ihre Tochter wollten nicht, dass Ihr Sohn erfährt, dass Sie in
der Betreuungseinrichtung besucht werden? Um trotzdem mit Ihnen
in Kontakt treten zu können, lies Ihr Sohn eine Frau Maier
(Name
geändert) anrufen. Kennen Sie diese?“
„Ja, das war die Freundin meines Sohnes.“
„Und die ließ er sagen, dass er an Krebs erkrankt sei.“
„Ja. – Der lässt sich jetzt krank werden um mit mir Kontakt aufnehmen
zu können. Mein Sohn holte sich vom Meldeamt die Information, dass
ich jetzt hier wohne – und die mussten ihm natürlich die Auskunft
geben. – Jetzt wird er sich ja nicht mehr traun’, da er ja sicherlich
Angst vor der Polizei hat. Und das ist vermutlich der Grund, warum
seine Exfreundin angerufen hat.“
„Wenn Ihr Sohn kommt, wie würde es Ihnen da gehen?“
„Ich weiß es nicht, diese Frage ist schwer zu beantworten. … Ich hab
es Ihnen schon gesagt, der reißt mir alles auf, mir geht es dann so

14

Es muss bei Bedarf ein und dasselbe Modul mehrmals abgeleitet bzw. verän-

dert werden. Dies erkennen Sie in den Beispielen mit dem Verweis (1) und (2)
am Ende der Modulbezeichnungen.

116

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 Fallbeispiele zum Thema: Da-Sein-Arbeit 

dreckig, weil ich wieder Mitleid bekomme. … Aber ich will nicht mehr
zurück, wirklich nicht mehr.“
„Sie gehen auf gar keinen Fall mehr in die Wohnung zurück?“
„Nein, nein, nein Ich geh nicht mehr putzen, da wird es ausschauen,
ich bin ja nicht deppert. … Und dann geht’s wieder los, das glauben
Sie ja gar nicht. Nein, nein das bleibt dabei. Dort geh ich nicht mehr
hin. Die Nachbarin hat gesagt, da schaut’s aus da drinnen in seinem
Zimmer, er hat das Fenster auf gemacht, bei mir war alles tipptopp.“
„Wollen Sie es mir erzählen, was Ihnen in der Nacht für Gedanken
durch den Kopf gegangen sind?“
„Ja, ich habe immer darüber nachgedacht, hat er einen Krebs oder
ist es wieder ein Hilferuf? Es kann auch sein, dass er nicht mehr aus
weiß und dass er sich einbildet, die Mutter ist eh eine gute Haut, net,
… dass er mich zurückgewinnen will. Das stell ich mir vor.“
„ Braucht er Sie?“
„ Ja, … er kann nicht, … er kann nicht … der braucht mich.“
„Was braucht er?“
„ Alles. Ja … Ich hab’s Ihnen eh gesagt, dass ich immer da war. … Früh-
stück hat er mir gemacht, aber das andere … die Wäsche gewaschen
und alles andere habe ich gemacht. …“
„ Wenn Sie jetzt da sitzen, dann ist anzunehmen, dass er jetzt in der
nächsten Zeit hier nicht vorbeikommt.“
„ … dass er nicht vorbeikommt? Wieso nicht? … Wieso wissen Sie
das?“
„Ich nehme es an, ich weiß es nicht.“
„ Ah, Sie nehmen es an, (nickt mit dem Kopf).“
„Er hat jetzt angerufen, …“
„ Und ich rühr mich nicht.“
„ Und es ist ihm ausgerichtet worden, dass Sie nicht mit ihm reden
wollen.“
Frau Sohm nickt.
„Jetzt hat die Fr. Maier angerufen, …“
„ Ja.“
„Und es ist ihr quasi wieder das Gleiche ausgerichtet worden.“

Frau Sohm nickt: „Mir kann eines passieren, was ich auch denke, wenn
es ihm zu dick wird, sauft er sich an und bringt sich um. Das wird
herauskommen. Ja, sind die zwei Sachen, entweder … ich wünsche ihm
keinen Tod, wirklich nicht, aber wenn es noch so bitter ist für mich, weil
ich weiß, er kann nicht existieren, er ist das gewohnt, ich war der Schani
hinten und vorne, ich hab’s auch gerne gemacht, wenn ich’s können hab,
ich hab mich alle fünf Minuten niedergesetzt, weil, sie sehen eh, dass

117

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 Fallbeispiele 

ich nichts bin, aber meine Wohnung, da hast du schon essen können
draus, weil es ist ja nicht gewesen, dass ich sag ich muss schrubben. …“

„ Ja, ja.“
„ Wissen’S. …“
„ … Ihre Tochter ist ja nicht dafür, dass Sie wieder Kontakt aufnehmen
mit ihm.“
„ Nein, nein, … ich hab ihr’s eh gestern erzählt, … ja, … sie hat es
natürlich nicht geglaubt, sie hat gesagt, dass er schon öfter gesagt
hat er hat den Krebs, aber …“
„Stimmt das?“
„ Ja, ihr hat er es erzählt, weil sie hat ja auch Krebs. … Er
(der Sohn)
muss ja krank sein, einmal kann er nicht Lulu machen, … das ist ja
auch eine Krankheit … net – er hat den Drang, er kann nicht, … wie
nennt man den das?“
„Harnverhalten. … Gesund ist er sicher nicht, er hat ja die Probleme
mit dem Alkohol.“
„Erstens einmal, das schon, … wenn man das nimmt, … das gibt es ja
gar nicht.“
„ … da redet man ja da schon von alkoholkrank“
„… na sicher, … des, des … gibt es nicht“
„ Und wenn es ein Hilferuf ist, was möchten Sie dann tun?“
„ … Ich kann es nicht momentan, wie gesagt, ich bin so verletzt, und
ich möchte nicht ins Gras beißen, …. ich kann nicht zurückgehen, das
geht nicht, wenn ich es auch gerne tun würde, … ich weiß ja nicht was
er zusammenspinnt, …“

Frau Sohm spricht jetzt darüber, dass sie nur mit dem Pflegeberater
über diese Probleme sprechen kann und nicht mit dem Schwieger-
sohn oder der Tochter.
„ … aber der hat mich schon mögen, … der hat mich mögen, der
Hans
(Name geändert) … und da hat er dann im Rausch … da hat
er nicht mehr gewusst … du Abschaum, (lacht) … alles hat er mich
geheißen, alles was ihm gerade eingefallen ist. …“

„… aber wem kann man das erzählen, das kann man vielleicht Ihnen
erzählen, ich weiß aber auch nicht was Sie sich denken, … also mein
Schwiegersohn, der akzeptiert das nicht, weil der sagt, er hat zu sei-
ner Mutter sein Lebtag lang kein schlechtes Wort gesagt, ich habe ihm
(dem Schwiegersohn) bestätigt, dass es ja wirklich nicht normal ist, dass
man seine Mutter beschimpft und dass sowohl die Tochter als auch der
Schwiegersohn das Verhalten des Sohnes nicht akzeptieren können. …

118

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 Fallbeispiele zum Thema: Da-Sein-Arbeit 

oder wie er gesagt hat, du hast zu machen, was ich dir sage, ich bin der
Herr, net, … ich weiß, … wie gesagt, … ich habe gesagt,
(Name des Sohns)
du hast mich entmündigt, entwürdigt, enteignet und mein eigenes Ich
hast du mir auch noch gestohlen. Und das war’s, … das war’s.“

Frau Sohm berichtet von Albträumen, in denen ihr Sohn immer wie-
der vorkommt.
„Wie sieht es in Ihnen aus nach all dem was Sie erlebten?“
„Schlecht, … schlecht, … wie soll ich Ihnen das beschreiben, ganz
schlecht, … ich hab so Kopfweh bekommen, mir ist alles durch den
Kopf gegangen, … ich glaub sogar dass ich ein Fieber hatte, … da
drinnen
(deutet auf die Brust/Bauch) tut es dann so weh, …“
„Das Herz tut weh?“
Frau Sohm nickt: „Das kann man eigentlich gar nicht so schildern, ich
glaube … ich …“
„Wenn Sie sich etwas wünschen könnten, Ihren Zustand betreffend,
was wäre das?“
„Was das wäre … dass das nicht kommen hätte dürfen …. weil er
ja öfter gesagt hat – warum lebst du denn überhaupt noch, … da
kommen dir ja schon so deine Gedanken … ja schon gar nicht mehr
gehört … sein Schimpfen, …
„Was müsste passieren, dass es Ihnen besser geht?“
„Gar nichts, es ändert sich nichts, im Gegenteil, die Angst ist da, was
passiert morgen, wenn ich mich ins Bett lege ist es das Erste – was
tut er jetzt, sitzt er wieder in der Küche und sauft er wieder, sitzt er
da und fällt ihm die Zigarette hinunter oder sitzt er und weint er dass
ihm der Rotz hinunter rinnt, das hat er stundenlang gemacht, und da
soll ich kein Mitleid haben?“

Jetzt entsteht eine kurze Gesprächspause. Dann spricht Frau Sohm
weiter.
„Immer wieder versuche ich mich über das Fernsehen abzulenken. Ein
bisserl hilft mir das ja. Niederlegen darf ich mich nicht. Da muss ich
sofort an ihn denken. … Ich kann es nicht ändern. … Ich kann das nur
Ihnen sagen, weil mich sonst niemand versteht.“
„Können Sie Ihrem Problem einen Namen geben?“
„Ja“,
zuckt mit den Schultern und spricht weiter: „Psychisch … es ist
psychisch.“
„Es ist ein psychisches Problem?“
„Es macht mich traurig.“
Nickt mit dem Kopf und spricht weiter: „Weil
da hab ich Herzweh und dann muss ich weinen, nicht … dann packt
es mich …“

119

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 Fallbeispiele 

Im weiteren Verlauf sprechen Frau Sohm und der Professional über
das Verhalten ihres Sohnes, welches sie sehr kränkt.
Das nächste Treffen wird für den kommenden Tag vereinbart.

Gedankliches Resümee des Gespräches:

In keiner Sequenz des eineinhalbstündigen Gesprächs wird der

Wunsch geäußert wieder nach Hause zu gehen. Im Gegenteil, Frau Sohm
betont mehrfach, dass dies nicht möglich ist. Ihre Entscheidung in die Be-
treuungseinrichtung zu gehen, scheint für den Professional, eine für sie
unter mehreren Alternativen akzeptable Lösung zu sein. Dieses gilt es in
weiterer Folge zu verifizieren.

Modul – Erkennen der Ressourcen / Auffälligkeiten
Ressourcen Frau Sohm:
• Macht auf sich aufmerksam (z. B.: sagt, dass ihr die Decke auf den

Kopf fällt, geht zu Mitarbeiterinnen).

Kann Probleme formulieren (z. B.: sagt, dass sie ihr Sohn entmündigt hat).

Auffälligkeiten Frau Sohm:
Nach dem ersten vertiefendem Gespräch und der vorangegangenen Be-
obachtungen der Mitarbeiterinnen des Hauses können folgende Auffäl-
ligkeiten festgehalten werden:
• Zieht sich ins Appartement zurück.
• Vermeidet gesehen zu werden.
• Nimmt aktiv keine Sozialkontakte auf.
• Erzählt, dass sie nicht weiß, was sie den ganzen Tag über machen soll.
• Sagt, dass ihr die Decke auf den Kopf fällt.
• Formuliert für sich keine Lösung(en).
• Kann oder will mit ihrer Tochter und / oder deren Mann über ihr

Problem nicht sprechen.

• Zeigt körperliche Beschwerden.
• Betont auffallend oft, dass es zuhause nicht mehr geht.

Auffälligkeiten Sohn:
• Um in Kontakt mit seiner Mutter zu treten benützt dieser Lügen und

spannt für dieses Vorhaben Unbeteiligte ein (lässt anrufen und gibt
vor, an Krebs erkrankt zu sein).

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 Fallbeispiele zum Thema: Da-Sein-Arbeit 

Modul – Formulierung einer Gefühlsdiagnose (1)
• Potentielle Angst und Unsicherheit aufgrund von mehrfach wieder-

holter Gewaltanwendung durch den Sohn.

• Heimatverlust aufgrund von Verlust ihrer Wohnung.
• Einsamkeit und Langeweile aufgrund von fehlender (Lebens) Aufgabe

(hat sich zeitlebens um ihren Sohn gekümmert).

• Rollenverlust als Mutter.
• Gefahr des Verlustes der Sinngebung.
• Gefahr des Identitätsverlustes durch kontinuierliche Kränkungen

durch den Sohn.

• Emotionale Überforderung aufgrund von fehlenden Handlungsoptio-

nen.

• Emotionale Orientierungslosigkeit aufgrund von Aussichtslosigkeit ei-

ner Verhaltensänderung ihres Sohnes.

• Rückzug / Gefahr der sozialen Isolation aufgrund von Furcht vor einem

Zusammentreffen mit ihrem Sohn.

• sowie Scham, mit ihrem (betrunkenen) Sohn gesehen zu werden.
Die Diagnose der „Gefahr von sozialer Isolation“ wird bei einer der wei-
teren Analysen verworfen, da Frau Sohm ein aktives Verhalten und Be-
ziehung zu einer Person ihres Vertrauens, zu diesem Zeitpunkt zum Pro-
fessional, aufnimmt.

Modul – Setzen einer Betreuungshandlung / Anwendung
von Gefühlsarbeit (2) und Modul – Bewertung der
Gefühlsdiagnose durch die Bewohnerin / Professional
Die Qualität der Da-Sein-Arbeit wird von Frau Sohm beim vierten Treffen
am 5. Juli (erstes Treffen 30. Juni, zweites am 3. Juli, drittes am 4. Juli)
nach 48 Minuten des aktiven Zuhörens und der anschießenden Frage
des Pflegeberaters wie sie sich jetzt fühle wie folgt beantwortet:

„Das gefällt mir, wenn Sie mir zuhören. Das tut mir gut.“
„Wollen Sie, dass wir dies wiederholen?“
„Ja, sehr gerne. Ich brauche jemanden, dem ich das alles erzählen
kann.“

Die nun folgende Textpassage aus dem fünften Treffen am 7. Juli soll die
Nähe zwischen Da-Sein-Arbeit und Ablenkungsarbeit verdeutlichen.
Nach zirka einer halben Stunde Gespräch über scheinbar Belangloses
lenkt Frau Sohm das Gespräch auf ihre Hochzeit.

Sie fand am 7.2.1961 statt. Der Sohn kam am 31.5.1960 zur Welt und

ihre Tochter am 5.10.1958.

121

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 Fallbeispiele 

Frau Sohm wörtlich: „… des war … also … wie sagt man denn da … ja,
eine Fehlzündung. … Das hat mich sehr gefreut. …“

„Was ist eine Fehlzündung?“
„… Na ja, …
„Der Hans?“
Frau Sohm mit dem Kopf nickend: „… der Hans … da waren wir schon …
von dem hätte ich noch 10 Kinder … ich hab aber nie Kinder bekommen
… das kann ich ja nicht erzählen, das ist ja nicht möglich, … das geht
ja nicht … . Na ja, das kann man nicht,
(deutet auf die Kamera) … nicht
das ich mich schämen tue … . Das passt ja da nicht hinein … es war …
es war eine Fehlzündung …“
„Lassen wir’s bei der Fehlzündung.“
„Dafür haben wir auch geheiratet, damit ich
(Frau Sohm) einen Na-
men gehabt habe … nicht … aber es war keine Liebesheirat sondern
der Anstand war das … dass die Kinder … aber … ich hab ja das nicht
wollen … aber, aber, wir sind trotzdem verschweißt gewesen … ich hab
gesagt schau … wir waren nicht hab
(umgangssprachlich für böse)
ich hab gesagt, geh deine Wege … nein, nein … wir zwei sind ver-
schweißt … die Not, die schweißt dich zusammen … so ist das … so
wäre es ja richtig … nicht, nicht … kommt noch mal ein Dreck, nicht …
und … es war ein anständiger Mensch aber … es war … danach nichts
mehr … . Das war aus Anstand. … Das war einmal und ich war schwan-
ger und dann bin ich da gestanden. … das ist… da hat einer mitgespielt
… wissen Sie das … weil … ich hab da noch getrauert um meinen ersten
Mann …. Meine Schwester … die hat gesagt ‚komm, jetzt gehen wir
fort … zieh dich schön an‘ … und dann war der Poidl
(Name geändert)
herunten … und da sind wir fort gegangen … aber, ich mach mich
nicht schöner … ich bin kein so ein Mensch … jeder macht einmal …
ich meine … wie gesagt, mein Mann war lange krank, wir haben auch
keine Beziehung mehr gehabt durch die Krankheit, nicht … und dann
war es halt so, … aber das war alles schon geplant von ihr … weil
meine Schwester, die hat Kinder geliebt, … und die hat auch keines
bekommen …
… und, da hat sie gesagt ‚… jetzt bleibt’s bei mir da …‘. aber
(klopft
sich gegen die Stirn) das hab ich nicht kapiert, mein Ehrenwort nicht …
ich mach mich nicht schöner wie ich bin … es liegt mir gar nicht … aber
… ein Mensch ist aus Fleisch und aus Blut nicht … und da sind wir halt
(rückt zum Pflegeberater und beginnt leiser zu sprechen) beisammen
gelegen … da war so ein Bett
(zeigt auf das ihre) … das war schmäler
als das … und dann ist es halt passiert … nicht also ist eigentlich …
(lacht) … da legt ihr euch zusammen’ hat sie (ihre Schwester) gesagt,

122

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 Fallbeispiele zum Thema: Da-Sein-Arbeit 

… aber das man so blöd ist, das muss man sich vorstellen … heast
(Mundart) … der hat einen Ständer bekommen … ist ja klar … nicht
(lacht) … heast wenn ich da liege bei ihm so … wir sind zusammen
gelegen … na gut ist es … so ist es geschehen. … In der Früh macht sie
(die Schwester) das Frühstück … sag ich, ich will keinen Kaffee … bin
ich auch noch nicht drauf gekommen … ich war schon schwanger …
hat mir schon gegraust vorm Kaffee … und das hat sie wollen … ich
war ein armer Hund … die hat sich gedacht, vielleicht klappt es da …“
„Und, hat es geklappt?“
„Ja, auf einmal habe ich einen Bauch gehabt … und sie
(ihre Schwes-
ter) sagt, das machen wir schon Claudia (Name geändert) … Claudia
haben sie mich genannt, weil Mizi
(Name geändert) das mag ich ja
nicht … das machen wir schon‘, hat sie gesagt … da schreiben wir
einen Brief dem Poidl … da bin ich noch nicht drauf gekommen heast
… dass ein Mensch so blöd sein kann, das begreife ich heute auch
noch nicht … jetzt schreiben wir dem Poidl einen Brief‘ hat sie gesagt
… und da hat sie aufgesetzt … lieber Poidl, die Nacht ist nicht ohne
Folgen geblieben,
(beginnt zu lachen) … aber Poidl du bist für nichts
verpflichtet … da hat’s noch nicht geschnallt bei mir … nicht … wir
werden das schon machen hat sie gesagt … nicht also … du kannst
dich ruhig … eh … mit einem ruhigen Gewissen … dass er da
(unver-
ständliches Wort) … nichts zu tun hat … – Und der Poidl hat mir das
danach einmal gesagt. … Er … weist, Mama, den Brief glaube ich hab
ich 20 mal gelesen … ja, anständig war er ja … er war anständig … ja
… der Poidl hat gesagt, da ist … seine Mutter hat gesagt … Poidl die
ist ja zu alt für dich … nicht schlecht … aber zu alt für dich
(15 Jahre)
… nein, das mach ich nicht hat er gesagt …
da hat er einen Posten gehabt beim
(Firmenname ist unverständlich)
… wo sie die Möbel machen nicht … einen guten Job … ja … hat er
gesagt, das mach ich nicht … das muss ich noch dazu sagen … wie
er dann nach Hause gefahren ist am nächsten Tag … da, von meiner
Schwester. … da hab ich gesagt, Poidl bleib bei mir da … da hab ich
ihn eigentlich ganz gerne gehabt … sag ich bleib bei mir da … nein hat
er gesagt, das geht ja nicht, du bist ja zu alt für mich … ich war aber
hübsch … ich war eine hübsche Frau … ich war sehr hübsch … ja denk
ich mir, hast eigentlich eh recht … aber wenn man einmal was zu tun
hat, ist es halt einmal so, … dann … ich hätte ihn halt danach ganz
gerne gehabt … sagen wir so, nicht …
… na – geht nicht, … da ist er heim gefahren … da hab ich unterbrochen
… und dann ist er da zusammengelaufen und dann ist er herunter
gefahren … ah, da hat er mir zuerst das Geld … das ist auch nicht über

123

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 Fallbeispiele 

Nacht gegangen, weil … da hat er sein Urlaubsgeld herunter (aus OÖ
nach Wien) geschickt … ich war ein armer Hund … ich bin … die bisserl
Rente hab ich gehabt … 500 Schillinge … was hätt ich denn mit dem
gemacht … hat er mir das Urlaubsgeld … ich war anständig … ich hab’s
nicht angerührt … nichts … na und dann ist er herunter gekommen …
(denkt nach) … da hab ich noch nicht entbunden gehabt, da war er
dann schon da … und
(nickt mit dem Kopf, zögert) … da hat er sich
auch recht gefreut … ich hab ja so liebe Kinder gehabt … ich kann es
ihnen gar nicht sagen, … so was Schönes von Kindern …
(lächelt)
Sie lachen, das ist wahr … Und acht Monate später hat er mich dann
geheiratet.

Ziel der Zusammenkunft ist es zum einen Da-Sein-Arbeit zu leisten und
zum anderen im Rahmen des Gesprächs – sofern möglich – die definier-
ten Pflegediagnosen durch Frau Sohm bewerten zu lassen und mögliche
weitere Lösungen einzuleiten.

Im ersten vertiefenden Gespräch am Vortag betonte Frau Sohm aus-

drücklich ihr Vertrauensverhältnis zum Professional. Sie könne derzeit
mit niemand anderem über ihre Situation sprechen.

Während des Gespräches bestätigen sich die Gefühlsdiagnosen der

Angst und der Unsicherheit, der großen Kränkung sowie der Langeweile.
Ebenso bestätigt sich die emotionale Orientierungslosigkeit, da ihr Sohn
keine Einsicht zeigt einen Entzug zu machen und keinerlei finanzielle
Ressourcen besitzt, sich die Sucht weiter zu finanzieren. Allerdings muss
die Gefühlsdiagnose – emotionale Überforderung – verworfen werden,
da sie sich ihrer Entscheidung, in eine Betreuungseinrichtung zu gehen
und ihren Sohn zukünftig in keinster Weise mehr zu unterstützen voll
bewusst ist und von dieser Entscheidung in keiner Gesprächssequenz
abweicht.

Frau Sohm beschäftigte sich zeitlebens auch wenn ihr Sohn körper-

lich zugegen war, alleine. Wie sie selbst betont, ist sie diese Situation
gewohnt und fühlt sich nicht einsam. Aus diesem Grund wird die Ge-
fühlsdiagnose – Einsamkeit – verworfen. Im Gespräch äußert Frau Sohm
jedoch den Wunsch, die Langeweile und das Alleine Sein verändern zu
wollen.

Die Gefühlsmethode der gegenseitigen Geschichten und die Methode

des Denkens in Bildern, kamen zur Anwendung:

„Ich meine, Sie waren einmal im Rollstuhl … haben Sie zu mir gesagt
… Sie waren drei Jahre im Rollstuhl haben Sie zu mir gesagt …“
„Gute drei Jahre“

124

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 Fallbeispiele zum Thema: Da-Sein-Arbeit 

„ …waren Sie im Rollstuhl und wenn Sie da so an den Anfang denken,
da haben Sie auch nicht das Gefühl gehabt, dass Sie da noch einmal
heraus kommen oder …“
„Nein“
„Und irgendwie ist das mit der Zeit auch gekommen, dass Sie eine
gewisse Perspektive gehabt haben, dass Sie … „
unterbricht
„…da hab ich gar nicht viel gemacht, da werden Sie lachen … da war
gar nicht so viel dran …“
„Na ja, es ist eine gewisse Zeit vergangen und in dieser Zeit ist schon
auch etwas passiert und irgendwann haben Sie dann auch gesagt,
jetzt möchte ich es probieren ob ich da heraus komme, aus dem
Rollstuhl … „
„Ach so das, ja ja, … das hat sein müssen … zwei Schritte und dann drei
… das war lange, dass ich drei, vier Schritte habe machen können … “
Frau Sohm bestätigt und erzählt nochmals, dass sie nur zum Einkaufen
hinaus geht und dann wörtlich:
„… vorgestern war es, da bin ich sogar ein Stückerl hinauf gegangen
bis zu den Enten … aber das ist dann schon genug, …“
„Wie war das, als Sie bei den Enten waren?“
Frau Sohm erzählt, dass sie eine halbe Stunde bei den Enten stehen
geblieben ist und ihnen zugesehen hat.
Der Pflegeberater steIlt die Frage, welches Gefühl sie bei den Enten
hatte?
„Ja, glücklich – nicht … jetzt habe ich wieder Vieherl gesehen.“
Frau Sohm beschäftigt sich gerne mit Tieren, sie hat früher auch selbst
Tiere gehabt.
Ja, mir hat es gefallen wenn ich mit den Viehchern … und überhaupt
… da rennen immer die Katzen
(zeigt zum Fenster) herum …“

Der Pflegeberater macht Frau Sohm den Vorschlag, beim nächsten Tref-
fen mit ihr hinauszugehen.

Bilder zeigen Perspektiven auf.

Die Gefahr, ihre Identität zu verlieren kann im Zuge des Gespräches
ebenso verworfen werden. Frau Sohm zeigt deutliche Bestrebungen und
Bemühungen ihre Identität behalten zu wollen. Begründung dieser Aus-
sage kann aus folgender Gegebenheit abgeleitet werden:

Am Ende des siebenten Treffens (18. Juli) vereinbaren der Pflegebe-

rater und Frau Sohm für den 27. Juli einen gemeinsamen Kaffeehausbe-
such. Als der Pflegeberater wie vereinbart, um 14.30 an die Türe ihres

125

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 Fallbeispiele 

Appartements klopft, öffnet Frau Sohm nicht. Nach mehreren Versuchen
geht der Pflegeberater zum Empfangspersonal des Hauses um nachzu-
fragen, ob sie über den Verbleib von Frau Sohm Bescheid wissen.
Sehr überrascht trifft der Pflegeberater am Empfang auf Frau Sohm. Sie
wirkt sehr aufgeregt. Im nachfolgenden Gespräch stellt sich heraus, dass
sie sich des vereinbarten Termins nicht mehr sicher war und jetzt beim
Empfang nachfragen wollte.

Nach Klärung der Situation schlägt Frau Sohm vor, jetzt einmal ins

Appartement zu gehen um eine Zigarette zu rauchen. Anschließend freue
sie sich schon auf den Kaffeehausbesuch.
Der Pflegeberater nimmt ihren Vorschlag gerne an und beide gehen ins
Appartement von Frau Sohm. Auf dem Weg dort hin und im Appartement
erzählt sie dem sichtlich erstaunten Pflegeberater, dass sie sich heute
Vormittag mit ihrem Sohn getroffen habe, mit diesem im Kaffeehaus
gewesen sei und dass sich in der Zeit vom 18. Juli bis heute (27. Juli)
folgendes ereignet habe:
Am 20. Juli rief ihr Sohn am Empfang an und ersuchte, mit seiner Mutter
verbunden zu werden. Nachdem sich die diensthabende Mitarbeiterin
des Empfanges die Erlaubnis bei Frau Sohm eingeholt hatte, wurde sie
mit ihrem Sohn verbunden. Bei diesem Telefonat vereinbarte sie mit ihm
ein Treffen für den nächsten Tag.

Nach dem sie sich im Empfangsbereich der Betreuungseinrichtung

trafen, spazierten sie gemeinsam in den angrenzenden Park. Begleitet
wurden sie von einem sehr „schlimmen Hund“, welchen sich ihr Sohn
aus dem Tierschutzhaus geholt habe.
Sie erzählt, dass sie sich in keinster Weise vor ihrem Sohn gefürchtet
habe und sehr gerne mit ihm spazieren gegangen sei und dass der Hund
für einige Turbulenzen sorgte. Er sei in den Ententeich im Park gehüpft.
Einige Zeit davongelaufen. Als er zurückkam habe er sich nicht einfangen
lassen. Und noch einiges mehr habe er angestellt.

In den letzten Tagen habe sie auch einige Male mit ihrem Sohn telefo-

niert und heute habe er ihr ein Wertkartenhandy gebracht auf welchem
er sie in Zukunft anrufen wird um Kosten zu sparen.

Dem Professional scheint aufgrund der systematischen Analyse ein Iden-
titätsverlust als unrealistisch.

Die verbliebenen Pflegediagnosen, werden im Folgenden genannt:

126

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 Fallbeispiele zum Thema: Da-Sein-Arbeit 

Formulierung einer Pflegediagnosen (2)
• Potentielle Angst und Unsicherheit aufgrund von mehrfach wieder-

holter Gewaltanwendung durch den Sohn.

• Heimatverlust aufgrund von Verlust ihrer Wohnung.
• Langeweile aufgrund von fehlender (Lebens) Aufgabe (hat sich zeitle-

bens um ihren Sohn gekümmert).

• Rollenverlust als Mutter.
• Gefahr des Verlustes der Sinngebung.
• Emotionale Orientierungslosigkeit aufgrund von Aussichtslosigkeit ei-

ner Verhaltensänderung ihres Sohnes.

Modul – Formulierung des / eines gemeinsamen Pflege- /
Betreuungszieles und Festlegen des Outcomes
• Annehmen-Können der Situation.
• Sich Alternativen vor Augen führen (Aussage Frau Sohms: „Es war

noch das Beste was ich machen konnte“ ).

Auf die Frage des Pflegeberaters nach ihrem augenblicklichen Befinden,
antwortet Frau Sohm: „Es geht mir sehr gut. Ich bin froh, mit meinem
Sohn wieder Kontakt zu haben und zu wissen, wie es ihm geht.“

Weiters führt Frau Sohm an, dass sie sich unter diesen Umständen

(der Sohn kommt zu ihr, sie sieht die Wohnung nicht und nicht wie diese
aussieht, …) wohl fühlt und sich gerne mit ihm trifft.
Frau Sohm hat sich auch schon ein nächstes Treffen mit ihrem Sohn
vereinbart.

Nachdem Frau Sohm mehrere Zigaretten raucht und dem Pflegeberater
von den Vorkommnissen der vergangenen Woche berichtet, machen sich
die beiden auf den Weg ins Cafe.

Das Gesprächsthema auf dem Weg dorthin, im Cafe und auch auf

dem Weg zurück bleibt ihr Sohn. Die von Frau Sohm an den Pflegeberater
immer wieder gestellte Frage ob sie richtig gehandelt habe, beantwortet
dieser mit ja.

Zusammenfassend kann gesagt werden:

Es besteht eine wesentliche Verbesserung des Gemütszustandes von

Frau Sohm seit dem letzten Treffen.

Sie

• ist gut aufgelegt.
• freut sich auf das nächste Treffen mit ihrem Sohn.
• zeigt keine Zeichen der Angst vor ihrem Sohn.

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 Fallbeispiele 

• möchte nicht mehr in die Wohnung zu ihrem Sohn zurück. Der Hei-

matverlust scheint zurzeit nicht mehr gegeben zu sein – muss aber
beobachtet werden.

• zeigt keine Zeichen eines Rollenverlusts.
• zeigt keine Zeichen einer emotionalen Orientierungslosigkeit. Dieses

Phänomen sollte dennoch bewusst weiter beobachtet werden.

• zieht sich nicht zurück. Die Gefahr eines Rückzugs ist nicht gegeben.

Ob Frau Sohm die Situation annehmen kann und sich weitere Alternati-
ven der Lebensgestaltung (Wohngestaltung) alternativ vor Augen führen
kann, muss weiter beobachtet werden bzw. bedarf in Zukunft eventueller
Unterstützung.

Die beiden Module „Festlegen des möglichen Outcomes durch die

Bewohnerin / Professional / Team“ und „Regelmäßiges Messen des Out-
comes und gemeinsames Abgleichen der Zielsetzung“ konnten insofern
nicht durchgeführt werden, da bereits Wirkungen (Outcome) der Pfle-
gemaßnahmen vor der Formulierung dieser Module konkret abgeleitet
werden konnten.

11.4.2 Beispiel einer Frau in ihrer Losigkeit

Irritation – Auslöser für Gefühlsarbeit

Frau Los (Name geändert) sitzt an jenem Vormittag auf einem Sessel am
Gang der Betreuungseinrichtung für Menschen, von denen der Großteil
schon sehr lange lebt. Es ist ihre gebückte Körperhaltung und der starr
auf den Boden gerichtete Blick, welche den Pflegeberater irritieren. Er
bleibt vor ihr stehen. Es ist sein Angebot der Kontaktaufnahme. Nach
einiger Zeit hebt Frau Los ihren Kopf und blickt dem Pflegeberater in
die Augen. Dieser Blick lässt im Pflegeberater das Gefühl entstehen,
einer sehr traurigen Frau gegenüber zu stehen. Weder Frau Los noch der
Pflegeberater sagen etwas. Sie schauen sich nur an und dann zeigt Frau
Los auf den neben ihr stehenden Sessel. Jetzt setzt sich der Pflegeberater
und Frau Los beginnt zu sprechen. Sie spricht sehr langsam und die von
ihr gewählte Sprachmelodie lässt den Pflegeberater erkennen, dass sie
ihm etwas ganz Wichtiges mitzuteilen hat.

„Mein Gedächtnis ist ein Wirrwarr!“ und nach einer kurzen Stille in
der der Pflegeberater das tiefe Atmen von Frau Los hören konnte,
spricht sie weiter.
„Mein Neffe hat mir versprochen mich abzuholen.
Ich bin enttäuscht!
Hat er mich alleine gelassen?

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 Fallbeispiele zum Thema: Da-Sein-Arbeit 

Er ist mein einziger Verwandter und jetzt lässt er mich alleine!
Ich kann gar nichts machen.
Sie sehen, ich bin am Ende und er will nicht!
Vielleicht, weil er zu wenig Geld bekommt?
Es ist alles verloren.
Ich hatte eine schöne Wohnung.
Ich weiß nicht ein noch aus!
Ich bräuchte natürlich jemanden, der sich ernstlich für mich interes-
siert.
Ich hatte Freunde, aber die haben sich in letzter Zeit verflüchtigt.
Es ist nichts mehr zu holen bei mir.
Ich habe in meinem Leben viel gelernt … Sprachen … Englisch und
Französisch.
Ich habe diese Sprachen an der Hochschule für Touristik weitergege-
ben.
Meine Schule im 1. Bezirk habe ich mit Erfolg absolviert.
Und dann ist es mit mir bergab gegangen.
Mein Gehirn hat ausgelassen.
Wieso? – Das ist mir ein Rätsel.“

Jetzt nimmt der Pflegeberater wahr, dass Frau Los seine Hand hält. Ir-
gendwann während sie dem Pflegeberater ihre Geschichte erzählt, hat
sie nach dieser gegriffen. Sie hält sie ganz fest und dieses Festhalten
empfindet der Pflegeberater als Auftrag.

Modul – Erkennen der Ressourcen / Auffälligkeiten
Ressourcen Frau Los:
Als Frau Los bei dieser Erstbegegnung mit dem Pflegeberater spricht,
ergreift sie seine Hand und hält diese fest.
• Frau Los ist fähig, Körperkontakt aktiv aufzunehmen (Halten der

Hand).

• Sie kann ihre Gedanken verbalisieren.

Auffälligkeiten Frau Los:
• Frau Los nimmt eine gebückte Körperhaltung ein.
• Frau Los zeigt einen starren, auf den Boden gerichteten, Blick.

Modul – Formulierung einer Gefühlsdiagnose
Dieses An-der-Hand-Halten ist ein Auftrag an den Pflegeberater.
• Losigkeitssyndrom aufgrund von sich machtlos fühlen, von sich hoff-

nungslos fühlen, von sich ratlos fühlen, …

129

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 Fallbeispiele 

Modul – Bewertung der Gefühlsdiagnose durch die
Bewohnerin
Frau Los gibt nonverbal zu erkennen, dass sie die Nähe des Pflegeberaters
wünscht und er in ihre Gefühlswelt eintreten darf.
Dieser Wunsch bzw. diese Erlaubnis ist im aktiven Aufnehmen des Blick-
kontaktes sowie in dem, mit der Hand vorgenommenen Hinweis, an den
Pflegeberater, sich auf den leeren, neben ihr stehenden Stuhl zu setzen,
zu erkennen.

Modul – Formulierung des / eines gemeinsamen Pflege- /
Betreuungszieles und Festlegen des Outcomes
• Sie spüren lassen, sie ist ein soziales Wesen.
Damit wird einem menschlichen Grundbedürfnis, in Gemeinschaft leben
zu können, nachgekommen.

Modul – Setzen einer Betreuungshandlung / Anwendung
von Gefühlsarbeit
• Da-Sein-Arbeit: Der Pflegeberater setzt sich zu ihr und ist „mit ihr in

der Welt“ und bei ihr.

Modul – Bewertung des Outcomes durch die Bewohnerin
• Nicken und Lächeln.

Modul – Bewertung des Outcomes durch den Professional
Nach einigen Minuten drückt Frau Los dem Pflegeberater die Hand ganz
leicht um sie anschließend los zu lassen. Der Pflegeberater und Frau Los
blicken sich jetzt in die Augen. Nach einer Weile nickt Frau Los und der
Pflegeberater hat das Gefühl, sie durch sein Da-Sein auf ihrem Weg aus
der Fassungslosigkeit begleitet zu haben.

Das Loslassen seiner Hand durch Frau Los sowie ihr anschließendes

Nicken sind für den Pflegeberater ein „Fassungszeichen“. „Kann ich noch
etwas für Sie tun?“
fragt der Pflegeberater. „Nein“, antwortet Frau Los
und das Nein wird von einem ganz leichten Lächeln begleitet. „Dann
gehe ich jetzt“,
sagt der Pflegeberater. „Ja“ antwortet Frau Los, hebt ihre
rechte Hand und winkt ganz leicht.

Die Module „Regelmäßiges Messen des Outcomes und gemeinsames
Abgleichen der Zielsetzung“ sowie „Setzen von weiterer Gefühls- / Pfle-

130

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 Fallbeispiel zum Thema: Ablenkungsarbeit 

gearbeit“ haben bei diesem Fallbeispiel keine Notwendigkeit. Im Hier
und Jetzt in der Begegnung zwischen Frau Los und dem Pflegeberater
wird Gefühlsarbeit erfolgreich eingesetzt. Ebenso kommt es zu einem
Präventiveffekt im Sinne eines ersten diagnostischen Prozesses.

Die Da-Sein-Arbeit bei Frau Los umfasst insgesamt eine Stunde.

11.5 Fallbeispiel zum Thema:

Ablenkungsarbeit

11.5.1 Beispiel eines Mannes, der sein Gehen als Niederlage

erlebt

Bei diesem Beispiel der Ablenkungsarbeit handelt es sich um eine Be-
gegnung Mitte der 90er Jahre. Zu diesem Zeitpunkt gab es noch keine
Kenntnis über Gefühlsarbeit. Der Pflegeprozess lag in den Anfängen und
Pflegediagnosen waren in Österreich noch kein durchgehender Begriff.
Dieses Beispiel zeigt dennoch eindrücklich Ergebnisse fragmentierter
Gefühlsarbeit, deren Möglichkeiten und Chancen. Sie wurden in die-
sem Beispiel weder prozesshaft verarbeitet noch wurden sie alle ge-
nutzt.

Herr Leitner (Name geändert) ist 84 Jahre alt und war von Be-

ruf Lehrer. Er lebt seit zirka zwei Jahren im Pflegeheim und ist durch
seine fortschreitende Parkinsonerkrankung in seiner Mobilität einge-
schränkt.

Der Pflegeberater beobachtet das tägliche Mobilitätstraining von Herrn
Leiter. Es ist gekennzeichnet durch Stöhnen, lautes Atmen und verzerr-
tem Gesicht.

„Ich bin vorhin, als Sie mit einer Begleitperson zu diesem Tisch gegan-
gen sind dort drüben auf der Bank gesessen und habe Sie beobachtet“
,
sagt der Pflegeberater
„Und während ich Sie so beobachtete entstand in mir eine Frage, wel-
che ich Ihnen jetzt gerne stellen würde. Haben Sie Interesse daran?“
Herr Leitner nickt.
„Wie erleben Sie ihr Gehen?“
Nach einer kurzen Pause beginnt Herr Leitner zu sprechen.
„Ich erlebe das Gehen jedes Mal als Niederlage. Ich weiß, dass sich
meine Situation nicht mehr verbessern wird. Ich möchte lieber heute
sterben als morgen. Ich weiß, dass ich das nicht beeinflussen kann.
Ich kann keine Freude mehr erleben. Ich kann mir meine Therapie und

131

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 Fallbeispiele 

Pflegekosten nicht mehr lange leisten. Ich stehe vor dem finanziellen
Ruin. Ich weiß nicht, wie es mit meiner Frau weiter geht.“

Jetzt entstand eine Pause. Dem Pflegeberater ging das Gedicht des Pan-
thers durch den Kopf:

Der Panther (Rilke 1902):
Im Jardin des Plantes, Paris

Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, dass er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.

Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein großer Wille steht.

Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
sich lautlos auf –. Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille –
und hört im Herzen auf zu sein.

Nach einiger Zeit unterbricht der Pflegeberater die Stille und stellt Herrn
Leitner die Frage, wie er sich und seine Fähigkeiten, bezogen auf das
Gehen, benoten würde.

Seine Antwort ist: „Mit Nicht genügend!“
Nach einer weiteren Pause fragt der Pflegeberater Herrn Leitner, wie
er als Pädagoge Schülerinnen, deren Leistung er mit Nicht genügend
beurteilt hatte, behandelte.
Seine Antwort: „Ich habe nur ganz selten die Note – Nicht genügend –
gegeben. Mir war es wichtig den Menschen als Ganzes zu sehen und
nicht nur seine Leistung.“
Jetzt fragt der Pflegeberater Herrn Leitner, ob er wissen möchte,
welches Gefühl ihn im Moment beschäftigt.
Und als Herr Leitner nickt, sagt der Pflegeberater: „Ich habe das Ge-
fühl, Sie können im Gehen der heutigen Strecke keine von Ihnen er-
brachte Leistung erkennen.“
Herr Leitner nickt wieder und nach einer kurzen Pause, sie ist durch
die Regungslosigkeit von Herrn Leitner gekennzeichnet, sagt er: „Ich
kann meine augenblickliche Situation nicht in Worte fassen. Sie er-
drückt mich.“

132

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 Fallbeispiel zum Thema: Ablenkungsarbeit 

Eine Stille entsteht und als Herr Leitner sie unterbricht, klingt seine
Stimme gefasst. „Ich weiß, dass sich daran nichts verändern wird. Frü-
her habe ich gerne klassische Musik gehört, bin gerne Schi gefahren
und habe mich gerne bewegt.“
„Wo sind Sie Schi gefahren“?
fragt der Pflegeberater.
„Auf dem Bödele“, antwortet Herr Leitner sehr spontan.
„Wie sieht es denn auf dem Bödele aus?“ fragt der Pflegeberater. „Ich
war noch nie dort. Welche Berge kann man sehen und welche Bäume?
Wie ist die Beschaffenheit der Pisten?“
Und Herr Leitner beginnt zu erzählen. Er erzählt lange aber Zeit ist
in diesem Jetzt kein Thema. Nach Ende des Monologs schweigt Herr
Leitner.
Mit der Frage: „Haben Sie während des Erzählens in Ihren Gedan-
ken Bilder von der Landschaft, von den Pisten und vom Schifahren
gesehen?“
unterbricht der Pflegeberater die neuerlich entstandene
Stille.
„Ja!“ ist die spontane Antwort von Herrn Leitner. Und in der Sprach-
melodie ist die Einzigartigkeit seines jetzt Wiedererlebten klar zu er-
kennen.
„Möchten Sie mir sagen, welche Gefühle Sie in diesem Augenblick
verspüren?“
fragt der Pflegeberater.
Herr Leitner schweigt eine Weile. Dann sagt er: „Es sind wunder-
schöne Gefühle.“
„Die Entscheidung, an Wunderschönes zu denken, steht uns frei.“
„Ja.“
Jetzt kehrt Stille ein und nachdem einige Minuten vergangen sind,
hebt Herr Leitner seinen Kopf, blickt dem Pflegeberater in die Augen
und sagt: „Ich habe Sie verstanden.“

Nach dieser Aussage sitzen der Pflegeberater und Herr Leitner noch
einige Zeit schweigend am Tisch. Dann begegnen sich ihre Blicke und
werden von einem Nicken gefolgt. Dieses Nicken ist für den Pflegeberater
das Zeichen für die Beendigung der Ablenkungsarbeit.
Er begegnet Herrn Leitner noch oft. Und das Markenzeichen ihre Begeg-
nungen ist die Aussage von Herrn Leitner: „… ah! Bödele!“
Und die Erinnerung an ein Lied von Andre Heller lässt ihn den Merksatz
formulieren: „Die wahren Abenteuer sind im Kopf und sind sie nicht im
Kopf, dann sind sie nirgendwo“

133

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 Resümee und Ausblick 

12

Resümee und Ausblick

Das Konzept der Gefühlsarbeit stellte sich in der Praxis als höchst wirksam
heraus: überall dort, wo das Zusammenspiel und die Zusammenarbeit
auf eine „geöffnete“ Beziehungs- bzw. Gefühlsebene traf, konnten im
Vorfeld nicht zu erahnende Erfolge erzielt werden. Die Autorinnen hat-
ten bei den Klientinnen nie Ablehnung erfahren: Eine wahrgenommene
Irritation als Hilferuf im Gefühlsprozess öffnet Menschen für ihr wahrge-
nommen sein als Mensch. Das Erkennen, was Gefühlsarbeit alles leisten
kann, generiert Motivation, bringt den Teams Freude und lässt Pflege
als eine wertschätzende und sinnvolle Arbeit erkennen und verspüren.
Verhaltensweisen konnten durch die Erkenntnisse aus der Neurobiologie
besser verstanden und adäquater in den Ansätzen der humanistischen
und interaktionistischen Modelle umgesetzt werden.

Gefühlsarbeit = Erfolgsarbeit

Die Gesellschaft setzt große emotionale Erwartungen in die Berufs-
gruppe der Pflegenden. Gefühlsarbeit kann helfen, die emotionalen Be-
dürfnisse stärker in den Vordergrund von Gesundheitsarbeit zu rücken.
Dies scheint umso wichtiger als wir wissen, „… die Psycho-Neuro-
Immunologie (mag) noch so eindrucksvoll belegen, wie stark die psychi-
sche Verfassung das Immunsystem und damit die Prozesse der Erkran-
kung und Gesundung steuert, (und mag) Gesundheit und Krankheit als
Produkt sozialer Beziehungen begreifen – der gesamte Medizinbetrieb
bleibt in seinem röhrenförmigen Denken und den ritualisierten Handlun-
gen verhaftet: Einer „Diagnose“ genannten mechanischen Zuordnung
von Beschwerden zu ein, zwei Körperfunktionen folgt eine „Therapie“ ge-
nannte Verabreichung von ebenso vielen Chemikalien:“
(Langbein 2009,
135f.). Die Kosten für Arzneimittel steigen jährlich doppelt so rasch wie
alle anderen Ausgaben für den Medizinbetrieb. Ist die österreichische
Gesellschaft wirklich so krank? Oder unterwirft sie sich den ausgefeilten
Marketingstrategien der Pharmakonzerne, die glauben machen wollen,
Gesundheit wird durch Medikamente hergestellt? Es wird Zeit, auch den
Forschungsergebnissen aus Public Health, aus den Sozial- und Kultur-
wissenschaften und aus der Neurobiologie Glauben zu schenken und
einen Paradigmenwandel insofern zu initiieren, dass auch vermehrt Be-
ziehungsarbeit als professionelle Gesundheitsarbeit Anwendung findet.
Pflege kann dazu einen außerordentlichen Beitrag leisten. Damit würde
eine Forderung vieler Psychologinnen, Psychotherapeutinnen, Sozialwis-

134

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 Resümee und Ausblick 

senschaftlerinnen und Neurobiologinnen nach einem menschlicheren
und möglicherweise zielorientierteren und effektiveren Umgang mit Kli-
entinnen im Gesundheits- und Sozialwesen Ausdruck verliehen. Voraus-
setzung ist, Gefühlsarbeit als ein Selbstverständnis in den Dienstleis-
tungen zu betrachten. Dazu müssen Rahmenbedingungen wie bereits
erwähnt forciert werden.

Gefühle und Gefühlsarbeit sind eine Ressource, die in der täglichen Ar-
beit auf allen Ebenen vernachlässigt werden. Sie können aber belebt
und institutionalisiert eingebracht werden. Dies zu tun, unterliegt einem
Wertemanagement einer Organisation, das nebst betriebswirtschaftli-
chen Vorteilen (Wirkung auf Klientinnen und Mitarbeiterinnen) auch
volkswirtschaftliche hervorbringen kann. Stellt sich nur die Frage, wer
hat Interesse an Gefühlsarbeit und wer aus welchen Gründen nicht?

Aufruf

Wir rufen im Rahmen der Gesundheitsarbeit zu mehr Mut zur bewussten
und als Arbeit nachgewiesenen Gefühlsarbeit auf. Wir freuen uns über
Ihre Beispiele und jede Art von Diskurs und konstruktiver Kritik. Bleiben
Sie mit uns in Kontakt und unterstützen Sie die Weiterentwicklung dieses
Konzepts. Sie finden uns unter www.gefuehlsarbeit.com

Ein herzliches Danke für Ihren wertvollen Beitrag!

Ihre

Ihr

Silvia Neumann-Ponesch

Alfred Höller

In diesem Sinne …

„…spann deine Schwingen
flieg Ikarus
nicht das Gelingen,
nur der Versuch
zählt am Schluss“ …

Wilfried (aus dem Lied „Ikarus“)

135

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Wovon ist die Rede bei diesen Gesichtern?

Ihr Minen-Spiel lässt Ver-Mutungen zu als Indiz dafür,

dass ihnen „Sprache“ hat Sinn.

(aus dem Japanischen wörtlich übersetztes Gedicht,

Hugo Neumann, Februar 2006; heute September 2010: 91ig jährig)

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