promenades

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Neue Promenaden braucht die Stadt

Promenaden inszenieren eine Stadt, wie sie nur auf der Promenade exis-

tiert. Hier werden soziale Verhältnisse resymmetrisiert, die es anderenorts in
der Stadt nur in der Form der Asymmetrie gibt. Hier promenieren Gewer-
betreibende neben Arbeitern, Frauen neben Männern, Alte neben Jungen,
Erfolgreiche neben Erfolglosen, Arme neben Reichen, Gläubige neben Un-
gläubigen, Alteingesessene neben Zuwanderern, Gelehrte neben Ungelehr-
ten, Schöne neben Hässlichen, Verheiratete neben Junggesellen, Mutige ne-
ben Verzagten, Weitgereiste neben Hiergebliebenen, als mache all das letzt-
lich keinen wesentlichen Unterschied, weil es in der Stadt dazu gehört, ver-
schieden und dennoch gleich zu sein. Auf der Promenade ist man Bürger,

Teil einer ebenso idealen wie realen Gesellschaft.

Vermutlich ist die Stadt, verglichen mit ande-

ren sozialen Orten wie dem Dorf, dem offenen
Feld, dem Tauschplatz und dem Schlachtfeld der
erste und einzige Ort, an dem Menschen Kon-
taktmöglichkeiten unter der präzisen Bedingung
finden, den Kontakt auch vermeiden zu können.
Denn wer in einem Dorf lebt, kann den Kontakt
nicht vermeiden. Wer sich auf offenem Feld be-

Promenades present a city which exists in this

form only on the promenade itself. Here, social
relations – asymmetrical in any other part of the
city – are re-symmetrised, brought back into bal-
ance. Here, people promenade side by side:
White collar or blue collar, woman or man, old or
young, successful or unsuccessful, rich or poor,
religious or atheist, old-timer or newcomer, edu-
cated or uneducated, beautiful or unattractive –
it all doesn’t really matter at the end, because be-
ing different and yet equal is part of life in the
city. On the promenade, people are citizens, part
of an ideal as well as real society.

Compared to other social places like the vil-

lage, the open field, the market place and the bat-
tle field, the city is probably the first and only place
where people are able to make contact under the
precise condition of being able to also avoid con-
tact. For when you live in a village, you cannot
avoid contact. When you encounter someone in
the open field, you can only go the other way.
When you go to a market place you cannot pass on
a business deal that everyone expects you to make.
And when you fight a battle you can only leave the
battle field as a winner or loser (if at all).

The city, so the inconspicuous term by Max

Weber, is a form of living together that lacks “the
specific, personal and mutual relationships of in-
habitants otherwise common to neighbourhoods.”
Only very few things – speech, writing, printing,
the computer – have changed human society as
profoundly as the occurrence of the city in which
it became possible to make the choice between
getting to know strangers – or not. Today, we have
become so used to this that we no longer notice
how unusual it is to deal with strangers: the name-
less judges at court, the at first unfamiliar teachers

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Dirk Baecker

Neue Promenaden wie Volkshochschulen und

Fitnesscenter ersetzen in der postmodernen

Stadt Boulevards und Passagen.

New promenades such as community colleges

and fitness centres replace boulevards and pas-

sages in the postmodern city.

The city needs new promenades

Einkaufsgalerien in Bahnhöfen
– im Bild die kürzlich fertigge-
stellten Passagen des Leipziger
Hauptbahnhofs – sowie Shop-
ping Malls sind die heutigen
Promenaden. Sie gewähren
Anonymität, doch zugleich er-
möglichen sie Begegnungen.

Shopping arcades in railway
stations – pictured here are
the new arcades of the Leipzig
Central Station – as well as
shopping malls are the prome-
nades of today. They provide
anonymity, yet at the same
time allow people to meet.

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at school, unknown government officials, un-
known sales people in every store, unknown
priests in every pulpit, unknown artists in every
museum. And yet, we still accept the verdict, are
willing to learn, accept political resolutions, pay
for the merchandise with good money, welcome
the revelation and admire the art work.

It is only when expressed in this manner that

one might notice the considerable amount of un-
certainty that still lies within these relationships.
We can take advantage of this uncertainty at any
time – to escape from legal verdicts, scholastic de-
mands, political dilemmas, marketing strategies,
missionary gestures, or aesthetic eccentricities –
albeit not always as needed.

The city is the social place where we can start

a conversation with strangers – or not. And this is
where “promenades” come into the picture. If we
assume that the fractured structural principle of
the city consists of meeting strangers at any time
and anywhere – strangers that we might chose to
meet or not to meet – then the promenade is in-
deed the place highlighting the structural princi-
ple, presenting it and making it liveable.

This means, however, that the “promenade”

re-symmetrises what is asymmetrical elsewhere in
the city and in society. On the promenade, the fa-
mous and the unknown stroll as equals – of rank
and worth – and thus present both sides of one
distinction that elsewhere structures the behav-
iour not as equal but as non-equal of rank and
worth. We segregate at home, at the office and
even at the store what on the promenade in our
immediate surroundings is perfectly acceptable.
One could also say that the city uses the prome-
nade to play with differences that it normally in-
sists upon without any qualms. The promenade

gegnet, kann sich nur aus dem Weg gehen. Wer einen Tauschplatz aufsucht,
kann auf das Geschäft nicht einfach verzichten, das dort erwartet wird. Und
wer sich auf eine Schlacht einlässt, kann nur als Sieger oder Besiegter das
Schlachtfeld verlassen (wenn überhaupt).

Erst die Stadt, so das unauffällige Wort von Max Weber, ist eine Form des

Zusammenlebens, in dem die »sonst dem Nachbarverband spezifische, per-
sönliche gegenseitige Bekanntschaft der Einwohner miteinander fehlt.« Nur
weniges, die Sprache, die Schrift, der Buchdruck, der Computer, haben die
menschliche Gesellschaft so tiefgreifend verändert wie das Auftreten der
Stadt, in der es möglich wurde, die Wahl zu haben, Unbekannte kennenzu-
lernen oder nicht. Wir haben uns daran heute so sehr gewöhnt, dass wir nicht
mehr merken, wie ungewöhnlich es ist, dass wir es vor Gericht mit uns per-
sönlich unbekannten Richtern, in der Schule mit uns zunächst einmal unbe-
kannten Lehrern, in der Politik mit unbekannten Amtsinhabern, in jedem
Laden mit unbekannten Verkäufern, auf jeder Kanzel mit einem unbekann-
ten Priester und in jedem Museum mit einem unbekannten Künstler zu tun
haben und dennoch das Gerichtsurteil annehmen, bereit sind, etwas zu ler-
nen, politische Entscheidungen akzeptieren, die Ware mit gutem Geld be-
zahlen, die Offenbarung begrüßen und das Kunstwerk bewundern.

Erst wenn dies so formuliert wird, merkt man vielleicht, dass in all dem

nach wie vor ein guter Teil Unwahrscheinlichkeit steckt, die wir jederzeit,
wenn auch nicht ganz nach Bedarf, wieder ausnutzen können, um uns
rechtlichen Urteilen, Wissenszumutungen, Zwangslagen der Herrschaft,
Marketingstrategien, missionarischen Gesten und ästhetischer Verstiegen-
heit auch wieder zu entziehen.

Die Stadt ist der soziale Ort, an dem wir mit Unbekannten ins Gespräch

kommen können, es aber auch bleiben lassen können. Und genau hier
kommen die »Promenaden« ins Spiel. Wenn wir einmal davon ausgehen,
dass das fraktale Strukturprinzip der Stadt darin besteht, es überall und je-
derzeit mit Unbekannten zu tun haben zu können, gegenüber denen wir
die Verhaltensoption haben, sie entweder kennenzulernen oder nicht ken-
nenzulernen, dann ist die Promenade der Ort schlechthin, der dies in dem
Sinne inszeniert, dass er dieses Strukturprinzip in der Stadt auf den Punkt
bringt, vorführt und lebbar macht.

Das aber bedeutet, dass die »Promenade« resymmetrisiert, was anderen-

orts in der Stadt und in der Gesellschaft nur asymmetrisch vorliegt. Auf der
Promenade wandeln Bekannte und Unbekannte gleichwertig und gleichran-

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gig und inszenieren so die beiden Seiten einer Unterscheidung, die anderen-
orts das Verhalten nicht als gleichwertig und gleichrangig, sondern als un-
gleichwertig und rangverschieden strukturiert. Zuhause, im Betrieb und
selbst im Laden unterscheiden wir strikt, was wir auf der Promenade durch-
aus in unmittelbarer Nachbarschaft akzeptieren. Man könnte auch sagen,
dass die Stadt auf der Promenade mit Unterschieden spielt, auf denen sie an-
sonsten ohne Rücksicht besteht. Die Promenade ist das Theater der Stadt.
Hier erlebt man, was es heißt, wenn die eigenen Eltern den Kindern fast
fremd werden und der promenierende Künstler der bewundernden Buch-
händlerin fast bekannt. Dieses »fast« zieht eine haarfeine Trennlinie, die es er-
laubt, sich unter Kindern und Eltern dann doch eher als wechselseitig be-
kannt und zwischen Künstler und Buchhändlerin erst einmal als unbekannt
zu behandeln. Denn beide Zustände, das Bekanntsein ebenso wie das Unbe-
kanntsein, sind voraussetzungsvoll und in diesem Sinne artifiziell. Sie können
nur in ihrem Gegensatz abgesichert und plausibel gemacht werden. In einem
bestimmten Sinne erscheint einem das Verhalten auf der Promenade daher
auch als »natürlicher«. Denn es besteht eben nicht auf dem Unterschied, auf
den man anderenorts um keinen Preis verzichten kann. Aber es besteht auch
nur fast nicht auf diesem Unterschied. Es spielt ihn, aber es negiert ihn nicht.
Es überschreitet die Grenze nicht, sondern es beschreitet sie.

Die Promenade hat die Funktion, das Fraktal zu inszenieren, auf dessen

Wiederholung (»Iteration«, sagen die Theoretiker) die Struktur der Stadt
beruht. Wer sich darüber beunruhigt, dass die Promenaden verschwinden,
ist daher zu Recht darüber beunruhigt, dass die Ordnung der Stadt als Ord-
nung unter Unbekannten gefährdet ist.

In einem zweiten Schritt ist jedoch darauf hinzuweisen, dass die Beun-

ruhigung nur dann gerechtfertigt ist, wenn diese Struktur nirgendwo an-
ders einen neuen Ort gefunden hat. Das soziologische Argument, das die
»Funktion« der Promenaden zu beschreiben versucht, verwandelt sich dann
in eine Heuristik, die auf die Suche danach schickt, wo Unbekannt und Be-
kannt sich ähnlich zivil begegnen wie bislang nur auf der Promenade.

Schaut man genauer hin, entdeckt man, dass die bisherigen Verkörpe-

rungen der Promenaden auf Boulevards, in Passagen, auf Marktplätzen und
Kirchplätzen einem Stadtmodell entsprachen, in dem der Bürger im wesent-
lichen religiös kultivierter Wirtschaftsbürger, also Unternehmer, Arbeiter, Be-
amter oder Lehrling ist und neben sich nur jene Priester, Gelehrte und Intel-
lektuelle duldet, die für eine Kultur der Symmetrie (vor Gott, dem Wissen

is the theatre of the city. Here, one can experience
what it means when parents almost become
strangers to their children and the strolling artist
almost becomes friends with the bookseller. This
“almost” draws a very thin line that allows chil-
dren and parents to treat each other rather with
mutual familiarity and the artist and bookseller to
treat each other, initially, with unfamiliarity.
However, both situations – the familiarity as well
as the unfamiliarity – are pre-suppositional and in
this sense artificial. Only in their contrast can they
be secured and made plausible. In a certain sense
our behaviour on the promenade seems more
“natural” for it does not insist upon the difference
that we elsewhere cannot do without under any
circumstances. However, it only almost does not
insist on this difference. It plays with it but doesn’t
negate it. It doesn’t cross the line but walks on it.

The promenade’s function is to set the scene for

the fracture; its repetition (“iteration”, as the theo-
rists call it) is the foundation of the city’s structure.
Whoever is concerned about the disappearance of
promenades is in reality concerned about the fact
that the structure of the city as a structure amongst
strangers is endangered – and rightfully so.

Having said that, one should point out that

this concern is only justified if the structure has
not found its new place anywhere else. The very
sociological argument that attempts to describe
the “function” of promenades then turns into a
heuristic means that sends us searching for a
place where the familiar and unfamiliar can meet
in the same civilised way as they used to on the
promenade.

Taking a closer look, one discovers that the

current embodiment of promenades on boule-
vards, in colonnades, on market places and

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Inline-Skaten, Stadtmarathon
oder andere sportliche Groß-
veranstaltungen: Die Stadt
dient als Kulisse und Bühne;
hier wird Freizeit inszeniert.

Inline skating, city marathons
or other sports events: The city
serves as a backdrop and
stage; here, the production of
leisure time takes place.

church yards correspond to a city model in which
the citizen is essentially a religious, cultivated
working citizen: entrepreneur, factory worker,
civil servant, employee or apprentice and only ac-
cepts those priests, scholars and intellectuals that
represent a culture of symmetry (before God, be-
fore knowledge, before the enlightenment) with-

oder der Aufklärung) inmitten der Gesellschaft der Asymmetrie stehen. Aus
dieser Gesellschaft Alteuropas und ihrer Stadt wachsen wir heraus, ohne dass
sich die Funktion der Stadt deswegen um einen Deut ändern müsste. Nur
ihre Realität wird eine andere sein, weil sie um andere Asymmetrien kreist
und deswegen auch neue Formen der Inszenierung von Symmetrien braucht.

Die postmoderne Gesellschaft realisiert sich in Asymmetrien, die sich

weniger um Familie, Beruf und Kultur drehen als vielmehr um Beziehun-

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gen, Projekte und Milieus. Die Ordnung der Verhältnisse von Eltern und
Kindern, Vorgesetzten und Mitarbeitern, Gebildeten und Ungebildeten
wird dadurch nicht überflüssig, aber sie tritt gegenüber der Ordnung von
Räumen der Intimitätsanbahnung, der temporären und ephemeren Ar-
beitsorganisation und der Insider/Outsider-Unterscheidung zurück. Heu-
tige Promenaden, wenn es sie denn gibt, müssen also nicht mehr zeigen,
dass Familien sich auch gesittet benehmen können, hierarchisch Abhängi-
ge sich auch respektieren können und Gebildete um die Vorzüge des ge-
sunden Menschenverstands wissen, sondern sie müssen Flüchtige binden,
Unruhige konzentrieren und Desorientierten Orientierung bieten.

Und wo finden wir diese Promenaden? Auf Flughäfen und Bahnhöfen,

in Diskotheken und Kinopalästen, in Volkshochschulen (vielleicht sogar
Universitäten) und Bibliotheken (in Glücksfällen), in Fitnesszentren, Well-
nesszentren und auf Golfplätzen, Hiking Tracks und Managerabenteuer-
spielplätzen, überall dort also, wo hinreichend viel Platz für hinreichend vie-
le Leute mit einer hinreichend genauen Beschäftigung und Unterhaltung
kombiniert ist. Das sind die postmodernen Promenaden, auf denen man
sich kennenlernen kann, ohne sich kennenlernen zu müssen, und auf denen
man erprobt, welchen Unterschied man machen kann, wenn man sich un-
ter genau den Leuten bewegt, unter denen man sich bewegen möchte.

in an asymmetrical society. We are outgrowing
this society of Old Europe without the function
of the city necessarily having to change one bit.
Only its reality will be a different one because it
revolves around asymmetry and therefore needs
new presentation forms of symmetry.

The postmodern society actualises itself in

asymmetries which are less about family, profes-
sion and culture but rather about relationships,
projects, and milieus. The structure of relation-
ships of parent and child, superior and subordi-
nate, educated and uneducated does not become
irrelevant but takes second place to the structure of
spaces that allow for approaches of intimacy, for
temporary or ephemerical organisation of work
and for the insider/outsider comparison. Contem-
porary promenades – if they do in fact exist – don’t
only have to prove that families can behave in a
civilised manner, that hierarchy-dependents can
also respect each other and the well-educated can
also appreciate common sense. They also have to
attract the volatile, settle those who are restless and
offer orientation to the disoriented.

And where do we find these promenades? At

airports and railway stations, in discotheques and
multiplex movie theatres, in community colleges
(maybe even universities) and libraries (if we are
lucky), in fitness studios, wellness centres and on
golf courses, on hiking trails and at adventure
camps for managers – thus, anywhere that we
would find enough space for enough people
combined with a specific activity and entertain-
ment. Those are the promenades of the Post-
modern Age: We can – but are not forced to –
meet people, and we can test what difference we
can make when we mingle exactly with those
people we want to mingle with.

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Die Promenaden sind nicht aus
der Stadt verschwunden. Sie
finden sich nur an anderen,
der heutigen Gesellschaft an-
gepassten Orten wieder. Zum
Beispiel in Großkinos wie dem
UFA-Palast in Dresden von
Coop Himmelb(l)au.

Promenades have not disap-
peared from the city. But they
have moved to other places
that have adapted to today’s
society: Multiplex movie the-
atres such as the UFA Palast of
Coop Himmelb(l)au in Dres-
den, for example.


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