Egzamin wstępny lektura 2 JOHANNES GUTENBERG UNIVERSITÄT MAINZ

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TEXTconTEXT 11 = NF 1, 1997, 99-127

Erich Prun

č

Translationskultur

1

(Versuch einer konstruktiven Kritik des

translatorischen Handelns)

Man braucht nicht lange in Reiseführern, Fremdenverkehrsprospekten und
Hochglanzbroschüren über berühmte Kunststätten zu blättern, um zu ent-
decken, daß der Aufwand, der von den Verlegern und Herausgebern für die
Ausstattung der Publikation getrieben wurde, offensichtlich in keinem Ver-
hältnis zum Aufwand stand, der notwendig gewesen wäre, um eine Über-
setzung zu gewährleisten, deren sprachliches Kleid auch in einem adäqua-
ten Verhältnis zur repräsentativen Aufmachung stünde. Gebrauchsanwei-
sungen, die so manchem Produkt beigelegt sind, dienen ungeachtet der
Haftpflicht der Hersteller nicht selten eher der Desinformation als der In-
formation der Kunden (vgl. z. B. Hönig 1995, 79f). Übersetzungen von
Texten, die in ihrer Ausgangskultur von höchster politischer oder kulturel-
ler Relevanz sind, erscheinen bisweilen in Textfassungen, die eine ein-
wandfreie zielkulturelle Rezeption unmöglich machen, obwohl Unsummen
darauf verwendet werden, um sie entsprechend auf dem Markt und in der

1

Erweiterte Fassung des Referats beim Kongreß Transferre necesse est; Budapest, 5.-7.

September 1996.

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Imagewerbung zu placieren (vgl. Prunč 1993; 1996). Es scheint also etwas
nicht zu stimmen mit der wirtschaftlichen Logik des Translationsmarktes.
Der repräsentative und ökonomische Wert einer Publikation, der Erfolg
eines Kongresses oder gar die Ergebnisse langwieriger Verhandlungen
werden nicht selten leichtfertig aufs Spiel gesetzt, weil am falschen, näm-
lich dem zentralen Ort des kulturellen Transferprozesses, bei der Translati-
on, gespart wird.

1 Kleines Florilegium von Vorurteilen und Stereotypen

1.1 Vom Image der Translatoren

Es hat auf den ersten Blick überhaupt den Anschein, daß die vielbeschwo-
renen Leitvorstellungen von der kulturellen Vielfalt und der Respektierung
des Andersseins der Anderen, vom Wert der Multilingualität und Multikul-
turalität, von der Unabdingbarkeit einer möglichst konfliktfreien interna-
tionalen Kommunikation im Handlungsfeld Translation nicht zu gelten
scheinen, daß im vielzitierten global village gerade jener Berufsstand, der
als erster berufen wäre, an den Schaltstellen der internationalen Kommuni-
kation zu stehen und sie aktiv mitzugestalten,

2

eher in ihren Randbereich

abgedrängt wurde.
Wir wollen die Ursache für diese Diskrepanz zunächst ungeschützt dem
schlechten Image der Translatoren zuschreiben, das sich aufgrund konkre-
ter Negativerfahrungen mit Translation und Translatoren

3

entwickelt hat

und das manche Schwarzseher bereits um die berufliche Zukunft der Über-
setzer und Dolmetscher fürchten läßt. Willkommene Anlässe, die dieses
Negativimage festigen, scheint es genug zu geben. So etwa - um noch eini-
ge Beispiele aus dem Bereich des Dolmetschens hinzuzufügen -, als beim
Haager Kriegsverbrecherprozeß bereits die Einvernahme des Beschuldigten

2

Vgl. European Translation Platform (1996, 163): „The translating and interpreting

professions have a distinct obligation to promote the multilingualism of Europe, for
both ethical and practical reasons. [Absatz] Ethically, because these professions can
do more than almost any other [...] to maintain the cultural richness that exists in mul-
tilingual diversity. Practically, because the very future of these professions depends on
people using translators and interpreters to communicate rather than having to resort
to a lingua franca (usually a reduced form of English).“

3

Um den Text nicht mit maskulinen und femininen Doppelformen zu belasten, verwen-

den wir das generische Maskulinum. Unter Translatoren, Lehrern, Ausbildnern, Poli-
tikern usw. sind selbstverständlich auch Translatorinnen, Lehrerinnen, Ausbildnerin-
nen, Politikerinnen usw. zu verstehen.

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aufgrund der Dolmetschprobleme zu scheitern drohte oder bei der Fernseh-
übertragung der Unterzeichnung des Vertrages von Dayton in Paris die
Dolmetschung aus dem Bosnischen und Kroatischen lediglich aus inko-
härenten Satzfolgen bestand. Der serbische Präsident Miloševi

c

hatte so et-

was offensichtlich geahnt, denn er hatte sein Mißtrauen gegenüber den Dol-
metschern dadurch zum Ausdruck gebracht, daß er sich entschloß, sein Sta-
tement auf Englisch abzugeben. Was uns dabei interessiert, ist die Reaktion
der Öffentlichkeit. Seine Handlungsweise wurde als weltmännisch emp-
funden, während seine Kontrahenten, die Präsidenten Tu

d

man und Izet-

begovi

c

, die sich ihrer Muttersprache bedienten, wie kleinkarierte Exoten

wirkten. Miloševi

c

hatte die Situation also aus seiner Sicht richtig einge-

schätzt und ist dem allgemeinen Trend gefolgt. Er war - und dies ist das
Problem der realen Grundlagen für das Negativimage der Translatoren - bei
diesem Anlaß leider auch der einzige, der seine Botschaft effizient vermit-
teln konnte. Die Aufgabe der repräsentativen Funktion der Muttersprache
zugunsten einer funktionalen lingua franca scheint unaufhaltsam zu sein,
wenn Translation nicht in entsprechender Qualität angeboten werden kann.
Es soll auch, so wird berichtet, zahlreiche Politiker geben, die sich in ein-
zelnen Gremien der EU oder bei anderen Anlässen lieber radebrechend des
Englischen bedienen als einen Dolmetscher in Anspruch zu nehmen, weil
sie meinen, nur so richtig verstanden zu werden. Es gibt auch nicht wenige
Kongreßveranstalter, die bei Folgeveranstaltungen auf eine Dolmetschung
verzichten, weil ihrer Meinung nach die Kommunikation mit Hilfe der Dol-
metscher schlechter oder wenigstens nicht besser funktioniert als mit Hilfe
einer lingua franca. Warum sollten sie dann gutes und teures Geld für et-
was ausgeben, das weder ihnen als Veranstalter noch den Kongreßteilneh-
mern etwas bringt?
Alle angeführten Beispiele sind dazu angetan, das Stereotyp vom traduttore
- traditore
zu festigen, und mit jeder translatorischen Negativleistung wird
das Image der Translatoren als sprachlich und sachlich inkompetenter, ihre
Leistung bei weitem überschätzender Wichtigtuer gefestigt, die im Getüm-
mel internationaler Größen bestenfalls als notwendiges Übel oder als Auf-
putz dienen. Die Translatoren scheinen mit ihren zweifelhaften Leistungen
also selbst dafür verantwortlich zu sein, daß sie in der Informationsgesell-
schaft marginalisiert werden. Sie scheinen selbst am Ast zu sägen, auf dem
sie sitzen.

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1.2 Außen- und Innenperspektiven

Es steht wohl außer Frage, daß ein nicht unbeträchtlicher Teil der angeführ-
ten Negativleistungen auf die mangelnde Kompetenz und/oder die Selbst-
überschätzung der Translatoren zurückzuführen ist. Es wäre aber ebenso
ins Treffen zu führen, daß die Qualitäts- und Leistungskriterien von Trans-
laten wesentlich komplexer sind, als anhand vorschneller Urteile über ein-
zelne Endprodukte des Translationsprozesses anzunehmen wäre. So haben
die angeführten Kongreßveranstalter kaum einen Gedanken darauf ver-
schwendet, welche Kommunikationsverluste allein dadurch auftreten, daß
die Delegierten im restringierten Code der lingua franca nicht das sagen
können, was sie sagen wollen, sondern lediglich das, was sie zu sagen im-
stande sind. Redner, die ihr Fachreferat durch ein atemberaubendes Sprech-
tempo in den ihnen zugebilligten Zeitrahmen pressen oder durch eine aus-
gefeilte, möglichst komplexe Syntax, die gemeinhin mit Wissenschaftlich-
keit verwechselt wird, brillieren wollen, stellen manchmal enttäuscht fest,
daß die Simultandolmetscher nur einen verschwindenden Teil ihrer Wort-
akrobatik nachvollziehen konnten. Sie sollten sich jedoch fragen, was von
ihrer rhetorischen Glanzleistung übriggeblieben wäre, wenn sie in der Tat
gezwungen gewesen wären, denselben Inhalt im selben Zeitlimit in einer
Fremdsprache wiederzugeben. Verfasser von Papers, die vielleicht im letz-
ten Augenblick aus diversen Aufsätzen zusammengeschnipselt wurden und
somit alle Merkmale eines schriftlich fixierten Textes tragen, sind die ers-
ten, die sich darüber empören, daß ihnen die Dolmetscher nicht folgen
können oder überhaupt die Dolmetschung verweigern. Es wird ihnen aber
nicht in den Sinn kommen, darüber nachzudenken, ob ihr Beitrag von jenen
Kongreßteilnehmern, die nicht auf die Dolmetscher angewiesen sind, kog-
nitiv verarbeitet werden kann. Auch das TV-Publikum, das sich über die
Dolmetschung bei der Unterzeichnung des Vertrages von Dayton mokierte,
wird sich kaum gefragt haben, ob die Dolmetschleistung der Inkompetenz
der Dolmetscher, der Sprechkultur der Redner, den unzumutbaren Produk-
tionsbedingungen oder einer Kombination aller drei Faktoren zuzuschrei-
ben war.
Um noch ein letztes Beispiel aus dem Bereich des Übersetzens herauszu-
greifen. Dem furchtbarsten Translationese, das für diverse Leitfäden Euro-
päischer Institutionen charakteristisch ist, ist nicht von vornherein anzu-
sehen, ob dafür das mangelnde Sprachbewußtsein der Translatoren, ein in-
adäquates Translationskonzept oder lediglich die Produktionsbedingungen
und die Erwartungshaltung des Zielpublikums, denen das Elaborat auch in
dieser Form ausreicht, verantwortlich zu machen sind.

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Es gäbe also Argumente genug, um die Verantwortung für das Negativima-
ge der Translatoren ebenso unreflektiert der Uninformiertheit, Verantwor-
tungs- und Respektlosigkeit der Auftraggeber oder der Kritikunfähigkeit
der Konsumenten translatorischer Leistungen zuzuschreiben. Dies wäre
allerdings ebenso voreilig und kurzsichtig wie die einseitige Schuldzuwei-
sung an die Translatoren. Wir wollen daher zuerst versuchen, einigen
Gründen nachzugehen, die zu den angeführten Einstellungen und Werthal-
tungen geführt haben.

1.3 Das Basismißverständnis

Der erste Grund wird - unabhängig von beobachtbaren Translationsleistun-
gen - bei den Vorstellungen über Sprache und Translation im allgemeinen
zu suchen sein. Sprache ist für die meisten Auftraggeber und Konsumenten
nur eine mehr oder minder geregelte Ansammlung von Wörtern. Die Be-
herrschung der Grammatik, des Vokabulars, allenfalls noch einiger allge-
meiner Stilregeln und nicht die Fähigkeit zum Handeln durch Sprache be-
stimmen trotz aller Bemühungen des kommunikativen Sprachunterrichts
das vorherrschende Stereotyp von „Sprachkompetenz“. Die stereotype Vor-
stellung von der Translation als Transkodierung, die noch in so manchem
Auftraggeber- und Translatorenkopf nistet, ist lediglich ein abgeleitetes
Stereotyp. Es ist dabei vom Aspekt seiner Auswirkungen relativ irrelevant,
ob es, wie Snell-Hornby meint, auf dem Mißbrauch der Übersetzung im
traditionellen Sprachunterricht beruht (Snell-Hornby 1995, 8), durch das
permanente positive Feedback unreflektierter Wortgläubigkeit, durch re-
duktionistische Modelle der code-orientierten Sprachwissenschaft oder in
einem ideologisch genährten Logozentrismus (Arrojo 1997b) bedingt ist.
Dem mangelnden Verständnis für Translation liegt das Fehlverständnis von
Sprache zugrunde. Das Fatale an diesem Mißverständnis ist, daß es durch-
aus Ideologien, Machtstrukturen und Interessenskonstellationen gibt, die an
seiner Aufrechterhaltung interessiert sind.
Aus dem grundsätzlichen Mißverständnis von Sprache und Translation re-
sultiert schließlich auch die communis opinio, übersetzen und dolmetschen
könne jeder, der die Sprache im angeführten Sinn nur halbwegs beherrsche,
also mehr oder minder korrekte fremdsprachige Wort- und Satzketten zu
produzieren imstande sei. Diesem Stereotyp entspringt auch die weitver-
breitete Überzeugung, der Schwierigkeitsgrad einer Translation ließe sich
am Anteil fachspezifischer Termini messen.

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1.4 Die Dumpingspirale

Ohne dieses Basismißverständnis von Sprache hätten auch die sozialen
Veränderungen, die auf dem europäischen Translationsmarkt der 80-er und
90-er Jahre stattgefunden haben, nicht jene Auswirkungen gezeitigt, die
Wilss (1987, 17) treffend als „ Spielwiese des unkontrolliert und untariflich
vor sich hin übersetzenden Feld-, Wald- und Wiesenübersetzers“ charakte-
risierte. Ausgelöst wurde der Prozeß durch den sprunghaften Anstieg des
bi- und multilingualen Potentials in den urbanen Zentren, das sich aus der
Freizeitmobilität, den internationalen Migrationen im Zuge der sozialen
und politischen Umwälzungen und der medialen Globalisierung der Kom-
munikation ergab. Ein Überangebot an semi- und unprofessionellen transla-
torischen Leistungen war die Folge. Dies hätte bei Vorliegen entsprechen-
der Kriterien theoretisch zu einer qualitativen Selektion durch Wettbewerb
und damit zu einer Qualitätsverbesserung führen müssen. Erst der allge-
meine Kriterienmangel und das angeführte Stereotyp von Translations-
kompetenz als bloßer bilingualer Sprachkompetenz ermöglichten es, daß
„Bilingualität“ allein als ausreichende Qualifikationsbeschreibung eines
Translators akzeptiert wurde. Daß es sich dabei aufgrund der konkreten
Biographien in den seltensten Fällen um ausgewogene Formen der Bilin-
gualität, sondern eher um ihre negative Begleiterscheinung, die bloße zwei-
seitige Semilingualität

4

, handelte, wurde aufgrund der angeführten Stereo-

type von Sprache und Translation übersehen. Erst durch die Kombination
von Überangebot und Kriterienlosigkeit wurde jene Dumpingspirale in
Bewegung gesetzt, durch die auch die Produktions- und Arbeitsbedingun-
gen potentiell qualifizierter, von der Translation jedoch materiell abhängi-
ger Translatoren in dem Maße verschlechtert wurden, daß auch aus ihren
Computern und Mikrophonen nicht immer qualitativ einwandfreie Texte
fließen konnten. Die Geburtsstunde des Dreigroschentranslators aus dem
Geiste des Dumping schien geschlagen zu haben.

1.5 Der Circulus vitiosus

Die bestehenden Ausbildungsstätten haben, soweit wir es überblicken kön-
nen, zum Abbau der Diskrepanzen zwischen den Anforderungen der Be-
rufswelt und der realen Qualifikation der Translatoren relativ wenig beige-
tragen. Die Emanzipation der Übersetzer- und Dolmetscherausbildung von

4

Zu dem von Nils Erik Hansegård eingeführten Begriff des Semilingualismus bzw. der

zweifachen Halbsprachigkeit vgl. Brent-Palmer (1979) und Skutnabb-Kangas (1981).

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den Nachbardisziplinen war wenigstens in Deutschland und Österreich ein
sehr langwieriger und mühsamer Prozeß.

5

Das vorherrschende, bisweilen

krampfhaft verteidigte didaktische Prinzip war das Lernen und Üben durch
Nachahmung erfahrener Praktiker, während die wissenschaftliche Ausbil-
dung von den Nachbardisziplinen, vor allem von der Sprachwissenschaft,
abgedeckt werden sollte. Dies hatte allerdings zwei Implikationen, die mei-
stens übersehen wurden. Einerseits verwiesen die Praktiker darauf, daß die
angebotenen wissenschaftlichen Instrumentarien nur von geringer Relevanz
für die Praxis seien. Andererseits wurden die Studierenden durch intensives
Training zwar befähigt, aus der Berufspraxis der Lehrenden bekannte Si-
tuationen intuitiv zu bewältigen, im Regelfall besaßen sie jedoch nicht
einmal ein Konzept zur Bewältigung translatorischer Standardsituationen.
Theorie und Praxis klafften mehr denn je auseinander. Die, wenn über-
haupt, diskutierte Perspektive translatorischer Einheiten reichte bestenfalls
bis zum Satzende, das Textganze war selten Gegenstand des Diskurses. Ein
prospektiver kognitiver Rahmen, auf den auch neue, den Lehrern unbe-
kannte Translationssituationen bezogen und durch reflektiertes Handeln
bewältigt werden könnten, wurde in einer geradezu reflexhaften Theorie-
phobie nur in Ausnahmefällen und nur von besonders begabten Lehrern
aufgebaut.

6

Da jedoch das Wissen in immer kürzer werdenden Zyklen - in

den meisten translationsrelevanten Bereichen sind es nur wenige Jahre -
veraltet, ist auch das lediglich aus vergangener Erfahrung abgeleitete Wis-
sen demselben Veralterungsprozeß unterworfen. Die Folge des praktizisti-
schen Zugangs zur Ausbildung von Translatoren war, daß die Kompeten-
zen und Fertigkeiten der Absolventen bereits inaktuell waren, wenn sie die
Ausbildungsstätte verließen. Das bloße Tradieren translatorischer Erfah-
rung konnte nur Translatoren der Vergangenheit, nicht solche der Zukunft

5

Statusberichte s. in Dollerup + Loddegaard (1992).

6

Vgl. dazu das Memorandum (1990) des Koordinierungsausschusses „Praxis und Leh-

re“ des BDÜ und die zahlreichen, meistens vergeblichen Vorstöße bei Holz-Mänttäri
(1984b; 1986a; 1986b; 1987), Ammann + Vermeer (1990b) usw. Nach beinahe sie-
benjährigen Reformbemühungen sieht die Österreichische Studienordnung für die
Übersetzer- und Dolmetscherausbildung noch immer keine Translationswissenschaft,
sondern je eine „Vorprüfung“ zur 1. und 2. Diplomprüfung über den Stoff von Lehr-
veranstaltungen (jeweils 2-stündig) zur „Allgemeine[n] Sprachwissenschaft oder
Sprachpsychologie nach Wahl des Kandidaten“ bzw. von Lehrveranstaltungen, „wel-
che die Fachgebiete der Studienrichtung Übersetzer- und Dolmetscherausbildung wis-
senstheoretisch und philosophisch vertiefen“ oder „welche die Fachgebiete der Stu-
dienrichtung Übersetzer- und Dolmetscherausbildung in historischer oder wissen-
schaftsgeschichtlicher oder soziologischer Weise erfassen“, vor.

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hervorbringen. Die Ausbildung mußte somit ständig hinter der realen Ent-
wicklung des Translationsmarktes nachhinken und die Schere zwischen
Anforderungs- und Kompetenzprofilen klaffte immer weiter auseinander.
Die zweite Implikation eines praktizistischen Zugangs an den akademi-
schen Institutionen war jedoch noch fataler. Das Kompetenzprofil der aka-
demisch ausgebildeten Translatoren unterschied sich durch nichts vom
Kompetenzprofil primär oder sekundär Bilingualer, die sich mutig, wenn
auch ohne Ausbildung, auf den Translationsmarkt warfen und dort ihre Er-
fahrungen sammelten. Die akademische Ausbildung von Translatoren hatte
sich dadurch selbst obsolet gemacht, da bloße Routine durch dasselbe Prin-
zip des learning by doing und durch kurzatmige In-house-trainings öko-
nomischer zu erwerben war. Mit dem Entfallen der Fähigkeit zur theoreti-
schen Reflexion des eigenen Handelns und zur kritischen und diskursiven
Einbettung der Translation in größere Handlungs-, Sinn- und Systemzu-
sammenhänge entfiel auch ein wesentliches Unterscheidungskriterium zwi-
schen professionellem und nicht-professionellem Agieren im Handlungs-
feld Translation. Damit wurde auch eine wesentliche Chance, durch die
akademische Ausbildung neue Maßstäbe für die Qualität von Translation
zu setzen, den kritischen Diskurs über Translation auf akademischem Ni-
veau zu führen, öffentliches Bewußtsein zu schaffen und geeignete Dis-
kursstrategien für die Kooperation mit den künftigen Partnern auf dem
Translationsmarkt einzuüben, durch Jahre hindurch vertan.

2 Aufriß einer Gegenstrategie

Mag die geschilderte Situation auch leicht vereinfacht, vielleicht sogar
überzeichnet und deshalb durch vereinzelte Gegenbeispiele jederzeit an-
fechtbar sein, so scheint uns doch zwischen der historischen Rolle der
Translation im Informationszeitalter und ihren aktuellen Aufgaben in den
multikulturellen Gesellschaften auf der einen, dem Stellenwert der Transla-
tion im akademischen Diskurs und schließlich dem Image, das die Transla-
toren in den meisten europäischen Gesellschaften genießen, auf der anderen
Seite eine unübersehbare Diskrepanz zu herrschen. Zu der von Venuti
(1986; 1995) beklagten Unsichtbarkeit des Translators, seinem niedrigen
wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Status, gesellt sich immer häufi-
ger das Stereotyp des realitätsfremden,

7

eigenbrötlerischen und inkompe-

7

Vgl. nachstehendes Zitat aus der European Translation Platform (1996, 163): „since

the reaction of many translators is to adopt a laager mentality, to retreat into a small
circle which they feel is defensible“.

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tenten Sprachmittlers, der den Herausforderungen der modernen Kommu-
nikationsgesellschaft nicht gewachsen ist.
In einer solchen Situation scheint es höchste Zeit, daß Berufspraktiker,
Ausbildner und Translationswissenschafter ihre Berührungsängste verlie-
ren, die sie seit der Entstehung der Translationswissenschaft begleiten, um
zunächst in den Ausbildungsstätten selbst und dann innerhalb der jeweili-
gen Kultur und schließlich auch auf internationaler Ebene gemeinsam an
der Entwicklung einer Translationskultur zu arbeiten.

2.1 Translationskultur

Unter Translationskultur sei das historisch gewachsene Subsystem einer
Kultur verstanden, das sich auf das Handlungsfeld Translation bezieht und
das aus einem Set von gesellschaftlich etablierten, gesteuerten und steuer-
baren Normen, Konventionen, Erwartungshaltungen und Wertvorstellun-
gen aller in dieser Kultur aktuell oder potentiell an Translationsprozessen
beteiligten Handlungspartner besteht. Als kulturelles Subsystem weist
Translationskultur auch eine para-, dia- und idiokulturelle Gliederung auf.
Eine kulturübergreifende allgemeine Translationstheorie ist nur in dem
Sinne möglich, als Konvergenzen und Divergenzen zwischen konkreten
Translationskulturen festzustellen, beschreib- und systematisierbar sind.
Vom Begriff der Translation als Institution, wie er von Hermans (1996)
etabliert wurde, unterscheidet sich der Begriff der Translationskultur inso-
fern, als dabei - ausgehend von der etymologischen Herkunft des Wortes
Kultur und in Analogie zu einer nicht puristisch mißzuverstehenden
Sprachkultur - eine öffentliche Bewußtseinsbildung angestrebt und der Ak-
zent auf die aktive Gestaltung und institutionelle Steuerung des Systems
gelegt werden soll.
Der Translationswissenschaft als Wissenschaft fällt dabei eine doppelte
Rolle zu: jene des kritischen Beobachters vergangener und aktueller Pro-
zesse und jene des innovativen Vordenkers künftiger Entwicklungen. Mit
ihrem analytischen Instrumentarium kann die Translationswissenschaft Ge-
setzmäßigkeiten der Translation feststellen, sie kann syn- und diachron den
Beitrag unterstreichen, der von den Translatoren zum Aufbau der Kulturen
und zur transkulturellen Kommunikation geleistet wurde und wird, sie kann
das manipulative Potential, das in jedem Akt von Translation schlummert,
freilegen und transparent machen, und sie kann schließlich auch prospekti-
ve Modelle entwickeln, mit denen das Zusammenspiel gesellschaftlicher
Kräfte im Handlungsfeld Translation optimiert werden könnte.

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Auf keinen Fall aber sollte sich die Translationswissenschaft dabei selbst
als Normengeberin verstehen. Es wäre vielmehr ihre Aufgabe, ständig dar-
auf aufmerksam zu machen, daß die Entwicklung, Anwendung und Kont-
rolle translationsrelevanter Normen und Konventionen im Verantwortungs-
bereich aller im Handlungsfeld Translation tätigen Personen und Institutio-
nen, ihrem Interessens- und Machtausgleich, und nicht allein bei den Trans-
latoren anzusiedeln ist.

2.2 Definitorische Abgrenzung von Translation

Unter Translation als Gegenstand der Translationswissenschaft wollen wir -
in Anlehnung an Holz-Mänttäri (1984a; 1986a), Reiß + Vermeer (1991),
Vermeer (1992) und Toury (1995) - jede konventionalisierte, interlinguale
und transkulturelle Interaktion verstehen, die in einer Kultur als zulässig er-
achtet wird.
Interlingualität und Transkulturalität werden dabei als einschränkende, vor
allem von der Berufspraxis abgeleitete Begriffsmerkmale verstanden.
Durch diese beiden Begriffsmerkmale unterscheidet sich Translation per
definitionem
auf der einen Seite von der interkulturellen Kommunikation,
andererseits von Tätigkeitsfeldern der mono- oder intralingualen Text-
manipulation, die in den Gegenstandsbereich der jeweiligen nationalen
Sprachwissenschaften oder Philologien fallen. Durch die Verwendung des
Adjektivums transkulturell soll unterstrichen werden, daß sich Translation
von der interkulturellen Kommunikation vor allem durch ihren Mittelbar-
keitscharakter unterscheidet. Während interkulturelle Kommunikation im
unmittelbaren Kontakt zwischen Vertretern zweier oder mehrerer Kulturen
stattfindet, tritt bei der Translation zwischen beide die - nach Möglichkeit
professionelle - Vermittlungshandlung des Translators. Im Gegensatz etwa
zu den Dekonstruktivisten (Koskinen 1994; Arrojo 1994) scheiden wir in-
tra
linguale Kommunikation aus dem Referenzbereich des Terminus Trans-
lation aus, weil wir gerade im vermittelten Überschreiten der Sprach- und
Kulturgrenzen die wesentliche Leistung von Translation erblicken.
Aus dem Begriff der Translationskultur geht mittelbar hervor, daß wir
Translation als kulturspezifisches Phänomen begreifen. Wie für alle Kultur-
phänomene gilt auch für Translation, daß sie den Prinzipien der Willkür
und der Gewohnheit, der Beliebigkeit und der Standardisierung unterliegt
(Hansen 1995, 52). Willkür und Beliebigkeit sind dabei die Elemente der
Innovation, Gewohnheit und Standardisierung jene der Tradition. In diesem
Sinne wollen wir die Geschichte der Translation in einer bestimmten Ge-

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sellschaft und Kultur als permanentes Kräftespiel zwischen Innovation und
Tradition begreifen.

3 Die Intentionalität von Translation und ihre Konsequenzen

Translation ist ihrem Wesen nach intentional (vgl. u. a. Levý 1969; Coseriu
1981; Reiß + Vermeer 1991; Vermeer 1990b; Vermeer 1992; Vermeer
1996). Allein aufgrund ihrer Intentionaliät muß Translation stets im Span-
nungsfeld divergierender gesellschaftlicher Interessen stehen. Im jeweili-
gen synchronen Querschnitt manifestieren sich diese Interessenskonflikte
in der Auseinandersetzung zwischen gesellschaftlich etablierten, kanoni-
schen, und nicht etablierten, d. h. noch marginalen oder bereits marginali-
sierten Verhaltens- und Wertmustern (vgl. Toury 1995). Der Interessens-
ausgleich findet in Form von Normen und Konventionen statt.

8

Durch

Konventionen wird der jeweilige Stand des Interessens- und Machtaus-
gleichs gleichsam festgeschrieben, in hierarchielastigen Sonderfällen auch
von Instanzen, die über eine entsprechende Macht verfügen, einseitig und
normativ festgelegt. Die erzielten Konventionen und/oder festgelegten
Normen haben so lange Bestand, als der zugrunde liegende Konsens von
allen Beteiligten implizit oder explizit akzeptiert wird. Das „koordinative
Gleichgewicht“ (Lewis 1975, 14) muß allerdings nicht notwendigerweise
bedeuten, daß zwischen den Handlungspartnern auch ein Gleichgewicht der
Macht anzusetzen ist. Vielmehr ist es gerade das wechselnde Machtgefälle
zwischen den Handlungspartnern, das die historische, soziale und ethische
Dynamik der Konventions- und Normenbildung bestimmt (vgl. u. a. Gaddis
Rose 1981; Frank + Schultze 1988; Turk 1990; Hjort 1990; Hermans 1991;
Venuti 1992; Chesterman 1993; Toury 1995).
Gegenstand und Inhalt der Konventionen und Normen sind grundsätzlich
arbiträr. Die Prozesse der Normierung und Konventionalisierung können
sich auf den Referenzbereich der für translatorische Aktivitäten verwende-
ten Termini, die Zulässigkeit der Verfahren, die bei der Translation als
transkultureller Interaktion anzuwenden sind, und die Maßstäbe für die Be-
urteilung der in diesen Prozessen zu erzielenden Qualität von Translaten
gelten, beziehen.

8

Eine leicht faßliche Übersicht bei Huntemann (1990).

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3.1 Scheingefechte

Unter diesem Aspekt erweisen sich die für die ältere Übersetzungswissen-
schaft typischen Diskussionen über freie und wörtliche Übersetzung, über
Treue und Verrat in der Translation als müßig (Arrojo 1997a). Sie stellen
sich aus der historischen Perspektive europäischer Kulturen lediglich als
Reflex auf einen wesentlich tiefer liegenden kulturellen Diskurs über ideo-
logische Machtansprüche, Wertehierarchien, gesellschaftliche Erwartungs-
haltungen und Normvorstellungen dar. Die große Zahl widersprüchlicher
Äquivalenzforderungen und die Diskussion um ihre Gültigkeit in der
Translationswissenschaft erscheint aus dieser Sicht als säkularisierte Fort-
setzung der theologischen Auseinandersetzungen um die ewigen Wahrhei-
ten des Gotteswortes. Aus einer nüchternen kulturwissenschaftlichen Warte
werden sie wohl als scheinbar wissenschaftliche Formulierung kulturab-
hängiger Norm- und Wertvorstellungen zu charakterisieren sein, die mit der
Auffassung von Individualität und Kollektivität, Originalität und Plagiat,
kultureller Konservativität und Innovation - um nur einige der wichtigsten
Bezugspunkte zu nennen - in Zusammenhang stehen. Mit anderen Worten:
Sie spiegeln lediglich kulturspezifische Zugänge zu einem kulturspezifi-
schen Phänomen im Rahmen der europäischen Kulturen und ihrer außereu-
ropäischen Transplantate wider (vgl. Lefevere 1992; 1996).
Wo also die Translationswissenschaft an der Schnittstelle zur Praxis oder
zur Translationsgeschichte nicht umhin kann, zu konkreten Wertkonflikten
Stellung zu nehmen, die als translatorische Probleme getarnt im Transla-
tionsprozeß zum Tragen kommen, hat sie ihre Urteile auf den jeweiligen
kulturellen Rahmen zu beziehen und dessen soziokulturelle Bedingtheit zu
hinterfragen.

3.2 Kulturbedingtheit der Präskriptivnormen

Durch den Begriff der Translation als konventionalisierter interlingualer
und transkultureller Interaktion unterscheiden wir uns von normativen und
präskriptiven Ansätzen der äquivalenzorientierten Translationswissenschaft
(z. B. Koller 1992). Da wir in äquivalenzorientierten Translationskonven-
tionen und ihren Spielarten kulturspezifische Lösungen kulturspezifischer
Wertekonflikte sehen, sprechen wir jedoch gleichzeitig auch den traditio-
nellen oberflächenorientierten Äquivalenzpostulaten beschränkte Geltung
zu. Dies gilt vor allem für jene Kulturen und Handlungsbereiche, in denen
mehrere gesellschaftliche Institutionen ein Interesse an einer jeweils eige-

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111

nen Interpretation des Ausgangstextes und/oder an dessen möglichst ge-
treuem zielsprachlichen Abbild haben. Die Äquivalenzpostulate jedoch zu
generalisieren, und sei es auch nur in der von Reiß (Reiß 1976; 1983; Kad-
ri

c

+ Snell-Hornby 1995) vorgesehenen texttypenabhängigen Hierarchisie-

rung, schiene uns für eine generelle Translationstheorie ebenso unzulässig,
wie eine kommunikative Translation zum allein gültigen Maßstab zu erhe-
ben.

4 Bausteine

Aus der grundsätzlichen Arbitrarität der translationsrelevanten Konventio-
nen folgt, daß eine idealtypisch aufzubauende Translationskultur ebenfalls
kulturspezifisch sein muß. Sie ist also auf Werte abzustellen, die in der je-
weiligen Gesellschaft als allgemeingültig anerkannt werden. Als einen die-
ser Werte definieren wir das Prinzip der Kooperativität. Durch Kooperation
ist es möglich, das Chaos grundsätzlich arbiträrer, in ihren konkreten Aus-
prägungen kulturspezifischer Zeichen- und Handlungskonventionen in dem
Maße zu ordnen, daß sinnvolle Kommunikation auch über Kulturgrenzen
hinweg möglich ist. Kooperativität wird auch in einer ökologischen Kon-
zeption von Kognition als relevant und effizient erkannt (Strohner 1995).
Kooperatives Handeln ist nicht zuletzt auch demokratisches Handeln, weil
es ausreichend Spielraum für das Anderssein der Anderen offenläßt. Wo
demokratisches Handeln verweigert wird, wird auch das Prinzip der Koo-
perativität außer Kraft gesetzt.
Konkret auf das Handlungsfeld Translation angewandt, erlaubt uns das
Prinzip der Kooperativität, Translatoren, Textautoren, Initiatoren und Kon-
sumenten von Translationsleistungen in ein ganzheitliches Modell von
Translationskultur einzubinden.
Das zweite Prinzip, von dem wir vorwissenschaftlich ausgehen wollen und
das aus dem Prinzip der Kooperativität als ethische Handlungsmaxime ab-
leitbar ist, ist das von Nord (1989; 1991) in den translationswissenschaftli-
chen Diskurs eingeführte Prinzip der Loyalität.

9

Maßstab und Regulator für die Konventionalisierungsprozesse ist die kon-
krete Zielvorgabe einer Translation, die wir mit Reiß + Vermeer (1991) und
Vermeer (1983; 1992); Vermeer (1996) u. ö. als Skopos bezeichnen wollen.
Er ist, wie aus dem bisher Gesagten folgt, grundsätzlich arbiträr. Er ist des-
halb - ebenso grundsätzlich - zwischen Translator, Initiator, Autor und Ziel-

9

Kritisch zum Begriff der Loyalität s. Vermeer (1996, 47 ff und 79 ff).

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112

publikum auszuhandeln. Die sich daraus ergebende Skoposkonvention
steht jedoch in einem historischen und aktuellen Spannungsverhältnis zu
möglichen anderen Translationskonventionen, Erwartungshaltungen, Inter-
essen und Wertsystemen, die zum gegebenen Zeitpunkt, in der gegebenen
Situation und in der gegebenen Kultur im Handlungsfeld Translation prä-
sent und gültig sind.
Aufgrund dieser Prämissen, wollen wir versuchen, die Konsequenzen, die
sich für die einzelnen Handlungspartner ergeben, zu beleuchten.

5 Translatoren als selbstverantwortliche Handlungspartner

Der erste Ansatzpunkt sind die Translatoren selbst, die zunächst von der
Illusion Abschied nehmen müssen, ein Translat könne das bloße Abbild des
Originals sein, das außerhalb von gesellschaftlichen Zwängen und Interes-
sen, außerhalb von kulturellen Bezügen und jenseits der Ideologien stünde
(Gaddis Rose 1995; Gaddis Rose 1981). Gerade die Illusion von der inter-
essenslosen Imitation, von der absoluten und nie zu erreichenden Treue
zum Original hat zur Selbstentmannung und Selbstentfrauung der Transla-
toren und Translatorinnen, zu ihrer persönlichen, wirtschaftlichen, politi-
schen und kulturellen Unsichtbarkeit geführt. Wenn Translation - wie jede
Kommunikation - von Interessen und Machtkonstellationen aller an der
transkulturellen Kommunikation Beteiligten bestimmt wird, so ist es zu-
nächst und theoretisch ein legitimes Interesse der Hauptbeteiligten, der
Translatoren nämlich, auch ihre Interessen einzubringen.
Wann und wie sie dies können, wann sie in den Hintergrund zu treten und
wann sie nicht umhin können, interpretierend, vermittelnd oder steuernd in
den Kommunikationsprozeß einzugreifen, ist eine Angelegenheit der Spiel-
regeln, die es innerhalb der Translationskultur zu etablieren und in einer de-
mokratischen Gesellschaft durch gezielte Öffentlichkeitsarbeit allen betei-
ligten Handlungspartnern bewußtzumachen gilt.
Die Translationswissenschaft kann dabei insofern eine Hilfestellung anbie-
ten, als sie den historischen und aktuellen Niederschlag von Interessens-
und Machtkonstellationen im Tätigkeitsfeld Translation durchsichtiger er-
scheinen läßt. Daraus können die Translatoren einen Orientierungsrahmen
ableiten, um mit den Interessenskonflikten, die sich bei der kommunikati-
ven Handlung Translation im Machtdreieck Autor-Initiator-
Zieltextrezipient ergeben, reflektierter und geordneter umzugehen.

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113

5.1 Das Prinzip der Loyalität

Die autonome Entscheidung darüber, wie ein konkreter Zielkonflikt zu be-
wältigen ist, muß jedoch beim kompetenten Translator verbleiben. Der von
Nord vorgeschlagenen dreifachen Loyalität zu Autor, Initiator und Ziel-
publikum ist also eine vierte hinzuzufügen, nämlich die Loyalität des
Translators zu sich selbst. Durch das Prinzip der Loyalität zu sich selbst,
mit anderen Worten, der Wahrung der Identität und Integrität der Transla-
toren, wird in das Handlungsfeld Translation trotz der grundsätzlichen Ar-
bitrarität des Handelns ethische Konsistenz eingebracht. Es liegt am Trans-
lator, in richtiger Einschätzung der Interessens- und Machtkonstellationen
selbstverantwortlich und ethisch zu handeln. Der Einwand, der gegen die
Skopostheorie vor allem anhand von Beispielen der Kollaboration mit tota-
litären Systemen erhoben wurde (vgl. z. B. Kohlmayer 1990; 1994), wird
damit obsolet. Die moralische Verantwortung für translatorisches Handeln
kann nicht dem Handlungsmodell unterstellt werden, sondern muß dort an-
gesiedelt bleiben, wo sie in der Tat wahrzunehmen ist, beim handelnden
Translator selbst. Das Prinzip der Loyalität zu sich selbst erlaubt es dem
Translator, aus ethischen Motiven das Loyalitätsprinzip gegenüber über-
mächtigen Handlungspartnern aufzukündigen und zu adäquaten Formen
des Widerstandes (Venuti 1995, 20) oder zu Mitteln der Subversion (Álva-
rez + Vidal 1996) zu greifen.

5.2 Freiheit und Verantwortung

Je mehr wir uns in einzelnen Kulturen, nicht zuletzt auch Dank der Ergeb-
nisse der Translationswissenschaft, von der Vorstellung der Translation als
bloßer Transkodierung entfernen und ihre historische und kulturelle Be-
dingtheit erkennen, um so größer wird auch der Entscheidungsspielraum,
oder, mit einem Schlagwort, die Freiheit des Translators. Es liegt in seiner
Macht, diesen Freiheitsraum zu nutzen

10

und zum selbstbewußten, aller-

dings auch in vollem Maße verantwortlichen Mitgestalter der transkulturel-
len Kommunikation zu werden. Es ist eine Illusion zu glauben, daß er sich
seinen Wertentscheidungen durch bloße Transkodierung oder Nachbildung
entziehen kann. Auch der lediglich transkodierende Translator trifft eine
Wertentscheidung, nämlich jene, sich seiner Interpretation zu entschlagen
und sie den anderen Kooperationspartnern zu überlassen. Ob diese ohne

10

Vgl. Hönigs bestechend formulierten Offenen Brief an Justa Holz-Mänttäri (Hönig

1992).

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114

entsprechendes Wissen um die ausgangskulturelle Einbettung kompetenter
damit umgehen, als der Translator als Fachmann für transkulturelle Kom-
munikation damit umgegangen wäre, ist eine Frage, die sich zum Beispiel
im Bereich des community interpreting stellt.
Auch beim Literarischen Übersetzen wird der Translator kaum um die Ent-
scheidung umhinkommen, ob er das System bestehender literarischer Co-
des durch adaptierendes Übersetzen stützen, behutsam neue Impulse setzen
oder durch das vielzitierte „Durchschimmern des Originals“ (Schleierma-
cher, Benjamin, Venuti) einen radikalen Wandel in der Hierarchie ästhe-
tischer Werte anstreben soll. Es wird nicht zuletzt von seiner Macht, die er
nicht zuletzt aus seiner Kreativität und der Macht seines Wortes schöpfen
kann, abhängen, für welche der Möglichkeiten in der vielfältigen Palette
potentieller Skopoi er sich entscheiden wird (vgl. u. a. Bassnett + Lefevere
1990; Venuti 1992; 1995; Toury 1995).
Der intellektuell wache, ästhetisch und/oder ideologiekritisch geschulte
Translator hat also keine andere Wahl, als sich seiner Freiheit und Verant-
wortung zu stellen und sich bewußt dazu zu bekennen. Das Maß seiner
Freiheit ist allerdings auch das Maß seiner Verantwortung. Es ist die ethi-
sche Dimension Translationsdidaktik, ihn zu verantwortlichem, allenfalls
auch nonkonformistischem Handeln in Freiheit zu befähigen (vgl. Toury
1980).

6 Die Mitverantwortung der Handlungspartner

Der zweite Schritt müßte darin bestehen, das soziale Umfeld und damit die
Produktions- und Rezeptionsbedingungen von Translation einzubinden und
die Handlungspartner des Translators in die Pflicht zu nehmen. Der Be-
wußtseinsbildungsprozeß hat somit in gleichem Maße bei den Initiatoren
und Rezipienten anzusetzen. Allerdings sind hier die Akzente anders zu
setzen. Neben dem allgemeinen Sprachbewußtsein und dem Bewußtsein
über die Leistungsfähigkeit und die Leistungsgrenzen der Translation gilt
es vor allem Bewußtsein darüber zu entwickeln, daß es nicht die Überset-
zung oder die Dolmetschung schlechthin gibt, daß vielmehr Strategie und
Qualität der Translation von einer Vielzahl von Faktoren abhängig sind, für
deren Zusammenspiel im Rahmen der Translationskultur entsprechende
Spielregeln zu etablieren sind. Dazu zunächst einige Beispiele:
Es ist das legitime Recht der Auftraggeber, ihr Interesse an der Translation
zu bestimmen und dem Translationsprozeß jene Translationskonvention zu-
grunde zu legen, die ihren Interessen am weitesten entgegenkommt. Soweit

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115

dies die Rechte der übrigen Kooperationspartner nicht verletzt, stellt es für
den Translator kein Problem dar, diese Intention zu verwirklichen. So dürf-
te es, um ein Beispiel aus der European Translation Platform (1966) aufzu-
greifen, für einen Translator kein Problem sein, innerhalb eines bestimmten
Zeitlimits eine sprachlich unausgereifte Zusammenfassung von Ge-
schäftsinformationen anzufertigen, die als Basisinformation, eine Art pro
memoria,
für bevorstehende Verhandlungen dienen könnte. Verwendet der
Auftraggeber ein solches Translat jedoch außerhalb des eng umschriebenen
Funktionsbereichs, so hat er damit das Prinzip der Kooperativität verletzt.
Die Auftraggeber verfügen in der Regel auch über die Macht, die Produk-
tionsbedingungen von Translation zu bestimmen. Es liegt aber ebenso in
der Macht der Translatoren, durch solidarisches Handeln optimale Produk-
tionsbedingungen zu erzwingen. Erst wenn eine signifikante Anzahl von
Translatoren bereit sein wird, zu unzumutbaren Zeitlimits und anderen qua-
litätsmindernden Vorgaben nein zu sagen, wird Translationskultur auch auf
einer breiteren Basis zu verwirklichen sein.
Die Autoren sind, soweit sie für ihren Text geistiges Eigentum beanspru-
chen können und soweit sie diese Rechte nicht an andere abgetreten haben,
nach gültiger Rechtsauffassung Alleinverfügungsberechtigte über das Ori-
ginal. Sie sind theoretisch der mächtigste Partner und haben das erste Wort,
wenn es um Entscheidungen über die Repräsentation ihres Werkes in einer
anderen Kultur geht. Es ist allerdings nicht zu übersehen, daß sie sich ge-
meinsam mit dem Translator zwischen der Wahrung der Originalität und
der zu erreichenden Rezeptivität zu entscheiden haben. Soweit andere Part-
ner stellvertretend für den Autor agieren oder gar Rechte an seinem geisti-
gen Eigentum erworben haben, werden sie legitimerweise versuchen, auch
ihre Interessen am Original, seiner Interpretation und seiner Vermarktung
zu wahren. Bei sogenannten „heiligen Originalen“ sind es mächtige Institu-
tionen, die über deren Interpretation und Rezeption wachen. Der Translator
hat sich bewußtzumachen, daß seine Interpretation nur eine der möglichen
im Kontinuum realisierbarer Interpretationen ist und im Konflikt mit ande-
ren Interpretationsinteressen stehen kann. Letztlich ist es jedoch die inter-
pretive community
(Fish 1980), die über den Stellenwert des Originals und
sein Fortleben in der Übersetzung entscheidet.

6.1 Vom Ethos der Translation

Die ethischen Entscheidungen der Translatoren werden dadurch erschwert,
daß identischen Translationskonventionen unterschiedliche Interessen zu-

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116

grunde liegen, ebenso wie identische Interessen durch unterschiedliche
Konventionen realisiert werden können. Hegemoniale Kulturen bevorzugen
zum Beispiel beim kulturellen Import adaptierende und homogenisierende
Translationsnormen vom Typus der belles infidèles, während sie beim kul-
turellen Export den homogenisierenden Effekt durch verfremdende Trans-
lation zu erzielen suchen, um so die exportierten Kulturmuster offensiv zur
Aufbereitung des Marktes nutzen zu können.
Im Gegensatz dazu kann in einer stark rezeptiven und bedrohten Kultur ei-
ne adaptierende Translation zum Erhalt der Identität notwendig sein und
lediglich defensiven Charakter haben, während verfremdende Translation
zur Überfremdung und zum Identitätsverlust führen könnte.
Der Ersatz von Kulturemen der Ausgangskultur durch solche der Zielkul-
tur, die Verbalisierung kultureller Implikationen oder der erklärende Kom-
mentar im Community interpreting kann den Dialog erleichtern und Miß-
verständnisse beseitigen; er kann aber ebensogut zur Bevormundung der
Klienten oder zur Verletzung des Gleichheitsprinzips führen. Die Beibehal-
tung fremder Kultureme in einem Translat kann bei einem entsprechend
eingestellten Zielpublikum zu einem besseren Verständnis des Fremden
führen, in einem xenophoben Umfeld jedoch zum Beweis der Inkompatibi-
lität der Kulturen mißbraucht werden.
Es liegt am Translator, sich zwar an den gültigen Translationskonventionen
zu orientieren, die endgültige Entscheidung jedoch in Abhängigkeit von der
jeweiligen Situation selbstverantwortlich zu treffen. Die Freiheit der Ent-
scheidung steht ihm allerdings nur dann zu, wenn er bereit ist, die damit
verbundenen Risiken einzugehen.

7 Ein operatives Modell

Es wäre sicherlich unökonomisch, den Skopos in jedem konkreten Einzel-
fall neu aushandeln, festlegen und beschreiben zu wollen. Die grundsätzli-
che Arbitrarität des Skopos erlaubt es, sowohl hinsichtlich der Beziehung
zwischen Ausgangstext und Zieltext als auch hinsichtlich der Qualität der
zielsprachlichen Ausprägung des Translats relativ leicht operationalisierba-
re Maßstäbe anzulegen.

7.1 Die Skoposrelation

Als Default-Vorgabe für eine Translation können wir deshalb die in der je-
weiligen Kultur zum jeweiligen Zeitpunkt und in der jeweiligen kommuni-

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117

kativen Situation vorherrschende Translationskonvention oder -norm set-
zen. Wir werden dafür den Terminus impliziter Skopos verwenden.

7.1.1 Der implizite Skopos

Der implizite Skopos ist also eine Art kleinster gemeinsamer Nenner, der
aufgrund des Kooperativitätsprinzips zwischen den beteiligten Handlungs-
partnern und unter Berücksichtigung ihrer divergierenden Interessen,
Machtpotentiale und Normvorstellungen bereits ausgehandelt und standar-
disiert wurde. Initiatoren und Zieltextrezipienten können darauf vertrauen,
daß der Translator, falls nichts anderes vereinbart wurde, die sich aus dem
impliziten Skopos ergebende Relation zwischen Ausgangs- und Zieltext
herstellen wird. Dadurch ist für jeden der Beteiligten das Original rekons-
truierbar, genauer gesagt, die Repräsentativität des Translats für das jewei-
lige Original durch die Skoposrelation eindeutig bestimmbar. Hält sich der
Translator an den impliziten Skopos, hat er damit seine Loyalitätspflicht
gegenüber Autor, Auftraggeber und Zieltextrezipient erfüllt.
Darüber hinaus sind als Skoposrelation grundsätzlich alle Formen einer se-
kundären Textrepräsentation möglich. Ob diese nun in der homologen
Nachbildung der Textoberfläche, der analogen Nachprägung der Elemente
der Ausgangssprache durch funktionsäquivalente Elemente der Zielspra-
che, durch eine texttypenadäquate Äquivalenzhierarchie, durch dialogische
Aufbereitung der angenommenen Botschaft des Textes und ihre Anpassung
an die kognitiven und kulturellen Voraussetzungen der Zieltextrezipienten,
die Neuvertextung allolingualer Textvorlagen im Sinne des Designtextes
nach Holz-Mänttäri (1993a; 1993b) oder die selektive Wiedergabe einzel-
ner Textelemente im Einklang mit den Erkenntnis- und/oder Reprä-
sentationsinteressen eines Auftraggebers erfolgt, ist wiederum von den
konkreten Interessens- und Machtkonstellationen abhängig, mit denen sich
der Translator auseinanderzusetzen hat.
Das Prinzip der Loyalität zu seinen Handlungspartnern gebietet es in sol-
chen Fällen jedoch, jene Skoposrelationen, die außerhalb des impliziten
Skopos liegen, zu deklarieren. Wir wollen dafür den Terminus expliziter
Skopos
verwenden.

7.1.2 Der explizite Skopos

Durch den expliziten Skopos sind alle Relationen zwischen Ausgangs- und
Zieltext festzulegen, die von einem anzunehmenden impliziten Skopos ab-

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118

weichen. Der explizite Skopos ist in einem kooperativen Translationsmo-
dell per definitionem deklarationspflichtig.
Die explizite Skoposdeklaration ergibt sich aufgrund des Loyalitätsprinzips
aus der ethischen Perspektive des translatorischen Handelns. Allerdings
gibt es auch rein praktische und pragmatische Motive für die Offenlegung
des Skopos. Mit der Skoposdeklaration schützt sich der Translator vor un-
gerechtfertigten Vorwürfen und Haftungsansprüchen. Die Skoposdeklarati-
on ist also - vom berufspraktischen Aspekt betrachtet - ein Akt des Selbst-
schutzes. Sie sollte wenigstens in allen Grenzfällen zu den Selbstverständ-
lichkeiten translatorischen Handelns im Rahmen eines kooperativen Mo-
dells zählen.
Ihrer Form nach können Skoposdeklarationen explizit oder implizit erfol-
gen. Sie können sich auf die Gesamtfunktion des Textes oder auf seine Tei-
le beziehen, sie können einzelne Translationsverfahren und Intentionen, die
der Translator verfolgt, offenlegen. Kurzum, sie signalisieren den Partnern
der Translationshandlung, was sie von der Translation, ihren Teilen und
einzelnen Verfahren, die für die Herstellung des Translats maßgebend war-
en, zu halten haben.
Da Skoposdeklarationen vor allem dort angebracht sind, wo die vorhande-
nen Translationsnormen und -konventionen an ihre Grenzen stoßen, stellen
explizite Skoposdeklarationen auch das dynamische Element in der Ent-
wicklung von Translationskonventionen dar, da sie durch Wiederholung
zur para- oder diakulturell akzeptierten, in weiterer Folge auch standardi-
sierten Translationskonvention werden können.
So ist zum Beispiel beim derzeitigen Stand des translatorischen Diskurses
in den europäischen Kulturen eine Skoposdeklaration vor allem in jenen
Fällen angebracht, in denen sich der Translator bewußt und gezielt als drit-
ter Partner in den Dialog zwischen Autor und Zieltextrezipienten einschal-
tet. In der postkolonialen (Wolf 1997; Wolf 1997a) und feministischen
Translation können allerdings solche Verfahren wenigstens diakulturell be-
reits als impliziter Skopos betrachtet werden (Godard 1984; Lotbinière-
Harwood 1991; Chamberlain 1992; Simon 1990; 1996), da die dabei ange-
wandten Verfahren ausreichend definiert, zum Teil bereits standardisiert
sind. Die grundsätzliche Konventionalität des Skopos, die an der obersten
Entscheidungshierarchie angesiedelt ist, schließt bei der postkolonialen und
der feministischen Translation auch die Aufkündigung des Loyalitätsprin-
zips mit dem Autor ein und verlagert die translatorischen Entscheidungen
in die ethische Verantwortung der Translatoren und Translatorinnen.

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119

Skoposdeklarationen sind in der Praxis häufiger als man gemeinhin an-
nimmt. Einige von ihnen gehören bereits zum Standardrepertoire arrivierter
Translatoren. Bei literarischen Übersetzungen etwa sind sie vor allem in
den Vorworten und Nachworten der Übersetzer zu finden oder manifestie-
ren sich in der Deklaration des Translats als Übersetzung, Übertragung,
Nachdichtung
usw. Beim Dolmetschen kann durch paralinguale Signale,
wie z. B. Körperhaltung und Stimmführung, oder auch durch metasprachli-
che Kommentare ein vorübergehendes oder gänzliches Abweichen von der
erwarteten Relation zwischen Ausgangs- und Zieltext signalisiert werden.
Es wäre sicherlich ein Desideratum der Translationsdidaktik, künftigen
Translatoren ein Repertoire solcher Skoposdeklarationen mit auf den Weg
zu geben und entsprechende Translationsprozeduren und Diskursmuster
einzuüben. Im Sinne einer allgemeinen Translationskultur schiene es je-
doch nötig, den Blick, das Gefühl und das Verständnis für explizite Sko-
posdeklarationen auch bei den Konsumenten translatorischer Leistungen zu
schärfen. Dadurch wäre die Relation zwischen Original und Translat für die
Zieltextrezipienten jederzeit nachvollziehbar, was auch zu einer Objektivie-
rung der Beurteilungsmaßstäbe führen würde.
7.2 Qualitätsstandards

Die Zielvorgaben einer Translation können sich allerdings nicht nur auf die
Relation Original-Translat, sondern auch auf die zielsprachliche Qualität
des Translats beziehen.

7.2.1 Implizite Qualitätsparameter

Analog zum Translationsskopos würden wir gerne von impliziten und ex-
pliziten Qualitätsparametern sprechen. Implizit seien jene Qualitätsmaßstä-
be, die sich als Resultante der Produktionssituation von Translation erge-
ben, explizit wiederum jene Qualitätsparameter, die zwischen Initiator und
Translator explizit ausgehandelt werden.
Implizit kann etwa bei einer Druckfassung davon ausgegangen werden, daß
es sich um eine intentional optimale sprachliche Redaktion des Textes han-
delt, obwohl auch hier graduelle Unterschiede in Abhängigkeit von der je-
weiligen Textsorte und der Funktion des Translats möglich sind. Bei Über-
setzungsmanuskripten ist dies nicht aus dem äußeren Erscheinungsbild er-
sichtlich. Deshalb läge es im Eigeninteresse des Translators, die Qualität
der zielsprachlichen Redaktion zu kennzeichnen.

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120

Ebenso kann auf dem realen Markt von Translationsleistungen implizit da-
von ausgegangen werden, daß die Qualität eines Translats in Relation zu
ihrem Preis steht. Wenn Translation als Dienstleistung gilt, so gelten dafür
auch dieselben Kriterien von Qualitätsrelationen und Gewährleistungs-
pflichten. Wer einen Billigurlaub bucht oder beim Diskonter kauft, muß
wissen, daß er dafür auch nur die Qualität und die Gewährleistung eines
Massenreisebüros oder eines Diskonters erhält. Wer Translation zum Drei-
groschentarif einkaufen will, muß in Kauf nehmen, Qualität und Gewähr-
leistung eines Dreigroschentranslators zu erhalten.
Diesen Sachverhalt ins Bewußtsein der Auftraggeber zu rufen, zählt unse-
res Erachtens auch zur Öffentlichkeitsarbeit im Rahmen einer aufzubauen-
den Translationskultur.

7.2.2 Explizite Qualitätsparameter

Als Basis für eine mögliche Kennzeichnung des jeweiligen Bearbeitungs-
grads einer Übersetzung könnte die von Koller (1992, 204) vorgeschlagene
Einteilung in Rohübersetzung, Arbeitsübersetzung und druckreife Überset-
zung
dienen. Es widerspräche jedoch dem Prinzip der Kooperativität und
ginge auch an den realen Bedingungen des Translationsmarktes vorbei,
wenn man, wie Koller, lediglich druckreife Übersetzungen als Übersetzun-
gen anerkennen wollte. Ähnliches gilt auch für verschiedene Formen des
Vom-Blatt-Dolmetschens, bei der die Qualität der zielsprachlichen Realisie-
rung von der Stellung des Translats im gesamten Kommunikationsprozeß
abhängig zu machen und von den Kommunikationspartnern zu deklarieren
wäre.
Es gibt aber auch andere Situationen, wie etwa die in der Beispieldiskussi-
on zur European Translation Platform angeführte, in denen ein sprachlich
ausformuliertes Translat dysfunktional erschiene, da vom Aspekt des zu er-
reichenden Zwecks der dafür notwendige Aufwand nicht lohnt und ein sub-
optimales Produkt durchaus ausreicht, um das jeweilige Kommunikations-
ziel zu erreichen. Es wäre in solchen Fällen nicht nur unökonomisch, son-
dern nach dem Kooperativitätsprinzip auch unverantwortlich, dem Auftrag-
geber/Initiator ein optimales Produkt aufschwatzen zu wollen.

7.2.3 Zur Optimalität der Suboptimalität

Das klassische Beispiel für einen impliziten suboptimalen Qualitätsskopos
ist die Maschinenübersetzung. Da sich die Nachredaktion maschineller

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121

Übersetzungen in der Regel als aufwendiger erweist als eine Humanüber-
setzung,

11

scheint es kaum ökonomisch zu sein, eine Maschinenüberset-

zung unbedingt zu einem zielsprachlich einwandfreien Translat stilisieren
zu wollen. Ebenso scheint es wenig sinnvoll, es sei denn zu didaktischen
Zwecken, sich über die Fehlleistungen der Maschine zu mokieren. Viel
vernünftiger scheint es, zur Kenntnis zu nehmen, daß Suboptimalität der
Maschinenübersetzung inhärent ist (Prunč 1994a) und MÜ-Produkte nur
dort einzusetzen, wo sie aufgrund der für die MÜ notwendigen Ausgangs-
voraussetzungen (definierte und hochgradig konventionalisierte Textsorte)
und/oder der eingeschränkten Zielsetzungen (Irrelevanz der Sprachform,
Bereitschaft zu erhöhter Interpretationsleistung durch geschulten Zieltextle-
ser) unmittelbar einsetzbar sind. Ist eine Maschinenübersetzung als solche
gekennzeichnet, ist auch der Deklarationspflicht genüge getan.
Schwieriger ist die Bestimmung impliziter Qualitätsrelationen, die sich aus
nicht unmittelbar einsichtigen suboptimalen Produktionsbedingungen erge-
ben. Etwa, wenn der Zeitfaktor für die Translation zu karg bemessen ist,
wenn bei der Simultandolmetschung Sprechtempo und Sprechkultur keine
optimale Dolmetschleistung zulassen. Hier sind die empirische Transla-
tionswissenschaft und die Berufsverbände gemeinsam aufgerufen, Parame-
ter festzulegen, bei deren Vorliegen eine optimale translatorische Leistung
zu erbringen ist. Werden die Parameter unterschritten, ist auch dem jewei-
ligen Translationsprodukt die Suboptimalität inhärent. Die Qualitätsbeurtei-
lung hätte dann in Relation zur Idealnorm und nicht anhand absoluter
Wertmaßstäbe zu erfolgen.
Es mag nun vielleicht der Eindruck entstehen, daß wir der Suboptimalität
translatorischer Leistungen das Wort reden. Gerade das Gegenteil ist der
Fall. Durch das Bewußtmachen des Zusammenhangs zwischen suboptima-
len Produktionsbedingungen und suboptimalen Translationsprodukten soll
den Handlungspartnern bewußtgemacht werden, daß es in ihrer Entschei-
dung und Verantwortung liegt, die Produktionsbedingungen zu verbessern
oder ein suboptimales Produkt in Kauf zu nehmen. Dies hat natürlich - wie
wir anhand der Parallele zum Diskonter aufzeigen wollten - auch weitrei-
chende Folgen für die Haftungspflicht des Translators. Anderseits müßten
sich die Translatoren selbstverantwortlich entscheiden, ob sie bereit sind,
suboptimale Produktionsbedingungen in Kauf zu nehmen, wenn das End-
produkt nicht eindeutig als suboptimal deklariert wird, da sie dadurch Ge-

11

Mündl. Mitteilung von H. Krings im Rahmen seiner Probevorlesung an der Universi-

tät Innsbruck 1996.

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122

fahr laufen, sowohl dem Initiator als auch sich selbst und dem Image ihres
Berufsstandes einen schlechten Dienst zu erweisen.

8. Pflege der Translationskultur

Unsere Ausführungen mögen dem einen zu technizistisch und deshalb in
der Realität des Translationsmarktes nicht verwirklichbar, dem anderen
wiederum durch die ständige Berufung auf die ethische Kategorie der
Loyalität zu moralisierend erscheinen. Beides ist vielleicht in gleichem
Maße wahr und dennoch nicht richtig.
Eine Translationskultur kann natürlich nicht allein auf einem operativen
Modell aufgebaut werden, wenn nicht gleichzeitig durch gezielte Öffent-
lichkeitsarbeit das generelle Bewußtsein über das manipulative Potential
von Translation, über die vielfältigen Möglichkeiten, einen ausgangskultu-
rellen Text oder ein ausgangskulturelles Textoid zielkulturell zu repräsen-
tieren, geschärft wird.
Hier schließt sich der Kreis unserer Argumentation. In der Vielfalt mögli-
cher Interessenskonstellationen stellen Fälle, in denen die Interessen des
Autors, des Initiators und des Adressaten miteinander übereinstimmen, eher
die Ausnahme dar. Durch den vorgeblichen Abbildcharakter der Translati-
on werden reale Machtverhältnisse, ob sie nun zwischen den einzelnen In-
dividuen, Institutionen oder auch ganzen Kulturen zum Tragen kommen,
verschleiert. Es ist also eine Illusion, wenn Translatoren meinen, in einem
interessenslosen Raum agieren zu können. Sie stehen, ob sie nun wollen
oder nicht, im Spannungsfeld divergierender Interessen und müssen lernen,
damit kreativ umzugehen.
Es gilt aber auch, der an Translation interessierten oder von ihr abhängigen
Öffentlichkeit ins Bewußtsein zu rufen, daß Translation von außen und oh-
ne Berücksichtigung ihrer Zielvorgaben und Produktionsbedingungen nicht
zu beurteilen und daß Objektivität nur durch das Sichtbarmachen der Rela-
tivität translatorischen Handelns zu erzielen ist.
Vor allem aber zählt zur Pflege der Translationskultur, sie in das System
der übrigen, gesellschaftlich anerkannten Werte einzubinden und den Stel-
lenwert der Translation daraus abzuleiten. Multilingualität und Multikultu-
ralität sind unter Wahrung der Identität und des Anderssein der Anderen
weitgehend nur mit Hilfe einer funktionierenden, auf die Anderen zuge-
henden und das Eigene bewahrenden Translation zu bewältigen. Das ist der
zentrale Ort, an dem sich Translation in einer globalisierten Informations-
gesellschaft und in Anbetracht der drohenden Kulturkonflikte (Huntington

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123

1997) anzusiedeln hätte. Daraus werden auch die Maximen für translatori-
sches Handeln im steten Rekurs auf rezente Entwicklungen abzuleiten sein.

9 Zusammenfassung und Ausblick

Unsere Überlegungen wollen wir abschließend noch einmal zusammenfas-
sen und gleichsam als Ausblick in einen breiteren Rahmen stellen:
1. Mit Hilfe der beiden genannten Parameter, des impliziten oder expliziten
Skopos, der die Beziehung zwischen Original und Translat regelt, und der
impliziten oder expliziten Qualitätsparameter, mit deren Hilfe der zu errei-
chende Qualitätsstandard ausgewiesen wird, wäre es auf der operativen
Ebene möglich, eine breite Produktpalette zu gestalten, mit welcher den In-
teressen der einzelnen Partner im Handlungsfeld Translation Rechnung ge-
tragen, die Verantwortung adäquat verteilt und das Dienstleistungsprodukt
Translation auf die jeweiligen Bedürfnisse zugeschnitten werden könnte.
Durch das Prinzip der gestuften Deklarationspflicht könnte darüber hinaus
dem Prinzip der Loyalität des Translators zu seinen Partnern Rechnung ge-
tragen und das notwendige Vertrauen zwischen Translatoren und Kunden
aufgebaut werden.
2. Das Handlungsfeld Translation wird durch eine gezielt aufzubauende
und zu pflegende Translationskultur geregelt. Die Spielregeln, die dabei
gelten, sind entweder konventionell vorgegeben oder können explizit im
Machtdreieck Autor-Initiator-Zielpublikum ausgehandelt werden. Die auf
der operativen Ebene aufgestellten Regeln und Konventionen können auf
einer tieferen Reflexionsebene als Vehikel dazu dienen, die in der jeweili-
gen Kultur etablierten Skoposrelationen vom Aspekt ihrer Funktionalität
her zu hinterfragen und bewußtzumachen.
3. Die explizite Skoposdeklaration ist nur eine der Möglichkeiten, den
Translator wieder sichtbar zu machen und seine ethische Dimension in den
translatorischen Diskurs einzubringen. Die Aufgabe, diesen Aspekt der
Translation auch den Initiatoren und Rezipienten bewußtzumachen, fiele
vor allem einer institutionalisierten konstruktiven Translationskritik zu, die
in der jeweiligen Gesellschaft nicht nur äquivalenzorientierte Beckmesserei
betreiben, sondern das Bewußtsein für die intellektuelle Leistung der
Translation, ihre Risiken und Chancen wecken, tradierte Translationsnor-
men und -konventionen auf ihre Anwendbarkeit in multikulturellen Kom-
munikationssituationen prüfen und vom Aspekt der Minimierung von
Kommunikations- und Kulturkonflikten dynamisieren sollte. Die Aufgabe
der Translationswissenschaft könnte es sein, dazu empirisch gesicherte und

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124

historisch valorisierte Vergleichsdaten zu liefern und prospektive Modelle
für die Bewältigung künftiger Probleme zu entwickeln.
4. Kultur ist ein dynamisches System sozial anerkannter Werte und Verhal-
tensnormen. Richtig und falsch, äquivalent und nicht äquivalent, treu und
untreu sind nur scheinbar objektive Kategorien. Translationstheorien und
Translationsnormen, die auf solchen Dichotomien aufgebaut sind, sind in
der transkulturellen Kommunikation von heute zum Scheitern verurteilt
und können lediglich innerhalb ethnozentrischer Normensysteme Geltung
haben. Das Prinzip der Loyalität hingegen ist dynamisch genug, um auch
einander widersprechende Positionen in Partnerschaft zu versöhnen.
5. Kooperativität und Loyalität sind Werte unserer Zeit und unserer Kultu-
ren. Sie können deshalb nicht unkritisch auf andere historische, soziale und
kulturelle Konstellationen übertragen werden, ebenso wie es unmöglich er-
scheint, die klassischen Kriterien translatorischen Handelns in unsere Zeit
zu projizieren.

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125

Literatur

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