Finn
und die Schattenfresser
von
Michael Borlik
Eine Geschichte aus der magischen Welt
des 13. Engels
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© by Michael Borlik
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Inhalt
I.
Finn und die Schattenfresser …............................ 4
II.
Der 13. Engel ….................................................. 18
3
F
inn fluchte. Er hatte Seitenstechen und seine Füßen
brannten, als liefe er über glühende Kohlen. Lange würde er
dieses Tempo nicht mehr durchhalten.
Eine Droschke tauchte vor ihm aus der Nacht auf.
Das Pferd wieherte verängstigt und Finn schreckte
zusammen. Im letzten Moment sprang er zur Seite und
rettete sich in eine Gasse. Dunkelheit und ein
feuchtmodriger Gestank umfingen ihn.
Keuchend blieb er stehen.
Nur eine Verschnaufpause, dachte er und sackte
gegen die kühle Hauswand. Sein Herz raste. Er hatte seine
Freunde verloren und Jenkins war sicher nicht weit weg.
Dieser verfluchte Kopfgeldjäger! Mit seinen gelben Augen
sah er nicht nur aus wie ein Wolf, vermutlich hatte er auch
einen genauso guten Geruchssinn. Wie war es sonst
möglich, dass kein Kind ihm entkam?
Finn stieß sich von der Wand ab und stolperte weiter
durch das dunkle Gässchen. Hinter ihm erklangen Schritte.
Oder war es bloß das Echo seiner eigenen?
Er lief schneller. Niemals würde er sich von Jenkins
zurück ins Waisenhaus bringen lassen. Es war der
grässlichste Ort auf der Welt. Mr und Mrs Bones
behandelten die Kinder wie Sklaven. Sie verliehen sie gegen
Bezahlung an Kaminkehrer, die die Kinder zwangen, in die
engen und finsteren Schlote zu kriechen. Wer sich weigerte,
wurde mit Schlägen bestraft und ohne Essen ins Bett
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geschickt.
Finn hatte das Ende des Sträßchens erreicht. Vor ihm
lag ein weiter, in das schummrige Licht der Gaslaternen
getauchter Platz. An Markttagen boten die Händler hier ihre
Waren aus dem Orient feil: kostbare Stoffe, edle Gewürze
und fremdländische Süßigkeiten, deren verlockende Düfte
sich über das ganze Viertel ausbreiteten.
Bei dem Gedanken an türkischen Honig knurrte Finns
Magen. Aber für solche Träumereien hatte er jetzt keine
Zeit. Er rannte wieder los und stolperte über einen
Pflasterstein. Schimpfend rappelte er sich auf. Sein Knie tat
höllisch weh, aber wenigstens hatte die Hose kein Loch.
Weiter!
Er hatte den Platz kaum zur Hälfte überquert, als eine
blasse, junge Frau in den Dunstkreis einer Straßenlaterne
taumelte. Sie war genauso ärmlich gekleidet wie er selbst.
Kurz starrte sie auf den Boden zu ihren Füßen, dann
schluchzte sie auf.
Bei ihrem Anblick blieb Finn wie gebannt stehen und
ein seltsamer Widerwille, ja, fast schon Abscheu erfasste
ihn. Er verstand selbst nicht, warum. Die Frau hatte ihm
nichts getan. Doch dann fiel ihm auf, dass sie keinen
Schatten warf, obwohl sie unter der Laterne stand. Wie war
das möglich? Bevor er sich noch weiter wundern konnte,
vernahm er bereits Jenkins’ Schritte hinter sich.
»Ich hab es geschafft!«, jubelte Finn, als die Sonne aufging.
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Vor zwei Stunden hatte er den Kopfgeldjäger in der Gasse
der Büchsenmacher abgehängt, indem er sich in einem
leeren Schwarzpulverfass versteckt hatte. Jetzt, am Tage, wo
viele Menschen unterwegs waren, würde Jenkins es sehr
viel schwerer haben, seine Spur wiederzufinden.
Finn fuhr sich über das Gesicht. Die Haut war kühl
vom Schweiß. Hingegen loderte in seinem Magen ein Feuer
aus Angst, Sehnsucht und Zorn. Er dachte an sein Freunde:
den griesgrämigen Billy, Tom Daumenlos, den schielenden
Ronald und Sarah, deren Haar wie gesponnenes Gold im
Sonnenlicht funkelte.
Die vier waren mit ihm zusammen aus dem
Waisenhaus geflohen. Ewige Freundschaft hatten sie sich
geschworen, und dass sie immer füreinander da sein
würden, aber dann waren sie getrennt worden. Bestimmt
hatte Jenkins sie längst wieder eingefangen und zurück zu
Mr und Mrs Bones gebracht, sodass Finn auf sich allein
gestellt war. Er fuhr sich über die Augen. O, nein, er würde
nicht heulen. Er musste stark sein, wenn er das hier
durchstehen wollte.
»He, du, Bursche!«
Finn fuhr herum.
»Willst du dir einen Penny verdienen?« Es war der
Besitzer eines Gemüseladens. »Ich brauche jemanden, der
mir beim Abladen des Karrens hilft.«
Finn nickte eifrig. Von dem Geld könnte er sich etwas
zu Essen kaufen. Schon jetzt knurrte sein Magen wie ein
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wütender Dachs. Er hatte eine Kiste mit rotbackigen Äpfeln
ergriffen, als es am Ende des engen Sträßchens zu einem
Tumult kam.
Ein Mann schob sich durch die Schlange von
Wartenden, die sich vor der Tür einer Bäckerei gebildet
hatte. Er war knochendürr und hatte einen verfilzten,
wolfsgrauen Bart.
Bei den dreizehn Engeln, dachte Finn. Wie konnte
Jenkins mich so schnell finden?
Die Kiste mit den Äpfeln entglitt seinen Fingern und
riss einen Sack Kartoffeln um, der am Karren gelehnt hatte.
»Was hast du gemacht, du Tollpatsch!«, rief der
Ladenbesitzer, als Äpfel und Kartoffeln in alle Richtungen
davonkullerten.
Doch Finn hörte ihn schon nicht mehr. Mit
pochendem Herzen schlitterte er dem Ende des Gässchens
entgegen. Die Pflastersteine waren dort feucht von einem
stinkenden Rinnsal, sodass er fast ausgerutscht wäre. Doch
über den Dächern der Häuser konnte er bereits die
Zwillingstürme der Kathedrale sehen. Endlich!
Von dort war es nicht mehr weit bis zu den
Katakomben. Ein Labyrinth aus düsteren Tunneln. Zur Zeit
der großen Pestepidemie hatte man darin die Toten zur
letzten Ruhe gebettet. Heute waren sie ein Zufluchtsort für
die Ärmsten unter den Armen.
Den Eingang in die Katakomben bildete ein düsteres
Loch auf dem Hinterhof einer Klosterruine. Ein kalter
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Herbstwind pfiff durch das Gemäuer und Finn schlug den
Kragen seiner Jacke hoch. Etwas stimmte nicht. Warum war
niemand hier? Vorsichtig näherte er sich den ausgetretenen
Steinstufen, die hinab in die Tiefe führten.
»Hallo? Ist da wer?«
»Hab ich dich!« Mit einem wölfischen Lachen stürzte
Jenkins hinter einer Mauer hervor und seine Finger krallten
sich in Finns Haar.
»Lass mich los, du Bestie!« Finn schlug und trat um
sich, woraufhin Jenkins nur noch lauter lachte.
»Gut so, kleiner Junge! Tob dich nur aus, bis du keine
Kraft mehr hast!«
Tränen stiegen Finn in die Augen. Alles umsonst!
Jenkins würde ihn zurück ins Waisenhaus bringen.
»Eine Heulsuse bist du also auch noch«, schnaubte
der Kopfgeldjäger. »Weiß gar nicht, warum sie dich
überhaupt zurückhaben wollen. Du wirst eh wieder Ärger
machen. Wenn es nach mir ginge, ich würde dich im Fluss
ertränken.« Seine Lippen verzogen sich zu einem Grinsen.
Finn funkelte Jenkins an. »Niemand nennt mich eine
Heulsuse«, stieß er hervor und versenkte seine Zähne im
Arm des Kopfgeldjägers. Sie drangen tief durch die dünne,
pergamentartige Haut. Jenkins schrie auf vor Schmerz und
schleuderte Finn von sich. Der landete wie eine Katze auf
den Füßen, wirbelte herum und stürmte davon. Eine Weile
folgten ihm noch die Flüche des Kopfgeldjägers, aber
irgendwann wurden sie leiser und verstummten schließlich
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ganz.
Erneut senkte sich die Nacht über die Stadt, und mit
der Dunkelheit kam der Wind. Er fegte durch die Gassen
und heulte dabei wie eine ganze Meute hungriger Hunde.
Finn zog den Kopf zwischen die Schultern. Sein Magen
grummelte, weil er den ganzen Tag nichts gegessen hatte.
Außerdem war ihm kalt, obwohl er die Hände tief in den
Jackentaschen vergraben hatte. Als er zu den Docks kam,
kroch ihm der Gestank der Abwässer in die Nase, die die
Färbereien und Fabriken in den Fluss leiteten.
Finn rümpfte die Nase und ging weiter. Alsbald kam
er zu einem schmalen Kanal, einem Nebenarm des Flusses.
Wenn er ihm nachging, würde er in der Nähe des Stadtparks
herauskommen. Es gab dort ein altes Spukhaus. Vielleicht
wäre das ein gutes Versteck? Aber vermutlich würden selbst
die Schauergeschichten, die man sich über diesen Ort
erzählte, Jenkins nicht davon abhalten, ihm dorthin zu
folgen.
Finn seufzte. Ihm fehlten seine Freunde und er war so
müde, dass er sogar sein Bett im Waisenhaus vermisste,
obwohl es nur aus einer harten Pritsche und einer löchrigen
Decke bestand.
Was soll ich jetzt machen?, fragte er sich, als er eine
Bewegung aus dem Augenwinkel wahrnahm. Finn wirbelte
herum, aber da war nichts. Nur ein Schatten, der beinahe
menschliche Umrisse besaß und in den Dunstkreis einer
Gaslaterne ragte. Doch dann wich er zurück. Wie konnte es
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diesen Schatten geben, obwohl da nichts und niemand stand,
der ihn warf?
»Was … was bist du?«, krächzte Finn, als der
Schatten langsam auf ihn zu kroch. Im nächsten Moment
fuhr er herum und rannte so schnell ihn seine Füße trugen.
Hinter ihm erscholl ein heiserer Wutschrei und traf ihn wie
eine Bö im Rücken. Fast wäre Finn gestürzt, doch er fing
sich und taumelte weiter.
Erst, als jeder Atemzug ihm in den Lungen brannte
und das Seitenstechen so heftig war, als bohre ihm jemand
seinen spitzen Finger in die Rippen, wurde Finn langsamer.
Suchend blickte er sich um. Aber es gab nichts, in dem er
hätte unterkriechen können.
Die Häuser zu beiden Seiten des Kanals pappten
aneinander. Hinter keinem der Fenster glomm Licht, sodass
Finn sich vorkam, als durchwandere er eine dunkle
Schlucht. Er fröstelte, weshalb er die Jacke enger um sich
zusammenzog. Aber das half nichts. Die Kälte, die er
empfand, kam aus ihm selbst. Sie wurde von der
Verzweiflung genährt, die seit seiner Flucht aus dem
Waisenheim noch zugenommen hatte.
Da bemerkte er die Bücke. Sie war ein
geschwungener Bogen, der sich wie ein farbloser
Regenbogen über dem Kanal spannte. Am Ufer, im Schatten
der Brücke, brannte ein Feuer. Finn schöpfte Hoffnung. Wer
immer es entzündet hatte, konnte nicht besser als er selbst
dran sein und würde sich vielleicht über ein wenig
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Gesellschaft freuen.
Ein alter Mann in Lumpen musterte Finn
argwöhnisch, als er zu ihm unter die Brücke kletterte. »Was
machst du zu dieser Stunde noch hier draußen, Junge?«
Finn hockte sich an das Feuer und streckte seine
klammen Finger der Wärme entgegen. »Ich bin
fortgelaufen.«
»Du hast dir keinen guten Zeitpunkt dafür ausgesucht,
Junge.«
Finn blickte auf. Wovon redete der Alte?
»Sag bloß, du hast es nicht gehört?« Sein Gegenüber
schüttelte ungläubig den Kopf. »Überall wird vor ihnen
gewarnt. Selbst in den Zeitungen. Es sind die
Schattenfresser. Sie gehen wieder um!«
Finn hatte noch nie von ihnen gehört. »Wer sind die?«
Das Gesicht des Alten verdüsterte sich. »Geister«,
sagte er und stocherte mit einem Stock in den Flammen
herum. »Die Seelen der Pesttoten, die man vor langer Zeit in
den Katakomben verscharrt hat, anstatt sie anständig zu
begraben.«
»Und was wollen sie?«
Der Alte blickte auf. In seinen Augen spiegelte sich
der rötliche Schein des Feuers. »Sie sind voller Hass«, sagte
er und schauderte. »Ein Hass, der sie alle hundert Jahre
zurück an die Oberfläche treibt. Sie wollen Rache, weil sie
uns Menschen für ihr ruheloses Dasein verantwortlich
machen.«
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Finn fühlte einen Lufthauch im Nacken. Sein Kopf
fuhr herum, aber da war nichts. Nur die Dunkelheit und das
Plätschern des Kanals.
»O ja«, sagte der alte Mann, »sie sind überall. Hier
und dort. Vielleicht kriecht einer sogar gerade über unseren
Köpfen hinweg.« Er kicherte schrill auf und verstummte
dann wieder.
Der Alte ist verrückt, dachte Finn. Doch plötzlich fiel
ihm die schluchzende Frau von vergangener Nacht ein und
welche Abscheu er vor ihr empfunden hatte, weil sie keinen
Schatten mehr besaß. »Aber was wollen sie von uns?«
»Sie wollen, dass wir leiden, dass wir genauso
unglücklich sind wie sie. Deshalb stehlen sie uns unsere
Schatten.«
Finn runzelte die Stirn. Er wusste, was der alte Mann
meinte, aber er verstand den Grund nicht. »Warum ist es so
schlimm, keinen Schatten mehr zu haben?«
»Was so schlimm daran ist?« Der Alte lachte rau.
»Die Menschen verabscheuen jene, die anders sind als sie.
Dazu gehören auch die Schattenlosen. Sie meiden sie, gehen
ihnen aus dem Weg, bis sie sich genauso einsam und im
Stich gelassen fühlen wie die Geister der Pesttoten.«
»Das ist grausam!« Finns Magen zog sich zusammen,
als er daran dachte, dass er am Mittag beinahe in die
Katakomben hinabgestiegen wäre. Hätte Jenkins ihm dort
nicht aufgelauert, wäre er ganz bestimmt ein Opfer der
Schattenfresser geworden.
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»Tageslicht ist das Einzige, was sie fürchten«, fuhr
der Alte fort. »In der Sonne verblassen sie, deshalb gehen
sie auch nur in der Nacht auf Jagd.«
»Hast du denn keine Angst vor ihnen?«, wollte Finn
wissen.
»Und ob – aber ich habe im Augenblick keinen
anderen Ort, an den ich gehen könnte. Erst, wenn der
Hunger der Schattenfresser gestillt ist, werden meine Brüder
und ich in die Katakomben zurückkehren können.«
Finn starrte ihn an. »Ist das nicht gefährlich?«
»Was bleibt uns denn für eine andere Wahl?« Der alte
Mann zog den abgewetzten Mantel enger um seinen hageren
Körper. »Der Winter zieht bald herauf und ohne Schutz wird
er sich einen nach dem anderen von uns holen.«
Finn nickte und wandte den Blick dem Feuer zu. Der
Geruch des Holzes, das in den Flammen verglühte, erinnerte
ihn an die Kaminschächte, die er hatte reinigen müssen. Eng
und furchtbar dunkel waren sie gewesen. Allein der
Gedanke daran trieb ihm Schweißperlen auf die Stirn.
Finn seufzte.
Im Waisenheim hatte er weder hungern noch frieren
müssen. Dafür behandelten Mr und Mrs Bones die Kinder
wie Gefangene. Jetzt war er frei und Finn mochte dieses
Gefühl. Niemand schrieb ihm vor, was er zu tun hatte.
Niemand prügelte ihn, weil er sich davor fürchtete, in einen
unheimlichen Kaminschacht zu klettern. Auch wenn das
Leben auf der Straße nicht einfach werden würde, war es
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allemal besser als sein altes.
»Was war das?« Der Alte blickte sich ängstlich um.
Wie ein Fuchs, den die Hundemeute in die Enge getrieben
hatte. »Die Schattenfresser kommen!«
Finn war aufgesprungen. »Woher weißt du das?«
»Riechst du sie denn nicht?«
Finn sog die Nachtluft ein. Der Geruch von Tod und
Verwesung kroch ihm in die Nase.
»Ja, ja, das sind sie.« Der Alte nickte, während er sich
auf die Füße kämpfte. »Lauf, Junge!«
»Aber was ist mir dir?«
Der Alte bedachte Finn ihn mit einem traurigen
Lächeln. »Meine Knochen sind spröde. Mein Rücken
schmerzt. Ich würde dich nur aufhalten.« Er strich ihm zum
Abschied über den Kopf. »Bring wenigstens du dich in
Sicherheit.«
Finn war noch nicht weit gekommen, als ein Schrei
die Nacht durchdrang und alsbald in ein Schluchzen
überging. Finns Augen brannten vor Scham. Der alte Mann
hatte sich für ihn geopfert.
Ich kann das nicht, dachte er im nächsten Moment.
Ich darf ihn nicht im Stich lassen!
Er wirbelte herum, um zu dem Alten zurückzukehren,
als er am Kragen gepackt und hochgerissen wurde. Entsetzt
starrte Finn in eine grinsende Fratze mit gelben Augen.
»Jetzt gehörst du mir«, knurrte Jenkins.
»Nein, nicht«, flehte Finn. »Ich muss ihm helfen. Ich
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muss … !«
Er brach ab, als er die Schatten sah, die von allen
Seiten über das Straßenpflaster auf ihn und Jenkins zu
krochen. Sie waren schwärzer als die Nacht und verströmten
einen Gestank nach modrigen Grüften. Der Kopfgeldjäger,
der die Gefahr ebenfalls erkannt hatte, ließ Finn wie einen
Sack Mehl zu Boden fallen.
»Die Straßenlaterne«, zischte er. »Wenn wir es
dorthin schaffen, sind wir sicher.«
Finn wusste es jedoch besser. Nur Tageslicht konnte
den Schattenfressern etwas anhaben. Er musste den
Kopfgeldjäger warnen, aber Jenkins Finger hatte sich bereits
in Finns Schulter gekrallt und zerrten ihn mit sich.
»Das ist zwecklos«, protestierte Finn.
»Unsinn! Du willst nur ...« Jenkins war verstummt,
als er sah, wie sich ihnen nun auch Schatten aus Richtung
der Laterne näherten. Alle Farbe wich aus seinem Gesicht.
»Bei den dreizehn Engeln. Du hast recht, Junge!«
Finn blickte zurück zum Kanal. Konnten Schatten
schwimmen? Es gab nur eine Möglichkeit, das
herauszufinden. Er packte Jenkins’ Hand und zog ihn zum
Ufer des Kanals. Tintenschwarzes Wasser strömte unter
ihnen vorbei. Finn sah zurück. Die Schattenfresser hatten sie
fast erreicht. Sie streckten ihre Klauen nach ihnen aus ...
»Spring!«, schrie Finn.
Der Schock des kalten Wassers hätte ihm fast die
Besinnung geraubt. Wo war unten? Wo oben? Finn
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schwebte schwerelos durch das eisige Nass. Erst, als seine
Füße den Grund berührten, fand er die Orientierung wieder.
Er stieß sich davon ab und schoss der Oberfläche entgegen.
Prustend durchstieß er das Wasser und japste nach Luft.
»Hilf mir!«, keuchte Jenkins dunkle Gestalt ein Stück
weit rechts von ihm. »Ich habe mir beim Sprung den Kopf
gestoßen und ...« Er sank unter Wasser und tauchte wieder
auf. »Du kannst mich doch nicht …« Wieder zog ihn die
Strömung nach unten.
Finn starrte auf den wild um sich schlagenden
Kopfgeldjäger. Wenn er nichts unternahm, würde Jenkins
ertrinken. Aber wenn er ihn rettete, würde er ihn zurück ins
Waisenheim bringen. Was sollte er tun? Finn zögerte nur
einen Augenblick. Niemals könnte er es mit seinem
Gewissen vereinbaren, Jenkins für sein eigenes Glück zu
opfern. Mit zwei kräftigen Schwimmzügen war er bei ihm.
»Stillhalten«, zischte er mit zitteriger Stimme. Seine
vor Kälte fast tauben Finger packten Jenkins am Kragen
seiner Jacke, damit sein Kopf nicht wieder unter Wasser
glitt. Doch erst, als er sicher war, dass die Strömung sie weit
genug von den Schattenfressern fortgetragen hatte, kämpfte
er sich mit dem Kopfgeldjäger zurück ans Ufer.
Jenkins starrte aus gelben Wolfsaugen auf Finn herab.
Aus seiner Kleidung tropfte Wasser, das sich in Pfützen
rund um seine Füße sammelte. »Du hast mir gleich zwei
Mal das Leben gerettet, Junge«, sagte er immer noch leicht
benommen.
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Finn schwieg. Er fror und ihm war schlecht von dem
vielen Flußwasser, das er geschluckt hatte. Außerdem
schwankte der morsche Steg, auf den sie sich gerettet
hatten, was seine Übelkeit noch verstärkte. Aber das spielte
jetzt auch keine Rolle mehr. Er hatte verloren und ihm fehlte
die Kraft, weiter gegen Jenkins zu kämpfen.
»Ich hasse es, bei jemanden in der Schuld zu stehen.«
Der Kopfgeldjäger bohrte ihm seinen knochigen Finger in
die Brust. »Verschwinde, Junge! Und sieh zu, dass wir uns
nie wieder begegnen.«
Finn starrte mit großen Augen zu ihm auf. »Sie lassen
mich gehen?«
»Ich werde Mr und Mrs Bones sagen, du seist auf der
Flucht ertrunken. Das ist zu deinem und meinem Vorteil,
denn sie werden aufhören, dich zu suchen. Und ich werde
weiterhin in dem Ruf stehen, dass mir noch niemals jemand
entwischt ist.«
Finn nickte. »Danke.«
Jenkins drehte sich um und schritt den Lagerschuppen
auf den Docks entgegen, hinter denen sich der Himmel
bereits blauviolett verfärbte. Die Morgendämmerung. Kurz
bevor der Kopfgeldjäger endgültig aus Finns Blick
verschwand, ließ er sich auf alle Viere fallen und jagte in
der Gestalt eines silbergrauen Wolfs davon.
In »Der 13. Engel« erlebt Finn ein neues Abenteuer. Dieses
Mal ist er mit seiner besten Freundin Amy unterwegs ...
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Der 13. Engel
Michael Borlik
Der 13. Engel,
dtv junior, 384 Seiten
Ab 10 Jahre, Euro 8,95
ISBN 978-3-423-71441-9
Die Rache der verfluchten Engel
Ein blutroter Komet, ein tausend Jahre alter Fluch, dreizehn
Engelsstatuen, die zum Leben erwachen, um sich zu rächen.
Und mittendrin die elfjährige Amy. Ausgerechnet sie, die
Einzige, die über keinerlei magische Fähigkeiten verfügt.
Aber da ihr Vater aufgrund dieser Ereignisse des
Hochverrats angeklagt wird, muss Amy etwas unternehmen.
Und am Ende triumphiert sie - gerade weil sie keinerlei
Magie hat!
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Prolog
Helle Aufregung herrschte im Astronomieturm des
Schlosses. Ein feurig roter Komet war am sternklaren
Himmel über der Stadt aufgetaucht und nun drängten sich
die königlichen Astrologen um ein riesiges Teleskop,
machten sich eifrig Notizen und fertigten Skizzen von seiner
Flugbahn an.
Wenig später traten sie in der Mitte des engen
Turmzimmers zusammen, um mit vor Erregung geröteten
Gesichtern das Erscheinen des Kometen zu deuten. Es gab
nicht den geringsten Zweifel: Sein Auftauchen, so kurz vor
der Krönung des künftigen Königs, konnte nur ein
außergewöhnlich gutes Omen sein. Kaum hatten sie so
entschieden, nickten sie sich zufrieden lächelnd über ihren
silbergrauen Bärten zu.
Wie falsch die Astrologen lagen, ahnten sie nicht.
Woher hätten sie auch wissen sollen, dass das Erscheinen
des Kometen das Ende eines tausend Jahre alten Fluches
einläutete? Eines Fluches, der seit Langem vergessen war.
Und während sie sich wieder in die Betrachtung des
Kometen vertieften, ereignete sich im Süden der Stadt
Sonderbares.
Eine jähe Windbö traf das Portal der berühmtesten
Kathedrale der Stadt und hob die schweren Bronzeflügel aus
ihren Angeln, als wären sie leicht wie Papierdrachen.
Krachend stürzten sie zu Boden, während der Wind
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ungebremst durch den langen Mittelgang fegte, sich an
mächtigen Säulen und knarrenden Holzbänken rieb und erst
erstarb, als alle Kerzen erloschen waren.
Dunkelheit.
Stille.
Dann plötzlich ein Ächzen und Stöhnen. Zuerst nur
ganz leise, kaum hörbar. Als erwachte etwas aus einem
langen und tiefen Schlaf und versuchte nun mühsam, die
Steifheit von Jahrhunderten abzuschütteln. Doch schon im
nächsten Moment erzitterte die Luft unter einem tiefen
Grollen, wie wenn harter Fels unter einer schweren Last
zerspringt. Ursprung des Grollens war das Herz der
Kathedrale.
Dreizehn Engelsstatuen standen dort und bewachten
den goldenen Thron, auf dem seit jeher die Könige des
Landes gekrönt worden waren.
Wieder drang das Grollen durch die Dunkelheit und
nun begannen sich die Statuen zu regen. Langsam öffneten
sie ihre Lider. Die Augen darunter waren golden und
leuchteten von innen heraus, als brenne ein helles Licht
darin. Sie reckten und streckten die steifen Glieder und
uralter Staub rieselte aus den Falten ihrer prächtigen
Gewänder, die nicht länger aus Stein waren, sondern glatt
und weich um ihre Körper wallten.
Lautlos stiegen die Engel von ihren Podesten.
Überirdisch schöne Wesen mit mächtigen Schwingen, die
wie Mäntel aus Federn um ihre Schultern lagen. Lautlos
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durchschritten sie den Mittelgang der Kathedrale und glitten
hinaus in die Nacht, um zu vollenden, woran sie einst
gehindert wurden.
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Besuch von Tante Hester
Als Amy Tallquist an diesem Morgen erwachte, ahnte sie
noch nichts davon, dass sie heute die beiden wichtigsten
Dinge in ihrem Leben verlieren würde: ihr Zuhause und
ihren Vater.
Ein Sonnenstrahl verirrte sich durch eine Ritze im
Vorhang und kitzelte Amy an der Nase. Gähnend rieb sie
sich die Augen, dann kletterte sie aus dem Bett und zog den
Vorhang auf. Es war ein herrlicher Sonntagmorgen mit
einem wunderbar blauen Himmel und einer goldgelben
Herbstsonne. Ein ungewohnter Anblick in einer Stadt, die
oft von dichtem Nebel heimgesucht wurde, der zu dieser
Jahreszeit regelmäßig vom Fluss aufstieg.
Ein Pferd wieherte.
Amy öffnete das Fenster und beugte sich hinaus. Der
Karren des Milchmannes hielt vor ihrer Haustür. Wenn ich
mich beeile, hab ich das Frühstück fertig, bevor Papa nach
unten kommt, dachte sie.
Amy lief zu der unscheinbaren, ein wenig
mitgenommen aussehenden Kommode in der Ecke ihres
Zimmers. Dort standen eine Kanne und eine Waschschüssel
bereit. Sie hob die Kanne an und ließ vorsichtig etwas
Wasser in die Schüssel plätschern. Anschließend tauchte sie
die Hände hinein, um sich den Schlaf aus dem Gesicht zu
waschen.
Brrr. Das Wasser war eiskalt.
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Nachdem sie mit der Morgentoilette fertig war,
schlüpfte sie in ihr Lieblingskleid und bürstete sich das
Haar; widerspenstige, schwarze Locken, die sich einfach
nicht bändigen lassen wollten. Schließlich gab Amy es auf
und eilte nach unten. Sie holte die Milch herein und trug sie
in die Küche. Es war eine kleine, gemütliche Küche, die
immer ein wenig nach Pfefferminz duftete, dem
Lieblingstee ihres Vaters. Amy öffnete die Ofenklappe und
warf zwei Holzscheite hinein, um das Feuer wieder in Gang
zu setzen, das über Nacht heruntergebrannt war. Dann
begann sie mit den Vorbereitungen für das Frühstück.
Gerade als sie mit Tischdecken fertig war, gab der
Wasserkessel ein schrilles Pfeifen von sich. Sie schlang ein
Handtuch um den heißen Henkel und goss das dampfende
Wasser in die vorbereitete Teekanne. Fertig. Jetzt musste sie
nur noch ihren Vater wecken.
Amy wollte bereits nach oben stürmen, als ihr Blick
auf den Brief fiel, der an der Plätzchendose lehnte. Er
steckte in einem ganz gewöhnlichen Umschlag, dennoch
schien er von einer Aura aus Niedertracht und Boshaftigkeit
umgeben zu sein. Ob das an der Handschrift der Absenderin
lag? Die Buchstaben aus schwarzer Tinte wirkten so spitz
und scharfkantig, dass man meinen konnte, sich an ihnen
verletzen zu müssen, wenn man nur darüberstrich. Amy
erschauderte. Der Brief stammte von Tante Hester. Sie hatte
ihn vor zwei Tagen mit einem Boten geschickt, um ihren
Besuch für heute anzukündigen.
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Was will sie bloß von uns?, fragte sich Amy.
Tante Hester war der einzige Mensch auf der Welt, der
niemals gute Laune hatte. Sie lächelte nie – außer, wenn sie
sich am Leid oder über das Missgeschick eines anderen
freuen konnte. Amy hatte sie zuletzt vor fünf Jahren
gesehen. Auf der Beerdigung ihrer Mutter. Damals hatte es
einen heftigen Streit zwischen Tante Hester und Amys Vater
gegeben, weil sie ihn für den Tod ihrer Schwester
verantwortlich machte. Dabei war es ein Unfall gewesen.
Während eines Badeausflugs an der See war Amys Mutter
von einer gefährlichen Welle erfasst und hinaus ins offene
Meer getragen worden. Stundenlang hatten sie verzweifelt
nach ihr gesucht. Aber Tante Hester hatte Amys Vater noch
nie leiden können und darum wollte sie ihm ganz einfach
die Schuld geben – ob es nun gerechtfertigt war oder nicht.
»Du bist heute aber früh auf.« Amy fuhr erschrocken
herum. Im Eingang zur Küche stand ihr Vater, ein hagerer
Mann mit angegrauten Schläfen und blassblauen, fast schon
türkisfarbenen Augen. Wann immer Amy in diese Augen
blickte, verwirrten und faszinierten sie sie zugleich. Eine
geheimnisvolle Traurigkeit glomm in ihnen. Wie bei
jemandem, der mehr von den schlimmen Dingen dieser Welt
gesehen hatte, als gut für ihn war. Amy hatte die gleichen
Augen. Nur strahlten ihre noch Offenheit und Zuversicht
aus.
Beim Anblick des gedeckten Tisches zog ihr Vater
erstaunt eine Braue hoch. »Warum hast du dir nur so viel
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Arbeit gemacht? Das hätte ich doch erledigen können.«
Amy verdrehte die Augen. »Ich weiß, Papa, aber ich mache
es gerne.«
Sie setzten sich an den Tisch und Amy schenkte sich
ein Glas Milch ein.
»Mhm, Pfefferminztee«, sagte ihr Vater, der an der
Teekanne geschnuppert hatte. Er goss sich eine Tasse ein
und gab Zucker dazu. »Wo ist denn mein Löffel?«
»Oh, den hab ich vergessen.« Amy wollte schon
aufspringen, doch sie war zu langsam. Ihr Vater wackelte
kurz mit dem rechten Zeigefinger, woraufhin sich eine
Schublade in dem Schrank hinter Amy öffnete und einen
silbernen Löffel ausspuckte. Mit einem Klirren landete er
auf dem Unterteller der Teetasse ihres Vaters.
Amy saß mit vor der Brust verschränkten Armen da
und starrte ihn säuerlich an.
»Tut mir leid, Schätzchen«, sagte ihr Vater, als er ihren
Blick bemerkte. »Ich weiß, dass du die Zauberei nicht
magst. Aber so ging es einfach schneller.«
»Wozu?« Ihr Vater runzelte die Stirn. »Was meinst
du?«
»Es ist Sonntag und wir haben alle Zeit der Welt«,
sagte Amy. »Was hätte es da ausgemacht, wenn du einen
Augenblick länger auf deinen Löffel gewartet hättest?«
»Hm, ja, du hast recht, das war unhöflich von mir.« Er
lächelte entschuldigend. »Du hast heute den Tisch gedeckt,
also gelten auch deine Regeln. Keine weitere Zauberei.
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Versprochen!« Nachdem er sich ein Brot geschmiert hatte,
sah er wieder auf. Ein Schatten lag auf seinem Gesicht.
»Tante Hester besucht uns ja heute. Ich hatte es fast
vergessen.«
»Was sie wohl will?«
Ihr Vater zuckte die Achseln. »In ihrem Brief hat sie
darüber nichts geschrieben. Nun, vielleicht kommt sie, um
Frieden mit uns zu schließen.« Amy schnaubte, was ihren
Vater zum Lachen brachte. »Ehrlich gesagt, kann ich mir
das bei Tante Hester auch nicht vorstellen«, sagte er.
»Wir könnten einfach so tun, als wären wir nicht zu
Hause«, schlug Amy vor.
»Dann wären wir nicht besser als sie.« Ihr Vater nahm
einen Schluck von seinem Tee. »Hören wir uns erst einmal
an, was sie zu sagen hat. Anschließend können wir sie
immer noch rausschmeißen.« Er zwinkerte fröhlich.
Es wurde ein kurzes Frühstück, denn Amys Vater hatte
noch zu arbeiten. Er war Reporter bei der Royal Post, der
größten und angesehensten Zeitung der Stadt. Schon
mehrmals war es ihm gelungen, verzwickte Fälle
aufzuklären, an denen seine Kollegen und sogar die Polizei
verzweifelt waren. Neuerdings arbeitete er an dem
rätselhaften Verschwinden der dreizehn Engelsstatuen. Vor
vier Wochen war jemand in die Kathedrale im Süden der
Stadt eingebrochen und hatte sie gestohlen. Das war es
zumindest, wovon die Polizei ausging. Und wie hätte es sich
auch anders zugetragen haben sollen? Immerhin waren die
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Statuen aus massivem Stein. Sie konnten also schlecht
selbst von ihren Podesten herabgestiegen sein und sich
davongemacht haben.
Erst vor Kurzem musste Amys Vater auf einen
wichtigen Hinweis gestoßen sein, denn seit einigen Tagen
arbeitete er noch eifriger als sonst. Allerdings wollte er Amy
nichts darüber verraten, was sie ärgerte. Wenn er schon so
wenig Zeit mit ihr verbrachte, konnte er sie wenigstens an
seiner Arbeit teilhaben lassen.
»Soll ich dir beim Abräumen helfen?«, fragte ihr Vater
und stand von seinem Stuhl auf.
Amy schüttelte den Kopf und sah ihm nach, wie er die
Küche verließ, um sich in sein Arbeitszimmer
zurückzuziehen. Was war so anders an diesem Fall, dass er
nicht mit ihr darüber reden wollte?
Um fünf Uhr läutete die Türglocke. Das musste Tante
Hester sein. Amy strich ihr Kleid glatt und öffnete die
Haustür. Vor ihr stand eine hochgewachsene, dunkelhaarige
Frau mit einem spindeldürren Hals und so buschigen
schwarzen Brauen, dass man Angst haben musste, sie
würden einen jeden Moment anspringen. Sie trug ein
tiefblaues Kleid und hielt einen glockenförmigen Schirm in
der linken Hand, mit dem sie sich vor der Sonne schützte.
»Wie groß du geworden bist«, sagte Tante Hester mit
einer unangenehm schrillen Stimme. »Dabei bist du
erst . . .« Sie runzelte die Stirn.
»Elf«, sagte Amy.
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»Doch schon, so, so.« Tante Hester musterte sie mit
einem kritischen Blick. »Nun ja, für elf bist du eher ein
wenig klein geraten. Und so schrecklich dürr. Gibt dein
Vater dir nicht genug zu essen?«
Tante Hester hatte sich nicht im Mindesten verändert.
Noch immer verteilte sie Gemeinheiten so großzügig, als
wären es Bonbons. »Von meinen Freundinnen bin ich die
Größte«, sagte Amy trotzig, obwohl das gelogen war. Sie
hatte nämlich keine Freundinnen.
Ihre Tante tat so, als hätte sie es nicht gehört. »Willst
du mich nicht endlich hereinbitten?« Ohne eine Antwort
abzuwarten, schob sie Amy mit ihrem Schirm zur Seite und
drängte sich an ihr vorbei ins Haus. »Hier sieht es immer
noch so heruntergekommen aus wie früher. Wo steckt dein
Vater?«
»In der Küche«, sagte Amy und streckte Tante Hester
hinter ihrem Rücken die Zunge raus.
Als ihre Tante die Küche betrat, stand Amys Vater am
Tisch, den er gerade für den Tee vorbereitet hatte. »Wir
haben uns lange nicht gesehen, Hester.« Er deutete auf einen
Stuhl. »Nimm doch bitte Platz.«
Sie setzte sich und Amys Vater befahl der Teekanne
mit einem Wackeln seines Zeigefingers, Tante Hesters Tasse
zu füllen. »Dein Besuch überrascht mich«, sagte er,
nachdem er und Amy ebenfalls saßen. »Als wir uns das
letzte Mal gesehen haben, sind wir nicht unbedingt als
Freunde auseinandergegangen.«
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»Wir sind noch nie Freunde gewesen, Rufus«,
entgegnete Tante Hester spitz. »Doch lassen wir die
Vergangenheit ruhen.« Ihre eisblauen Augen wandten sich
Amy zu. »Wo ist der Zucker?«
Hastig beugte sich Amy über den Tisch, um nach der
Zuckerdose zu greifen.
Tante Hester rümpfte die Nase. »Wie ich sehe, hat sich
also nichts geändert. Noch immer beherrschst du nicht
einmal . . .«
»Genug«, unterbrach Amys Vater sie streng. »Vergiss
nicht, das ist unser Haus und du bist hier nur Gast.«
Tante Hesters Lippen wurden schmal. »Lass nur,
Kind«, presste sie hervor. »Ich mache das selber.«
»Hier ist sie schon.« Amy reckte ihr die Hand mit der
Zuckerdose entgegen. Tante Hester schnaufte leise.
Plötzlich zuckte ihr Finger, woraufhin die Dose Amys Griff
entschlüpfte und zu ihr herübergeschwebt kam. »Siehst du,
so gehört sich das.«
Amys Wangen färbten sich rot. Sie war sich sicher,
dass Tante Hester das nur getan hatte, um sie zu demütigen.
Ihr Vater dachte wohl ganz ähnlich. Sein Gesicht hatte sich
verfinstert. »Auch noch etwas Milch, Hester?« Im nächsten
Moment hüpfte das Milchkännchen wie ein aufgescheuchtes
Kaninchen über den Tisch, wobei es einen Großteil seines
Inhalts über die Tischdecke vergoss.
Tante Hester warf ihm einen vernichtenden Blick zu.
»Das war unnötig, Rufus.«
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»Das Gleiche wollte ich gerade zu dir sagen.« Er sah
Tante Hester durchdringend an. »Was willst du von uns?«
»Ich soll von euch etwas wollen?« Tante Hester zog in
gespieltem Erstaunen die buschigen Brauen hoch.
»Lass das Theater«, sagte Amys Vater. »Ich kenne dich
gut genug, um dich zu durchschauen. Sag, was du willst,
oder geh! Aber verschwende nicht länger unsere Zeit!«
Plötzlich lächelte Tante Hester. Es war jene Art von
Lächeln, bei dem einem eisige Schauder über den Rücken
laufen. »Also gut, kommen wir zum eigentlichen Grund
meines Hierseins. Es geht um deine Tochter, Rufus. Schon
seit Jahren wird über sie in der Stadt geredet. Das hat mich
bisher nicht weiter gestört, da kaum einer von unseren
verwandtschaftlichen Banden weiß. Allerdings dringt dieses
üble Geschwätz inzwischen bis in meine Kreise vor. Und
das ist etwas, das ich nicht so einfach hinnehmen kann. Es
beschmutzt den makellosen Namen meiner Familie.«
»Und das wollen wir natürlich nicht«, bemerkte Amys
Vater zynisch.
»In der Tat.« Tante Hester nippte an ihrem Tee,
während Amy sie mit einem dicken Kloß im Hals musterte
und sich fragte, auf welche Gemeinheit sie wohl
hinauswollte. »Schließlich hat deine Heirat mit meiner
Schwester seinerzeit bereits genug Schaden angerichtet«,
fuhr ihre Tante fort.
»Das reicht!« Amys Vater schlug mit der Faust so hart
auf den Tisch, dass die Teetassen bedrohlich klirrten. »Bist
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du etwa nur gekommen, um uns zu beleidigen?«
»Nicht nur«, erwiderte Tante Hester kühl und reckte
das spitze Kinn vor. »Ich möchte dir einen Vorschlag
unterbreiten, der diesen Gerüchten ein für alle Mal ein Ende
setzen dürfte.« Sie warf Amy einen nicht zu deutenden
Blick zu. »Ich habe ein angesehenes Internat ausfindig
gemacht, das bereit wäre, meine Nichte trotz ihres, nun ja,
Defizits aufzunehmen. Es ist zwar abgelegen, aber Amy
bekäme dort eine hervorragende Ausbildung, soweit es ihre
eingeschränkten Fähigkeiten zulassen, und ich müsste mir
nicht länger Sorgen um meinen Ruf machen.
Selbstverständlich würde ich für alle anfallenden Kosten
aufkommen.« Sie schürzte die Lippen. »Nun, Rufus, ich
finde, das ist ein mehr als großzügiges Angebot, wenn man
bedenkt, was mir mein Geld bedeutet.«
Amy schlug das Herz bis zum Hals. Das konnte Tante
Hester unmöglich ernst meinen! Amy wollte auf keinen Fall
fort von ihrem Vater. Ängstlich musterte sie sein Gesicht. Es
war völlig reglos. Nichts verriet, was er gerade dachte.
Natürlich hatte er es nie leicht mit ihr gehabt. Keine Schule
war je bereit gewesen, Amy zu unterrichten, deshalb hatte er
sich neben seiner Arbeit auch noch um ihre Ausbildung
kümmern müssen. »Papa, bitte, ich möchte nicht …«
»Still!« Er hatte mahnend den Zeigefinger erhoben
und Amy wagte es nicht, ein weiteres Wort zu sagen.
Langsam beugte ihr Vater sich über den Tisch und sein
Blick bohrte sich in den von Tante Hester. »Wie kannst du
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es wagen, mir einen solchen Vorschlag zu unterbreiten? Ich
liebe Amy. Sie ist alles für mich. Ich würde sie nie und
nimmer fortschicken. Oh, Hester, wärst du nicht die
Schwester meiner Frau, ich würde dich …«
Das ungestüme Läuten der Türglocke schnitt ihm das
Wort ab.
Tante Hester zog fragend die rechte Augenbraue
hoch. »Wer mag das wohl sein?« Dann bedachte sie Amys
Vater mit einem spöttischen Lächeln. »Ausgerechnet jetzt,
wo diese Unterhaltung interessant zu werden versprach.
Schließlich wollte ich schon immer wissen, wie du wirklich
über mich denkst, liebster Rufus.«
Wieder erklang die Türglocke. Wer immer es war, es
ging ihm nicht schnell genug. Denn nun bollerte er auch
noch mit den Fäusten gegen die Tür. »Aufmachen!«, rief
eine zornige Stimme.
Amy zuckte zusammen.
»Ich gehe wohl besser nachschauen«, sagte ihr Vater
mit merkwürdig besorgter Miene.
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Michael Borlik
Jahrgang 1975, studierte Germanistik, Philosophie und Ur-
und Frühgeschichte, bevor er sich ganz dem Schreiben
widmete. Seit 2005 arbeitet er als freier Schriftsteller und
hat bisher zahlreiche Bücher in verschiedenen Verlagen
veröffentlicht. In seiner Freizeit liest er fantastische Romane
und Thriller. Ein besonderes Faible hat er für Schottland: für
seine grünen Highlands, die alten, wie verwunschen
wirkenden Wälder und seine faszinierenden Mythen.
Außerdem ist er verrückt nach Katzen und süchtig nach
Espresso. Mehr Infos zu ihm unter
http://www.borlik.de
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Von Michael Borlik sind u.a. erschienen:
Der 13. Engel
Nox – Das Erbe der Nacht
Namira – Das Geheimnis der Katzenmenschen
Scary City – Das Buch der Schattenflüche
Scary City – Der Wächter des goldenen Schlüssels
Scary City – Der Bezwinger der Dämonen
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