Borlik, Michael Scary City 03 Der Bezwinger der Daemonen

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DER BEZWINGER

DER DÄMONEN

Thienemann

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Prolog

Tol’Shak

Merlins Gehilfe

Unsichtbare Augen

Kampf um Mitternacht

Der Feind meines Feindes

Kidnapping

Willkommen in der Unterwelt

Das Geheimnis der Vier

Es beginnt

Die verlorenen

Geschichten

Vom Winde verweht

Ein indischer Dämon

Das Geschenk des Zauberers

-

Rückkehr in den Schattenschlund

Die Herausforderung

Ein ungebetener Besucher

Der magische Sturm

Das Duell

Der Bezwinger der Dämonen

Epilog

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Eine bleigraue Wolkendecke hatte die Sonne geschluckt und die Ge-
birgslandschaft in ein graues Totenreich verwandelt. Nebelfetzen waber-
ten aus Erdspalten und ein unheimlicher Wind pfiff um die Felsnadeln,
die wie die Gerippe urzeitlicher Riesenechsen aus dem Boden ragten. Es
war ein verfluchter Ort, aber das kümmerte Vlad nicht. Überhaupt gab es
nicht viel, was der Anführer der Nightscreamer fürchtete.

»Hier werden wir es finden?«, fragte die Gestalt rechts von ihm mit

einer Stimme, die so hohl und verzerrt klang, als käme sie aus einem
Brunnenschacht.

»Meine Quellen haben sich noch nie geirrt«, erwiderte Vlad, der es

hasste, wenn man seine Entscheidungen infrage stellte. Er trat über einen
Riss hinweg, aus dem schwefelgelber, nach faulen Eiern stinkender
Dampf aufstieg. »Es ist ganz in unserer Nähe«, fügte er hinzu. »Ich fühle
es.«

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»Wenn wir unseren Bruder befreit haben, sind wir bereits zu dritt.«

Die Gestalt, deren langer Kapuzenmantel im Wind flatterte, wandte Vlad
das Gesicht zu. Ein Totenschädel, in dessen schwarzen Augenhöhlen
grüne Funken glommen. »Dann müssen wir uns nur noch das Artefakt
holen, das uns die beiden Menschenkinder gestohlen haben, um auch den
Letzten von uns zu befreien.«

Ein zustimmendes Grunzen erscholl von Vlads linker Seite her, wo

ein mittelalterlicher Krieger mit Helm und Lederrüstung einherschritt. In
der rechten Hand hielt er ein Schwert. In der anderen eine Kriegskeule,
die mit Eisendornen besetzt war, von denen eine dunkelrote Flüssigkeit
zu Boden tropfte.

»Ich habe jemanden ausgeschickt, der uns den Goldenen Schlüssel

holen wird. Er ist der beste Killer, den ich kenne. Auf ihn kann ich mich
verlassen.« Vlad raffte seinen Mantel enger um sich. »Zwar seid ihr im
Augenblick kaum stärker als gewöhnliche Menschen«, fuhr er an seine
dämonischen Begleiter gewandt fort, »aber wenn eure Brüder erst frei
sind, werden eure wahren Kräfte entfesselt. Nichts kann uns dann noch
aufhalten. Gemeinsam werden wir die Welt der Menschen auslöschen
und eine neue auf ihren Ruinen erbauen.«

Wie zur Antwort grollte ein zorniger Donnerschlag über die Gipfel

der Berge und wurde von den Hängen und Schluchten dutzendfach
zurückgeworfen, sodass es klang, als wäre ein ganzes Bataillon Kanonen
abgefeuert worden. Ein Mensch hätte sich erschrocken auf den Boden

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geworfen und die Hände auf die Ohren gepresst. Nicht so Vlad oder ein-
er seiner Begleiter. Im Gegenteil.

Der Anführer der Nightscreamer hob den Blick zum Himmel, über

den in diesem Moment ein Blitz zuckte und der die Diamanten, die seine
Augen ersetzten, in einem kalten Licht erstrahlen ließ. Niemand wusste,
warum Vlad sein Gesicht hinter einer Maske verbarg, die einzig seinen
Mund freiließ, der unablässig zu einem Grinsen verzerrt war. Vielleicht,
weil es so hässlich war. Vielleicht aber auch aus einem anderen Grund ...

»Das ist Asgard, die zerstörte Stadt der nordischen Götter. Nach ihr-

em Vorbild haben die Menschen ihre eigenen Städte errichtet«, erklärte
Vlad, als sie den Rand eines kargen Tals erreichten, durch den sich ein
Fluss aus Lava wälzte. An beiden Ufern erhoben sich die Ruinen verfal-
lener, vom Feuer geschwärzter Wolkenkratzer. »Vor langer Zeit war As-
gard das Zuhause von Odin, Loki, Thor und anderen Göttern, bevor sie
von den Feuerriesen vertrieben wurden. Auch Hel, unsere gefährlichste
Widersacherin, stammt von hier.«

»Hel«, knurrte der Krieger und Rauch kräuselte sich aus den Seh-

schlitzen seines Helms. Sofort war die Luft vom Geruch verbrannten
Fleisches erfüllt. »Als uns der Bezwinger der Dämonen vor tausend
Jahren besiegte, waren es sie und ihre Helfer, die uns in unser Gefängnis
bannten. Nur warum sollte sie das letzte Siegel nicht längst von hier fort-
gebracht haben, wo sie doch weiß, dass wir hinter ihm her sind?«

Vlad lachte auf und entblößte dabei zwei Reihen nadelspitz gefeilter

Zähne. »Nachdem sie die Siegel versteckt hatte, belegte sie sich selbst

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mit einem Vergessenszauber, damit sie die Verstecke niemals verraten
kann.«

»Raffiniert«, meinte die Gestalt, die aussah wie der Tod. »Aber auch

dumm. Damit macht sie es uns viel zu leicht.«

»Das würde ich nicht sagen, denn auch dieses Siegel wird von einem

Wächter geschützt.« Vlad stieß zischelnd den Atem aus. »Dieses Mal
von Hels Bruder.«

»Ein Gott?«, fragte der Krieger.
»Etwas Ähnliches.« Vlad deutete auf einen Höhleneingang ganz in

ihrer Nähe. »Dort werden wir ihn und das Siegel finden. Wenn wir ihn
besiegen, gehört es uns.«

»Worauf warten wir dann noch?« Der Krieger hob Schwert und

Keule und stieß einen Kampfschrei aus, in den er all seinen Hass, seine
Wut und seine Gier nach Blut legte. »Tod unseren Feinden!«

Bernsteinfarbene Augen flammten in der Schwärze der Höhle auf.

Groß wie Teller. Mit einem Knurren sprang ein riesiger Wolf ans Tages-
licht. Er hatte Reißzähne, die so lang wie
die Klinge der Sense waren, die wie aus dem Nichts in der Hand von
Vlads dämonischem Begleiter erschien.

»Der Fenriswolf«, sagte der Anführer der Nightscreamer. »Laut den

alten Legenden ist er unsterblich.«

»Wie sollen wir ihn dann töten?« Die Funken in den Augenhöhlen

des Dämons Tod waren zu lodernden Flammen herangewachsen.

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»Wir müssen ihn nicht töten, wir müssen ihn nur überlisten«, er-

widerte Vlad.

»Was hast du vor?«, fragte der Krieger.
Vlad antwortete ihm nicht, sondern musterte mit seinen Diamantau-

gen den Fenriswolf. Der stand direkt vor dem Höhleneingang und ver-
strömte einen Geruch nach karger Wildnis, aber auch nach giftigen Sch-
wefeldämpfen. Die Lefzen hatte er zurückgezogen, sodass sie sein Raub-
tiergebiss entblößten, während aus seiner Kehle ein Grollen drang, das
dem des Donners in nichts nachstand. Erwartet, dachte Vlad. Er ist zwar
ein Tier, aber er ist nicht dumm. Und darum wird er seinen Posten nur
dann verlassen, wenn er gezwungen ist.

»Jetzt sprich schon!«, zischte der Knochenmann. »Was willst du,

dass wir tun?«

Vlads Kopf ruckte zu ihm herum. Dank der Macht des Dämons Mor-

czane, die er sich angeeignet hatte, mussten seine Begleiter ihm ge-
horchen. Wäre es anders, hätten sie sich längst gegen ihn gewandt. »Du
greifst seine rechte Flanke an«, befahl Vlad dem Dämon Tod. »Und du«,
wandte er sich an den Krieger, »näherst dich dem Fenriswolf von der an-
deren Seite. Währenddessen werde ich seine Aufmerksamkeit ganz auf
mich lenken.«

Der Krieger und der Knochenmann wandten sich ab und schritten

davon. Der riesige Wolf hielt den Blick weiterhin auf Vlad gerichtet, als
wüsste er genau, dass er der Gefährlichste von den dreien war. Nun hob

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Vlad den Kopf und schob das Kinn vor, wodurch die Hässlichkeit seines
Grinsens noch hervorgehoben wurde.

»Komm nur, Wölfchen!«, rief er dem Tiergott entgegen. »Komm und

hole mich!« Er breitete die Arme aus und lief dem Fenriswolf mit schal-
lendem Gelächter entgegen.

Der fletschte die Zähne, machte einen Satz nach vorne und ließ die

Kiefer um Vlads Kopfzuschnappen. Sie trafen jedoch ins Leere. Dafür
bohrten sich ein Schwert und eine Sense in seine Rippen. Der Fenriswolf
stieß ein Schmerzgeheul aus, das die Berge erzittern ließ und Dutzende
von Steinlawinen in die Tiefe schickte.

Vlad stand vor dem Höhleneingang. Alles lief genau nach Plan. Kurz

bevor die Zähne des Fenriswolfs ihm den Kopf hatten abbeißen können,
war er teleportiert. Eine weitere von Morczanes Eigenschaften, die auf
ihn übergegangen war. Er war ein Genie. Ein wahrer Teufel. Niemand
würde ihn je bezwingen.

Vlad wandte sich um und betrat die Höhle, aus der ihm ein warmer,

nach Schwefel, Asche und Lava stinkender Wind entgegenblies. Irgend-
wo hier drin verbarg sich das Siegel. Er spürte seine Nähe, spürte seine
Macht, die ein Kribbeln über seine Haut schickte. Und während seine dä-
monischen Begleiter den Fenriswolf beschäftigten, würde er es suchen.

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Mats warf einen Blick über die Schulter und runzelte die Stirn. Seltsam,
schon den ganzen Morgen über hatte er das Gefühl, von unsichtbaren
Augen beobachtet zu werden. Aber wann immer er sich umdrehte, war
da niemand. Auch jetzt nicht. Der lange, in goldgelbes Licht getauchte
Korridor im neunten Stock des Hotels Greifenhall wirkte verlassen und
still. Vielleicht ein wenig zu still, dachte Mats. Immerhin sind Sommer-
ferien. Hochsaison. Wo waren die Stimmen hinter den Zimmertüren?
Wo das Getrampel der Kinderfüße?

Er nahm einen tiefen Atemzug und roch Putzmittel und den süß-

lichen Hauch eines Parfüms, der vermutlich von einem Gast stammte,
der hier vor Kurzem entlanggegangen sein musste. Aber nichts Ver-
dächtiges. Kein feuchtes Fell, das die Anwesenheit eines Werwolfs
verriet. Oder Verwesungsgeruch, der auf die Nähe einer Mumie oder
eines Zombies.schließen ließ. Genauso wenig fühlte er das Kribbeln

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von Magie auf der Haut. Und trotzdem rumorte es in Mats' Magen, als
hätte er drei Teller Bohneneintopf verdrückt.

Wahrscheinlich war er nur wegen Richie so nervös. Dieser verdam-

mte Dhampir hatte seinen Freund Tic entführt. Einen Feenmann. Richie
wollte Rache, weil Mats ihm bei einem Kampf den Kiefer gebrochen
hatte. Außerdem gab er ihm wahrscheinlich die Schuld am Tod von
Lady Violetta. Eine gefürchtete Vampirin, die nicht nur Vlads rechte
Hand, sondern auch Richies Mutter gewesen war. Aus diesem Grund
hatte er Mats für Mitternacht in Vlads Villa bestellt. Natürlich war es
eine Falle, dennoch würde Mats hingehen. Er könnte Tic oder Lucy
niemals im Stich lassen. Die beiden waren seine besten Freunde.

Mats sah auf die Uhr. Noch vierzehn Stunden, dann würde er mit

Richie um Tics Leben kämpfen. Er nahm einen tiefen Atemzug, zog
seine Pagenuniform zurecht und klopfte bei Zimmer 925 an.

Es dauerte nicht lange, und die Tür öffnete sich einen Spalt weit.

»Ja?«

»Guten Morgen, Frau Stinkewiesenhöpfer.« Mats versuchte, nicht zu

lachen. Was für ein schräger Name. »Sie haben nach dem Zimmerser-
vice gerufen?«

»In der Tat, Menschenjunge!«

In Mats' Kopf schrillten die Alarmglocken. Aber bevor er reagieren

konnte, schoss eine runzelige Hand durch den Türspalt und zerrte ihn in
das Zimmer. Mats hatte nicht einmal einen Blick auf seinen Angreifer
werfen können, als ihn auch schon ein Hieb in den Rücken traf, sodass

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er auf das pompöse Himmelbett zustolperte, das gut ein Drittel des
Raumes einnahm. Fast wäre er auch noch über den Läufer gefallen,
bekam jedoch im letzten Moment einen der Bettpfosten zu fassen.

Shit!
Mats wirbelte herum und stand einer zierlichen, alten Dame mit ap-

felroten Bäckchen und einem bezaubernden Lächeln gegenüber. Er blin-
zelte. Sie wirkte wie das Ebenbild der perfekten Großmutter.

Als sie jedoch zu ihm sprach, tat sie es mit der Stimme eines Altrock-

ers: »Ich habe eine Nachricht von Vlad für dich. Er will den Goldenen
Schlüssel. Weigerst du dich, werde ich Lindwurmfutter aus dir
machen.«

Mats schnaubte. Erst gestern Abend mussten Lucy und er herausfind-

en, dass der Anführer der Nightscreamer sie schon wieder reingelegt
hatte. Hinter ihrem Rücken hatte er sich den Kristallschädel der Vorse-
hung geschnappt, während Mats und seine Freunde ganz darauf
konzentriert waren, das zweite Siegel vor ihm in Sicherheit zu bringen.
»Vlad wird garnichts von uns bekommen«, erklärte Mats zäh-
neknirschend. »Außer das, was er verdient!« Er war so wütend, dass der
Bettpfosten, den er immer noch festhielt, unter seinem Griff zerbrach.

Die alte Frau zog eine Braue hoch. »Ich werde dich jetzt töten Junge.

Vielleicht zeigt sich das Menschenmädchen ja kooperativer, wenn es be-
greift, in welcher Gefahr es schwebt.«

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Vor Mats' Augen wuchs ihre Gestalt auf zweieinhalb Meter an, bevor

ihr Gesicht sich in das eines grünhäutigen Orks verwandelte, der einen
Ledermantel und Cowboystiefel aus Schlangenleder trug.

Ein Gestaltwandler.
Dem ein oder anderen war Mats bereits im Schattenschlund, der

Stadt der Fabelwesen, über den Weg gelaufen. Allerdings hatte keiner
von ihnen so brutal und grobschlächtig wie dieses Exemplar gewirkt.

»Ich bin Tol'Shak«, grunzte der Ork zwischen seinen Hauern hervor,

wobei er Mats seinen widerlichen, nach Knoblauchpizza stinkenden
Atem entgegenblies. »Der beste Profikiller, den man für Gold anheuern
kann.« Er schlug seinen Ledermantel zurück, sodass ein Gürtel mit
Dutzenden Wurfmessern sichtbar wurde.

Mats wunderte sich selbst darüber, mit welcher Leichtigkeit er den

Bettpfosten zerbrochen hatte. War das eine weiere seiner neuen
Fähigkeiten als Dämonenbezwinger? Er würde sich trotzdem nicht kop-
flos in einen Kampf mit einem fast drei Meter großen Auftragsmörder
stürzen. »Können wir nicht darüber verhandeln?«

Ein Grinsen erschien auf dem Gesicht des Orks, während er ein Lang-

schwert aus der Scheide auf seinem Rücken zog.

»Ich schätze, das heißt dann wohl >nein<.« Mats wich zurück, bis er

an eine Kommode stieß. Verdammt! Warum musste das Zimmer auch so
klein sein?

»Leb wohl, Menschenjunge!« Tol'Shak ließ die Klinge auf Mats

herabsausen.

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Der warf sich zu Boden, sodass das Schwert die Kommode anstatt

seinen Kopf spaltete. Der Ork fluchte, während Mats auf allen vieren
zwischen den Beinen des Hünen hindurch kroch. Anschließend sprang er
auf und rannte auf die Tür zu. Doch gerade als er nach der Klinke griff,
nagelte ein Messer den Ärmel seiner Uniform an die Tür. Mats starrte es
an. Das Messer hätte ihm fast den Arm aufgeschlitzt.

»Niemand ist Tol'Shak jemals entwischt«, grunzte der Ork.
Mats, dem der Schweiß aus allen Poren strömte, riss die Knöpfe sein-

er Pagenjacke auf und befreite sich von ihr. Erfuhr herum und zuckte mit
dem Kopf zur Seite, als ein zweites Wurfmesser auf ihn zuflog. Nur um
Millimeter verfehlte es sein rechtes Ohr, bevor es sich in den Türrahmen
bohrte. »Du bist ja total durchgeknallt!«, rief er.

Tol'Shak stand auf sein Schwert gestützt in der Mitte des Zimmer-

sund ließ ein Wurfmesser über seine, mit Warzen und Haaren überzo-
genen Finger wandern, wie manche Magier es mit Münzen machten.

Er spielt mit mir, begriff Mats mit einem Mal. Er hätte mich Sängst

umbringen können, aber es macht ihm Spaß, mich zu quälen. Seine
Hände ballten sich zu Fäusten. Die Wut in seinem Bauch schoss wie
eine Stichflamme empor. »Weißt du überhaupt, wer ich bin?«, brüllte er
den Ork an. »Ich bin der Bezwinger der Dämonen. Wer sich mit mir an-
legt, den ... den ...« Mist, warum fielen ihm die richtigen Worte nie ein,
wenn er sie brauchte? »... aus dem mach ich Hühnchenfrikassee mit
grünen Erbsen!« O Mann, das war gerade der mieseste Spruch der Welt
gewesen!

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Tol'Shak brach in schallendes Gelächter aus. »Du Wurm willst der

legendäre Dämonenbezwinger sein?«

»Genau der bin ich.« Mats stemmte die Hände in die Seiten. Jeden-

falls behauptete das Mr Myrddin, der in Wahrheit Merlin der Zauberer
war. Und tatsächlich hatte Mats in den vergangenen Wochen einige selt-
same Veränderungen an sich festgestellt: Mittlerweile konnte er nicht
mehr nur den Tarnzauber durchschauen, mit dem die Schattengänger
sich zum Schutz vor den Menschen umgaben, er heilte auch sehr viel
schneller und konnte sogar die Nähe von Magie fühlen. Selbst jetzt
spürte Mats, dass irgendetwas mit ihm passierte. Sein Zorn auf den Ork
setzte eine Energie in ihm frei, die sich wie etwas Lebendiges durch
seine Eingeweide wand. Was auch immer gerade mit ihm geschah, auch
Tol'Shak musste diese Veränderung an Mats bemerkt haben. Plötzlich
verstummte sein Lachen und er schleuderte das dritte Wurfmesser.

Es wird mich genau zwischen die Augen treffen, dachte Mats. Er

wusste es einfach, und dennoch war er nicht im Mindesten beunruhigt.
Warum auch? Er hatte ja noch jede Menge Zeit, um ihm auszuweichen.
Erst jetzt wurde ihm klar, was sein Gehirn längst registriert hatte. Das
Wurfmesser bewegte sich wie in Zeitlupe auf ihn zu. Sein Blick
wanderte weiter zu Tol'Shak. Der Ork wirkte wie erstarrt. Mats machte
einfach einen Schritt zur Seite und sah fasziniert zu, wie das Messer an
ihm vorüberkroch. Wahnsinn! Für einige Augenblicke konnte er sogar
sein Spiegelbild auf der Klinge betrachten. Ein Junge mit blondem Haar
und honigbraunen Augen, die wie Bernsteine schimmerten. Doch schon

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im nächsten Moment kehrte die Welt zu ihrer normalen Geschwindigkeit
zurück. Das Messer traf die Tür und grub sich bis zum Heft in das Holz.

»Wie hast du das gemacht? Kein Mensch kann sich so schnell bewe-

gen.«Tol'Shak verstummte und das Grün seines Gesichts wechselte zu
einem ungesunden olivgelb. »Außer, du wärst wirklich der Bezwinger
der Dämonen.«

»Ach, jetzt glaubst du mir plötzlich.« Mats funkelte sein Gegenüber

an. »Vlad hat dich belogen, ich bin kein leichtes Opfer. Warum hätte er
sonst dich geschickt, anstatt sich selbst mit mir anzulegen?«

Der Ork neigte den Kopf zur Seite, die Augen zu Schlitzen zusam-

mengekniffen. Ein Speichelfaden baumelte von seinem rechten Hauer.

»Du hast dich von Vlad übers Ohr hauen lassen«, fuhr Mats fort.

»Schwirr lieber ab, bevor ich richtig stinkig werde!«

Tol'Shak grunzte. »Du bist gut, Menschenjunge, aber einen Profi wie

mich legst du nicht rein. Deine Augen verraten dich, du bist dir deiner
selbst nicht sicher. Außerdem ...«, seine Lippen verzogen sich zu einem
breitem Grinsen, das ihm von Ohr zu Ohr ging,»... würde ich zu einer
lebenden Legende, wenn ich den Dämonenbezwinger besiege.« Er riss
sein Schwert hoch und stürmte auf Mats los. Dieses Mal verlangsamte
sich die Zeit nicht.

Panik schnappte wie ein Werwolfsmaul nach Mats. Er ignorierte sie,

ebenso wie sein heftig pochendes Herz und tat das Einzige, was ihm in
den Sinn kam. Er packte die Enden des Läufers, über den Tol'Shak auf

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ihn zukam, und zog mit aller Kraft daran. Ein, zwei Sekunden lang
passierte nichts, dann gab der Teppich mit einem Ruck nach.

Mats stolperte zurück und gegen die Tür. Was ganz bestimmt nicht so

schmerzhaft war wie das, was Tol'Shak widerfuhr. Der Ork krachte rück-
lings in das Himmelbett, das unter seinem Gewicht entzweibrach und
wie eine Muschel über ihm zusammenklappte. Eine Bettfeder schoss mit
einem Poing heraus und landete vor Mats' Füßen. Danach wurde es so
still im Raum, dass Mats fast über sein eigenes Keuchen erschrocken
wäre. Nun starrte er auf zwei Schlangenlederstiefel, die aus den Trüm-
mern des Bettes hervorschauten. Keiner davon zuckte auch nur.

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Mats hatte nicht vor, herauszufinden, ob Tol'Shak sich nur tot stellte
oder es wirklich war. Er fuhr zur Tür herum, riss sie auf und stürzte
hinaus auf den Hotelkorridor, wo er fast mit einem älteren Herrn und
seinem Handtaschenfifi zusammengestoßen wäre.

»Verzeihung«, murmelte Mats und rannte an ihm vorbei zur Treppe.

Auf der obersten Stufe blieb er stehen, schloss für einen Moment die
Augen und seufzte. Wie sollte er das zerstörte Zimmer bloß seinen El-
tern erklären? Und erst den Ork? Als er Schritte hinter sich vernahm,
fuhr er herum. Aber es war nur der Hotelgast von vorhin, der im Aufzug
verschwand.

Mats hasste Aufzüge, weil man ihnen bedingungslos ausgeliefert

war. Sie konnten einen schließlich sonst wohin bringen. In die Hölle
oder einen noch schlimmeren Ort. Mats wusste zwar, dass in dieser
Hinsicht seine Fantasie mit ihm durchging, aber seitdem der Comic-
Held Mad Jack mit einem Aufzug mitten in einem Nest von

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säurespritzenden Alienzombies gelandet war, benutzte er sie nur noch,
wenn es nicht anders ging.

Mats dachte wieder an den Ork, der im Moment sein größtes Problem

war. Eigentlich konnte er nur eines tun. Er lief hinab in den ersten Stock
des Hotels, wo der rechte Korridor in gedämpftes Licht getaucht war,
weil Mr Myrddin es so wünschte. Zu viel Elektrizität, so hatte er Mats
einmal erklärt, beeinträchtige seine hellseherischen Fähigkeiten. Mr
Myrddin war ein Zauberer. Allerdings nicht irgendein x-beliebiger, son-
dern der berühmte Merlin, der einst an König Artus' Seite gegen das
Böse gekämpft hatte. Allerdings benutzte er diesen Namen inzwischen
nicht mehr, weil er es vorzog, unerkannt zwischen den Menschen zu
leben.

»Mr Myrddin, sind Sie da?« Mats trommelte an die Tür von Suite

Nummer dreizehn. »Ich muss dringend mit Ihnen sprechen. Etwas ist
passiert und ich ...«

Die Tür öffnete sich, aber niemand war zu sehen. Im nächsten Mo-

ment vernahm er ein Räuspern zu seinen Füßen. Mats senkte den Blick
und starrte auf ein graues, haarloses Wesen, das ihm bis zum Schienbein
reichte.

»Ein Steingnom, äußerst loyale und nützliche Helfer.«
Mats sah auf und begegnete Mr Myrddins freundlichem Blick. Er war

ein älterer Herr mit schlohweißem Bart. Im Gegensatz zu gestern Abend
trug er jedoch keinen Nadelstreifensmoking, sondern einen pinkfarbenen
Jogginganzug mit einem dazupassenden Stirnband. »Entschuldige bitte

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meinen Aufzug«, sagte er, weil Mats ihn mit offenem Mund anstarrte.
»Ich war mitten in meinem Fitnesstraining, als du angeklopft hast. Was
ist passiert?«

»Es gab ein Problem mit dem Gast aus Nummer 925. Er hat versucht,

mich umzubringen.«

Mr Myrddins Lächeln erstarb. »Komm rein, Mats. Das muss ja nicht

jeder hören.«

Mats schob sich an ihm vorbei und blieb wie angewurzelt stehen. Es

war das erste Mal, dass er die Suite nach Mr Myrddins Einzug betrat. Sie
sah eindeutig nicht so aus, wie sie sollte. Anstatt Lampen hingen eiserne
Kerzenleuchter von der Decke, das Doppelbett war einer offenen Feuer-
stelle gewichen, über der ein Kupferkessel köchelte, und an den Wänden
standen Regale, die mit Büchern, Kräuterschalen, einem Totenkopf und
anderen Gegenständen gefüllt waren, für die Mats nicht einmal einen
Namen hatte. Mit gerunzelter Stirn wandte er sich zu Mr Myrddin um,
der jetzt wie ein altertümlicher Alchemist gekleidet war. »Ich wette, dass
Mum und Dad nichts von alldem hier wissen, oder?« Mats machte eine
Handbewegung, die den gesamten Raum umfasste.

»Du meinst, dass ich die Suite ein ganz kleines bisschen mit Magie

bearbeitet habe?« Mr Myrddin zwinkerte ihm zu. »Wohl kaum.« Er lot-
ste Mats zu einem Tisch, auf dem die unheimlichste Pflanze stand, die er
je gesehen hatte. Anstatt Blätter besaß sie Augen, die jeder Bewegung
von Mats folgten.

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»Ein Argusauge, hübsch, nicht wahr?« Mr Myrddin wies Mats einen

der Stühle zu. »Und jetzt erzähl mir, was geschehen ist.«

»Ein Gestaltwandler hat mich angegriffen. Sein Name ist Tol'Shak

und er behauptet, von Vlad geschickt worden zu sein. Wir haben gekäm-
pft und ich habe irgendwie gewonnen.«

»Irgendwie?«
Mats nickte und beschrieb ihm seine neuen Fähigkeiten.
»Hm«, machte Mr Myrddin und strich sich über den Bart. »Als Erstes

sollten wir dafür sorgen, dass keines der Zimmermädchen zufällig über
Tol'Shak stolpert. Das wäre eine Katastrophe!« Er blickte neben seinem
Stuhl zu Boden, wo der Steingnom mit übereinander geschlagenen Bein-
en hockte. »Kümmere dich darum!«

Sofort sprang das kleine Wesen auf und flitzte davon.
Mats sah den Zauberer ungläubig an. Wie sollte dieser Winzling ganz

allein mit einem Ork fertig werden?

»Kysel ist stärker, als er aussieht«, erklärte Mr Myrddin, als hätte er

Mats' Gedanken erraten. »Und nun zu deinen neuen Fähigkeiten: Als du
vorhin gegen Tol'Shak gekämpft hast, wurde die Zeit nicht etwa lang-
samer, sondern du hast dich einfach wahnsinnig schnell bewegt. Auch
das ist eine Gabe des Dämonenbezwingers.« Er nickte. »Ich denke, du
bist jetzt so weit, dass ich dich lehren sollte, deine neuen Kräfte zu kon-
trollieren. Du musst wissen, wie du sie rufen kannst, wenn du Vlad be-
siegen willst.«

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Mats vergrub die Hände im Haar. »Das ist unmöglich. Ich kann nicht

gegen den Anführer der Nightscreamer kämpfen. Der alte Konrad hat
selbst gesagt, dass Vlad inzwischen so mächtig wie einer der alten Göt-
ter ist. Wie soll ich so jemanden besiegen?« Er warf dem Zauberer einen
gequälten Blick zu. »Egal, wie schnell oder stark ich bin, Vlad wird
besser sein. Außerdem hat er eine ganze Armee aus Verbrechern und
Mördern zu seinem Schutz zur Verfügung.«

»Nicht, wenn du ihn direkt herausforderst. Der Kodex der

Nightscreamer verlangt, dass Vlad in diesem Fall Mann gegen Mann
kämpft. Wenn er ablehnt, stände er als Feigling vor seinen Leuten da
und sie würden ihn verstoßen. Auf diese Weise hat er auch den Ripper
gezwungen, gegen ihn anzutreten.«

Falls Mr Myrddin vorgehabt hatte, Mats mit seinen Worten aufzu-

muntern, war das absolut in die Hose gegangen.

Der Ripper, auch als Jack the Ripper bekannt, war ein Poltergeist, der als
der berühmteste Serienkiller Londons in die Geschichte eingegangen
war. Vlad hatte ihn im Duell besiegt- was eigentlich als unmöglich galt -
und war dadurch zum Anführer der Nightscreamer aufgestiegen.

Wie konnte Mats bei einem solchen Gegner überhaupt auf einen Sieg

hoffen?

»Es ist nicht schlimm, Angst zu haben«, sagte Mr Myrddin, der seine

Verzweiflung gespürt haben musste. »Alles andere wäre dumm.«

»Das ist es nicht. Jedenfalls nicht nur.« Mats ballte die Hände zu

Fäusten und schlug damit so heftig auf den Tisch, dass die Augenpflanze

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ihm empörte Blicke zuwarf. »Wissen Sie, was mein Problem ist? Ich bin
dreizehn Jahre alt. Dreizehn! Und ich soll verhindern, dass die Hölle auf
Erden ausbricht. Können Sie sich vorstellen, wie ich mich deswegen
fühle?«

»Du fühlst dich betrogen«, antwortete Mr Myrddin. »Du denkst, es ist

nicht fair, dass ausgerechnet du diese Bürde tragen musst.«

»Ist es ja auch nicht!«
Der Zauberer nickte. »Du hast recht! Aber ich will dir etwas verraten,

das die meisten Helden gerne übersehen.«

Mats hob den Blick.

»Die Prophezeiung hätte dich nicht ausgesucht, wenn sie nicht abso-

lut davon überzeugt wäre, dass du eine Chance gegen Vlad hast.«

Auch wenn Mats sich ganz sicher nicht wie ein Held fühlte, hatte Mr

Myrddins Argument etwas für sich. »Glauben Sie das wirklich?«

Der Zauberer lächelte. »Wäre ich sonst hier? Und um deine Chancen

noch zu verbessern, schlage ich vor, dass wir gleich heute Abend mit
deinem Training beginnen.«

»Äh, heute Abend?« Mats hatte bisher nur Lucy von Tics Entführung

erzählt. Wie er Mr Myrddin einschätzte, würde der zu dem Kampf mit
Richie mitkommen wollen. Aber das konnte Mats auf keinen Fall zu-
lassen, weil es das Leben des Feenmanns in Gefahr bringen würde.

»Ja, heute Abend.« Mr Myrddin zog eine Braue hoch. »Hast du dam-

it ein Problem?«

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»Da kann ich aber nicht. Wie... wie wäre es mit morgen?« Falls ich

dann noch leben sollte, fügte Mats in Gedanken hinzu.

Mr Myrddin musterte ihn mit einem nachdenklichen Blick, aber

schließlich nickte er. »Also gut, morgen. Aber vergiss es ja nicht. Ich
habe noch etwas sehr Wichtiges, das ich dir geben muss.«

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»Ich habe schon auf dich gewartet!« Lucy stürmte Mats durch sein Zim-
mer entgegen und küsste ihn zur Begrüßung.

Hitze stieg ihm in die Wangen und er grinste verlegen. Er konnte im-

mer noch nicht ganz glauben, dass Lucy und er jetzt zusammen waren.
Der helle Wahnsinn.

Lucy zerrte ihn zum Bett, damit sie sich setzen konnten. »Und jetzt

erzähl mir noch einmal die ganze Geschichte von Anfang an. Vorhin am
Telefon hat das alles so verwirrend geklungen.«

Mats blickte auf die Uhr. Es war kurz nach sieben. Lucy, die nor-

malerweise auch im Hotel aushalf, hatte heute wegen eines Zahnarztter-
mins freigehabt. »Es war wirklich keine große Sache.« Er winkte ab.
»Der Ork ist nicht einmal tot. Kysel - also Mr Myrddins Steingnom -
sagt, dass er sich bei dem Sturz mit seinem eigenen Schwert k.o. geschla-
gen hat.«

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»Komm schon, das kannst du besser!« Lucy knuffte ihn am Arm.

»Bei dieser Sache ging es um Leben und Tod.«

Na gut, wenn Lucy darauf bestand. Also erzählte Mats ihr noch ein-

mal ganz ausführlich von Tol' Shaks monstermäßigem Schwert und den
Wurfmessern, die ihn fast skalpiert hätten. Dabei ließ er es sich nicht
nehmen, die Geschichte hier und da ein wenig auszuschmücken. Wenn
Lucy Action wollte, sollte sie sie auch bekommen. Als Mats zum Ende
kam, war ihre anfängliche Begeisterung einem Stirnrunzeln gewichen.
»Dir ist schon klar, dass die Hotelzimmer im Greifenhall höchstens drei
Meter hoch sind«, sagte sie. »Der Ork kann unmöglich dreineunzig groß
gewesen sein.«

»Okay, okay, dann war er eben ein bisschen kleiner, aber deswegen

war er nicht weniger gefährlich.« Dass Mädchen aber auch gleich jedes
Wort auf die Goldwaage legen mussten. »Was ist mit heute Abend?
Kommst du mit?«

»Du machst Witze, oder?«, platzte Lucy heraus, »ich werde diesem

Richie höchstpersönlich den Hals für das umdrehen, was er Tic angetan
hat. Dieser Mistkerl! Wie kann man sich nur an Schwächeren
vergreifen?«

»Das ist das Problem mit den bösen Jungs. So etwas ist denen

scheißegal.« Mats stand auf. »Wenn du mal kurz wegschauen würdest,
tausche ich die Pagenuniform gegen normale Klamotten. Dieses Teil ist
echt unbequem.«

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»Wem sagst du das?!« Lucy wandte das Gesicht der Wand über dem

Bett zu, wo ein Filmplakat hing, auf dem ein insektenartiges Raumschiff
gerade Los Angeles in Schutt und Asche legte.

Mats schlüpfte aus der Uniform und griff nach seiner Jeans, die über

dem Schreibtischstuhl hing.

»Hübsche Unterhose«, sagte Lucy hinter ihm.
»Hey.« Mats wirbelte herum und stellte fest, dass Lucy noch immer

auf das Plakat starrte. Allerdings bebte ihr ganzer Körper, als unter-
drücke sie ein Lachen. »Sehr witzig«, grummelte er.

Mats hatte den ganzen Nachmittag lang darüber gegrübelt, welche

Ausrede er seinen Eltern präsentieren sollte, um zu erklären, dass er die
halbe Nacht unterwegs sein würde. Dass er vorhatte, sich mit einem
Dhampir zu prügeln, konnte er ihnen schlecht auf die Nase binden.
Außerdem waren sie inzwischen ziemlich misstrauisch, was seine
Ausreden anging. Genauso wie Lucys Vater. Am Ende entschieden Mats
und Lucy sich für die einzige Möglichkeit, die ihnen noch blieb: Sie
würden sich einfach heimlich davonstehlen und mit der Strafe klarkom-
men müssen, die sie nach ihrer Rückkehr erwartete. Wenn sie dadurch
das Leben ihres Freundes Tic retten konnten, war es ihnen das in jedem
Fall wert.
»Feind im Anflug«, keuchte Lucy und zog Mats hinter die Standuhr im
Foyer des Hotel Greifenhall. Dort warteten sie ab, bis die Frau mit der
Turmfrisur und den knallrot lackierten Fingernägeln an ihnen vorbeige-
fegt war.

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»Puh, wenn Mum uns gesehen hätte, wäre eine Erklärung fällig

gewesen.« Mats versicherte sich, dass sein Vater nicht in der Nähe war,
dann spurteten die beiden zur Tür, die ihnen von einem freundlich
lächelnden Portier aufgehalten wurde.

Mehrere Taxis warteten in der Parkbucht vor dem Greifenhall, um

Kundschaft aufzunehmen, die zum Flughafen oder Hauptbahnhof geb-
racht werden wollte. Mats dachte kurz daran, ihren Freund Farid zu bit-
ten, sie zu Vlads verlassener Villa zu fahren. Das Problem war nur, dass
Farid sofort Mr Myrddin informieren würde. Außerdem war es noch zu
früh, um jetzt schon am Treffpunkt aufzutauchen. Es war gerade mal
acht. Sie hatten also noch jede Menge Zeit.

»Ich traue diesem Richie nicht«, meinte Mats, während sie der Straße

zum Alexanderplatz folgten. Sie hatten beschlossen, noch etwas zu fut-
tern, bevor es losging. »Der wird sich doch niemals auf einen fairen
Kampfeinlassen.«

Irgendwo hupte ein Auto, dann noch ein zweites. Keiner von beiden

sah hin. In Berlin wurde ständig gehupt. Besonders an so heißen Tagen
wie diesem, an denen die Autofahrer noch gereizter als gewöhnlich
waren.

»Wenn wir gegen elf bei der Villa aufkreuzen, sollte es dunkel genug

sein. Ich habe nämlich keine Lust darauf, dass einer der Nachbarn die
Polizei ruft, weil er uns beim Herumschleichen beobachtet hat«, sagte
Lucy. »Und wir haben immer noch eine Stunde, um uns ein Versteck zu
suchen, in dem wir auf Richies Ankunft warten können.«

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Mats nickte. »Wenn wir vor ihm dort sind, hat er wenigstens keine

Chance, uns eine Falle zu stellen. Wir werden es dem Kerl schon ...« Er-
fuhr herum und hielt nach Gestalten in Mänteln, Hüten und Sonnenbrille
Ausschau. Eine beliebte Verkleidung unter Schattengängern, die sich un-
erkannt zwischen Menschen bewegen wollten.

»Was hast du?« Lucy musterte ihn besorgt.
»Jemand beobachtet uns.« Er rieb sich den Nacken. »Ich konnte seine

Blicke spüren. Sie haben sich wie Nadeln in meine Haut gebohrt.«

Lucy schob sich dichter an ihn heran. »Aber da ist kein Schat-

tengänger«, raunte sie ihm zu. »Nur ganz normale Leute.«

»Ich weiß.« Mats blickte zu den Fenstern über ihnen. Sie gehörten zu

einem Bürogebäude. Doch nichts. Kein Gesicht, das zu ihnen runter sah.
Keine Jalousie, die leicht hin und her schwang, weil jemand dahinter
gestanden hatte. »Ich verstehe das nicht.« Er schüttelte den Kopf. »Ich
bin mir sicher, dass da jemand war. Ich kann mich nicht so ge...« Er ver-
stummte und starrte auf den Eingang des Gebäudes, der im Schatten
eines Vordachs lag. Für einen kurzen Moment hatte er geglaubt, dass
sich dort etwas bewegte. Aber da war nichts, und der Schatten wirkte
auch nicht so dunkel, als dass er etwas verbergen könnte.

»Mannomann, ich fange wohl an, Gespenster zu sehen.« Es war heute

nicht das erste Mal, dass Mats das Gefühl hatte, von unsichtbaren Augen
verfolgt zu werden. Vielleicht wurde er langsam ja paranoid.

»Du glaubst gar nicht, wie oft ich in der letzten Zeit wach werde und

das Licht einschalte, um nachzuschauen, ob ein Zombie oder sonst ein

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widerliches Ding unter meinem Bett hockt.« Lucy brach ab und rieb sich
die Oberarme. Dabei war es viel zu warm, um zu frieren.

»Wir werden Vlad fertigmachen, ganz bestimmt«, sagte Mats. »Und

dann wird diese Stadt wieder sicher sein.« Er hielt ihr seine Hand hin
und Lucy verkreuzte ihre Finger mit den seinen. Für sie mutig und stark
zu sein, fiel ihm sehr viel leichter, als es für sich selbst zu sein.

Bald darauf kam der Alexanderplatz, der von den meisten kurz Alex

genannt wurde, auch schon in Sicht. Außerhalb der Ferien trafen sich
Mats und Lucy hier, um mit der Straßenbahn zur Schule zu fahren. Aber
auch sonst kam Mats öfter her, um einen Abstecher ins Alexa zu
machen, an dessen himbeerroter Fassade sie gerade vorbeigingen. In
dem Einkaufszentrum gab es den besten Comic-Laden der Stadt. Mats
wartete bereits sehnsüchtig auf den Anruf des Besitzers, der ihm mit-
teilte, dass der nächste Comic-Band von Mad Jack eingetroffen war.

»Hast du für heute Abend schon einen Plan?«, fragte Lucy.
Sie standen an der Ampel und warteten auf Grün, um auf die andere

Straßenseite und damit auf den Alexanderplatz zu wechseln. Bei Burger
King
wollten sie sich zwei Schokomilchshakes genehmigen. Die beste
Nervennahrung überhaupt!

Mats musterte die anderen Leute, die mit ihnen an der Ampel war-

teten. Keiner schien sich für sie zu interessieren. »Ich probiere es mit der
gleichen Taktik wie beim letzten Mal«, antwortete er. »Wenn ich Glück
habe, schicke ich ihn gleich mit dem ersten Treffer ins Land der
Träume.«

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Lucy warf ihm einen skeptischen Blick zu. »Denkst du nicht, er wird

damit rechnen, dass du es auf sein Kinn abgesehen hast?«

Mats zuckte die Achseln. »Richie macht keinen besonders hellen

Eindruck.«

»Dieses Mal hatte er aber sehr viel mehr Zeit zum Nachdenken.«

»Hm, wir werden sehen.« Mats schaute zum Himmel auf und kniff

die Augen zusammen. Lag es am Sonnenlicht oder war die Spitze des
Fernsehturms tatsächlich von einem flirrenden grünen Nebel umgeben?
Er wollte gerade Lucy daraufhin weisen, als eine Stimme ihm ins Ohr
flüsterte:

»Scharf sollen sie sein und tief schneiden
sie hinein.
Die Klingen, die ich schwinge.

Für das Blutlied, das ich singe...«

Mats' Kopf fuhr herum. Hinter ihm stand ein Typ mit einer Bulldogge,
die sofort zu knurren anfing. Allerdings war es ein ganz gewöhnliches
Tier und bei seinem Herrchen handelte es sich eindeutig um einen
Menschen. Nur woher war dann die Stimme gekommen, die immer noch
in Mats' Kopf nachhallte und ihn mit Bildern von einem grausam
lachenden Schatten und viel zu viel Blut füllte?

»Hey, worauf wartest du eigentlich?« Lucy zerrte an seiner Hand.

»Grüner wird's nicht mehr.«

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»Ja, ja, schon gut«, murmelte Mats und setzte sich in Bewegung.

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Das Tor war unverschlossen, was einer Einladung verdächtig nahe kam.
Andererseits hatte der Anführer der Nightscreamer die Villa als Ver-
steck aufgegeben. Also war es ihm vermutlich egal, was daraus wurde.
Mats und Lucy betraten die Einfahrt, die in das Licht des Mondes
getaucht war. Vom Haus aus mussten sie gut zu sehen sein, weswegen
sie sich gleich in die Büsche schlugen. Vielleicht war dieser Ort ja doch
nicht ganz so verlassen.

Der Garten, durch den sie schlichen, war verwildert. Überall zirpte es

und bei jedem Schritt wirbelte das Gras um ihre Knie. In der Luft hing
ein Duft, der Mats an tiefe, grüne Wälder erinnerte. Als ein Wind über
sein Gesicht streifte, stellten sich die Härchen in seinem Nacken auf.
Magie, dachte er. Allerdings war sie nur sehr schwach und es ging auch
nichts Bedrohliches von ihr aus.

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Lucy, die vor Mats ging und sich gerade zwischen zwei Flieder-

büschen hindurch schob, blieb wie angewurzelt stehen. »Oh, das musst
du sehen«, hauchte sie.

Mats warf einen Blick über ihre Schulter. Ein Schwarm leuchtender

Feen tummelte sich in einem Blumenbeet. Winzige Wesen, die einander
kichernd jagten oder sich kopfüber in die Blüten stürzten, um darin nach
Nektar zu tauchen. Merkwürdig, dachte er. Beim letzten Mal waren ihm
die Feen gar nicht aufgefallen. Andererseits hatte man nicht viel Gele-
genheit, auf seine Umgebung zu achten, wenn man vor Nightscreamern
und einer Horde Höllenhunde auf der Flucht war. Trotzdem erschien es
ihm nicht richtig, solche Wesen ausgerechnet in Vlads Garten anzutref-
fen. Aber Mats wusste immer noch nicht, zu welcher Sorte von Schat-
tengängern der Anführer der Nightscreamer gehörte. Vielleicht gab es ja
eine Verbindung zwischen ihm und den Feen.

Sobald wir Tic befreit haben, sagte Mats sich, werde ich ihn fragen ...

Er kam nicht dazu, den Gedanken zu Ende zu führen. Mit einem Mal er-
starrten die Feen in ihrem Spiel und wandten die Köpfe aufmerksam von
einer Seite zur anderen. Mats und Lucy beachteten sie kaum, obwohl sie
sie mittlerweile bemerkt haben mussten.

»Was haben sie nur?«, flüsterte Lucy.
Eine der Feen stieß einen Pfiff aus, woraufhin der Schwarm wie ein

silbriger Komet hinauf in den Nachthimmel schoss und innerhalb von
Sekunden zwischen den Sternen verschwunden war.

»Das ist nicht gut«, sagte Mats. »Irgendetwas hat sie aufgeschreckt.«

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»Richie?«
»Vielleicht.« Mats blickte sich mit einem mulmigen Gefühl im Ma-

gen um. Das Licht des Mondes fiel auf weitere Blumenbeete, Sträucher,
Bäume und antik aussehende Statuen. Aber da war kein Dhampir. Auch
kein anderer Schattengänger. Zumindest keiner, den er mit den Augen
erfassen konnte.

»Schau nur!«, rief Lucy da.
Aus Vlads Garten hatten sie einen unglaublichen Blick auf die er-

leuchtete Berliner Skyline: den Fernsehturm, die Bürogebäude und ver-
einzelte Hochhäuser. Aber darum ging es Lucy nicht. Da war wieder
dieser grünliche Nebel, der Mats auch schon am frühen Abend aufge-
fallen war. Wie eine Gewitterwolke, in der es gelegentlich aufblitzte, be-
wegte er sich auf einen Wolkenkratzer zu.

»Glaubst du, es beginnt schon?«, fragte Lucy.
»Der alte Konrad hätte uns längst gewarnt, wenn Vlad sich den

Goldenen Schlüssel geholt hätte. Nein, da geht etwas anderes vor sich.«

Ihre Augen wurden schmal. »Aber was?«
»Auf jeden Fall nichts Gutes.«
Lucy drehte sich zu ihm um. »Ist das alles unsere Schuld? Immerhin

haben wir zugelassen, dass Vlad zwei der magischen Siegel zerstört.«

»Wenn, dann ist es meine Schuld. Vergiss nicht, laut Prophezeiung

bin ich derjenige, der Vlad aufhalten muss.«

»Die Prophezeiung sagt aber auch, dass du es nicht ohne mich und

Tic schaffen kannst und auch nicht ohne die Hilfe eines ...« Lucy zögerte

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und ihre Miene nahm einen düsteren Zug an.»... eines Feindes. Was im-
mer das heißen mag.«

»Ich bin sicher, das finden wir schon bald raus. Im Augenblick soll-

ten wir uns jedoch auf Tics Rettung konzentrieren. Das ist wichtiger.«

Lucy lächelte. »Zeigen wir es diesem miesen Dhampir.«
Kurze Zeit später erreichten sie den Hauseingang. Die Tür war eben-

falls unverschlossen. Mats gab ihr einen Stoß und sie schwang mit einem
Quietschen auf. Dahinter lag eine stille, vom Mondlicht erleuchtete
Eingangshalle, von der mehrere Türen abgingen. Die erste war zugesper-
rt. Die zweite führte hinab in den Keller und hinter der dritten lag ein
großes Wohnzimmer, an das sich Mats von ihrer Flucht erinnerte.

»Alle Möbel sind fort«, bemerkte Lucy mit gesenkter Stimme. »Wo

sollen wir uns jetzt verstecken?«

Mats ließ den Blick durch den Raum schweifen. Es roch staubig und

ein ganz kleines bisschen nach Schwefel. Die Höllenhunde. Aber Lucy
hatte recht. Es gab nicht einmal Vorhänge, hinter die sie hätten schlüpfen
können. »Versuchen wir es im nächsten Raum.«

Lucy steuerte auf die Tür zu.
Mats folgte ihr, als er eine Bewegung aus dem Augenwinkel aus-

machte. Er fuhr herum und sah eine Gestalt vor dem Fenster aufragen.
Gerade wollte er Lucy eine Warnung Zurufen, als diese aufschrie: »Tic,
Tic - da bist du ja!« Mats warf ihr einen überraschten Blick zu. Lucy
hielt auf den Durchgang zum nächsten Raum zu, wo auf dem Kaminsims

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eine Glaslaterne stand, in der der Feenmann wie eine gefangene Motte
umherflatterte.

»Nicht!«, rief Mats.
Doch zu spät.
Lucy war kaum durch die Tür, als ein Eisengitter sich aus dem Rah-

men löste und herab fuhr. Sie wirbelte herum und rüttelte daran, aber das
Gitter saß fest.

Mats' Blick kehrte zurück zu der Gestalt vor dem Fenster, die lachend

die Kapuze zurückwarf. »Hallo, Richie«, brummte er.

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Richie zählte zu den hässlichsten Schattengängern, die Mats je
kennengelernt hatte. Sein Schädel war mit dünner, kreidebleicher Haut
überzogen und anstatt einer Nase hatte er zwei Schlitze, die sich bei je-
dem Atemzug geräuschvoll aufblähten. Allein der Anblick des Dhampirs
weckte in Mats das Bedürfnis, sich selbst zu kneifen, in der Hoffnung,
dass es bloß ein Albtraum sei.
»Ich habe mir schon gedacht, dass ihr euch nicht an die Vereinbarung
halten und früher aufkreuzen würdet.« Richie verzog die Lippen zu
einem Lächeln und entblößte zwei Reihen nadelspitzer Zähne. »Wie
Vlad immer sagt: Menschen kann man nicht trauen!«
»Feigling!«, schrie Lucy und rüttelte erneut am Gitter.

Richie lachte. »Diese Villa steckt voller böser Überraschungen, wenn

man weiß, wo man nach ihnen suchen muss.«

Seine Augen wandten sich wieder Mats zu. Etwas Gieriges lag darin.
Eine Art Hunger. »Dieses Mal bin ich nicht so dumm, es gleichzeitig mit

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euch beiden aufnehmen zu wollen«, fuhr der Dhampir fort. »Stattdessen
werde ich euch hübsch nacheinander zerlegen. Erst dich, Menschen-
junge, und anschließend deine kleine Freundin. Den Feary gibt's dann
zum Dessert.« Er leckte sich die Lippen.

»Das wird niemals passieren!«, schrie Mats.
»Das wird es und du kannst nichts dagegen tun.« Richies Augen war-

en jetzt schmal und lauernd. »Dies hier wird die Rache für den Tod
meiner Mutter und ich werde jede Sekunde davon auskosten.« Mit einem
katzengleichen Schrei stürzte er sich auf Mats. Der wich zur Seite aus,
während Richie bereits wieder herumwirbelte, um sich erneut auf ihn zu
werfen. Der Dhampir war schnell. Verdammt schnell!

Mats riss den Kopf zurück, als Richies klauenartigen Hände auf ihn

zuschossen. Seine Fingernägel durchschnitten vor ihm die Luft und ver-
fehlten ihn nur um Haaresbreite. »Ich mach dich fertig!«

Mats stolperte zurück.
Sofort setzte Richie ihm nach und schlug mit seinen Klauen wie von

Sinnen auf ihn ein. »Pass auf!«, »Vorsicht!«, »Jetzt nach links!«, rief
Lucy aus dem Hintergrund, während Mats den Attacken des Dhampirs
immer wieder auswich, ohne selbst eine Chance auf einen Angriff zu
bekommen. Richie hatte aus seinem ersten Kampf mit Mats gelernt und
achtete darauf, sein Kinn niemals auch nur eine Sekunde lang un-
geschützt zu lassen.

Abgesehen davon hatte Mats noch ein ganz anderes Problem. Seine

neuen Fähigkeiten wollten nicht erwachen. Weder die Schnelligkeit noch

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die Stärke, die ihm heute Morgen im Kampf gegen Tol'Shak zur Verfü-
gung gestanden hatten. Es war zum Aus-der-Haut-fahren. Vielleicht gab
es ja einen Trick, um seine Dämonenbezwingerkräfte zu wecken. Doch
der Einzige, der ihm das verraten konnte, war jetzt nicht hier. Vielleicht
wäre es doch besser gewesen, wenn er sich Mr Myrddin anvertraut hätte.

Richie hielt mit einem Mal inne. Sein Brustkorb hob und senkte sich

hektisch. »Du ... du bist besser... geworden.«

Mats' Shirt klebte an seinem Rücken und jeder Atemzug fühlte sich

an, als würden scharfe Sandkörner seine Kehle entlangschaben. »Was...
ist? Gibst du ... auf?«

Richie neigte den Kopf zur Seite. Ein gefährliches Glitzern in den

Augen. »Niemals!« Er schien seine Taktik geändert zu haben, denn jetzt
griff er nicht mehr direkt an, sondern umkreiste Mats wie ein hungriger
Wolf. Der wischte sich den Schweiß von der Stirn, damit er ihm nicht in
die Augen laufen konnte. Kurz sah er zu Lucy rüber. Im Licht des
Mondes, das durch das Fenster fiel, wirkte ihr Gesicht geisterhaft bleich.
»Mach dieses Scheusal fertig«, zischte sie.

Mats' Blick kehrte zurück zu Richie.
»Du... bist so gut... wie tot, Menschenjunge!« Der Dhampir machte

einen Satz nach vorne.

Dieses Mal reagierte Mats eine Sekunde zu spät. Vermutlich lag es an

der Erschöpfung. Er drehte sich zur Seite, war aber nicht schnell genug.
Die Nägel von Richies linker Hand bohrten sich in seine Brust. Tief

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drangen sie in die Haut oberhalb seines Herzens ein. Mats schrie vor
Schmerz auf, riss sich los und taumelte zurück.

»Mats! Mats!«, schrie Lucy.
Richie grinste. »Menschen sind so dumm. Du hättest den Feary ster-

ben lassen sollen.«

Mats starrte auf seine Brust. Blut quoll zwischen seinen Fingern her-

vor. Die Knie wurden ihm weich und er sackte zu Boden. Auf die rechte
Hand gestützt blickte er zu dem Dhampir auf. War es das jetzt?, fragte er
sich.

Richie kam auf ihn zu. Er bewegte sich langsam, fast schon

bedächtig, so als rechnete er damit, dass Mats ihm nur was vormachte.
Der schaute erneut zu Lucy rüber, sah, wie sie mit bloßen Händen am
Gitter riss. Der Anblick hätte ihm ein Lächeln entlockt, wäre in diesem
Moment nicht etwas in den Raum eingedrungen, dessen Gegenwart ihn
erschaudern ließ. Sein Blick irrte umher, während er an die unsichtbaren
Augen dachte, von denen er sich schon den ganzen Tag verfolgt fühlte,
und an die Feen, die irgendetwas oder jemand aus dem Garten vertrieben
hatte.

»Es ist so weit, Menschenjunge. Sag der Welt Lebewohl!« Richie

hatte ihn erreicht und stand wie ein Henker über ihm.

Mats achtete jedoch nicht auf ihn, sondern starrte mit einer Mischung

aus Grauen und Faszination auf den Schatten, der über dem Boden auf
den Dhampir zukroch. Er hatte nahezu menschliche Umrisse. Nur dass er
schwärzer als die Nacht selbst war.

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Richie hob die Hand und ließ sie mit einem triumphierenden Aufs-

chrei auf Mats herabsausen. In diesem Moment schlüpfte der Schatten in
ihn. Der Dhampir erstarrte, die Klauen nur Millimeter von Mats' Kehle
entfernt. Der wagte sich nicht zu rühren, starrte stattdessen gebannt in
Richies Augen. Mit einem seltsam gurgelnden Geräusch flog der Dham-
pir herum und taumelte von Mats fort, wobei er immer wieder mit den
Fäusten auf seine eigene Brust einhämmerte. Das ging einige Sekunden
lang so, dann wurde er mit einem Mal ganz ruhig.

Auch Lucy hatte aufgehört am Gitter zu rütteln.
»Scharf sollen sie sein und tief schneiden sie hinein«, hallte ein

krächzender Singsang durch den Raum. »Die Klingen, die ich schwinge.
Für das Blutlied, das ich singe...« Mit einem Kichern fuhr Richie zu
Mats herum. Sein Blick, zuvor der eines wilden Tieres, glühte jetzt in
einem fiebrigen Irrsinn. Er machte zwei, drei Schritte auf Mats zu und
blieb wieder stehen. »Es ist lange her, dass ich zuletzt die Kontrolle über
einen Körper übernommen habe.« Die Stimme kam eindeutig aus
Richies Mund, aber es war nicht die des Dhampirs. »Wir müssen reden,
Mats aus dem Hause Greifenhall.«

»Was geht hier vor? Wer bist du?«
»Ich bin der, den jeder fürchtet«, hauchte Richie. »Der Schatten, der

in dunklen Gassen lauert. Die Bestie im Keller, die die kleinen Kinder
frisst. Ich bin ... Jack the Ripper.«

Mats schluckte. Der Ripper! »Und ... und was willst du?«

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»Ich bin hier, um dir zu helfen, Mats Greifenhall. Du sollst dich für

mich an Vlad rächen, darum brauche ich dich lebend.«

»Aber ich dachte ... Alle haben gesagt, du würdest nicht...«
»Unter normalen Umständen würde ich dir eher die Kehle auf-

schlitzen, als dich um Hilfe zu bitten. Aber Vlad ist inzwischen zu
mächtig geworden, sodass du der Einzige bist, der ihn noch aufhalten
kann.«

Richie ballte die Hände zu Fäusten, wobei seine Nägel sich in seine

Handballen bohrten. Es musste höllisch weh tun, trotzdem zuckte er
nicht einmal. »Ich will, dass Vlad bestraft wird«, kreischte er. »Ich will,
dass du ihn für mich umbringst!«

Mats kroch ein Stück von ihm fort. Dabei merkte er, dass seine Brust

gar nicht mehr schmerzte. Sie hatte sogar aufgehört zu bluten. Wenig-
stens wirkten seine Heilkräfte nach wie vor. »Was glaubst du, was wir
Vorhaben?«, erwiderte er. »Aber es ist nicht so leicht, wie du denkst.«

»Die Prophezeiung sagt etwas anderes!« Mit einem spitzen Fingerna-

gel wies der Ripper auf Mats. »Treib kein Spiel mit mir, Junge, mich zu
verärgern, ist keine gute Idee.« Er verstummte und seine Miene nahm
einen abwesenden Aus- druck an. »Wir bekommen Besuch«, sagte er
und seine Augen glühten auf. »Das gefällt mir nicht. Ich werde ver-
schwinden und das solltest du auch, Mats Greifenhall. Allerdings werden
wir uns in Kürze Wiedersehen, und dann werde ich dir verraten, wie du
Vlad besiegen kannst.« Er drehte den Kopf um hundertachtzig Grad, und
es knackte, als Richies Genick brach. Nun lächelte er Lucy an, die die

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Hand vor den Mund geschlagen hatte, als müsse sie sich übergeben.
»Vergiss deine Freunde nicht, Menschenjunge. Es wäre doch bedauer-
lich, wenn ihnen etwas zustieße.«

Mats kam auf die Beine. »Was ist mit Richie?«
»Der ist nicht länger euer Problem.« Der Ripper hatte kaum ausge-

sprochen, als der Dhampir auch schon zusammenbrach.

Mats starrte auf den reglosen Körper, auf den unnatürlich verdrehten

Hals. Richie war tot. Keine Frage. Er machte einen Schritt auf ihn zu und
zuckte zusammen, als der Mund des Dhampirs aufklappte und ein
langer, wurmartiger Schatten zwischen seinen Lippen hervorglitt. Mats
unterdrückte ein Würgen, während der Schatten schlangengleich über
den Boden davonkroch.

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Lucy befreite Tic aus der Laterne, während Mats den Türrahmen unter-
suchte. Es dauerte nicht lange, bis er eine Unebenheit mit den Finger-
spitzen ertastete. Er drückte sie, woraufhin das Gitter zurück in den Rah-
men schnellte.

Tic kam auf ihn zugeschossen. »Was hat dich so lange aufgehalten,

Menschenjunge? Der Irre hätte mich fast gefressen!«

»Hat er aber nicht, oder?«
»Aber nur, weil er mich als Lockvogel brauchte.« Er landete auf Mats'

Schulter und kniff ihn ins Ohrläppchen.

»Aua.« Mats versuchte den Feary zu packen.
Tic wich jedoch aus und flüchtete zu Lucy.
»Ist das der Dank dafür, dass ich mein Leben für dich riskiert habe?«,

brummte Mats.

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»Das war für die lausigen Sicherheitsvorkehrungen in eurem Hotel«,

erwiderte Tic. »Richie konnte da einfach so reinspazieren und mich
entführen.«

»Das Greifenhall ist auch nicht Fort Knox. Außerdem bist du alt

genug, um auf dich selbst aufzupassen.«

Tics Gesicht färbte sich dunkelrot. Der Feary sah aus, als würde er

jede Sekunde wie eine Silvesterrakete hochgehen.

»Es reicht, Leute!«, schaltete sich Lucy ein. »Jeder wird sich jetzt

beim anderen entschuldigen, und dann verschwinden wir von hier.«

»Tic hat aber angefan...« Mats' Protest verstummte, als Lucy einen

wütenden Blick auf ihn abfeuerte. Er verzog das Gesicht und grummelte:
»Tut mir leid, Tic.«

»Ja, ja, mir auch.«
»Jungs«, stöhnte Lucy. »Als ob wir keine dringenderen Probleme

hätten.«

Mats warf einen letzten Blick auf den toten Richie. Er war zwar ein

Mistkerl gewesen, trotzdem tat er ihm irgendwie leid. Niemand hatte es
verdient, auf so grausame Art zu sterben.

»Es herrscht Krieg«, sagte Tic, als hätte er Mats' Gedanken erraten.

»So etwas läuft nie ohne Opfer ab.«

Mats sah auf. Er hatte gar nicht gemerkt, dass der Feary zu ihm

zurückgekehrt war. »Ich bin echt froh, dich wiederzusehen, Kumpel!«

Der kleine Feenmann lächelte. »Und ich erst, du Torfnase!«

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Tic schwirrte auf das Eisentor am Ende der Auffahrt zu. Mats und Lucy
liefen hinter ihm her. Ihre Schritte hallten verräterisch durch die Nacht,
trotzdem blieb alles ruhig. Vielleicht zu ruhig? Mats' Blick suchte den
nächtlichen Garten ab, aber wen immer der Ripper gehört zu haben
glaubte, war nirgends zu sehen. Dann erreichten sie die Straße und Mats
bremste so abrupt ab, dass Lucy gegen ihn lief.

»He, was soll...« Sie verstummte mitten im Satz.
»Was ist das?«, murmelte Mats und spürte, wie Lucys Hand sich in

seine schob. Ihre Finger waren eiskalt.

Eine Postkutsche, wie man sie sonst nur in alten Westernstreifen zu

sehen bekommt, jagte mit brennenden Rädern auf sie zu. Auf dem
Kutschbock saß eine hochgewachsene Person, deren Gesicht ein Hut
verbarg. Kein gutes Zeichen. Sie lenkte vier schwarze Pferde, die bei je-
dem Atemzug Flämmchen aus ihren Nüstern ausstießen.

Mats wollte in die entgegengesetzte Richtung losrennen, aber seine

Beine gehorchten ihm nicht. Auch Lucy rührte sich nicht, während Tic
wie erstarrt über ihren Köpfen flatterte. Als die Kutsche vor den dreien
hielt, stieg Mats der Gestank von heißem Teer in die Nase. Er sah zu
Boden. Die Räder der Kutsche hatte zwei glühende Furchen in den As-
phalt gebrannt.

»Ich habe nach euch gesucht.« Die Stimme des Kutschers kroch

ihnen wie Ameisen unter die Kleider und kribbelte und juckte auf der
Haut.

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»Wer sind Sie?« Mats kniff die Augen zusammen, um das Gesicht

des Kutschers erkennen zu können, aber der Hut und die Dunkelheit
machten es unkenntlich.

»Steigt ein.« Der Mann wies auf die Tür der Kutsche, die sich darauf-

hin öffnete.

»Igitt«, keuchte Lucy.
Mondlicht fiel auf die Hand des Kutschers und beschien ein Gewusel

aus Spinnen, Schaben und Maden. Mats schüttelte sich, als er sah, wie
mehr und mehr Insekten aus dem Jackenärmel des Mannes strömten, so-
dass sie sich gegenseitig von der Hand stießen und auf die Straße
regneten.

»Steigt ein«, wiederholte der Kutscher.
Dieses Mal gehorchten Mats' Beine ohne sein Zutun. Wie eine Mari-

onette wurde er vorwärts gezerrt. Genauso wie seine Freunde.

»Hey, was soll das?«, schimpfte Lucy. »Was machen Sie mit uns?«
Mats stolperte in die Kutsche, wurde herumgewirbelt und von einer

mysteriösen Kraft in die Sitzbank gepresst. Lucy landete direkt neben
ihm. Tic auf der Sitzbank gegenüber. Die Tür fiel zu und die Kutsche
fuhr los.

Mats stöhnte und keuchte, während er darum kämpfte, wenigstens

einen seiner Arme wieder unter Kontrolle zu bekommen.

»Ich ... ich schaff's auch nicht«, presste Lucy hervor. »Ich kann nicht

mal mit dem kleinen Zeh wackeln.«

Mats warf einen hoffnungsvollen Blick auf Tic.

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»Vergiss es! Ich fühl mich vom Hals abwärts wie eingefroren.«
»Shit.« Mats warf einen Blick zum Fenster und glaubte seinen Augen

nicht zu trauen. Die Kutsche flog mit einer Geschwindigkeit dahin, dass
die Lichter der Straßenlampen und Autos wie lange, weiße und rote
Fäden im Dunkel der Nacht wirkten. »Wer ist dieser Kutscher?«,
hauchte er. »Und was will er von uns?«

»Jedenfalls ist er ziemlich mächtig.« Tic zog ein finsteres Gesicht.

»Oder dient jemandem, der sehr mächtig ist. Ansonsten könnte er das
hier nicht mit uns machen.«

Plötzlich wieherten die Pferde. Ein Ruck ging durch die Kutsche und

sie stand still. Mats und seine Freunde konnten sich jedoch weiterhin
nicht rühren. Gleich darauf wurde die Tür geöffnet und die Silhouette
des Kutschers zeichnete sich vor der Fassade eines gläsernen, in blassvi-
olettes Licht getauchten Wolkenkratzers ab.

»Aussteigen.« Der Kutscher winkte sie heraus und wieder gehorchten

ihre Körper.

Lucy warf dem Mann einen giftigen Blick zu, was diesen jedoch völ-

lig kalt ließ. Sobald sie draußen waren, blickte Mats sich um. In einiger
Entfernung konnte er das erleuchtete Brandenburger Tor sehen, auf dem
Viktoria, die Göttin des Sieges, in ihrem Streitwagen thronte.

»Was sollen wir hier?«, fragte er den Kutscher.
»Ich übernehme unsere Gäste an dieser Stelle.«
Mats drehte den Kopf nach der Stimme um. Sie gehörte einer Frau,

die in der extravaganten, aus Glas und Metall gefertigten Tür des Hauses

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stand. Sie hatte kurzes Haar, dunkel geschminkte Augen und ein Nasen-
piercing. Einen Silberring, an dem ein Totenkopf baumelte.

»Wie Ihr wünscht, Herrin.« Der Kutscher verneigte sich, kletterte

zurück auf den Kutschbock und ließ die Peitsche knallen. Wiehernd set-
zten die Pferde sich in Bewegung.

Die Frau kam näher und der Geruch von Asche wehte Mats in die

Nase. Erst jetzt fiel ihm auf, dass ihre Arme über und über tätowiert war-
en. Mysteriöse, schwarze Symbole, die sich von ihren Fingern bis hinauf
zu ihrer Schulter wanden, wo sie unter einem Top verschwanden. Sie
hatten etwas Beunruhigendes an sich. Allerdings waren sie weitaus
weniger beunruhigend als die Augen der Frau. Darin lag eine Arroganz,
die Mats das Gefühl gab, klein und unbedeutend zu sein.

»Du bist jünger als erwartet«, sagte sie und blieb vor ihm stehen.

»Der letzte Dämonenbezwinger war sehr viel älter.«

»Wenn Sie schon wissen, wer wir sind«, meldete Lucy sich zu Wort,

»wäre es nur höflich, uns zu verraten, mit wem wir es zu tun haben.«

Die Frau wandte ihr das Gesicht zu, betrachtete auch sie eine Weile.

Ebenso wie den Feary, der wie eine erstarrte Schneeflocke in der Luft
hing. »Ich bin Hel, die Göttin des Todes.«

»Aber dann stehen wir doch auf der gleichen Seite«, platzte Mats

heraus. »Warum behandeln Sie uns wie Gefangene?«

»Gefangene?« Hel zog eine dünne, wie gemalt wirkende Braue hoch.

»Ah, ich verstehe.« Sie schnippte mit ihren Fingern. »Der Bann ist jetzt
aufgehoben, sodass ihr euch wieder bewegen könnt. Mein Diener war

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anscheinend etwas übereifrig. Aber ich hatte ihn angewiesen, sich zu
beeilen und dieser Weg schien ihm woh! effektiver, als sich mit
Erklärungen aufzuhalten.«

Mats schloss und öffnete ein paarmal die Hände. »Dann sind wir hier,

weil Sie mit uns reden wollen«, vermutete er und streckte den Rücken
durch. Er seufzte. Das tat gut.

»Ich hätte dieses Gespräch lieber noch hinausgezögert und euch mehr

Zeit gelassen, um in eure Aufgabe hineinzuwachsen. Aber es sind Dinge
eingetreten, die das unmöglich machen.« Die Göttin drehte sich um und
schritt auf den Eingang des Hochhauses zu. »Wenn ihr wissen wollt, wer
die vier Gefangenen sind, solltet ihr mir jetzt folgen!«, rief sie ihnen über
ihre Schulter hinweg zu, bevor sie in dem Glasbau verschwand.

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Mats warf Lucy und Tic fragende Blicke zu. »Und?«

»Ich mag sie nicht«, sagte Lucy. »Aber das hier ist eine

einmalige Gelegenheit.«

Tic kam herbeigeschwirrt, um sich auf Mats' Schulter zu

hocken. »Finden wir heraus, was Hel uns zu sagen hat.«

Die drei betraten den Eingangsbereich des Gebäudes, wo

die Göttin vor einem Aufzug stand. »Ich mag es nicht, wenn
man mich warten lässt«, knurrte sie. »Jetzt kommt!«

Mats sah sehnsüchtig zur Treppe. »Können wir nicht zu

Fuß gehen?«

»Weshalb sollten wir?« Die Göttin runzelte die Stirn.

»Immerhin müssen wir in den neunzehnten Stock.«

»Vergessen Sie's, war nur so eine Frage.«
Lucy warf Mats einen mitfühlenden Blick zu und folgte

Hel in den Aufzug. »Wie kommt es, dass Sie in Berlin
wohnen?«

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Hel lachte auf, als hätte Lucy etwas besonders Komisches gefragt.

»Ich lebe nicht in dieser Stadt oder im Schattenschlund. Ich habe mein
eigenes Reich: die Unterwelt.« Sie winkte Mats zu sich. »Das liegt in
Skandinavien, wie ihr es heute nennt. Und es gibt viele Wege, um dort
hinzugelangen. Einer führt zufällig durch dieses Gebäude.«

Mit einem Hüpfer setzte der Aufzug sich in Bewegung.
Mats schloss die Augen und dachte an die Szene, als Mad Jack gegen

seinen Willen von der Zombieprinzessin abgeknutscht wurde, nachdem
sie fünf Minuten vorher ihren Unterkiefer verloren hatte. Es war die
widerlichste Stelle im ganzen Comic. Aber sie war auch die perfekte
Ablenkung für Momente wie diesen oder wenn der Zahnarzt auf die Idee
kam, einem ohne Betäubung den Backenzahn ziehen zu wollen.

»Erde an Mats!«Tic zupfte ihn an den Haaren. »Mach endlich die Au-

gen auf. Langsam wird's peinlich!«

Mats blinzelte und blickte geradewegs in Hels bleiches, wie aus Mar-

mor geschlagenes Gesicht. »Gibt es ein Problem?«, fragte sie.

Er schüttelte den Kopf, während ihm ein Schweißtropfen den Nacken

herabrann.

»Gut.« Die Göttin trat auf einen Flur hinaus, der in Neonlicht

getaucht war. Es gab mehrere Türen mit Klingeln, was bedeutete, dass es
sich um Wohnungen handelte. Die Wände waren mit Gemälden dekor-
iert, die aussahen, als hätte ein Dreijähriger sie gemalt, obwohl es sich
vermutlich um moderne Kunst handelte. Viel interessanter fand Mats die
Überwachungskameras, die jedem ihrer Schritte folgten.

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»Sieht alles ziemlich nobel aus«, flüsterte Lucy. »Hier wohnen

bestimmt ein paar Filmstars oder andere Berühmtheiten.«

Hel hielt auf die Tür am Ende des Flurs zu, die sich auf den ersten

Blick durch nichts von den anderen unterschied. Allerdings fiel Mats so-
fort auf, dass das Gemälde daneben anders war als die übrigen. Man
konnte nämlich etwas erkennen. Der Künstler hatte mit wenigen Strichen
die Silhouette einer Stadt gezeichnet und darunter die Worte SCARY
CITY gepinselt. Unwillkürlich musste Mats an das Filmplakat denken,
das an der Litfaßsäule geklebt hatte, die einen der geheimen Eingänge in
den Schattenschlund markierte.

»Hat dieses Scary City eigentlich was zu bedeuten?«, wandte er sich

an den Feary auf seiner Schulter.

»Mir ist das auch schon aufgefallen«, warf Lucy ein.
»Habe ich euch das nie erklärt?«, fragte Tic, während Hel einen

Schlüssel für die Wohnungstür aus ihrer Jeans fummelte. »Es sind Hin-
weise auf verborgene Zugänge, durch die man in unsere Städte gelangt.
Es gibt sie überall auf der Welt.
So wissen Schattengänger, die neu in der Gegend sind, immer, wohin sie
sich wenden müssen.«

»City leuchtet mir ja noch ein«, sagte Lucy. »Aber warum ausgerech-

net Scary? Haltet ihr euch selbst für so angsteinflößend?«

Hel drehte sich zu ihnen um. Sie wirkte amüsiert, fast schon heiter,

was bei einer Totengöttin irgendwie bedrohlich ausschaute. »Diese
Bezeichnung stammt nicht von uns, sondern von euch Menschen. Genau

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genommen von zweien eurer berühmtesten Geschichtenerzählern: den
Gebrüdern Grimm. Vor über einhundertneunzig Jahren stolperten sie
hier in Berlin über einen Eingang in den Schattenschlund. Im ersten Mo-
ment waren sie über den Anblick der vielen Fabelwesen derart entsetzt,
dass sie den Schattenschlund die Schaurige Stadt tauften.«

»Das ist nicht wahr, oder?«, fragte Mats.
Tic kicherte. »Anfangs haben sich Jacob und Wilhelm unseretwegen

fast in die Hosen gemacht. Als sie uns dann besser kennenlernten, ver-
gaßen sie ihre Angst schnell. Viele ihrer Märchen basieren übrigens auf
wahren Begebenheiten.«

Lucy schnaubte. »Rotkäppchen und der böse Wolf kann unmöglich ...«

Sie verstummte, blinzelte ein paarmal und meinte dann: »0 nein, in
Wahrheit war es ein Werwolf, nicht wahr? Deswegen konnte er die
Großmutter verschlingen.«

»Bingo!« Tic grinste. »Jedenfalls wurde Schaurige Stadt recht schnell

zu einem geflügelten Begriff unter uns Schattengängern. Also benutzten
wir ihn, um für unsere Freunde und andere Fabelwesen Hinweise auf
Eingänge in den Schattenschlund direkt unter euren Augen zu platzier-
en, ohne dass ihr Menschen auch nur ahnt, was sich dahinter verbirgt.
Doch nach und nach griffen immer mehr unserer Städte die Idee auf.
Also beschlossen wir, Schaurige Stadt zu internationalisieren und so
wurde Scary City daraus.«

»Wow«, sagten Mats und Lucy wie aus einem Munde.

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»Da das jetzt geklärt ist, kann es ja weitergehen!« Hel drehte sich um

und trat durch die Tür.

Mats und seine Freunde folgten ihr. Er hatte erwartet, dass sie ein

Luxusappartement mit jeder Menge teurer Ledermöbel und abgefahren-
en Designerschnickschnack betreten würden, irgendwie hätte das zu Hel
gepasst. Stattdessen erwartete sie ein endlos langer, von Feenlampen er-
hellter Gang, von dem mehr Türen abgingen, als es vermutlich in ganz
Berlin gab. Mats musste erst einmal stehen bleiben, weil ihm von dem
Anblick schwindelig wurde. Vor allem, weil jede Tür auch noch anders
aussah als die anderen, sodass er gar nicht wusste, wohin er zuerst blick-
en sollte.

Tic, der auf seiner Schulter hockte, quiekte: »Ist das ... ist das etwa

der legendäre ...«

»Ja, Feenmann«, sagte die Göttin, ohne sich umzudrehen. »Dies ist

der Tempel der unendlichen Türen.« Ihre Schritte hallten von den
Wänden wider. »Haltet euch dicht bei mir. Ignoriert das Kratzen an den
Türen und die verzweifelten Rufe, die manchmal dahinter erklingen,
denn wenn ihr es nicht tut, ist es euer Tod.«

Lucy schluckte. »Wegen der Gefahren, die dahinter lauern?«
Hel drehte sich zu ihnen um. »Nein, weil ich euch dann töten werde«,

sagte sie mit einer Bestimmtheit, die nicht den geringsten Zweifel an
ihren Worten aufkommen ließ.

Mats und Lucy wichen vor Hel zurück. Warum mussten sie es immer

mit den Psychopathen unter den Göttern zu tun bekommen? Zuletzt hatte

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die Kriegsgöttin Morrigan versucht, ihnen ihre Lebenszeit zu stehlen.
Und jetzt drohte Hel, sie umzubringen.

Die Göttin verdrehte die Augen. »Die Türen des Tempels führen

nicht nur an verschiedene Orte, sondern auch in verschiedene Zeiten.
Wenn ihr die falsche öffnet, könntet ihr damit die Geschichte dieser Welt
für immer verändern. Und welche Folgen das hätte, brauche ich euch
wohl nicht zu erklären, oder?« Sie blickte von einem zum anderen. »Ich
habe nicht vor, euch etwas zu tun. Ich wollte nur sichergehen, dass ihr
auch wirklich auf mich hört. Alles klar?«

Alle drei nickten.
»Gut.« Hel marschierte weiter.
Mats und Lucy sahen sich an.
»Ich weiß, was ihr jetzt denkt«, flüsterte Tic. »Behaltet es aber lieber

für euch. Diese Götter haben verdammt gute Ohren und sie lieben es,
Menschen in Dinge zu verwandeln, die man nicht einmal unter der
Schuhsohle kleben haben will.«

Am Ende blieb Hel vor einer Tür aus zusammengenagelten,

rußgeschwärzten Brettern stehen. Rauch drang durch die Ritzen und
Mats' Nase füllte sich mit einem Geruch, der ihn an Würstchen erinnerte,
die bereits zu lange auf dem Grill lagen.

Die Göttin stieß die Tür auf und Flammen schossen heraus. Doch

unter ihrem Blick zog sich das Feuer wie ein gescholtener Hund zurück.
»Willkommen in der Unterwelt!«

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Vor Mats wand sich eine Treppe aus schwarzem Lavagestein wie
eine Spirale in die Tiefe. Hundert, zweihundert, vielleicht sogar über
dreihundert Meter. Er konnte es nicht so genau ausmachen, weil der
Abgrund, in den sie hinabstiegen, größtenteils im Dunkeln lag. Gele-
gentlich loderten weit unter ihnen Feuersäulen auf. Und wenn Mats
die Augen zusammenkniff, sah er in der Ferne Schwärme von blutro-
ten Lichtern, die so etwas Ähnliches wie einen riesigen Bienenstock
umkreisten. Der Anblick hatte etwas Bedrohliches an sich.

Noch viel bedrückender empfand Mats jedoch das Wehklagen,

die Schmerzensschreie und das hämische Gelächter, das von allen
Seiten auf sie einprasselte. Immer wieder sah er sich nach der Quelle
der Laute um, konnte sie aber nicht entdecken. Ob es wirklich Seelen
waren, die hier unten gequält wurden? Er warf einen Blick auf Hel
die ein paar Stufen unter ihnen ging. Er könnte sie fragen. Aber was
war, wenn er die Antwort gar nicht hören wollte? Und warum

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mussten sie unbedingt in die Unterwelt hinabsteigen, um die
Wahrheit über die vier Gefangenen herauszufinden?

Mats fuhr sich mit dem Finger durch den Ausschnitt seines Sweat-

shirts. Seine Kleidung war so klamm, dass sie wie ein Sack an ihm her-
unterhing. Aber es hatte nur bedingt mit der Hitze hier unten zu tun.
Oder damit, dass seine rechte Hand vor Schmerz pochte, weil Lucy sie
zu zerquetschen drohte, obwohl sie das mutigste Mädchen war, das er
kannte.

»Ich hoffe, es ist nicht mehr weit, wo immer sie mit uns hin will«,

raunte Mats seinen Freunden zu.

Lucy nickte. »Ich würde diesen Ort auch lieber gleich als später ver-

lassen.« Schweißperlen glitzerten auf ihrer Stirn. »Es ist so stickig hier
und diese Treppe will einfach nicht aufhören. Außerdem ...« Sie zögerte
kurz, bevor sie weitersprach. »Außerdem sollten wir nicht hier sein. Ich
fühle es.«

»Hel wird schon ihren Grund haben, uns hierher zubringen«, sagte

Tic und klang sehr viel ernster als sonst. »Normalerweise empfängt sie
keine Gäste in der Unterwelt, denn wer sie einmal betritt, sitzt hier erst
einmal fest.«

Mats und Lucy blieben stehen und starrten den Feenmann an.

»Ganz ruhig bleiben, Leute, okay?« Tic hob beschwichtigend die

Hände. »Das gilt natürlich nur für diejenigen, die es auch verdient haben,
in der Unterwelt zu schmoren. Wir sind nur als Besucher hier.« Er hob
einen Fuß. »Seht ihr, keine Ketten. Es ist also alles in bester Ordnung.«

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Die beiden setzten sich wieder in Bewegung. Die Totengöttin war

bereits um die nächste Biegung verschwunden, weswegen sie einen Zahn
zulegten.

»Warum holt Hel Vlad nicht einfach zu sich in die Unterwelt?«,

schlug Mats vor. »Damit wären all unsere Probleme auf einen Schlag
gelöst.« Er zuckte vor einem kichernden Schrumpfkopf zurück, der wie
aus dem Nichts vor ihm aufgetaucht war und in der nächsten Sekunde
mit einem Plop auch schon wieder verschwand.

»Einfach ignorieren«, riet der Feenmann. »Niemand wird uns etwas

tun, solange wir in Hels Nähe bleiben.«

Lucy schüttelte sich. »Auf jeden Fall hätte Vlad es verdient, hier un-

ten zu landen.«

»Das mag schon sein.« Hel hatte sich zu ihnen umgedreht. »Aber es

ist nicht an mir, über sein Schicksal zu entscheiden.« Sie musterte die
drei. »Die Prophezeiung hat euch dazu bestimmt. Hoffen wir, dass ihre
Wahl weise war.«

»Wer hat diese dämliche Prophezeiung überhaupt gemacht?« Nicht

zum ersten Mal stellte Mats sich diese Frage.

»Ahnst du es wirklich nicht, Menschenjunge?«
Mats seufzte. »Es war Mr Myrddin, nicht wahr?« Immerhin hatte er

seine Fähigkeit als Hellseher bereits unter Beweis gestellt. Außerdem
würde es erklären, wie er in die ganze Angelegenheit hineinpasste.

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»Du bist jung, Mats Greifenhall. Aber du besitzt einen Durchblick,

über den selbst viele Erwachsene nicht verfügen. Bewahre ihn dir!«

Wow, ein Lob aus dem Mund einer Göttin, dachte Mats. Wenn das

mal nichts Besonderes war.

Das Ende der Treppe lag auf einer düsteren Ebene, die von

Feuergeysiren erhellt wurde, die abwechselnd ausbrachen. Hier war es
so warm und feucht wie in der Sauna. Mittlerweile hingen selbst Tics
Schmetterlingsflügel schlaff an seinen Seiten herab. Nur Hel sah weiter-
hin aus wie frisch aus dem Ei gepellt.

»Jetzt liegt nur noch der Pfad der Gebeine vor uns, dann sind wir am

Ziel«, erklärte sie den dreien.

Der Pfad der Gebeine entpuppte sich als Hängebrücke, die aus

menschlichen Knochen gefertigt war. Überwiegend aus Oberschenkeln.
Bei jedem Schritt knackten die morschen Gebeine. Mats fürchtete, sie
könnten jeden Augenblick in den Fluss unter ihnen stürzen, in dem
Dinge trieben, von denen er gar nicht so genau wissen wollte, was es
war. Um so verkrampfter klammerte er sich an das Geländer, das seine
Fantasie über die Schrecken der Unterwelt nur noch mehr anspornte,
denn die Knochen wiesen allesamt die Einkerbungen von Bissspuren
auf.

Auf der anderen Seite der Brücke lag ein Tunnel, der nach wenigen

Schritten in eine Höhle mündete. Ein Kronleuchter aus Knochenhänden,
von der jede eine brennende Kerze hielt, beleuchtete vier Zellentüren.

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Mats ahnte bereits, wo sie waren. Aber etwas stimmte nicht, denn es
waren drei Zellen, die offen standen.

Lucy ließ seine Hand los und trat einen Schritt vor. »Wie kann das

sein?« Auch ihr musste klar sein, wo sie sich befanden.

Tic stob von Mats' Schulter und fluchte. »Vlad hat das letzte Siegel

gefunden, nicht wahr? Er hat es zerstört und nun sind schon drei der vier
Dämonen frei.« Er raufte sich sein kupferfarbenes Haar. »Wieso ist er
uns bloß immer einen Schritt voraus?«

»Weil er das alles schon seit langer Zeit plant«, erwiderte Hel, die

scheinbar durch nichts aus der Ruhe zu bringen war. »Jetzt ist nur noch
ein einziges Siegel übrig: Der Goldene Schlüssel, den ihr Konrad
Abendrot übergeben habt.«

Mats starrte auf die Kerker, in denen die Dämonen über tausend Jahre

lang gefangen gehalten wurden. Tausend Jahre, in denen sie weder
Chaos noch Unheil stiften konnten. Sein Blick traf auf die vierte, noch
verschlossene Tür und er erschauderte unter dem Kribbeln der Magie,
die von ihr ausstrahlte.

»Was ist geschehen?«, fragte er. »Wer hatte das letzte Artefakt?«
»Fenris, mein Bruder.« Hel kickte einen Stein zur Seite, der nahe ihr-

er rechten Stiefelspitze gelegen hatte. »Die Zerstörung des Siegels hat
auch den Vergessenszauber gebrochen, sodass ich mich jetzt wieder
erinnere, es ihm übergeben zu haben.«

»Aber wenn er Ihr Bruder ist, muss er doch ein Gott sein«, wandte

Mats ein. »Wie konnte Vlad es ihm dann überhaupt abnehmen?«

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»Mit den gleichen Mitteln, mit denen er auch euch in die Knie

gezwungen hat: mit List und Tücke. Aber das spielt jetzt keine Rolle
mehr. Viel wichtiger ist, um wen es sich bei den vier handelt. Und war-
um sie so gefährlich sind.« Die Göttin legte eine ihrer Hände auf die let-
zte Kerkertür, woraufhin ein zorniger Aufschrei aus dem Inneren der
Zelle drang. »Morczane war ihr Anführer«, fuhr die Göttin fort und dre-
hte sich wieder zu ihnen um. »Er kontrollierte die anderen Dämonen,
zwang ihnen seinen Willen auf. Darauf beruhte seine ganze Macht. Er
war ein Scheusal und grausam obendrein. Aber er besaß nicht die Kräfte,
über die die anderen vier Dämonen verfügten. Aus diesem Grund er-
langte er auch nie ihre Berühmtheit.« Sie schnippte mit den Fingern und
ein Stuhl erschien neben ihr. Hel setzte sich verkehrt herum darauf, so-
dass sie sich mit den Ellbogen auf der Rückenlehne abstützen konnte.
»Wenn sie in die Schlacht zogen, wenn sie Zerstörung und Tod über die
Menschen und ihre Städte brachten, dann waren es immer nur die vier,
die angriffen. Morczane hielt sich im Hintergrund, von wo aus er sie wie
Schachfiguren lenkte und sich am Elend, am Blut und am Sterben
erfreute.«

Tic gab ein Wimmern von sich.
»Es war eine schlimme Zeit für die Menschen, eine sehr schlimme.«

Hels Blick bohrte sich in den von Mats und ein verrauchtes, von Sch-
merz- und Todesschreien erfülltes Schlachtfeld nahm vor seinen Augen
Gestalt an. Das Bild wirkte so real, dass er den Rauch riechen, den met-
allischen Geschmack von Blut auf der Zunge schmecken und die Furcht

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und das Entsetzen der Soldaten fühlen konnte, als die vier Dämonen
durch den Kriegsnebel auf sie zugeritten kamen.

»Du kennst sie, Menschenjunge«, drang die Stimme der Göttin an

seine Ohren, »du kennst sogar ihre Namen.«

Mats stöhnte und schüttelte den Kopf. Allmählich klärte

sich sein Blick und er sah in Lucys besorgtes Gesicht. »Ich weiß jetzt,
wer sie sind«, sagte er mit einer Stimme, die selbst in seinen eigenen
Ohren fremd klang. »Es sind die vier Apokalyptischen Reiter. Die Boten
des Untergangs.«

»Hunger, Tod, Pest und Krieg«, sagte die Göttin. »Keine andere

Macht hat die Menschheit jemals näher an den Abgrund der Vernichtung
getrieben. Hoffen wir, dass Vlad es niemals gelingen wird, die vier
wieder zu vereinen.«

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Mats war sich nicht sicher, ob er geschockt oder erleichtert darüber sein
sollte, die Gesichter ihrer Feinde zu kennen.

In den vergangenen Wochen hatte er nachts oft wach gelegen und

sich ausgemalt, wie die übrigen Dämonen aussehen würden.

Er hatte sich Bestien vorgestellt, die Säure versprühten, Münder mit

rasiermesserscharfen Zähnen besaßen und mit Hunderten Tentakel um
sich schlugen.

Die vier Apokalyptischen Reiter waren nichts davon, und dennoch

nicht weniger Furcht einflößend.

»Alles in Ordnung?«, fragte Tic und bohrte ihm einen winzigen

Finger ins Ohr.

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Mats drehte den Kopf so, dass er den Feenmann auf seiner Schulter

sehen konnte. »Ja«, sagte er und war selbst am meisten über seine Ant-
wort überrascht. »Ja, ich denke schon.«

»Das sollte es aber nicht, Mats Greifenhall«, warf Hel ein. »Die vier

sind die mächtigsten Dämonen, die jemals aus der Hölle entkommen
sind.« Die Göttin erhob sich und der Stuhl zerfiel unter ihr zu Asche.
»Und Vlad ist mächtiger, als Morczane es je war. Nicht einmal die Göt-
ter wissen, woher er seine Kraft bezieht.«

Vielleicht nicht die Götter, dachte Mats. Aber jemand anderer wusste

es sehr wohl. Zumindest hatte der Ripper etwas in dieser Richtung
angedeutet. Mats überlegte kurz, ob er Hel von seinem Verdacht erzäh-
len sollte, entschied sich aber dagegen. Warum sollten sie zur Ab-
wechslung nicht auch einmal ein Geheimnis haben!

Abgesehen davon war die Göttin längst zu einem anderen Thema

gewechselt.

»Jetzt, wo nur noch ein Siegel übrig ist, müsst ihr den alten Konrad

unbedingt warnen. Ich habe bereits mit ihm gesprochen, aber er glaubt,
dass der Goldene Schlüssel weiterhin bei ihm sicher ist.«

»Sie glauben das aber nicht«, sagte Lucy.
Hel schüttelte den Kopf. »Vlad steht so kurz vor seinem Triumph,

dass er alles daransetzen wird, das letzte Siegel in die Finger zu bekom-
men. Wirklich alles.«

»Wir werden mit dem alten Konrad reden«, versprach Mats und warf

einen Blick auf die Uhr. Wenn sie richtig ging - vorausgesetzt, es gab so

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etwas wie Zeit in der Unterwelt- war es jetzt halb drei nachts. Im Mo-
ment war er noch aufgedreht genug, um die Erschöpfung nicht zu
spüren, aber das würde sich sicher bald ändern. »Wir müssen langsam
zurück«, bat er die Göttin. »Unsere Eltern sind bestimmt schon halb
wahnsinnig vor Angst.«

»Um dieses Problem hat sich Mr Myrddin bereits gekümmert.«
»Er... er weiß, dass wir hier sind?«
»Er ist ziemlich wütend darüber, dass ihr euch weggeschlichen habt.«

Hels Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. »Ihr solltet euch für die
Zukunft merken, dass es niemals gut ist, einen Zauberer zu verärgern.«

Am nächsten Morgen mussten Mats und Lucy zeitig aus den Federn. Sie
hatten Frau Greifenhall versprochen, bei der Frühschicht im Hotel aus-
zuhelfen. Ein Fehler, den Mats inzwischen bereute, während er sich völ-
lig übermüdet durch die Hotelkorridore schleppte, um die Bettwäsche
und Handtücher einzusammeln, die die Zimmermädchen vor die Türen
der Suiten gelegt hatten. Um diese Aufgabe möglichst schnell hinter sich
zu bringen, hatten die beiden sich aufgeteilt. Mats arbeitete alle geraden
Stockwerke ab, Lucy die ungeraden.

Mats stützte sich auf den Wäschewagen, dessen rechtes Vorderrad

nervtötend quietschte. Nachdem sie von ihrem Besuch bei der
durchgeknallten Hel zurückgekehrt waren, hatte er kaum drei Stunden
geschlafen, bevor sein Wecker ihn auch schon wieder aus dem Bett ges-
cheucht hatte. Mit einem Seufzer blieb er stehen und hob ein paar

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feuchte Handtücher auf. Wenigstens hatte Mr Myrddin dafür gesorgt,
dass weder Mats' Eltern noch Lucys Vater irgendetwas von ihrem Ver-
schwinden mitbekommen hatten. So dankbar Mats ihm dafür auch war,
im Moment wollte er ihm auf keinen Fall über den Weg laufen. Wer
wusste schon, was passieren würde, wenn ein Zauberer seinem Ärger
einmal richtig Luft machte.

»Ah, da bist du ja, Junge. Ich habe dich schon gesucht!« Mats' Mut-

ter balancierte einen Stapel der aktuellen Morgenzeitung auf ihren Ar-
men. »Die hätten schon vor Stunden im Hotel ausliegen müssen«,
schnaufte sie und drückte ihm die Zeitungen in die Hände. »Aber der
Lieferant hat sich wegen eines abgefallenen Auspuffes verspätet.« Sie
rollte mit den Augen. Gleichzeitig tastete sie mit der Rechten, ob ihre
Lockenpracht noch immer an Ort und Stelle war. »Die Zeitungen haben
Vorrang, Mats. Du weißt, wir haben viele wichtige Geschäftsleute unter
unseren Gästen, die auf den Wirtschaftsteil angewiesen sind. Um die
schmutzige Wäsche kannst du dich später immer noch kümmern. Und
nun: Husch! Husch!«

Mats hielt sich für geduldig, rücksichtsvoll und nachsichtig,trotzdem war
»Husch! Husch!« das Letzte, was man nach einer Nacht wie der vergan-
genen hören wollte. »Ich mach's,
wenn ich mit dieser Arbeit fertig bin, okay?«
Die rechte Braue seiner Mutter wanderte ein Stück nach oben, während
das Augenlid darunter heftig zu zucken begann.

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Sie hasste es, wenn man ihr widersprach, und normalerweise hätte sie das
bei einem Hotelangestellten niemals geduldet. Doch da Mats ihr Sohn
war, schien sie auf eine Zurechtweisung verzichten zu wollen. Vielleicht,
weil ihr Verhältnis in der letzten Zeit ohnehin
etwas angespannt war. »Also schön, aber keine Sekunde später!«
Sie warf die Hände in die Luft, als wollte sie sagen: Womit habe ich das
nur verdient? Anschließend rauschte sie wie eine eingeschnappte
Diva davon.
Mats war ganz sicher nicht auf einen Streit aus gewesen.
Aber es fiel ihm im Augenblick verdammt schwer, sich mit schmutziger
Wäsche und Zeitungen herumzuschlagen, wo er doch wusste, dass die vi-
er Apokalyptischen Reiter auf der Matte standen und nur darauf warteten,
dass ein Wahnsinniger ihnen die Tür öffnete. Gähnend blickte er sich
nach einer Stelle um, an der er die Zeitungen Zwischenlagern konnte.
Plötzlich war da ein Rascheln hinter ihm. Sofort schleuderte Mats die Zei-
tungen von sich und wirbelte mit hochgerissenen Fäusten herum. Vor ihm
stand ein kleines Mädchen, das gerade aus einem der Zimmer gekommen
sein musste, und starrte ihn an.

»Oh, entschuldige.« Mats ließ die Fäuste sinken. »Ich dachte, du

wärst ein Ork oder Tunnelkriecher.«

»Wie bitte? Aus welcher Gummizelle hat man dich denn entlassen?«

Das Mädchen machte einen Bogen um ihn und lief zum Aufzug.

Mats blickte auf die Zeitungen, die sich über den Korridor verteilten

und den Eindruck erweckten, als wäre eine tollwütige Druckerpresse

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hier vorbeigekommen. Warum immer ich?, dachte er und wollte sich
gerade daranmachen, das Chaos zu beseitigen, als sein Blick wie ma-
gisch von der Überschrift der Titelseite angezogen wurde.

»O, shit!«, murmelte er und schnappte sich eine Zeitung, um die er-

sten Zeilen des Artikels zu überfliegen. Im nächsten Moment hechtete er
bereits die Treppe hinauf, die in den obersten Stock des Greifenhall
führte. Von unterwegs schickte er eine SMS an Lucy, die besagte, dass
sie sich sofort auf seinem Zimmer treffen mussten.

Mats erreichte die zwölfte Etage zeitgleich mit dem Aufzug, aus dem

Lucy herausgestolpert kam. »Was ist passiert?«, wollte sie wissen.

»Tic muss das auch hören«, keuchte Mats.

Die beiden fanden den Feenmann in der Küche, wo er sich genüsslich

die Finger abschleckte. Mit dem Bauch, über den sich sein Anzug wie
ein grüner Ballon spannte, lehnte er an einer leeren Schüssel
Schokoladenpudding, die Belohnung für Tics Hilfe bei der Suche nach
dem Goldenen Schlüssel. Was der Feary nicht ahnte: Mats hatte den
Koch gebeten, den Pudding mit Süßstoff anzurühren, weil Zucker eine
fatale Wirkung auf den Geisteszustand von Feengeschöpfen hatte. Mit
anderen Worten: Sie drehten komplett durch.

»Hey, Leute«, begrüßte Tic sie ausgelassen. »Was macht ihr denn

schon hier? Ist eure Schicht etwa vorbei?«

»Das hier ist wichtiger.« Mats pflanzte sich auf einen der Hocker am

Küchentresen und las die Titelstory der Morgenzeitung vor.

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In Berlin geht das Grauen um

Augenzeugen berichten davon, in der vergangenen Nacht
eine unheimliche Wolke beobachtet zu haben, die für
mehrere Stunden eines der größten Hochhäuser von Berlin
verschluckt hatte. Was sich daraufhin im Inneren des Ge-
bäudes abspielte, klingt wie das Drehbuch eines
Horrorfilms ...

»Du denkst doch nicht etwa, dass das der Nebel war, den wir von Vlads
Garten aus beobachtet haben?«, fragte Lucy.

»Pst, es geht noch weiter!«

Die Bewohner des Hochhauses wurden von Todesfeen,
lebenden Skeletten, Vampiren und anderen schrecklichen
Monstern angegriffen, die von der Wolke ausgespuckt
wurden. Einige der älteren Bewohner gerieten derart in
Panik, dass sie aus den Fenstern gesprungen sind. Für sie
kam jede Hilfe zu spät.

Ein Experte vermutet inzwischen, dass das eigentüm-

liche Nebelphänomen durch ein Leck in einer Gasleitung
hervorgerufen wurde. Das ausgetretene Gas soll zudem für
die kollektiven Halluzinationen verantwortlich sein, von
denen die Hausbewohner befallen wurden.

»Wie wir alle wissen, ist die Existenz solcher Kreaturen

absurd«, erklärte der Experte weiterhin. »Deshalb bitten
wir, jegliche Panikmache zu unterlassen, die zu weiteren
Todesfällen fuhren könnte.«

»Der Kerl spinnt ja!«Tic war aufgesprungen, wobei er sich den Bauch
hielt. »Halluzinationen - lächerlich! Das waren Schattengänger.«

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»Nightscreamer?«, schlug Mats vor.
»Vielleicht.« Tic rieb sich das Kinn. »Aber vielleicht nicht nur.«
»Nichtnur!«, hakte Lucy nach.
Tic blickte betreten drein. »Allmählich dürfte auch bis in den letzten

Winkel des Schattenschlunds vorgedrungen sein, was Vlad plant: unsere
Rückkehr an die Oberfläche. Und auch wenn die Mehrzahl von uns ihn
für seine Verbrechenverabscheut, könnte ihm sein Plan Sympathien bei
einigen Schattengängern eingebracht haben.« Seine Schmetterlingsflügel
klappten auf und wieder zu. Goldstaub rieselte auf die Küchentheke.
»Natürlich würde das niemand freiwillig zugeben. Aber vergangene
Nacht beweist, w ie ernst die Lage inzwischen ist. Ich würde also nicht
darauf wetten, dass es nur Nightscreamer waren.«

»Was ist mit dir?«, fragte Mats. »Bist du auch sauer auf uns, weil wir

euch damals unter die Erde getrieben haben?«

»Manchmal schon«, gestand der Feenmann. »Aber hey, zum Glück

weiß ich ja, dass wir immer noch gute Freunde unter den Menschen
haben.« Er zwinkerte den beiden zu. »Und das lässt mich hoffen, dass
sich eines Tages alles zum Besseren wenden wird. Auch ohne euch ma-
gisch unbegabten Blindgängern gleich die Pestbeulen an den Hals zu
wünschen.«

»Zu freundlich von dir«, kommentierte Mats.
»Du sagst es.« Lucy verschränkte die Arme vor der Brust. »Allerd-

ings frage ich mich gerade, warum die Bruderschaft des Blinzlers
gestern Nacht nicht eingegriffen hat.«

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»Die Bruderschaft kann nicht überall sein«, sagte Tic. »Außerdem

wissen wir nicht, was sonst so los war. Vielleicht haben sie noch Sch-
limmeres verhindert, ohne dass wir davon erfahren haben.«

Mats starrte auf die Zeitung, die er zusammengeknülit in den Händen

hielt. Die vier Apokalyptischen Reiter waren noch nicht einmal vereint,
und der Krieg hatte trotzdem schon begonnen. »Hel hat recht, wir
müssen auf der Stelle zum alten Konrad.« Er hob den Kopf und sah seine
beiden Freunde an. »Ich habe wegen des Goldenen Schlüssels ein ganz
mieses Gefühl.«

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Das Taxi wartete bereits vor dem Greifenhall. Hinter dem Steuer saß ein
lächelnder Inder, der einen meerblauen Turban und einen vornehm ges-
tutzten Bart trug, was ihn wie einen Maharadscha aussehen ließ.

»He, Farid«, grüßte Lucy und kletterte auf die Rückbank. »Schön,

dich zu sehen!«

Mats folgte ihr mit seinem Rucksack nach.
»Wo habt ihr denn den Winzling mit der großen Klappe gelassen?«,

fragte Farid mit einem Blick in den Rückspiegel.

»Nicht frech werden«, schimpfte es aus dem Rucksack.
Farid zwinkerte Mats und Lucy zu. Er war nicht nur ein Freund, son-

dern auch ein Verbündeter, der über die Fabelwesen und ihre geheime
Stadt Bescheid wusste. Das einzig Gewöhnungsbedürftige an Farid war
sein Fahrstil, bei dem sich Mats' Magen regelmäßig von innen nach
außen stülpte.

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»Was ist so dringend, dass es nicht warten konnte?«, fragte er. »Es ist

doch nichts passiert, oder?«

»Noch nicht«, sagte Mats. »Aber ich fürchte, es wird.«
»Dann lasst uns keine Zeit verlieren!« Farid trat das Gaspedal durch,

und das Taxi schoss hinaus auf die dicht befahrene Hauptstraße. Mehr-
ere Autofahrer hupten, was Farid mit einem Achselzucken quittierte.
»Ach ja, wo soll es überhaupt hingehen?«

Lucy lachte. »Ich dachte, du würdest nie fragen. Zum alten Konrad.«
»Oh, na dann.« Farid riss das Lenkrad rum. Erneut wurde kräftig ge-

hupt. Doch der Inder lachte bloß, schaltete den Gang hoch und jagte im
Slalom durch den Verkehr der Berliner Innenstadt. Mats war sich ziem-
lich sicher, dass Magie dafür verantwortlich war, dass Farid bis jetzt
noch nie einen Unfall verursacht hatte. Irgendein Schutzzauber.

Der Buchladen von Konrad Abendrot lag im Stadtteil Marzahn, wo

vor über tausend Jahren der erste Bezwinger der Dämonen dem Anführ-
er Morczane den Kopf abgeschlagen hatte. Seitdem litt diese Gegend
unter der Heimsuchung von Tunnelkriechern, Ghulen, Knochenschlür-
fern und anderen unerfreulichen Schattengängern, die von Dämonenblut
angezogen wurden.

Sie waren nicht mehr weit von der kleinen Sackgasse entfernt, in der

sich der Laden des alten Konrads verbarg, als es plötzlich eine Explosion
gab. Farid trat so heftig auf die Bremse, dass Mats und Lucy nach vorne
flogen. Zum Glück waren sie angeschnallt. Tic quiekte entsetzt auf, als
der Rucksack in den Fußbereich rutschte. Als das Taxi endlich zum

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Stehen kam, presste sich die Tür, an der Mats saß, gegen einen am
Straßenrand parkenden Lkw.

Mats richtete sich auf. Sein Herz raste. »Alles okay?« Er berührte

Lucy an der Schulter. Sie war bleich, gespenstisch bleich.

»Nur ein kleiner Schreck«, murmelte sie und schob Ihr Haar aus dem

Gesicht.

»Und was ist mit dir, Kumpel?« Mats fischte den Rucksack aus dem

Fußbereich und öffnete ihn.

Tic kroch auf allen vieren heraus. »Ich hatte schon bessere Tage.«
»Bei mir Ist auch alles klar«, meldete sich Farid vom Fahrersitz her.
»Gut«, sagte Mats erleichtert. »Sehr gut!« Er löste den Sicherheits-

gurt, um einen besseren Blick durch die Windschutzscheibe zu haben.
Ein paar Blocks weiter stiegen Rauchschwaden in den blauen Vormittag-
shimmel auf.

»Konrad«, keuchte Mats und kletterte über Lucy hinweg. Sobald er

aus dem Taxi war, rannte er auch schon los. Als er den Eingang der
Sackgasse erreichte, stoppte er. Dort, wo sich einmal der Bücherladen
befunden hatte, stand jetzt nur noch eine Ruine. Rauch stieg daraus auf
und überall in der Gasse, die nach Feuerwerk und Grillkohle roch, flat-
terten Papierfetzen wie schwarze Motten.

»Bei der Königin der grünen Lande!« Tic, immer noch ein wenig

mitgenommen von ihrem Beinaheunfall, trudelte an ihm vorbei.

»Das ist... das ist...« Er brach ab und drehte bei, um sich auf Mats'

Schulter niederzulassen. Violette Tränen rannen über sein Gesicht.

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Mats schluckte gegen den Kloß an, der sich beim Anblick des Trüm-

merhaufens in seiner Kehle gebildet hatte. Was für ein Wahnsinn! Lang-
sam ging er auf den zerstörten Buchladen zu. Er hatte sich nie wirklich
Gedanken um Konrads Sicherheit gemacht. Was sollte einem Geist
schon groß zustoßen? Ein zweites Mal konnte man ihn ja wohl schlecht
umbringen. Aber wozu dann die Explosion? Vlad - Mats hatte keinen
Zweifel, dass er dahintersteckte - musste sich irgendwas davon erhoffen.

Schritte näherten sich ihm.
Mats brauchte sich nicht umzudrehen, um zu wissen, dass es Lucy

war. »Wir müssen nach dem Goldenen Schlüssel suchen«, sagte er,
nachdem sie zu ihm aufgeholt hatte. »Und vielleicht ...« Er zögerte. »Vi-
elleicht ist ja alles nur halb so wild.«

»Ganz bestimmt«, schniefte Tic. »Der alte Konrad ist zäh. So schnell

haut den nichts um.«

Die kleine Gruppe betrat die Ruine. Der Rauch, der noch immer von

vielen Stellen aufstieg, brannte ihnen in den Augen und kratzte in ihren
Kehlen. Aber davon ließen sie sich nicht aufhalten.

Mats erklomm einen Schutthaufen und betrachtete blinzelnd das Aus-

maß der Zerstörung. Kein einziges Regal stand mehr. Nur hier und dort
guckte ein zerfleddertes Buch zwischen Holztrümmern hervor. Die
meisten waren jedoch der Hitze der Explosion zum Opfer gefallen. All
die alten und kostbaren Geschichten würden jetzt für immer in Ver-
gessenheit geraten.

»Wir sollten uns beeilen«, sagte Lucy.

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Sie hatte recht. Schon bald würde die Feuerwehr auftauchen. Viel-

leicht hatten Vlads Leute sich deshalb noch nicht gezeigt. Aber das kön-
nte sich ändern, sobald sie merkten, dass Mats und seine Freunde hier
waren.

»Wir sollten uns zum hinteren Teil des Ladens Vorarbeiten, wo Kon-

rads Büro war«, schlug er vor. »Bestimmt finden wir dort auch das Arte-
fakt.« Mats schulterte den Rucksack, von dem er gerade erst gemerkt
hatte, dass er ihn schon die ganze Zeit über krampfhaft umklammerte,
und sprang von dem Schutthaufen.

»Wenn der alte Konrad hier noch irgendwo ist«, sagte Tic, »wird er in

der Nähe des Goldenen Schlüssels sein. Niemals würde er ihn kampflos
aufgeben!«

»Nein, das würde er nicht«, stimmte Lucy ihm zu. »Und wir auch

nicht!«

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Mats schüttelte die Hand, mit der er sich an einem Mauerrest abgestützt
hatte. Das Gestein war immer noch heiß. Links von ihm hustete Lucy,
die vor einem kokelnden Berg Bücher stand. Mats konnte sich vorstel-
len, was gerade in ihrem Kopf vorgehen musste. Für seine Freundin war-
en Bücher wie Schätze. Ihre Zerstörung musste sie unglaublich wütend
machen.

»O, wenn ich diese Mistkerle je in die Finger bekomme«, sagte sie

prompt.

Mats kletterte über die Überreste einiger Bücherregale hinweg. Das

Holz knackte unter ihm, gab jedoch zum Glück nicht nach. »Dort
entlang«, dirigierte Tic, der nach wie vor auf seiner Schulter saß.

»Bist du sicher?« Mats hob die Hand vor die Augen, um sie gegen

den Rauch abzuschirmen. »Alles sieht so anders aus.«

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»Ich war öfter hier als du. Ich weiß, wo es langgeht.« Doch plötzlich

stob der Feenmann auf und schoss davon. »Menschen sind die reinsten
Schnecken«, hörte Mats ihn vor sich hinschimpfen, bevor er aus seinem
Blickfeld verschwand. Er konnte ja verstehen, dass Tic ungeduldig war,
den alten Konrad zu finden. Allerdings vergaß er dabei, dass der Geist
inzwischen auch für ihn und Lucy zu einem Freund geworden war.
Apropos Lucy. Wo steckte sie überhaupt?

Mats sah sich nach ihr um. Sie stand immer noch bei den Büchern,

von denen sie eines inzwischen in den Händen hielt. Kopfschüttelnd
wandte ersieh nach rechts, in die Richtung, in die auch Tic geflogen war.
Vor ihm tauchte ein halbwegs intakter Durchgang auf. Früher hatte es an
dieser Stelle eine Flügeltür gegeben, die jedoch immer offen stand,
weswegen er ihr nie große Beachtung geschenkt hatte. Jetzt blieb er
stehen und betrachtete einen der Flügel, der vor ihm auf dem Boden lag.

Unter dem Ruß glaubte Mats geheimnisvolle Symbole und Orna-

mente zu erahnen. Langsam dämmerte ihm, dass mit diesem Ort mehr
als nur ein Buchladen zerstört worden war. Er musste sehr viel beson-
derer gewesen sein, als er bisher geahnt hatte. Warum sonst hätte Hel
auch eines der Siegel hier verstecken sollen?

Es knackte über Mats und er schaute nach oben. Hauchfeine Risse

fraßen sich in Sekundenschnelle durch das Mauerwerk über ihm, das
noch einen Rest des eingestürzten Daches stützte. Rasch wollte er sich
aus der Gefahrenzone bringen, doch Staub war ihm in die Augen geries-
elt, sodass er nicht mehr richtig sah, wo er hinmusste. Er taumelte halb

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blind voran, als etwas gegen ihn krachte und ihn mit sich zu Boden riss.
Steine bohrten sich in seine Seite, während knapp einen Meter neben
ihm eine Lawine aus Schutt und Dachziegeln niederging.

»Man kann dich auch keine Sekunde lang aus den Augen lassen, Mats

Greifenhall«, schimpfte Lucy, rollte von ihm runter und half ihm auf die
Füße.

»Danke«, sagte er und rieb sich den Staub aus den Augen.
Tic kam angejagt. »Seid ihr in Ordnung?«
»Lucy hat mir gerade das Leben gerettet.«
»Warum überrascht mich das nicht, Menschenjunge?«Tic flatterte zu

ihm und verpasste ihm einen Klaps auf den Hinterkopf. »Du magst zwar
der Bezwinger der Dämonen sein, aber das macht dich nicht unverwund-
bar. Pass gefälligst besser auf dich auf!« Der Feenmann funkelte Mats
an. »Ich habe keine Lust, heute noch einen Freund in diesen Trümmern
zu verlieren, klar?«

»Du hast ihn noch nicht gefunden?«, fragte Lucy.
Tic schüttelte den Kopf.

Kurz darauf betraten die drei den Teil des Bücherladens, wo früher

die Kasse gestanden hatte. Der Tresen war pulverisiert. Ebenso die
vielen Vitrinen, in denen der alte Konrad die wertvollsten Bücher seiner
Sammlung aufbewahrt hatte. Zweifelsohne musste hier das Zentrum der
Explosion gewesen sein.

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Mats bückte sich um. Hier und da glitzerten Glasscherben in den

Trümmern. Doch plötzlich erstarrte er. Unter einem Schuttberg schaute
ein muskulöser, mit weißem Wolfspelz bedeckter Arm hervor.

»Julius!« Er ließ sich auf die Knie fallen und tastete nach dem Puls

des Werwolfs. Nichts. Nicht einmal der Hauch eines Pulsierens. »Nein!
Nein! NEIN!« Mats rammte die Faust in die Trümmer. Das war nicht
fair! Nicht fair! Julius hatte ihnen erst vor Kurzem das Leben gerettet
und jetzt war er tot.

Lucy ging neben Mats in die Hocke, nahm seine Hand und be-

trachtete sie stirnrunzelnd. »Kein Blut«, murmelte sie.

Er wandte ihr das Gesicht zu. »Warum?«, fragte er. »Warum?«
Lucy berührte seine Wange und schüttelte traurig den Kopf. Sie hatte

keine Antwort, weil es keine gab.

»Er muss im Auftrag der Bruderschaft hier gewesen sein, um zusam-

men mit dem alten Konrad über das magische Siegel zu wachen«, ver-
mutete Tic, der seine Kreise über Mats und Lucys Köpfen zog. »Ver-
dammt, ein solches Ende hat selbst der Flohteppich nicht verdient!«

Ein Stöhnen erschreckte die drei.
Mats sprang auf und wirbelte herum. Im ersten Moment konnte er

niemanden sehen, dann bemerkte er einen Schemen, der sich ihnen durch
eine Rauchwolke näherte. Er riss die Augen auf. »Konrad? Bist du das?«

Tic zischte los. »Hey, alter Freund, bin ich froh, dich zu sehen!«
»Da stimmt was nicht«, sagte Lucy.

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Mats kniff die Augen zusammen. Deralte Konrad warzwar ein Geist,

trotzdem hatte er noch nie so blass und substanzlos wie jetzt gewirkt.

»Es ... es war ein Paket«, stammelte der alte Konrad. »Julius hat ... hat

es geöffnet und ... Wo steckt der Rabauke überhaupt?« Sein Blick blieb
an Lucy kleben, die kaum merklich den Kopf schüttelte.

Der alte Konrad nahm die Brille ab, die schief auf seiner Nase

gesessen hatte und wischte sich über die Augen. »Es läuft nicht gut für
uns, nicht wahr?«

Niemand antwortete ihm.
»Das waren Nightscreamer, oder?«, fragte Tic nach einer Weile.
»Wer könnte sonst so etwas Furchtbares tun?« Der alte Konrad sank

auf einen Schutthaufen und schlug die Hände vor das Gesicht. »Es ist
vorbei, Tic. Zumindest für mich. Ich habe alles verloren.«

Der Feenmann flatterte zu ihm herab, sodass er auf Augenhöhe mit

dem Buchhändler war. »Ach was, wir werden den Laden einfach wieder
aufbauen.«

»Zu spät.« Konrad schüttelte müde den Kopf.
Mats näherte sich dem Geist. Sosehr er ihm auch leidtat, es gab etwas,

das jetzt wichtiger war. »Wo ist der Goldene Schlüssel, Konrad?«

»Ja, eine gute Frage«, dröhnte es.
Ein drei Meter großer Zyklop in einem Fellumhang erhob sich hinter

ihnen aus der Ruine. Er hatte ein Auge mitten auf der Stirn und schwang
eine Keule, die einmal ein Baum gewesen sein musste. »Wenn ich

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gewusst hätte, dass hier eine Party steigt, hätte ich noch ein paar Freunde
mitgebracht.« Er ließ seine Keule auf Mats und Lucy herabsausen.

Die beiden warfen sich zur Seite, kamen aber sofort wieder auf die

Beine.

»Hach, das wird ein Spaß.« Der Zyklop sprang über den Rest einer

Mauer und landete direkt vor den vier. »Wen von euch soll ich zuerst
zermatschen?«

»Warum habe ich nicht mein Schwert dabei«, schimpfte Lucy.
»Weil das hier ein Bücherladen ist«, erinnerte Mats.
Sie schnaubte. »Man kann nie vorsichtig genug sein, wie wir gerade

festgestellt haben.«

Die alte Lucy hätte so etwas nicht gesagt, dachte Mats bekümmert.

Sie hatte sich verändert. Nein, sie hatten sich beide verändert.

Ein Rauschen kündigte den nächsten Keulenhieb an. Mats duckte

sich, packte einen Stein und schleuderte ihn gegen den Zyklop.
Wirkungslos prallte er von dessen Brust ab. »Welche Mücke hat mich
denn da gestochen?«, höhnte der Riese und holte erneut aus.

In diesem Moment sauste der Geist des alten Konrads zwischen Mats

und Lucy hindurch. Eingehüllt in eine knisternde blaue Aura. »Niemand
bedroht meine Freunde!« Er streckte dem Zyklop die Hände entgegen.
Ektoplasma drang aus seinen Fingerspitzen, plätscherte jedoch kraftlos
zu Boden.

Der Zyklop lachte. »Du bist schwach, Geist. Und schon bald bist du

gar nichts mehr.« Er schritt einfach durch den Buchhändler hindurch,

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schwang seine Keule in Mats' Richtung und schrie dann vor Schmerz
und Überraschung auf, als ein affenähnliches Wesen auf seinem Rücken
landete und seine Fangzähne in seine Schulter schlug. »Aah, nehmt es
weg! Nehmt es weg!«, kreischte der Riese, ließ seine Keule fallen und
versuchte das Wesen zu packen.

»Was ist das?«, fragte Lucy und wich mit Mats und Tic zurück, um

nicht unter die Füße des Zyklopen zu geraten.

Mats starrte das Wesen an. Es hatte sechs Arme, mit denen es sich

wie eine Zecke an den Zyklopen klammerte, der inzwischen aus zahl-
losen Bisswunden blutete.

»Das ist ein Rakshasa«, sagte Tic verwirrt. »Aber was macht der

hier? Die leben normalerweise in ...«

»Hach«, stieß der Zyklop hervor, als er das Wesen an einem seiner

Arme erwischte. Er riss es sich vom Rücken und schleuderte es von sich.
Der Rakshasa krachte in eine Mauer. Mats konnte das Brechen von
Knochen hören, während das Wesen wimmernd zu Boden sackte.

»Ich zertrete, zermatsche, püriere euch«, heulte der Riese und machte

sich auf die Suche nach seiner fallengelassenen Keule.

»Wir sollten verschwinden«, sagte Lucy. »Gegen den haben wir keine

Chance.«

»Aber das Siegel«, wandte Mats ein.
»Ist nicht so wichtig wie unsere Leben«, stellte Tic klar.
»Du ... du kannst es, Dämonenbezwinger«, sagte da eine zittrige, aber

vertraute Stimme hinter ihnen. »Du musst nur... wollen.«

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Mats konnte es nicht glauben. Wo gerade noch der Rakshasa gewesen

war, lag jetzt Farid. »Deine neuen ... Fähigkeiten entspringen ... Magie«,
krächzte er. »Sie ist wie ein lebendiges ... Wesen. Du musst sie packen
und ... und ihr deinen Willen aufzwingen. Du musst Zyklop hindern ...
Siegel ...« Die Augen des Inders fielen zu und sein Kopf rollte zur Seite.

Nicht auch noch Farid, dachte Mats und fuhr zu dem Zyklopen her-

um, der gerade seine Keule wiedergefunden hatte. »Du hast heute schon
genug Schaden angerichtet!«, schrie Mats ihn an und griff wie mit un-
sichtbaren Händen in sein Inneres, wo Zorn, Trauer, Verzweiflung,
Angst sich ein Gefecht um die Oberhand lieferten. All diese Gefühle
waren die Quelle seiner Gaben. Kontrollierte er sie, kontrollierte er die
Magie des Dämonenbezwingers. Aber sobald Mats sie zu packen ver-
suchte, entwanden sie sich ihm wieder.

»Matsche! Matsche! Matsche!« Der Zyklop trampelte auf ihn zu.
Ich pack's nicht, dachte Mats. Ich kann's einfach nicht. Er sah Lucy

an. »Bring dich in Sicherheit!«

»Nein.« Sie schob ihre Hand in die seine. »Ich bleibe.«
»Alle für einen«, verkündete Tic, »und einer für alle!«
»Ihr seid ja total irre!« Mats' Kopf ruckte herum und sein Blick bohrte

sich in das Auge des Zyklopen. Für Lucy und für Tic, sagte er sich,
öffnete den Mund und legte all seine Gefühle in einen einzigen Schrei.
Es war, als bräche ein Damm, und eine wilde Macht entströmte Mats' In-
nerem. Sie fegte dem Zyklop als Windstoß entgegen, der seine
Haarmähne zum Flattern brachte und ihm Staub und Rauch ins Gesicht

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blies. Der Schattengänger riss die Hand hoch. »Was tust du da,
Menschenjunge?«, brüllte er, als der Sturm immer stärker wurde.

Mats' Antwort bestand darin, dass er noch lauter schrie.
Schutt und Geröll erhoben sich in die Luft und umkreisten den Zyk-

lopen wie ein Schwarm beißwütiger Feen. Er schlug danach, aber die
Trümmer rotierten immer schneller um ihn. Bald war seine Gestalt
hinter grauen Schleiern verschwunden. Mats hatte einen Tornado er-
schaffen. Einen Sturm, der nur ihm gehorchte. Er hob die Hand. In der
gleichen Sekunde löste der Tornado sich mit seinem Gefangenen vom
Boden und jagte dem Himmel entgegen. Kleiner und immer kleiner
wurde er, bis er sich nach einer Weile im wolkenlosen Blau verlor.

Erst jetzt schloss Mats den Mund und wäre gestürzt, hätte Lucy ihn

nicht gestützt. Er stöhnte. Seine Kehle fühlte sich rau und wund an.
Seine Beine waren so schwach, als hätte er seit Tagen nichts gegessen.

»Mannomann«, sagte Tic. »Das war ja vielleicht eine abgefahrene

Show.«

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Ein geisterhaftes Seufzen erhob sich über die Ruine. »Schnell, Kinder!
Kommt zu mir, bevor es zu spät ist.« Wie ein Nebelfetzen hing der alte
Konrad zwischen verkohlten Brettern, die früher mal ein Regal gewesen
sein mussten. Seine Umrisse wirkten ausgefranst. Seine Gesichtszüge
waren nur noch undeutlich zu erkennen.

»Was...« Mats räusperte sich. »Was passiert mit ihm?« Gestützt von

Lucy sank er neben dem alten Konrad auf die Knie.

Tic landete neben den beiden auf einem Steinhaufen.
Der Geist hustete. »Meine Zeit ist abgelaufen.«
»Aber deine Aufgabe ist noch nicht erfüllt.« Lucy griff nach seiner

Hand, aber ihre Finger glitten hindurch.

»Und darum müsst ihr sie auch übernehmen.« Der alte Buchhändler

blinzelte zu ihnen auf. »Versprich mir, Mats, dass du Vlad aufhalten
wirst!«

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Mats, der in diesem Moment keinen Ton über die Lippen bekommen

hätte, nickte nur.

»Guter Junge.« Der Geist lächelte und richtete den Blick auf Lucy.

»Und du musst mir versprechen, dass du gut auf die beiden Jungs acht-
gibst. Ohne dich würden sie doch ständig in Schwierigkeiten stecken.«

Eine Träne rann über Lucys Wange.
»Was hast du, Konrad?« Tic umschwirrte das Gesicht des Buchhänd-

lers, wobei seine Flügel vor Aufregung goldenen Feenstaub versprühten.

Der alte Buchhändler seufzte und es klang so schaurig, dass sich

Mats' Nackenhärchen aufstellten. »Geister sind an den Ort gebunden, an
dem sie gestorben sind. Zerstört man ihn, vernichtet man auch den
Geist, der dort lebt.« Er hob die Hand, als wollte er sie nach dem Feen-
mann ausstrecken, der jetzt direkt über ihm schwebte. Doch sobald das
Sonnenlicht darauf fiel, löste sie sich auf. »Meine Kraft schwindet. Hört
also gut zu: Der Goldene Schlüssel... befindet sich in einem Tresor, der
unter dem Boden meines Büros verborgen ist.« Er nannte ihnen die
Kombination. »Nehmt ihn an euch und bringt ihn ... bringt ihn ...« Seine
Stimme wurde immer leiser. »... in Sicher...« Ein Windhauch erfasste
den alten Konrad, der inzwischen kaum mehr als ein Dunstschimmer in
der Luft war, und trug ihn mit sich fort.

Tic stieß ein herzerweichendes Schluchzen aus und stürzte sich in die

tröstende Dunkelheit von Mats' Rucksack.

»Es gibt auf dieser Welt nichts Wertvolleres als wahre Freunde.« Mr

Myrddin war wie aus dem Nichts aufgetaucht. Ganz in Schwarz

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gekleidet, als hätte er geahnt, was ihn erwarten würde. »Farid hat mich
über Handy angerufen, nachdem ihr aus seinem Taxi verschwunden seid.
Er fürchtete, dass etwas Schlimmes passieren .könnte. Und das ist es ja
auch.« Er legte Mats und Lucy jeweils eine Hand auf die Schulter. »Wo
ist mein treuer Freund Farid überhaupt?«

Mats deutete auf die zusammengesunkene Gestalt, die vor einer

Mauer lag. »Bei meinem Silberbart!«, rief Mr Myrddin und stieg über
die Trümmer zu ihm. »Er lebt noch«, verkündete er einen Augenblick
später erleichtert. »Allerdings ist er schwer verletzt. Mehrere Rippen
sind ...«

»Um Gottes willen, hat es hier etwa einen Anschlag gegeben?« Ein

Feuerwehrmann, begleitet von zwei Sanitätern, kämpfte sich durch den
Schutt auf sie zu.

»Na, endlich, wo haben Sie so lange gesteckt?« Der Zauberer stem-

mte sich in die Höhe.

»Wieso lan...« Der Feuerwehrmann verstummte, als ihn ein Blick von

Mr Myrddin traf. Seine Augen wurden glasig. Ebenso wie die der
Sanitäter.

Mats war sicher, dass der Zauberer gerade irgendetwas mit ihnen

anstellte.

»Natürlich, Mr Myrddin, wir werden Ihren Freund sofort ins

Krankenhaus bringen«, sagte der Feuerwehrmann im nächsten Moment.
»Und es war ein Gasleck, sagen Sie? Wirklich schlimme Sache!« Er

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wies die Sanitäter an, eine Trage zu holen. Nur wenige Minuten später
wurde Farid von ihnen fortgebracht.

»Sie haben diese Männer verzaubert, Mr Myrddin«, stellte Lucy vor-

wurfsvoll fest.

»Es war nötig.«
»Aber werden sie im Krankenhaus nicht herausfinden, dass Farid ein

...« Lucy runzelte die Stirn.

»Rakshasa ist?«, kam ihr der Zauberer zu Hilfe.
Sie nickte.
»Nicht, solange er seine menschliche Gestalt beibehält.«
»Was ist eigentlich ein Rakshasa?« Mats rieb sich die Oberschenkel,

die kribbelten, als wären sie eingeschlafen. Aber wenigstens fühlten sie
sich nicht mehr wie Wackelpudding an, sodass er inzwischen wieder
ohne Lucys Hilfe stehen konnte.

»Ein indischer Dämon.« Mr Myrddin lächelte, als Mats und Lucy ihn

erschrocken ansahen. »Nicht alle Dämonen sind böse, und darum wur-
den auch nicht alle von ihnen in die Dämonenstadt im Inneren der Erde
verbannt. Ich habe Farid vor über zweihundert Jahren aus den Fängen
eines englischen Wanderzirkus befreit.« Ein missbilligender Ausdruck
huschte über das Gesicht des Zauberers. »Sie hatten den armen Kerl wie
ein Tier im Käfig gehalten und Geld dafür verlangt, dass man ihn be-
sichtigen durfte. Nach seiner Befreiung blieb Farid aus Dankbarkeit bei
mir und unterstützt mich seitdem bei meinem Kampf gegen das Böse.«

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»Na, hoffentlich wird er wieder gesund«, sagte Mats, der den Inder

trotz seines Fahrstils wirklich gernhatte.

»Farid wird es schaffen«, sagte Mr Myrddin. »Er hat schon Sch-

limmeres überstanden. Sehr viel Schlimmeres.« Mit einem Mal ver-
düsterte sich seine Miene. »Aber nun zu euch beiden: Was in Hels Na-
men habt ihr euch nur dabei gedacht, euch mit diesem Richie anzulegen?
Ihr hättet sterben können!«

Heute Morgen hätte Mats noch klein beigegeben und das bevor-

stehende Donnerwetter über sich ergehen lassen. Aber nicht nach allem,
was in den letzten Stunden passiert war. »Hören Sie, Mr Myrddin, ich
weiß, dass Sie sich bloß Sorgen machen«, sagte er. »Aber ich schwebe in
Gefahr, seitdem ich mich das erste Mal mit Vlad angelegt habe. Er und
die Nightscreamer haben bereits Dutzende Male versucht, mich
umzubringen.«

»Das bestreitet ja auch keiner«, erwiderte Mr Myrddin aufgebracht.

»Trotzdem wäre es vernünftiger gewesen, vorher mit mir zu sprechen.«

Lucy räusperte sich. »Ich denke, Mats wollte Ihnen Folgendes damit

sagen, Mr Myrddin. Wenn wir alt genug sind, um gegen die
Nightscreamer zu kämpfen, sind wir auch alt genug, unsere eigenen
Entscheidungen zu treffen. Oder finden Sie nicht?«

Der Zauberer hätte nicht verblüffter dreinschauen können, wenn

Lucy einen Eimer mit Kakerlaken über ihm ausgeschüttet hätte. Nun
schnaubte er, wie Erwachsene es gerne mal tun, wenn man ihnen mit
einem Argument kommt, dem sie nichts entgegenzusetzen haben. »Ich

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hätte euch in Hosentaschengnome verwandeln sollen, anstatt euch auch
noch vor euren Eltern zu decken. So könnte ich euch wenigstens rund
um die Uhr im Auge behalten.«

»Aber wo sie recht haben, haben sie recht«, piepste es aus Mats'

Rucksack. »Oder nicht?«

Mr Myrddin seufzte. »Ja, das stimmt wohl.«
»Gut, dass wir das geklärt haben«, sagte Mats. »Dann können wir

uns ja jetzt auf die Suche nach dem Goldenen Schlüssel machen.«

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Mr Myrddin spürte den Tresor, in dem der alte Konrad das Arte-
fakt versteckt hatte, mithilfe eines Findezaubers auf. Das ging
schneller, als wenn sie nach ihm gesucht hätten. Lucy konnte
sich als Einzige an den vollständigen Zahlencode erinnern, dar-
um durfte sie den Tresor auch öffnen. Zum Glück hatte der
Goldene Schlüssel die Explosion heil überstanden. Also nahm
Mr Myrddin ihn mit dem Einverständnis der anderen an sich und
ließ ihn in der Innentasche seiner Jacke verschwinden.

»Was geschieht jetzt?«, wollte Lucy wissen.
»Jetzt werden wir eine Reise unternehmen.« Mr Myrddin

hielt ihnen die Hände hin. »Und haltet euch gut fest, es könnte
ein wenig turbulent werden.«

Tatsächlich fühlte es sich an, als würden sie in einen Strudel

gezogen. Vergleichbar mit dem, der entsteht, wenn man den
Stöpsel aus der Badewanne zieht. Schneller und immer schneller

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drehten sie sich. Mats presste die Hand auf den Mund. Doch
schon in der nächsten Sekunde war wieder alles vorbei.

Mats stand in völliger Dunkelheit. Einer Dunkelheit, die nach Keller

roch: alt, feucht und muffig - der perfekte Ort für Ratten und Spinnen.

Er schüttelte sich. Wo hatte der Zauberer sie nur hingebracht? Und

warum konnte er nichts sehen? Wenigstens hielten sie sich immer noch
an den Händen, sodass er sicher sein konnte, dass er nicht alleine war.

»Darf ich mal?« Mr Myrddin entzog ihm seine Hand.
Für den Bruchteil eines Augenblicks überkam Mats die schreckliche

Vorstellung, Mr Myrddin könnte einfach mit Lucy verschwinden und
ihn hier alleine zurücklassen. Aber dann hörte er auch schon ein Finger-
schnippen und ein Dutzend Fackeln sprangen an. Mats blinzelte in das
Licht, das die Flammen verströmten. Es sah aus, als befänden sie sich in
einem unterirdischen Gewölbe. Mit Wänden aus rauem Stein und einer
Decke, die von Säulen gestützt wurde.

»Wo sind wir?«, fragte Lucy.
»An einem ganz besonderen Ort.« Mr Myrddins Stimme hatte einen

feierlichen Tonfall angeschlagen. »Willkommen in den Hallen von
Avalon.«

»Es gibt diesen Ort wirklich?« Mats drehte sich um die eigene Achse,

als könne er es nicht glauben. Wenn es stimmte, was die Mythen über
König Artus erzählten, war er gar nicht gestorben, sondern lag hier auf
der magischen Insel im Tiefschlaf.

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»Wir sind nicht wegen ihm hier«, sagte der Zauberer, als hätte er

Mats' Gedanken erraten. »Seine Schlachten hat er längst geschlagen.
Nein, wir haben einen anderen Grund für unseren Besuch auf Avalon.«

Tic lugte aus Mats' Rucksack hervor. Seine Augen waren noch immer

leicht gerötet. »Und der wäre?«, erkundigte er sich.

»Ich habe noch etwas, das ich Mats geben möchte.« Mr Myrddin

drückte den Rücken durch, sodass er ein wenig aufrechter dastand, was
ihn strenger, aber auch würdevoller wirken ließ. »Ich habe gesehen, was
du mit dem Zyklopen gemacht hast«, fuhr er an Mats gewandt fort. »Das
war sehr beeindruckend, Junge.«

»Farid hat mir verraten, wie ich die Magie kontrollieren kann.«
Mr Myrddin nickte. »Farid ist immer für eine Überraschung gut, nicht

wahr?«

Lucy warf Mats einen merkwürdigen Blick zu. »Heißt das jetzt, dass

er ein Zauberer ist?«

Mats horchte auf. Dieser Gedanke war ihm noch gar nicht

gekommen.

»Ein Zauberer? O, nein.« Mr Myrddin schüttelte den Kopf. »Mats ist

ein Mensch und kein Schattengänger. Und er wird auch immerein
Mensch bleiben.«

»Und der Tornado?«, protestierte Mats.
Mr Myrddin sah ihn ernst an. »Du bist der Bezwinger der Dämonen

und dieses Erbe hat über Generationen geschlummert, bevor es in dir
wieder erwacht ist. Es macht dich zu etwas Besonderem, Mats, denn es

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erlaubt dir, auf ungewöhnliche Kräfte zuzugreifen. Aber sie sind nur
geliehen.«

»Geliehen?« Tic flatterte auf Mats' Schulter. »Was heißt das schon

wieder?«

»Wie erkläre ich das am besten?« Mr Myrddin strich sich über den

Bart. Nach einer Weile sagte er: »Jeder kann gegen Vlad kämpfen, aber
alle würden sie verlieren, weil er inzwischen zu mächtig ist. Aus diesem
Grund existiert die Prophezeiung.« Der Zauberer legte Mats eine Hand
auf die Schulter. »Sie sorgt für den Ausgleich, indem sie dir Kräfte gibt,
mit denen du dem Anführer der Nightscreamer gewachsen bist. Auf
diese Weise stellt sie sicher, dass jeder von euch mit den gleichen
Voraussetzungen in den Kampf geht.«

»Das heißt dann also, dass sie wieder futsch sind, sobald der Sieger

feststeht?«, fragte Mats, ohne seine Enttäuschung darüber zu verbergen.

»Ja, das heißt es.«
»Ganz sicher ist es besser so«, sagte Lucy und hakte sich bei Mats

unter. Der entzog ihr den Arm aber sofort wieder. Es ärgerte ihn, dass
Lucy so dachte. Nach den vergangenen Wochen konnte er sich einfach
nicht vorstellen, irgendwann wieder der ganz normale Junge zu sein, der
Zombie-Comics unter der Bettdecke las und sich sein Taschengeld auf-
besserte, indem er im Hotel seiner Eltern aushalf. Das war nicht mehr er.
Wieso konnte sie das nicht verstehen?

»Wir sind doch nicht nur zum Reden hergekommen, oder?«, wandte

Mats sich an Mr Myrddin.

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»Natürlich nicht«, stimmte ihm dieser zu. »Wie ich schon sagte, habe

ich noch ein Geschenk für dich. Zuvor will ich jedoch sichergehen, dass
du deine neuen Kräfte auch wirklich im Griff hast. Nichts ist gefährlich-
er, als ein außer Kontrolle geratener Dämonenbezwinger.« Mr Myrddin
zwinkerte Mats zu.

In den nächsten Stunden beschwor der Zauberer Trugbilder von

Vampiren, Ghulen, Skelettkriegern und Knochenschlürfern herauf, ge-
gen die Mats antreten musste. Anfangs konzentrierte er sich darauf, ihren
Angriffen auszuweichen, wobei er sich oft so schnell bewegte, dass es
wirkte, als könnte er sich wie Vlad teleportieren. Manchmal ließ er seine
Gegner auch von einem Sturm davontragen. Einem Zombie verpasste
Mats einen Kinnhaken, der ihm den Kopf von den Schultern riss, sodass
er wie eine Bowlingkugel davonrollte. Was Lucy und Tic mit lautem Ju-
bel belohnten.

»Ich denke, wir können jetzt aufhören«, sagte Mr Myrddin. »Du hast

bewiesen, dass du deine Kräfte beherrschst.«

Mats nickte und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
»Du warst super!« Lucy umarmte ihn.
Mats rang sich ein Lächeln ab, obwohl gerade jeder einzelne Muskel

in seinem Körper schmerzte. Selbst an Stellen, von denen er bisher nicht
gewusst hatte, dass es sie überhaupt gibt.

»Das Wichtigste ist, dass du an dich glaubst«, sagte Mr Myrddin.

»Die Magie lebt von deiner Willenskraft, von deinem Glauben an dich
selbst.« Er musterte Mats ernst. »Ich wünschte, wir hätten mehr Zeit, um

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dich vorzubereiten.« Der Zauberer nahm eine der Fackeln aus ihrer Hal-
terung. »Folgt mir!«

Mr Myrddin steuerte auf einen Durchgang ganz in ihrer Nähe zu.

Dahinter lag ein Tunnel. Als sie ihn betraten, erzitterten Spinnweben im
Luftzug ihrer Bewegungen und in der Schwärze vor ihnen quiekten Rat-
ten, die durch ihr Auftauchen aufgescheucht wurden.

»Vlad ist sehr viel älter als du, Mats, und hat mehr Übung im

Umgang mit seinen Kräften«, fuhr der Zauberer fort, während sie dem
Gang folgten. »Aus diesem Grund möchte ich dir etwas geben.«

»Was ist es?«
»Wenn du Vlad besiegen willst, musst du es auf die altmodische

Weise tun. Dämonen bezwinger waren seit jeher Krieger und darum
wirst du das hier brauchen.«

Sie hatten eine Steinkammer erreicht und als der Zauberer zur Seite

trat, erstrahlte im Schein der Fackel ein Schwert. Es war weder beson-
ders groß noch mit Juwelen geschmückt. Auch steckte es nicht in einem
Stein, sondern schwebte wie von unsichtbaren Fäden gehalten in der
Mitte der Kammer. Es schien nur darauf zu warten, ergriffen zu werden.

Tic schoss auf das Schwert zu. »Ist das etwa Excalibur?« Seine

Stimme überschlug sich förmlich. »Bei der Königin der grüne Lande, so
rede doch, Zauberer!«

»Hat... hat Tic recht?«, stammelte Mats, der von dem Anblick des

Schwertes ganz gefangen war.

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»Artus hat es so genannt«, sagte Mr Myrddin. »Allerdings war es

nicht immer ein Schwert. Es ist ein sehr alter und sehr mächtiger Gegen-
stand, der schon viele Gestalten besaß. Manchmal nimmt er die Form
eines Ringes an, der seinen Träger unsichtbar macht. Ein anderes Mal
die eines Amuletts, das dir all deine Wünsche erfüllt. Auch als Zauber-
stab ist er schon in Erscheinung getreten.«

»Was kann es?« Lucystreckte die Hand nach dem Schwert aus, zog

sie aber mit einem Blick auf Mats wieder zurück.

»Es beschützt seinen Träger, was nicht heißt, dass es ihn unbesiegbar

macht. Diesem Missverständnis waren leider schon eine ganze Reihe
von Menschen erlegen und es hat nie gut mit ihnen geendet.« Mr Myrd-
din seufzte. »In keinem einzigen Fall. Also werde ja nicht übermütig,
Junge.«

»Worauf wartest du noch, Mats?«, forderte Lucy ihn auf. »Nimm es

dir!«

Mats starrte das Schwert an. Es rief ihn zu sich. So, wie ihn auch

schon die magischen Siegel gerufen hatten. Aber es versprach ihm
weder Reichtum noch Macht. Es versprach ihm überhaupt nichts, son-
dern bot ihm lediglich seine Hilfe an.

»Mannomann, Excalibur! Wenn ich erst wieder zu Hause bin und al-

len von unserem Abenteuer erzähle, werden mir die Feenfrauen zu
Füßen liegen«, schwärmte Tic und vollführte eine Pirouette über ihren
Köpfen. »Sie werden mich mit Ambrosia-Beeren füttern, mir die Flügel
massieren ... 0 ja, ich werde der King sein!«

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Mr Myrddin schüttelte schmunzelnd den Kopf. »Es wird Zeit, dass

wir aufbrechen, Junge. Vlad muss inzwischen erfahren haben, dass der
Zyklop versagt hat und wir noch immer im Besitz des Goldenen Schlüs-
sels sind. Und du weißt, was das bedeutet.«

Mats nickte, ohne den Blick von Excalibur zu nehmen. »Ich muss ihn

noch heute herausfordern. Ansonsten wird er sich als Nächstes meine El-
tern und das Greifenhall vornehmen.« Er trat auf das silberne Schwert zu
und schloss die Finger um den Griff. Meins, dachte er, als die Waffe sich
in seine Hand schmiegte, als wäre sie einzig und allein für ihn gemacht
worden.

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Nachdem der Zauberer aus einer Nachbarkammer eine Scheide für Ex-
calibur besorgt hatte, ging es an die Rückreise. Erneut fassten sie sich bei
den Händen und Mr Myrddin aktivierte den Zauber. Mats fühlte sich
abermals wie ein Kreisel, der wild durch den Raum gewirbelt wird. Ein-
en Augenblick später standen sie vor dem Berliner Reichstagsgebäude.

Was machen wir denn hier?, fragte sich Mats, der die Augen zusam-

menkniff, um nicht zu sehr von der Nachmittagssonne geblendet zu wer-
den. Nach ihrem Aufenthalt in dem unterirdischen Gewölbe wirkte sie
unnatürlich grell. Er schaute nach links, wo eine Schulklasse auf den
Stufen des Reichstags stand und von ihrer Lehrerin angefaucht wurde,
endlich stillzustehen, damit sie ein Foto machen konnte. Er drehte sich
um und blickte auf eine Wiese, auf der sich noch mehr Menschen auf-
hielten. Die meisten fotografierten. Andere genossen einfach nur das
schöne Wetter. Erstaunlicherweise schien kein Einziger ihre Ankunft be-
merkt zu haben.

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»Die Menschen sehen nur das, was sie sehen wollen«, bemerkte Mr

Myrddin zu ihm und begann die Stufen zu erklimmen. »Die echten
Wunder blenden sie meistens aus, weil sie ihnen zu unglaublich
erscheinen.«

»Haben wir etwa einen Termin beim Bundeskanzler oder warum sind

wir hier?«, fragte Lucy spöttisch.

Mr Myrddin zwinkerte ihr zu. »Wenn ich wollte, bekäme ich natür-

lich sofort einen. Aber wir sind aus einem anderen Grund hier.«

Der Zauberer führte Mats und Lucy an der Schlange von Wartenden

vorbei, die alle wegen einer Führung durch den Reichstag anstanden. Mit
Unbehagen beobachtete Mats, dass jeder, der hineinwollte, erst einmal
nach Waffen durchsucht wurde. Niemals ließen die Sicherheitsleute ihn
mit einem Schwert, das fast so lang wie sein Arm war, passieren. Doch
Mr Myrddin wusste ihn wieder einmal zu überraschen. Er wechselte ein
paar Worte mit einem der Sicherheitsbeamten und schon ließ er sie
vorbei.

»Was haben Sie ihm gesagt?«, fragte Lucy.
»Reden ist Silber, Schweigen ist Gold, junge Dame. Zumindest in

manchen Fällen, und dieser ist so einer.«

»Sie haben Geheimnisse vor uns«, sagte Mats.
Mr Myrddin lachte, »ich bestehe quasi nur aus Geheimnissen.« Er

war stehen geblieben und zeigte auf ein Plakat, das so unscheinbar war,
dass es kaum auffiel. »Darum sind wir hier.«

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Mats staunte nicht schlecht. Das Plakat warb für die Kunst- und Kul-

turausstellung »Scary City« im Untergeschoss des Gebäudes. Besichti-
gung nur auf Anfrage!, lautete ein Vermerk. »Es gibt hier einen Eingang
in den Schattenschlund?«

»Gelegentlich kommen wir um einen diplomatischen Austausch mit

der Regierung nicht herum.«

»Wie bitte?«, entfuhr es Lucy und erntete dafür ein paar neugierige

Blicke. »Die Regierung weiß über die Fabelwesen Bescheid? Und auch
über Vlads Pläne?«, fügte sie leiser hinzu.

Mr Myrddin hüstelte. »Nun ja, in diesem Fall wollten wir die

Menschen nicht unnötig beunruhigen.« Er schritt zügig aus, als wollte er
auf diese Weise vermeiden, weiter über das Thema zu sprechen.

Mats folgte ihm, wobei er den Blick ehrfürchtig umherschweifen ließ.

Dieser Ort war Geschichte pur. Er hatte gute und schlechte Zeiten durch-
lebt. Darunter zwei Weltkriege. Heutzutage wurde im Reichstag wieder
Politik gemacht, Gesetze wurden erlassen, für die Zukunft geplant. Ir-
gendwie machte ihm diese Vorstellung Mut.

»Hier entlang«, sagte Mr Myrddin und verschwand hinter einer

Skulptur, die den Zugang zu einer Treppe verdeckte. Auf dem Weg nach
unten schlüpfte Tic aus Mats' Rucksack und flog den dreien voraus.

»Warum haben Sie uns eigentlich nicht gleich in den Schattenschlund

gebracht?«, fragte Lucy.

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»Das ist nicht möglich«, antwortete Mr Myrddin. »Es gibt Schutzza-

uber, die das verhindern.«

Am Ende der Treppe erwartete die vier eine Metalltür, in deren Ober-

fläche ein Blinzler eingraviert war. Ein großes Auge mit Fledermausflü-
geln. Zwar arbeiteten sie für die Gesetzeshüter des Schattenschlunds,
trotzdem fand Mats die Vorstellung von fliegenden Augen nach wie vor
ziemlich ekelig. Nicht zum ersten Mal fragte er sich, was wohl passierte,
wenn man eins versehentlich mit der Fliegenklatsche erwischte.

»Ich glaube, ich weiß, wo Merlin mit uns hin will!«, rief Tic

aufgeregt. Seine großen Augen richteten sich auf Mats. »Puh, an deiner
Stelle würde ich mir gehörig in die Hose machen.«

»Vielen Dank auch. Genau das habe ich jetzt gebraucht.«
Der Feenmann flog kichernd auf seine Schulter zu, aber Mats vertrieb

ihn.

»Hey, Kumpel, ich wollte dich doch bloß aufziehen. Ich dachte, das

wäre witzig«, beschwerte sich Tic.

»Ha, ha. Du siehst, ich kriege mich kaum ein vor Lachen.« Mats

wandte sich dem Zauberer zu. Mit einem Mal hatte er das Gefühl, als
kratzten winzige Kobolde mit ihren Klauen an der Innenseite seines Ma-
gens herum. »Was passiert jetzt?« So nervös war er noch nie gewesen.
»Ich meine, was muss ich tun?«

»Du forderst Vlad heraus. Das ist alles.«

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»Aber wie läuft das ab? Werde ich direkt mit ihm reden? Oder muss

ich ihm so eine Art Fehdehandschuh ins Gesicht knallen? Verdammt,
ich hab keinen!« Mats stöhnte. »Ich glaube, mir ist schlecht.«

Mr Myrddin legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Wenn du es

genau wissen willst: Wir werden zum Platz des alten Königs gehen und
dort wirst du deine Herausforderung verkünden, Junge. Um diese
Tageszeit ist auf dem Platz immer jede Menge los, sodass es viele Zeu-
gen geben wird. Auf diese Weise erfährt Vlad innerhalb von Minuten
davon. Und das Beste ist: Er kann unmöglich ablehnen, ohne sein
Gesicht zu verlieren.«

Jetzt sollte er auch noch vor einer großen Menge sprechen? Das

wurde ja immer besser. Mats presste sich eine Hand auf den Bauch. Mit-
tlerweile schienen die Kobolde in seinem Magen Spitzhacken zu ver-
wenden. »Ich schaff das nie.«

»Unsinn«, widersprach Lucy. »Ich weiß, dass du die richtigen Worte

finden wirst, klar?!«

Er warf ihr einen gequälten Blick zu. »Und woher?«
Lucy küsste ihn. »Mädchen wissen so etwas einfach.«
»Hör auf sie, Mats.« Tic umschwirrte seinen Kopf. »Mädchen haben

außerdem immer recht.«

Mats grinste. Er fühlte sich tatsächlich etwas ruhiger, was weniger am

Zuspruch seiner Freunde ais vielmehr an Lucys Kuss lag. Immer wenn
sie ihn küsste, schien der Rest der Welt mit einem Mal weniger wichtig.
Er nickte dem Zauberer zu. »Okay, versuchen wir's.«

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Mr Myrddin presste die rechte Hand auf den Blinzler, der unter seiner

Berührung weiß aufglühte. Ein Rattern im Inneren der Metalltür verriet,
dass ein Mechanismus in Bewegung gesetzt worden war. Einen Augen-
blick später schwang sie auf.

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Die Gruppe folgte einer belebten Straße im Viertel der Geisterrufer. Um
nicht erkannt und aufgehalten zu werden, hatte Mr Myrddin einen
Tarnzauber über sie alle gelegt. Mats war erleichtert, dass sie die
stinkenden Erdgnomenmäntel zur Abwechslung einmal nicht brauchten.
In der Zwischenzeit klärte Tic ihn und Lucy darüber auf, was das Beson-
dere am Platz des alten Königs war.

Mats fiel es nicht ganz leicht, Tics Worten zu folgen, von denen viele

im Kreischen, Wimmern und Kettenklirren der Geisterrufer untergingen.
Was er sich am Ende daraus zusammenreimen konnte, war in etwa Fol-
gendes: Als die Menschen die Fabelwesen von der Oberfläche ver-
trieben, waren es die Zwerge, die Meister des Bergbaus, die den Schat-
tengängern halfen, ihre unterirdischen Städte zu errichten. Der damalige
Zwergenkönig Albrecht Schwarzbart war daher der Meinung, alle

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Fabelwesen seien ihm zu Dank verpflichtet. Also ließ er sich im Zentrum
des Schattenschlunds ein prächtiges Schloss erbauen und ernannte sich
selbst zum Herrscher aller Schattengänger. Die meisten Fabelwesen
zeigten sich davon wenig beeindruckt und ignorierten ihn. Das Sch-
limmste, was einem König überhaupt passieren kann. Am Ende wurde er
darüber sogar wahnsinnig und musste weggesperrt werden. Sein Schloss,
in dem niemand leben wollte, verfiel zusehends und wurde schließlich
abgerissen, um an seiner Stelle einen großen Marktplatz anzulegen. Und
dieser war heute als der Platz des alten Königs bekannt.

»Ich weiß nicht, ob ich über Albrecht Schwarzbart lachen oder ihn

bemitleiden soll«, sagte Lucy, nachdem Tic mit seiner Geschichte fertig
war.

»Vielleicht ein bisschen was von beidem«, schlug Mr Myrddin vor,

der sie gerade über eine Brücke führte, die sich über einen schlammig
braunen, zäh dahin fließenden Fluss spannte. Der Geruch, der vom
Wasser aufstieg, trieb Mats die Tränen in die Augen, sodass er nur noch
durch den Mund atmete, bis sie die andere Seite erreichten. Dort blieb
der Zauberer stehen, breitete die Arme aus und verkündete: »Seht, das
Herz des Schattenschlunds!«

Die Gruppe stand auf einem Felsplateau dicht unter der Höhlendecke

und schaute auf die prächtigste Stadt hinunter, die Mats je gesehen hatte.
Bei ihren verschiedenen Besuchen im Schattenschlund waren sie durch
manch ungewöhnliche Gegend gekommen, wie den Immergrund, das
Viertel der gläsernen Wolkenkratzer, das Loch oder die Tunnel der

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Morrigan. Aber nichts von alledem hatte ihn so sehr beeindrucken
können wie der Anblick, der sich ihm jetzt bot.

Das Herz des Schattenschlunds war ein unterirdisches Venedig, in

dem jedes Haus ein kunstvoll gearbeiteter Palast mit Türmchen und
Baikonen war. Dazwischen verliefen Kanäle, über dessen Wassern sich
filigrane Silberbrücken spannten, um die verschiedenen Straßenzüge
miteinander zu verbinden.

Mats konnte Einhörner, Elfen, Lichtsegler, weiße Zauberer und Hex-

en, Sonnenaugen und viele, viele Wesen mehr ausmachen, für die er
nicht einmal einen Namen kannte. Am meisten faszinierten ihn jedoch
die Gondeln. Sie sahen wie Drachen aus und glitten so elegant durch die
von Wassernymphen und Meerjungfrauen bewohnten Kanäle, als
würden sie über das Wasser schweben.

»Das ist wunderwunderwunderschön«, hauchte Lucy und lehnte

ihren Kopf an Mats' Schulter. Schwärme leuchtender Feen flogen über
die Stadt hinweg und tauchten die Paläste in ein buntes Lichtermeer.
»Sind das Freunde von dir, Tic?«, fragte Lucy.

»Ach, wo, dafür gibt es viel zu viele Feenstämme im Schat-

tenschlund.« Der Feenmann flatterte unruhig vor und zurück, was so
wirkte, als wollte er sich seinen Verwandten anschließen. »Zwar dienen
wir alle der Königin der grünen Lande, trotzdem sind wir zu zahlreich,
um uns alle gegenseitig zu kennen.«

Mats war sich nicht sicher, aber er glaubte, eine gewisse Melancholie

aus der Stimme seines Freundes herausgehört zu haben. Was zu einem

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Feary so gar nicht passen wollte. Sein Blick kehrte zu den anderen Feen
zurück und zum ersten Mal wurde Mats bewusst, dass Tic ihnen seit
Wochen nicht von der Seite gewichen war, obwohl er sicher eine Familie
und Freunde hatte.

»Wisst ihr was«, sagte Tic da. »Wenn das alles hier vorbei ist, werde

ich euch zu den Leuchtenden Hainen führen, in denen ich geboren
wurde.« Er sah Mats und Lucy erwartungsvoll an. »Das könnt ihr euch
unmöglich entgehen lassen!«

»Ich bin dabei«, sagte Lucy.
Mats grinste. »Klar, Kumpel.«
Eine breite Treppe führte von dem Felsplateau hinab in das Herz des

Schattenschlunds. Auf dem Weg nach unten kam ihnen eine Gruppe
Zentauren entgegen. Ihre Hufe klapperten auf den Stufen und die Sat-
teltaschen auf ihren Rücken waren zum Platzen gefüllt. Anscheinend
hatten sie Besorgungen erledigt und waren jetzt wieder auf dem Heim-
weg. Als die vier in die belebten Straßen eintauchten, fielen Mats zwei
Dinge auf: Erstens gab es keinen Gestank - wohin auch immer sie ka-
men, roch es nach Lavendel und Flieder, was definitiv auf Magie
zurückzuführen war. Zweitens gab es auffällig viele Fabelwesen mit dem
Abzeichen der Bruderschaft.

»Wir haben hier ständig Touristen aus allen Ecken der Welt«,

erklärte Tic auf Mats' Nachfrage. »Das lockt Taschendiebe und so
Gesocks an, das eigentlich geteert und gefedert gehört. So, wie in den

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guten alten Zeiten.« Er seufzte. »Da wurde einem wenigstens noch et-
was geboten!«

Lucy räusperte sich. »Wenn ihr Gesetze gegen das Stehlen habt, aber

keinen König, wer beschließt sie dann?«

»Wir haben einen Rat«, sagte Mr Myrddin mit einem Blick über die

Schulter. Er ging ihnen drei Schritte voraus und erweckte den Eindruck,
dass er nach etwas suchte. »In diesem sind Abgesandte aller Völker des
Schattenschlunds vertreten, sodass Entscheidungen per Mehrheits-
beschluss gefällt werden.« Er blieb stehen und lächelte. »Die Halblings-
gasse. Hier sind wir richtig!« Er marschierte auf eine Anlegestelle zu, an
der eine der Drachengondeln vor Anker lag, und kletterte an Bord.
Sobald Mats und Lucy ihm gegenüber Platz genommen hatten - Tic saß
wie immer auf Mats' Schulter - wandte der Drachenkopf sich zu ihnen
um.

»Das Boot lebt ja!«, rief Lucy überrascht.
»Vorsicht, wir wollen keine Aufmerksamkeit erregen«, mahnte der

Zauberer, und dann fügte er an das Drachenboot gewandt hinzu: »Auf
dem schnellsten Weg zum Platz des alten Königs!«

Der Drachenkopf stieß ein Schnauben aus, das von silbergrauem

Rauch aus seinen Nüstern begleitet wurde, und löste sich vom Pier.

Mats klammerte sich an die Sitzbank, als die Gondel mit der

Geschwindigkeit eines Motorboots durch den Kanal jagte und die Spazi-
ergänger an den Ufern mit aufspritzendem Wasser durchnässte, was
ihnen wütende Zurufe und einen Lederstiefel einbrachte, der Tic um ein

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Haar von Mats' Schulter katapultiert hätte. Im letzten Moment wich der
Feenmann mit einem Aufschrei aus.

Am Platz des alten Königs gab es keine freie Anlegestelle mehr.

Stattdessen war der Kanal mit Gondeln verstopft. Der Zauberer fluchte.
Es war das erste Mal, dass Mats erlebte, wie er die Fassung verlor.

»Das kann ja noch Stunden dauern«, schimpfte Mr Myrddin. »So viel

Zeit haben wir nicht!« Er schnippte mit den Fingern, woraufhin sich eine
Flutwelle vor ihrer Gondel aufbaute und die anderen Boote unter den er-
schrockenen Rufen ihrer Passagiere davonschwemmte. »Viel besser«,
sagte der Zauberer anschließend und befahl dem Drachenboot, am näch-
sten Pier anzulegen.

Es war Markttag und beim Anblick der Massen, die auf dem Platz

des alten Königs unterwegs waren, musste Mats erst einmal schlucken.
Hier wimmelte es wie in einem Ameisenhaufen. Nein, schlimmer noch.
Zwischen Zelten und Marktständen trieben sich Hunderte von Schat-
tengängern herum. Angelockt vom Geschrei der Händler oder den Ger-
üchen, die Mats nicht einzuordnen wusste, die vermutlich jedoch von ir-
gendwelchen exotischen Speisen stammten.

»Auf ins Getümmel.« Mr Myrddin schob Mats und Lucy in einen der

überfüllten Gänge, die zwischen den Marktständen verliefen. Es war so
eng, dass Mats sich am liebsten auf der Stelle umgedreht hätte und ge-
flohen wäre. Vor allem, als ein drei Meter großer Troll ihnen entgegen-
kam. Aber sie schafften es, an ihm vorbeizukommen, ohne von seinen
herumschwenkenden Ellbogen in einen der Stände gekickt zu werden.

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Am anstrengendsten von allen Marktbesuchern empfand Mats die
Zwerge und Goblins, die nur das Wort»Sonderangebot«zu hören
brauchten, um alles umzurennen, was zwischen ihnen und einem Sch-
näppchen stand. Wie beispielsweise eine magische Steckrübenfritteuse.
Der Einzige, der sich an diesem Ort prächtig amüsierte, war Tic. Er flog
von Stand zu Stand und futterte sich durch die Probierangebote.

»Gott sei Dank«, stöhnte Lucy, als die Menge dünner wurde und die

letzten Stände hinter ihnen zurückfielen.

Auch Mats atmete befreit auf. Zum ersten Mal im Leben konnte er

sich vorstellen, wie sich jemand fühlen musste, der unter Klaustrophobie
litt. Der absolute Horror. Er ließ sich auf den Beckenrand eines Brunnens
sinken, tauchte die Hände in das kühle Nass und spritzte es sich ins
Gesicht. »Was jetzt, Mr Myrddin?«, fragte er, während er sich um-
blickte. Sie waren von Marktständen umringt. Anscheinend befanden sie
sich im Zentrum des Platzes.

»Wir klettern hinauf«, antwortete der Zauberer.
Mats sah ihn verständnislos an. Wovon redete der Zauberer jetzt

schon wieder?

»Ich schätze, er meint den Brunnen«, sagte Lucy.
Mats blickte hinter sich. Der Brunnen bestand aus mehreren Becken

in der Form von Muscheln, die sich wie eine Wendeltreppe in die Höhe
schraubten. In der obersten Muschel, die gut sechs Meter über dem
Boden aufragte, stand eine Zwergenskulptur mit einem irren Grinsen und

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einer Krone auf dem Kopf, die ihm über die Ohren gerutscht war. Er
hielt einen Kelch in der Hand, aus dem sich eine Wasserfontäne ergoss.

»Na, prima, der verrückte Zwergenkönig«, sagte Mats. »Dann

befinde ich mich ja in bester Gesellschaft. Immerhin kann man nur
wahnsinnig sein, wenn man das tut, was ich gleich tun werde.«

Tic lachte. »Manchmal kannst du richtig witzig sein, Kumpel.«
»Witzig, hm?«, wiederholte Mats, denn er hatte jedes Wort ernst

gemeint.

Mr Myrddin war vorgetreten und murmelte einen eigentümlichen

Singsang vor sich hin. Als er verstummte, versiegte die Fontäne. Ein
paar Sekunden lang plätscherte das Wasser noch von Becken zu Becken,
bevor es auf ein Tröpfeln zusammenschrumpfte. »Sind wir so weit?«,
wandte sich der Zauberer an Mats.

Schlagartig nahm dessen Nervosität wieder zu. Dieses Mal benutzten

die Kobolde in seinem Magen Presslufthämmer. »Bringen wir es hinter
uns!« Mats sprang vom Beckenrand auf die erste Muschel.

Mats bemerkte nicht einmal, wie das Wasser seine Schuhe und

Hosenbeine durchnässte. Dafür registrierte er die Blicke, die die Schat-
tengänger in ihrer Nähe ihm zuwarfen. Es kam wohl nicht sehr oft vor,
dass jemand auf dem Brunnen herumturnte.

Zum Glück war das oberste Becken groß genug für alle. Mats stellte

sich vor den Zwergenkönig. Lucy und Mr Myrddin bezogen links und
rechts von ihm Stellung, während Tic ihm vermeintlich schlaue
Ratschläge gegen seine Aufregung ins Ohr flüsterte.

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»Bereit?«, fragte Mr Myrddin. »Dann hebe ich jetzt den Tarnzauber

auf.«

»Bereit? Auf gar keinen Fall.« Mats nahm einen tiefen Atemzug und

sah Lucy an, die ihm zulächelte. Er seufzte. »Aber das spielt jetzt auch
keine Rolle mehr.«

Mr Myrddin beschrieb einige komplizierte Gesten mit den Händen

und Mats spürte, wie sich der Tarnzauber mit einem Kribbeln auf seiner
Haut verabschiedete. Im nächsten Augenblick brach die Menge zu ihren
Füßen in Gemurmel aus. Schreckensrufe hallten zu ihnen hinauf und
zahlreiche Finger - knubbelige, krumme, dürre und knochige - deuteten
auf Mats und Lucy. Offiziell war es keinem Menschen gestattet, den
Schattenschlund zu betreten. Kein Wunder, dass ihr Auftauchen im
Herzen der Fabelwesenstadt eine solche Wirkung auf ihre Bewohner
hatte.

»Was ist los? Wartest du auf den Lynchmob?« Tic zupfte aufgeregt

an Mats' Ohr. »Jetzt leg schon los!«

Mats sah Vertreter der Bruderschaft von allen Seiten auf sie Zuströ-

men. Bald würden sie sie erreicht haben. Sehr bald. Und dann wäre es zu
spät. Er öffnete den Mund und ohne dass er erst lange hätte überlegen
müssen, flössen die Worte nur so aus ihm heraus. »Mein Name ist Mats
Greifenhall!«, rief er der Menge zu. »Und wer noch nicht von mir gehört
hat: Ich bin der Bezwinger der Dämonen.«

Stille.

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Kein Applaus, aber auch kein Gelächter. Stattdessen hielten die

Zuschauer gebannt den Atem an.

Mats blickte in die Gesichter der nächsten Fabelwesen und las

Unglaube darin, aber auch Hoffnung. Selbst unter Seinesgleichen er-
freute sich der Anführer der Nightscreamer keiner großen Beliebtheit.
Warum sollte er auch? Er war ein Verbrecher, hatte sich mit Dämonen
eingelassen und provozierte durch sein Verhalten die Aufdeckung der
Existenz der Schattengänger.

Diese Erkenntnis machte Mats Mut. Er reckte das Kinn vor und fuhr

fort: »Ich bin hier, um Vlad zum Zweikampf herauszufordern. Mann ge-
gen Mann.«

Ein Wispern ging durch die Menge. Gleichzeitig wurde es heller um

Mats herum, als die Feenschwärme sich neugierig näherten und ihn und
seine Freunde in eine Aura aus Licht tauchten, was seinen Auftritt gleich
noch viel beeindruckender machte.

»Ich verlange, dass Vlad morgen Mittag um zwölf Uhr zum Branden-

burger Tor kommt und sich mir stellt. Und wenn er es nicht tut, ist er ein
Feigling!« Mats riss Excalibur aus der Scheide und hielt es hoch, sodass
seine Klinge im Feenlicht erstrahlte. »Ich warte auf dich, Vlad!«, brüllte
er der Menge entgegen, »und ich werde dich vernichten!«

Dieses Mal gab es von allen Seiten Beifall, in den auch die

Bruderschaft mit einfiel.

»Gut gemacht«, lobte Lucy und schlang die Arme um ihn.

»Nur warum ausgerechnet das Brandenburger Tor?«

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»Wegen Viktoria, der Göttin des Sieges«, sagte Mats. »Ich hoffe,

dass sie mir Glück bringt. Außerdem wird Vlad es nicht wagen, allzu
viele seiner Leute mitzubringen, wenn er unter Menschen gegen mich
antreten muss.«

»Du bist raffinierter, als ich dachte, Kleiner!«Tic kniff ihn in die

Wange. »Die meisten seiner Anhänger scheuen das Tageslicht, du
hättest also keinen besseren Zeitpunkt für das Duell auswählen
können.«

Mats sah zu Mr Myrddin rüber, der ihm zunickte. Aus ir-

gendeinem Grund war ihm der Zuspruch des Zauberers wichtig.
Doch nun wandte Mr Myrddin sich selbst der Menge zu und hob die
Arme, um ihr Schweigen zu bedeuten. Was hatte er vor? Der Zauber-
er griff unter seine Jacke und zog das letzte der vier magischen Siegel
hervor: den Goldenen Schlüssel.

»Und dies hier soll der Preis für den Gewinner sein«, erklärte er,

was den meisten Schattengängern ein Stirnrunzeln entlockte. Der
Goldene Schlüssel war ein schwarz angelaufenes, ziemliches häss-
liches Amulett. Welche Bedeutung es für den Anführer der
Nightscreamer hatte, konnten sie ja nicht ahnen.

»Wieso haben Sie das getan?«, fragte Mats leise.
»Vlad darf man nicht unterschätzen«, erwiderte Mr Myrddin. »Viel-

leicht hätte er doch noch einen Weg gefunden, sich der Herausforderung
zu entziehen. Aber einem Köder wie diesem kann er unmöglich
widerstehen.«

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Mats rollte sich unruhig von einer Seite auf die andere. Sein Schlaf-
shirt war durchgeschwitzt und obwohl er die Decke bei-
seitegestrampelt hatte, war ihm noch immer viel zu warm. Er richtete
sich auf und bemerkte ein sanftes Glühen auf der Fensterbank. Tic saß
dort. Der Feenmann hatte ihm den Rücken zugewandt und starrte
hinaus in die Nacht.

Mats sah auf den Wecker. Es war kurz nach halb fünf. In weniger

als siebeneinhalb Stunden würde er sich Vlad stellen müssen. Er
seufzte. Ob es wirklich so eine gute Idee gewesen war, den Anführer
der Nightscreamer an die Oberfläche zu locken? Nachdem Mats erst
mal Zeit gefunden hatte, darüber nachzudenken, hatte er seine Zweifel.
Die Gegenwart von Menschen würde Vlad bestimmt nicht davon
abhalten, seine Leute mitzubringen. Nicht, wenn er so kurz davor-
stand, das letzte Siegel in die Hände zu bekommen.

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Mats versuchte sich die Panik vorzustellen, die am Bran- denburger

Tor ausbrechen würde, wenn mit einem Mal Horden von Untoten, Tun-
nelkriechern, Ghulen und Mumien aus dem Untergrund gekrochen kä-
men. Shit, das würde in einer Katastrophe enden. Wenigstens konnte
Vlad am Tage keine Vampire mitbringen. Allerdings waren die anderen
Monster auch schon schlimm genug. Insbesondere, wenn sie auf die
Berliner losgingen, um sich ein Häppchen von ihnen zu genehmigen.
Oder auch zwei oder drei. Mats vergrub das Gesicht in den Händen.
Was hatte er da nur wieder angerichtet?

»Hey, Kleiner, was ist los?«
Mats zuckte zusammen und blickte zu Tics leuchtender Gestalt auf,

die in der Mitte des Zimmers schwebte.

»Was glaubst du?«
»Ich würde mich auch lieber in ein Marmeladeglas sperren lassen, als

gegen Vlad anzutreten. Aber he, du bist nicht alleine. Wir werden bei dir
sein. Versprochen!«

Mats schüttelte sich, als ein kalter Luftzug seinen Nacken streifte.
»Stimmt was nicht?«, fragte Tic.
»Ich ... ich weiß nicht.« Mats blickte über seine Schulter und besah

sich die Wand hinter seinem Bett. Der Mond hatte sie mit Schatten
überzogen, die von dem halb zugezogenen Vorhang, ihm selbst, Tic und
dem Raumschiffmodell stammten, das unter der Zimmerdecke hing.
Allerdings war da noch ein weiterer Schatten, der eigentlich nicht da
sein durfte, weil es nichts gab, was ihn hätte werfen können. Mats

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sprang von seinem Bett auf, ohne die Wand auch nur eine Sekunde lang
aus den Augen zu lassen.

Tic umschwirrte ihn aufgeregt. »Was ist los?«
»Würdest du mich für ein paar Minuten alleine lassen?«, sagte Mats.
»Warum?«
»Tu es einfach, okay, Tic?«
Der Feary streckte ihm die Zunge raus und sauste aus dem Zimmer.
Mats folgte ihm zur Tür und schloss sie hinter dem Feenmann. An-

schließend drehte er sich langsam wieder zu seinem Bett um. »Ich weiß,
dass du hier bist«, sagte er.

Ein düsteres Lachen sprang ihn wie ein Raubtier aus der Dunkelheit

an, und obwohl Mats den Drang verspürte, das Licht anzuknipsen, unter-
ließ er es.

»Ich wäre enttäuscht, wäre es anders, Mats Greifenhall. Denn es

würde bedeuten, dass ich meinen Schneid verloren hätte.« Der Schatten
an der Wand bewegte sich. Er hatte menschliche Umrisse und war
schwärzer als die Nacht selbst.

»Was willst du hier, Ripper?«, fragte Mats und hoffte, dass er muti-

ger klang, als er sich fühlte.

Blutrote Augen flammten im Gesicht des Serienkillers auf. »Wie ich

dir schon bei unserer letzten Begegnung sagte, weiß ich, wie du Vlad be-
siegen kannst.« Der Schatten kroch über die Wand auf Mats zu.

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»Komm ja nicht näher«, stieß dieser hervor und drückte sich mit dem

Rücken gegen die Tür. Er erinnerte sich nur zu gut daran, was der Rip-
per mit Richie angestellt hatte.

Der Schatten lachte. »Wenn ich deinen Körper übernehmen könnte,

hätte ich es längst getan, Mats Greifenhall. Aber dein Erbe schützt dich.«

Vielleicht sagte der Ripper die Wahrheit, vielleicht auch nicht. Mats

hatte jedenfalls nicht vor, es herauszufinden. »Sag, was du zu sagen hast,
und dann verschwinde.«

»Hüte deine Zunge, Mensch! Oder du wirst sie schneller verlieren,

als dir lieb ist«, fauchte der Ripper. »Ich bin keiner deiner dummen,
kleinen Freunde, die sich von dir herumkommandieren lassen.«

Mats starrte den Schatten an. Sollte er sich entschuldigen? Aber

womöglich würde der Ripper ihm das als Schwäche auslegen. »Also
schön«, sagte er und täuschte Gelassenheit vor, indem er die Arme vor
der Brust verschränkte. »Was hast du mir zu sagen?«

Die Augen des Rippers glühten erneut auf. »Ich kenne Vlads Ge-

heimnis. Ich weiß, was niemand sonst weiß.« Er stieß ein irres Wutge-
heul aus, woraufhin mehrere von Mats' Comics und Bücher aus den Re-
galen flogen. »Es ist die Maske, die verfluchte Maske!«

»Was ist da drin los?«, quietschte Tic auf der anderen Seite der Tür.

»Lass mich sofort rein, Menschenjunge. Hörst du?«

Mats ignorierte den Feenmann. Gebannt lauschte er den Worten des

Rippers.

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»Die Maske ist mächtig. Sie ist schlecht. Und sie bereitet mir Sch-

merz. Unerträglichen Schmerz. Sie ist die Quelle seiner Magie. Ohne sie
ist Vlad nichts. Nichts. Ohne sie hätte er nicht einmal das Ritual durch-
führen können, mit dem er sich Morczanes Kräfte angeeignet hat.«

»Aufmachen! Aufmachen!« Tic trommelte mit seinen Fäusten gegen

die Tür.

»Was ist so besonders an ihr?«, wollte Mats wissen.
Der Ripper stieß ein hasserfülltes Zischen aus. »Sie ist ein Relikt aus

den alten Tagen. Ursprünglich gehörte sie einem abergläubischen Ho-
hepriester der Mayas und stattet ihren Träger nicht nur mit großer Macht
aus, sondern schützt ihn auch vor bösen Geistern. Das ist der Grund,
warum er mich besiegen konnte.« Plötzlich war die Stimme des Killers
ganz nah an Mats' Ohr, obwohl sein Schatten sich nicht von der Wand
fortbewegt hatte. Nur mit Mühe konnte er ein Schaudern unterdrücken,
während der Ripper flüsterte: »Nimm ihm die Maske und du hast
gewonnen.«

»Das ist alles? Ist das ...« Mats unterbrach sich. Warum roch es plötz-

lich verbrannt in seinem Zimmer? Sein Blick fiel auf das Türschloss. Es
glühte und hatte zu schmelzen begonnen. Tic! Anscheinend glaubte er,
Mats sei in Gefahr. Egal. Mats musste sich erst versichern, dass der Rip-
per die Wahrheit sagte. »Ich weiß nicht«, sagte er. »Mir klingt das ein
bisschen zu leicht.«

»Es ist auch nicht schwer, einen Werwolf zu töten«, entgegnete der

Schatten abfällig. »Du musst sein Herz lediglich mit einer Silberpatrone

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durchbohren. Die Schwierigkeit ist jedoch, es hinzubekommen, bevor er
dir die Kehle durchbeißt.«

Der Ripper hatte recht. Vlad würde ganz bestimmt nicht brav stillhal-

ten, damit Mats ihm die Maske vom Gesicht reißen konnte.

Mit einem dumpfen Knall landete das Türschloss neben Mats'

rechtem Fuß.

»Was ist eigentlich in dich gefahren, du rosa Fleischklops?« Tic kam

durch das Loch gekraxelt. »Ich bin echt sauer! Und bei Hades' Bart, mit
wem redest du eigentlich?«

»Ich werde dort sein, Mats Greifenhall. Ich werde dort sein und zuse-

hen. Enttäusche mich nicht!« Die Umrisse des Rippers flössen ausein-
ander und verschmolzen mit der Dunkelheit.

»Wer war das?« Tic schwirrte durch das Zimmer, eine leuchtende

Goldspur hinter sich herziehend und suchte nach dem Ursprung der
Stimme.

»Ich weiß jetzt, was ich tun muss, um Vlad zu besiegen«, sagte Mats.
Der Feenmann erstarrte in der Luft. »Und warum siehst du dann aus,

als ob du gerade auf dem Weg zu deiner eigenen Beerdigung bist?«

»Weil es unmöglich ist.« Mats schleppte sich zu seinem Bett und set-

zte sich auf die Kante. »Ich mag zwar Excalibur haben, aber ich weiß
nicht einmal, wie man mit einer solchen Waffe umgeht. Und diese
Kräfte, die mir neuerdings zur Verfügung stehen ...«

»Was ist mit denen?« Tic ließ sich neben ihm auf das Kopfkissen

sinken.

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Mats schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, ob ich sie wirklich ver-

stehe. Sie sind großartig, Tic. Keine Frage. Ein paarmal haben sie mir
auch schon das Leben gerettet. Aber reichen sie auch aus, um mit Vlad
fertig zu werden?« Seufzend fuhr er sich durch das Haar.

»Natürlich tun sie das!« Tic setzte sich auf seine Schulter und kniff

ihn in die Wange. »Was soll die Trübsal? Immerhin bist du der Bezwing-
er der Dämonen.«

Ja, der bin ich, dachte Mats. Aber wenn alles so toll und sicher ist,

warum sorgen Hel und Mr Myrddin sich dann, dass ich nicht genug Zeit
hatte, in meine Rolle hineinzuwachsen?

Mats erhob sich von seinem Bett und trat ans Fenster. Die Sonne ging

gerade über Berlin auf und tauchte die Häuser und Straßen in ein flam-
mendes Orange, sodass es fast aussah, als stünde die ganze Stadt in
Flammen. Mats ließ die Stirn gegen die Scheibe sinken. Dies war sein
Zuhause. Sein Berlin, über dessen Schicksal er heute entscheiden
würde.

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Es war Vormittag und dunkle Wolken brauten sich über Berlin zusam-
men. Was mehr als ungewöhnlich war, weil die Stadt zum einen seit
Wochen von einer Hitzewelle heimgesucht wurde und zum anderen
durch den Wetterdienst Sonnenschein vorausgesagt wurde.

Seit zwei Stunden hielten sich Mats, Lucy und Tic in Mr Myrddins

Suite auf, die er mithilfe seiner Magie in ein altmodisches Alchemisten-
labor verwandelt hatte, und warteten darauf, dass es Zeit zum Auf-
brechen wurde. Mats saß an einem Holztisch, der etliche Kratzer und
Dellen besaß, was auf jahrelangen - oder in Mr Myrddins Fall - gar auf
jahrhundertelangen Gebrauch hinwies. Ganz in seiner Nähe stand die Ar-
guspflanze, die Mats schon bei seinem ersten Besuch aufgefallen war
und die ihm jetzt mit ihren Augen abwechselnd zuzwinkerte, als wollte
sie ihn aufmuntern.

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»Mann, Mann, Mann, was zieht ihr nur für Gesichter«, schimpfte

Tic, der mit hinter dem Rücken verschränkten Armen auf dem Tisch auf
und ab lief. »Ihr solltet vielmehr bester Laune sein. Heute ist der Tag, an
dem wir Vlad so richtig in den Hintern treten werden. Jawohl!«

Mats war sich sicher, dass der Feenmann diese Show nur für ihn

abzog. »Was macht dich so sicher, dass es nicht umgekehrt sein wird?«,
fragte er gereizt.

»Weil wir nun mal die Guten sind!«Tic stemmte die Hände in die

Seiten.

»0 ja, ich vergaß. In dem Fall können wir natürlich unmöglich ver-

lieren«, brummte Mats und wandte den Blick Excalibur zu, das neben
ihm auf dem Tisch lag. König Artus war auch einer von den Guten
gewesen, und trotzdem wurde er am Ende von seinen Feinden
geschlagen.

»Noch eine Stunde«, stellte Lucy mit einem Blick auf die Uhr fest.

Sie war ebenfalls bewaffnet. Mit dem Schwert aus dem
Antiquitätengeschäft ihres Vater, der davon mit Sicherheit nichts ahnte.
»Nur für den Fall, dass Vlad zu betrügen versucht«, hatte sie ihnen bei
ihrer Ankunft erklärt.

Mats wusste, dass Lucy mit dem Schwert umgehen konnte, schließ-

lich hatte er mit eigenen Augen gesehen, wie sie damit einer Mumie den
Kopf abgeschlagen hatte. Trotzdem wäre es ihm lieber, sie würde hier
im Hotel auf seine Rückkehr warten. Aber das konnte er vergessen.
Lucy war ein Dickkopf. Sie würde mit ihm gehen. Ebenso wie Tic. Er

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wünschte nur, Farid wäre auch mit von der Partie. Er hatte diese an-
steckend gute Laune, der man einfach nicht widerstehen konnte. Aber
bis er wieder aus dem Krankenhaus käme, würde noch eine Weile
vergehen.

»Tee?«, fragte Mr Myrddin, als der Steingnom mit einer dampfenden

Kanne auf den Tisch sprang. »Er hat extra lange gezogen und somit eine
beruhigende Wirkung.«

Mats und Lucy lehnten ab, nachdem der Gnom die Tasse des Zauber-

ers damit gefüllt hatte. Der Tee besaß die Farbe eines verunglückten
Chemieexperiments und roch auch so.

Gegen Viertel nach elf zuckte der erste Blitz über den Himmel, gefol-

gt von einem Grollen, das in Mats' Ohren wie ein bitterböses Lachen
klang. Anscheinend war er nicht der Einzige, der das so empfand, denn
Lucy, Tic und Mr Myrddin waren bereits auf dem Weg zum Fenster.
Mats folgte ihnen und musste beim Anblick des Himmels erst einmal
schlucken. Die Wolken vom Morgen hatten sich zu einem pechschwar-
zen Sturmgebirge ausgewachsen, durch dessen Schluchten ein unheim-
liches Wetterleuchten flackerte.

Mr Myrddin riss das Fenster auf.
Mats trat neben ihn. Die Luft roch nach Elektrizität. Und er glaubte

Schatten durch die Sturmwolken jagen zu sehen, die ihn an die Riesen-
fledermäuse aus dem Loch erinnerten. Vielleicht war es aber auch nur
Einbildung. Als kurz darauf der nächste Blitz den Himmel erleuchtete,
setzte ein sintflutartiger Regen ein, sodass der Zauberer das Fenster rasch

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wieder schloss. Tropfen, groß wie Pflaumen, trommelten gegen das
Glas.

Mr Myrddin fuhr sich über seinen Bart. »Das ist kein natürliches Ge-

witter. Da ist Magie im Spiel.«

»Dann kann es nur Vlad sein«, sagte Lucy.
»Was hat dieser elende Wurm jetzt schon wieder vor?«, schimpfte

Tic und streckte der Augenpflanze die Zunge heraus.

»Ich weiß es«, sagte Mats.
Seine Freunde wandten ihm die Gesichter zu.
»Ich habe Vlad gezwungen, an die Oberfläche zu kommen, weil ich

mir davon einen Heimvorteil versprach. Doch der Anführer der
Nightscreamer hat mir wieder einmal einen Strich durch die Rechnung
gemacht, indem er diese Stadt in einen zweiten Schattenschlund verwan-
delt hat.«

»Das kapier ich jetzt nicht«, meinte Tic.
»Seht genau hin«, forderte Mats seine Freunde auf. »Die Wolken sind

so dicht, dass sie kein Sonnenlicht mehr durchlassen. Berlin könnte
genauso gut in einer Höhle liegen, was bedeutet...«

»... dass er nicht alleine kommen wird«, beendete Lucy den Satz für

ihn. »Verflixt, du hast recht.«

Tic sauste wie ein außer Kontrolle geratener Flummi durch das Zim-

mer. »Er wird sie alle mitbringen. Die ganze Meute. Und bestimmt auch
diese dämlichen Reiter.« Er wirbelte herum und schoss auf Mats zu.
»Was machen wir jetzt, Menschenjunge?«

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»Wie geplant fortfahren.« Mr Myrddin warf dem Feenmann einen

mahnenden Blick zu. »Der Codex der Night-screamer zwingt Vlad, im
Zweikampf gegen Mats anzutreten. Daran ändert sich nichts, egal, wie
viele seiner Anhänger er mitbringen wird.«

Lucy musterte den Zauberer nachdenklich. »Sie haben damit gerech-

net, oder?«

»Ich habe zumindest in Erwägung gezogen, dass das passieren kön-

nte. Vlad traut uns ebenso wenig wie wir ihm. Außerdem wollen die
Nightscreamer natürlich wissen, wie ihr Anführer bei dieser Herausfor-
derung abschneiden wird.« Mr Myrddin warf einen Blick aus dem Fen-
ster, wo ein Blitz gerade in die Satellitenantenne des Nachbarhauses
einschlug. »Wir sollten aufbrechen, wenn wir bei diesem Wetter nicht zu
spät kommen wollen.«

Die vier verließen die Suite und machten sich auf den Weg ins Foyer,

in dem es verdächtig ruhig war. Alle Gäste schienen sich aufgrund des
Unwetters auf ihre Zimmer zurückgezogen zu haben. Vielleicht fühlten
sie aber auch, dass irgendetwas im Busch war. Als Mats durch die Tür
nach draußen spähte, konnte er kein einziges Taxi vordem Greifenhall
ausmachen, und soweit er es durch den Regenvorhang erkennen konnte,
fuhren auch auf der Straße keine Autos mehr. Selbst die Bürgersteige
waren wie leer gefegt.

»Wie kommen wir jetzt zum Brandenburger Tor?«, fragte Lucy, die

ihm über die Schulter blickte.

»Dafür ist schon gesorgt«, antwortete Mr Myrddin.

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Eine Kutsche rollte durch den Sturm auf das Hotel zu, trotz des Re-

gens brannten ihre Räder lichterloh. Vor dem Eingang kam sie zum Ste-
hen. Die Tür schwang auf und das leichenblasse Gesicht der Totengöttin
kam zum Vorschein.

»Wie immer im richtigen Moment, Hel«, sagte der Zauberer, der

neben ihr Platz genommen hatte, während Mats, Lucy und Tic sich die
gegenüberliegende Sitzbank teilten.

»Der Tod ist immer zur Stelle, wenn er gebraucht wird.« Hel zeigte

ein dünnes Lächeln. »Tatsächlich kann ich mich nicht erinnern, dass er
zu irgendeiner Gelegenheit jemals zu spät gekommen ist.«

Mats vermutete, dass das komisch sein sollte. Allerdings konnte er

über den Humor der Totengöttin nicht lachen. Jedenfalls nicht in der
Situation, in der er sich gerade befand.

Lucy, Tic, Mr Myrddin und Hel begannen schon bald, sich mitein-

ander zu unterhalten. Mats verspürte jedoch keine Lust auf ein Gespräch.
Im Augenblick wollte er einfach nur seine Ruhe, weswegen er näher an
das Kutschenfenster rückte. Bei seiner ersten Fahrt in der Höllenkutsche
war die Stadt regelrecht an ihnen vorüber geflogen. Jetzt fuhr sie sehr
viel langsamer. Vielleicht wegen des Unwetters.

Das Bild, das sich ihm auf dem Weg zum Brandenburger Tor von

Berlin bot, war überall das gleiche. Die Stadt wirkte wie ausgestorben.
Alle Fenster waren dunkel. Selbst die Leuchtreklamen der Geschäfte
brannten nicht. Vielleicht hatte das Gewitter ja einen Stromausfall
verursacht.

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Mats lehnte den Kopf an die Kutschenwand. Was soll ich nur tun?,

fragte er sich. Seine Freunde zählten auf ihn. Vertrauten ihm. Aber kon-
nte er diesen Kampf wirklich gewinnen?

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Die Kutsche wurde langsamer und kam zum Stehen. Der Regen, der sie
von allen Seiten traf, klang jetzt wie das Hämmern Hunderter wütender
Fäuste. Die Göttin beugte sich vor und öffnete die Kutschentür. Mats
blickte auf das Brandenburger Tor, das er verzerrt, wie durch einen
Wasserfall sah. Dutzende Gestalten lungerten um das Berliner
Wahrzeichen herum. Nightscreamer.

»Dies ist deine Stunde, Bezwinger der Dämonen«, sagte Hel und wies

mit der Hand nach draußen.

Mats nickte, warf sich die Kapuze seines Sweatshirts über und stieg

aus. Doch kein einziger Regentropfen traf ihn, statt- dessen prallte er gut
einen Meter über seinem Kopf wie von einem Baldachin ab.

»Ein bisschen angeben schadet nie«, raunte Mr Myrddin hinter ihm.
Mats schritt voran. Gefolgt von seinen Freunden. Es war schon

merkwürdig. Jetzt, wo sein Kampf mit Vlad bevorstand, war er sehr viel

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ruhiger als noch vor Kurzem. Keine zittrigen Hände. Keine Übelkeit.
Selbst das Knurren, Fauchen und Zischen der Nightscreamer, die sich
hinter den Regenwänden links und rechts von ihm bewegten, konnte ihn
nicht aus der Fassung bringen. Zuerst gab ihm das ein gutes Gefühl, aber
dann erschien es ihm seltsam. Irgendwie unnatürlich. Was war nur mit
ihm los?

»Verbrecher, Scharlatane, Mörder, Diebe«, schimpfte Tic, der wie ein

goldener Funke über Mats' Kopf kreiste. »Dieser ganze elende
Madendreck gehört hinter Gitter. Wo steckt die Bruderschaft, wenn man
sie mal braucht?«

Mats passierte das Brandenburger Tor und trat hinaus auf eine der

berühmtesten Straßen der Stadt: Unter den Linden. Viele Sehenswür-
digkeiten säumten die Prachtallee auf ihrem Weg durch das Herz von
Berlin. Die Botschaften verschiedener Länder, das Wachsfigurenkabinett
von Madame Tussauds, das Kronprinzenpalais, die Oper und vieles,
vieles mehr, das Mats seit seiner Kindheit kannte und von dem er sich
fragte, ob er jemals wieder die Gelegenheit bekäme, es noch einmal zu
sehen.

Mats war stehen geblieben, umringt von seinen Freunden und der

Göttin Hel. Auf dieser Seite des Tores fiel kein Regen, was endgültig be-
wies, dass es Vlad war, der das Unwetter kontrollierte. Dafür wimmelte
es hier nur so von Nightscrea- mern, die bei seinem Anblick ihre Zähne
bleckten, Tentakel entrollten, mit den Knochen klapperten oder Waffen
zogen. Sie griffen jedoch nicht an. Stattdessen hatten sie sich so auf-

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gestellt, dass sie eine halbkreisförmige Arena um das Bran- denburger
Tor bildeten.

Sie warten auf ihren Anführer, dachte Mats, der Vlad bisher noch nir-

gends entdeckt hatte.

»Puh, das ist ja kaum auszuhalten«, murmelte Lucy.
Mats wusste sofort, was sie meinte. Die Nightscreamer verströmten

einen Gestank, der eine Mischung aus Verwesung, Fäulnis und
feuchtem Pelz war.

»Hey, was soll das?«, rief Tic plötzlich.
Lucy reagierte blitzschnell. Sie zog ihr Schwert und drückte seine

Spitze einer grünhäutigen Hexe unters Kinn, die versucht hatte, sich von
hinten an Mats heranzupirschen. Giftig funkelte sie Lucy an, bevor sie
ihr Gesicht Mats zuwandte. »Du wirst heute sterben!«, stieß sie hervor
und spuckte ihm ins Gesicht.

»Verschwinde, Warzennase!« Tic schleuderte ihr eine Wolke seines

Feenstaubs entgegen, woraufhin die Hexe kreischend floh.

»Alles in Ordnung, Mats?«, fragte Lucy.

Er nickte und wischte sich den Speichel von der Wange, während

gedämpfter Glockenschlag an sein Ohr drang. Zwölf Uhr.

Vlad erschien wie aus dem Nichts und erinnerte Mats daran, dass er

ein Teleporter war. Applaus und Jubelrufe setzten unter den
Nightscreamern ein. Vlad beachtete seine Anhänger jedoch nicht. Die
kalt funkelnden Diamantaugen waren auf Mats gerichtet, während seine
Lippen wie üblich zu einem Grinsen verzerrt waren.

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»Hier bin ich, Mats Greifenhall. Oder soll ich dich lieber Bezwinger

der Dämonen nennen?« Vlad neigte den Kopf zur Seite, sodass ein Teil
seines langen Haars ihm ins Gesicht fiel. »Hier und heute soll es also en-
den. Mir kann es nur recht sein. Du und der Rest deiner Brut haben mir
bereits genug Ärger gemacht.«

»Hier und heute«, bestätigte Mats und wunderte sich selbst darüber,

wie gelassen er klang. Nun reckte er das Kinn vor und fügte hinzu: »Ich
hoffe, du hast dich schon mal von deinen Freunden verabschiedet, bevor
du hierhergekommen bist. Ach, ich vergaß, du hast ja gar keine
Freunde.«

»Genau! Gib's ihm!«, jubelte Tic.
»Sieh an, der kleine Menschenjunge riskiert eine große Klappe. Mal

schauen, ob er immer noch so mutig ist, wenn er erst vor mir auf dem
Boden kriecht und um Gnade winselt.«

Hinter Vlad teilte sich die grölende Menge und entließ drei Gestalten.

Die erste hielt eine Sense und war in einen langen Kapuzenmantel ge-
hüllt. Tods Lachen verfolgte Mats manchmal noch in seinen Träumen.
Bei der zweiten handelte es sich um einen Krieger, der ein Schwert und
eine Keule in den Händen hielt. Rauch kräuselte sich aus seinem Visier.

Das muss Krieg sein, dachte Mats.
Der dritte Dämon erweckte fast schon Mitleid bei ihm. Er trug

Lumpen, die ihm viel zu groß waren und bei jedem Schritt um seinen
ausgemergelten Körper schlackerten. Das Gesicht war eingefallen, was
die Augen größer erscheinen ließ und den Eindruck der Schwäche und

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Hilflosigkeit noch verstärkten. Aber das täuschte. Auch er war einer der
Apokalyptischen Reiter, die vor über tausend Jahren ganze Städte und
Landstriche ausgerottet hatten.

»Das muss Hunger sein«, raunte Lucy Mats zu.
Die Dämonen blieben in der vordersten Reihe der Night- screamer

stehen, nur Krieg trat an Vlad heran und überreichte ihm seine Keule,
die mit zentimeterlangen Eisendornen besetzt war. Anschließend zog er
sich wieder zu seinen Kumpanen zurück.

»Bevor wir beginnen«, sagte Vlad und wog die Kriegskeule in der

Hand, »will ich den Goldenen Schlüssel sehen. Zeig ihn mir, Mats
Greifenhall!«

»Der Goldene Schlüssel ist hier.« Mr Myrddin trat vor und zog das

Amulett unter seiner Jacke hervor.

Mats fühlte die Verlockung der Magie, die davon ausging, und

wandte den Blick rasch wieder ab.

»Merlin der Zauberer und die gute, alte Hel.« Vlad deutete mit der

Keule auf die beiden. »Mächtige Verbündete für einen Menschen. Ich
hoffe, ihr erinnert euch an die oberste Regel dieser Herausforderung:
Keine Einmischung!«

»Wagst du es etwa, mich zu belehren?« Hels Stimme fegte wie eine

eisige Böe über sie alle hinweg. Viele der Nightscreamer zogen die
Köpfe ein oder schlugen die Krägen ihrer Jacken hoch.

»Nicht doch.« Vlad verbeugte sich in ihre Richtung. Eine spöttische,

fast schon beleidigend wirkende Geste. Anschließend riss er sich den

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Mantel von den Schultern und ließ ihn davonflattern. Darunter trug er
ein mit Nieten besetztes Oberteil, eine schwarze Hose und Stiefel.
»Bereit, Mats Greifenhall?«

»Ich glaube an dich«, sagte Lucy und drückte ihm einen Kuss auf die

Wange.

»Wir glauben an dich«, korrigierte Tic.
Vlad lachte. »Wie rührend.«
Mats zog Excalibur und seine Magie durchströmte ihn. Es war so

weit. Er sah dem Anführer der Nightscreamer ins Gesicht und empfand...
nichts. Was zur Hölle stimmte nicht mit ihm? »Bringen wir es hinter uns,
Vlad.« Mit erhobenem Schwert schritt Mats auf den Anführer der
Nightscreamer zu. Buhrufe und Pfiffe trafen ihn von allen Seiten, aber
Mats blendete sie aus. Stattdessen horchte er in sich hinein, suchte nach
dem Zorn und der Wut, die ihm gegen den Zyklopen geholfen hatten.
Doch da war nur Stille.

»Du kannst nicht gewinnen, kleiner Mensch!« Vlad schwang seine

Kriegskeule. »Du kannst nur sterben.«

Mats parierte den Schlag mit seinem Schwert. Der Zusammenprall

war so hart, dass er einen brennenden Schmerz durch seinen rechten
Arm schickte. Er biss jedoch die Zähne zusammen und stieß mit Ex-
calibur nach Vlads Brust. Dieser wich zur Seite aus. »Nicht un-
geschickt«, höhnte der Anführer der Nightscreamer und ließ die Keule
auf Mats' Kopf hinabsausen. Excalibur flog hoch und lenkte den Hieb
ab.

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»Gut gemacht!«, jubelten Lucy und Tic.
Aber Mats wusste es besser. Das war nicht er gewesen, sondern das

Schwert. Er hatte keine Ahnung, wie man eine solche Waffe führte, und
trotzdem hatte er bisher jeden Schlag seines Gegners abgewendet. Sein
Blick wanderte die Klinge entlang. Excalibur besaß einen eigenen Wil-
len. Das hatte Mr Myrddin damit gemeint, als er sagte, dass es seinen
Träger beschützen würde.

»Ja, wehre dich nur, Menschenjunge. Aber du wirst trotzdem verlier-

en.« Vlads Grinsen wuchs in die Breite und entblößte zwei Reihen spitz
gefeilter Zähne, die Mats an das Gebiss eines Piranhas erinnerten. »Und
du weißt es, nicht wahr?«, fuhr Vlad so leise fort, dass nur Mats ihn ver-
stehen konnte. »Ich lese es in deinem Blick: keine Angst, keine Zweifel,
aber auch kein Kampfgeist. Da ist Nichts. Du hast längst aufgegeben,
Mensch, weil du selbst nicht glaubst, gegen mich gewinnen zu können.«

Mats taumelte bei diesen Worten zurück, als hätte der Anführer der

Nightscreamer ihm seine Keule in den Magen gerammt. Vlad hatte recht.
Mats hatte sich längst mit seinem Schicksal abgefunden. Aus diesem
Grund empfand er auch keine Furcht oder Wut mehr. Aber ohne all diese
Gefühle konnte er auch die Kräfte des Dämonenbezwingers nicht herauf-
beschwören und ohne sie war er nur ein ganz normaler Mensch.

»Ja, jetzt begreifst du.« Vlad hatte begonnen ihn zu umkreisen. Die

Kriegskeule, die gut ein Drittel von Mats wiegen musste, warf er dabei
wie ein Spielzeug von einer Hand in die andere. »Ich könnte dich jetzt
ganz leicht vernichten. Ein einfacher Zauber, der dir das Herz in der

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Brust zerquetscht. Mehr bräuchte es im Augenblick nicht.« Er lachte,
griff an und zog sich wieder zurück. »Aber das wäre zu einfach, Mats
Greifenhall.
Viel zu einfach. Ich will diesen Kampf. Ich will, dass alle sehen, wie ich
dich - den legendären Bezwinger der Dämonen - zur Strecke bringe. Ein
solcher Sieg würde meinen Namen unter den Schattengängern für alle
Zeiten unsterblich machen.«

Mats sah zu seinen Freunden rüber. Lucys und Tics Lächeln verrieten

ihm, dass sie über das Jauchzen und Kreischen der Nightscreamer kein
einziges Wort von dem hörten, was zwischen ihm und Vlad gesprochen
wurde. Sie hatten keine Ahnung, dass er sie durch seine Selbstzweifel
bereits zum Tode verurteilt hatte. Die Kehle schnürte sich ihm zu. Nein,
nicht Lucy. Nicht Tic. Sie waren seine Freunde. Sie glaubten an ihn. Mit
einem Aufschrei warf Mats sich herum, schlug Vlads Keule mit Ex-
calibur beiseite und stieß das Schwert in die Brust seines Gegners. Aber
die Klinge schnitt nur leere Luft. Der Anführer der Nightscreamer hatte
sich fortteleportiert.

»Hinter dir!«, schrie jemand. Vielleicht Lucy, aber das war in dem

ganzen Lärm nicht auszumachen.

Mats wirbelte herum, aber er war zu langsam. Ein Tritt traf ihn im

Rücken, sodass er nach vorne stolperte und fiel. Excalibur entglitt seinen
Fingern, und die Nightscreamer johlten vor Begeisterung.

Der Schmerz drückte Mats zu Boden, trieb ihm die Tränen in die Au-

gen. Er blinzelte sie fort. Das Schwert. Er streckte die Hand danach aus.

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Ohne Excalibur war er verloren. Doch schon fiel Vlads Schatten auf ihn.
Ein zweiter Tritt traf Mats in die Rippen und warf ihn auf den Rücken.

»Verloren, kleiner Mensch!« Der Anführer der Nightscreamer setzte

seinen Stiefel auf Mats' Brustkorb, und der Jubel unter seinen Anhängern
schwoll zu einem Crescendo an, in dem selbst das Grollen des Gewitters
unterging.

Mats starrte in Vlads Diamantaugen, in deren Facetten sich sein

schmerzverzerrtes Gesicht hundertfach spiegelte. Seine Seite fühlte sich
an, als würde sein Fleisch brennen. Sicher waren mehrere Rippen
gebrochen. Aber das hatte jetzt keine Bedeutung mehr. Er hatte versagt
und damit seine Freunde und die Welt dem Untergang preisgegeben.

»Heute werden die Menschen endlich für das bezahlen, was sie mir

angetan haben.« Vlad riss die Kriegskeule hoch und ließ sie auf Mats'
Gesicht herabschnellen.

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»Niemand vergreift sich an meinem Freund!« Lucy hatte die
Kriegskeule mit der Spitze ihres Schwertes aufgespießt und Mats damit
das Leben gerettet. In seinen Augen grenzte es an ein Wunder, dass
ihre Handgelenke unter dem Zusammenstoß der beiden Waffen nicht
gebrochen waren.

Vlad war wie von Sinnen. Er schrie vor Wut, weil er gerade um

seinen Triumph gebracht worden war. »Dafür wirst du bezahlen,
Menschenmädchen!« Speichel flog aus seinem Mund und unter seinem
Hemd schwollen die Muskeln an seinen Armen an, als er den Druck
auf die Keule erhöhte.

Mats kroch zwischen den beiden hervor. Ein Blick nach oben zeigte

ihm, dass Lucys Gesicht vor Anstrengung verzerrt war. Ihre Arme zit-
terten bereits. Jeden Augenblick würde ihr das Schwert entgleiten.

»Nimm das, Scheusal!« Eine Wolke goldenen Feenstaubs traf Vlad,

der vor Schmerz und Überraschung aufheulte. Er ließ die Kriegskeule

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los, die Lucys Schwert mit sich zu Boden riss, wo sich ihre Eisen-
dornen nur wenige Zentimeter neben Mats' Schulter in den Asphalt
bohrten.

»Steh auf.« Lucy packte Mats am Arm und zerrte ihn auf die Füße.

Er schwankte, schaffte es aber, sich aufrecht zu halten. »Weg hier!«
Lucy zog ihn von Vlad fort.

»Das ist gegen die Regeln«, fauchte der Anführer der Nightscreamer

und schlug nach Tic, der ihn noch immer mit Feenstaub berieselte. »Jetzt
werdet ihr sterben, ihr alle!«

»Dein Schwert, Lucy«, stöhnte Mats. »Hol es dir. Schnell.«
Sie nickte und hob es auf. Durch den Aufprall auf das Straßenpflaster

hatte es sich von der Kriegskeule gelöst.

»TÖTET SIE«, befahl Vlad seinen Anhängern. »Tötet sie alle! Nur

der Junge gehört mir!« Er streckte den rechten Arm aus. Ein Zittern lief
durch die Keule und sie sprang zurück in seine Hand.

Von allen Seiten stürzten die Nightscreamer auf sie zu. In dergleichen

Minute brach hinter ihnen ein Sturm aus Geheul und Zähnefletschen los.
Mats schaute nach, was da passierte. Etwa noch mehr Feinde? Riesige
Bestien mit glühenden Augen sprengten durch das Brandenburger Tor
und warfen sich den Nightscreamern entgegen. Höllenhunde. Zwischen
ihnen Dutzende Fabelwesen in den Kutten der Bruderschaft.
Mats hätte vor Erleichterung beinahe gelacht. Sie waren gar nicht so al-
lein, wie er gedacht hatte. Das hätten Mr Myrddin und Hel ihm nun
wirklich sagen können.

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»Ich wusste, dass ich euch nicht hätte trauen dürfen.« Vlad deutete

auf zwei Mumien und befahl ihnen, Lucy anzugreifen.

Mats schaute sich nach Excalibur um. Sein Blick glitt über das

Pflaster der berühmtesten Straße Berlins, die sich gerade in ein Schlacht-
feld verwandelt hatte, an dem Morrigan ihre helle Freude hätte. Wer
weiß, vielleicht lauerte die Krähengöttin sogar irgendwo in der Nähe und
erfreute sich an dem Gemetzel. Da war es! Das Schwert lag nur wenige
Meter entfernt von Mats. Es war zwischen die Füße eines Waldelfen ger-
aten, der gegen ein Tentakelmonster kämpfte.

Mats machte einen Schritt auf die Waffe zu und sank auf die Knie, als

der Schmerz sich erneut wie ein Messer in seine Rippen bohrte. Aus dem
Augenwinkel sah er Vlad, der an Lucy vorbeizukommen versuchte, die -
unterstützt von Tic - in einen Kampf mit den beiden Mumien verstrickt
war. Die Nightscreamer droschen mit gekrümmten Säbeln auf sie ein.

Das ist nicht richtig, dachte Mats.
Lucy riskierte alles für ihn. Ebenso wie Tic. Dabei sollte er es eigent-

lich sein, der sie vor den Bösen rettete. Plötzlich musste Mats an all die
Toten denken, die auf VIads Konto gingen.
An die Freunde, die sie durch ihn verloren hatten oder vielleicht noch
verlieren würden. Da war der alte Konrad, der mutigste Buchhändler,
den Mats je kennengelernt hatte. Der grummelige Werwolf Julius, der es
trotz allem immer gut mit ihnen gemeint hatte. Und natürlich Farid, der
im Krankenhaus um sein Leben kämpfte. Tränen stiegen Mats in die Au-
gen - und mit der Trauer kam auch die Wut zurück.

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Er ballte die Hände zu Fäusten. »Nein! Nein! NEIN!« In diesem let-

zten Nein schwang eine solche Macht mit, dass die Schlacht einen Au-
genblick lang ins Stocken geriet, weil alle sich nach ihm umdrehten.

Die Magie war zurück. Sie strömte in Mats' Seite, heilte die Rippen

und nahm ihm den Schmerz. Er tat einen befreiten Atemzug, als etwas
Metallisches über den Asphalt auf ihn zuschlitterte. Escalibur. Der
Waldelf hatte es ihm rübergekickt. Mats packte das Schwert. In der
gleichen Sekunde erschien Vlad wie aus dem Nichts vor ihm und schlug
mit seiner Keule zu.

Mats warf sich zur Seite, rollte über seine Schulter ab und kam

wieder auf die Füße. »Es ist noch lange nicht vorbei, Vlad.«

»Ich habe dich vorhin geschlagen«, erwiderte der Anführer der

Nightscreamer. »Ich werde es auch jetzt wieder tun.«

»Nein, denn etwas hat sich geändert.« Und mit einem Lächeln fügte

Mats hinzu: »Ich kenne dein Geheimnis. Ich weiß, wie ich dir deine
Macht nehmen kann.«

Das Grinsen auf Vlads Gesicht erstarb.
Mats hätte nicht gedacht, dass das überhaupt möglich war.
»Wer?«, fauchte der Anführer der Nightscreamer und ein Zittern lief

durch seine Gestalt. »Wer hat dir...«

Mats wartete gar nicht erst das Ende der Frage ab, sondern schwang

sein Schwert. Vlad parierte den Schlag. Auch die nächsten. Allerdings
griff er selbst nicht mehr an. Er war in die Defensive gewechselt und
konzentrierte sich jetzt ganz darauf, Mats' Attacken abzuwehren. Vlad

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hatte plötzlich Angst. Es gab keine andere Erklärung. Er wollte mit allen
Mitteln verhindern, dass Mats ihm zu nahe kam. Der Ripper hatte also
die Wahrheit gesagt.

»Was ist? Wirst du müde, Grinsefratze?« Mats wischte sich den Sch-

weiß von der Stirn. Wenn er Vlad nur genug reizte, machte er vielleicht
einen Fehler, sodass sich eine Lücke in seiner Deckung auftat.

»Du und deine Freunde - ihr habt die Regeln gebrochen!« Vlad

wehrte einen weiteren Hieb ab.

»Ja, und?«
Mit einem Mal war das Grinsen auf Vlads Gesicht zurück. »Weißt du,

was das bedeutet? Niemand wird es wagen, meine Führerschaft infrage
zu steilen, wenn ich jetzt verschwinde.«

»Das ... das wäre feige«, platzte Mats heraus. Wenn Vlad jetzt die

Kurve kratzte, würde er nie wieder eine Chance wie diese bekommen.

»Leb wohl, kleiner Menschenjunge!« Und damit war Vlad auch

schon fort.

»Neiiiiiiin.« Hilflos vor Wut schlug Mats mit Excalibur um sich.

Wieder und wieder. Allerdings schnitt er nur die Luft, denn Vlad war ge-
flohen. Fortteleportiert. Einmal mehr hatte der Anführer der
Nightscreamer ihn reingelegt. Mats hielt inne und sah sich nach einem
Gegner um, an dem er seine Wut auslassen konnte. Sein Blick fiel auf
Lucy, die jetzt nur noch gegen eine Mumie kämpfte. Egal. Er würde ihr
dieses Monster vom Hals schaffen.

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Mats riss sein Schwert hoch, machte einen Schritt vor und fühlte das

Kribbeln von Magie in seinem Nacken. Blitzartig wirbelte er herum. Die
Kampfgeräusche um ihn herum verstummten, und die Schlacht wirkte
wie eingefroren. Direkt vor ihm setzten sich Millionen und Abermillion-
en winziger Atome zu Vlad zusammen. Allerdings sehr viel langsamer
als gewöhnlich. Genauso, wie bei dem Kampf mit dem Tol'Shak, als
alles mit einem Mal wie in Zeitlupe abgelaufen war. Mats lächelte. Vlads
Flucht war nur eine Finte gewesen, und das würde den Anführer der
Nightscreamer teuer zu stehen kommen.

»Hab ich dich!«
Mats stach in dem Moment mit dem Schwert zu, als Vlads Gestalt

sich verfestigte. Ein Funke blitzte auf, als Excaliburs Spitze die Silber-
maske genau zwischen seinen Augen traf. Dabei entstand ein Geräusch,
wie der Klang einer Triangel.

Vlad taumelte zurück. Die Kriegskeule entglitt ihm und fiel auf die

Straße. Ein Wimmern kam über seine Lippen, während seine Hände
nach der Maske tasteten, die unter seinen Fingern zu Silberstaub zerfiel
und wie winzige Sternschnuppen zu Boden regnete. »Nein«, schluchzte
Vlad, die Hände aufs Gesicht gepresst. »Neiiiiiiin!«

Mats ließ Excalibur sinken. Er hatte gesiegt, er hatte den Anführer der

Nightscreamer geschlagen. Aber in Anbetracht von dessen Verzweiflung
empfand er nicht einmal Triumph.

Vlad fiel auf die Knie. Ein Beben lief durch seine Gestalt, die sich vor

Mats' Augen zu verändern begann. Als die ersten Nightscreamer sahen,

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was mit ihrem Anführer geschah, ergriffen sie die Flucht. Es dauerte
nicht lange, bis ihnen der Rest nachfolgte. Kein Einziger blieb zurück.
Keinen interessierte, was aus Vlad wurde. Mats hob den Blick zum Him-
mel. Nicht nur die Schlacht war vorüber. Auch das Unwetter hatte ein
Ende gefunden.

Lucy erschien an seiner Seite und lehnte sich schwer atmend an Mats.

Ihr Haar klebte in Strähnen an ihrer Stirn. Ihre nebelgrauen Augen
schauten jedoch so lebendig wie eh und je drein. Tic legte einen kleinen
Crash hin, als er auf Mats' Schulter zu landen versuchte. Zum Glück fing
Mats ihn auf, bevor er herunterpurzeln konnte und behielt ihn zur Sicher-
heit erst einmal in der Hand.

»Das kann unmöglich Vlad sein«, hauchte Lucy und blickte auf ein

Wesen hinab, das nur halb so groß wie sie selbst war und nicht einmal
mehr im Entferntesten Ähnlichkeit mit dem Anführer der Nightscreamer
hatte.

»Aber er ist es.« Mats steckte Excalibur zurück in seine Scheide und

betrachtete das Wesen, das den Oberkörper eines jungen Mannes hatte,
von der Taille abwärts jedoch wie ein Ziegenbock auf zwei Hufen aus-
sah. Hörner wuchsen aus seiner Stirn und seine großen, tiefgrünen Au-
gen schwammen in Tränen. »Ich hasse dich, Mats Greifenhall!«

»Das ist Pan«, sagte Mr Myrddin, der sich ihnen unbemerkt genährt

hatte. »Einst wurde er als Gott der Natur und Wälder verehrt. Allerdings
war er nie so mächtig wie Hel oder die anderen alten Götter.«

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»Ich dachte, er sei in die Regenwälder Südamerikas geflohen«, sagte

Tic und fügte an Mats und Lucy gewandt hinzu: »Viele Schattengänger,
die nicht unter der Erde leben wollten, haben sich an entlegene Orte
zurückgezogen. Die Yetis sind in den Himalaja gegangen und die Dry-
aden und einige andere Waldbewohner zogen sich in die unerforschten
Dschungelregionen zurück, wo sie sich vor den Menschen sicher
glauben.«

»Warum nur?«, fragte Mats das Wesen. »Warum hast du all die

schrecklichen Dinge getan?«

Pans leuchtend grüne Augen blickten direkt in die seinen. »Weil ihr

bereits Millionen von ihnen getötet habt, und weil ihr jeden Tag weitere
tötet.« Er spuckte Mats vor die Füße. »Ihr Menschen habt es nicht
verdient, in dieser Welt zu leben!«

Mats war verwirrt. »Wovon sprichst du?«
Pan bleckte die Zähne. »Von meiner Familie, die ihr aus Profitgier

ausbeutet.«

»Ich verstehe immer noch nicht.« Er warf Mr Myrddin einen hil-

flosen Blick zu.

Auf dem Gesicht des Zauberers war ein trauriger Ausdruck erschien-

en. »Er spricht von den Bäumen, von der Natur, die euren Städten und
euren Bedürfnissen immer weiter weichen muss.«

»Ohne Rücksicht metzelt ihr sie nieder.« Pan starrte Mats und Lucy

mit einem Hass an, als wollte er jeden Moment mit bloßen Händen auf
sie losgehen. »Ich habe euch bewundert und ich bewundere euch immer

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noch für das, was ihr geschaffen habt. Ganz ohne Magie. Aber der Preis
ist einfach zu hoch und eure Gier kennt inzwischen keine Grenzen
mehr.«

»Also hast du beschlossen, uns aufzuhalten«, sagte Lucy.

»Und zwar mithilfe der Maske«, fügte Mats hinzu.
»Ich fand sie in einem verborgenen Tempel im Dschungel. Sie war

mächtig, so mächtig. Und nachdem ich herausgefunden hatte, wie sie
funktionierte, machte ich mich auf die Reise zum Schattenschlund. Ich
hatte von den Nightscrea- mern und ihrem Hass auf die Menschen gehört
und so war ich mir sicher, dass sie mir für meine Pläne nützlich sein
würden.« Pan wandte sich dem Zauberer zu - einen flehenden Ausdruck
in den Augen. »Was ist nur schiefgegangen, Merlin? Warum haben wir
diese Welt an die Menschen verloren?«

Zu Mats' Erstaunen lächelte Mr Myrddin. »Nichts ist für die

Ewigkeit, Pan«, antwortete er sanft. »Diese Welt befindet sich seit ihrer
Erschaffung im ständigen Wandel. Und auch wenn diese Epoche nicht
die unsere ist, so bin ich mir sicher, dass eines Tages auch für uns wieder
bessere Zeiten kommen werden.«

Pan schüttelte den Kopf. »Nicht für mich.« Er senkte den Blick zu

Boden. »Für mich ist es zu spät.«
Mr Myrddin sah Mats und Lucy an. »Behaltet ihn im Auge, bis ich
wieder zurück bin«, bat er sie. »Ich will nur rasch zwei Mitglieder der
Bruderschaft holen, damit sie sich um Pan kümmern können.«

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Tic, der in Mats' Hand saß, meinte: »Ich glaube nicht, dass er ver-

suchen wird, zu fliehen.«

Der Zauberer nickte und schritt davon.
»Was wird jetzt mit ihm geschehen?«, wandte sich Lucy an Mats.
»Er wird bestraft, was sonst?«, sagte eine boshafte Stimme hinter

ihnen.

Die beiden fuhren herum. Aber da war niemand. Abgesehen von ein

paar Angehörigen der Bruderschaft, die sich um den Abtransport verlet-
zter Nightscreamer kümmerten. Plötzlich stieß Pan einen Schrei aus. Als
Mats, Lucy und Tic nach ihm sahen, lag er auf dem Boden. Seine Augen
waren geschlossen und in seiner Brust steckte ein Messer.

»Scharf sollen sie sein und tief schneiden
sie hinein.
Die Klingen, die ich schwinge.

Für das Blutlied, das ich singe...«

Über dem leblosen Pan nahm ein Schatten Gestalt an. Es war der Ripper.
»Er hat nur bekommen, was er verdient.«

»Das... das war Mord«, keuchte Mats.

»Und dazu noch ein besonders treffsicherer.« Der Ripper lachte. »Ich

muss dir danken, Mats Greifenhall. Jetzt, wo diese Baummade erledigt
ist, steht meiner Rückkehr zum Anführer der Nightscreamer nichts mehr
im Wege.«

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Lucy schleuderte ihr Schwert von sich. »Das haben wir ja toll

hinbekommen.«

»Keine Sorge, Menschenmädchen, ich habe meine eigenen Pläne,

und die Vernichtung der Menschheit gehört ganz gewiss nicht dazu. Ich
mag euch zwar genauso wenig wie der tote Baumgott, aber auf der an-
deren Seite macht eure Skrupellosigkeit euch zu perfekten Geschäfts-
partnern.« Er wandte sich wieder Mats zu. Zumindest hatte er den
Eindruck, dass der Ripper jetzt wieder ihn ansah, obwohl das schwer zu
sagen war, wenn seine Augen nicht glühten. »Richte dem Zauberer und
der Göttin aus, dass ich euch und der Bruderschaft einen Waffenstill-
stand anbiete.«

»Ach ja?«, fragte Tic misstrauisch.
»Meine Leute und ich ziehen uns ins Loch zurück und werden den

Rest des Schattenschlunds meiden. Im Gegenzug wird man uns ebenfalls
in Ruhe lassen.«

Mats wusste, dass sie dem Ripper nicht trauen konnten. Dieses Ange-

bot klang viel zu gut, um wahr zu sein. »Ich werde es ihnen ausrichten.«

»Mehr verlange ich nicht.« Der Schatten begann im Licht der durch-

brechenden Sonne zu verblassen. Mit ihm verschwand auch das Messer
in Pans Brust.

Mats fuhr sich mit den Händen durch das Gesicht. Heute hatten sie

einen Krieg verhindern können. Sogar noch etwas Schlimmeres: die Ver-
nichtung der Menschheit. Eigentlich sollte er erleichtert sein. In

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Feierstimmung. Aber das war er nicht. Im Grunde wollte er nur noch ins
Bett und schlafen. Schlafen und vergessen.

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Es war der letzte Tag der Ferien. Morgen würde wieder die Schule be-
ginnen und Mats und Lucy hatten deshalb beschlossen, dass dieser Son-
ntag ganz alleine ihnen gehören sollte. All ihre Lieblingsplätze in Berlin
wollten sie aufsuchen. Jedenfalls war das ihr Plan. Aber dann verbracht-
en sie einfach nur Stunden am Ufer der Spree, genossen den warmen
Sonnenschein und schleckten ein Cookie-Schokoladencreme-Eis nach
dem anderen.

In diesem Sommer war viel geschehen. Zu viel, um es einfach zu ver-

gessen und beiseitezuschieben. Doch das wollten sie auch gar nicht.
Neben all den schlechten Dingen, war auch viel Schönes geschehen. Sie
hatten nicht nur eine neue Welt entdeckt, die noch viele Geheimnisse
und Abenteuer bereithielt, sondern waren jetzt fest zusammen. Mats
konnte es immer noch nicht ganz glauben, dass ein so cooles Mädchen
wie Lucy sich für ihn entschieden hatte. Das war einfach nur irre!

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»Die Leiter ist gleich dort vorne«, sagte Mats und rieb den Staub, der

an seinen Fingern klebte, an seiner Jeans ab. Sie waren auf dem Dach-
boden des Greifenhall. Einem Ort, wo Mats schon seit Jahren nicht mehr
gewesen war. Aber vergangene Woche hatte seine Mutter ihn gebeten,
mit ihr den ganzen alten Krempel, der zum Teil schon seit Jahrzehnten
hier oben lagerte, einmal durchzuschauen. Ein paar Suiten sollten renov-
iert werden und darum wurde Platz benötigt, um einen ganzen Berg Mö-
bel einzulagern.

»Der Dachboden ist ganz schön riesig«, meinte Lucy staunend, die

Mats' Hand hielt, während sie sich neugierig umblickte.

»Deshalb wollten meine Eltern früher auch nicht, dass ich alleine hier

hochgehe. Zwischen all den Kisten, Truhen und anderem Plunder kann
man sich leicht verlaufen.«

»Für meinen Paps wäre es wie Weihnachten, wenn er sich hier einmal

umschauen dürfte.« Sie warf einen Blick über die Schulter.

»Was ist?«, fragte Mats.
»Nichts.« Lucy lächelte verlegen. »Manchmal kann ich nur noch nicht

glauben, dass es wirklich vorbei sein soll.«

Es klang fast ein wenig wehmütig, fand Mats. »Hier oben ist ganz

sicher niemand außer uns und diesem ganzen Muff, der irgendwie nach
Käsefüßen stinkt.« Er verzog das Gesicht. »Was schon ein bisschen
merkwürdig ist. Aber egal. Jedenfalls hätten Mum und Dad bestimmt
nichts dagegen, wenn dein Vater sich hier mal umsehen will.«

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Er führte Lucy um ein paar von Staub und Spinnweben überzogene

Schränke herum und blieb vor einer Holzleiter stehen.

»Wo führt die hin?«
Mats grinste und griff nach der Sprosse direkt vor ihm. Das Holz

fühlte sich trocken und spröde an. Aber es würde schon halten. Das hatte
es beim letzten Mal auch. »Du wirst sehen«, sagte er und fügte dann hin-
zu, weil es so schön geheimnisvoll klang: »Selbst meine Mum konnte
sich nicht dran erinnern, die Leiter schon einmal gesehen zu haben.«

Sie kletterten hinauf zu einer Dachluke, die ein wenig klemmte,

weswegen Mats ganz schön ins Schwitzen geriet. In Momenten wie
diesen vermisste er seine Kräfte als Bezwinger der Dämonen.

»Wow, ziemlich windig«, meinte Lucy, als sie hinter Mats aus der

Luke kletterte. Sie standen jetzt auf einer kleinen Dachterrasse, die zwis-
chen zwei Kaminen eingelassen war. »Aber die Aussicht ist
phänomenal!«

Hand in Hand standen sie auf dem Dach des Greifenhall und blickten

hinaus auf Berlin, das im tiefen Orangerot des Sonnenuntergangs er-
strahlte. Mats fand, dass es in diesem Augenblick selbst wie eine fremde
Welt aussah, die nur darauf wartete, erkundet zu werden.

Lucy lehnte seufzend den Kopf an seine Schulter. Anscheinend

dachte sie gerade genau dasselbe.

Nur gut, dass sie die Stadt vor den Apokalyptischen Reitern hatten

retten können, sagte sich Mats. Krieg und Hunger waren zwar immer
noch auf der Flucht. Aber Tod hatten Mr Myrddin und Hel schon wieder

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in seine Zelle in die Unterwelt verbannt. Bis die anderen beiden ihm
nachfolgen würden, konnte es nicht mehr lange dauern. Auch Farid war
mittlerweile wieder wohlauf und machte mit seinem Taxi die Straßen
der Stadt unsicher, und Tic war in die Leuchtenden Haine zurück-
gekehrt, wo er von seiner Familie bereits sehnsüchtig erwartet wurde.
Mats und Lucy hatten versprochen, ihn in Kürze zu besuchen. Vielleicht
lernten sie sogar die Königin der grünen Lande kennen. Die mysteriöse
Herrin aller Feen.

»Wie geht es jetzt weiter?«, fragte Lucy.
»Keine Ahnung.« Mats zuckte die Achseln. »Ich hoffe jedoch, dass

bald wieder etwas passieren wird.«

»Du kriegst auch nie den Hals voll, was? Aber sag mal, hast du ei-

gentlich immer noch die Erdgnomenmäntel?«

»Klar.«
Ein Grinsen stahl sich auf Lucys Gesicht. »Und warum sind wir dann

immer noch hier?«

Als Mats und Lucy kurz darauf das Greifenhall verließen, wartete

Farid bereits vor dem Hotel auf sie. »Schön, euch zu sehen, Leute«, be-
grüßte er die beiden, bevor er das Gaspedal durchtrat. Sie schossen
hinaus in den Abendverkehr, begleitet von einem wütenden Hupkonzert.
Mats lächelte. Mal schauen, wie lange es dauerte, bis Farid einfiel, zu
fragen, wohin sie überhaupt wollten. Aber wahrscheinlich hatte der Gest-
ank der Erdgnomenmäntel sie längst verraten.

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Der 13. Engel

Namira - Das Geheimnis der Katzenmenschen Scary
City - Das Buch der Schattenflüche Scary City - Der
Wächter des Goldenen Schlüssels

Abgerechnet
Heißkalt
Rosentod
Stumme Schatten
Unsichtbare Augen
Totgeschwiegen
Die Schlangenbrut
Ihr mich auch
Nox - Das Erbe der Nacht

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Scary City - Der Bezwinger der Dämonen ISBN 978 3 552 18264 5

Gesamtausstattung: Maximilian Meinzold
Innentypografie: Eva Mokhlis
Schrift: Myriad Pro/Fairydust
Satz: KCS GmbH, Buchholz/Hamburg
Reproduktion: Medienfabrik, Stuttgart
Druck und Bindung: Friedrich Pustet, Regensburg
© 2012 by Thienemann Verlag (Thienemann Verlag GmbH), Stut-
tgart/Wien Alle Rechte Vorbehalten. Printed in Germany.

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