Ob in den Clubzimmern der Herren oder den Salons der Damen – seit man
Lesley Hammond, Viscount Hartleigh, auf sonntäglichen Spaziergängen im Park
begegnet, hat die Londoner Gesellschaft nur ein Thema: Wie steht er zu der
honigblonden Frau an seiner Seite, und was um alles in der Welt ist geschehen,
dass der begehrte Junggeselle, Nachtschwärmer und Herzensbrecher plötzlich
Familienidylle mit zwei Kindern präsentiert? Bezüglich der Herkunft der Kinder
und der hübschen Carissa Kane könnte der Lord natürlich umfassend Auskunft
geben. Aber warum sein Herz so heftig pocht, seit sein unehelicher Spross und
mit ihm das Kindermädchen Carissa in seinem Haus leben, weiß der Lord selbst
noch nicht genau. Nur dass das Sehnen jeden Tag stärker wird, spürt er ganz
genau …
Barbara Metzger
Lord Herzlos
Roman
Aus dem englischen von Maria Fuks
Die englische Originalausgabe erschien 1998 unter dem Titel Lord Heartless bei Fawcett Crest, New York
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Copyright der Originalausgabe © 1998 by Barbara Metzger
Genehmigte Lizenzausgabe © 2014 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Published by arrangement with Barbara Metzger
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.
© der deutschen Übersetzung Harlequin Enterprises GmbH, Hamburg, 2002
Übersetzung: Maria Fuks, (LORD HEARTLESS)
Covergestaltung: Atelier Seidel – Verlagsgrafik, Teising
Titelmotiv: © RomanceNovelCovers
E-Book-Produktion: Datagroup int. SRL, Timisoara
ISBN 978-3-95569-347-3
1. KAPITEL
Lesley Hammond, Viscount Hartleigh, verabscheute seine Stiefmutter und ihre
Verwandten ebenso wie deren falsche Vornehmheit. Deshalb hatte er sich vor
einiger Zeit in Londons Stadtteil Kensington ein schmales, aus roten
Ziegelsteinen erbautes Haus gekauft. Seitdem hatte er sein Stadtpalais am
Grosvenor Square nur noch selten betreten. Er zog das Leben in Kensington bei
weitem vor.
Jetzt allerdings, nachdem er reichlich unsicher auf den Beinen aus einer
Mietdroschke geklettert war, betrachtete er das einfache Haus mit gerunzelter
Stirn. Kopfschmerzen plagten ihn, sein Magen drohte zu revoltieren, und ihm
war vage bewusst, dass er durchdringend nach Zigarrenrauch, Alkohol und
Parfüm roch. Er hatte eine ereignisreiche, lange Nacht hinter sich, in der er sich
wahrscheinlich gut amüsiert hatte. An Einzelheiten konnte er sich jedoch nicht
erinnern. Dazu war er viel zu betrunken und erschöpft.
Schwankend setzte er sich in Bewegung. Das Grundstück vor seinem Haus
war kaum größer als ein Handtuch. Trotzdem schien es Seiner Lordschaft, als
müsse er eine große Fläche überqueren, ehe er den Eingang erreichte. Und
dann galt es auch noch, sieben Stufen hinaufzusteigen.
Stufen, bei Zeus! Ein schier unüberwindliches Hindernis! Nun, wenigstens
war diese Treppe nicht so lang und beeindruckend geschwungen wie die von
Hammond House am Grosvenor Square. Irgendwie würde er es schaffen, ins
Haus zu kommen.
Viscount Hartleigh stieß das Gartentor auf, machte einen Schritt nach vorn –
und fiel der Länge nach in ein frisch gegrabenes Loch. Als er mit der Stirn
gegen die unterste Treppenstufe schlug, murmelte er: „Ich werde diesen Hund
umbringen.“ Dann schloss er die Augen.
Eine Weile blieb er reglos liegen, obwohl er keineswegs das Bewusstsein
verloren hatte. Sein Gehirn schien sogar plötzlich wieder viel besser zu
arbeiten. Mit großer Klarheit erkannte er, dass es an der Zeit war, sein Leben zu
ändern. Er musste seine Stiefmutter und deren unerträgliche Halbschwestern
aus seinem Stadtpalais werfen, sich eine passende Gattin suchen und endlich
die ihm zustehende Stellung innerhalb der Londoner Gesellschaft einnehmen.
Vorher allerdings musste er dringend etwas schlafen ...
Hier allerdings durfte er das keinesfalls tun! Er zwang sich, die Augen zu
öffnen. Undenkbar, dass er sich in Kensington zum Gespött der Nachbarn
machte! Diese waren schon schockiert genug über seinen Lebensstil.
Misstrauisch beobachteten sie sein Kommen und Gehen, und seinen Gästen
brachten sie im Allgemeinen deutliche Ablehnung entgegen. Lord Hartleigh
konnte sich problemlos ausmalen, wie sie reagieren würden, wenn sie
entdeckten, dass er schnarchend im Vorgarten lag. Die Applegate-Schwestern,
zwei ehemalige Lehrerinnen, die im Nebenhaus wohnten, würden sehr
wahrscheinlich in Ohmacht fallen – allerdings erst, nachdem sie mit schrillen
Schreien eine Reihe anderer Leute herbeigerufen hatten.
Mit jener Unnachgiebigkeit, die ihn zu einem geachteten Sportsmann, einem
gefürchteten Spieler und einem berüchtigten Frauenhelden gemacht hatte,
kroch der Viscount die Stufen hinauf und zog sich mühsam an der Tür hoch.
Nach mehreren vergeblichen Versuchen gelang es ihm sogar, den Schlüssel ins
Schloss zu stecken. Gleich darauf stolperte er in die kleine, unbeleuchtete
Eingangshalle.
Sein Schlafzimmer befand sich im ersten Stock. Dort erwartete ihn ein
großes, bequemes Bett. Aber wer, bei allen Göttern, brauchte schon ein Bett?
Das Sofa im Arbeitszimmer würde den gleichen Zweck erfüllen. Es war sogar
bedeutend bequemer als die Koje, in der er geschlafen hatte, wenn er im
Dienste des Vaterlandes mit seinem kleinen Segelschiff auf dem Ärmelkanal
unterwegs gewesen war.
Also machte Lord Hartleigh sich im Dunkeln auf den Weg zum Arbeitszimmer.
Aufatmend betrat er schließlich den kleinen Raum im Erdgeschoss. Zwei
Schritte noch – dann stolperte er über den großen Hund, der sich auf dem
Teppich ausgestreckt hatte. Zum Glück fiel der Viscount direkt aufs Sofa.
„Sobald ich mich wieder besser fühle, werde ich diesen Hund umbringen“,
schwor er sich erneut.
Gleich darauf erfüllte sein Schnarchen den Raum.
Lord Hartleigh erwachte bedeutend früher, als er erwartet hatte. Zuerst wurde
er durch das Klappern von Porzellan gestört, dann hörte er, wie jemand die
Vorhänge vor den Fenstern zurückzog. Licht drang – trotz der noch immer
geschlossenen Lider – an seine rot geäderten Augen, und er stöhnte unwillig
auf. Nicht einmal der angenehme Kaffeeduft, der sich jetzt ausbreitete, konnte
ihn bewegen, sich aufzurichten.
Dann allerdings wurde er unsanft bei der Schulter gepackt. „Verflucht, Byrd“,
murmelte er, „ich kann nur für dich hoffen, dass es einen guten Grund gibt,
mich zu wecken. Steht das Haus in Flammen, oder was?“
Byrd, der langjährige Kammerdiener, Butler und Vertraute des Viscount,
holte tief Luft. Er war als Matrose auf Lesley Hammonds kleinem Schiff gefahren
und wusste, dass es nicht ratsam war, ihn um den Schlaf zu bringen. Heute aber
musste es sein.
„Es ist schlimmer als ein Feuer, Captain“, sagte er. „Sie müssen aufstehen!
Ich habe Ihnen Kaffee gekocht.“
„Kaffee wird kaum helfen. Hol lieber eine Pistole und mach meinem Elend ein
Ende.“ Stöhnend drehte der Viscount sich auf die andere Seite.
„Bei Neptun“, gab Byrd erregt zurück. „jetzt ist nicht die Zeit für dumme
Scherze!“ Entschlossen beugte er sich nach vorn und zog seinen Herrn mit
einem Ruck hoch. Nachdem er ihn in eine einigermaßen bequeme Position
gebracht hatte – in sich zusammengesunken saß Lord Hartleigh nun in einer
Ecke des Sofas –, fuhr er fort: „Die Sache kann unmöglich warten!“
Vorsichtig öffnete der Viscount zuerst das eine und dann auch das andere
Auge. Wortlos starrte er seinen Diener an. Der Mann war groß und kräftig.
Früher einmal mochte er sich seinen Lebensunterhalt als Preisboxer verdient
haben oder vielleicht auch als Pirat. So genau wollte Hartleigh das lieber gar
nicht wissen. Er war zufrieden damit, einen in vielen Bereichen außerordentlich
nützlichen Bediensteten zu haben.
„Was ist los?“ fragte er mit einem resignierten Seufzer. „Sind die Franzosen
in Kensington eingefallen?“
„Unsinn! Mit den Franzosen wäre ich auch allein fertig geworden. Captain, wir
haben ein echtes Problem! Ich weiß wirklich nicht, was ich tun soll.“ Byrd
zuckte die Schultern und verzog sein breites Gesicht zu einer Grimasse. „Heute
Morgen ist ein Paket abgegeben worden.“
„Ein Paket?“ wiederholte der Viscount ungläubig. „Du hast mich wegen eines
Pakets geweckt? Mann, ich habe einen Kater! Ich will schlafen.“ Die letzten
Worte hätte er gern geschrien, aber mehr als ein heiseres Krächzen brachte er
nicht heraus. Also griff er zunächst einmal mit zitternden Fingern nach der
Kaffeetasse, die sein Diener ihm hinhielt.
„Es ist kein gewöhnliches Paket.“ Byrd schaute kurz zum Kamin, vor dem ein
großer Korb stand. „Dieser Brief war auch dabei.“
Zögernd griff Lesley Hammond, Viscount Hartleigh, nach dem
zusammengefalteten Schreiben. Das Papier war von guter Qualität, wie er
sogleich bemerkte. Dann entdeckte er seinen Namen. In großen Buchstaben
war er quer über die Vorderseite geschrieben. Kein Zweifel, er kannte die
Schrift. Jetzt nahm er auch das Parfüm wahr. Dass ein Absender fehlte,
wunderte ihn nicht. Er wusste auch so, von wem der Brief war.
„Ah, eine Nachricht von Prinzessin Fredericka. Byrd, finde bitte für mich
heraus, wo die Dame sich aufhält. Ich werde mich später mit ihr in Verbindung
setzen. Viel später ...“
„Wollen Sie den Brief etwa nicht lesen?“ Panik schwang in der Stimme des
Bediensteten.
„Warum sollte ich?“ Seine Lordschaft schloss die Augen. „Ich kenne die
Wünsche und Vorlieben der Prinzessin. Im Moment allerdings fühle ich mich
nicht in der Lage, ihr zu Diensten zu sein. Sie wird warten müssen.“
„Warten? Unmöglich! Wir dürfen keine Zeit verlieren!“ Byrd hörte sich jetzt
geradezu verzweifelt an. „Bitte, Captain, lesen Sie den Brief!“
„Also gut.“ Er brach das Siegel, faltete das Blatt auseinander und las laut vor:
„Lesley, mein Schatz, hier ein Andenken an die Zeit, die wir gemeinsam in Wien
verbracht haben. Adieu.“ Eine Unterschrift fehlte, was ihn allerdings nicht
weiter erstaunte. Achtlos ließ er das Schreiben fallen. „Sie schickt mir ein
Geschenk. Kein Grund zur Beunruhigung also. Und nun möchte ich
weiterschlafen.“
Wenn er geglaubt hatte, sein Diener würde sich nun zurückziehen, so hatte
er sich getäuscht. Händeringend eilte der große Mann zu dem Korb, hob ihn auf
und stellte ihn auf dem Schoß seines Arbeitgebers ab.
„Bei Zeus, mein Magen ...“ Das Gesicht des Viscount hatte einen grünlichen
Ton angenommen, und ein unterdrücktes Würgen war zu hören.
Byrd riss den Korb wieder an sich. „Bitte, Euer Lordschaft“, flehte er
gleichzeitig, „schauen Sie sich das Geschenk wenigstens an. Sofort!“
Es war die Anrede, die Lord Hartleigh dazu bewegte, nachzugeben. Byrd
sprach selten zu ihm wie ein Diener zu seinem Herrn. Wenn er es aber tat, dann
war die Sache ernst.
„Also gut, stell den Korb neben mich aufs Sofa und nimm den Deckel ab.“
Sichtlich erleichtert, gehorchte Byrd, und der Viscount beugte sich ein wenig
nach vorn, um besser sehen zu können. Es gab jedoch nichts Interessantes oder
gar Alarmierendes zu entdecken. Der Korb war mit Decken gefüllt.
„Hast du Angst, dass eine Schlange im Korb versteckt ist? Keine Sorge, so
etwas würde die Prinzessin nie tun. Sie war mit mir und meinen Diensten sehr
zufrieden.“ Lord Hartleigh zwang sich zu einem Lächeln und wartete vergeblich
darauf, dass Byrd es erwiderte.
Nun, wahrscheinlich hatte dieser die Fähigkeit zu lächeln schon vor Jahren
zusammen mit seinen Vorderzähnen verloren ...
Lesley Hammond zuckte die Schultern und zog die oberste Decke beiseite.
Dann wurde er noch blasser, als er ohnehin schon war. „Himmel und Hölle – ein
Baby!“
„Na endlich ...“, murmelte Byrd.
Sein Herr hatte unterdessen mit großen Schlucken die Kaffeetasse geleert.
„Mehr!“ forderte er. In Zeiten wie dieser musste ein Mann hellwach sein! „Bei
Jupiter, sie schickt mir ein Baby ...“
„Ihr Baby“, korrigierte Byrd. „Was wollen Sie mit dem Säugling machen?“
Lord Hartleigh runzelte angestrengt die Stirn, denn nach einer Nacht wie der
vergangenen war es nicht leicht, klar zu denken und Berechnungen
anzustellen. „Glaubst du, er könnte ungefähr drei Monate alt sein?“ fragte er
schließlich seinen Diener.
„Keine Ahnung. Woher soll ich wissen, wie alt der Dreikäsehoch ist? Ich weiß
aber etwas viel Wichtigeres: Das Findelhaus befindet sich in der Straße auf der
anderen Seite des großen Platzes. Soll ich das Kind gleich hinbringen?“
Der Viscount starrte das Baby an. Es hatte rosige Wangen, fein geformte
Lippen und auf dem Kopf etwas blonden Flaum. Den konnte es durchaus von
ihm geerbt haben. Ja, es war wirklich möglich, dass er der Vater des Säuglings
war – auch wenn die Prinzessin vor und nach ihm andere Liebhaber gehabt
hatte. Nachdenklich berührte er die Wange des Kindes mit der Fingerspitze,
woraufhin dessen Augenlider zuckten und sich schließlich hoben. Lord
Hartleigh schaute in ein Paar große Augen, deren himmelblaue Iris von einem
dunklen Ring umgeben war. Genau wie seine eigenen ...
„Mein Sohn ...“
Das Baby gähnte und schloss die Augen dann wieder. Offenbar war es von
dem, was es sah, weit weniger beeindruckt als der Viscount.
„Ich habe einen Sohn ...“, wiederholte dieser staunend.
„Woher wollen Sie das wissen?“
„Hast du seine Augen nicht bemerkt? Es kann keinen Zweifel daran geben,
dass ich der Vater bin.“
„Das stimmt. Die Prinzessin wird sich kaum verrechnet haben. Aber woher
wissen Sie, dass es ein Junge ist?“
„Ich weiß es eben. Trotzdem könntest du natürlich nachschauen.“
Byrd trat eilig einen Schritt zurück. „Ich? Niemals! Sie haben sich mit der
Prinzessin vergnügt, nicht ich. Und ich bin auch nicht als Amme angestellt.
Deshalb wäre es am klügsten, den Kleinen so schnell wie möglich ins
Waisenhaus zu bringen.“
Sein Sohn sollte im Findelhaus aufwachsen? „Ich glaube, diese Heime sind
ziemlich ungesund für kleine Kinder. Bestimmt wäre es besser, eine
Pflegefamilie für ihn zu finden. Ja, das wird der Grund sein, warum Fredericka
ihn mir geschickt hat. Ich soll ihm ein gutes Zuhause suchen.“
„Wahrscheinlich, sie wird nämlich kaum gedacht haben, dass Sie selber
einen fürsorglichen Vater abgeben“, spottete Byrd, was ihm einen bösen Blick
von seinem Herrn eintrug. Also setzte er rasch hinzu: „Am einfachsten ist es,
ihn jetzt gleich ins Findelhaus zu geben.“
An einen Ort, wo Waisen und die unerwünschten Kinder von Huren
aufwuchsen, wo man ihnen weder Zuneigung noch Bildung zuteil werden ließ
und wo Schornsteinfeger, Fabrikbesitzer und Bordellmütter erschienen, um
gegen ein geringes Entgelt Mädchen und Jungen als Arbeiter und Schlimmeres
zu erwerben? „Nein, das ist nicht das Richtige für meinen Sohn!“
Byrd stieß einen Fluch aus. „Noch ist doch gar nicht klar, ob es ein Sohn oder
eine Tochter ist! Und wenn das Baby hier bleibt – so viel steht fest –, dann gehe
ich!“
„Du kannst mich doch nicht im Stich lassen, nicht gerade jetzt!“ Der Viscount
warf seinem Bediensteten einen flehenden Blick zu. Dann zog er die nächste
kleine Decke beiseite. Das Kind trug ein Babyhemdchen und wollene Söckchen.
„Sieh nur“, rief er aus, „was für winzige Füße es hat!“
„Finden Sie lieber heraus, was sonst noch an ihm dran ist.“
Lord Hartleigh hob das Hemdchen an – und wurde erneut grün im Gesicht.
Byrd hielt sich die Nase zu, und der Hund, der sich bisher nicht gerührt hatte,
verließ den Raum.
„Mein Freund“, stellte der Viscount mit erstickter Stimme fest, „wir haben ein
Problem.“
Rückwärts gehend näherte sich Byrd der Tür.
„Wir brauchen Hilfe.“
„Wir?“ Der Bedienstete schüttelte den Kopf. „Das ist Ihr Kind, Captain.“
„Still! Ich muss nachdenken.“
„Da gibt es nichts nachzudenken! Der Säugling muss ins Findelhaus. Das
wird ihn nicht umbringen! Haben Sie vergessen, dass die Hälfte Ihrer Matrosen
Findelkinder waren?“
Lord Hartleigh runzelte die Stirn. Wollte er, dass sein Sohn zu einem Mann
heranwuchs, der jenen wilden Gesellen glich, die unter seinem Kommando so
oft den Ärmelkanal überquert hatten? Nein! Auch wenn es für ein illegitimes
Kind unmöglich war, den Titel seines Vaters zu erben, so würde der Junge doch
ein geachteter Anwalt, Offizier oder Gelehrter werden können.
„Wir müssen den Säugling loswerden, ehe er zu schreien anfängt“,
verkündete Byrd energisch.
Zärtlich betrachtete der Viscount das schlafende Kind. Wie perfekt geformt
seine Ohren waren! Wahrhaftig, es war zweifellos das wundervollste Baby auf
der ganzen Welt. Und er – er allein! – war für dieses Menschlein verantwortlich.
Gleich würde der Kleine aufwachen, er würde hungrig sein, er musste gefüttert
werden. Außerdem war da noch das Problem mit den vollen Windeln. Bei allen
Göttern, eine Frau musste her!
„Gleich wird es anfangen zu brüllen“, stellte Byrd fest.
Tatsächlich begann das Kind, sich zu regen und leise wimmernde Laute von
sich zu geben.
„Himmel“, brach es aus Lord Hartleigh heraus, „gib mir noch etwas Kaffee.
Das ganze Leben dieses kleinen Burschen hängt von meiner Entscheidung ab.
Da sollte ich wenigstens einigermaßen nüchtern sein.“
Byrd goss ein und reichte seinem Herrn die Tasse.
„Frauen wissen, wie man mit Babys umgeht“, erklärte der Viscount.
Sein Diener verdrehte die Augen. „Denken Sie etwa an Lady Agatha?“
Lady Agatha Hartleigh war die Stiefmutter des Viscount, eine Dame, die sich
– selbst nach Meinung jener, die ihr wohlgesinnt waren – nur für Mode, Geld,
Klatsch und ihr eigenes gesellschaftliches Ansehen interessierte.
„Unsinn!“ rief Seine Lordschaft daher wie erwartet aus, „Niemand könnte
weniger mütterlich veranlagt sein als sie.“
„Dann sollten Sie vielleicht die Gattin eines Ihrer Freunde fragen. Sie haben
doch verheiratete Freunde?“
„Ja, einige von ihnen sind sogar schon Vater. Aber keiner würde sich den
Unmut seiner Gattin zuziehen wollen, indem er sie bäte, einen Bastard in den
Schoß der Familie aufzunehmen. Die meisten Damen würden schon bei der
Vorstellung, ein solches Kind zu berühren, in Ohnmacht fallen.“
Byrd grinste.
Seine gute Laune verflog allerdings, als der Viscount fortfuhr: „Das bringt
mich auf eine Idee: Wenn ich meinen Sohn hier behalte, wird man mich endlich
in Ruhe lassen. Agatha wird mich nicht mehr bedrängen, eine ihrer
Halbschwestern zu heiraten. Ehrgeizige Mütter werden ihre Töchter vor mir
warnen, und die jungen Damen werden einen großen Bogen um mich machen.
Wie herrlich!“
„Herrlich?“ Byrd schüttelte heftig den Kopf. „Ein Baby im Haus zu haben ist
alles andere als herrlich!“
„Es muss ja nicht für lange sein. Ein paar Wochen würden reichen, damit
mich niemand mehr für einen geeigneten Heiratskandidaten hält. Man wird sich
von mir abwenden!“
Sein Diener hatte sich bereits abgewandt. „Ich kündige.“
Ohne ihn zu beachten, fuhr Lord Hartleigh fort: „Ich werde also meinen
Anwalt beauftragen, nach einer geeigneten Pflegefamilie für den Kleinen zu
suchen. Natürlich werde ich die Pflegeeltern angemessen für ihre Bemühungen
entschädigen. Ich denke, es wäre nicht schlecht, wenn mein Sohn auf dem
Lande aufwachsen würde. Bald schon werde ich ihn dorthin bringen können.“
„Und wer kümmert sich bis dahin um den Dreikäsehoch? Wollen Sie ihm etwa
selber die Flasche geben und seine Windeln wechseln?“
„Natürlich nicht! Ich werde eine Amme einstellen. Rasch, Byrd, hol mir die
Zeitung!“
Gehorsam verschwand der Bedienstete. Doch kaum hatte er die Tür hinter
sich geschlossen, als das Baby hungrig, mit vollen Windeln und laut weinend
die Augen aufschlug. Es hatte eine für seine Größe erstaunlich kräftige Stimme.
Vor Schreck verschüttete der Viscount seinen heißen Kaffee.
„Byrd!“
Dieser streckte den Kopf zur Tür herein.
„Wo ist dieses Findelhaus?“
Byrd ließ die Zeitung achtlos fallen. „Ich hole sofort die Kutsche!“
„Nein, hol lieber Milch.“
„Milch? Sie trinken Ihren Kaffee doch sonst immer schwarz.“
„Dummkopf! Die Milch ist nicht für mich, sie ist für den Jungen!“
„Aber ...“
„Nun mach schon. Um diese Zeit findest du draußen auf der Straße immer
ein Mädchen, das frische Milch verkauft. Was meinst du, kann der Kleine aus
einer Tasse trinken?“
„Keine Ahnung. Ich hatte noch nie etwas mit Babys zu schaffen. Soweit ich
mich erinnern kann, war ich auch selber nie eins.“
Der Viscount warf ihm einen bösen Blick zu und schaute dann ratlos auf das
immer lauter brüllende Kind.
„Können Sie den Schreihals nicht zum Schweigen bringen?“ meinte Byrd.
„Wahrscheinlich vermisst er seine Mama.“
„Unsinn. Ich bin sicher, dass er die Prinzessin zum letzten und einzigen Mal
direkt nach seiner Geburt gesehen hat.“
„Dann möchte er vielleicht einfach auf den Arm genommen werden.“ Damit
verließ der Diener den Raum, um sich auf die Suche nach einem Milchmädchen
zu machen.
Lord Hartleigh wiederum musterte das Baby nachdenklich. Es war nass. Und
es roch im Moment wirklich überhaupt nicht gut. Er verspürte wenig Lust, es auf
den Arm zu nehmen. Irgendetwas allerdings musste er tun!
Als Byrd einige Zeit später zurückkam, konnte er zu seiner Erleichterung
feststellen, dass das Kind aufgehört hatte zu schreien. Der Viscount war damit
beschäftigt, seinen Zeigefinger abwechselnd in ein Glas mit Brandy und in den
Mund des Babys zu stecken. Ab und zu nahm er selber einen kräftigen Schluck
aus dem Glas. „Es ist gar nicht so schwierig“, verkündete er. „Gieß die Milch in
eine Tasse, dann kann ich weitermachen.“
Doch die Methode bewährte sich nicht. Von einem Finger ließ sich einfach
nicht genug Milch ablecken. Byrd schlug vor, einen Teelöffel zu nehmen. Später
wurde ein Schwamm herbeigeholt. Bald war die Kleidung aller Anwesenden
voller Milchflecken. Auch der Fußboden war voller Milch, was schließlich den
Hund ins Zimmer zurücklockte. Genüsslich schleckte er die Flüssigkeit auf. Er
war sehr zufrieden. Das Kind hingegen begann, wieder zu weinen.
„Wir brauchen Hilfe“, stellte der Viscount zum zweiten Mal an diesem Morgen
fest. „Himmel, es muss doch eine Frau in meinem Bekanntenkreis geben, die
sich mit Babys auskennt, bereit wäre, uns zu unterstützen, und die nicht zu weit
entfernt wohnt. Wir brauchen nämlich sehr schnell Hilfe!“
Als Erstes fiel ihm eine kinderreiche Familie in der Parallelstraße ein. Nur,
dass der Viscount weder die lauten, schmutzigen Kinder mochte noch ihren
meistens betrunkenen Vater oder die Mutter, die ständig zu schimpfen schien.
Nein, sie war gewiss nicht geeignet, sich um seinen Sohn zu kümmern.
Er wandte seine Gedanken den direkten Nachbarn zu. Die Applegate-
Schwestern hatten als ehemalige Lehrerinnen zwar Erfahrung mit Kindern, aber
sie würden sich seiner bestimmt nicht erbarmen. Das Ehepaar, das auf der
anderen Seite wohnte, war kinderlos. Die Leute im nächsten Haus hatten zwar
zwei Töchter, doch schienen diese ständig krank zu sein, was auch nicht gerade
für ihre elterlichen Fähigkeiten sprach.
Es blieb also nur Sir Gilliams Haushälterin, eine unauffällige Witwe.
Lord Hartleigh seufzte tief auf. Die Frau war ein Tugendbold. Sie trug stets
Schwarz und verbarg ihr Haar unter einer unförmigen Haube. Außerdem waren
ihre Lippen meist missbilligend zusammengepresst, und sie hielt sich so
gerade, als habe sie einen Besenstiel verschluckt. Manchmal wechselte sie die
Straßenseite, wenn sie den Viscount auf sich zukommen sah. Wahrscheinlich
fürchtete sie, sein schlechter Ruf könne auf sie abfärben, wenn sie in seine
Nähe kam.
Ein neuer Seufzer erschütterte ihn. Er musste sich eingestehen, dass die
Haushälterin allen Grund hatte, ihn zu verabscheuen. Einmal hatte sie
beobachtet, wie er mit einer Halbweltdame, die er in ziemlich betrunkenem
Zustand zu sich eingeladen hatte, aus der Kutsche stieg. Ein anderes Mal, als er
ihr begegnete, hatte er infolge seines letzten Abenteuers einen Frauenstrumpf
statt eines Krawattentuchs um den Hals geschlungen. Und vor kurzem ...
Nein, daran wollte er sich jetzt nicht erinnern! Sonst würde er niemals den
Mut aufbringen, sie um Hilfe zu bitten. Und genau das musste er tun. Denn Mrs.
Kane – so hieß die Witwe – hatte eine Tochter, ein stilles kleines Mädchen, das
stets ernst dreinblickte, aber keineswegs unglücklich, ungepflegt oder gar
krank wirkte.
Der Viscount wandte sich seinem Bediensteten zu. „Du wirst mit Mrs. Kane
sprechen müssen, denn mich wird sie wahrscheinlich gar nicht erst anhören.
Wie du weißt, verabscheut sie mich. Doch im Moment ist sie leider die Einzige,
die uns helfen kann.“
„Diese Frau jagt mir kalte Schauer über den Rücken. Ich denke gar nicht
daran, zu ihr zu gehen.“
Nicht zum ersten Mal bedauerte Lord Hartleigh, dass er Byrd nicht von
Anfang an in seine Schranken verwiesen hatte. Ein Dienstbote sollte nicht so zu
seinem Herrn sprechen dürfen! Andererseits war Byrd viel mehr für ihn als ein
Bediensteter ...
„Dann muss ich wohl selber gehen“, murmelte er. Er wusste, dass er nach der
durchzechten Nacht keinen vertrauenerweckenden Anblick bot. Seine Kleidung
war zerknittert, und er war nicht einmal rasiert. Aber die Zeit drängte. „Du
bleibst bei dem Baby, während ich mit Mrs. Kane rede“, erklärte der Viscount.
„Für solche Arbeiten bin ich nicht zuständig“, rief Byrd ihm nach. „Außerdem
zahlen Sie mir zu wenig.“
„Ich werde deinen Lohn verdoppeln“, gab Lord Hartleigh zurück. Dann war er
zur Tür hinaus.
Wenig später standen beide Männer vor Sir Gilliams Haus. Byrd hatte es
vorgezogen, nicht allein mit dem Baby zu bleiben. Also hatte er sich den Korb
geschnappt und war dem Viscount nachgeeilt.
Dieser betätigte gerade den auf Hochglanz polierten Türklopfer. Schon oft
war ihm aufgefallen, dass Sir Gilliams Haus und Garten stets einen überaus
gepflegten Eindruck machten. Mrs. Kane musste eine wirklich gute
Haushälterin sein. Bestimmt war sie längst auf und sorgte, von den anderen
Dienstboten unterstützt, für Ordnung und Sauberkeit. Warum also öffnete
niemand? Lord Hartleigh klopfte erneut.
Endlich erschien der Butler. Er war klein, hatte durchdringende Augen und
eine spitze Nase. Zu seiner Livree trug er fleckenlose weiße Handschuhe und –
zur Verwunderung des Viscount – eine gepuderte Perücke.
Er sieht aus wie ein unzufriedenes Wiesel, dachte Lord Hartleigh. Dann wurde
die Tür wieder zugeschlagen.
„Verflucht!“ entfuhr es Byrd. „Aber ich habe ja gleich gesagt, wir sollten den
Dienstboteneingang nehmen.“
„Ich bin kein Dienstbote“, stellte Lord Hartleigh fest. Dann hob er die Hand,
ballte sie zur Faust und schlug mit dieser heftig gegen die Tür. Da er ein
kräftiger, gut trainierter Mann war, brachte er so einen Ton zu Stande, der im
ganzen Haus zu hören sein musste.
Sir Gilliams Butler riss die Tür auf, und ehe er etwas tun oder sagen konnte,
hatte der Viscount ihn schon beiseite geschoben. „Ich bin Lord Hartleigh“,
erklärte er, „und möchte mit Mrs. Kane sprechen.“
Das Wiesel kniff die Lippen zusammen und schwieg. Dann allerdings
entschied es sich, doch zu antworten. „Mrs. Kane gehört zum Personal dieses
Hauses und empfängt daher keine männlichen Besucher.“
Byrd, der sich bisher im Hintergrund gehalten hatte, trat unerwartet auf den
Butler zu, baute sich vor ihm auf und meinte in drohendem Ton: „Dies ist kein
Höflichkeitsbesuch. Deshalb wäre es klüger, wenn Sie die Frau holen würden.“
„Wenn es um etwas Geschäftliches geht“, gab der Butler kühl zurück, „dann
melden Sie sich doch bitte am Dienstboteneingang.“
Für dieses unverschämte Benehmen, sagte sich Lord Hartleigh, konnte es nur
eine Erklärung geben: Sein Aussehen an diesem Vormittag war alles andere als
vornehm. Zudem war ihm sein schlechter Ruf wahrscheinlich vorausgeeilt. Ein
unangenehmer Duft tat es auf jeden Fall ...
Seine Lordschaft straffte die Schultern. Im Allgemeinen erwartete er kein
allzu großes Entgegenkommen von seinen Mitmenschen. Insbesondere legte er
keinen übertriebenen Wert auf bestimmte gesellschaftliche Umgangsformen
und auf unterwürfiges Verhalten von Dienstboten. Die Arroganz des Wiesels
allerdings erregte seinen Zorn. Schließlich war er ein Viscount – auch wenn er
im Moment nicht gerade elegant wirkte und wenn sein Sohn infolge widriger
Umstände schlecht roch.
„Mitglieder der guten Gesellschaft benutzen die Vordertür“, stellte er
scheinbar gelassen fest.
Der Butler rührte sich nicht.
„Soll ich ihm eins verpassen?“ fragte Byrd.
„Das wird nicht nötig sein“, ließ sich eine männliche Stimme vernehmen.
„Was ist los, Mason?“
Alle drehten sich zur Treppe um, auf der ein grauhaariger, in einen
Morgenmantel gehüllter Gentleman stand. Er wurde von einem jungen
Hausdiener gestützt.
Lord Hartleigh verbeugte sich. „Verzeihen Sie die frühe Störung, Sir Gilliam.
Wir haben ein Problem, dessen Lösung keinen Aufschub verträgt.“
Sir Gilliam ließ sich von seinem Diener zu der kleinen Gruppe in der
Eingangshalle führen, rückte seine Brille zurecht und betrachtete einen nach
dem anderen aufmerksam. Als er den Korb mit dem Baby bemerkte, sagte er:
„Ich verstehe. Aber ...“ Ein Hustenanfall schüttelte ihn, und es dauerte eine
Weile, bis er weitersprechen konnte. „Mir ist nicht ganz klar, wie ich Ihnen
behilflich sein kann.“
„Sie könnten Ihrer Haushälterin gestatten, mir behilflich zu sein. Ich werde
ihre Unterstützung nur vorübergehend brauchen, denn natürlich bin ich
bemüht, eine dauerhafte Lösung des Problems zu finden. Im Moment allerdings
erscheint mir Mrs. Kanes Hilfe am geeignetsten.“
„Ja, Mrs. Kane ist zweifellos eine gute Mutter und darüber hinaus eine Frau,
auf die man sich in jeder Beziehung verlassen kann. Sie wird Ihnen sicher gern
behiflich sein.“ Sir Gilliam krauste die Nase. „Mason, führen Sie die Besucher
bitte in Mrs. Kanes Wohnzimmer. Sie werden verzeihen, Lord Hartleigh, dass ich
Sie nicht einlade, mit mir zu frühstücken.“
Das verstand der Viscount nur zu gut. Er selber hätte einiges darum gegeben,
den Geruch seines Sohnes nicht länger ertragen zu müssen.
Offenbar erging es auch Mason nicht anders. Jedenfalls drehte dieser sich
sogleich um und ging den Besuchern voraus mit großen Schritten auf eine Tür
zu, die er wortlos öffnete. Lord Hartleigh und Byrd traten in einen überaus
ordentlichen, aber dennoch gemütlichen kleinen Raum und nahmen Platz,
während der Butler sich eilig entfernte.
Eine Zeit lang warteten sie. Der Viscount ging unruhig auf und ab, wobei er
interessiert die wenigen persönlichen Kleinigkeiten betrachtete, die das
Zimmer enthielt. Da war zum Beispiel das Bild eines Mannes in Uniform. Ob Mrs.
Kanes Gatte im Krieg gefallen war? Und wo blieb sie selber eigentlich?
„Verflixt, Sir Gilliam hat Mason nicht beauftragt, Mrs. Kane herzubringen“, rief
Lord Hartleigh aus.
„Das stimmt.“ Byrd war bereits auf dem Weg zur Tür. „Wir müssen uns selber
auf die Suche nach ihr machen. Am besten schauen wir zuerst in der Küche
nach.“
Mrs. Carissa Kane hielt sich tatsächlich in der Küche auf. Sie war damit
beschäftigt, Sir Gilliams Frühstück auf einem Tablett zu arrangieren. Hin und
wieder warf sie ihrer Tochter Philippa einen kurzen, liebevollen Blick zu. Die
Vierjährige saß am äußersten Ende des großen Küchentisches und löffelte ihren
Haferbrei, wobei sie die Köchin beobachtete, die damit beschäftigt war, Teig für
die Teekuchen zu kneten.
„Wenn du brav bist, Pippa“, sagte Mrs. Kane, „dann macht Mrs. March
vielleicht ein paar Himbeertörtchen für dich. Die isst du doch so gern.“
Das kleine Mädchen nickte. Und die Köchin erklärte lächelnd: „Pippa ist ein
richtiges Engelchen. Ich werde ihr Törtchen und Ingwerplätzchen machen,
wenn sie ... Herr im Himmel!“ Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie zur Tür.
Carissa Kane wandte sich um und ließ vor Schreck beinahe das Tablett fallen.
„Oh Gott!“
In der Tür standen zwei Männer. Unvorstellbar, wie sie – die beiden Personen,
die sie am meisten verabscheute –, hier hatten eindringen können. Im
Allgemeinen wagte nicht einmal Mason es, unaufgefordert in die Küche, den
ureigensten Bereich der Frauen, zu kommen.
Pippa schaute kurz von ihrem Teller auf, löffelte dann aber völlig
unbeeindruckt weiter ihren Haferbrei.
„Mrs. Kane?“ fragte der jüngere und elegantere Eindringling.
Es war wirklich Lesley Hammond, Viscount Hartleigh! Carissa Kane schluckte.
Die Köchin und Bonnie, das Hausmädchen, hatten oft über ihn getuschelt. Und
auch wenn Carissa sich stets bemüht hatte, nicht zuzuhören, so hatte sie doch
nicht verhindern können, dass sie einiges über diesen merkwürdigen Nachbarn
erfuhr. Sie wusste, dass er wohlhabend, vielleicht sogar reich war, dass er
großen Erfolg bei den Frauen hatte und dass seine Geliebten
erstaunlicherweise sogar dann noch freundlich von ihm sprachen, wenn er sich
längst von ihnen getrennt hatte. Da er es bei keiner Frau lange auszuhalten
schien, nannte man ihn Lord Herzlos.
„Guten Morgen. Mein Name ist Hartleigh“, sagte er gerade. „Sir Gilliam hat
mir gestattet, Sie, Mrs. Kane, in einer dringenden Angelegenheit um Hilfe zu
bitten.“
Jetzt trat auch der riesenhafte Begleiter Seiner Lordschaft vor. „Aloysius Byrd,
Madam, zu Ihren Diensten.“ Er zog seine Kappe vom Kopf, so dass man deutlich
seine Glatze mit der eintätowierten Möwe und das Ohr ohne Ohrläppchen sah.
Bestimmt war er ein Pirat oder Straßenräuber! Die Köchin stieß einen
erschrockenen Ruf aus. Und Carissa musste sich eingestehen, dass dieser Mann
auch ihr Angst einjagte. Wie eingeschüchtert musste Pippa von ihm sein! Sie
warf ihrer Tochter einen besorgten Blick zu. Doch das Mädchen schaute völlig
furchtlos von einem zum anderen.
Die Haushälterin holte tief Luft und kreuzte die Arme vor der Brust. „Sie
brauchen Hilfe?“ fragte sie dann in ruhigem Ton. „Hatten Sie vielleicht einen
Unfall? So, wie Sie fahren, würde mich das nicht wundern. Vielleicht sollten Sie
sich besser an einen Arzt wenden?“
„Es handelt sich nicht um einen Unfall“, gab der Viscount zurück, „nicht im
eigentlichen Sinne jedenfalls ...“ Bei Jupiter, diese Person war wirklich
unmöglich! Wie sollte er nur mit ihr fertig werden, wenn er solche
Kopfschmerzen hatte? Sie schien hart wie Stein zu sein. Andererseits konnte sie
nicht völlig gefühllos sein, sonst würde sie ihre Tochter anders behandeln.
Lord Hartleigh nahm Byrd den Korb ab, trat auf Mrs. Kane zu und sagte: „Das
ist heute Morgen bei mir abgegeben worden.“
„Um Himmels willen, ein Baby!“
„Allerdings. Und ich habe nicht die geringste Ahnung, was ich mit ihm
machen soll. Deshalb möchte ich Sie bitten, mir zu helfen.“
„Wer könnte denn Ihr Liebesnest mit einem Findelhaus verwechseln?“
murmelte die Köchin.
„Es ist das Kind einer Freundin, die London plötzlich verlassen musste“,
erklärte der Viscount zu Mrs. Kane gewandt.
Diese runzelte die Stirn, beugte sich aber schließlich über den Korb, um das
Kind genauer zu betrachten. In diesem Moment läutete die Glocke.
„Oh, Sir Gilliam wartet auf sein Frühstück! Ich bin gleich wieder hier.“ Damit
eilte die Haushälterin mit dem Tablett aus der Küche.
Lord Hartleigh und Byrd, der nach dem Korb gegriffen hatte, folgten ihr auf
dem Fuß. Sie würden Mrs. Kane nicht einen Moment lang aus den Augen lassen.
Ihre Angst, der rettende Engel könne verschwinden, ohne ihnen geholfen zu
haben, war viel zu groß.
Sir Gilliam war sichtlich überrascht, als sein Frühstückszimmer sich plötzlich
mit Menschen füllte. Er fasste sich allerdings rasch. „Guten Morgen, meine
Liebe“, begrüßte er Mrs. Kane. „Werden Sie Lord Hartleigh helfen können?“
„Ja. Ich werde allerdings ein paar Dinge mitnehmen müssen nach nebenan.“
„Tun Sie das, meine Liebe.“ Sir Gilliam nickte ihr zu.
Gleich darauf befand sich die kleine Gruppe wieder in der Küche. Mrs. Kane
suchte verschiedene Kleinigkeiten zusammen, gab der Köchin ein paar
Anweisungen und drückte dem Viscount schließlich ein paar kleine Schuhe in
die Hand. „Pippa kommt mit. Würden Sie ihr bitte helfen? Sie kann noch keine
Schleife binden.“
Fassungslos starrte er die Schühchen an. Dann bemerkte er, dass die Köchin
ihm zuzwinkerte, während Byrd schadenfroh grinste. Mit einem tiefen Seufzer
kniete er sich vor das kleine Mädchen, das noch immer am Tisch saß und
begonnen hatte, am Daumen zu lutschen.
„Können wir gehen?“ ließ sich Mrs. Kane vernehmen.
„Sofort.“ Etwas ungeschickt zog Lord Hartleigh Pippa die Schuhe an. Plötzlich
allerdings blickte er auf. „Ich denke, wir sollten die Kleine nicht mitnehmen.
Eine der Bediensteten kann doch auf sie aufpassen.“
„Ich bin eine der Bediensteten“, gab Carissa Kane zurück.
2. KAPITEL
Mitglieder des Adels sind es nicht gewöhnt und halten es im Allgemeinen auch
nicht für nötig, sich für ihre Fehler zu entschuldigen. Also schwieg Lord
Hartleigh, als er an der Spitze der kleinen Gruppe auf sein Haus zuschritt.
Tatsächlich jedoch war er zutiefst beschämt. Bei Jupiter, er durfte einfach nicht
an den Unterschied zwischen Sir Gilliams gepflegtem Heim und seiner
chaotischen Unterkunft denken!
Als er das Gartentor öffnete, ergriff der Viscount endlich das Wort. „Achten
Sie bitte auf die Löcher“, wandte er sich an Mrs. Kane, die in der einen Hand
den Korb mit dem Baby und in der anderen Pippas kleine Finger hielt.
„Ich bin an diese Art von Löchern gewöhnt“, stellte die Haushälterin fest.
„Ähnliche gibt es auch in Sir Gilliams Garten, zum Beispiel da, wo vorher mein
Azaleenbusch und meine Rosenstöcke standen. Auch der kleine Kräutergarten
musste ...“
„Da wären wir“, unterbrach Lord Hartleigh sie, öffnete die Haustür und
hüstelte. Nie zuvor war ihm sein Junggesellenhaushalt so verwahrlost
vorgekommen.
Er bemerkte, wie Mrs. Kane sich umschaute, um einen freien Platz zu finden,
wo sie den Korb absetzen konnte. Kurz entschlossen fuhr er mit dem Unterarm
über den Tisch in der Eingangshalle, so dass alles, was sich dort angesammelt
hatte, zu Boden fiel. Schmutziges Geschirr, Formulare von uralten Pferdewetten
und ein geöffneter Fächer, der mit einem erotischen Gemälde verziert war –
glücklicherweise bemerkte Mrs. Kane das nicht! –, lagen nun in einem wilden
Haufen auf dem Fußboden.
„Setzen Sie den Korb erst einmal hier ab“, meinte der Viscount. „Im ersten
Stock gibt es ein unbenutztes Zimmer, das wir für das Baby herrichten
können.“
„Zuerst sollten wir in die Küche gehen“, gab Mrs. Kane ruhig zurück. „Ich
möchte ...“ Als sie den Raum betrat, stockte ihr einen Moment lang der Atem.
„Das Personal hat überraschend gekündigt“, erklärte Lesley Hammond, der
sich einerseits für die Unordnung und andererseits dafür schämte, dass er nun
doch eine Entschuldigung vorgebracht hatte. „Bisher hatte ich keine
Gelegenheit, neue Dienstboten einzustellen.“
Bisher – das musste einen Zeitraum von mindestens zwei Jahren umfassen,
fuhr es Carissa durch den Kopf. Einen Moment lang war sie versucht, mit Pippa
und dem Baby aus dem Haus zu fliehen. Aber es war natürlich ganz undenkbar,
den kranken Sir Gilliam den Unbequemlichkeiten auszusetzen, die die
Anwesenheit eines Säuglings im Haus unweigerlich mit sich brachte. Sie würde
also entweder das Findelkind im Stich lassen oder bleiben müssen ...
Sie blieb.
„Haben Sie ...“, begann sie zögernd, „haben Sie vielleicht finanzielle
Probleme, Mylord?“ Das würde einiges erklären: dass er in Kensington lebte
statt in Mayfair und dass er keine Dienstboten außer diesem Byrd beschäftigte.
Er schüttelte den Kopf.
„Aber warum leben Sie dann so?“
„Warum nicht?“ Er zuckte die Schultern. „Es stört mich nicht.“
„Wie traurig ...“, murmelte sie.
Diese schwarz gekleidete Vogelscheuche bemitleidete ihn? Der Viscount
wusste nicht recht, ob er amüsiert oder entrüstet sein sollte. Also sagte er nur:
„Sie vergessen Ihre Stellung, Mrs. Kane.“
Zu seiner Überraschung stellte er fest, dass es ihm mit dieser Bemerkung
keineswegs gelungen war, die Witwe in die Schranken zu verweisen. Sie
lächelte – und sah plötzlich mindestens fünf Jahre jünger und gar nicht mehr
wie eine Vogelscheuche aus. „Möchten Sie, dass ich gehe?“ erkundigte sie sich.
Byrd warf seinem Herrn einen entsetzten Blick zu. Er war blass geworden.
„Lord Hartleigh wollte Sie nicht kränken, Madam. Er ...“
„Ich bitte um Verzeihung, Mrs. Kane“, fiel ihm der Viscount ins Wort. Keine
Entschuldigungen? Ha! Manches war einfach unumgänglich, wenn man auf
Hilfe angewiesen war.
Carissa hatte bereits begonnen, den Küchentisch abzuräumen und zu
säubern. Jetzt stellte sie einen nicht allzu wackligen Stuhl für Philippa bereit
und forderte Byrd auf, Feuer zu machen und Wasser zu erhitzen, damit sie das
Baby baden konnte. Über die Schulter rief sie Lord Hartleigh zu: „In einer
solchen Umgebung kann man keinen Säugling aufziehen.“
„Es ist ja nur für kurze Zeit.“
„Es ist unmöglich!“
„Das Zimmer im ersten Stock ist aufgeräumt und ziemlich groß. Wie viel Platz
braucht ein Baby denn?“
„Es geht mir nicht um den Platz. Ferkel leben in Schweineställen, Kindet
nicht.“
„Ich habe doch schon erwähnt, dass ich beabsichtige, Dienstboten
einzustellen.“
Die Haushälterin runzelte die Stirn. „Ich könnte ein paar Zeilen an die
Agentur schreiben, über die Sir Gilliam seine Bediensteten aussucht. Bestimmt
kann man Ihnen heute noch ein paar Bewerber vorbeischicken. Ob sie
allerdings bleiben, ist eine andere Frage.“ Dann wandte sie sich an Byrd. „Wir
werden mehr Wasser brauchen.“
Der Diener machte sich auf die Suche nach weiteren Töpfen und Kessein, und
Lord Hartleigh, der nicht völlig nutzlos herumstehen wollte, begann, den
Schwengel der Pumpe zu bewegen. Seinem Magen gefiel diese Beschäftigung
leider gar nicht. Unwillkürlich stöhnte er auf.
„Setzen Sie sich, Mylord“, schlug Mrs. Kane vor, „und essen Sie das.“ Sie
schob ihm einen Kanten trockenen Brots hin.
Er ließ sich auf den Stuhl sinken und bemerkte zu seinem Ärger, dass Pippa
ihn schon wieder anstarrte. Sie lutschte am Daumen und blickte dabei – wie er
fand – eindeutig tadelnd drein. Genau wie ihre Mutter! Gereizt fragte er sich,
warum ihn die Missbilligung dieser beiden weiblichen Wesen so verunsicherte.
Carissa hatte unterdessen das Baby aus dem Korb genommen. Jetzt
schnupperte sie, zog die Stirn kraus und rief entsetzt aus: „Um Himmels willen,
was haben Sie getan? Das Kind riecht nach Schnaps!“
Der Viscount schluckte einen Bissen Brot herunter und räusperte sich. „Ich
habe ein Glas umgeworfen, als ich ...“
Hilfreich – wie es seine Art war – fiel Byrd ein: „Er schläft dann besser, wissen
Sie.“
Mrs. Kane entschied, dass sie lieber nicht nachfragen wollte, ob er vom Schlaf
des Viscount oder von dem des Säuglings sprach. Jedenfalls war ihr jetzt klar,
warum das Baby noch immer nicht erwacht war. „Armes Ding“, murmelte sie,
„du wirst wahrscheinlich Kopfschmerzen haben, sobald du die Augen
aufschlägst.“
Meine Kopfschmerzen interessieren niemanden, dachte Lord Hartleigh
gekränkt. Doch klugerweise hielt er den Mund. Er wollte nicht riskieren, dass
dieser schwarz gekleidete rettende Engel erneut damit drohte, ihn im Stich zu
lassen.
„Sie sollten keinen Säugling im Haus haben, Mylord!“ stellte der Engel fest.
Das war eine wenig engelhafte und ziemlich unhöfliche Feststellung, fand der
Viscount. Und Byrd musste natürlich auch noch seinen Senf dazu geben! „Das
habe ich ihm auch gesagt, Madam!“ verkündete er.
Lord Hartleigh straffte die Schultern und erklärte würdevoll: „Zum letzten
Mal: Mein So ..., äh, ich meine mein Mündel, bleibt hier, bis ich eine andere
Lösung gefunden habe.“
„Ist Ihnen eigentlich klar, was Sie alles tun müssen, um das Baby auch nur
kurze Zeit hier behalten zu können?“ fragte Mrs. Kane. „Sie brauchen eine
Amme und ein Kindermädchen, außerdem eine Wiege, mehrere saubere
Decken, Windeln und Kleidung. Und das ist noch längst nicht alles. Eine Armee
wird nötig sein, um diesen Schweinestall zu säubern. Sonst werden nämlich
Ratten und Ungeziefer über das arme Kind herfallen.“ Sie erschauderte, als sie
das Wort Ratten aussprach.
„Hier gibt es keine Ratten!“ brauste Lesley Hammond, Viscount Hartleigh,
auf. Dann allerdings besann er sich eines Besseren und setzte mit einem
charmanten Lächeln hinzu: „Mir ist klar, dass ich der Aufgabe nicht gewachsen
bin. Deshalb brauche ich ja so dringend Ihre Hilfe. Vielleicht könnten Sie hier
bleiben, um die neuen Dienstboten anzuleiten? Ich zahle Ihnen doppelt so viel
wie Sir Gilliam.“
Carissa Kane biss sich auf die Unterlippe, um nicht laut aufzulachen. Bemüht,
möglichst ernst zu klingen, erklärte sie: „Ich könnte Sir Gilliam niemals
verlassen. Er war stets freundlich zu Philippa und mir. Aber ich werde in dem
Brief an die Agentur erwähnen, dass Sie dringend eine zuverlässige
Haushälterin benötigen.“ Sie wandte sich zu Byrd um. „Ist das Wasser jetzt
warm? Ich möchte den Kleinen endlich baden. Wie heißt er eigentlich?“
Der Viscount und sein Diener schauten sich ratlos an.
„Sie wissen es nicht?“
„Nein. Der Brief, der mit ihm zusammen abgegeben wurde, enthielt keinen
Hinweis auf den Namen.“
„Wir wissen nicht einmal mit Sicherheit, dass es ein Junge ist“, gestand Byrd.
„Unsinn!“ widersprach Lord Hartleigh. „Es muss ein Junge sein. Er hat kaum
Haare, und er hat gerülpst.“
„Das tun alle Babys“, informierte Mrs. Kane die Männer lachend.
Ihr Lachen war außerordentlich musikalisch, und der Viscount stellte erstaunt
fest, dass es im Gegensatz zu allen anderen Lauten seine Kopfschmerzen nicht
verstärkte.
Carissa hatte unterdessen begonnen, das Baby auszukleiden. Vorsichtig
entfernte sie die Windel. „Mylord“, verkündete sie: „Sie haben eine Tochter.“
Eine Tochter? Er warf einen kurzen Blick auf das andere kleine Mädchen im
Raum. Die beinahe reglos dasitzende Pippa erinnerte ihn an eine
Porzellanpuppe. Er hatte also keinen zukünftigen Offizier, keinen Seemann,
keinen Rechtsgelehrten gezeugt, sondern eine Möchtegern-Prinzessin ... „Was,
zum Teufel, soll ich mit einer Tochter?“ brach es aus ihm heraus. In seiner
Verwirrung vergaß er ganz, dass er bisher abgestritten hatte, der Vater des
Kindes zu sein.
Mrs. Kane musterte ihn mit schlecht verhohlener Herablassung. „Natürlich
werden Sie das Gleiche mit ihr machen wie mit einem Sohn: Sie werden das
Kind einer Familie anvertrauen und diese ausreichend für ihre Mühe entlohnen.
Später werden Sie dem Mädchen eine kleine Mitgift zur Verfügung stellen.
Wenn Sie bei der Auswahl der Pflegeeltern sorgfältig vorgehen, wird die Kleine
vielleicht nie erfahren, dass sie ein uneheliches Kind ist. Sie wird sich sicher
und geliebt fühlen. Und jetzt, Mylord, reichen Sie mir bitte den Waschlappen.“
Er tat wie geheißen. Dabei murmelte er, noch immer fassungslos: „Bei allen
Göttern, eine Tochter ...“
Während Carissa Kane das Baby wusch, war auch der Viscount damit
beschäftigt, sich frisch zu machen. Er hatte sich in sein Schlafzimmer
zurückgezogen und sich von Byrd eine Schüssel mit warmem Wasser bringen
lassen. Auf seinem Bett war saubere Kleidung ausgebreitet. Als er diese
schließlich angezogen hatte, ging es ihm gleich viel besser.
Jetzt, da er gewaschen, rasiert, gekämmt und ordentlich gekleidet war, fühlte
er sich in der Lage, sich den Problemen, die ihn erwarteten, zu stellen. Er würde
unten nach dem Rechten sehen, sich noch einmal bei Mrs. Kane für ihre Hilfe
bedanken und Byrd alle nötigen Anweisungen erteilen. Anschließend würde er
endlich Zeit finden, den versäumten Schlaf nachzuholen. Zunächst allerdings
würde er ausgiebig frühstücken.
Mit diesen Vorsätzen ausgerüstet, stieg er die Treppe hinab. Im Flur traf er
auf Byrd, den er sogleich losschickte, um eine Amme zu besorgen. Dann begab
er sich in die Küche, wo ihn unglücklicherweise lautes Geschrei empfing. Sofort
kehrten seine Kopfschmerzen zurück. Insgeheim verfluchte er seine Tochter,
weil sie nicht in der Lage war, Rücksicht auf seinen Zustand zu nehmen.
Carissa Kane hob den Kopf, als Lord Hartleigh die Küche betrat. Ein paar
braune Locken hatten sich unter ihrer strengen Haube hervorgestohlen und
umrahmten jetzt ihr Gesicht. Sie sang dem Baby mit sanfter Stimme etwas vor
und wirkte insgesamt viel weicher und weiblicher, als der Viscount je für
möglich gehalten hätte.
Dann allerdings blitzten ihre Augen zornig auf, und er kam zu der
Überzeugung, dass er noch immer betrunken sein musste. Wie sonst hätte er
etwas Reizvolles an dieser vertrockneten, schwarz gekleideten Haushälterin
entdecken können?
Diese wiederum war aufs Äußerste erzürnt darüber, dass Lord Hartleigh sich
für sein eigenes Wohlbefinden viel mehr zu interessieren schien als für das
seiner Tochter. Warum sonst hätte er sich die Zeit nehmen sollen, sich derart
elegant herzurichten, während das kleine Mädchen nicht einmal eine frische
Windel oder ein Fläschchen für Milch besaß?
„Ihre Tochter ist hungrig!“ fuhr sie ihn an.
„Dann füttern Sie sie!“
„Ich bin keine Amme! Und auch wenn Sie mich noch so sehr anschreien,
werde ich nicht in der Lage sein, diese Aufgabe zu übernehmen! Stellen Sie
also eine Frau ein, die Ihr Kind stillen kann!“
„Bei Jupiter!“ Jetzt konnte auch Lord Hartleigh seine Wut nicht länger
unterdrücken. „Seien Sie nicht so überheblich! Es ist völlig überflüssig, mir
Dinge zu sagen, die ich längst weiß! Ich habe Byrd ja schon beauftragt, nach
einer Amme zu suchen. Können Sie denn gar nichts tun, bis er eine findet?“
Carissa Kane wurde blass bei dem Gedanken daran, wo Byrd wohl suchen
mochte. Wahrscheinlich hatte er sich zu den Docks begeben, wo er vermutlich
eine nach Gin stinkende Hure finden würde, die für ein paar Penny bereit war,
ihr eigenes Kind hungern zu lassen, um einen fremden Säugling zu stillen.
Kuhmilch würde dem Baby mit Sicherheit besser bekommen als das, was eine
ständig betrunkene Amme ihm zu bieten hatte!
„Wir brauchen Milch und einen Lederhandschuh“, erklärte sie.
Milch stand im Arbeitszimmer. Und einen einzelnen Handschuh fand er auf
dem Fußboden der Eingangshalle. Unverständlicherweise weigerte Mrs. Kane
sich, diesen zu benutzen. „Nein, Mylord“, erklärte sie ihm in einem Ton, den sie
wohl auch einem kleinen Kind gegenüber angeschlagen hätte, „es muss ein
sauberer Handschuh sein, sauberer als alles, was ich bisher in diesem Haushalt
gesehen habe. Haben Sie vielleicht noch ein unbenutztes Paar?“
Der Viscount blieb so lange verschwunden, dass sie befürchtete, er habe sich
aufgemacht, Handschuhe zu kaufen. Der Verzweiflung nahe wiegte sie das
Baby, das inzwischen so hungrig war, dass es sich nicht beruhigen ließ. Dann
endlich kam Lord Hartleigh zurück. In den Fingern hielt er ein Paar
hervorragend gearbeitete Handschuhe aus erstklassigem Leder. „Byrd hatte sie
beiseite geräumt“, berichtete er.
Mit einem Anflug von Neid nahm Mrs. Kane die Handschuhe entgegen.
Wahrscheinlich hatten sie mehr gekostet als alle Kleider, die sie im letzten Jahr
für Pippa hatte anschaffen können. Sie seufzte auf, als sie daran dachte, unter
welch schwierigen Umständen sie ihre Tochter aufziehen musste. Sie warf dem
stillen kleinen Mädchen einen liebevollen Blick zu. Dann holte sie eine Schere
aus ihrem Retikül und schnitt den ledernen Daumen des einen Handschuhs ab.
„Himmel, nein!“ stöhnte der Viscount. „Wissen Sie, wie viel ich für dieses
Paar bezahlt habe?“
Carissa ließ sich nicht stören. Mit einer Nadel stach sie ein kleines Loch in die
Spitze des Daumens, anschließend stülpte sie ihn über die Öffnung einer
Flasche, die sie während der Abwesenheit Seiner Lordschaft gespült und mit
warmer Milch gefüllt hatte. Schließlich hielt sie dem Kind den behelfsmäßigen
Schnuller an die Lippen.
Sofort begann das Baby zu saugen. Dabei gab es merkwürdige Geräusche
von sich, die jedoch wesentlich angenehmer waren als das vorhergehende
Geschrei.
„Ich habe der Kleinen doch auch Milch angeboten“, murmelte Lord Hartleigh.
„Aber sie wollte einfach nicht trinken.“
„Die Milch sollte warm sein“, erklärte Mrs. Kane, „und ...“
„Ah, das also ist das ganze Geheimnis“, unterbrach er sie und wandte sich zur
Tür.
Als erfahrene Mutter musste Carissa über so viel männliche Ignoranz den
Kopf schütteln. Das allerdings sah der Viscount schon nicht mehr. „Moment,
Mylord, wohin gehen Sie?“ rief sie ihm nach.
„Ich wollte zu dieser Agentur reiten, um mich selbst davon zu überzeugen, ob
sie mich mit Personal versorgen kann“, gab er zurück. „Außerdem hilft mir ein
Ausritt im Allgemeinen beim Nachdenken. Die frische Wind bläst mir sozusagen
die Spinnweben aus dem Hirn.“
„Mir erscheint es wichtiger, dass die Spinnweben hier entfernt werden“, sagte
Mrs. Kane streng. „Haben Sie denn noch immer nicht begriffen, dass dieses
ganze Haus gründlich gesäubert werden muss, wenn Sie hier ein Baby
unterbringen wollen? Außerdem sollten Sie lernen, Ihre Tochter zu füttern.“
Er hob die Augenbrauen. Als Haushälterin musste diese Frau doch wissen,
wie die Arbeiten in einem Haushalt verteilt waren. „Putzen ist die Aufgabe der
Dienstboten“, informierte er sie in arrogantem Ton, „und für das Baby hat die
Amme zu sorgen.“
„Was wollen Sie tun, wenn Byrd heute keine Amme mehr findet? Ich vermute,
dass man nicht an jeder Ecke eine junge Mutter findet, die bereit ist, einem
fremden Kind ihre Milch zur Verfügung zu stellen.“
„Sie haben Recht.“ Wahrhaftig, er war so sehr auf ihre Hilfe angewiesen, dass
er sie nicht unnötig verärgern sollte. „Allerdings hatte ich gehofft, Sie würden
die Kleine versorgen, solange ich sonst niemanden dafür habe. Sie können so
gut mit Kindern umgehen!“
Carissa lächelte. Allerdings galt ihr Lächeln nicht dem Viscount, sondern
seiner Tochter. „Sie ist ein richtiger kleiner Schatz. Ich würde mich gern weiter
um sie kümmern. Ich hatte fast vergessen, wie wunderbar es ist, für so ein
winziges Menschlein zu sorgen. Ach, wenn ich die Möglichkeit hätte, würde ich
die Süße gern zusammen mit meiner Pippa aufziehen. Aber Sie wissen selber,
Mylord, dass das ganz ausgeschlossen ist. Sir Gilliam ist verständnisvoll und
großzügig. Er ist aber auch schwer krank. Er braucht Ruhe und Fürsorge. Dabei
fällt mir ein, dass ich mich unbedingt darum kümmern muss, dass er seine
Medizin nimmt. Kommen Sie, Mylord, setzen Sie sich und nehmen Sie Ihre
Tochter auf den Schoß.“
Er gehorchte, und Mrs. Kane legte ihm das Baby so in die Arme, dass er ihm
die Flasche geben konnte. Während es trank, schaute es ihn aus großen Augen
an. Bewundernd betrachtete er die blauen Augen mit dem dunklen Ring um die
Iris, die perfekt geformte winzige Nase und die milchweiße Haut. Ja, seine kleine
Prinzessin war bereits eine richtige Schönheit.
Carissa hatte Pippa auf den Schoß genommen, und die beiden beobachteten
nun, wie der Viscount mit seiner Tochter umging. Anscheinend waren sie mit
seinen Leistungen zufrieden. „Sind Sie sicher, dass Sie nicht wissen, wie das
Kind heißt?“ fragte Mrs. Kane schließlich.
„In dem Brief, den ich zusammen mit der Kleinen erhielt, stand nur, dass sie
ein Souvenir aus Wien ist. Ein Souvenir, ja ... Ich denke, ich sollte sie Sue
nennen. Was halten Sie davon?“
„Sie sollten sie Liebchen nennen“, meldete sich unerwartet Pippa zu Wort.
„Mama hat gesagt, weil Sie nicht verheiratet sind, ist das Baby ein Kind der
Liebe.“
Schweigen senkte sich über den Raum. Pippa schob wieder den Daumen in
den Mund, Mrs. Kane errötete, und Lord Hartleigh räusperte sich. Dann strich
Carissa ihrer Tochter sanft übers Haar. „Liebchen ist nur ein Kosename, so wie
Darling oder Schätzchen“, erklärte sie dem Kind. „Ich finde, dass Sue
hervorragend zu dem Baby passt.“
Der Viscount lächelte. Sue, seine süße kleine Sue ... Zu seiner Überraschung
verspürte er das Bedürfnis, sie zu streicheln. Vorsichtig berührte er den Flaum
auf ihrem Kopf, sanft ließ er die Finger hinabgleiten bis zu ihrer runden weichen
Wange. Als das Baby nach seinem Daumen griff und ihn mit unerwarteter Kraft
umklammerte, war es um ihn geschehen. Bei Jupiter, er liebte dieses winzige
Persönchen!
Widerstrebend gestand er sich ein, dass Mrs. Kane Recht gehabt hatte, als sie
ihn drängte, sich selber um seine kleine Tochter zu kümmern. Ein Baby im Arm
zu halten, das war etwas wirklich Wunderbares. Das Vertrauen, das aus den
Augen des Kindes sprach, berührte ihn zutiefst. Bei allen Göttern, er würde Sue
nicht enttäuschen! Er würde dafür sorgen, dass sie glücklich war! Er würde ...
Fassungslos starrte er auf den Fleck, der sich auf seiner gerade noch
sauberen Weste ausbreitete. Sue hatte ein Bäuerchen gemacht, und dabei war
ihr ein wenig Milch aus dem Mund gelaufen.
„Sie hat mich angespuckt!“ Ein Fluch entfuhr ihm.
Sekunden später stand Mrs. Kane vor ihm und wischte mit einem feuchten
Tuch Sues Gesicht ab. Beinahe hätte sie auch versucht, die Weste des Viscount
zu säubern. Doch sie unterbrach sich gerade noch rechtzeitig. Errötend zog sie
die Hand zurück. Stattdessen bemühte sie sich, die angeschlagene Würde des
frisch gebackenen Vaters wieder herzustellen. „Sie dürfen das nicht persönlich
nehmen, Mylord. Alle Babys spucken manchmal. Vergessen Sie nicht, dass Sue
statt Muttermilch mit Kuhmilch vorlieb nehmen musste. Und sie hat einen
aufregenden Morgen hinter sich. Wir können von Glück sagen, wenn sie nicht
auch noch Blähungen und Bauchschmerzen bekommt.“
Bauchschmerzen? Das arme Engelchen! „Soll ich nach einem Arzt schicken?“
fragte Lord Hartleigh besorgt.
„Nur, wenn Sie ein nervenstärkendes Mittel für sich selbst brauchen.
Bauchschmerzen sind für ein Baby natürlich unangenehm, aber kein Grund,
gleich in Panik zu geraten. Säuglinge erholen sich im Allgemeinen rasch. Sue
wird vielleicht ein bisschen weinen, mehr nicht.“
Lesley Hammond entspannte sich. Sue seufzte zufrieden auf, schloss die
Augen und schlief ein. Von Stolz, Verantwortungsgefühl und heftiger
Zuneigung erfüllt, betrachtete ihr Papa sie. Er war – so seltsam es ihm auch
erscheinen mochte – glücklich. Erging es etwa allen Vätern so wie ihm?
„Hat Ihr Gatte Ihnen beim Versorgen Ihres Babys geholfen, Mrs. Kane?“
„Nein“, antwortete sie kurz und wandte sich ab. Dann wurde ihr klar, dass ihr
Benehmen sehr unhöflich wirken musste. Also fuhr sie fort: „Er trat seinen
Dienst an, als ich guter Hoffnung war. Bei Philippas Geburt war er ... fort.“
Er musste gefallen sein. Wie tragisch! Lord Hartleigh warf Pippa einen
mitleidigen Blick zu und sagte zu ihrer Mutter gewandt: „Bitte, verzeihen Sie
meine unüberlegten Worte. Ich wollte keine schmerzlichen Erinnerungen
wecken.“
Sie zuckte die Schultern. „Das alles liegt jetzt schon Jahre zurück.“ Mit
raschen, geschickten Bewegungen begann sie, die Küche aufzuräumen. Nur ihr
Rücken, den sie sehr gerade hielt, verriet, dass sie nicht gern über den Tod
ihres Gatten reden wollte.
Lord Hartleigh begriff, dass sie es schwer gehabt haben musste. Kriegswitwen
erhielten meist keine nennenswerte finanzielle Unterstützung. Sie hatte also
ganz allein für sich und das Kind sorgen müssen. Seine Bewunderung für sie
wuchs – bis sie nach dem Besen griff und damit nach dem Hund stieß, der sich
irgendwann in die Küche geschlichen hatte.
„Du elender Kläffer!“ schimpfte sie. „Verschwinde! Denkst du, ich wüsste
nicht, wer du bist? Du hast meinen Garten ruiniert! Du hässliche
Promenadenmischung! Du boshaftes Vieh, verschwinde!“
Statt ängstlich zurückzuweichen und durch die geöffnete Tür in den Hof zu
fliehen, ging der Hund ohne eine Spur von Furcht auf Lord Hartleigh zu und ließ
sich unter dem Küchentisch zu seinen Füßen nieder.
„Das Biest gehört Ihnen?“ rief Mrs. Kane aus, während sie ihre Tochter vor
dem vermeintlichen Monster in Sicherheit brachte. „Ich hätte es wissen
müssen!“
Pippa, die jetzt auf dem Brotschrank thronte, schob sich den Daumen in den
Mund und beobachtete interessiert, wie ihre Mutter erneut nach dem Besen
griff und diesen wie eine Waffe vor sich hielt.
Mit der schlafenden Sue auf dem Schoß war der Viscount zur Untätigkeit
verdammt. Also sagte er nur beruhigend: „Sie brauchen keine Angst zu haben.
Er würde keiner Fliege etwas zu Leide tun.“
Tatsächlich war der Hund so langsam, dass er gar nicht in der Lage gewesen
wäre, eine Fliege zu erwischen. Er sah auch keineswegs bedrohlich aus;
lediglich alt, schmutzig und hässlich. Seine Beine schienen für den schweren
Körper zu kurz und zu schwach, seine Augen lagen tief in den Höhlen, und sein
Fell wirkte glanzlos.
„Dieser Hund“, stellte Mrs. Kane in anklagendem Ton fest, „terrorisiert die
gesamte Nachbarschaft. Er bestiehlt den Metzger und klaut den Schulkindern
ihr Pausenbrot. Außerdem hat er mehr Blumen, Gemüsepflanzen und Obst auf
dem Gewissen als ein Schwarm Heuschrecken. Sie müssen das Biest irgendwie
loswerden.“
„Loswerden? Meinen Tor? Unsinn. Er hat noch nie jemanden gebissen.
Allerdings muss ich zugeben, dass er für sein Leben gern Löcher gräbt.“
„Thor? Sie haben diesen Kläffer nach einem germanischen Gott genannt?“
Fassungslos starrte Carissa Kane den hässlichen, völlig verdreckten Hund an.
„Natürlich nicht. Tor ist die Abkürzung für Gladiator. Ich habe ihn auf einem
Jahrmarkt kennen gelernt. Er sollte im Kampf gegen einen Bären antreten.
Natürlich hatte er keine Chance. Und das wusste er auch. Also grub er ein Loch
unter dem Zaun hindurch, hinter dem man ihn eingesperrt hatte, und
versuchte zu fliehen. Natürlich konnte ich nicht zulassen, dass man ihn einfing
und ihn doch noch dem Bären zum Fraß vorwarf.“
Der grausame Zeitvertreib, Tiere gegeneinander kämpfen zu lassen, war seit
einiger Zeit verboten. Doch Carissa wusste, dass es noch immer Menschen gab,
die sich über dieses Verbot hinwegsetzten. Sie musterte den Hund erneut. „Der
Bär hätte bestimmt Verdauungsstörungen bekommen“, stellte sie fest. „Sie
haben also beiden Tieren geholfen, Mylord. Hat man Ihnen Tor einfach so
überlassen?“
„Nein. Byrd musste an seiner Stelle gegen den Bären antreten. Er hat Meister
Petz ziemlich schnell k. o. geschlagen.“ Lord Hartleigh grinste, und ihr war nicht
ganz klar, ob er sich über sie lustig machte.
„Jedenfalls haben Sie den Hund mit nach Hause genommen.“
„Ja. Damals lebte ich noch in Hammond House, und ich konnte mir nichts
Besseres vorstellen, um meine Stiefmutter zu schockieren. Tatsächlich hatte sie
vom ersten Moment an eine Heidenangst vor dem harmlosen Tor. Sie hasste ihn
deshalb. Unentwegt schmiedete sie Pläne, ihn umzubringen. Natürlich konnte
ich ihn nicht bei ihr lassen, als ich meinen Wohnsitz nach hier verlegte.“
Unwillkürlich brach Carissa in herzhaftes Lachen aus. Dann wurde ihr
bewusst, dass Lord Hartleigh ihr gerade eine Menge über seinen wahren
Charakter verraten hatte. „Wenn ich das der Köchin erzähle, wird sie enttäuscht
sein“, stellte sie noch immer lachend fest. „Mrs. March glaubt nämlich, dass Sie
Ihren Spitznamen Lord Herzlos zu Recht tragen. Dabei haben Sie sogar ein Herz
für Tiere! Und denken Sie bloß nicht, ich hätte nicht gesehen, wie zärtlich Sie
Ihre kleine Tochter anschauen. Sie haben sogar versucht, Pippa zum Lachen zu
bringen, indem Sie Grimassen geschnitten haben.“
Der Viscount zwinkerte ihr zu. „Bitte, verraten Sie niemandem, was Sie über
mich herausgefunden haben. Wenn man mich nicht mehr für herzlos hält,
werden noch mehr junge Damen und ihre ehrgeizigen Mütter versuchen, mich
in den Hafen der Ehe zu locken.“
„Und Sie wollen nicht heiraten? Ich dachte, Sie wären verpflichtet, die
Familie zu erhalten.“
„Oh, wenn die Zeit reif ist und wenn ich die richtige Frau gefunden habe,
werde ich schon für einen Erben sorgen.“
Sie nickte. „Das sollten Sie auch. Ich glaube, Sie mögen Kinder und haben
eine natürliche Begabung, mit ihnen umzugehen.“
Lord Hartleigh runzelte die Stirn. „Wahrscheinlich haben Sie Recht. Aber ehe
Sue hier auftauchte, war mir gar nicht bewusst, dass Kinder mir etwas
bedeuten.“
Byrd kam ohne Amme, aber mit einer Putzkolonne zurück, die sich, unter Mrs.
Kanes Anleitung, sogleich an die Arbeit machte. Er wusste auch zu berichten,
dass die Agentur am nächsten Tag ein paar Leute vorbeischicken würde, die an
einer Stellung in Lord Hartleighs Haushalt interessiert waren.
„Ich bin auch in einer Reihe von Kneipen gewesen“, erzählte er, „weil ich
dachte, ich könnte dort vielleicht eine junge Mutter finden, die ein fremdes
Kind zusätzlich zu ihrem eigenen stillen würde. Aber ich habe keinen Erfolg
gehabt.“
Sue musste also noch einmal mit einer Mahlzeit aus der Flasche vorlieb
nehmen. Sie schien ganz zufrieden damit zu sein. Doch wenn Mrs. Kane meinte,
Muttermilch sei besser, dann sollte Sue Muttermilch erhalten – das schwor ihr
Papa sich. Notfalls würde er sich selber auf die Suche machen! Wo aber sollte er
beginnen?
Nach einigem Nachdenken beschloss er, als Erstes verschiedene andere
Agenturen aufzusuchen. Mrs. Kane bot an, ihn zu begleiten, denn sie
befürchtete, er würde sich womöglich für eine unzuverlässige, alkoholkranke
oder hartherzige Frau entscheiden. Natürlich wollte sie Pippa nicht ohne
Aufsicht zurücklassen. Auch das Baby würde allein in Gesellschaft der
Putzkolonne nicht gerade gut aufgehoben sein. Also würde es ebenfalls
mitkommen müssen. Vorsichtig legte Lord Hartleigh es in sein Körbchen.
Byrd hatte unterdessen die Kutsche vorgefahren. Es dauerte eine Weile, bis
alle eingestiegen waren und einen Platz gefunden hatten. Dann allerdings
erreichten sie rasch die erste Agentur.
Der Viscount ging allein hinein. Als er wieder auf die Straße trat, blitzten
seine Augen vor Zorn. „Man hat mir nicht geglaubt, dass ich für ein Baby zu
sorgen habe, und mir unterstellt, ich wolle unnatürliche Dinge treiben.“
„Sie haben eben nicht den besten Ruf“, meinte Mrs. Kane. „Gleich
übernehme ich die Verhandlungen.“
Sie betrat die nächste Agentur gemeinsam mit Pippa und dem Baby, das
friedlich in seinem Körbchen schlief. Doch es erging ihr nicht besser als zuvor
Lesley Hammond. „Die Leute haben das Wappen auf der Kutsche gesehen“,
berichtete sie ärgerlich, „und mir unterstellt, ich sei Ihre neueste Mätresse.
Anscheinend hat man es mir besonders übel genommen, dass ich das Kind
nicht selber stillen will.“
„Eine Unverschämtheit!“ rief Lord Hartleigh aus. Die Vorstellung, dass man
ihm zutraute, eine so reizlose Frau wie Mrs. Kane zu seiner Geliebten zu
machen, erzürnte ihn fast ebenso wie die Tatsache, dass man die ehrbare
Witwe beleidigt hatte. Dann allerdings fiel sein Blick auf die Kinder, und er
zwang sich zur Ruhe.
Byrd schlug vor, im Findelhaus wegen einer Amme nachzufragen. Schließlich
mussten die Säuglinge auch dort irgendwie ernährt werden. Am liebsten wäre
es ihm natürlich gewesen, wenn Seine Lordschaft sich entschlossen hätte, das
Baby dort zu lassen. Das allerdings wagte er kaum noch zu hoffen.
Der letzte Rest Hoffnung schwand, als der Viscount ihm befahl, auf Pippa und
Sue Acht zu geben, während er und Mrs. Kane mit der Heimleiterin sprachen.
Die Kinder könne man nicht mit hineinnehmen, da sie sich womöglich mit
gefährlichen Krankheiten anstecken würden.
Also blieb Byrd bei Pippa und dem Baby. Pippa lutschte am Daumen und sah
genauso unglücklich aus wie das Baby, das zu wimmern begonnen hatte. Byrd
brach der Schweiß aus, und er nahm seine Kappe ab, um sich über Stirn und
Glatze zu wischen. Pippas große braune Augen wurden noch größer, als sie die
Möwen-Tätowierung bemerkte. Sues Wimmern steigerte sich zu lautem Weinen.
Byrd rutschte nervös hin und her. Schließlich zog er einen Flachmann aus der
Tasche und nahm einen großen Schluck.
„Das sage ich Mama“, verkündete Pippa.
Im Inneren des Heims war die Situation nicht weniger angespannt. Die
Heimleiterin hatte kaum Zeit für die Besucher, denn der Raum war voller
Säuglinge, die gewickelt, gewaschen oder gefüttert werden mussten. Es war
laut, denn viele der Kinder weinten, und der Gestank war unbeschreiblich.
Immerhin erfuhr Lord Hartleigh, dass man die Babys hier mit Kuhmilch fütterte
und dass selten genug davon da war, um alle satt zu bekommen.
Er war blass, als er zur Kutsche zurückkehrte, und Mrs. Kane wischte sich
verstohlen ein paar Tränen aus den Augenwinkeln. Die Taschen des Viscount
waren jetzt leichter – er hatte dem Heim eine großzügige Spende gemacht –,
aber sein Herz war schwer. „Ich werde niemals zulassen, dass Sue unter solchen
Umständen leben muss“, verkündete er. „Eher behalte ich sie für immer bei
mir.“
„Das wäre nicht fair ihr gegenüber“, gab Carissa Kane zu bedenken. „Sie
würde immer mit dem Makel, ein uneheliches Kind zu sein, leben müssen. In
einer Familie, die sie wie ein eigenes Kind aufzieht, hätte sie es besser.“
„Das stimmt nicht!“ widersprach Lord Hartleigh. „Ich könnte sie adoptieren.
Dann wäre sie meine rechtmäßige Tochter und ein Mitglied der guten
Gesellschaft. Wenn ich ihr dann noch eine große Mitgift aussetze, wird niemand
an ihrer Herkunft Anstoß nehmen.“
„Man würde sie vielleicht nicht gerade schneiden, aber hinter ihrem Rücken
würde man klatschen. Glauben Sie mir, Mylord, es ist furchtbar für ein Kind,
unehelich geboren zu sein.“
Er warf ihr einen forschenden Blick zu. „Das Thema scheint Sie sehr zu
berühren, Mrs. Kane. Hat das etwas mit Ihren eigenen Erfahrungen zu tun?“
Sie starrte ihn an. „Wollen Sie mir etwa unterstellen, es hätte gar keinen Mr.
Kane gegeben? Wie können Sie es wagen!“ Ihre Augen blitzten vor Zorn.
Lesley Hammond fand, dass sie viel anziehender wirkte, wenn ihre Wangen
gerötet waren und ihre Augen funkelten. Mit einem kleinen Lächeln erklärte er:
„Ich bitte um Vergebung. Immerhin werden Sie nicht abstreiten wollen, dass
einiges an Ihnen zum Nachdenken anregt. Sie sind viel zu gebildet für eine
einfache Haushälterin. Die Art, wie Sie sich ausdrücken und bewegen, Ihre
Umgangsformen und Ihre stolze Haltung beweisen, dass Sie einer anderen
Gesellschaftsschicht entstammen.“
Carissa Kane kniff die Lippen zusammen und schwieg.
3. KAPITEL
Lord Hartleigh wartete eine Weile, doch Mrs. Kane schien nicht gewillt, etwas
auf seine Bemerkung zu erwidern. Also fuhr er schließlich fort: „Ich frage mich,
warum Sie als Haushälterin arbeiten müssen. Haben Sie keine Familie, die Sie
unterstützen konnte, als Ihr Gatte fiel?“
„Ihre Neugier geht wirklich zu weit! Ich bin hier, um Ihnen zu helfen, die
Zukunft Ihrer Tochter zu sichern, und nicht, um über meine Vergangenheit zu
reden.“
„Ich bin durchaus in der Lage, für meine Tochter zu sorgen. Sie wird nicht im
Armenhaus enden.“
„Auch wenn Sie sich noch so großzügig dem Mädchen gegenüber erweisen,
so ist das doch keine Entschuldigung für Ihren unmoralischen Lebenswandel.“
Erneut erfüllte ein bedrückendes Schweigen die Kutsche. Die Gedanken der
Anwesenden allerdings kamen nicht zur Ruhe.
Es ist erstaunlich, wie ähnlich die Überlegungen und Empfindungen völlig
unterschiedlicher Menschen gelegentlich sein können.
Unerträglicher Tugendbold, dachte der Viscount.
Unerträglicher Grobian, dachte die Witwe.
Es war Byrd, der die beiden schließlich in ihrem Schmollen unterbrach.
„Wohin soll ich eigentlich fahren?“ rief er von seinem Platz auf dem
Kutschbock.
„Zu dem Heim für gefallene Mädchen“, gab Carissa Kane zurück und
beschrieb ihm den Weg. „Vielleicht finden wir dort eine unglückliche junge
Mutter, die bereit ist, Sues Amme zu werden.“
„Ich will nicht, dass eine unmoralische Frau meine Tochter stillt!“
widersprach Lord Hartleigh.
„Sie haben keine Wahl“, stellte Mrs. Kane kühl fest. „Im Übrigen scheint auch
Sues Mutter eine Frau ohne Moral zu sein.“
„Sues Mutter ist eine Prinzessin!“
„... die ihr Baby in der Obhut eines ständig betrunkenen Weiberhelden und
Draufgängers, in der Obhut eines Rakes gelassen hat.“
Byrd, der die Diskussion aufmerksam verfolgt hatte, fand, dass es an der Zeit
war, sich erneut zu Wort zu melden. „Wenn wir zwei Säuglinge im Haus haben,
das Baby der Amme und Sue, dann ziehe ich jedenfalls in den Stall um. Oder
ich kündige!“
Der Viscount seufzte tief auf. In diesem Moment bezweifelte er, dass er je
wieder ein Leben würde führen können, wie es ihm gefiel.
Seine Ängste konnte auch Pastor Garapie, der Leiter des Heimes für gefallene
Mädchen, nicht zerstreuen. Zwar zeigte er sich sehr verständnisvoll, doch
zunächst sah es so aus, als könne auch er nicht helfen. Die meisten jungen
Mütter verließen das Heim kurz nach der Geburt ihrer Kinder. Und die beiden,
die sich derzeit noch dort befanden, waren als Ammen ungeeignet. Eine war so
geschwächt, dass sie selbst Pflege brauchte, und die andere war geistig
verwirrt. „In der kommenden Woche allerdings“, meinte der Pastor, „erwarten
wir zwei Frauen, die kurz vor der Niederkunft stehen.“
„So lange kann ich nicht warten“, stöhnte Lord Hartleigh.
„Hm ... Vielleicht gibt es doch eine Lösung. Vor ein paar Tagen hatten wir
eine junge Frau hier, deren Kind gleich nach der Geburt gestorben ist.
Möglicherweise hat sie noch Milch.“
„Wo finden wir sie?“
Pastor Garapie blätterte in seinen Papieren. „Ah, da habe ich es. Also, sie
heißt Maisie Banks und hat als Hausmädchen gearbeitet. Ihr Arbeitgeber hat sie
geschwängert. Man weiß ja, wie solche Beziehungen zu Stande kommen ...
Dann hat er sich – wie das leider meistens der Fall ist – geweigert, die
Verantwortung zu übernehmen. Eine Familie, die Maisie hätte helfen können,
gibt es auch nicht, deshalb musste sie zu uns kommen. Wohin sie sich jetzt
gewandt hat, kann ich nur vermuten. Wahrscheinlich sah sie sich gezwungen,
in Lord Cosgroves Haus zurückzukehren. Sie erwähnte, dass er sich geweigert
hat, ihr ein gutes Zeugnis auszustellen. Und wie soll die Ärmste ohne
Empfehlung eine andere Stelle finden?“
Carissa empfand tiefes Mitleid mit dem Mädchen. Schließlich hatte sie am
eigenen Leib erfahren, wie schwierig es war, das Leben als allein stehende
Mutter zu meistern – dabei hatte sie sich immerhin auf ihren Witwenstatus
berufen können. Ihr Vater hatte sich geweigert, sie zu unterstützen, da sie
gegen seinen Willen geheiratet hatte. Also hatte sie sich eine Arbeit suchen
müssen. Sie wusste, dass sie großes Glück gehabt hatte, als Sir Gilliam ihr eine
Stellung angeboten hatte. Andernfalls wären Philippa und sie womöglich auf
der Straße gelandet.
„Ich fürchte“, sagte Pastor Garapie, „in ein paar Monaten wird das arme Ding
wieder hier sein.“
Nicht, wenn ich es verhindern kann, schwor sich Mrs. Kane.
Einen ganz ähnlichen Schwur legte auch Lesley Hammond ab, wobei es ihm
allerdings in erster Linie um das Wohl seiner Tochter ging.
„Ich kenne Lord Cosgrove“, verkündete er. „Ein unangenehmer Zeitgenosse.
Es wundert mich nicht, dass er seine Hausmädchen belästigt. Nun, wir werden
sehen, ob wir nicht wenigstens diese Maisie aus seinen Klauen befreien
können!“
„Fahren wir gleich zu ihm?“ wollte Byrd wissen.
„Nein. Ich denke, es wäre besser, wenn wir zuerst Mrs. Kane und die Kinder
nach Hause brächten.“
„Ich könnte das Mädchen holen“, schlug Byrd vor und zog eine Pistole aus
der Jackentasche.
Pippa starrte die Waffe fasziniert an, Carissa wurde blass, und Lord Hartleigh
sagte gelassen: „Es ist völlig unnötig, diese Maisie zu entführen. Cosgrove wird
sich freiwillig von ihr trennen, wenn ich ihm erst meine Argumente genannt
habe.“
„Wir wissen ja gar nicht, ob sie wirklich wieder für Cosgrove arbeitet. Und
selbst wenn wir sie dort finden, müssen wir erst klären, ob sie bereit und in der
Lage ist, Sues Amme zu werden“, mischte Carissa sich ein. „Ihr eigenes Kind ist
gestorben ... Ich denke, es wäre am besten, wenn ich selber mit ihr reden
würde.“
Schließlich fuhren sie alle zu Lord Cosgroves Haus. Während Byrd bei den
Pferden blieb, begab Mrs. Kane sich mit den Kindern zum Dienstboteneingang.
Gleichzeitig schritt der Viscount die Treppe zum Hauptportal hinauf.
Er war nicht erstaunt, als der Butler ihm mitteilte, Lord Cosgrove schliefe
noch. Schließlich war es noch nicht einmal zwei Uhr. Doch statt sich für die
frühe Störung zu entschuldigen, bestand er darauf, den Hausherrn zu sehen.
Dass dieser ihn mehr als eine halbe Stunde warten ließ, besserte seine Laune
nicht gerade. Und da auch Lord Cosgrove schlecht gelaunt war, musste es
beinahe zwangsläufig zu einer unangenehmen Szene kommen.
„Wie viel schulde ich Ihnen, Hartleigh?“ fragte Lord Cosgrove, während er
sich zum Frühstück ein Glas Port einschenkte. Wahrscheinlich ernährte er sich
überwiegend von Alkohol. Jedenfalls waren seine Augen blutunterlaufen, seine
Hände zitterten, und sein Atem roch unangenehm. Er leerte sein Glas in einem
Zug und erklärte dann: „Die Summe ist übrigens völlig gleichgültig. Im Moment
kann ich sowieso nicht zahlen. Sie werden sich etwas gedulden müssen. Es
passt übrigens gar nicht zu Ihnen, so zu drängen.“
„Sie schulden mir nichts, Cosgrove. Ich spiele nämlich schon seit längerem
nicht mehr mit Menschen wie Ihnen.“
„Was soll das nun wieder heißen? Sind Sie etwa hergekommen, um einen
Gentleman in seinem eigenen Haus zu beleidigen?“
Der Viscount hob die Augenbrauen, verkniff sich aber die bissige Bemerkung,
die ihm auf der Zunge lag. Stattdessen sagte er: „Ich bin hier, weil ich mich für
das Hausmädchen interessiere, das kürzlich niedergekommen ist.“ Woher sein
Interesse rührte, wollte er hier nicht erwähnen. Die Mitglieder der guten
Gesellschaft würden sowieso früh genug von dem Baby erfahren, das in seinem
Haushalt lebte, und es würde eine Menge Klatsch geben. „Wenn ich Ihnen den
Lohn für ein Vierteljahr ersetze, sind Sie vielleicht bereit, mir das Mädchen zu
überlassen?“
„Maisie?“ Lord Cosgrove war erstaunt. „Ihr Lohn ist nicht der Rede wert.“
Außerdem hatte keiner seiner Bediensteten in den letzten Wochen auch nur
einen Penny erhalten. „Aber was wollen Sie mit ihr? Sie hat nicht die Klasse der
Frauen, mit denen Sie sich sonst abgeben. Hat etwa irgendjemand behauptet,
sie sei besonders reizvoll?“
„Nein, ich interessiere mich für sie, weil sie kürzlich ein Kind zur Welt
gebracht hat. Es geht mir um die Milch.“
Ein wissender Ausdruck erschien auf Lord Cosgroves Gesicht. „Wer hätte
gedacht, dass Sie so ungewöhnliche Vorlieben haben, Hartleigh.“
„Die Milch ist für einen Säugling, Sie Dummkopf.“
Cosgrove beachtete ihn gar nicht. „Ich denke fast, ich sollte das selber
einmal ausprobieren“, murmelte er.
„Sie denken wirklich nur fast. Zu einer vollen Leistung ist Ihr Gehirn
wahrscheinlich nicht fähig“, meinte Lord Hartleigh sichtlich verärgert. „Also
zum letzten Mal: Ich möchte, dass Sie mir das Mädchen überlassen.“
„Nun, das dürfte Sie teuer zu stehen kommen. Ich mag Maisie nämlich sehr.“
Der Viscount erhob sich und wandte sich zur Tür. Bei Jupiter, wie er diesen
nichtsnutzigen Trunkenbold verabscheute! Nicht eine Sekunde länger wollte er
sich in seiner Gegenwart aufhalten. Notfalls würde er eben doch Byrd bitten,
das Mädchen zu entführen.
In der Küche von Lord Cosgroves Haus hatten sich die Dinge allerdings in
eine Richtung entwickelt, die eine Entführung eher unwahrscheinlich
erscheinen ließ. Carissa Kane hatte es sich mit der Haushälterin bei einer Tasse
Tee am Küchentisch bequem gemacht, und die beiden Frauen unterhielten sich
angeregt.
Dabei kam die Rede natürlich auch auf Lord Hartleighs kleine Tochter, die
friedlich in ihrem Körbchen schlief.
„Wie ungewöhnlich, dass ein Gentleman die Verantwortung für seine
illegitimen Kinder übernimmt“, meinte die Haushälterin beeindruckt. „Hier in
diesem Haushalt wäre das ganz unmöglich. Deshalb warne ich die Mädchen
auch immer wieder. Aber es nützt leider überhaupt nichts.“
Carissa brachte ihr Mitgefühl zum Ausdruck. Schließlich wusste sie aus
eigener Erfahrung, welche Probleme auftauchten, wenn junge Dienerinnen und
alte Lebemänner aufeinander trafen. „Ich schicke einige unserer Mädchen
abends nach Hause. Die anderen schlafen im selben Zimmer wie die Köchin.“
„Ich habe versucht, diese Dinge anders zu lösen, und zwar, indem ich
hässliche alte Frauen eingestellt habe. Aber sie waren nicht in der Lage, die
anfallenden Arbeiten ordentlich zu erledigen. Außerdem war ihr Aussehen dem
Herrn völlig egal. Er versucht es bei jeder, egal, ob sie hübsch oder hässlich, alt
oder jung ist.“
„Es muss schwer sein, für so einen Herrn zu arbeiten. Besonders die
unerfahrenen jungen Mädchen haben wahrscheinlich viel zu leiden. Maisies
Leben allerdings könnte ich vielleicht etwas leichter machen. Lord Hartleigh
möchte sie gern einstellen.“
Nachdenklich wiegte Lord Cosgroves Haushälterin den Kopf. „Für Maisie wäre
es bestimmt gut, eine andere Stellung anzunehmen. Aber ausgerechnet im
Haushalt eines berüchtigten Rakes? Viscount Hartleigh hat einen schlechten
Ruf.“
Carissa beugte sich vertraulich zu der anderen Frau hinüber. „Er ist gar nicht
so schlimm, wie man sagt. Aber das soll niemand wissen. Also verraten Sie bitte
niemandem, wie hingebungsvoll er sich um die kleine Sue kümmert. Er nimmt
die Verantwortung für das Kind wirklich sehr ernst. Deshalb ist es ihm ja so
wichtig, eine gute Amme zu finden.“
„Und wenn Maisie diese Aufgabe übernähme, dann würde er sie bestimmt
nicht belästigen?“
„Dafür verbürge ich mich.“ Tatsächlich hatte Mrs. Kane ihre Meinung über
den Viscount in den letzten Stunden grundlegend geändert. Sie war fest davon
überzeugt, dass er sich niemals an Schwächeren vergreifen würde. „Er
behandelt mich wirklich respektvoll. Und ich bin sicher, dass er sich auch
Maisie gegenüber gut benehmen wird. Wir müssen das Mädchen natürlich
davor warnen, sich in ihn zu verlieben.“
„Er sieht wohl nicht nur gut aus, sondern ist zudem charmant?“
„Das finden jedenfalls viele Frauen.“ Sie selber tat das natürlich nicht! Sie
war seinem Charme gegenüber völlig immun. Obwohl sein Lächeln ... „Könnten
Sie jetzt vielleicht Maisie rufen lassen?“ fragte Carissa rasch, um auf andere
Gedanken zu kommen.
Kurz darauf trat das Mädchen in die Küche. Es mochte etwa siebzehn Jahre alt
sein, hatte rotes Haar und Sommersprossen. Wenn es nicht so abwesend und an
allem uninteressiert gewirkt hätte, wäre es vielleicht sogar recht reizvoll
gewesen.
Dann bemerkte Maisie das Baby, und ihre Augen leuchteten auf. „Oh, wie
süß!“ rief sie und beugte sich über das Körbchen. „Hallo, Liebchen!“
Ehe Mrs. Kane oder die Haushälterin etwas sagen konnten, rief Pippa aus:
„Mama, woher weiß sie den Namen des Babys?“
Tatsächlich wusste Maisie so gut wie nichts über Babys. Aber sie mochte
Kinder, und so kam es, dass sie Sue zärtlich mit den Fingern über die Wange
strich und gleichzeitig Pippa freundlich anlächelte. Eine Woge der
Erleichterung überschwemmte Mrs. Kane, die deutlich spürte, dass die
Siebzehnjährige trotz ihrer Unerfahrenheit eine gute Amme werden würde –
vorausgesetzt, sie hatte noch Milch und war bereit, diese dem fremden Baby
zur Verfügung zu stellen.
Bald schon waren diese Fragen geklärt. Maisie wollte überall lieber arbeiten
als in Lord Cosgroves Haushalt. Sie fürchtete sich vor den Übergriffen ihres
bisherigen Arbeitgebers, und zudem hatte sie Sue vom ersten Moment an ins
Herz geschlossen. Sie zögerte keinen Moment lang, als man sie aufforderte, ihre
Besitztümer zu packen und noch am selben Tag in den Dienst des Viscount zu
wechseln.
Als Lesley Hammond aus dem Haus stürmte, wartete Mrs. Kane mit den
Kindern und der frisch eingestellten Amme bereits in der Kutsche auf ihn.
Kurze Zeit später hatten sie das rote Backsteinhaus in Kensington erreicht.
Maisie zog sich sogleich in eines der inzwischen geputzten und hergerichteten
Zimmer im ersten Stock zurück, um das Baby zu stillen.
Carissa, die sie begleitet hatte, um ihr, wenn nötig, ein paar Tipps zu geben,
konnte Lord Hartleigh wenig später die gute Nachricht überbringen, dass Sue
sehr zufrieden mit ihrer Ersatzmutter war. „Allerdings“, setzte sie hinzu, „hat
sich ein unerwartetes Problem ergeben: Maisie hat Angst vor Hunden. Deshalb
werden Sie sich wohl doch von Tor trennen müssen.“ Dann fielen noch Worte
wie „gefährlich, unhygienisch und ungepflegt“.
Ein paar Sekunden lang war dem Viscount nicht klar, ob Mrs. Kane von ihm
oder von Gladiator sprach. Er schaute an sich hinunter, um sich davon zu
überzeugen, dass seine Kleidung untadelig war.
„Er bringt Flöhe und Schmutz ins Haus“, schloss die Witwe. „Es ist
unverantwortlich, ihn in die Nähe des Babys zu lassen.“
Sie sprach also von dem Hund. Trotzdem fühlte Lord Hartleigh sich bemüßigt,
ihr zu widersprechen. „Ich bin sicher, dass er Sue nicht belästigen wird.“
„Woher wollen Sie das wissen? Und im Übrigen erwähnte ich ja bereits, dass
Maisie sich vor Hunden fürchtet.“
„Was soll ich denn mit dem armen Tor machen? Haben Sie einen
vernünftigen Vorschlag? Soll ich ihn etwa zusammen mit dem Abfall aus dem
Haus werfen?“
„Bei den Mengen an Abfall bräuchte er jedenfalls nicht zu hungern.“
Der Viscount seufzte auf. „Seien Sie doch vernünftig, Mrs. Kane. Man kann
einen Hund wie Gladiator nicht einfach vor die Tür setzen, es gibt schlechtes
Wetter, zu schnell fahrende Kutschen und ...“ Und vor allem würde Tor immer
wieder zurückkommen, das hatte die Erfahrung bereits gezeigt.
„Wenn Sie ein neues Zuhause für Sue finden können, können Sie auch dem
Hund eines besorgen.“
„Sie schlagen mir also vor, eine Annonce in die Zeitung zu setzen, die in etwa
lauten würde: Nette Familie für kleines Mädchen und alten Hund – beide von
zweifelhafter Herkunft – gesucht.“
Carissa krauste die Stirn. Lord Hartleighs Humor behagte ihr nicht. „Bringen
Sie das Tier wenigstens im Stall unter.“
„Unmöglich! Tor würde nämlich die ganze Zeit heulen. Sie machen sich keine
Vorstellung davon, wie laut er sein kann, wenn er keine Möglichkeit hat, sich
einen Fluchttunnel aus seinem Gefängnis zu graben.“
Jetzt war es an Mrs. Kane, tief aufzuseufzen. „Sie hätten das Monster
überhaupt nicht herbringen sollen.“
„Es gibt einiges, das ich nicht hätte tun sollen. Aber was geschehen ist, lässt
sich nun einmal nicht mehr ändern.“ Beispielsweise hätte er in der letzten
Nacht nicht so viel Wein trinken sollen ... Er litt noch immer unter den
Nachwirkungen.
Beispielsweise hätte er nicht mit der Mutter der kleinen Sue schlafen sollen,
dachte Carissa. Laut sagte sie: „Ich habe eine Liste mit Dingen
zusammengestellt, die Sie brauchen werden, wenn das Baby vorerst hier
bleiben soll.“
Lesley Hammond schaute sich um. Seiner Meinung nach bot sein Haus
bereits alles, was ein Kind brauchte: die Böden waren gewischt, die Teppiche
gereinigt – anscheinend war grau doch nicht ihre ursprüngliche Farbe gewesen
–, die Möbel glänzten und verströmten einen Duft nach Bienenwachs. Auch der
Ausblick aus den Fenstern hatte sich geändert, was in erster Linie daran liegen
mochte, dass das Glas jetzt streifenfrei sauber war. Was also wollte Mrs. Kane
noch von ihm? Er griff nach der Liste.
Als Erstes fiel ihm auf, dass die Handschrift die einer gebildeten Frau war.
Dann fiel ihm auf, dass die Liste ziemlich lang war. Und schließlich fiel ihm auf,
dass auf ihr so unsinnige Dinge wie „eine Köchin“ aufgeführt waren.
„Ich esse im Allgemeinen in meinem Club“, erklärte er.
„Wollen Sie Maisie und die anderen Dienstboten dorthin mitnehmen? Nein?
Dann müssen Sie eine Köchin einstellen, denn Maisie kann diese Aufgabe nicht
übernehmen. Zum einen hat sie wahrscheinlich nie kochen gelernt, zum
anderen soll sie ihre Zeit ja Sue widmen.“
„Wenn mich nicht alles täuscht, dann haben Frauen seit Jahrhunderten alle
Arbeiten im Haus – und dazu gehört ja auch das Kochen – erledigt, obwohl sie
kleine Kinder zu versorgen hatten.“
„Ja. Manche dieser Frauen haben darüber hinaus auch ihren Männern
geholfen, die Felder zu pflügen und die Kühe zu melken. Und dann sind sie jung
gestorben. Maisie jedenfalls ist nicht kräftig genug, um schwere Arbeiten zu
verrichten. Sie braucht gesunde Mahlzeiten, wenn sie Sue stillen soll. Und
Byrds Kochkünste dürften – nach allem, was ich gesehen habe – gerade
ausreichen, um Tee und harte Brötchen zu servieren.“
„Das stimmt nicht“, widersprach der Bedienstete, der gerade in diesem
Moment, ein Tablett balancierend, eintrat. „Ich mache viel lieber süße
Hörnchen als harte Brötchen. Probieren Sie doch mal!“
Carissa schüttelte den Kopf, doch Lord Hartleigh griff heldenmütig nach
einem der unförmigen Gebäckstücke und biss vorsichtig hinein. Mit einer
Grimasse legte er das Hörnchen zurück auf den Teller. Bisher hatte er
angenommen, Byrd habe seine Vorderzähne bei einem Boxkampf verloren. Jetzt
war er sich dessen nicht mehr so sicher.
Trotzdem fiel es ihm nicht leicht, Mrs. Kane Recht zu geben. „Ich sehe ein,
dass ich eine Köchin brauche. Die könnte dann auch die Aufgaben einer
Haushälterin übernehmen.“
„Ja, sofern sie geeignet ist, die anderen Bediensteten zu beaufsichtigen.“
Der Viscount hatte sich unterdessen wieder in die Lektüre der Liste vertieft.
„Zwei Zimmermädchen“, las er laut vor, „eine Küchenhilfe, ein Hausdiener, ein
Stallbursche, ein ...“ Er hob den Kopf. „Bei Jupiter, Mrs. Kane, dies ist ein kleiner
Haushalt. Außer mir lebt hier bloß noch ein Baby. Dieses Personal würde
ausreichen, um eine Großfamilie zu versorgen.“
Carissa biss sich verlegen auf die Unterlippe. Dann nahm sie all ihren Mut
zusammen und erklärte: „Ich bitte um Entschuldigung. Meine Überlegung war
folgende: Sie sind in der Lage, einer Reihe von Menschen Arbeit zu geben, und
die Leiterin des Findelhauses erwähnte, dass einige ihrer Schützling alt genug
sind, um eine Stellung anzunehmen.“
Byrd griff nach dem Tablett und wandte sich zur Tür. „Weiber“, murmelte er
laut genug, um gehört zu werden, „Weiber und ihre verrückten Ideen. Sie
können einen Mann wirklich aus dem Haus treiben. Ich glaube, ich werde
wieder zur See fahren.“
„... ein Reitknecht“, meinte der Viscount mit gerunzelter Stirn. „Mrs. Kane, es
gibt hier nichts zu tun für all diese Leute. Meine Pferde – mit Ausnahme der
Braunen – sind in den Stallungen von Hammond House oder auf meinem
Landsitz untergebracht. Es wird Sie wahrscheinlich freuen zu hören, dass ich
dort ganze Armeen von Dienstboten beschäftige.“
„Nun, Sie werden zumindest einen jungen Burschen brauchen, der den Hund
ausführt. Oder haben Sie sich entschlossen, sich doch von Tor zu trennen?“
„Natürlich nicht.“
„Gut. Dann könnte der Bursche mit dem Hund im Stall übernachten und
gleichzeitig auf Ihre Pferde Acht geben.“
„Ich werde darüber nachdenken“, versprach Lord Hartleigh diplomatisch,
„vorausgesetzt, dass Sie morgen herkommen und mich bei den
Einstellungsgesprächen unterstützen.“
Carissa lächelte, und wieder änderte sich dadurch ihr ganzes Gesicht. Sie sah
plötzlich viel jünger, viel weniger streng und überraschend hübsch aus. „Ich
wollte sowieso vorbeischauen, um mich davon zu überzeugen, dass es Sue und
Maisie gut geht. Wenn Sir Gilliam mich eine Zeit lang entbehren kann, werde
ich Ihnen auch gern bei der Auswahl der Dienstboten helfen.“
„Danke.“ Der Viscount musste sich eingestehen, dass Mrs. Kane – so
unerträglich sie auch sein konnte, wenn es um Moral, Hygiene und Ähnliches
ging – durchaus ihre guten Seiten hatte. Freundlich erwiderte er ihr Lächeln.
Und schon hatte sie ihm, seine gute Stimmung nutzend, eine neue Liste in die
Hand geschoben.
„Was ist das?“ fragte er irritiert.
„Eine Aufstellung der Dinge, die das Baby brauchen wird, wenn es eine Zeit
lang hier bleiben soll.“
Die Liste war eng geschrieben und umfasste zwei Seiten. „Bei allen Göttern,
Wellingtons ganze Armee muss mit weniger auskommen!“
„Soweit ich weiß, gehören dieser Armee keine Säuglinge an“, gab Carissa
spitz zurück. Ihr Charme war wie fortgeblasen.
„Ich kann ja noch verstehen, dass Sue eine Wiege braucht. Decken hat sie
bereits, und Windeln haben wir schon heute gekauft. Ein paar Kleidungsstücke
noch, das müsste doch genügen. Warum soll ich all diese anderen Dinge
anschaffen?“
„Wenn Sie wollen, dass das Baby gesund bleibt, dann müssen Sie dafür
sorgen, dass es frische Luft bekommt. Dazu brauchen Sie einen Kinderwagen.
Was nun Puder und feine Seife angeht, so müssen selbst Sie einsehen ...“
Lord Hartleigh hörte nur mit einem Ohr hin, denn ihm war inzwischen klar
geworden, dass er Mrs. Kanes Argumenten nichts entgegenzusetzen hatte. Er
würde wohl kaufen müssen, was sie vorschlug.
„... noch eine Rassel und einen Beißring“, beendete die Witwe endlich ihren
Vortrag.
„Hat Ihre Tochter all diese Dinge auch gehabt?“ erkundigte der Viscount sich.
„Ja“, war die nach dem vorhergehenden Redeschwall überraschend kurze
Antwort.
„Wo ist Pippa überhaupt?“
„Bei Maisie. Ich nehme an, sie schläft noch. Sie ist daran gewöhnt, sich
mittags etwas aufzuruhen.“
„Sie ist ein sehr ruhiges kleines Mädchen.“
Carissa zuckte die Schultern. „Sir Gilliam ist alt und leidend. Er darf nicht
gestört werden. Also musste Pippa lernen, leise zu sein.“
Lord Hartleigh nickte. Aber im Innersten war er nicht davon überzeugt, dass
es normal für eine Vierjährige war, sich so still und unauffällig zu benehmen. Er
hatte zwar wenig Erfahrung mit Kindern, doch es war ihm nicht entgangen,
dass die meisten von ihnen sich lieber bewegten, statt stillzusitzen. Sie wollten
rennen, rufen und spielen. Und das erschien ihm – insbesondere wenn er an
seine eigene Kindheit zurückdachte – völlig natürlich.
Mrs. Kanes Stimme riss ihn aus seinen Überlegungen.
„Sie brauchen auch noch eine Reihe von Kleidungsstücken für Sue,
Unterwäsche zum Beispiel, außerdem warme Söckchen sowie ein paar
Jäckchen. Vielleicht sollte ich Maisie beibringen, wie man Babysachen strickt.“
Sie selbst hatte sich, während sie mit Pippa schwanger war, oft stundenlang mit
Stricken beschäftigt. „Lätzchen, Schlafanzüge und Kittelchen allerdings kaufen
Sie besser.“
„Byrd!“ rief der Viscount. „Ich habe einen Auftrag für dich!“
Der Bedienstete hatte nur einen kurzen Blick auf die Liste geworfen und heftig
den Kopf geschüttelt. „Nein, Captain“, verkündete er dann, „das werde ich
nicht besorgen. Sie können mich losschicken, um Krawatten oder
Taschentücher für Sie zu kaufen. Aber diesen Babykram hole ich nicht!“
Carissa musste ein Lächeln unterdrücken. Sie verstand den armen Byrd.
Wahrscheinlich war er mit der Aufgabe, die Lord Hartleigh ihm zugedacht hatte,
völlig überfordert. Also kam sie ihm zu Hilfe. „Vielleicht ist es völlig unnötig, ein
Geschäft aufzusuchen. Die meisten Familien heben Babykleidung auf dem
Dachboden auf, wenn sie gerade nicht benötigt wird.“
Die Miene des Viscount hellte sich auf. „Dann bewahren Sie das, was Pippa
nicht mehr passt, auf Sir Gilliams Speicher auf?“
„Nein. Als ich nach London kam, habe ich alles unnötige Gepäck
zurückgelassen.“ Tatsächlich hatte sie alles – angefangen bei den
spitzenbesetzten Häubchen bis hin zu den winzigen selbst gestrickten
Söckchen – verkaufen müssen, um zu überleben. Wenn Sir Gilliam nicht bereit
gewesen wäre, sie als Haushälterin einzustellen, dann ... Nun, sie wollte jetzt
nicht daran denken.
Ihre Augen jedoch hatten Lord Hartleigh verraten, dass etwas nicht in
Ordnung war. Ob sie noch immer um ihren gefallenen Ehemann trauerte? Ob
sie noch immer darunter litt, dass Pippa ihren Vater nie kennen gelernt hatte?
Oder ob in Wirklichkeit alles ganz anders gewesen war?
Lesley Hammond hatte von Anfang an gewisse Zweifel daran gehegt, dass
Mrs. Kane verwitwet war. Er hielt es für durchaus möglich, dass Pippa die
uneheliche Tochter eines wohlhabenden Adligen war. Sicher, Sir Gilliams
Haushälterin wirkte auf den ersten Blick nicht besonders reizvoll. Trotzdem
mochte ein Gentleman sie zu seiner Mätresse gemacht haben. Schließlich
schien sie – auch wenn dies nicht sofort ins Auge fiel – sehr temperamentvoll zu
sein. Außerdem gab es bestimmt auch Männer, die sich von ihrem fürsorglichen
Wesen angezogen fühlten.
Und das war noch längst nicht alles, was man zu Gunsten von Mrs. Kane
sagen konnte. Er selber schuldete ihr großen Dank, weil sie ihm geholfen hatte,
als er nicht mehr weiter wusste. Allein dafür, dass sie Maisie gezeigt hatte, wie
sie Sues Windeln wechselnmusste, hätte er sie, ohne zu zögern, mit seinem
Lieblingspferd und seiner mit Diamanten besetzten Krawattennadel belohnt. Er
hätte ihr sogar gestattet, vorübergehend Byrds für ihn unschätzbar wertvolle
Dienste in Anspruch zu nehmen.
Jedenfalls zweifelte er nicht daran, dass Mrs. Kane mehr war als eine kluge
und gewissenhafte Haushälterin und liebevolle Mutter. Sie hütete ein dunkles
Geheimnis. Irgendwo in ihrer Vergangenheit gab es etwas, von dem niemand
erfahren sollte. Es reizte ihn durchaus herauszufinden, worum es sich handelte.
Doch das musste warten. In erster Linie ging es jetzt darum, der angeblichen
Witwe für ihre Unterstützung zu danken.
Lord Hartleigh war sich ziemlich sicher, dass sie sich für ihre Bemühungen
nicht würde bezahlen lassen. Aber inzwischen kannte er ihren schwachen
Punkt: Sie liebte Pippa über alles und würde es gewiss nicht übers Herz
bringen, ihrer Tochter irgendetwas abzuschlagen, worüber sie sich freuen
würde. Pippa schien wenig oder kein Spielzeug und auch keine Bilderbücher zu
besitzen. Nun, da konnte rasch Abhilfe geschaffen werden.
„Ich glaube“, meinte der Viscount nachdenklich, „dass sich auf dem
Dachboden von Hammond House tatsächlich beinahe alles befindet, was wir für
Sue brauchen.“ Und eine Menge für Pippa außerdem, setzte er in Gedanken
hinzu.
„Gut, dann brauchen Sie es ja nur zu holen.“
Byrd, der noch immer das Tablett fest in den Händen haltend an der Tür
stand, grinste. „Ich freue mich schon auf den Vortrag, den Lady Agatha Ihnen
halten wird, wenn Sie dort auftauchen, um Sue mit Kleidung zu versorgen. Die
Frau hat Sie schon immer für einen Teufel in Menschengestalt gehalten.“
„Ich hatte eigentlich gehofft, Lady Agatha würde durch andere von meiner
Tochter erfahren und so schockiert sein, dass sie nie wieder ein Wort mit mir
wechselt.“
Carissa hob die Augenbrauen, und Lord Hartleigh fühlte sich bemüßigt, ihr
eine Erklärung zu geben. „Lady Agatha, die zweite Gemahlin meines
verstorbenen Vaters, ist nicht nur hässlich, sondern auch ausgesprochen
intrigant. Sie hat eine scharfe Zunge und kennt keine Skrupel, wenn es darum
geht, ihre Ziele zu erreichen. Eines dieser Ziele ist, mich mit einer ihrer
jüngeren, aber keineswegs anziehenderen Halbschwestern zu verheiraten. Sie
fürchtet nämlich, ich könne sie aufs Witwenteil schicken, wenn ich mich zur Ehe
mit einer Dame entschließe, auf die sie keinen Einfluss hat.“
Mrs. Kane schwieg, aber er glaubte, etwas wie Mitgefühl in ihren Augen zu
entdecken. Deshalb fuhr er rasch fort: „Mir kommt da gerade eine Idee. Morgen
ist Mittwoch. Das heißt, Lady Agatha und ihre Halbschwestern werden den
Abend bei Almack’s verbringen. Wir könnten dann ungestört den Dachboden
durchstöbern. Sie werden mir doch helfen, Mrs. Kane, die Dinge auszusuchen,
die Sue braucht?“
„Sie meinen, Lord Hartleigh will sich heimlich auf den Dachboden seines
eigenen Stadthauses schleichen, um von dort ein paar Babysachen zu holen?“
Sir Gilliam lachte, bis ihn ein Hustenanfall überkam.
Carissa Kane sprang auf und reichte ihm ein Glas mit Wasser und ein paar
Tropfen seiner Arznei. Mason, der Butler, der ebenfalls anwesend war, legte den
Kopf schief, wodurch er mehr als jemals zuvor einem Wiesel glich.
Endlich war der Hustenanfall überwunden, und Sir Gilliam lächelte seiner
Haushälterin zu. Er hatte sie – sehr zu Masons Unbehagen – gebeten, das
Dinner mit ihm einzunehmen. Er genoss ihre Gesellschaft, auch wenn er in der
Regel darauf achtete, dass die Rollen klar verteilt waren: Er war der Herr, sie die
Bedienstete.
An diesem Abend allerdings sah Carissa aus wie ein Mitglied der besten
Gesellschaft. Sie hatte das einzige Abendkleid angezogen, das sie besaß und
das sie gelegentlich durch kleine Änderungen der neuesten Mode anpasste.
Zudem hatte sie ihr Haar nur locker hochgesteckt, wodurch sie völlig verändert
wirkte. Nichts an ihrem Äußeren erinnerte noch an die strenge Witwe, die stets
langweilige Hauben und schwarze Kleidung trug.
Sir Gilliam war sehr angetan von ihrem ungewohnten Aussehen, von ihrer
stolzen Haltung und den hervorragenden Manieren, die sie an den Tag legte.
Mason hingegen hatte etwas Abwertendes über Frauen gemurmelt, die ihre
Stellung vergaßen.
„Und Sie haben ihn wirklich gedrängt, die Windeln des Babys zu wechseln?“
fragte Sir Gilliam zum dritten Mal. Sein sonst stets blasses Gesicht hatte vom
vielen Lachen eine beinahe gesunde Farbe angenommen.
„Ja“, wiederholte Carissa bereitwillig ihren Bericht. „Erst sah es sogar so aus,
als würde er die Aufgabe tatsächlich erledigen können. Doch dann, als er die
schmutzige Windel in der Hand hielt, nahm sein Gesicht plötzlich einen
grünlichen Ton an, und er musste in aller Eile das Badekabinett aufsuchen, und
zwar nicht, um die Windel zu waschen.“
„Der arme Mann ... Niemand hat es gern, wenn ihm plötzlich übel wird.“
„Es ging ihm gleich wieder besser, als Sue ihn kurz darauf anlächelte. Ich
glaube, in diesem Moment wäre er bereit gewesen, ihr den Mond vom Himmel
zu holen. Ich habe selten einen Mann erlebt, der so von einem Baby hingerissen
war.“
„Das hat Sie wohl sehr beeindruckt?“ Sir Gilliam lächelte. „Ich nehme an,
dass Sie ihm unter diesen Umständen helfen wollen, die richtigen Dinge für Sue
auszuwählen, wenn er dem Dachboden seines Stadtpalais einen Besuch
abstattet?“
„Nur, wenn Sie mich entbehren können. Ich würde auch gern bei der Auswahl
des neuen Personals dabei sein.“
„Selbstverständlich, meine Liebe.“
„Vielen Dank. Dann werde ich morgen Vormittag an den
Vorstellungsgesprächen teilnehmen. Ich kann Maisie dann gleich bitten, sich
morgen Abend um Philippa zu kümmern, während ich mit Seiner Lordschaft
Hammond House aufsuche.“
„Gut“, meinte Sir Gilliam abschließend, „aber, bitte, seien Sie vorsichtig,
Carissa.“
„Natürlich“, gab diese zurück, wobei sie allerdings nicht an das
Herumstöbern auf dem Dachboden von Hammond House dachte, sondern an
den viel zu attraktiven Lord Hartleigh.
4. KAPITEL
Nach dem Abendessen am Mittwoch bereitete Mrs. Kane alles für den geplanten
Ausflug nach Hammond House vor. Da ihre Tochter bei Maisie und Sue bleiben
sollte, packte sie Pippas Nachthemd, ihre Lieblingspuppe, ihre Decke und ein
Bilderbuch ein. Auch ein paar Kekse legte sie dazu. Dann wollte sie noch das
kleine Kopfkissen des Mädchens und die Miniatur holen, die Mr. Kane darstellte,
doch Pippa hielt sie davon ab. „Warum sollen wir das alles mitnehmen?“ meinte
sie. „Ich bin doch kein Baby mehr, Mama.“
„Du bist mein Baby“, gab Carissa zurück, während sie für die Katze einen
Napf mit Futter füllte. Tatsächlich war sie bedeutend nervöser als ihre Tochter.
Schon den ganzen Tag über hatte sie sich immer wieder gefragt, wie sie bloß
auf die Idee hatte kommen können, der Bitte des Viscount nachzugeben. Sie
hatte in Hammond House nichts zu suchen. Warum also sollte sie ihn begleiten?
Er war nicht einmal jemand, in dessen Gesellschaft sie sich aufhalten sollte. Er
war unmoralisch, ein Draufgänger und ein Frauenheld, der nur deshalb für eine
Tochter zu sorgen hatte, weil er sich verantwortungslos verhalten hatte. Aber er
kümmerte sich zugegebenermaßen wirklich hingebungsvoll um Sue.
Himmel, wenn er doch wenigstens nicht so attraktiv wäre!
Dies alles hätte Carissa Kane wahrscheinlich nicht so viel zu schaffen
gemacht, wenn sie nicht zudem von einem schlechten Gewissen geplagt
worden wäre. Sie hatte das Gefühl, Sir Gilliams Freundlichkeit auszunutzen. Sie
durfte den alten Herrn, der so gut zu ihr gewesen war, nicht im Stich lassen. Ja,
ließ sie nicht sogar ihre eigene Tochter im Stich, wenn sie sie der unerfahrenen
Maisie anvertraute? Außerdem hielt sich dieser schreckliche Hund immer noch
in Lord Hartleighs Haus auf. Er war bestimmt nicht so ungefährlich, wie der
Viscount behauptete. Vielleicht würde das Monster Pippa sogar beißen!
„Gladiator ist harmlos“, versuchte Lesley Hammond Mrs. Kane wenig später
zu beruhigen. „Er scheint Philippa zu mögen. Und – schauen Sie nur –
offensichtlich erwidert sie seine Zuneigung.“
Erschrocken sah Carissa sich nach dem Mädchen um. Pippa saß neben dem
Herd auf dem Fußboden. Den Daumen der linken Hand hatte sie in den eigenen
Mund geschoben, die Finger der rechten Hand in Tors Schnauze. Sie fütterte
den Hund mit Keksen! Bestimmt würde das Untier gleich zuschnappen!
Mrs. Kane stieß einen spitzen Schrei aus. Pippa schaute verwundert auf. Byrd
ließ das Tablett fallen, auf dem sich außer einer Kanne Tee auch die leckeren
Plätzchen befanden, die die neue Köchin gebacken hatte. Gladiator sprang auf,
stieß Pippa dabei um und machte sich über die Kekse her. Der Viscount wollte
dem Kind zu Hilfe kommen, stolperte dabei über den Hund und landete der
Länge nach auf dem Küchenfußboden.
Pippa begann zu lachen.
Lord Hartleigh starrte sie an. Mrs. Kane starrte ihn an. Byrd starrte, um
Fassung bemüht, aus dem Fenster. Und Pippa lachte immer noch.
Gladiator nutzte die Chance, auch die restlichen Plätzchen zu vertilgen.
Endlich hatte Carissa sich so weit gefasst, dass sie zu ihrer Tochter eilen und
ihr die Finger abwischen konnte. „Mylord“, sagte sie über die Schulter zu
Hartleigh, „ich kann Sie nicht nach Hammond House begleiten. Ihnen scheint
es ja nichts auszumachen, Ihre Tochter mit diesem gefährlichen Hund allein zu
lassen. Meine Tochter aber werde ich dieser Gefahr nicht aussetzen.“
„Mama, du übertreibst mal wieder.“
Wohlwollend nickte der Viscount dem Mädchen zu. „Sie machen sich wirklich
unnötige Sorgen, Mrs. Kane“, stellte er fest. „Doch wenn es Sie beruhigt,
können wir Tor mitnehmen.“
Sie sollte die Kutsche mit diesem Untier teilen? Niemals! „Nein. Ich fürchte,
es war von Anfang an keine gute Idee, Sie nach Hammond House zu begleiten.
Sie werden problemlos allein zurechtkommen. Sie müssen ja nur eine Wiege
und ein paar Kleidungsstücke vom Dachboden holen.“
Lord Hartleigh unterdrückte ein Lächeln. „Sie dürfen mich jetzt nicht im Stich
lassen, Mrs. Kane“, meinte er. „Ich brauche Ihre Hilfe. Tor soll sich zu Byrd auf
den Kutschbock setzen.“
Die Vorstellung gefiel Carissa. Vielleicht würde der Hund unterwegs verloren
gehen. Aber konnte sie Pippa wirklich mit Maisie allein lassen?
„Ich freue mich so darauf, im selben Zimmer wie Sue zu schlafen“, sagte das
Mädchen in diesem Moment.
Mrs. Kane seufzte tief auf.
Der Butler, der ihnen die beeindruckende schwere Eichentür von Hammond
House öffnete, wirkte so würdevoll und unnahbar, dass Mrs. Kane sofort eine
heftige Abneigung gegen ihn fasste. Statt sich über den Besuch seines Herrn zu
freuen, erklärte er in herablassendem Ton: „Ich bedauere, Ihnen mitteilen zu
müssen, Euer Lordschaft, dass Lady Hartleigh nicht daheim ist. Möchten Sie
eine Nachricht hinterlassen?“
„Nein, Wimberly. Ich hatte nicht die Absicht, Lady Hartleigh oder ihren
Schwestern einen Besuch abzustatten. Mrs. Kane und ich sind hier, um einige
Teile vom Dachboden und aus den Kinderzimmern zu holen. Wir werden ein
paar starke Männer brauchen, um die Dinge nach unten zu bringen, und eine
Kutsche, um sie nach Kensington zu transportieren.“
„Aus den Kinderzimmern, Mylord?“
Ja, das sind die Räume, in denen sich die kleinen Menschen im Allgemeinen
aufhalten müssen, damit sie die großen Menschen nicht stören.“ Während er
sprach, hatte er Mrs. Kane ihren wollenen Umhang abgenommen. Der Butler
schnippte mit den Fingern, und ein junger Hausdiener eilte herbei, um das
wenig elegante Kleidungsstück aufzuhängen.
„Euer Lordschaft, Sie können nichts mitnehmen. Ich meine, es wird Lady
Hartleigh ...“
„Wimberly“, unterbrach der Viscount ihn, „wem gehört dieses Haus?“
„Ihnen. Aber ...“
„Und wem gehört alles, was sich in diesem Haus befindet?“
„Ihnen, Mylord. Aber Lady Hartleigh wird mich hinauswerfen, wenn ich ...“
„Wer zahlt Ihren völlig überhöhten Lohn, Wimberly?“
Der Butler gab sich geschlagen. „Wie viele Männer werden Sie brauchen,
Euer Lordschaft?“
„Zwei oder drei. Sie können sie später hinaufschicken. Jetzt brauchen wir erst
einmal zwei gute Laternen.“
„Sofort!“
Lord Hartleigh führte Mrs. Kane zur Treppe. Während sie die Stufen
hinaufstiegen, erzählte er, dass seine Stiefmutter darauf bestanden hatte,
Wimberly einzustellen. „Sie war der Meinung, dass ein ehemaliger Preisboxer
wie Byrd ungeeignet sei, in einem vornehmen Haushalt die Aufgaben eines
Butlers zu übernehmen.“
„Preisboxer? Ich nahm an, Byrd sei als Matrose zur See gefahren.“ Sie dachte
an die Möwen-Tätowierung, die den kahlen Schädel des Mannes zierte.
„Das stimmt. Er hat auf meinem Schiff gearbeitet. Ah, da bringt man uns die
Laternen!“
Gleich darauf betraten sie den mit Truhen, Kisten, Gemälden, Teppichen und
Ähnlichem voll gestellten Dachboden. Der Viscount hatte Recht gehabt mit
seiner Vermutung, dass seine Mutter nichts fortgeworfen hatte. Zum Glück war
sie eine sehr ordentliche Frau gewesen, die dafür gesorgt hatte, dass die
meisten Truhen beschriftet worden waren.
Carissa konnte nicht umhin festzustellen, dass der Dachboden von Hammond
House sauberer und besser aufgeräumt war als Lord Hartleighs Haus in
Kensington. Wirklich beeindruckt zeigte sie sich, als sie bemerkte, dass
zwischen den Decken, Laken und Bezügen, unter denen sie etwas Passendes für
Sue heraussuchen wollte, Lavendelzweige lagen, damit die Stoffe nicht muffig
wurden.
Der Viscount machte sich unterdessen auf die Suche nach den größeren und
schwereren Dingen, die auf Mrs. Kanes Liste aufgeführt waren. An alten
Bettgestellen, Kommoden und Sesseln vorbei bahnte er sich einen Weg zu
jenem Teil des Dachbodens, wo Kindermöbel aufbewahrt wurden. Als Erstes
entdeckte er einen Hochstuhl. Aber da Sue noch nicht sitzen konnte, hatte Mrs.
Kane keinen Stuhl notiert. Lord Hartleigh beschloss, ihn trotzdem
mitzunehmen. Man konnte ja nie wissen, wie bald Sue ihn brauchen würde.
Eine Zeit lang stand er vor drei kleinen Wiegen, ohne sich entscheiden zu
können, welche davon er am schönsten fand. Schließlich befahl er den
inzwischen aufgetauchten Lakaien, zwei der Wiegen nach unten zu bringen. Bei
den Kinderwagen fiel ihm die Entscheidung leichter. Der aus Korb sah hübscher
aus als der hölzerne. Andererseits könnte er auch einen neuen für Sue
anfertigen lassen ...
Endlich wandte er seine Aufmerksamkeit wieder Mrs. Kane zu. Sie hatte eine
Decke auf dem Fußboden ausgebreitet und alles, was sie mitnehmen wollte,
darauf gelegt. „Natürlich müssen die Kleidungsstücke gründlich gewaschen
werden“, verkündete sie. „Und ein paar der Häubchen sollte man bleichen.
Außerdem habe ich leider feststellen müssen, dass einige Wolljäckchen von
Motten beschädigt worden sind. Man könnte sie flicken, aber unter Umständen
ist es klüger, sich ganz von ihnen zu trennen. Wollen Sie sie vielleicht dem
Findelhaus zur Verfügung stellen?“
Ein kurzes Ja war alles, was Lord Hartleigh über die Lippen brachte.
Fassungslos starrte er auf die Menge an Dingen, die Mrs. Kane auf die Decke
gelegt hatte.
„So“, sagte die Haushälterin gerade zufrieden, „diese Rassel nehmen wir
noch mit. Das, denke ich, wäre dann alles.“
„Wahrhaftig, Sue selbst wird neben all diesen Sachen keinen Platz in ihrem
Zimmerchen mehr haben.“
Carissa lachte nur. Sie gab den Lakaien ein paar letzte Anweisungen und
folgte dann dem Viscount zur Treppe. Dabei kamen sie an ein paar Gemälden
vorbei, von denen eines sogleich ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. Es stellte
eine sehr schöne junge Frau dar, die nach der Mode des letzten Jahrhunderts
gekleidet war.
„Meine Mutter“, erklärte Lesley Hammond. „Mein Vater ließ das Porträt kurz
nach der Hochzeit malen. Es hing in der Bibliothek, bis Agatha seine Frau
wurde und ins Haus zog.“
Dass die zweite Lady Hartleigh es vorgezogen hatte, das Porträt ihrer
bezaubernden Vorgängerin auf den Dachboden zu verbannen, konnte Carissa
verstehen. Andererseits war das Bild viel zu schön, um hier in Vergessenheit zu
geraten. „Wollen Sie es nicht mitnehmen, Mylord? Ihr Haus in Kensington kann
ein paar Verschönerungen vertragen.“
Der Viscount nickte den Lakaien zu. Er wies sie auch an, eine Bodenvase, die
einst im Salon seiner Mutter gestanden hatte, sowie einen kleinen Paravent und
ein kunstvoll gearbeitetes Nähkörbchen in die Kutsche zu bringen. „Es wäre
doch schön, wenn Maisie die Babysachen selber reparieren könnte“, meinte er.
„Sie werden eine zweite Kutsche für den Transport all dieser Dinge
brauchen“, neckte Mrs. Kane ihn.
Er lachte. „Wir waren ja noch nicht einmal in den Kinderzimmern.“
„Ich kann mir nicht vorstellen, dass es dort noch irgendetwas gibt, was Sue
braucht. Wir haben alles Wichtige auf dem Dachboden gefunden. Und die
Kleine wird ja nur kurze Zeit in London sein. Sie haben doch heute mit Ihrem
Anwalt gesprochen?“
„Ja, ich habe ihn beauftragt, Informationen über geeignete Familien
einzuholen.“ Der Viscount öffnete die Tür zum ehemaligen Schulzimmer der
Hammond-Kinder. Er schaute sich kurz um und befahl dann einem der Diener,
einen Stapel Bilderbücher und einen kleinen Stuhl mitzunehmen. Das
Schaukelpferd mit den Glasaugen und der langen Mähne trug er selber.
„Es wird noch Jahre dauern, ehe Sue darauf reiten kann“, gab Carissa zu
bedenken.
„Das Pferd ist nicht für Sue. Ich dachte, Pippa würde sich vielleicht darüber
freuen.“
Ein Schaukelpferd? Mrs. Kane rief sich all das in Erinnerung, das sie ihrer
Tochter nie hatte bieten können. Teure Kleidungsstücke und Spielzeug
gehörten natürlich dazu. Schlimmer aber war, dass Pippa keine gleichaltrigen
Freundinnen hatte und keine Gouvernante. Auch Reitstunden würde sie nie
nehmen können. Die waren viel zu teuer. Schon die paar Pennys, die ein
Samtband für Pippas Haar kostete, mussten mühsam zusammengespart
werden.
In der Kutsche saß Carissa dem Viscount schweigend gegenüber. Zwischen
ihnen auf dem Boden stand das hölzerne Pferd. Nach einer Weile hob die junge
Frau den Kopf. „Es tut mir Leid, Mylord, aber ich kann Ihr Geschenk nicht
annehmen.“
„Das brauchen Sie auch nicht. Es ist ja nicht für Sie, sondern für Ihre
Tochter.“
Sie schüttelte den Kopf. „Leider kann ich nicht zulassen, dass Pippa das
Schaukelpferd bekommt. Es gehört sich nicht, dass ...“
Lord Hartleigh betrachtete sie nachdenklich. Sie rieb die Hände aneinander,
als seien sie kalt. Sie hatte schöne Hände, schlank und doch kräftig; gepflegte
Hände, trotz der vielen Arbeiten, die sie bei Sir Gilliam verrichtete. Einen
Moment lang kam ihm der Gedanke, sie zu wärmen.
Stattdessen sagte er: „Wenn ich etwas Ungehöriges verschenken wollte,
dann hätte ich mich für Juwelen oder vielleicht für einen Pelzmantel
entschieden. Ich könnte Ihnen auch ein Reitpferd zum Geschenk machen, Mrs.
Kane. Sie können doch reiten?“
„Natürlich“, gab sie, ohne zu überlegen, zurück. Dann wurde ihr klar, dass es
für eine Haushälterin recht ungewöhnlich war, reiten zu können. Rasch sagte
sie: „Warum reden Sie solchen Unsinn, Mylord? Sie wissen genauso gut wie ich,
dass es ganz undenkbar ist, mir ein Pferd zur Verfügung zu stellen. Das würde
zu äußerst unangenehmen Spekulationen in Bezug auf die Art unserer ...
Bekanntschaft führen. Und im Übrigen habe ich keine Zeit zu reiten. Schließlich
muss ich mir meinen Lebensunterhalt verdienen. Ich arbeite für Sir Gilliam.
Haben Sie das etwa vergessen?“
„Nein, keineswegs. Lieber wäre es mir allerdings, wenn Sie für mich arbeiten
würden. Wollen Sie es sich nicht noch einmal überlegen?“
„Nein. Ich werde Sir Gilliam niemals im Stich lassen.“
Lord Hartleigh schenkte ihr sein charmantes Lächeln. Doch Carissa blieb
ernst. „Versuchen Sie bitte nicht“, meinte sie, „vom ursprünglichen Thema
abzulenken. Also noch einmal: Ich kann Pippa nicht erlauben, das
Schaukelpferd anzunehmen.“
Er seufzte auf. „Aber weshalb denn nicht? Wissen Sie überhaupt, wie sehr Sie
mir geholfen haben?“
„Was ich getan habe, hätte auch jede andere tun können.“
„Oh nein! Eine Dame hätte – selbst wenn sie bereit gewesen wäre, Sues
Existenz zu akzeptieren – wahrscheinlich gar nicht gewusst, wie man ein Baby
versorgt. Mitglieder der guten Gesellschaft kümmern sich nämlich nicht selber
um ihren Nachwuchs, sondern stellen Kindermädchen, Ammen und
Gouvernanten ein, solange die Kinder klein sind. Und später werden die Kleinen
ins Internat geschickt. Ohne Sie, Mrs. Kane, hätte ich weder ein noch aus
gewusst. Sie haben mir unschätzbare Dienste geleistet. Aber – so wie ich die
Sache sehe – sind Sie nicht bereit, den gerechten finanziellen Lohn dafür zu
akzeptieren.“
„Sie wollen mich bezahlen? Niemals! Ich würde mich schämen, Geld dafür zu
nehmen, dass ich einem unschuldigen Kind helfe. Im Übrigen erhalte ich von
Sir Gilliam ein recht großzügig bemessenes Gehalt. Außerdem ... Ich will Ihnen
etwas anvertrauen: Dass ich den Ausdruck auf Wimberlys Gesicht sehen durfte,
als er beobachtete, wie Sie Hammond House mit dem Schaukelpferd verließen,
hat mich mehr als genug für alles entschädigt.“
„Sie haben sich also gut unterhalten?“
Carissa nickte.
„Und da wollen Sie Ihrer Tochter die Freude, auf dem Schaukelpferd zu
reiten, nicht gönnen? Das kann ich nicht glauben.“
„Ich verstehe nicht, was Sie meinen“, gab sie starrsinnig zurück. „Pippa mag
Sue und hat sich schon den ganzen Tag über darauf gefreut, den Abend mit ihr
verbringen zu können. Außerdem ist es für sie ein richtiges Abenteuer, einmal
in einem fremden Haus zu schlafen.“
„Das mag wohl sein. Es kann jedoch alles nicht darüber hinwegtäuschen,
dass Ihre Tochter nicht genug lacht. Es ist wahrhaftig nicht leicht, der kleinen
Pippa ein Lächeln zu entlocken. Dabei sollte ein Kind in diesem Alter
unbeschwert und fröhlich sein. Oder irre ich mich, Mrs. Kane?“
Sie senkte den Kopf.
„Also“, fuhr Lord Hartleigh fort, „lassen Sie uns gemeinsam versuchen, Pippa
eine Freude zu machen. Ich schenke ihr das Schaukelpferd – und Sie sind damit
einverstanden. Schließlich geht es hier nicht um eine Form der Bezahlung,
sondern um den Austausch kleiner Gefälligkeiten zwischen Freunden.“
Freunde ... Es war lange her, dass Carissa echte Freunde gehabt hatte.
Vielleicht war Philippas Leben auch deshalb recht freudlos verlaufen.
Hatte das Kind jemals ein Geschenk von jemand anderem als seiner Mama
erhalten? Gut, die Köchin backte manchmal ein paar Kekse speziell für Pippa.
Sir Gilliam war freundlich zu ihr, aber besondere Beachtung schenkte er ihr
nicht. Und ihr Vater, Phillip Kane? Er hatte England vor der Geburt seiner
Tochter verlassen. Auch ihren Großvater hatte die Kleine nie kennen gelernt, da
dieser sich geweigert hatte, Carissa je wieder zu sehen, nachdem sie gegen
seinen Willen geheiratet hatte.
Tränen stiegen der jungen Frau in die Augen. Sie unterdrückte ein
Schluchzen, holte tief Luft und sagte: „Lord Hartleigh, Sie sind der freundlichste
Mensch, der mir je begegnet ist.“
Freundlich? Beinahe hätte er laut aufgelacht. Schließlich wusste er sehr wohl,
dass man ihn Lord Herzlos nannte. Wenn Mrs. Kane seine kleine Geste so viel
bedeutete, dann musste sie wahrhaftig schlimme Zeiten erlebt haben.
Lord Hartleigh bestand darauf, die verschlafene Pippa in Sir Gilliams Haus
zurückzutragen. Das Schaukelpferd und ein paar andere Kleinigkeiten, erklärte
er Mrs. Kane, würde Byrd am nächsten Tag hinüberbringen.
„Danke.“ Carissa lächelte schwach, während sie im Dunkeln nach ihrem
Schlüssel suchte. Mason hatte die Tür abgeschlossen, obwohl er wusste, dass
sie spät heimkommen würde. Nun, sie hatte nichts anderes von ihm erwartet.
„Man hätte wenigstens eine brennende Kerze für Sie bereitstellen können“,
meinte der Viscount.
„Ach, ich bin doch nur eine Bedienstete.“
„Trotzdem ... Ich glaube, im Vergleich zu diesem Mason ist selbst Wimberly
ein netter Mensch.“
„Ich habe die Erfahrung gemacht, dass viele Butler sich arrogant benehmen“,
erklärte Carissa, der es endlich gelungen war, die Tür zu öffnen und eine Kerze
zu finden. „Ich denke, manche Männer wählen diesen Beruf, weil er es ihnen
ermöglicht, sich anderen Menschen überlegen zu fühlen und Macht über sie
auszuüben. Bei Mason kommt noch hinzu, dass er eifersüchtig auf mich und
meine gute Beziehung zu Sir Gilliam ist.“
Zu seinem Erstaunen musste Lesley Hammond sich eingestehen, dass er den
unsympathischen Butler in dieser Hinsicht durchaus verstand. Auch er selber
verspürte eine gewisse Eifersucht – so lächerlich das auch sein mochte!
Carissa fühlte sich plötzlich unsicher und befangen. Hatte sie einen sechsten
Sinn für Lord Hartleighs Gefühle entwickelt? Jedenfalls war ihr mit einem Mal
klar, dass sie dicht neben einem Frauenhelden stand, der ohne weiteres auf die
Idee kommen mochte, die Situation auszunutzen. Jetzt trat er einen Schritt auf
sie zu. Er senkte den Kopf ein wenig. Hatte er etwa die Absicht, sie zu küssen?
Ihr Herz schlug plötzlich schneller.
Dann legte er ihr die schlafende Pippa in die Arme. Carissa kam sich plötzlich
unerfahren und albern vor. Natürlich würde ein Viscount eine Haushälterin
nicht küssen!
Er küsste sie tatsächlich nicht. Stattdessen zog er ihr mit einem kleinen Ruck
die strenge Haube vom Kopf. Und das war viel, viel schlimmer! Wie ein
Wasserfall ergossen sich ihre braunen Locken über Schultern und Rücken. Das
Licht der flackernden Kerze fing sich darin und ließ hier und da rotgoldene
Flammen aufblitzen.
„Ah ...“, murmelte Lord Hartleigh. Er deutete eine Verbeugung an und
verschwand ohne ein weiteres Wort in der Nacht.
Es war nicht Byrd, sondern der Viscount selbst, der am nächsten Vormittag das
Schaukelpferd brachte. Selbstverständlich ging er zur Vordertür.
„Lieferungen bitte hinten abgeben“, sagte der Butler wie erwartet. „Und was
Mrs. Kane betrifft, sie empfängt nur am Samstag private Besuche, dann hat sie
nämlich einen halben Tag frei.“
Lord Hartleigh stellte das Schaukelpferd ab und zog sein Lorgnon aus der
Rocktasche. Er hob es ans Auge und musterte Mason lange und gründlich.
Schließlich erklärte er kühl: „Ich glaube fast, ich muss mit Sir Gilliam über Ihr
Benehmen reden, Mason.“
Die Drohung allein hätte wahrscheinlich nichts bewirkt. Doch in diesem
Moment tauchte Byrd hinter dem Viscount auf. Er trug die Kleinigkeiten – ein
paar Bücher, einen Kinderstuhl und anderes mehr –, von denen sein
Arbeitgeber in der Nacht zuvor gesprochen hatte. „Sie brauchen uns den Weg
nicht zu zeigen, Mason“, meinte er mit einem Grinsen, „wir finden die Dame
auch ohne Ihre Hilfe.“
„Dame!“ schnaubte der Butler herablassend. Aber er hielt es doch für klüger,
den Weg frei zu geben.
Die Besucher fanden Mrs. Kane und ihre Tochter wie erwartet in der Küche.
Pippa bekam beim Anblick des Schaukelpferdes große Augen und nahm
unaufgefordert den Daumen aus dem Mund. „Für mich?“ fragte sie aufgeregt.
„Nein.“ Der Viscount zwinkerte ihr zu. „Es ist für die Köchin, weil sie so gute
Ingwerplätzchen backt.“
Pippa schaute von dem Spielzeug zu ihrer Mutter und dann wieder zu Lord
Hartleigh. Plötzlich leuchtete ihr Gesicht auf, und sie warf sich dem
überraschten Gentleman in die Arme. Nachdem sie ihn herzhaft auf beide
Wangen geküsst hatte, legte sie eine Hand vorsichtig auf die Mähne des
hölzernen Pferdes. „Darf ich jetzt darauf reiten?“
Mrs. Kane schluckte. Nie zuvor hatte sie ihr kleines Mädchen so glücklich
gesehen. Es wäre wirklich unverzeihlich gewesen, Pippa diese Freude zu
nehmen. Und doch hatte sie, Carissa, sich durch ihren dummen Stolz beinahe
dazu verleiten lassen, das Geschenk zurückzuweisen.
Der Viscount hob das Kind in den Sattel. Und während die Kleine zuerst
vorsichtig, dann immer mutiger zu schaukeln begann, stellte ihre Mutter
fassungslos fest, dass Pippa mit einem Mal reden konnte wie ein Wasserfall. Da
war von der Farbe des Pferdes die Rede, von Sue, die auch würde reiten dürfen,
wenn sie erst größer war, und davon, dass nur ein richtiges Pony noch schöner
sein könnte.
„Wie kann ich Ihnen jemals für Ihre Großzügigkeit danken, Mylord?“
„Sie könnten mir helfen, die Dinge, die wir letzte Nacht geholt haben, an
ihren Platz zu räumen.“
„Das ist eine gute Idee“, murmelte Byrd und stellte alles, was er getragen
hatte, auf dem Küchenfußboden ab. „Drüben herrscht nämlich schon wieder
Chaos.“
Mrs. March, die Köchin, warf ihm einen mitfühlenden Blick zu und stellte
einen Teller mit Mohnkuchen vor ihn auf den Tisch. „Stärken Sie sich erst
einmal.“
„Bitte, bedienen Sie sich doch auch“, forderte Carissa Lord Hartleigh auf. „Es
ist auch Tee da.“ Schon hatte sie vier Steinguttassen gefüllt.
Dann saßen alle – außer Pippa natürlich, die noch immer begeistert
schaukelte – um den Küchentisch herum, und Mrs. Kane dachte zum
hundertsten Mal, dass der Charakter des Viscount ihr für immer ein Rätsel
bleiben würde. Wie konnte ein Mensch nur so widersprüchlich sein?
Überheblich und mitfühlend, unmoralisch und hilfsbereit, hart und doch vom
Lächeln eines Kindes hingerissen ...
„Sie werden also kommen, Mrs. Kane?“
Sie zuckte zusammen. „Wie bitte?“
„Sie kommen hinüber, um Maisie beim Sortieren und Einräumen von Sues
neuen Sachen zu helfen? Vielleicht könnten Sie auch mit den neuen
Dienstboten reden?“
Carissa schüttelte den Kopf. „Um Ihr Personal sollten Sie sich wirklich selber
kümmern. Außerdem muss ich heute Nachmittag Hustensaft aus der Apotheke
holen, weil Sir Gilliams Gesundheitszustand sich verschlechtert hat. Auf dem
Rückweg wollen wir noch am Teich vorbeigehen. Ich habe Pippa versprochen,
mit ihr die Enten zu füttern.“
„Fein. Dann könnte ich Sie sicher begleiten. Ich wollte sowieso Sues
Kinderwagen testen. Gladiator können wir auch mitnehmen. Maisie erhält
dadurch die Gelegenheit, sich ein bisschen auszuruhen.“
Was sie da hörte, gefiel Carissa überhaupt nicht. Auch was sie sah,
beunruhigte sie. Die Männer verschlangen den Kuchen, als hätten sie noch gar
nichts gefrühstückt. War Lord Hartleighs neues Personal nicht in der Lage, den
Haushalt vernünftig zu führen? Vorsichtig fragte sie: „Haben Sie nicht einen
Jungen eingestellt, um den Hund auszuführen?“
„Er ist leider nicht lange geblieben. Tor hat ein Eichhörnchen entdeckt und
...“ Der Viscount zuckte die Schultern.
„... und der Junge konnte ihn nicht halten?“ Carissa seufzte auf. „Ihre
Haushälterin sollte sich darum kümmern, dass ein kräftigerer Junge eingestellt
wird.“
Lesley Hammond räusperte sich. „Also, die Haushälterin, die ja auch kochen
sollte, hat schon wieder gekündigt.“
„Um Himmels willen! Warum? Etwa auch wegen Tor?“
„Nein. Allerdings hat er den Hut des neuen Hausdieners gefressen, weil
dieser Dummkopf eine Fleischpastete darin aufbewahrt hat.“
„Heißt das, dass der Diener auch schon wieder fort ist?“
„Ja, und das Hausmädchen ebenfalls. Es ist in ein Loch gefallen, das der Hund
gegraben hatte.“
„Wollten Sie nicht zwei Mädchen einstellen?“
Der Viscount nickte. „Das andere bekam von den Hundehaaren Ausschlag.“
„Oh Gott ...“, stöhnte Carissa.
„Wie Sie sehen, brauchen wir dringend Ihre Hilfe.“
„Ich verstehe noch immer nicht, warum die Köchin gekündigt hat. Sie hat im
Vorstellungsgespräch doch versichert, dass sie mit Kindern, Hunden und
Hausangestellten umgehen kann.“
„Nun ja ... Es war wohl Byrd, der sie in die Flucht geschlagen hat. Er wollte
nämlich den Hausmädchen seine Tätowierung zeigen.“
„Die Möwe auf seinem Schädel?“ fragte Carissa verständnislos.
„Nein, die Schlange auf seiner Backe.“
„Aber er hat gar keine Schlange auf ... Oh!“ Voller Entsetzen wanderte ihr
Blick zu Byrds Hinterteil.
Am Nachmittag erschien Lord Hartleigh mit Kind und Hund an Sir Gilliams
Vordertür. Mason forderte ihn unfreundlich auf, sich noch etwas zu gedulden.
Wahrscheinlich hätte der Viscount sich noch sehr lange in Geduld fassen
müssen, wenn Pippa ihn nicht bemerkt hätte. Sie informierte ihre Mama über
die Besucher – was Mason geflissentlich versäumt hatte –, und wenig später
verließen die beiden Kanes das Haus durch den Dienstboteneingang.
„Es wäre mir lieber“, sagte Carissa, „wenn Sie Mason nicht unnötig
provozieren würden.“
„Er ist so eingebildet, dass ich ihn einfach ärgern muss.“
„Aber wenn er zornig ist, kann man ihn noch schlechter ertragen.“
„Sie könnten für mich arbeiten, Mrs. Kane. Dann hätten Sie mit Mason nichts
mehr zu tun.“
Ihre Augen blitzten schelmisch auf, aber ihre Stimme klang vorwurfsvoll, als
sie sagte: „Ihnen ist wohl jedes Mittel recht, um an eine zuverlässige
Haushälterin zu kommen. Unter diesen Umständen muss ich Sie darauf
hinweisen, dass ich nicht koche.“
Lord Hartleigh lachte. Insgeheim fragte er sich, was sie wohl alles tun
beziehungsweise nicht tun würde, wenn sie erst in seinem Haushalt lebte. In
den letzten Stunden hatte er immer wieder an ihr herrliches Haar denken
müssen, das sie so hartnäckig unter ihrer hässlichen Haube verbarg. Es
erstaunte ihn, dass er an einer reizlosen Frau wie der Witwe Kane so viel
Anziehendes entdeckt hatte. Nun, es hing wohl damit zusammen, dass er sich
in den letzten Tagen keiner der üblichen Ausschweifungen hingegeben hatte.
Ohne Alkohol, Glücksspiel und Frauen sah das ganze Leben irgendwie anders
aus ...
Sue gab einen glucksenden Laut von sich, und mit einem Ruck fand der
Viscount in die Gegenwart zurück. Pippa hatte eine Hand auf Gladiators Rücken
gelegt und schritt wortlos neben ihm her. Auch Mrs. Kane schwieg.
„Wie ist Ihr Gatte ums Leben gekommen?“ erkundigte Lord Hartleigh sich
unvermittelt.
Carissa zuckte zusammen. „Das weiß ich nicht genau. Man hat mir keine
Einzelheiten mitgeteilt.“ Das war zwar nicht direkt gelogen, aber es entsprach
auch nicht ganz der Wahrheit. Auf ihre Anfrage hin hatte man ihr mitgeteilt,
dass es bei der Armee keine Unterlagen über einen Phillip Kane gäbe.
„Möchten Sie, dass ich ein paar Nachforschungen anstelle? Bei welcher
Einheit hat Ihr Gatte gedient?“
„Bitte, Mylord, ich möchte lieber nicht über meinen Mann reden.“
Litt sie nach all dieser Zeit noch immer so unter dem Tod ihres Gatten? Oder
war er womöglich ein Schuft gewesen, an den sie sich nicht gern erinnerte?
„Haben Sie schon eine Pflegefamilie für Sue gefunden, Mylord?“ fragte sie.
Das war nun wieder ein Thema, über das er nicht reden wollte. „Ah, da ist die
Apotheke ja“, meinte er ablenkend.
Während Carissa ihre Einkäufe erledigte, wartete Lord Hartleigh mit Gladiator
und den Kindern draußen. Durchs Fenster konnte sie beobachten, wie er
ungezwungen mit verschiedenen Leuten plauderte und sich stets besonders
freute, wenn jemand eine nette Bemerkung über das Baby machte. Er war
offensichtlich überhaupt nicht hochnäsig. Und es gab nichts in seinem
Verhalten, das erklärt hätte, warum man ihn Lord Herzlos nannte.
Auf dem Rückweg kamen sie an dem Stand des Fleischers vorbei, bei der Tor
seine „Einkäufe“ zu erledigen pflegte. Der Viscount beschloss, die dadurch
entstandenen Schulden zu begleichen. Während der daraus folgenden heftigen
Diskussion mit dem Metzger ließ er den Kinderwagen los. Dieser begann zu
rollen.
Mrs. Kane schrie auf, als eine Kutsche in rascher Fahrt um die Ecke bog.
Lord Hartleigh stieß einen Fluch aus, rannte dem Wagen nach, griff nach Sue
und konnte sie gerade noch samt ihrer Decke an sich reißen, ehe der zierliche
Korbwagen unter den Hufen der Pferde in Stücke ging.
Der Viscount zitterte am ganzen Körper, als er das jetzt laut weinende Baby
an sich presste. Mrs. Kane warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu. Dann nahm
sie ihm Sue aus den Armen. Ach, sie hatte ja Recht. Er war nicht einmal in der
Lage, sich um einen Kanarienvogel zu kümmern. Wie sollte er je richtig für Sue
sorgen können?
Immerhin hatte Tor in der Zwischenzeit nicht versucht, etwas beim Metzger
zu stehlen. Das war allerdings allein Pippa zu verdanken. Sie hockte neben ihm
und flüsterte ihm etwas ins Ohr.
„Sie hat ihm versprochen, ihn mit Ingwerplätzchen zu belohnen, wenn er sich
gut benimmt“, erklärte Carissa.
„Ingwerplätzchen? Dann sollen beide welche bekommen. Wissen Sie, wo eine
Bäckerei ist, Mrs. Kane?“
Natürlich wusste sie es.
Wenig später kam Pippa mit einer großen Tüte voller Plätzchen aus dem
Laden heraus und zeigte sie strahlend vor Freude ihrer Mama und Lord
Hartleigh, als dessen Nachbarn, die Applegate-Schwestern, erschienen. Beide
rafften ihre Röcke und begaben sich eiligst auf die andere Straßenseite, als sie
die kleine Gruppe bemerkten.
„Sie scheinen irgendetwas gegen uns zu haben“, stellte Lesley Hammond
fest.
„Die Damen haben an allem und jedem etwas auszusetzen“, gab Carissa
zurück.
„Aber früher haben sie mich gegrüßt. Ich fürchte, es liegt an Sue, dass sie
mich jetzt schneiden. Bestimmt halten sie mich für einen unmoralischen Teufel.
Ich hoffe nur, dass Sie nicht auch darunter zu leiden haben, Mrs. Kane.“
Sie zuckte die Schultern. „Haben Sie Angst, man könne Sue für meine
Tochter halten? Das wird bestimmt nicht geschehen, denn jedermann hier weiß,
dass ich die Stadt in den letzten Wochen nicht verlassen habe. Außerdem hat
es sich längst herumgesprochen, wie Sue in ihrem Körbchen auf Ihrer Schwelle
abgelegt worden ist, Mylord.“
„Nun, ich möchte jedenfalls nicht, dass mein schlechter Ruf auf Sie abfärbt.
Vielleicht sollten wir so rasch wie möglich nach Hause zurückkehren.“
„Ich habe Pippa versprochen, erst noch die Enten mit ihr zu füttern“, rief
Carissa ihm in Erinnerung. „Außerdem ist mein Ruf nicht besser als Ihrer.
Wissen Sie nicht, dass manche Leute annehmen, Sir Gilliam sei mein ...“ Sie
vermochte nicht weiter zu sprechen und errötete.
„Unglaublich!“ rief Lord Hartleigh aus. Dann schenkte er Pippa ein warmes
Lächeln. „Auf zum Ententeich, mein Schatz!“
5. KAPITEL
Am nächsten schönen Tag lud Lord Hartleigh Mrs. Kane und ihre Tochter zu
einem Ausflug in den Hyde Park ein. Glücklicherweise war es ein Samstag,
Carissa hatte also am Nachmittag frei.
Seit langem war sie nicht mehr so voller Vorfreude gewesen. Andererseits war
sie mit sich selbst unzufrieden, weil sie eine so schulmädchenhafte Aufregung
empfand. Himmel, sie würde sich doch nicht in Lord Herzlos verlieben?
Unmöglich! Schließlich war sie eine erfahrene Frau, die aus ihren schlechten
Erfahrungen gelernt hatte und sich grundsätzlich nicht für Männer interessierte
– erst recht nicht für Lebemänner!
Trotzdem verbrachte sie beinahe zwei Stunden damit, sich für den Ausflug
passend anzukleiden. Auch auf Pippas Erscheinung verwendete sie mehr Mühe
als sonst. Dann endlich war es so weit: Sie stieg mit ihrer Tochter in Lord
Hartleighs offenen Landauer, in dem Maisie, Sue im Arm haltend, bereits auf sie
wartete. Auf dem Kutschbock neben Byrd thronte Gladiator. Der Viscount selber
hatte sich entschieden zu reiten.
Bereits auf dem Weg zum Park bemerkte er Pippas sehnsüchtige Blicke.
Anscheinend genügte ihr das Schaukelpferd schon nicht mehr. Sie träumte
davon, eine richtige Reiterin zu werden. Und so beschloss der Viscount, sie im
Park vor sich aufs Pferd zu setzen. Strahlend vor Glück saß Pippa auf dem
kräftigen Hengst. Sie jauchzte auf, als der Viscount das Pferd in einen kurzen,
wiegenden Trab fallen ließ.
In der Nähe des Sees, der sogenannten Serpentine, hielten sie an. Byrd
brachte die Kutsche neben ihnen zum Stehen, und während die Frauen mit den
Kindern zum Ufer gingen, um Enten und Schwäne zu bewundern, richtete Byrd
ein kleines Picknick her.
Die Törtchen hatte er auf Geheiß Lord Hartleighs bei Gunter’s besorgt, denn
der Koch, der zwei Tage in der Küche geherrscht hatte, war am Morgen
wutschnaubend aus dem Haus gestürzt, weil Tor sich über das Frikassee
hergemacht hatte. Auch die anderen Dienstboten waren nicht lange geblieben.
Einen der Hausburschen hatte der Viscount hinauswerfen müssen, weil er
Maisie belästigt hatte. Eines der Mädchen war gekündigt worden, weil es
abfällig von Sue als „diesem ausländischen Kind der Sünde“ gesprochen hatte.
„Niemals hat ein wohlwollender Arbeitgeber so viel Pech mit seinem Personal
gehabt“, klagte Lesley Hammond Mrs. Kane sein Leid, als diese sich zu ihm
gesellte. „Ich weiß gar nicht, an welche Agentur ich mich noch wenden
könnte!“
Carissa runzelte die Stirn. „Offen gesagt, ich habe von einer der
Agenturleiterinnen gehört, dass niemand mehr für Sie arbeiten will, Mylord. Es
heißt, in Ihrem Haushalt gehe alles drunter und drüber. Einer der Burschen ging
sogar so weit, Sie als vollkommen plemplem zu bezeichnen.“
„Was ich brauche, ist eine fähige Haushälterin. Wollen Sie nicht doch ...“
„Ich bleibe bei Sir Gilliam!“ unterbrach sie ihn.
„Maisie hat sich bereit erklärt, kochen zu lernen. Ich habe ihr schon ein
Kochbuch gekauft. Aber dann musste ich feststellen, dass sie nicht lesen kann.
Glauben Sie, die Applegate-Schwestern wären bereit, sie zu unterrichten?“
„Wohl kaum! Aber ich selbst beabsichtige, Pippa bald Lesen und Schreiben
beizubringen. Wenn Maisie möchte, kann sie ja zu uns kommen.“
Der Viscount atmete hörbar auf.
Lord Hartleigh war nach wie vor erstaunt darüber, wie viel Spaß es ihm machte,
seine kleine Tochter um sich zu haben. Nie hätte er gedacht, dass er mit solcher
Begeisterung in die Vaterrolle schlüpfen würde. Gleichzeitig allerdings konnte
er nicht leugnen, dass es ihm schwer fiel, sein altes Leben aufzugeben. Ein
Gentleman konnte einfach nicht jeden Abend daheim verbringen.
Gern hätte er wieder einmal seinen Club oder eines der Freudenhäuser
aufgesucht, in denen er früher verkehrt hatte. Doch er befürchtete, dass Mrs.
Kane den Kontakt zu ihm abbrechen würde, sobald sie davon erfuhr. Nach wie
vor war er auf ihre Hilfe angewiesen. Und außerdem behagte ihm die
Vorstellung, nicht mehr mit ihr plaudern oder spazieren gehen zu können,
überhaupt nicht. Das Wichtigste allerdings war, dass er auf jeden Fall
verhindern wollte, von der kleinen Pippa gesehen zu werden, wenn er
betrunken nach Hause kam.
Jedes Mal, wenn er an das Mädchen dachte, wurde sein Gesicht weich. Pippa
war so glücklich, wenn sie vor ihm auf dem Pferd sitzen durfte. Sie freute sich
so ausgelassen, wenn er ihr irgendeine Kleinigkeit mitbrachte. Ihre Augen
leuchteten bei seinem Anblick.
Er gestand sich ein, dass er es genoss, ihr Held zu sein.
Schade, dass er nicht auch der Held ihrer Mama war ...
Nun, es war ganz gewiss nicht klug, so etwas zu denken. Bei Jupiter, er
musste sich ablenken! Ein Besuch bei White’s würde ihn auf andere Gedanken
bringen.
Der Abend wurde kein Erfolg. Das Kartenspiel reizte ihn nicht, der Cognac
schmeckte schal, die Gesprächsthemen seiner Bekannten langweilten ihn. Er
beschloss zu gehen.
Als er die Tür fast erreicht hatte, hörte er, wie jemand seinen Namen
erwähnte. Es war Lord Cosgrove, und er sprach absichtlich so laut, dass der
Viscount jedes Wort verstehen konnte.
„Es sieht so aus“, verkündete er, „als wolle Lord Herzlos sich jetzt einen
Harem zulegen. Diese anspruchsvolle Schauspielerin scheint ihn nicht
auszulasten. Auch die Countess aus Kent, die seinetwegen ihren Gatten
hintergeht, genügt ihm nicht. Wahrscheinlich langweilt es ihn, die
Gemahlinnen anderer Gentlemen zu erobern. Deshalb hat er sich wohl
neuerdings auf die Eroberung der Mätressen anderer Herren verlegt.“
Einer seiner Trinkkumpane meinte beschwichtigend: „Wir wissen alle, dass
Hartleigh bei den Damen so beliebt ist, dass er sich kaum vor ihnen retten
kann. Ich bin sicher, dass er niemandem absichtlich seine Gemahlin oder
Mätresse fortnimmt.“
„Ha, da muss ich widersprechen. Erst hat er mir das Hausmädchen
abspenstig gemacht, an dem mir am meisten lag. Und jetzt soll er sich auch auf
eindeutige Art und Weise um die Haushälterin von Sir Gilliam bemühen.“
Eine Woge des Zorns überschwemmte Lord Hartleigh. Dass man ihn
verleumdete, war ihm gleichgültig. Doch dass Cosgrove – ganz gleich, wie
betrunken er war – Mrs. Kanes guten Namen in den Schmutz zog, ging
eindeutig zu weit!
Der Viscount trat auf Maisies ehemaligen Arbeitgeber zu. „Ich glaube, wir
beide haben etwas zu bereden. Aber das sollten wir in aller Ruhe tun. Vielleicht
möchten Sie morgen zu mir kommen?“
Lord Cosgrove war betrunken, aber er war nicht verrückt. Auf gar keinen Fall
würde er Hartleigh allein gegenübertreten. „Was ich zu sagen habe, kann ich
gleich hier sagen“, erklärte er. „Also: Ich will mein Mädchen zurück!“
„Damit Sie das arme Ding wieder belästigen können? Niemals! Sie sollten
sich schämen, einer wehrlosen Siebzehnjährigen nachzustellen!“
Der so Beschuldigte sprang auf. „Sie sollten sich schämen! Es ist eine
Schande, wie Sie sich in aller Öffentlichkeit mit Ihren Bastarden zeigen!“
„Sie gehen zu weit! Kein ehrbarer Mann würde ...“
„Zweifeln Sie etwa an meiner Ehre?“
„Wie ich sehe, verschwende ich meinen Atem. Sie wissen gar nicht, was Ehre
ist!“ Damit wandte Lord Hartleigh sich ab.
Mit zornrotem Kopf starrte Cosgrove ihm nach. Dann schrie er: „Dafür sollte
ich Sie fordern! Man beleidigt einen Gentleman nicht ungestraft.“
„Wie wahr. Nur gut, dass ich eben nicht mit einem Gentleman gesprochen
habe. Die Art, wie Sie hilflose Frauen behandeln, und auch Ihr Kartenspiel ...“
„Werfen Sie mir etwa jetzt auch noch Betrug vor?“
„Keineswegs. Schließlich spiele ich grundsätzlich nicht gegen Sie und kann
deshalb nicht aus eigener Erfahrung über Ihr Spiel urteilen.“
Drohend hob Lord Cosgrove die Hand.
Der Viscount bedachte ihn mit einem abfälligen Blick. „Sie wollen doch
bestimmt nicht, dass mir bei einem Duell die Wahl der Waffen zufiele? Es wäre
nicht leicht für mich zu entscheiden, ob ich Ihnen Ihre ... Männlichkeit mit dem
Degen oder mit der Pistole ruinieren sollte.“
Alles Blut wich aus Cosgroves gerade noch hochrotem Gesicht. Er wusste,
dass sein Gegner ein hervorragender Fechter und Schütze war. Und mit einem
Mal erschien es ihm klüger, die Auseinandersetzung zu beenden. Wortlos ließ er
sich auf seinen Stuhl sinken.
„Kommen Sie morgen früh zu Gentleman Jackson’s“, forderte Lesley
Hammond ihn auf. „Sie können mir dort bei einem Boxkampf Genugtuung
geben.“
Lord Cosgrove schüttelte den Kopf. Er wagte nicht aufzuschauen. Der
Viscount hingegen blickte gelassen in die Runde. „Einen guten Abend noch,
Gentlemen“, meinte er, ehe er White’s endgültig den Rücken kehrte.
Carissa Kane hatte sich entschlossen, Lord Hartleigh ein paar Tage lang aus
dem Weg zu gehen. Über ihre Beweggründe war sie sich selber nicht recht im
Klaren, aber sie fühlte, dass es für ihren Seelenfrieden besser war, sich auf
anderes zu konzentrieren. So hatte sie sich ihren Pflichten in Sir Gilliams
Haushalt mit besonderer Sorgfalt gewidmet und sich eingehend mit dem alten
Herrn beschäftigt, dessen Husten sich noch einmal verschlimmert hatte.
Manchmal allerdings konnte sie der Versuchung, Maisie und dem Baby einen
kurzen Besuch abzustatten, nicht widerstehen. Gemeinsam mit Pippa betrat sie
das schmale Backsteinhaus durch den Dienstboteneingang. Während ihre
Tochter sich mit Sue beschäftigte, plauderte sie selber ein wenig mit Maisie.
Meist folgte eine kurze Unterrichtsstunde in Lesen und Schreiben für die junge
Amme und Pippa.
Noch immer war es Lord Hartleigh nicht gelungen, eine Köchin zu finden.
Doch Maisie und Byrd schienen die Küchenarbeit überraschend gut zu
bewältigen. Trotzdem machte sich der Mangel an geschultem Hauspersonal hier
und da bemerkbar. Tatsächlich tauchte gelegentlich ein neues
Zimmermädchen oder ein Hausdiener auf. Aber keiner von ihnen blieb lange.
Entweder warf der Viscount die Bediensteten hinaus – seiner Meinung nach
tranken sie zu viel oder litten unter Krankheiten, mit denen Sue sich auf gar
keinen Fall anstecken sollte – oder die betreffenden Personen verließen das
Haus, weil sie Gladiator in ihrem Bett vorfanden oder ähnlich unangenehme
Erlebnisse hatten.
Immer wieder sagte Carissa sich, dass dies Probleme waren, die Lord
Hartleigh selber lösen musste. Sie hatte getan, was in ihrer Macht stand. Nun
musste der Viscount allein zurechtkommen. Für sie war es viel zu gefährlich,
sich länger als unbedingt nötig in seiner Gesellschaft aufzuhalten. Sein
sprichwörtlicher Charme hatte seine Wirkung auf sie nicht verfehlt. Sie musste
vorsichtig sein, damit sie seiner Anziehungskraft auch in Zukunft würde
widerstehen können.
Schon jetzt wurde über ihre Bekanntschaft mit Lord Herzlos geklatscht.
Mason machte kleine spöttische Bemerkungen ihr gegenüber. Und sogar Sir
Gilliam schien besorgt.
„Ich weiß, dass Sie eine kluge Frau sind“, sagte er eines Abends zu ihr, als sie
ihm fürsorglich eine Decke über die Beine legte. „Sie werden nichts
Unüberlegtes tun, nicht wahr?“
Dann eines Morgens war Mrs. March ungewöhnlich aufgeregt. „Haben Sie
schon die Zeitung gelesen, meine Liebe?“ fragte sie Carissa. „Dieser widerliche
Lord Cosgrove scheint sich abfällig über Sie geäußert zu haben. Lord Hartleigh
hätte ihn fast dafür gefordert.“
Mrs. Kane erbleichte.
„Ihr Name wurde nicht erwähnt“, meinte die Köchin beruhigend.
„Aber der unseres Arbeitgebers“, verkündete Mason. „Sir G. P. nannte die
Zeitung ihn. Der Artikel hat dem alten Herrn gar nicht gefallen. Nach der
Lektüre fühlte er sich so schlecht, dass er nach seinem Anwalt geschickt hat.“
Carissa wurde noch blasser. Himmel, sie hätte wissen müssen, dass alles, was
eine bekannte Persönlichkeit wie Lord Hartleigh tat, das Interesse der
Klatschmäuler weckte! Während sie nur an ihren eigenen Seelenfrieden
gedacht hatte, hatte sie mit ihrer Hilfsbereitschaft dem Viscount gegenüber
eine ganze Lawine von Spekulationen ins Rollen gebracht. Und nun musste Sir
Gilliam darunter leiden! Ausgerechnet er, der ihr so viel Gutes getan hatte! Wie
sollte sie das nur jemals wieder gutmachen?
Nun, als Erstes würde sie dafür sorgen, dass Lord Hartleigh ihren Namen nie
wieder in der Öffentlichkeit erwähnte.
„Ich bin gleich zurück“, sagte sie zu Mrs. March und verließ mit hoch
erhobenem Haupt und festen Schritten die Küche.
Wenig später stand sie vor Lord Hartleigh, der gerade von Gentleman
Jackson’s Boxhalle zurückgekommen war.
„Wie konnten Sie es zulassen, dass Sir Gilliams guter Name in einem so
schmutzigen Zeitungsartikel zu finden ist? Ihnen war Cosgroves Charakter doch
zur Genüge bekannt! Sie hätten diesem elenden Menschen nicht die geringste
Aufmerksamkeit schenken dürfen. Aber nein, Sie konnten ja Ihren Mund nicht
halten!“
Jetzt allerdings blieb ihm derselbe vor Erstaunen beinahe offen stehen. Er
hatte nicht unbedingt damit gerechnet, dass Mrs. Kane ihm dafür danken
würde, dass er ihren guten Namen verteidigt hatte. Aber ganz gewiss hatte er
nicht erwartet, dass sie ihn so heftig tadeln würde.
„Es hätte nicht viel gefehlt, dann hätten Sie sich mit diesem Schurken ein
Duell geliefert!“ fuhr Carissa entrüstet fort. „Haben Sie denn gar nicht an Sue
gedacht? Fehlt Ihnen denn jedes Verantwortungsgefühl?“
Er starrte sie verständnislos an.
„Bisher haben Sie nicht die geringste Anstrengung unternommen, um eine
Familie für Sue zu finden. Wenn Ihnen etwas zugestoßen wäre, hätte Ihr Cousin
das Kind wohl zusammen mit Ihrem Vermögen geerbt! Was wäre dann aus der
armen kleinen Sue geworden? Oder aus Pippa? Sie freut sich auf jedes Treffen
mit Ihnen. Und dann riskieren Sie, plötzlich für immer aus ihrem Leben zu
verschwinden. Sie sind wirklich ein Lord Herzlos, und ich will Sie nie wieder
sehen!“ Damit stürzte Carissa aus der Tür, die hinter ihr laut ins Schloss fiel.
Langsam breitete sich ein Lächeln auf Lesley Hammonds Gesicht aus. Sie
mag mich, dachte er, sie mag mich sogar sehr ...
„Es geht Sir Gilliam sehr schlecht“, sagte der Arzt.
Carissa Kane kämpfte gegen die aufsteigenden Tränen an und beauftragte
Mason, nach einem anderen Doktor zu schicken.
Dieser wurde noch deutlicher. „Der alte Herr liegt im Sterben. Für ihn kann
ich nichts mehr tun. Ihnen aber, liebe Frau, werde ich etwas Laudanum zur
Beruhigung aufschreiben.“
Sie nahm nichts von dem Mittel. Stattdessen sorgte sie dafür, dass der
Anwalt geholt wurde. Als er erschien, stellte sie fest, dass es nicht der alte Herr
war, mit dem sie gerechnet hatte. Mr. Alistair Gordon war im vergangenen
Winter gestorben. Nun hatte sein Sohn, Mr. Nigel Gordon, die Kanzlei
übernommen.
Der junge Anwalt schenkte Mrs. Kane wenig Aufmerksamkeit, fand aber Zeit
zu einem ausführlichen Gespräch mit Mason. Dieser benahm sich daraufhin
noch überheblicher als sonst. Er behandelte die anderen Dienstboten so
herablassend, als sei er selber der Hausherr. Besonders unfreundlich war er zu
Carissa und Mrs. March. Am liebsten hätte er verhindert, dass diese beiden Sir
Gilliam überhaupt noch einmal zu Gesicht bekamen.
Carissa jedoch war entschlossen, den alten Gentleman nicht der Fürsorge des
unsympathischen Butlers zu überlassen. Sobald dieser anderweitig beschäftigt
war, eilte sie an Sir Gilliams Krankenlager. Meistens fand sie ihren Arbeitgeber
schlafend oder halb betäubt von starken Medikamenten vor. Manchmal sprach
sie leise mit ihm, obwohl sie wusste, dass er sie nicht verstehen würde.
Meistens allerdings saß sie nur still an seinem Bett und betete.
Ein paar Tage voller Sorgen und Kummer waren vergangen, als Mason
Carissa in Sir Gilliams Zimmer rufen ließ. „Er verlangt nach Ihnen“, erklärte er
mürrisch, „weigert sich, seine Medizin zu nehmen, ehe er nicht mit Ihnen
geredet hat. Meiner Meinung nach ist das ein schlechtes Zeichen.“
Tatsächlich sah der alte Herr noch eingefallener und blasser aus als am Tag
zuvor. Er atmete mühsam, und ab und zu überliefen Schauer seinen
ausgemergelten Körper.
„Meine Liebe“, murmelte er und streckte die Hand nach Carissa aus, „ich will
Abschied von Ihnen nehmen. Ich habe in meinem Leben erreicht, was ich
wollte. Nun ist es an der Zeit zu gehen.“
„Nein, Sir Gilliam, so dürfen Sie nicht reden! Sie dürfen uns jetzt nicht allein
lassen!“ Tränen standen ihr in den Augen. „Sie werden sich erholen.“
Er brachte ein kleines Lächeln zu Stande. „Wohl kaum. Aber für Sie und die
anderen geht das Leben weiter. Erzählen Sie mir, was es Neues von Lord
Hartleigh gibt.“
Sie berichtete, wie sie mit dem Viscount wegen der Auseinandersetzung bei
White’s und dem daraus folgenden Zeitungsartikel geschimpft hatte, und
vergaß auch nicht zu erwähnen, dass es unmöglich schien, Personal für
Hartleighs Haushalt zu finden.
Sir Gilliam wollte lachen, wurde jedoch sofort von einem Hustenanfall
geschüttelt. Geschwächt sank er in die Kissen zurück. „Sie sind genau das, was
der junge Mann braucht“, meinte er schließlich mit kaum hörbarer Stimme.
„Eine fähige Haushälterin?“
„Ja, und ein wunderbarer Mensch.“
„Danke.“
„Sie haben mir in den letzten Jahren so viel Freude geschenkt“, fuhr Sir
Gilliam mühsam fort. „Und Sie haben alle Probleme so tapfer gemeistert.
Deshalb möchte ich Ihnen Ihren weiteren Lebensweg etwas erleichtern. Ich will
Ihnen und Ihrer kleinen Tochter das Haus hinterlassen. Bitte, sagen Sie Pippa
Lebewohl von mir.“
Carissa weinte jetzt.
„Es war schön, das Kind heranwachsen zu sehen. Dabei wollte ich nie Kinder
haben ...“
„Bitte, Sir Gilliam, sprechen Sie nicht weiter. Es strengt Sie zu sehr an! Sie
müssen sich doch ausruhen.“
Unbeeindruckt von ihren Worten, fuhr er fort: „Haben Sie sich eigentlich
Geschwister für Pippa gewünscht?“
„Ich habe mich gezwungen, nicht darüber nachzudenken“, gestand Carissa.
„Aber als ich dann die kleine Sue in den Armen hielt ... Jedenfalls bin ich sehr
froh, dass ich Pippa habe.“
„Sie sind noch nicht zu alt, um weitere Kinder zu bekommen. Sie sind eine
schöne Frau, eine, auf die ein Mann stolz sein kann. Ich nehme an, dass Sie
deshalb damals meinen Antrag abgelehnt haben.“ Er musste eine Pause
machen, um wieder zu Atem zu kommen. „Sie hätten mich heiraten sollen,
wirklich. Ich hätte Ihnen weder Leidenschaft noch Romantik bieten können.
Aber auch finanzielle Sicherheit ist wichtig. Sie hätten sich keine Sorgen um die
Zukunft zu machen brauchen und wären nach meinem Tod wieder frei
gewesen.“
Carissa wischte ihm den Schweiß von der Stirn und bemühte sich um ein
Lächeln. „Machen Sie sich keine Sorgen um mich und Pippa. Sie waren immer
sehr großzügig zu uns. Ich habe etwas Geld gespart. Und wie Sie eben selber
gesagt haben, bin ich eine gute Haushälterin. Ich werde eine andere Stellung
finden.“
„Das wird nicht nötig sein. Ich habe mich entschieden, lieber für Sie und
Pippa zu sorgen als für meinen verantwortungslosen Neffen.“
„Aber ...“ Sie sprach nicht weiter, weil dem alten Herrn die Augen zugefallen
waren. Eine Zeit lang sah sie ihn voller Trauer und Zuneigung an. Dann
murmelte sie: „Sie werden Pippa und mir sehr fehlen, Sir Gilliam.“
Mason ließ den Pastor holen und unterrichtete Sir Gilliams Neffen, Mr. Broderick
Parkhurst. Während der Geistliche noch für die Seele des Sterbenden betete,
erschien Mr. Parkhurst und zog sich mit dem Butler zu einem langen Gespräch
zurück.
Sir Gilliams Neffe war ein Möchte-gern-Dandy von fünfundzwanzig Jahren. Er
hatte alle Angebote seines Onkels, ihm eine Ausbildung zu finanzieren – sei es
bei der Bank, an der Universität, bei der Ostindien-Gesellschaft oder in der
Armee –, zurückgewiesen und nur das Geld angenommen, das Sir Gilliam ihm
monatlich zukommen ließ. Er war – daran bestand für Carissa nicht der
geringste Zweifel – ein Tunichtgut.
Noch am selben Abend zog Mr. Parkhurst in das Haus seines Onkels ein. Er
brachte den gesamten Haushalt durcheinander, indem er ständig irgendwelche
unerfüllbaren Wünsche äußerte, zu den ungewöhnlichsten Zeiten nach Essen
verlangte und immer wieder in der Küche erschien, um sich über dies oder das
zu beschweren. Seinen im Sterben liegenden Onkel suchte er nicht ein einziges
Mal auf.
„Dann kann der alte Herr wenigstens in Frieden sterben“, sagte Mrs. March
leise zu Carissa.
Diese seufzte nur.
Als Sir Gilliam schließlich für immer die Augen schloss, fand sie nicht einmal
Zeit, angemessen um ihn zu trauern. Zu sehr nahm Mr. Parkhurst mit seinen
merkwürdigen Wünschen sie in Anspruch.
Plötzlich waren alle Gästezimmer belegt von seinen zwielichtigen Freunden.
Carissa war unentwegt damit beschäftigt, Betten frisch zu beziehen, mehr Wein
zu bestellen und zusätzliche Lebensmittel zu besorgen. Sie musste zwei neue
Zimmermädchen einstellen und bat Mason, sich um mindestens zwei weitere
Hausdiener zu kümmern, damit diese Badewasser heiß machen, Kohlen
schleppen, Schuhe putzen und unzählige andere Aufgaben erfüllen konnten.
Auch an Stallburschen fehlte es mit einem Mal. Nie zuvor hatte es so viel Arbeit
gegeben.
Carissa war der Verzweiflung nahe. Zum einen wusste sie nicht, wo sie all das
neue Personal unterbringen sollte. Zum anderen machte sie sich große Sorgen
um ihre Tochter, denn weder die neuen Lakaien noch Mr. Parkhursts Freunde
waren ein passender Umgang für Pippa. So kam es, dass das Mädchen mehr
Zeit mit Maisie verbrachte als mit seiner Mutter.
Lord Hartleigh kam vorbei, um denen, die wirklich um Sir Gilliam trauerten,
sein Beileid auszusprechen. Diesmal benutzte er den Lieferanteneingang.
Er hatte sich kaum zehn Minuten in der Küche aufgehalten, als er anbot, nach
Byrd zu schicken, damit dieser Carissas Besitztümer abholte. „Sie haben es
nicht nötig, Mrs. Kane“, stellte er fest, „hier zu bleiben und sich von diesem
Abschaum herumkommandieren zu lassen. Die Stelle als Haushälterin in
meinem Haus ist noch frei. Können Sie sich vorstellen, dass die Agentur mir
eine Köchin geschickt hat, die so wenig über Hunde wusste, dass sie Gladiator
mit Bohnen füttern wollte? Ich könnte Ihre Hilfe gut gebrauchen.“
Carissa war gerührt, sah sich aber dennoch gezwungen, die Stellung
abzulehnen. „Sie werden verstehen, dass ich es Sir Gilliam schuldig bin,
zumindest bis zur Testamentseröffnung hier zu bleiben. Anschließend werde ich
darüber entscheiden, was für Pippa und mich am besten ist.“ Insgeheim hoffte
sie, dass das, was Sir Gilliam ihr in ihrem letzten Gespräch gesagt hatte,
bedeutete, dass er ihr genug für ein bescheidenes, aber sorgenfreies Leben
vermacht hatte. Doch das würde sich natürlich erst herausstellen, wenn das
Testament verlesen wurde.
In diesem Moment begann in den Räumen über ihnen jemand laut zu grölen.
Andere Stimmen fielen ein. Niemand hätte zu sagen vermocht, ob es das
Geschrei betrunkener Freunde oder ein heftiger Streit war. Lord Hartleigh
runzelte die Stirn.
„Ich werde vorerst hier bleiben“, wiederholte Mrs. Kane, „vorausgesetzt, es
stört Sie nicht, dass Pippa so oft bei Maisie ist.“
„Pippa stört uns überhaupt nicht“, beruhigte der Viscount sie. „Wir alle
haben sie gern um uns. Und im Übrigen ist sie die Einzige, auf die Tor hört.“
„Wahrscheinlich, weil niemand außer ihr den Hund so oft mit Ingwerkeksen
füttert“, stellte Carissa trocken fest.
Tatsächlich genoss Lesley Hammond die Gesellschaft des kleinen Mädchens
mehr, als er sich eingestehen mochte. So oft wie möglich nahm er Pippa mit,
wenn er seinen morgendlichen Ausritt in den Park machte. Stolz thronte die
Kleine dann vor ihm auf dem Pferd und erzählte ihm, was sie Neues gelernt und
Interessantes erlebt hatte. Dadurch wusste er besser über die Zustände in Sir
Gilliams Haus Bescheid, als Mrs. Kane ahnte. Er machte sich ernsthafte Sorgen
um die Sicherheit der jungen Frau. Doch sie wies alle Befürchtungen, die er
äußerte, mit einem Lächeln zurück.
Widerstrebend ließ er sie schließlich allein.
Widerstrebend ließ sie ihn gehen.
Am Tag der Testamentseröffnung trug Mr. Broderick Parkhurst eine schwarze
Hose, die er erst am Tag zuvor von seinem Schneider abgeholt hatte, und einen
ebenfalls neuen grauen Rock mit schwarzer Trauerbinde am Arm. Auf seinem
Gesicht lag ein selbstzufriedener Ausdruck.
Er hatte es sich bereits in dem weichsten Sessel in der Bibliothek bequem
gemacht, als der Anwalt, gefolgt von Sir Gilliams Bediensteten, eintrat. Letztere
bedauerten – mit einer Ausnahme – alle, dass es nicht der alte Mr. Alistair
Gordon, sondern der junge Mr. Nigel Gordon war, der das Testament vorlesen
würde.
Mr. Gordon begann mit langwierigen Erklärungen bezüglich der Abfassung
eines Testaments, seiner Form und Gültigkeit und bezüglich der Aufgaben des
Testamentsvollstreckers. Carissa fiel es schwer, sich zu konzentrieren. Bonnie,
eines der Mädchen, fing jedes Mal an zu schluchzen, wenn Sir Gilliams Name
fiel. Mrs. March hatte eine steinerne Miene aufgesetzt. Und Mr. Parkhurst
grinste ungeniert.
Endlich las Mr. Gordon die testamentarischen Verfügungen vor: Mason sollte
eine lebenslängliche Pension erhalten. Mrs. March würde einen Jahreslohn als
Abfindung erhalten. Für die anderen Dienstboten waren kleinere Summen
ausgesetzt. Carissa Kanes Name wurde nicht erwähnt.
Auch verschiedenen wohltätigen Einrichtungen hatte Sir Gilliam Geld
hinterlassen. Er hatte sich dabei als sehr großzügig erwiesen. Doch seine
Großzügigkeit erstreckte sich nicht auf Carissa und Pippa.
„Mein restliches Vermögen, einschließlich des Hauses in Kensington“, las Mr.
Gordon vor, „soll mein Neffe Broderick Parkhurst erhalten.“
Carissas Name wurde nicht erwähnt.
Ungläubig und schockiert blieb sie sitzen, als die anderen Dienstboten die
Bibliothek verließen. Es war nicht einer unter ihnen, der ihr nicht einen
mitleidigen Blick zugeworfen hätte. Doch das bemerkte sie gar nicht. Zu tief
war sie in ihre Gedanken versunken. Wie war es möglich, dass der großherzige
alte Gentleman sie vergessen hatte? Hatte er ihr nicht sogar angeboten, sie zu
heiraten? Hatte er ihr nicht, nachdem sie seinen Antrag abgelehnt hatte,
wiederholt versichert, dass er für sie und ihre Tochter sorgen würde? Himmel,
es war doch ganz und gar unmöglich, dass er sie in seinem Testament mit
keinem Wort erwähnte!
Carissa hob den Kopf und straffte die Schultern. Sie bemerkte, dass Mr.
Parkhurst, der Anwalt und Mason sich noch im Raum befanden und sich gerade
mit einem Glas Champagner zuprosteten. Entschlossen trat sie auf die drei zu.
„Entschuldigen Sie“, meinte sie zu Mr. Gordon gewandt, „sind Sie sicher, dass
das wirklich Sir Gilliams letzter Wille war?“
Er musterte sie, nickte und sagte dann: „Ich nehme an, Sie sind die
Haushälterin? Offen gesagt, ich habe mich auch schon gewundert, dass Sie leer
ausgehen. Mr. Mason konnte mir den Grund nennen: Sie waren noch nicht in
diesem Haushalt beschäftigt, als Sir Gilliam das Testament aufsetzte.“
Fassungslos schüttelte sie den Kopf. „Ich habe mehr als vier Jahre für Sir
Gilliam gearbeitet.“
„Nun, das Testament ist etwas mehr als fünf Jahre alt. Wenn Sie zugehört
hätten, wäre Ihnen das aufgefallen. Ich habe das Datum nämlich vorgelesen.“
„Es muss ein neueres Testament geben“, beharrte Mrs. Kane. „Sie selbst sind
doch hier gewesen, als Sir Gilliams Gesundheitszustand sich verschlechterte.
Mason hat Sie rufen lassen. Es kann kaum drei Wochen her sein.“
„Es stimmt, dass ich vor kurzem noch bei dem Verstorbenen war“, erklärte
der Anwalt, nachdem er sein Glas geleert hatte. „Aber ein neues Testament
konnte nicht aufgesetzt werden. Sir Gilliam war benommen, kaum bei
Bewusstsein. Er ...“ Mr. Gordon zuckte bedauernd die Schultern.
„Er hat manchmal Laudanum bekommen. Aber wenn er wach war, war er bei
vollem Verstand.“
„Leider habe ich ihn nie so erlebt.“
„Mir jedenfalls hat er gesagt, dass er Vorkehrungen für meine Zukunft
getroffen hat“, beharrte Carissa.
„Madam, Sie wissen selbst, dass er in den letzten Wochen die meiste Zeit
über bewusstlos war oder fantasiert hat.“ Der Anwalt warf Mason einen Hilfe
suchenden Blick zu. Der Butler nickte, während Mr. Parkhurst damit beschäftigt
war, seine Fingernägel zu reinigen.
„Bei unserem Gespräch war er völlig klar. Er sprach mich mit meinem Namen
an und nannte auch den Namen meiner Tochter. Und er teilte mir
unmissverständlich mit, dass er für meine Zukunft vorgesorgt hätte.“
„Ich bin sicher, dass er die Absicht hatte, das zu tun“, meinte Mr. Gordon.
„Bitte, regen Sie sich nicht unnötig auf, Mrs. Kane. Sir Gilliam war ein
großzügiger Mensch. Aber leider hatte er nicht mehr die Gelegenheit, sich
Ihnen gegenüber großzügig zu erweisen. Trotzdem bin ich sicher, dass wir eine
Lösung für Ihr Problem finden werden.“
„Und wie könnte die aussehen?“ Ihr war nun klar, dass Mason dem alten
Herrn absichtlich immer wieder große Mengen Laudanum verabreicht haben
musste, so dass dieser kein neues Testament hatte aufsetzen können. Mason
hatte sie, Carissa, seit jeher gehasst. Und Mr. Parkhurst war ein durch und
durch schlechter Mensch. Wenn er einen Vorteil aus Masons Intrigen hatte
ziehen können, dann hatte er sich bestimmt mit allem einverstanden erklärt,
was der Butler vorschlug. Er hatte ja nicht einmal bis zur Testamentseröffnung
warten können, ehe er die Besitztümer seines Onkels an sich nahm. Die ganze
Zeit schon spielte er abwesend mit einer Taschenuhr herum, die unverkennbar
Sir Gilliam gehört hatte.
Oh Gott, fuhr es Carissa durch den Kopf, was sollte nur aus ihr und Pippa
werden?
„Mrs. Kane“, meldete sich jetzt zum ersten Mal Broderick Parkhurst zu Wort,
„wie Sie wissen, habe ich meinen Onkel sehr geliebt. Auch empfinde ich große
Achtung vor seinen Wünschen. Um seinetwegen will ich mich also Ihnen
gegenüber großzügig erweisen. Vier Jahre haben Sie für ihn gearbeitet? Gut,
dann sollen Sie einen halben Jahreslohn als Abfindung erhalten.“ Ein
selbstzufriedenes Lächeln huschte über sein Gesicht. „Darüber hinaus biete ich
Ihnen eine Stellung an. Wenn Sie wollen, können Sie als meine Haushälterin
hier bleiben.“
„Ich bin Ihnen zu tiefstem Dank verpflichtet“, stellte sie kühl fest.
Er war zu dumm, um die Ironie in ihren Worten zu erkennen, und fuhr fort, die
Uhr an der goldenen Kette herumzuschwenken. Dann nahm er ein Taschentuch
hervor, um sie zu polieren. Das Tuch war mit einem kunstvoll gestickten G
verziert. Carissa hatte es dem alten Herrn im vergangenen Jahr zu Weihnachten
geschenkt.
Der Verzweiflung nahe, verließ sie den Raum.
Als Carissa in die Küche kam, stellte sie fest, dass Mrs. March sich entschlossen
hatte, an diesem Tag kein Dinner zuzubereiten. Die Köchin hatte bereits den
größten Teil ihrer Sachen gepackt und berichtete Carissa, dass sie am nächsten
Morgen die Postkutsche nach Kent nehmen wolle, wo ihre Schwester in einem
kleinen Dorf lebte.
„Hier“, verkündete sie ein wenig theatralisch, „kann ich jedenfalls nicht
bleiben. Diese Leute sind Barbaren! Mitten in der Nacht dringen sie in die
Küche ein und holen sich, wonach ihnen der Sinn steht. Und was, bitte schön,
soll ich dann am nächsten Morgen zum Frühstück servieren? Nur gut, dass Sir
Gilliam dieses Chaos nicht mehr erleben muss!“
Carissa nickte. Noch immer ganz benommen von dem Schock, den sie bei der
Testamentseröffnung hatte erleben müssen, ließ sie sich auf einen Stuhl sinken
und nahm die Katze Cleo, die ihr um die Beine strich, auf den Schoß.
„Es wird nicht lange dauern“, fuhr die Köchin in ihrem Monolog fort, „bis von
dem Geld, das Sir Gilliam mühsam erarbeitet hat, nichts mehr übrig ist. Mr.
Parkhurst wirft es ja mit vollen Händen zum Fenster hinaus! Haben Sie bemerkt,
wie die Weinvorräte geschrumpft sind? Es ist eine Schande, sage ich, eine
Schande!“
Sie füllte zwei Gläser mit Sherry und reichte eines davon Mrs. Kane. Beide
Frauen tranken im Allgemeinen keinen Alkohol, aber heute – das fand auch
Carissa – hatten sie sich ein Gläschen verdient.
„Meine größte Befürchtung ist, dass Mr. Parkhurst auch all das Geld für seine
verachtenswerten Vergnügungen verschwenden wird, das eigentlich uns
Bediensteten zusteht.“ Mrs. Marchs Augen blitzten ärgerlich. „Ha, es würde
mich nicht wundern, wenn er bald keine Löhne mehr zahlen könnte! Und die
Summe, die Sir Gilliam mir hinterlassen hat, werde ich bestimmt auch nie zu
Gesicht bekommen!“
„Niemand darf das Geld anderer Menschen ausgeben“, wandte Carissa ein.
Aber noch während sie sprach, wurde ihr klar, dass moralische Überlegungen
Mr. Parkhurst völlig fremd waren. Wenn er eine Möglichkeit fand, sich zu
bereichern, so würde er sie nutzen. Womöglich würde dieser junge Anwalt ihm
dabei noch behilflich sein. Es war wirklich merkwürdig gewesen, wie zufrieden
die beiden – und auch Mason – gesehen hatten, als sie einander in der
Bibliothek zuprosteten.
Ob der Butler wohl im Haus bleiben würde? Er hatte sich ihr gegenüber schon
unverschämt benommen, als Sir Gilliam noch lebte. Nun, nach dem Tod seines
alten Dienstherrn, würde er unerträglich sein! Himmel, sie würde sich so bald
wie möglich eine andere Stellung suchen müssen!
Mrs. March schien mit dem Packen fertig zu sein. Sie setzte ihren Hut auf und
trat auf Carissa zu. „Auf Wiedersehen, meine Liebe. Ich werde Sie vermissen.“
„Sie werden mir auch fehlen.“
„Ich nehme an, Sie werden jetzt Lord Hartleighs Angebot annehmen und für
ihn als Haushälterin arbeiten?“
Mrs. Kane zuckte die Schultern. „Ich weiß noch nicht genau, was ich tun
werde.“
„Natürlich wissen Sie es, meine Liebe. Aber vielleicht wissen Sie noch nicht,
dass dieser Hund heute Morgen nach Mr. Parkhurst geschnappt hat. Sir Gilliams
nichtsnutziger Neffe hat versucht, mit Maisie zu flirten, als diese einen
Spaziergang mit Pippa und Sue machen wollte. Dann hat er auch noch Pippas
Kopf getätschelt. Und schon war es passiert! Tor hat zugeschnappt, und Mr.
Parkhurst hat ein furchtbares Geschrei angestimmt.“
Die Köchin begann zu kichern, und zu ihrem eigenen Erstaunen musste auch
Carissa lachen. Ein Teil der Spannung, die sie seit der Testamentseröffnung
erfüllt hatte, fiel von ihr ab. Ja, Mrs. March hatte Recht. Es lohnte sich
zumindest, darüber nachzudenken, ob sie die Stellung in Lord Hartleighs Haus
trotz Gladiators Anwesenheit dort annehmen sollte. Vielleicht war dieser Hund
doch nicht so übel ...
6. KAPITEL
Carissas hoffnungsvolle Stimmung hielt leider nicht lange an. Einer von Mr.
Parkhursts Freunden überhäufte sie mit einer Fülle von Aufgaben, die sie
widerwillig, aber klaglos erledigte. Dann holte sie ihre Tochter bei Maisie ab und
brachte sie früh ins Bett. Erst als sie ganz sicher war, dass Pippa fest schlief,
gestattete sie sich, ihren Gefühlen nachzugeben, und begann zu weinen.
Für diese Tränen gab es viele Gründe. Carissa trauerte ehrlich um den
verstorbenen Sir Gilliam, der ihr mehr väterliche Zuneigung entgegengebracht
hatte als ihr wirklicher Vater. Sie weinte aber auch um Pippa, deren Zukunft
sich mit dem Verlust des angekündigten Erbes deutlich verfinstert hatte. Die
Fehler, die sie selber begangen hatte, fielen ihr ein, und heftige Schluchzer
schüttelten sie, als sich Selbstvorwürfe mit Zorn und Verzweiflung über die
Ungerechtigkeit der Welt vermischten.
Lady Carissa Kane, die Tochter des Earl of Macclesfield, hatte harte Zeiten
hinter sich. Aber selten war sie von einer solchen Hoffnungslosigkeit erfüllt
gewesen. Schließlich sank sie, vollständig angekleidet und völlig erschöpft, auf
dem Sofa in ihrem winzigen Wohnzimmer in einen unruhigen Schlaf.
Sie erwachte von einem Klopfen an der Tür. Verwirrt richtete sie sich auf. Aus
dem Nebenzimmer drang das schwache Licht der kleinen Öllampe herüber, die
sie stets neben Pippas Bett brennen ließ.
Es klopfte erneut. Himmel, wer konnte mitten in der Nacht etwas von ihr
wollen? Sie verhielt sich ganz still, entschlossen, sich weder von Broderick
Parkhurst noch von einem seiner Freunde um diese Uhrzeit zu irgendeiner
Arbeit drängen zu lassen.
„Mrs. Kane“, hörte sie jetzt den Neffen ihres verstorbenen Arbeitgebers
flüstern, „Mrs. Kane, ich weiß, dass Sie wach sind. Ich muss Sie dringend
sprechen. Deshalb werde ich hier warten, bis Sie mir öffnen.“
„Es tut mir Leid, Mr. Parkhurst, aber da werden Sie lange warten müssen. Wir
können uns morgen früh unterhalten.“
„Bitte, es ist dringend!“
Seine Stimme war lauter geworden, und sie fürchtete, er könne Pippa
wecken. Außerdem begann ihr Gewissen sie zu plagen. Vielleicht hatte der
junge Mann sich verletzt, oder es war sonst etwas Schlimmes geschehen.
Vorsichtig öffnete sie die Tür einen Spalt breit.
Broderick Parkhursts Atem roch nach Alkohol, aber ansonsten schien alles in
Ordnung zu sein. Carissa wollte die Tür wieder schließen. Doch da hatte der
junge Mann bereits seinen Fuß in den Türspalt geschoben.
„Hören Sie mich an!“ forderte er. „Ich wollte es vor diesem Gordon nicht offen
aussprechen, aber Sie können gern für mich in der gleichen Position tätig sein
wie für meinen Onkel.“
„Das erwähnten Sie bereits, aber ich habe noch keine Entscheidung
getroffen.“
„Wenn Sie sich für mich entscheiden, dann sollten Sie eins wissen: Ich bin
nicht bereit, Sie mit Hartleigh zu teilen.“
„Natürlich nicht. Er hat bereits mehrere Agenturen mit der Suche nach einer
geeigneten Haushälterin beauftragt.“
„Mrs. Kane, niemand hört uns zu. Deshalb können wir offen miteinander
reden. Ich spreche nicht von der Position, die Sie tagsüber innehaben. Mir ist
klar, dass mein Onkel zu alt war, um Ihnen nachts geben zu können, wonach
eine junge Frau sich sehnt. Ich verstehe durchaus, dass Sie unter diesen
Umständen Hartleighs Drängen nachgegeben haben. Ich jedoch erwarte
absolute Treue von Ihnen.“
Carissa war entsetzt, und es dauerte einen Moment, bis sie sich gefasst hatte.
„Wie können Sie es wagen, so über Ihren Onkel und über mich zu sprechen“,
brach es aus ihr heraus. „Sie ...“
Er grinste und legte ihr die Hand auf die Wange.
Gleich darauf stieß er einen unterdrückten Schrei aus und taumelte mit
schmerzverzerrtem Gesicht zurück. Carissa hatte dafür gesorgt, dass er eine
Zeit lang keiner Frau geben würde, wonach sie sich nachts – seiner Meinung
nach – sehnte.
Carissa entschied sich, Lord Hartleighs Stellenangebot anzunehmen.
Pippa würde begeistert sein – und die Applegate-Schwestern ebenfalls. Sie
liebten es, schlecht über ihre Bekannten zu reden. Stundenlang würden sie
darüber spekulieren, welche Pflichten diese Mrs. Kane – war sie nicht viel zu
jung, um überhaupt als Haushälterin zu arbeiten? – im Haushalt des als
Lebemann bekannten Viscount übernehmen würde. Und natürlich würden auch
andere über sie klatschen. Der Klatsch würde selbstverständlich jeder
Grundlage entbehren. Für Carissas Ruf jedoch würde er verheerend sein.
Trotzdem glaubte sie, keine andere Wahl zu haben.
Schon um acht Uhr stand sie, Pippas Finger fest in der einen, den Korb mit
der Katze Cleo fest in der anderen Hand haltend, vor Lord Hartleighs Haus.
Entschlossen wandte sie sich zum Dienstboteneingang und klopfte. Niemand
öffnete. Doch die Tür war nicht abgeschlossen. Und so trat Carissa ein.
Der Küchenherd war voller Asche, in der Spüle türmte sich schmutziges
Geschirr. Die Schränke allerdings, in denen sich die Lebensmittelvorräte
befinden sollten, waren fast leer. Ein Lächeln huschte über Carissas Gesicht.
Man brauchte sie hier, das war offensichtlich.
Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass Gladiator nirgends zu sehen war,
ließ sie Cleo aus dem Körbchen und gestattete Pippa, nach oben zu gehen, um
nach Maisie und Sue zu sehen. Ihre verzweifelte Stimmung vom Vortag hatte
sie längst überwunden, als sie mit der Arbeit begann.
Eine Stunde später stolperte Byrd, nur mit Hose und Unterhemd bekleidet
und das hässliche Gesicht unrasiert, in die Küche. Verwirrt riss er die Augen auf.
Ungläubig schaute er sich um. Dann fing er an, genüsslich zu schnuppern. Es
duftete nach selbstgebackenen Brötchen und frischem Tee. „Bei allen Teufeln
...“, murmelte er.
Carissa war gerade damit beschäftigt, Holz nachzulegen. Byrd sah es mit
Entsetzen. „Lassen Sie das“, rief er. „Der Captain wird mir den Kopf abreißen,
wenn er bemerkt, dass ich Sie solche schweren Arbeiten tun lasse. Sie sollen
auch nicht den großen Kessel tragen oder die Wasserpumpe bedienen. Das sind
meine Aufgaben!“
„Wenn Sie sich fertig gemacht haben, können Sie Seiner Lordschaft warmes
Wasser zum Waschen und das Frühstückstablett bringen“, entgegnete Carissa
gelassen. „Und sagen Sie ihm bitte, dass ich ihn so bald wie möglich sprechen
muss.“
Byrd kratzte sich an seinem kahlen Schädel. „Ich weiß nicht, wie bald das
sein wird. Er war gestern lange auf und ...“
„Ich sagte doch, dass ich ihn dringend sprechen muss“, meinte Carissa
streng.
Der ehemalige Preisboxer warf ihr einen kurzen Blick zu und begriff, dass es
ihr ernst war. Ohne sich damit aufzuhalten, sich selbst etwas präsentabler
herzurichten, stürzte er mit den Worten „Ich hole ihn!“ aus dem Zimmer.
Es dauerte nicht allzu lange, bis der Viscount die Küchentür öffnete. Er wirkte
verschlafen, sein blondes Haar war ungekämmt, und er hatte es versäumt, sein
weißes Hemd in die Hose zu stecken und zuzuknöpfen. Immerhin war die Hose
zugeknöpft.
Carissa unterdrückte einen Seufzer. In ihren Augen sah Lord Hartleigh aus
wie ein griechischer Gott, der unsanft aus seinem olympischen Schlummer
gerissen worden war – und zwar nach einer Orgie.
Seine Erscheinung und die Anziehungskraft, die er auf sie ausübte,
verwirrten Carissa so sehr, dass sie im ersten Moment kein Wort ihrer sorgfältig
vorbereiteten Ansprache über die Lippen brachte. „Wenn ich hier bleiben soll,
muss der Hund gehen“, stammelte sie schließlich.
Lesley Hammond fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Sein Aufzug schien ihm
überhaupt nicht peinlich zu sein. Auch war ihm sein Humor trotz der frühen
Störung nicht abhanden gekommen. „Ich nehme an, Sie bewerben sich um die
Stelle als Haushälterin?“
Sie nickte.
„Gut. Wir brauchen wirklich jemanden, der Ordnung in dieses Durcheinander
bringt. Maisie ist zu jung. Und außerdem muss sie sich um Sue kümmern.
Wissen Sie, was die letzte Bewerberin um den Posten ...“
Carissa wollte es gar nicht wissen und unterbrach den Viscount einfach. „Ich
habe drei Bedingungen“, verkündete sie. „Erstens: Der Hund geht.“
Lord Hartleigh sah sich um. „Er ist schon fort.“
Damit hatte er überhaupt nichts versprochen, wie Carissa auffiel. Ihr fiel auch
auf, dass sie den Blick kaum von den goldenen Haaren auf seiner Brust
abwenden konnte. Sie schluckte. „Zweitens: Sie helfen mir bei ... der
Durchsuchung eines Anwaltsbüros.“
Jetzt schluckte der Viscount.
„Ich bin schließlich auch mit Ihnen auf dem Dachboden von Hammond House
gewesen“, rief sie ihm in Erinnerung.
„Das war keine Durchsuchung, wie Sie es nennen, denn in mein eigenes Haus
brauche ich nicht einzubrechen.“ Er kreuzte die Arme vor der Brust und
betrachtete die junge Frau mit gerunzelter Stirn. „Es ist ein Verbrechen,
heimlich in ein Anwaltsbüro einzudringen. Ich möchte nicht ins Gefängnis.“
„Dann muss ich das Risiko eben allein tragen.“ Carissa zuckte die Schultern
und zog die Schürze aus. „Es tut mir aufrichtig Leid, dass ich Sie so früh gestört
habe, Mylord.“ Sie bückte sich, um nach Cleo Ausschau zu halten.
„Mrs. Kane, um Himmels willen, warten Sie! Hat Ihre Bitte etwas mit Sir
Gilliams Testament zu tun?“
„Mit seinem verschwundenen Testament, ja. Nigel Gordon, der Anwalt, hat
nämlich nicht Sir Gilliams letzten Willen verlesen, sondern ein Schriftstück, das
mehr als fünf Jahre alt ist. Darin wurde ich natürlich nicht erwähnt, denn damals
hielt ich mich noch gar nicht in London auf. Ich weiß, dass er später ein anderes
Testament verfasst hat, in dem ich großzügig bedacht wurde.“
„Beweise dafür haben Sie aber nicht?“
„Nein. Trotzdem bin ich mir ganz sicher. Einige Tage vor seinem Tod hat er
mir nämlich anvertraut, dass er gut für Pippa und mich gesorgt habe. Es ist
vollkommen undenkbar, dass er mich angelogen hat. Er war ein ehrbarer und
großzügiger Mann. Bestimmt hat er seinen letzten Willen bei Mr. Gordon
hinterlegt, bei dem alten Mr. Gordon, meine ich, der inzwischen verstorben ist.
Deshalb ist es mir so wichtig, das Büro zu durchsuchen.“
Lord Hartleigh schaute noch immer zweifelnd drein.
„Sir Gilliam hat mir bestimmt die Wahrheit gesagt“, wiederholte Carissa. „Er
hatte gar keinen Grund, mich anzulügen. Er mochte mich. Er hat mir sogar
mehrmals angeboten, mich zu heiraten.“
„Ein Angebot, das Sie jedes Mal abgelehnt haben ...“
„Natürlich! Niemals würde ich die Großzügigkeit eines einsamen alten
Mannes ausnutzen“, gab sie erregt zurück.
Das verstand Lord Hartleigh, obwohl er bisher keiner Frau mit ähnlich hohen
Moralansprüchen begegnet war. „Halten Sie es für möglich, dass Mason
irgendwie in die Geschichte verwickelt ist? Ich hatte immer den Eindruck, dass
er Sie von ganzem Herzen verabscheut.“
„Das stimmt.“
„Ihm würde ich eher zutrauen, ein Testament zu unterschlagen, als einem
Anwalt. Wenn Mr. Gordon allerdings wirklich wissentlich ein falsches Testament
verlesen hat, dann wird er dafür gesorgt haben, dass das richtige verschwindet,
nicht wahr? Es wäre dann völlig sinnlos, in seine Kanzlei einzubrechen.“
Carissa konnte ihre Enttäuschung nicht verbergen. Der Viscount hatte
wahrscheinlich Recht. Und dennoch ...
„Glauben Sie, dass Sir Gilliam auch eine Kopie seines letzten Willens
angefertigt hat?“
„Möglich. Die hätte er dann bestimmt in seinem Schreibtisch aufbewahrt.
Himmel, ich hätte alle Schubladen durchsuchen sollen, ehe Mason oder
vielleicht auch Mr. Parkhurst Gelegenheit hatten, das Testament verschwinden
zu lassen.“
„Mason ist sicher in beiden Testamenten mit einer großzügig bemessenen
Summe bedacht worden. Aber dieser Parkhurst ... Wenn ich Sie richtig verstehe,
Mrs. Kane, hatte er am meisten zu verlieren, wenn der letzte Wille seines Onkels
auftauchte.“
„Allerdings. Dann glauben Sie also, dass der Anwalt unschuldig ist, Mylord?“
„Nicht unbedingt. Ich bin lediglich der Meinung, dass Mason der größere
Schuft ist.“
„Ja, sehr wahrscheinlich ...“ Carissa hatte nachdenklich die Stirn gekraust.
„Das heißt, dass ich eine Gelegenheit finden muss, sein Zimmer zu
durchsuchen. Ein Grund, Sir Gilliams Haus noch einmal zu betreten – natürlich,
wenn Mason gerade fort ist –, wird mir schon einfallen.“
Der Viscount schüttelte abwehrend den Kopf. „Das ist viel zu gefährlich. Im
Übrigen ist Mason kein Dummkopf. Wenn es wirklich Beweise für seine Schuld
gibt, so wird er diese gewiss nicht in seinem Zimmer aufbewahren. Ich werde
Byrd beauftragen, ein Auge auf diesen unsympathischen Butler ...“ Er
unterbrach sich, weil aus dem Keller merkwürdige Geräusche zu hören waren.
Carissa achtete nicht weiter darauf, da sie wusste, dass Byrd diesen Lärm
veranstaltete. Er hatte ihr nämlich mitgeteilt, dass er Kohlen für den
Küchenherd holen würde. „Ich fürchte“, stellte sie fest, „dass Ihr Diener eine
viel zu auffällige Erscheinung ist, um einen gerissenen Menschen wie Mason zu
beschatten.“
„Bei Jupiter, das stimmt. Nun, dann werden wir eben einen Detektiv, einen
Bow Street Runner, engagieren.“
„Das, Mylord, kann ich mir leider nicht leisten.“
„Solange Sie eine Stellung in meinem Haushalt innehaben, komme ich für die
Ausgaben auf. Das ist doch wohl klar.“
Carissa sah das ganz anders. Doch nach kurzem Nachdenken erklärte sie: „Sir
Gilliam war ein reicher Mann. Sobald es uns gelungen ist, den Beweis dafür zu
erbringen, dass er mich als seine Erbin eingesetzt hat, werde ich Ihnen alle
Unkosten erstatten.“
„Selbstverständlich.“ Lord Hartleigh nickte bestätigend. „Sie müssen
allerdings damit rechnen, dass ich den Bow Street Runner bitte, nicht zu
schnell und effektiv zu arbeiten, damit Sie mir noch eine Weile als Haushälterin
erhalten bleiben.“
Diesmal hatte sie kein Verständnis für seine humoristische Anwandlung. „Ich
habe noch eine dritte Bedingung“, erklärte sie ernst.
„Ah ja. Die dritte Bedingung ...“
„Ich bin nur als Haushälterin hier.“
„Ich erinnere mich, dass Sie bereits einmal erwähnten, dass Sie nicht
kochen.“
„Ich könnte Mrs. March fragen, ob sie an der Stellung als Köchin interessiert
ist. Aber das Kochen habe ich gar nicht gemeint.“ Carissa senkte den Kopf,
damit der Viscount nicht sah, wie sie errötete.
Er bemerkte es trotzdem. „Einen anderen Posten als den der Haushälterin“,
meinte er mit einem kleinen Lächeln, „würde ich einer ehrbaren Frau wie Ihnen
niemals anbieten, Mrs. Kane.“
„Gut. Und jetzt noch einmal zurück zu dem Hund ...“
Lord Hartleigh hörte einen Moment lang zu, dann brüllte er plötzlich los:
„Was haben Sie da gesagt? Sie haben eine Katze?“
Nebenan im Haus der Applegate-Schwestern bewegte sich eine Gardine.
„Jawohl, Mylord. Ich habe eine gut erzogene hübsche Katze.“ Die allerdings
nirgends zu sehen war.
„Schön. Diese wundervolle Katze kann im Stall unterkommen, wo sie
bestimmt ein paar wundervolle Mäuse vorfinden wird.“
Mäuse? Carissa beschloss, nie auch nur einen Fuß in den Stall zu setzen. Und
was Cleo betraf, nun, die fraß – anders als Gladiator – nur, was man ihr in einem
Schüsselchen vorsetzte. „Meine Katze“, verkündete Carissa also stolz,
„interessiert sich weder für Mäuse noch für Abfälle, und ihr Bereich ist die
Küche mit allen Nebenräumen.“
„Tor würde jede Katze aus dem Haus vertreiben.“
„Eben. Ich erwähnte ja, dass meine erste Bedingung lautet: Der Hund muss
weg.“
„Mein Haustier soll Ihrem weichen? Niemals!“ Entschieden schüttelte der
Viscount den Kopf. „Außerdem frage ich mich wirklich, wie Sie zu der
Behauptung kommen, diese Cleo habe kein Interesse an Mäusen. Alle gesunden
Katzen jagen. Ja, es macht ihnen sogar Spaß, ihre Opfer – Mäuse, Vögel,
Eichhörnchen oder auch junge Kaninchen – ein wenig zu quälen, ehe sie sie
töten.“
„Oh!“ Carissa war blass vor Wut geworden. „Ich kenne meine Cleo. Sie ist
eine Hauskatze und hat noch nie gejagt. Wie auch? Sie geht ja nie nach
draußen.“
„Was? Nicht einmal, um zu ...“
„Nein. Sie hat eine Katzentoilette.“
„Aber sie haart gewiss! Und zweifellos hat sie auch Würmer und Flöhe.“
„Was erlauben Sie sich!“ Carissas Wangen hatten sich wieder gerötet, und
ihre Augen blitzten zornig. „Sie verurteilen Cleo, ohne sie auch nur ein einziges
Mal gesehen zu haben. Glauben Sie etwa, alle Tiere seien so schmutzig und
frech wie Ihr Hund? Cleo stiehlt weder beim Metzger noch gräbt sie Löcher oder
bringt Ungeziefer ins Haus. Im Übrigen wird sie auch keinen Nachwuchs
bekommen.“
Lord Hartleigh, der sich köstlich amüsierte, musste sich alle Mühe geben, um
nicht laut aufzulachen. Ah, wie er es liebte, wenn Mrs. Kane sich so aufregte!
Sie wirkte dann viel jünger und attraktiver. Ja, die Erregung verlieh ihr eine
ganz besondere Schönheit. Ihre Brust hob und senkte sich bei jedem der
heftigen Atemzüge. Ein rosiger Hauch lag auf ihrer Haut, und alles an ihr
sprühte vor Leben. Es war wirklich eine Freude, sie anzuschauen!
Er beschloss, sich diese Freude noch ein paar Minuten länger zu gönnen.
„Gladiator wird auch keinen Nachwuchs bekommen“, stellte er fest. „Und wenn
doch, so werden wir es jedenfalls nicht erfahren.“
Carissa musterte ihn mitleidig. „Ich dachte, Sie hätten verstanden, was ich
meine. Schließlich reiten Sie einen Wallach.“
„Sie wollen doch damit hoffentlich nicht sagen, dass ich den armen Tor
kastrieren lassen sollte?“
„Wahrscheinlich wäre er dann glücklicher.“
„Meine liebe Mrs. Kane, ich fürchte, dies ist ein Thema, über das Frauen
besser nicht reden sollten.“
Aha, jetzt war es ihm gelungen, sie zur Weißglut zu bringen.
„Sie gehören wohl auch zu den Männern, die Frauen das Recht auf eine
eigene Meinung absprechen?“ brach es aus ihr heraus.
Lord Hartleigh begriff, dass er einlenken musste. Außerdem wurde ihm klar,
dass es extrem ungehörig war, über diese Dinge mit einer Dame zu reden.
„Ihr Hund ist nicht glücklich“, schrie die Dame gerade, wobei sie sehr
undamenhaft die Hände in die Hüften stemmte. „Und schlimmer noch: Er
macht andere unglücklich. Er ist eine Gefahr für alle, denen er begegnet. Er ist
nämlich faul, boshaft und verfressen!“
„Trotzdem ist und bleibt er mein Hund. Genau, wie dies mein Haus ist.“
„Cleo wiederum ist meine Katze. Und ich werde nirgends hingehen, wo sie
nicht bleiben darf.“
„Ich habe gehört, dass Katzen für Babys gefährlich sein können“, meinte der
Viscount.
„Unsinn.“ Carissa schüttelte heftig den Kopf. „Cleo hat meine Pippa nie in
Gefahr gebracht. Die beiden sind tatsächlich die besten Freundinnen. Aber
wenn es Sie beruhigt: Wir können ja die Tür zum Kinderzimmer schließen, wenn
Maisie einmal nicht auf Sue Acht geben kann.“
„Also gut.“ Lesley Hammond wäre bereit gewesen, einen halben Zoo
aufzunehmen, wenn nur Mrs. Kane blieb. Andererseits wollte er auf keinen Fall
den Eindruck erwecken, unter ihrem Pantoffel zu stehen. „Also gut“,
wiederholte er, „Cleo darf sich in der Küche und den Nebenräumen aufhalten.
Tor darf die Zimmer betreten, in denen ich lebe. Das scheint mir ein faires
Angebot zu sein.“
Es war mehr als fair. Und Carissa wusste es. Trotzdem verspürte sie ein
unstillbares Bedürfnis danach, das letzte Wort zu haben. „Einverstanden“,
sagte sie, „vorausgesetzt, dass der Hund zuerst gebadet wird.“
In diesem Moment erschien Byrd in der Küchentür. Die Kohlen, die er
eigentlich hatte holen wollen, hatte er nicht mitgebracht. „Sie müssen in den
Keller kommen, Captain“, meinte er sichtlich besorgt. „Ihr Cognac ...“
„Was ist mit meinem Cognac?“ Die Stirn des Viscount umwölkte sich.
„Also ... Es sieht so aus, als habe jemand das Regal mit den Cognac-Flaschen
umgeworfen.“
„Byrd, Sie werden doch nicht ...“
„Natürlich nicht!“ unterbrach ihn der Bedienstete. „Es war der Hund.
Anscheinend hat er eine Katze gejagt.“
„Cleo!“ Clarissa stürzte mit gerafften Röcken zur Kellertreppe.
In großer Sorge – sowohl um die Katze als auch um den Cognac – folgte Lord
Hartleigh ihr.
Er sah sofort, dass alle sieben Cognacflaschen umgestürzt waren. Aber nur
zwei waren zerbrochen. Ihr Inhalt bildete Pfützen auf dem Kellerboden. Vor
einer Pfütze saß eine schwarze Katze mit weißen Pfoten und schleckte elegant
von der Flüssigkeit. Vor der anderen Pfütze hockte Tor. Er rülpste. Die Katze
nieste. Dann tauschten die beiden friedlich ihre Plätze.
„Oh Gott“, murmelte Carissa, „ich kann es einfach nicht glauben ...“
„Die beiden werden bestimmt einen ordentlichen Kater bekommen“,
überlegte Byrd laut.
„Wenn ich sie nicht vorher umbringe ...“, stellte der Viscount fest. „Mein
guter Cognac! Ist Ihnen eigentlich klar, Mrs. Kane, dass er unersetzlich ist?“
Carissa nickte stumm.
„Nun“, meinte Seine Lordschaft nachdenklich, „zumindest scheint er dazu
beigetragen zu haben, dass die Tiere Freundschaft geschlossen haben.“
Ohne sich ihre Erleichterung anmerken zu lassen, sagte Carissa: „Wenn der
Hund nicht gebadet wird, werde ich ihn weder in Pippas Nähe lassen noch in
Cleos. Und in meine Küche darf er sowieso nicht.“
Meine Küche? Lord Hartleigh gefiel das.
Byrd allerdings war weniger begeistert. „Bald werde ich nur noch von
Weibern umgeben sein“, brummelte er. „Erst das Baby, dann Maisie und nun
auch noch ein weiteres kleines Mädchen, eine Haushälterin und womöglich
zusätzlich eine Köchin ... Welcher Mann könnte das ertragen?“
„Halt den Mund“, befahl sein Herr. „Und hol Wasser und Seife, damit du den
Hund baden kannst.“
Es kostete erstaunlich wenig Mühe, Mrs. March dazu zu überreden, sich als
Köchin in Lord Hartleighs Haus zu verdingen. Wie sie Carissa bei einer Tasse
Tee anvertraute, hatte sie seit jeher eine große Abneigung gegen ihren
Schwager verspürt. Obwohl ihre Schwester sie immer wieder gebeten hatte,
doch zu ihr zu ziehen, hatte ihr die Vorstellung gar nicht behagt, unter
demselben Dach zu leben wie deren unsympathischer Mann.
„Außerdem“, verkündete Mrs. March, „hat dieser Kerl keine Ahnung von
gutem Essen. Ich will – so wahr mir Gott helfe – lieber für einen Gentleman
kochen, der auch zu schätzen weiß, was ich auf den Tisch bringe.“
„Da brauchen Sie sich bei Lord Hartleigh keine Sorgen zu machen“, stimmte
Carissa der Köchin zu. „Sie müssen nur aufpassen, dass Ihnen dieser elende
Hund nicht die besten Stücke aus dem Topf stiehlt.“
Mrs. March war davon überzeugt, dass sie jedem Hund – und sei er auch noch
so gerissen – gewachsen war. „Im Übrigen wird er wahrscheinlich seine
Raubzüge aufgeben, wenn er nur regelmäßig und ausreichend gefüttert wird.
Und dafür werde ich schon sorgen. Mein Reich hat noch nie jemand, ganz gleich
ob Mensch oder Tier, hungrig verlassen! Also, Gladiator ist für mich wirklich
kein Problem.“
Byrd allerdings hätte schon eher zu einem Problem werden können. Die
Köchin stand dem großen, kräftigen Mann mit der tätowierten Glatze
ausgesprochen misstrauisch gegenüber, zumal sie inzwischen auch von seiner
anderen Tätowierung – der auf der Backe – gehört hatte.
„Sollten Sie jemals auf die Idee kommen, mir außer dieser Möwe noch andere
Tätowierungen zeigen zu wollen, dann werde ich Ihnen meine schwerste
Bratpfanne über Ihren hässlichen Schädel ziehen“, drohte sie Byrd an.
„Hässlich? Das würden Sie nicht sagen, wenn Sie mal in den Spiegel
geschaut hätten! Wagen Sie bloß nicht, auch nur die Hand gegen mich zu
erheben. Ich habe keine Scheu, bei einer alten Krähe wie Ihnen
zurückzuschlagen!“
„Krähe? Das brauche ich mir nicht sagen zu lassen! Und Angst können Sie
mir sowieso nicht einjagen. Ich kann nämlich mit dem Fleischermesser
umgehen!“
Byrd grinste. Mrs. Marchs Augen blitzten. Beide schienen überaus zufrieden
zu sein. Carissa begriff, dass sich hier zwei verwandte Seelen begegnet waren.
Den Beweis dafür erbrachten die beiden wenig später, als sie sich zu einem
Gläschen Gin an den Küchentisch setzten. Offenbar war das Kriegsbeil
begraben.
Das war umso leichter, als Byrds Befürchtung, allein als Mann zwischen
„Weibern“ leben zu müssen, sich nicht bewahrheitete. Innerhalb von wenigen
Tagen fragten die beiden Hausburschen, die bei Sir Gilliam beschäftigt
gewesen waren, bei Lord Hartleigh nach Arbeit. Der Viscount stellte sie ein,
denn zu tun gab es genug. Und er wusste, dass Mason und Mr. Parkhurst im
Haus gegenüber ein Regiment führten, das jeden noch so starken Mann in die
Flucht schlagen konnte. Auch das Hausmädchen Bonnie floh von einer
Straßenseite auf die andere und fand eine neue Stellung in Lord Hartleighs
Haushalt.
Für Carissa als Haushälterin war es nicht ganz einfach, Unterkünfte für all
diese neuen Bediensteten zu finden und herrichten zu lassen. Zum Glück stellte
sich heraus, dass sich über den Stallungen ein Raum befand, den man mit
etwas Mühe in ein gemütliches Zimmer für die beiden jungen Burschen
verwandeln konnte. Byrd bestand darauf, seine „Koje“, wie er sagte, neben der
Küche zu behalten. Zum Glück hatte Mrs. March nichts dagegen, mit Bonnie
unters Dach zu ziehen. Carissa wurde von Lord Hartleigh gedrängt, sich in dem
größeren der Gästezimmer einzurichten.
Dass dieses sich direkt gegenüber vom Schlafraum des Hausherrn befand
und wahrscheinlich gar kein Gästezimmer, sondern das Gemach der Hausherrin
war, gefiel ihr zwar nicht, aber sie musste einsehen, dass es die beste Lösung
war. „Also gut“, meinte sie, „dann wollen wir ein kleines Bett für Pippa
hineinstellen.“
„Glauben Sie nicht, dass Pippa lieber im Kinderzimmer schlafen würde?“ gab
Seine Lordschaft zu bedenken.
Carissa schüttelte den Kopf. „Sie ist nachts noch nie von mir getrennt
gewesen.“
„Nun, dann wird es höchste Zeit! Pippa ist kein Baby mehr. Sie müssen ihr
gestatten, selbstständiger zu werden. Wenn sie ins Kinderzimmer zieht, hat sie
mehr Platz zum Spielen. Sie kann sich, wenn sie möchte, mit Sue beschäftigen.
Und Maisie ist durchaus in der Lage, ein Auge auf beide Kinder zu haben.“
Während er sprach, war Lord Hartleigh in Richtung Kinderzimmer gegangen.
„Kommen Sie!“ forderte er Mrs. Kane auf und öffnete die Tür.
Mitten im Raum stand das Schaukelpferd, das Pippa gerade in wildem Galopp
ritt. An der Wand befand sich ein Regal mit Bilderbüchern und Spielen. Es gab
einen kleinen Schreibtisch mit einem passenden Stuhl. Und auf einem
Tischchen entdeckte Carissa ein Puppenhaus, das der Viscount irgendwo
gefunden haben musste.
Durch eine offen stehende Tür konnte man ins angrenzende Schlafzimmer
sehen. Dort waren zwei Betten aufgestellt, eines für Pippa und eines für Maisie,
daneben Sues Wiege. Der Korb, in dem das Baby abgeliefert worden war, stand
nahe der Tür auf dem Boden. In ihm hatte Cleo es sich bequem gemacht.
„Es wäre noch Platz genug für mein Bett“, stellte Carissa fest, obwohl sie
selber daran zweifelte. Zwei Kommoden, ein Schaukelstuhl und ein Schrank
füllten das verhältnismäßig große Zimmer beinahe aus.
Trotzdem widersprach Lesley Hammond der jungen Frau nicht direkt.
„Fürchten Sie nicht, Sie könnten Maisie und die Kinder stören, weil Sie um
einiges später ins Bett gehen?“ fragte er stattdessen.
„Später? Warum sollte ich?“ Rechnete er womöglich doch damit, dass sie ihm
Freiheiten gewähren würde, an die eine ehrbare Frau nicht einmal dachte?
„Weil Sie mir eine große Freude machen könnten, wenn Sie gelegentlich mit
mir zu Abend speisen würden. Ich habe gehört, dass Sie auch Sir Gilliam
manchmal beim Dinner Gesellschaft geleistet haben. Gewiss böte ein
gemeinsames Abendessen dann und wann eine gute Gelegenheit, Fragen zu
klären, die mit der Führung des Haushalts zu tun haben.“
„Danke, Ihre Einladung ehrt mich, Mylord“, gab Carissa scheinbar ruhig
zurück. Tatsächlich jedoch klopfte ihr Herz wie wild. Dinner mit Lord Hartleigh?
Am klügsten wäre es, sofort zu kündigen. Er sah so gut aus, war so attraktiv,
hatte ein so charmantes Lächeln – und eine so erschreckende Wirkung auf ihre
Sinne. Himmel, sie durfte nicht schwach werden! Sie durfte sich nicht
verlieben!
Er lächelte, und sofort begannen wieder diese Schmetterlinge in ihrem Bauch
herumzuflattern.
„Mrs. Kane“, sagte er, „ich wollte Sie schon lange darauf ansprechen: Dieses
ewige Mylord hier, Mylord dort macht mich ganz krank. Könnten Sie sich nicht
dazu entschließen, mich Hartleigh oder Hart zu nennen? Und würden Sie mir
freundlicherweise Ihren Vornamen verraten?“
„Nein.“
„Nein? Hat Ihre Familie Sie etwa nicht nur im Stich gelassen, als Sie mit Pippa
allein waren, sondern Ihnen auch noch einen unaussprechlichen Namen
gegeben?“
„Unsinn, Mylord. Mir gefällt einfach die Vorstellung nicht, dass mein
Arbeitgeber mich mit meinem Vornamen ansprechen könnte.“
„Und mir gefällt die Vorstellung nicht, dass alle Welt mich Mylord nennt,
obwohl ich einen durchaus akzeptablen Namen habe. Mein Vorname ist
übrigens Lesley. Bitte, vergessen Sie nicht, dass ich als Ihr Arbeitgeber das
Recht habe, Wünsche zu äußern. Und ich wünsche, dass Sie mich nicht mehr
mit Mylord anreden.“
„Bitte, vergessen Sie nicht, dass ich als Ihre Haushälterin darüber entscheide,
ob Ihre Wäsche gestärkt wird und wie oft es Spargel zum Dinner gibt.“
Er hasste Spargel.
„Also gut, ich verspreche, Ihren Vornamen nicht zu benutzen – zumindest
nicht, so lange wir uns nicht besser kennen. Aber machen Sie doch bitte kein
solches Geheimnis daraus.“
„Ich heiße Carissa“, gestand sie. „Und ich werde Ihnen in hundert Jahren
nicht gestatten, mich so anzureden!“
Carissa und Bonnie waren nun schon seit Tagen damit beschäftigt, eine Liste
mit Dingen zu erstellen, die neu angeschafft werden sollten. Der Viscount hatte
Mrs. Kane gebeten, die Einrichtung des Hauses zu modernisieren und zu
verschönern. Es sollte einen passenden Rahmen für die Gespräche mit
möglichen Pflegeeltern für Sue abgeben.
„Natürlich“, hatte er gesagt, „werde ich die infrage kommenden Familien
auch aufsuchen. Zuerst allerdings möchte ich mir ein Bild davon machen, wie
sie mit Sue umgehen. Deshalb müssen sie sich zuerst hier vorstellen.“
Sein Anwalt, den er mit der Suche nach passenden Pflegeeltern beauftragt
hatte, hatte ihn mehrmals darauf hingewiesen, dass er der ganzen Sache mehr
Gewicht beimaß und sich viel mehr Arbeit machte als nötig. Aber Lord Hartleigh
war stur geblieben. Er wollte nur das Beste für Sue – genau wie für Pippa, für
die er inzwischen nicht nur einen Globus, sondern auch ein Pony angeschafft
hatte.
Da er genau wusste, dass seine Haushälterin ein solches Geschenk
zurückweisen würde, hatte er behauptet, das Pony sei für Sue. Da sie es aber
noch nicht reiten konnte, würde Mrs. Kane ihm einen großen Gefallen tun, wenn
sie Pippa gestattete, das Tier zu bewegen.
Tatsächlich war das Pony so lammfromm, dass Carissa keine Bedenken hatte,
Pippa in seine Nähe zu lassen. Und Pippa war natürlich begeistert gewesen.
Nun, sie war von allem begeistert, was der Viscount sagte oder tat. Wenn er von
ihr verlangt hätte, dem Pony das Rechnen beizubringen, so hätte sie es
versucht. Schließlich kannte sie schon alle Zahlen von eins bis zwölf.
„Wenn Sue groß genug ist, um ihr Pony selber zu reiten, dann wird Pippa
gerade alt genug sein, um ein richtiges Pferd zu bekommen“, stellte Lord
Hartleigh im Beisein des Kindes fest. „Mit all der Mühe, die sie sich bis dahin mit
dem Pony gegeben hat, hat sie sich dann ein gutes Reitpferd verdient. Ein
Problem könnte es allerdings geben.“
Probleme bedeuteten im Allgemeinen, dass man etwas Schönes nicht tun
durfte oder konnte. Das wusste Pippa sehr wohl. Und deshalb füllten ihre Augen
sich jetzt mit Tränen.
„Man braucht zwei Hände, um die Zügel zu halten“, erklärte der Viscount.
Noch nie hatte Pippa ihren Daumen so schnell aus dem Mund gezogen.
Wie Carissa dankbar bemerkte, fand er den Weg zurück in den Mund nur
noch abends vor dem Einschlafen. Das, schwor die junge Mutter sich, würde sie
Lord Hartleigh nie vergessen.
7. KAPITEL
Der Viscount hatte ausdrücklich darauf hingewiesen, dass auch in seinem
Schlafzimmer einiges verändert werden sollte, und dass es die Aufgabe der
Haushälterin sei, sich darum zu kümmern.
Demzufolge war Carissa gezwungen, den Raum, um den sie am liebsten
einen großen Bogen gemacht hätte, zu betreten. Sie wusste, dass Lord
Hartleigh nicht daheim war, trotzdem hatte sie das Gefühl, ihm jeden Moment
begegnen zu können – und das in der intimen Atmosphäre seines
Schlafgemachs! Ein Schauer lief der jungen Frau über den Rücken.
Sie bemühte sich, nicht in Richtung Bett zu schauen, und trat zum Fenster,
um den Zustand der Vorhänge zu überprüfen. Dabei fiel ihr Blick auf die Straße.
Schräg gegenüber lag Sir Gilliams Haus, und gerade wurde die Tür geöffnet.
Mason trat heraus und ging, ohne sich umzusehen, mit großen Schritten fort.
Den unauffälligen Mann – es musste wohl der von Lord Hartleigh angeheuerte
Bow Street Runner sein –, der ihm in einiger Entfernung folgte, bemerkte er
nicht.
Carissa runzelte die Stirn. Würde sich je wieder eine so gute Gelegenheit
ergeben, Masons Zimmer zu durchsuchen? Bestimmt nicht! Wenn jemand sie
sah, würde sie einfach sagen, sie suche nach etwas – nach ihrem Nähkörbchen
zum Beispiel –, das sie bei ihrem Auszug vergessen hatte. Es konnte ihr sowieso
niemand, außer Mason oder Broderick Parkhurst, gefährlich werden. Und
Letzterer würde es sich, nach den schmerzhaften Erfahrungen, die er hatte
machen müssen, mindestens dreimal überlegen, ob er sie belästigen wollte.
Trotzdem steckte sie zur Sicherheit eine lange Hutnadel durch ihr Häubchen.
Im Allgemeinen war Carissa eine vernünftige Frau. In diesem Fall allerdings
hatte sie die Entscheidung rein gefühlsmäßig getroffen. Sie wollte für das
kämpfen, was ihr zustand. Sir Gilliam hatte ihr versprochen, für ihre Zukunft
vorzusorgen. Sie hatte ein Recht auf das Erbe, das er ihr hatte hinterlassen
wollen. Sie wollte nicht mehr von irgendwelchen Dienstherren abhängig sein.
Vor allen Dingen wollte sie Pippa ein Leben in Sicherheit und Freiheit bieten
können.
Sicher, Lord Hartleigh liebte Kinder. Er behandelte Pippa ebenso freundlich
wie die kleine Sue. Aber was würde geschehen, wenn er sich eines Tages
entschloss zu heiraten? Hatte er nicht die Pflicht, den Fortbestand der Familie
zu sichern? Er würde sich eine Gattin suchen, die der gleichen
gesellschaftlichen Schicht angehörte wie er selbst. Eine solche Frau würde Sues
Anwesenheit in ihrem Haus nicht akzeptieren. Außerdem war es gut vorstellbar,
dass sie es nicht gern sehen würde, dass eine junge Witwe mit Kind die Stelle
der Haushälterin innehatte.
Carissa atmete tief durch, ehe sie die Haustür öffnete. Dann eilte sie mit
gesenktem Kopf über die Straße. Wenig später stand sie vor dem
Dienstboteneingang von Sir Gilliams Haus. Ein Lakai, der ihre Geschichte von
dem vergessenen Nähkorb nickend zur Kenntnis nahm, ließ sie ein.
Zum Glück bot er nicht an, ihr bei der Suche zu helfen. So stand sie gleich
darauf mit klopfendem Herzen vor Masons Zimmer. Die Tür war zum Glück nicht
verschlossen. Leise zog Carissa sie wieder hinter sich zu, nachdem sie
eingetreten war.
Der Raum enthielt auf den ersten Blick nichts, was auf die Interessen und
Vorlieben des Bewohners hinwies. Er war so unpersönlich eingerichtet, dass
man ihn für ein Hotelzimmer hätte halten können. Nicht einmal ein Kamm lag
auf der Kommode neben der Waschschüssel.
Ohne Gewissensbisse zu verspüren, öffnete Carissa die oberste Schublade.
Ordentlich nebeneinander lagen da Hals- und Taschentücher. In der zweiten
Schublade befanden sich Socken und Unterwäsche. Die dritte enthielt mehrere
Nachthemden. Das war alles.
Mrs. Kane wandte sich dem Schrank zu. In ihm fand sie sorgfältig aufgehängt
zwei Hosen, zwei Röcke, zwei Westen und vier Hemden. Alle waren makellos
sauber. Auf dem Boden entdeckte sie ein Paar dunkle Schuhe. Sie tastete die
Taschen der Kleidungsstücke ab und überprüfte, ob in den Schuhen etwas
versteckt war. Aber da war nichts. Auch unter der Perücke, die auf einem
Perückenständer auf dem Schrank stand, war nichts verborgen.
Das Bett war so übertrieben ordentlich gemacht, dass Carissa nicht wagte,
unter die Bettdecke, das Kopfkissen oder die Matratze zu schauen. Mason hätte
sofort gesehen, wenn sich jemand an seiner Schlafstelle zu schaffen gemacht
hätte. Es blieb also nicht mehr viel zu untersuchen.
Sie hob den kleinen Teppich an, schaute in den Spalt zwischen Schrank und
Wand und sah nach, ob etwas unter den Sitz des einzelnen Stuhls geklebt war.
Auf dem Nachttisch lag eine Bibel, die weder lose Blätter noch irgendwelche
handschriftlichen Eintragungen enthielt. Offenbar nutzte Mason dieses Zimmer
kaum, oder er lebte wie ein Mönch.
Nein, dieser Gedanke war absurd! Mason führte gewiss nicht das Leben eines
Mönchs. Carissa wusste sehr wohl, dass er kein frommer Mann war. Er fluchte
und trank. Vielleicht hatte er sogar irgendwo eine anspruchslose Geliebte. Er
war kein Mensch, der freiwillig auf ein Vergnügen verzichtet oder eine beliebige
Situation nicht zu seinem Vorteil ausgenutzt hätte. Wahrscheinlich führte er ein
Doppelleben. Ja, irgendwo musste es ein Zimmer oder eine Wohnung geben, in
der Mason all das aufbewahrte, was ihm etwas bedeutete, und all das tat, was
ihm Spaß machte. Dort würde sich auch das unterschlagene Testament
befinden, wenn er es nicht längst vernichtet hatte.
Mit einem tiefen Seufzer wandte Carissa sich zur Tür. Nachdem sie diese
sorgfältig hinter sich geschlossen hatte, begab sie sich zur Küche, die sie
verlassen vorfand, Achselzuckend verließ sie das Haus. Tatsächlich war sie sehr
deprimiert, weil sie auch nicht den kleinsten Hinweis auf das verschwundene
Testament gefunden hatte, und sie grübelte angestrengt darüber nach, was sie
noch unternehmen konnte.
Sie wurde aus ihren Gedanken gerissen, als jemand sie am Arm festhielt.
Zornig fuhr sie herum – und erstarrte.
Vor ihr stand ihr tot geglaubter Gatte.
Nachdem sie sich von dem ersten Schock erholt hatte, gestand sie sich ein,
dass sie nicht wirklich überrascht war. Während all der Monate und Jahre, in
denen sie nichts von ihm gehört hatte, war sie doch nie das Gefühl
losgeworden, dass er sich irgendwo versteckt hielt. Wie sonst wäre es zu
erklären gewesen, dass man in der Armee, in der er angeblich gedient hatte,
nicht einmal seinen Namen kannte?
„Du wirst doch nicht in Ohnmacht fallen, Schätzchen?“ meinte er mit einem
spöttischen Grinsen.
Nun, das würde sie bestimmt nicht. Sie hatte zwar insgeheim gehofft, dass er
wirklich gefallen war, denn das wäre wenigstens eine Erklärung für sein
Schweigen gewesen. Dass er lebte, bewies, dass er sie und Pippa einfach im
Stich gelassen hatte.
Himmel, warum hatte sie damals seinen wahren Charakter nicht erkannt?
Wie hatten eine schmucke Uniform, ein paar süße Schmeicheleien und ein
hübsches Gesicht sie so blenden können? Dabei war Phillip Kanes Gesicht – wie
sie jetzt feststellte – gar nicht so hübsch. Sein früher braunes Haar war jetzt um
einige Töne heller und wirkte ungepflegt. Auch war er weder so groß noch so
athletisch gebaut, wie sie ihn in Erinnerung hatte. Es war einfach unbegreiflich,
warum sie ihn damals attraktiv gefunden hatte!
„Was willst du hier, Phillip?“ fragte sie.
„Begrüßt eine Dame so ihren sehnsüchtig erwarteten Ehemann?“ gab er
zurück und musterte ihr formloses schwarzes Kleid und ihre unmodische Haube.
„Mir scheint, du weißt immer noch nicht, womit eine Frau ihrem Gatten eine
Freude machen kann.“
„Die einzige Freude, die ich dir jemals hätte machen können, war, dir meine
Mitgift zu überlassen. Daran, dass mein Vater das verhindert hat, trug ich keine
Schuld. Trotzdem hast du mich dafür bestraft, indem du mich und unser Baby
verlassen hast. Du wirst verstehen, dass ich mich nun frage, was dich bewogen
hat zurückzukehren.“
„Sei doch nicht so ungerecht, Carrie.“
Sie hasste es, so genannt zu werden.
„Ich wollte mich ja bei dir melden. Aber der Krieg ...“
„Lüg mich nicht an, Phillip! Ich weiß, dass du nicht in der Armee gedient
hast.“
Er begriff, dass es die junge Dame, die ihn einst angehimmelt hatte, nicht
mehr gab. Seine Gattin war zu einer selbstbewussten Frau herangereift, der er
am besten die Wahrheit, oder zumindest eine Halbwahrheit, sagte. „Ich war
tatsächlich nicht lange im Krieg. Schon vor einiger Zeit bin ich zurück nach
London gekommen. Ich fand ziemlich schnell heraus, wo du untergeschlüpft
warst. Seitdem habe ich darauf gewartet, dass der alte Mann stirbt. Ich war
sicher, er würde dir eine anständige Summe hinterlassen. Also: Wo hast du das
Geld?“
„Ich habe nichts bekommen.“
Phillip Kane stieß einen Fluch aus. „Was ist mit dem Haus? Hast du das etwa
auch nicht bekommen? Dabei hätte ich es so gut gebrauchen können, um
meine Pläne zu verwirklichen. Ein Club, in dem nur die wohlhabendsten
Gentlemen verkehren ... Hohe Einsätze ...“
„Du wolltest Sir Gilliams Haus in eine Spielhölle verwandeln?“ Carissa war
entrüstet.
Er lachte. „Wir hätten beide gut davon leben können.“
„Niemals!“
„Ich fürchte, du bist genauso hartherzig wie dein Vater. Stell dir vor, selbst
jetzt war er nicht bereit, mir deine Mitgift auszuzahlen.“
„Warum hätte er das nach so vielen Jahren tun sollen?“
„Um einen Skandal zu vermeiden. Ich musste ihm nämlich leider mitteilen,
dass seine Tochter, die einzige Nachfahrin des ehrbaren Earl of Macclesfield,
sich von Lord Hartleigh aushalten lässt. Wäre es da nicht in seinem Interesse
gewesen, dass ich dich in den Hafen der Ehe zurückhole und mit dir ins Ausland
gehe?“
Carissa stemmte die Hände in die Hüften und atmete tief durch. Ihre Augen
blitzten zornig. „Wie kannst du es wagen ...“
„Jedenfalls“, unterbrach ihr Gatte sie, „versicherte der Earl mir, dass er dich
schon lange nicht mehr als seine Tochter ansähe. Dann hat er mich zum Teufel
gejagt.“
„Wie kannst du es wagen“, wiederholte Carissa noch immer wütend, „mir zu
unterstellen, ich ließe mich von irgendeinem Mann aushalten?“
„Eine kluge Frau muss eben sehen, wie sie zu Geld kommt ... Du hast
bestimmt eine schöne Summe gespart. Erst Sir Gilliam, jetzt Lord Hartleigh ...“
„Ich habe mein Geld nie anders als mit ehrlicher Arbeit verdient! Ich bin
Hartleighs Haushälterin.“
„Schon gut, schon gut ... Mich interessieren deine Ersparnisse wesentlich
mehr als deine Tätigkeit. Da du ganz offensichtlich nichts für modischen
Schnickschnack ausgegeben hast ...“, spöttisch ließ er den Blick auf ihrem
schlichten Kleid ruhen, „wirst du mir bestimmt ein paar Pfund zur Verfügung
stellen können.“
Sie seufzte tief auf. Nur zu deutlich erinnerte sie sich daran, wie hartnäckig
ihr Gatte sein konnte, wenn es darum ging, sich zu bereichern. Wenn sie ihn
rasch loswerden wollte – und das wollte sie, denn je länger sie mit ihm sprach,
desto eher würde man darüber klatschen –, dann musste sie ihn zufrieden
stellen. Also öffnete sie ihr Retikül und nahm alles Geld heraus, um es Phillip zu
geben.
„Danke, Schätzchen. Das wird für ein paar Tage reichen. Aber ich komme
zurück. Bis dahin hast du hoffentlich alles, was deinem geliebten Gemahl
zusteht, unter der Matratze hervorgeholt.“
„Ich habe nichts unter der Matratze. Und das wenige, was ich besitze, ist für
Pippa.“
„Ach ja, unsere Tochter. Ich war sehr gerührt, als ich erfuhr, dass du sie nach
mir genannt hast.“
„Ich wollte, dass sie wenigstens etwas von ihrem Vater hat. Es gab ja
ansonsten nur die Miniatur von dir.“
„Dem lässt sich abhelfen. Mach mich einfach mit unserem Töchterchen
bekannt!“
„Ich will nicht, dass du in ihre Nähe kommst. Hast du mich verstanden! Ich
schwöre dir, dass du nie wieder auch nur einen Penny von mir erhältst, wenn du
Pippa nicht in Ruhe lässt. Übrigens ...“, ihr war gerade eine Idee gekommen, „es
gäbe da vielleicht eine Möglichkeit, eine größere Summe zu beschaffen.“ Mit
wenigen Worten erklärte Carissa ihrem Gatten, warum es sinnvoll sein würde, in
Nigel Gordons Anwaltskanzlei einzubrechen. „Ich brauche unbedingt dieses
verschwundene Testament, um meinen Anspruch auf Sir Gilliams Vermögen
geltend zu machen“, schloss sie.
Sie verriet ihm allerdings nicht, wie gering die Chancen auf einen Erfolg
waren. Ja, insgeheim hoffte sie sogar, er könne bei seinem Einbruchsversuch
geschnappt werden. Die Umstände ihres Wiedersehens hatten sie in der
Überzeugung bestärkt, dass er ein durch und durch schlechter Mensch war. Ihr
selber – und vor allem Pippa – würde es bedeutend besser gehen, wenn er für
immer aus ihrem Leben verschwand. Bis dahin allerdings musste sie äußerst
vorsichtig sein.
Gegen Ende der Woche, kündigte er an, würde er sich wieder bei ihr melden,
um sich ihre Ersparnisse zu holen.
Sie nickte, während sie bereits Pläne schmiedete, wie sie einer Begegnung
mit ihm aus dem Weg gehen konnte. Sie würde einfach das Haus nicht
verlassen und Mrs. March oder einen der anderen Bediensteten zum Einkaufen
schicken. Auch Pippa würde daheim bleiben müssen. Ja, in Lord Hartleighs Haus
würden sie sicher sein. Der Viscount würde sie, unterstützt von dem kräftigen
Byrd, vor allen Gefahren beschützen. Oder etwa nicht?
Unwillkürlich seufzte sie auf. Himmel, wie gern hätte sie sich in Lord
Hartleighs Arme geflüchtet. Aber leider war sie nur die Haushälterin ...
Lesley Hammond amüsierte sich köstlich, während er auf dem Fußboden des
Kinderzimmers hockend mit Pippa Mikado spielte. Es war wirklich viel
spannender und lustiger als das ewige Kartenspielen bei White’s. Wenn seine
Freunde dort allerdings auch nur geahnt hätten, wie er seine Zeit verbrachte,
dann wäre ihm der Spott ganz Londons sicher gewesen.
Zum Glück aber hatten die Mitglieder der guten Gesellschaft genug anderen
Stoff, um Gerüchte über den Viscount zu verbreiten. Dass er sich mit Mrs. Kane,
Pippa und Sue so ungeniert in der Öffentlichkeit sehen ließ, war nicht ohne
Folgen geblieben. Es hieß, dass seine neue Mätresse die Witwe eines Soldaten
oder die ehemalige Mätresse eines reichen Mannes war. Man spekulierte auch
darüber, ob sie die Mutter beider Kinder war. Noch interessanter war natürlich
die Frage, ob Lord Herzlos der Vater der zwei kleinen Mädchen war.
Dass er infolge dieser Gerüchte nicht mehr unablässig von jungen Damen
umschwärmt wurde und insgesamt weniger Einladungen erhielt, behagte Lord
Hartleigh durchaus. Schließlich hatte er sich von Anfang an geschworen, die
Situation auszunutzen, um sich vor ehrgeizigen Müttern und heiratswütigen
Töchtern – insbesondere jedoch vor seiner Stiefmutter und ihrer weiblichen
Verwandtschaft – in Sicherheit zu bringen.
Am nächsten Morgen würde er mit Mrs. Kane ausreiten. Sie hatte sich endlich
bereit erklärt, eines seiner Pferde zu nehmen. Pippa würde sie auf dem Pony
begleiten. Es würde ein großer Spaß werden, sich den Neugierigen im Hyde
Park zu zeigen. Und nach dem Ausflug würde Mrs. March sie mit einem
wundervollen Mittagessen verwöhnen. Die Köchin war wirklich besser als jeder
französische Küchenchef. Unter diesen Umständen war es leicht, auf die
Mahlzeiten im Club zu verzichten.
Das allerdings war nicht der einzige Grund, warum er nur noch selten im
Kreise seiner Freunde beim Dinner saß. Lord Hartleigh war sich selber
gegenüber ehrlich genug, um sich einzugestehen, dass er sich auf jede Mahlzeit
freute, bei der Mrs. Kane ihm Gesellschaft leistete. Dabei war sie nicht einmal
besonders unterhaltsam. Aber nie versuchte sie, ihm zu schmeicheln. Zudem
gefiel es ihm, dass sie, ganz gleich zu welchem Thema, eine eigene Meinung
hatte und diese auch offen vertrat. Inzwischen wusste er, dass sie eine kluge,
warmherzige Frau war, die sich Gedanken über vieles machte, was den
herausgeputzten, oberflächlichen Damen der Gesellschaft völlig unwichtig
erschien. Nun, er jedenfalls genoss jede Unterhaltung mit ihr!
Andererseits zog auch ihr Äußeres ihn an. Wenn sie ihre strenge
„Haushälterinnen-Tracht“ ablegte, aus dem unförmigen schwarzen Kleid
schlüpfte und die hässliche Haube, die tagsüber ihr Haar verbarg, ablegte,
dann verwandelte sie sich plötzlich in eine wahrhaft schöne Frau. In ihrem
golden glänzenden Abendkleid mit dem tiefen Ausschnitt hätte sie jeder
anerkannten Londoner Schönheit das Wasser reichen können. Auch ihr Gesicht
veränderte sich, wenn sie ihr Haar zu einer modischen Frisur aufsteckte und
lächelte, statt ernst zu blicken.
Mehr als einmal hatte der Viscount überlegt, ob er ihr nicht verbieten sollte,
diese unansehnlichen dunklen Kleider zu tragen, die manchmal geradezu
Übelkeit in ihm erregten. Doch selbst wenn ihm tatsächlich schlecht geworden
wäre, hätte Mrs. Kane seinem Wunsch wahrscheinlich nicht nachgegeben,
sondern ihm lediglich Kamillentee serviert. Das gehörte schließlich zu ihren
Aufgaben. Sie war als Haushälterin bei ihm angestellt.
Bei Jupiter! Was war eigentlich mit ihm los, dass er sich nach einer
Haushälterin verzehrte?
„Gewonnen!“ rief Pippa und riss ihn mit ihrer hellen fröhlichen Stimme aus
seinen Gedanken.
„Du spielst wirklich besser Mikado als ich, Kleines“, gab er lächelnd zurück.
Dann erhob er sich und trat ans Fenster.
Er bemerkte Carissa sofort.
Was um Himmels willen hatte sie in Sir Gilliams Haus gemacht? Und wer war
der Mann, der jetzt auf sie zutrat? Verflixt, dieser Kerl packte Mrs. Kane einfach
am Arm! Sollte er ihr zu Hilfe eilen? Nein, jetzt unterhielten die beiden sich
scheinbar friedlich. Ah, Carissa gab ihm etwas, und dann wandte der Fremde
sich zum Gehen.
Lord Hartleigh schüttelte nachdenklich den Kopf. Der ganze Vorfall hatte
etwas entschieden Merkwürdiges!
Als der Viscount Mrs. Kane auf der Treppe hörte, verließ er das Kinderzimmer
und stellte sich ihr in den Weg. Mit einem kurzen „Pardon, Mylord“ wollte sie
sich an ihm vorbeidrängen. Doch er griff genau so nach ihrem Arm, wie es kurz
zuvor der verdächtige Fremde getan hatte.
Da ihre Selbstbeherrschung schon von Phillip Kane auf eine harte Probe
gestellt worden war, verlor Carissa beinahe die Fassung. Sie zuckte zusammen
und war im ersten Moment versucht, nach der Hutnadel zu greifen, um sich
damit gegen den Viscount zur Wehr zu setzen.
Seine ruhige, feste Stimme brachte sie zur Besinnung. „Ich weiß, dass Sie zu
Pippa wollen“, sagte er. „Aber die Kleine kann noch einen Moment lang warten.
Ich hingegen muss äußerst dringend mit Ihnen sprechen. Bitte, kommen Sie mit
in den Kleinen Salon.“
Widerwillig gehorchte sie. Er bedeutete ihr, sich zu setzen, und sogleich ließ
sie sich auf einen Stuhl sinken. Erst jetzt bemerkte sie, wie weich ihre Knie
waren. Wahrscheinlich hätte sie sich gar nicht mehr viel länger auf den Beinen
halten können.
„Ich hätte Besseres von Ihnen erwartet“, stellte Lord Hartleigh fest.
„Mylord?“ Sie runzelte die Stirn. Was mochte geschehen sein? Hatte die
Köchin ihm etwa doch wieder Spargel vorgesetzt? Oder hatte die Katze ihn
verärgert? Hatte sie womöglich seine Stiefel zerkratzt? War es denkbar, dass
Pippa mit irgendeiner kindischen Dummheit seinen Zorn auf sich gezogen
hatte?
„Sie wollten mich Hartleigh nennen. Haben Sie das schon wieder vergessen,
genau wie so vieles andere? Wissen Sie nicht, dass Sie Ihre Besucher hier im
Haus empfangen können?“
Wortlos starrte sie ihn an.
„Wer war der Mann, der draußen auf Sie gewartet hat?“
„Niemand hat auf mich gewartet. Ein Fremder hat mich nach dem Weg
gefragt.“
„Tatsächlich? Dann muss er ein schwer zu erreichendes Ziel gehabt haben.
Es hat mindestens zehn Minuten gedauert, ihm den Weg zu erklären.“ Dass er
beobachtet hatte, wie sie dem Mann etwas aus ihrem Retikül gab, wollte der
Viscount vorerst ebenso wenig erwähnen wie die Tatsache, dass er beinahe auf
die Straße hinausgestürzt wäre, um ihr zu Hilfe zu eilen.
„Machen Sie mir Vorwürfe, weil ich diese zehn Minuten nicht auf meine
Pflichten hier im Haus verwandt habe? Wenn Sie mit meiner Arbeit nicht
zufrieden sind ...“ Sie erhob sich von ihrem Platz.
„Ich nehme an, Sie haben dem Fremden auch noch das Geld für die
Mietdroschke gegeben, die ihn zu seinem Ziel bringen soll?“
„Wofür ich meinen Verdienst ausgebe, sollte Sie noch weniger interessieren,
als wie ich meine Zeit einteile.“ Carissa war jetzt unübersehbar verärgert.
„Haben Sie mir nachspioniert, Mylord? Ein solches Verhalten ist
verachtenswert!“
„Ich spioniere niemandem nach, Mrs. Kane! Ich habe aus dem Fenster
geschaut und durch Zufall gesehen, wie dieser Mann, der offenbar schon seit
einiger Zeit auf Sie gewartet hatte, auf Sie zueilte, Sie am Arm festhielt und Sie
in ein längeres Gespräch verwickelte. Offen gesagt habe ich zunächst
befürchtet, er wolle Ihnen Schwierigkeiten machen. Woher hätte ich wissen
sollen, dass es sich um einen Freund von Ihnen handelt?“
Carissa lachte bitter auf. „Ich habe mich vom Moment meiner Geburt an in
Schwierigkeiten befunden, und fast alle Probleme hatte ich Männern zu
verdanken. Es ist eben nicht gut, als Frau auf die Welt zu kommen! Mein Vater
hat mir nie verziehen, dass ich nicht der ersehnte Sohn war. Er hat mich enterbt
– das hätte er mit einem Jungen gar nicht machen können. Mein Gatte hat mich
um mein bescheidenes Erbe mütterlicherseits gebracht. Auch das wäre einem
Mann nie widerfahren. Eine Frau aber verliert alle Rechte, sobald sie heiratet.
Und damit sie wirklich überhaupt keine Möglichkeit hat, sich gegen die
zahllosen Ungerechtigkeiten zu wehren, die ihr im Laufe ihres Lebens
widerfahren, bringt man ihr bei, mit der Sticknadel umzugehen, statt mit dem
Degen.“
Bei Jupiter, hier zeigte sich wieder einmal ihr Temperament! Lord Hartleigh
musste ein Lächeln unterdrücken. Wie schon einige Male zuvor wurde ihm
bewusst, wie reizvoll Carissa wirkte, wenn Zorn ihre Wangen rötete und ihre
Augen aufblitzen ließ.
Er füllte zwei Gläser mit Wein und reichte ihr eines davon. „Trinken Sie“,
forderte er sie auf, „das wird Ihnen gut tun. Und wenn Sie sich ein bisschen
beruhigt haben, dann erzählen Sie mir, was wirklich los ist. Was hat dieser
Mann gesagt oder getan, um Sie in solche Aufregung zu versetzen?“
Himmel, wie gern hätte Carissa sich ihm anvertraut! Wie gern hätte sie ihn
um Hilfe gebeten! Aber dieser Weg war ihr versperrt. Sie hatte ihn belogen,
zuerst unabsichtlich, indem sie so tat, als sei sie verwitwet. Dann bewusst,
indem sie behauptete, ihr so unerwartet wieder aufgetauchter Gatte sei ein
Fremder.
Wie würde Lord Hartleigh reagieren, wenn sie ihm nun die Wahrheit sagte?
Würde er ihr kündigen? Würde er darauf bestehen, dass sie als gehorsame
Ehefrau zu ihrem Gemahl zurückkehrte? Oder würde er sie behandeln wie eine
untreue Gattin und erwarten, dass sie ihm zu Willen war? Die Vorstellung jagte
ihr kalte und heiße Schauer über den Rücken.
Und dann war da noch etwas: Wenn auch nur ein einziger Mensch erfuhr,
dass Phillip Kane noch lebte, dann würde sie ihn in ein paar Jahren nicht für tot
erklären lassen können. Es würde sowieso schwer genug werden, weil sie nun,
da sie Phillip gesehen hatte, einen Meineid schwören musste, wenn man sie
fragte, seit wann ihr Gatte verschwunden war. Das allerdings würde sie – auf
Gottes Vergebung hoffend – auf sich nehmen, um endlich frei zu sein.
Den Tränen nahe, senkte sie den Kopf. „Ich kann nicht mit Ihnen darüber
reden, Mylord.“
„Ich verstehe.“ Er nickte scheinbar verständnisvoll, aber seine Stimme
verriet, dass er gekränkt war. „Es handelt sich wohl um eine private
Angelegenheit. Nun, wenn Sie irgendwann doch den Wunsch verspüren sollten,
sich mir anzuvertrauen, dann zögern Sie bitte nicht. Ich bin jederzeit bereit,
Ihnen zuzuhören.“
„Danke.“ Carissa machte einen neuerlichen Versuch, den Raum zu verlassen.
Doch noch einmal hielt der Viscount sie zurück.
„Ich hoffe, Sie nehmen es mir nicht übel, wenn ich Sie frage, was Sie in Sir
Gilliams ..., ich meine in Mr. Parkhursts Haus gemacht haben.“
„Ich habe Masons Raum nach dem verschwundenen Testament durchsucht“,
gab sie bereitwillig zu. „Leider habe ich nichts gefunden.“
Der Viscount leerte sein Weinglas in einem Zug. „Sie waren in Masons
Zimmer?“ meinte er fassungslos.
„Ja. Ich hatte gesehen, wie Mason fortging, und wusste, dass ich eine Zeit
lang ungestört sein würde. Ich habe das Zimmer durchsucht, so gründlich mir
das möglich war. Doch gefunden habe ich, wie ich bereits sagte, nichts. Ich
glaube, der Mann hat tatsächlich irgendwo anders noch einen Unterschlupf.
Dieses Zimmer jedenfalls wirkte völlig unbewohnt.“
„Warum, zum Teufel, haben Sie nicht gewartet, bis der Bow Street Runner
Masons Unterschlupf für uns ausfindig gemacht hat? Ich habe Ihnen doch
versprochen, dass ich Ihnen helfen würde. Haben Sie kein Vertrauen zu mir?
Oder können Sie es nicht erwarten, mein Haus wieder zu verlassen? Behagt
Ihnen Ihre Stellung hier so wenig? Bei Jupiter, ich habe alles getan, um Ihnen
das Leben hier so angenehm wie möglich zu machen! Ich habe mich sogar
damit abgefunden, überall Katzenhaare zu finden, selbst auf meinem Bett! Und
Sie ...“ Er unterbrach sich und schüttelte fassungslos den Kopf.
Jetzt war nicht der richtige Moment, ihn darauf hinzuweisen, dass Cleos Haare
schwarz waren, die auf seinem Bett jedoch blond und somit wohl seine eigenen.
„Mylord, Sie waren überaus freundlich zu mir“, erklärte Carissa.
„Und Sie waren überaus dumm und leichtsinnig, als Sie in Masons Zimmer
eindrangen! Dieser Mann ist wahrscheinlich völlig gewissenlos. In meinen
Augen ist er nicht nur ein Dieb und Erpresser, sondern ein wirklich gefährlicher
Schurke. Haben Sie denn gar nicht daran gedacht, was er mit Ihnen gemacht
hätte, wenn er Sie in seinem Zimmer überrascht hätte?“
Sie wusste sehr wohl, dass er sie dann möglicherweise erwürgt hätte. Und
allem Anschein nach wäre das Lord Hartleigh ganz recht gewesen. Dann hätte
er sich selbst nämlich die Mühe sparen können. Jedenfalls schaute er sie an, als
könne er es kaum erwarten, ihr die Hände an die Kehle zu legen und
zuzudrücken. Vorsichtig machte sie einen Schritt auf die Tür zu.
„Erinnern Sie sich, wie Sie mir gesagt haben, ich sei es Sue schuldig, gesund
zu bleiben, um für sie sorgen zu können?“ hörte sie den Viscount leise sagen.
„Sind Sie es Ihrer Tochter etwa nicht schuldig, unverletzt zu bleiben? Was wäre
aus Pippa geworden, wenn Mason Ihnen etwas angetan hätte?“
Carissa wandte sich um. Sie war sehr blass. „Daran habe ich nicht gedacht“,
gestand sie. „Oh Gott, mein kleines Mädchen! Niemand würde für sie sorgen.
Mein Vater hat sie nie als seine Enkelin anerkannt.“
„Andere Verwandte haben Sie nicht?“
„Nur meine Tante Mattie. Sie ist ein guter Mensch, lebt aber leider in sehr
beengten Verhältnissen. Ihr Vermieter gestattet auch keine Kinder im Haus. Als
ich damals mit Pippa nach London kam, dachte ich, wir könnten bei Tante
Mattie unterschlüpfen.“ Sie seufzte tief auf. „Zum Glück fand ich dann die
Anstellung bei Sir Gilliam.“
„Pippa wäre also ganz allein, wenn Ihnen etwas zustieße, Carissa? Und
trotzdem haben Sie es gewagt, in Masons Zimmer einzudringen.“
Sie war so erschüttert darüber, an all diese Dinge keinen Gedanken
verwendet zu haben, dass sie nicht einmal dagegen aufbegehrte, dass Lord
Hartleigh ihren Vornamen benutzte. Sie senkte nur den Kopf, damit er nicht
sah, wie besorgt sie tatsächlich war. Mason zu begegnen war nichts im
Vergleich dazu, unerwartet Phillip Kane gegenüber zu stehen.
Lesley Hammond, der noch immer außer sich vor Zorn darüber war, dass
Carissa ihm nicht vertraut und sich ungeschützt solchen Gefahren ausgesetzt
hatte, trat auf sie zu, umfasste ihre Schultern und schüttelte sie leicht. „Bei
allen Göttern, machen Sie bloß nie wieder eine solche Dummheit!“
Sie wollte sich bei ihm entschuldigen, weil sie ihn mit ihrem Verhalten so
aufgeregt hatte. Sie wollte ihn beschimpfen, weil er sie grob anfasste. Sie wollte
ihn anschreien, dass ihr Leben ihn gar nichts anginge. Sie wollte ... Oh Gott, sie
wollte vor allem eins: einmal nicht stark sein müssen! Carissa schlug die Hände
vors Gesicht und begann zu weinen.
Sogleich zog Lord Hartleigh sie tröstend an sich. Beruhigend sprach er auf sie
ein, und es schien ihn nicht im Geringsten zu stören, dass ihre Tränen sein
kunstvoll gebundenes Krawattentuch durchnässten. „Carissa, wo auch immer
das Problem liegt, wir werden es lösen“, murmelte er. „Bitte, hören Sie auf zu
weinen. Alles wird gut, das verspreche ich.“
„Nichts wird gut“, gab sie, unterbrochen von Schluchzern, zurück. „Man kann
dieses Problem nicht lösen.“
„Alle Schwierigkeiten sind lösbar, wenn man nur über genügend Geld und
Einfluss verfügt.“
„Ich habe aber beides nicht.“ Sie schluchzte ein letztes Mal auf und löste sich
aus seiner Umarmung.
Gelassen reichte er ihr ein Taschentuch. „Ich habe von allem genug. Und ob
es Ihnen nun gefällt oder nicht, ich werde sowohl mein Geld als auch meinen
Einfluss zu Ihren Gunsten nutzen.“
Diese Worte lösten eine neue Tränenflut aus. Diesmal allerdings beruhigte
Carissa sich schneller. Sie straffte die Schultern und schnäuzte sich die Nase.
Das Geräusch ließ den Viscount zusammenfahren. Sein Blick wanderte zu
Carissas Gesicht. Mit ihren geschwollenen Augenlidern, der geröteten Nase und
der verrutschten alten Haube sah sie ganz und gar nicht attraktiv aus. Sie
erinnerte ihn irgendwie an eine nasse Ratte. Trotzdem fand er sie
unwiderstehlich. Also küsste er sie.
Tatsächlich hatte er das beinahe vom ersten Moment ihrer Bekanntschaft an
tun wollen. Zuerst hatte er es als eine Art sportlicher Herausforderung
empfunden, ihre eisige Ablehnung zu durchbrechen. Dann, als er erkannt hatte,
dass sich hinter ihrer hässlichen Aufmachung eine überraschend schöne Frau
verbarg, hatte er ein ständig wachsendes Begehren nach ihr verspürt. Und
schließlich, als er auch ihren Charakter kennen gelernt hatte, ihren Humor, ihre
Güte und ihre Intelligenz, da hatte er sich eingestehen müssen, dass dieses
Verlangen nicht nur rein körperlicher Natur war. Er sehnte sich danach, Carissa
nahe zu sein.
Anscheinend hatte sie gerade jetzt nichts gegen eine gewisse Nähe
einzuwenden. Sie wehrte sich nicht, trat nicht einmal einen Schritt zurück.
Stattdessen erwiderte sie seinen Kuss.
Beinahe vom ersten Moment ihrer Bekanntschaft an hatte sie davon
geträumt, von Lord Hartleigh geküsst zu werden. Zuerst war es nur Neugier
gewesen. Küsste ein Rake wirklich besser als andere Männer, besser als zum
Beispiel Phillip Kane? Jetzt wusste sie es: Hartleighs Küsse waren einfach
himmlisch. Und wie herrlich es war, in seinen Armen zu liegen! Sie hatte sich
danach gesehnt, seit sie gesehen hatte, mit welcher Zärtlichkeit er seine kleine
Tochter behandelte. Carissa hätte ewig so verharren können.
Der Viscount hingegen dachte schon weiter. Würde er Carissa überreden
können, mit ihm ins Schlafzimmer zu kommen? Oder sollte er sie lieber gleich
hier auf dem Sofa verführen? Ah, wie süß ihre Lippen schmeckten! Wie
hingebungsvoll sie sich an ihn schmiegte! Sie würde ihn glücklich machen, und
er würde ihr den siebten Himmel zeigen!
Pippas Stimme holte die beiden auf die Erde zurück. „Ich habe dich überall
gesucht, Mama“, sagte sie.
8. KAPITEL
Am nächsten Tag zog Lady Mathilda Wakeford – das war Tante Matties richtiger
Name – um. Lord Hartleigh ließ sie in seiner mit dem Wappen der Familie
verzierten Kutsche von der Pension, in der sie lebte, abholen. Seit Jahren hatte
die alte Dame sich nicht so stolz und zufrieden gefühlt. Endlich würde sie sich
nicht mehr über die Launen ihres Vermieters ärgern müssen. Sie würde im Haus
eines gut aussehenden Gentleman leben, um durch ihre Anwesenheit dort den
Ruf ihrer Nichte Carissa zu schützen. Weitere Pflichten würde man ihr nicht
übertragen. Doch da sie Kinder liebte, freute sie sich darauf, bei der Betreuung
von Pippa und Sue helfen zu können.
Als sie mit ihrem Gepäck – viel war es nicht – die Pension verließ, liefen ihre
Freundinnen zusammen, um Abschied zu nehmen und ihr zu ihrem
unerwarteten Glück zu gratulieren. Sie winkten Lady Mathilda nach, ohne ihren
Neid ganz verbergen zu können.
In Kensington hieß man die alte Dame herzlich willkommen. Da sie – wie allen
Betroffenen klar war – eher Carissas Tugend als ihren Ruf schützen sollte, hatte
man beschlossen, dass sie das Schlafzimmer mit ihrer Nichte teilen sollte.
Außerdem würde sie Carissa bei Ausfahrten oder Ausritten mit dem Viscount
begleiten und die Mahlzeiten gemeinsam mit den beiden einnehmen.
Tatsächlich war die Situation reichlich merkwürdig, denn im Allgemeinen
hatten Haushälterinnen keinen Bedarf an Anstandsdamen.
Diese Meinung vertat vor allem Byrd recht lautstark. Er drohte Lord Hartleigh
sogar mit Kündigung, als er erfuhr, dass nicht nur eine weitere Frau ins Haus
kommen würde, sondern auch ein weiteres Tier. Tante Mattie war nämlich
stolze Besitzerin eines Kanarienvogels. Demzufolge fasste sie sogleich eine
heftige Abneigung gegen Cleo und Tor.
Der Viscount wusste, wie er seinen Diener beruhigen konnte. „Mit etwas
Glück wird die Katze uns bald von dem Vogel befreien. Mit noch etwas mehr
Glück wird sie an den Federn ersticken. Und was Lady Mathilda betrifft: Wie ich
erfahren habe, spielt sie leidenschaftlich gern Whist.“
Das söhnte Byrd tatsächlich mit ihrer Anwesenheit aus. Die Köchin wiederum
war von Anfang an von der neuen Mitbewohnerin eingenommen, weil diese
über einen gesunden Appetit verfügte, gutes Essen zu schätzen wusste und mit
Lob nicht sparte. Lord Hartleigh war von Tante Mattie begeistert, weil sie von
den Kindern hingerissen war. Und die anderen Dienstboten mochten sie, weil
sie keine hohen Ansprüche stellte und, wenn nötig, sogar bereit war zu helfen.
Besonders gern unterstützte sie Maisie bei der Versorgung der Kinder. Noch
lieber allerdings ging sie ihrer Lieblingsbeschäftigung, dem Austausch von
Informationen, nach. Stundenlang konnte sie am Schreibtisch sitzen und Briefe
an ihre zahllosen Freundinnen verfassen. Diese antworteten ebenso ausführlich.
Und so wusste die alte Dame stets über alle wichtigen Vorkommnisse in London
Bescheid. Natürlich zögerte sie nicht, andere an ihrem Wissen teilhaben zu
lassen. Mit anderen Worten: Sie klatschte für ihr Leben gern.
Von ihr erfuhr Carissa, welche Gerüchte über ihre Beziehung zu Lord
Hartleigh im Umlauf waren. Der Viscount wiederum hörte von Tante Mattie zum
ersten Mal Näheres über die Vergangenheit ihrer Nichte. Es wunderte ihn nicht
besonders, dass sie die Tochter eines Earl war. Schließlich hatte er schon lange
vermutet, dass sie einem angesehenen Elternhaus entstammte und eine gute
Erziehung genossen hatte. Widrige Umstände mussten sie gezwungen haben,
eine Stellung anzunehmen.
Er fühlte sich in seiner Menschenkenntnis bestätigt. Trotzdem ärgerte es ihn,
dass Carissa ihr Geheimnis so lange bewahrt hatte. Warum nur vertraute sie
ihm nicht? Noch mehr allerdings erzürnte ihn die Tatsache, dass er sich ihr
gegenüber nicht immer wie ein Gentleman benommen hatte. Bei Jupiter, es war
ganz und gar nicht seine Art, eine Dame zu belästigen. Das änderte allerdings
nichts daran, dass er sich noch immer vor Leidenschaft nach ihr verzehrte. Wer
weiß, ob er sich hätte beherrschen können, wenn Lady Mathilda nicht die Rolle
der Anstandsdame übernommen hätte. Er dankte Gott dafür, dass er ihm Tante
Mattie ins Haus geschickt hatte.
Carissa wiederum dankte Lord Hartleigh dafür, dass er sich ihrer Tante
gegenüber so großzügig zeigte. Schließlich hatte er dafür gesorgt, dass die
Umstände, unter denen die alte Dame lebte, sich drastisch verbesserten. Tante
Mattie war arm. Und Carissa hatte sie nur gelegentlich mit ein paar Schillingen
unterstützen können. Nun, da sie sparen musste, um Phillip Kane zufrieden zu
stellen, hätte sie ihrer Tante finanziell gar nicht mehr helfen können.
Auch dafür, dass der Viscount versuchte, ihren Ruf zu schützen, war sie ihm
dankbar. Seine Bemühungen waren natürlich zwecklos. Zum einen brachte
niemand einer allein stehenden Haushälterin mit einem kleinen Kind Achtung
entgegen. Zum anderen hatte – wie Tante Mattie nicht versäumte zu betonen –
Lord Hartleigh während der letzten Wochen alles Mögliche unternommen, um
den Anschein zu erwecken, dass Mrs. Kane seine Geliebte war. Die Ausflüge in
den Park, die gemeinsamen Wege zur Apotheke oder zum Bäcker – alles hatte
dazu beigetragen, dass man an eine Affäre zwischen dem Gentleman und der
Bediensteten glaubte. Genau das hatte der Viscount ja beabsichtigt.
Carissa nahm ihm sein unüberlegtes, egoistisches Verhalten nicht einmal
übel. Er hatte eben zuerst an sich gedacht. Schließlich wusste sie, wie sehr er
darunter litt, dass er einer der begehrtesten Junggesellen Londons war. Dabei
ging es den meisten jungen Damen, die ihr Netz nach ihm auswarfen, gar nicht
um ihn als Menschen. Sie waren interessiert an seinem Reichtum und seiner
gesellschaftlichen Stellung. Außerdem fanden sie sein Äußeres wahrscheinlich
sehr anziehend – genau wie Carissa.
Seinetwegen lag sie des Nachts so manche Stunde wach. Seit jenem Kuss
konnte sie vor sich selbst nicht mehr leugnen, wie sehr sie sich zu Lord
Hartleigh hingezogen fühlte. Die Vorstellung, dass er nur wenige Schritte
entfernt in seinem Bett lag – nackt, denn er trug, wie sie von der Wäscherin
gehört hatte, keine Nachtwäsche –, raubte ihr den Schlaf.
Vielleicht hätte sie besser geschlafen, wenn Tante Mattie nicht so laut
geschnarcht hätte. Und wenn sie sich nicht solche Sorgen wegen Pippas Vater
gemacht hätte ... Warum, um Himmels willen, hatte Phillip Kane gerade jetzt
wieder auftauchen müssen? Es war wirklich zu ungerecht!
Sorgen und Schlafmangel blieben nicht ohne Folge. Carissa war erschöpft.
Von Tag zu Tag wurden die Ringe unter ihren Augen dunkler. Manchmal
erwischte sie sich dabei, wie sie ans Fenster trat und ängstlich nach Phillip
Ausschau hielt. Was sollte sie nur tun, wenn er wieder auftauchte? Wie konnte
sie verhindern, dass Tante Mattie ihn sah? Die alte Dame hätte ihn bestimmt
erkannt.
So betrachtet, war es ein Glück, dass Lady Mathilda – wie es alte Leute
manchmal taten – zu den merkwürdigsten Zeiten und an allen nur möglichen
Orten plötzlich einschlummerte. Dadurch hatte sie wenig Gelegenheit, das
Kommen und Gehen auf der Straße zu beobachten. Sie hatte allerdings auch
wenig Gelegenheit, ihre Aufgaben als Anstandsdame zu erfüllen. Tatsächlich
hatte Carissa den Verdacht, dass Tante Mattie es gar nicht schlimm gefunden
hätte, wenn bei ihrer Nichte die Leidenschaft über die Moral gesiegt hätte.
So musste sie eben selber über ihre Tugend wachen. Das war am einfachsten,
wenn sie viel zu tun hatte. Arbeit gab es genug. Lesley Hammond hatte sich
damit einverstanden erklärt, dass sie halbwüchsige Jungen und Mädchen aus
dem Waisenhaus einstellte, um sie als Haus- und Küchenhilfen auszubilden.
Tante Mattie hatte sich bereit erklärt, einem der Mädchen alles beizubringen,
was eine Zofe wissen musste. Und Byrd hatte verkündet, er könne einen Jungen
brauchen, der bei der Gartenarbeit mit anfasste. Der Bursche, dem Lord
Hartleigh daraufhin die Stelle als Gärtnergehilfe anbot, war die meiste Zeit
damit beschäftigt, die Löcher, die Gladiator grub, wieder zuzuschütten.
Der Viscount war erstaunt, wie viele Menschen in einem kleinen Haus wie
dem seinen Arbeit finden konnten. Aber er sorgte auch dafür, dass ein weiterer
Mann außerhalb des Hauses beschäftigt wurde. Ohne Carissas Wissen
beauftragte er einen Bow Street Runner, Erkundigungen über ihren
verstorbenen Gatten einzuziehen und herauszufinden, wer der dunkelhaarige
Kerl war, der sie auf der Straße belästigt hatte.
Er war entschlossen, die Probleme seiner Haushälterin zu lösen, zumal er sich
an einigen der Schwierigkeiten, mit denen sie zu kämpfen hatte, nicht ganz
unschuldig fühlte. Von Gewissensbissen geplagt, beobachtete er sie, wann
immer das unauffällig möglich war. Am liebsten hätte er sie überhaupt nicht
mehr aus den Augen gelassen, denn er befürchtete, sie könne sich wieder
heimlich in Gefahr bringen oder sonst irgendeine Dummheit begehen.
Unter diesen Umständen konnte es ihm nicht verborgen bleiben, dass sie das
Haus kaum noch verließ. Er nahm an, dass man ihr in den Geschäften und auf
der Straße unhöflich begegnete. Aber was konnte er dagegen tun? Würde es ihr
nützen, wenn er aller Welt zeigte, wie hoch er sie schätzte? Wohl kaum, zumal
sie sich seit einiger Zeit weigerte, sich mit ihm in der Öffentlichkeit zu zeigen.
Nicht einmal ins Theater wollte sie ihn begleiten, obwohl Tante Mattie bei der
Vorstellung, eine Shakespeare-Aufführung zu sehen, glänzende Augen bekam.
Was war aus Lord Herzlos’ Mätresse geworden? Das war eine Frage, die viele
Londoner sich stellten.
Dass Mrs. Kane plötzlich unsichtbar geworden zu sein schien, sorgte für
beinah ebenso viel Aufregung wie zuvor ihre Ausritte und Spaziergänge an der
Seite des Viscount. Es hieß, dass er sie wegen gesundheitlicher Probleme mit
den Kindern aufs Land geschickt hatte, dass er sich in eine Schauspielerin
verliebt und ihr den Laufpass gegeben hatte oder dass sie ihn wegen eines
anderen verlassen hatte. Es war offensichtlich, dass die geheimnisvolle
Beziehung zwischen dem Gentleman und der Haushälterin überall großes
Interesse erregt hatte und dass alle Welt darauf brannte, mehr über die Affäre
zu erfahren.
Lord Hartleigh äußerte sich nicht zu den Vermutungen und zuckte nur mit
den Schultern, wenn man ihm Fragen nach seinem Privatleben stellte. Seine
abweisende Haltung hatte zur Folge, dass niemand es wagte, ihn ein zweites
Mal auf seine „illegitime Familie“ anzusprechen.
Niemand außer seiner Stiefmutter. Lady Agatha hatte schon verschiedene
Versuche unternommen, den Viscount zur Vernunft zu bringen. Sie hatte ihm
mehrere Briefe geschrieben, um ihm in Erinnerung zu rufen, was er der
Familienehre – und natürlich ihr als der Witwe seines Vaters – schuldig war. Sie
hatte auch versucht, ihn persönlich zu sprechen, um ihm klar zu machen, dass
es nun wirklich an der Zeit war, eine ihrer weiblichen Verwandten zu heiraten
und einen ordentlichen Hausstand zu gründen. Lord Hartleigh hatte nicht
reagiert. Deshalb beschloss sie, nun einen anderen Weg einzuschlagen.
Es war ein Glücksfall, dass sie seinen hässlichen Hund im Garten von
Hammond House entdeckte. Wo Gladiator war, da war auch Lesley nicht weit.
Und das wiederum bedeutete, dass er sich nicht in seinem Haus in Kensington
aufhielt. Lady Agatha ließ die Kutsche vorfahren und begab sich in aller Eile
nach Kensington.
Ihr war bekannt, dass Lesleys Anwesen dort nicht sehr groß und prächtig war,
trotzdem verzog sie beim Anblick des einfachen Hauses herablassend die
Mundwinkel. Tatsächlich kostete es sie einige Überwindung, die Stufen zum
Eingang hinaufzusteigen und den Klopfer zu betätigen.
Gleich darauf öffnete Byrd die Tür. Sie gönnte dem glatzköpfigen, tätowierten
Mann keinen Blick, sondern sagte nur: „Ich möchte zu Lord Hartleighs ...“ Sie
stockte. Keine Dame würde ein Wort wie „Mätresse“ oder „Geliebte“ in den
Mund nehmen.
„Lord Hartleighs Tochter?“ meinte Byrd hilfsbereit.
Agatha schnappte nach Luft. In diesem Punkt hatten die Gerüchte also nicht
gelogen: Ihr Stiefsohn hatte eine uneheliche Tochter und schämte sich nicht,
das offen zuzugeben. Welche Schande!
„Unsinn“, fuhr sie den Bediensteten an, „nicht das Kind, die Mutter will ich
sehen!“
„Ich fürchte, da kann ich Ihnen im Moment nicht helfen. Die Kleine ist mit
ihrer Amme hinten im Garten. Wo allerdings die Mama sich zur Zeit aufhält,
weiß ich nicht“, erklärte Byrd wahrheitsgemäß.
„Sie sind ein Dummkopf“, schimpfte Lady Agatha, „und unverschämt dazu.
Ich begreife wirklich nicht, warum mein Stiefsohn Sie nicht hinauswirft. Nun, ich
finde die Schlampe auch ohne Ihre Hilfe!“ Damit raffte sie ihre Röcke, drängte
sich an Byrd vorbei und ging entschlossen in Richtung Treppe.
Zu ihrem heimlichen Ärger musste sie erkennen, dass das Haus gut geführt
war. Die Fußböden glänzten, auf einem Tischchen in der Eingangshalle stand
ein Strauß bunter Blumen, und es duftete nach Bienenwachs, weil offenbar
kürzlich die Möbel poliert worden waren.
Agatha stieg die Stufen hinauf und begann, systematisch eine Tür nach der
anderen zu öffnen. Auf Byrds Protest achtete sie gar nicht, denn sie war fest
davon überzeugt, dass sie es der Ehre ihres verstorbenen Gatten schuldig sei,
seinen Sohn auf den rechten Weg zurückzubringen. Dazu war jedes Mittel recht.
Sie warf einen Blick ins Kinderzimmer und erschauderte. Hier also lebten die
kleinen Bastarde! Dabei war es die Pflicht eines Gentleman, eheliche Kinder zu
zeugen, um den Fortbestand der Familie zu sichern. Sie, Agatha, musste
unbedingt dafür sorgen, dass Lesley eine junge Dame seiner eigenen
Gesellschaftsschicht heiratete, am besten eine ihrer Halbschwestern. Dann
würde sie sich seiner nicht mehr zu schämen brauchen.
Sie zog die Tür zu und öffnete die nächste. Ah, dies war offensichtlich der
Schlafraum des Hausherrn. Die blauen Vorhänge schienen neu und von guter
Qualität zu sein. Das Geld, das Lesley dafür ausgegeben hatte, hätte er besser
gespart, um seiner zukünftigen Gattin ein angemessenes Verlobungsgeschenk
zu machen.
Zornig wandte sie sich ab und riss die nächste Tür auf.
Carissa, die nach mehreren unruhigen Nächten völlig erschöpft war, hatte
sich hingelegt. Doch eine unfreundliche, herrische Stimme riss sie aus dem
Schlaf.
„Am helllichten Tag im Bett? Das wundert mich gar nicht, Sie Schlampe!“
Verwirrt starrte Carissa die knochige Frau an, die in der Tür stand. Die
Fremde trug ein altrosa Kleid mit einem dazu passenden Spenzerjäckchen. An
ihrem Hut wippten drei Federn, und jeder ihrer Finger wurde von einem Ring
geschmückt.
„Wer sind Sie?“
„Hier stelle ich die Fragen! Allerdings will ich nur eines wissen: Warum tun
Sie meinem Stiefsohn das an?“
Der Eindringling musste Lady Hartleigh sein! Plötzlich verstand Carissa sehr
gut, warum der Viscount seine Stiefmutter verabscheute. „Das Wohlergehen
Seiner Lordschaft liegt mir sehr am Herzen“, erklärte sie, ohne sich vom Bett zu
erheben. „Ich versuche, ihm das Leben so angenehm wie möglich zu machen.
Das gehört zu meinen Pflichten. Und er scheint recht zufrieden mit mir zu sein.“
Lady Agatha war bleich geworden, hatte aber nichts von ihrer
Entschlossenheit eingebüßt. „Sie geben es also zu! Ja, schämen Sie sich denn
gar nicht? Ihretwegen verliert mein Stiefsohn jede Chance auf eine vorteilhafte
Ehe! Ihretwegen nimmt er den ihm zustehenden Platz in der Gesellschaft nicht
ein. Sie beschmutzen seinen Namen und den seiner Angehörigen. Ich weiß
kaum, wie ich mich noch mit erhobenem Haupt unter die Leute wagen soll!“
Niemand mit einem solchen Charakter sollte sich erhobenen Hauptes
irgendwohin wagen, dachte Carissa. Laut jedoch sagte sie: „Lord Hartleigh hat
mich als Haushälterin eingestellt. Ich erfülle diese Aufgabe nach bestem Wissen
und Gewissen – mehr aber auch nicht!“
„Sie lügen! Ich bestehe darauf, dass Sie und Ihre Bastarde dieses Haus sofort
verlassen!“
Carissa schlug die Decke zurück. In diesem Moment war sie froh, dass sie sich
nicht die Zeit genommen hatte, ihr Kleid abzulegen. Hoch aufgerichtet trat sie
auf Lady Agatha zu. „Ich denke, Sie sollten jetzt besser gehen.“
„Wie können Sie es wagen, so mit mir zu reden? Ihnen ist das Höllenfeuer
sicher, Sie ... Sie ...“
„Mein Name ist Carissa Kane. Aus Achtung gegenüber meinem verstorbenen
Gatten nenne ich mich Mrs. Kane. Aber Sie können mich auch mit Lady Carissa
ansprechen, denn ich bin zweifellos von besserer Geburt als Sie. Mein
Benehmen ist übrigens auch besser. Ich käme jedenfalls nie auf die Idee,
unschuldige Kinder zu beschimpfen. Und nun adieu, Lady Agatha.“
Es war die unerfreuliche Begegnung mit Lord Hartleighs Stiefmutter, die Carissa
bewog, seine Einladung in die Oper schließlich doch anzunehmen.
Bisher hatte sie versucht, ihr Leben so zu führen, dass niemand ihr
Leichtfertigkeit oder gar Schlimmeres vorwerfen konnte. Trotzdem glaubte
jeder nur das Schlechteste von ihr; das hatte Lady Agathas Besuch ihr gezeigt.
Warum also sollte sie auf Vergnügungen und Unternehmungen verzichten, die
ihr seit langem fehlten? Früher hatte sie es genossen, ins Theater oder in die
Oper zu gehen. Bestimmt würde es ihr noch immer Spaß machen, ein gutes
Stück in der Drury Lane anzuschauen oder einen Ausflug nach Vauxhall
Gardens zu machen.
Carissa verkaufte ihren Ehering, um sich ein neues Abendkleid leisten zu
können. Wenn Phillip Kane darauf bestand, dass sie als seine Gattin zu ihm
zurückkehrte, dann würde er ihr eben einen anderen Ring schenken müssen.
Bisher hatten seine Geschenke ihr sowieso kaum Freude bereitet. Die kurze Ehe
mit ihm hatte – wie Carissa sich eingestehen musste – überhaupt nur ein Gutes
gehabt: Aus ihr war Pippa hervorgegangen. Ansonsten hatte die Verbindung
mit Phillip nur Kummer, Sorgen und Schwierigkeiten zur Folge gehabt.
Auf Tante Matties Rat hin suchte Carissa eine geschickte und gleichzeitig
preisgünstige Schneiderin auf, um ein perlgraues Kleid in Auftrag zu geben.
Eine solche Robe würde vornehm wirken und gleichzeitig zu ihrer angeblichen
Witwenschaft passen.
Doch dann kam alles ganz anders. Die Schneiderin zeigte ihr ein Abendkleid,
das bestellt, aber nicht abgeholt worden war. Es war aus orangefarbener Seide,
am Saum verziert mit drei Bändern aus etwas dunklerem Stoff. Mit dem
ebenfalls dunkel abgesetzten Ausschnitt, den kleinen Puffärmeln sowie der
hohen Taille entsprach es genau der derzeitigen Mode. Und es passte Carissa
wie angegossen. Sie konnte einfach nicht Nein sagen, zumal es zum halben
Preis zu haben war.
Am Tag des geplanten Opernbesuchs versammelten alle Mitglieder des
Haushalts sich, um Mrs. Kane, die ihr neues Kleid trug, zu bewundern. Eines der
Mädchen hatte sie frisiert und ihr ein paar Rosenknospen ins Haar gesteckt.
Niemand, der sie so sah, konnte daran zweifeln, dass sie eine Dame war.
Lord Hartleigh, der natürlich von Agathas Besuch erfahren hatte, war seiner
Stiefmutter zum ersten Mal in seinem Leben dankbar. Er ahnte, dass er es der
boshaften Frau zu verdanken hatte, dass Carissa heute mit ihm ausging. Nun,
er würde aller Welt zeigen, dass er sich seiner Haushälterin nicht zu schämen
brauchte! Sie sah hinreißend aus. Das sagte er ihr auch.
Da er wusste, dass sie niemals ein wertvolles Geschenk von ihm annehmen
würde, hatte er sich entschieden, ihr einen hübschen Fächer mitzubringen.
Dieser war aus kunstvoll bemalter Seide, passte farblich hervorragend zu
Carissas Kleid und gefiel ihr außerordentlich gut.
Noch besser gefiel ihr, dass der Viscount daran gedacht hatte, Tante Mattie
ebenfalls eine Freude zu machen. Er hatte ihre Freundinnen aus der Pension in
seine Loge eingeladen. Da sie alle wohlgeborene, wenn auch verarmte Damen
waren, wussten sie diese Geste zu schätzen. Lady Mathilda wiederum war
überglücklich, weil sie nicht nur in den Genuss einer Opernaufführung kam,
sondern auch Gelegenheit erhielt, sich ausführlich mit ihren Freundinnen zu
unterhalten.
Wie es sich gehörte, hatte Lord Hartleigh zuerst seiner Stiefmutter eine
Einladung geschickt. Er hatte ihr mitgeteilt, an welchem Datum er die Familien-
Loge benutzen würde, und ihr vorgeschlagen, sich zu ihm und seinen Gästen –
zu denen auch Mrs. Kane gehören würde – zu gesellen.
Lady Agatha hätte lieber mit dem Teufel persönlich Tee getrunken, als sich
mit Mrs. Kane in der Öffentlichkeit zu zeigen. Ihre Absage an den Viscount fiel
dementsprechend unhöflich aus.
Tatsächlich war es sehr klug von Lady Agatha gewesen, auf den Opernbesuch
zu verzichten. Die Bewunderung, die man Carissa entgegenbrachte, hätte sie
wahrscheinlich an den Rand des Wahnsinns getrieben. Dass Lady Matties
Freundinnen die junge Witwe mit ausgesuchter Höflichkeit behandelten, war ja
noch verständlich. Aber dass auch eine Reihe von Lesleys adligen Freunden
während der Pause die Loge aufsuchten, um Mrs. Kane ihre Aufwartung zu
machen, hätte Lady Agatha zur Weißglut getrieben.
Ihr Stiefsohn wiederum war sehr zufrieden mit dem Verlauf des Abends. Er
vergaß nicht ein einziges Mal, Lady Mathilda und Carissa mit ihrem Titel
vorzustellen, und er erwähnte auch die Verwandtschaft zum Earl of
Macclesfield.
Alle – mit einer Ausnahme – zeigten sich gebührend beeindruckt.
Die einzige Ausnahme bildete Carissas Vater, der Earl of Macclesfield, selbst.
Er betrat Lord Hartleighs Loge während der letzten Pause, bedachte die
anwesenden Damen nur mit einem kurzen Nicken und verkündete: „Es gefällt
mir gar nicht, wie meine Tochter sich in den Mittelpunkt spielt.“
Wahrscheinlich gefiel es ihm nicht einmal, dass er eine Tochter hatte! Carissa
warf ihm einen zornigen Blick zu. Ihr gefiel es wahrhaftig auch nicht, dass sie
einen solchen Vater hatte! Fünf Jahre lang hatte er sie nicht gesehen. Er hatte
nicht auf ihre Briefe geantwortet und sich geweigert, ihr in irgendeiner Form
zur Seite zu stehen. Trotzdem wollte sie keinen unnötigen Streit mit ihm vom
Zaun brechen.
„Guten Abend, Vater“, begrüßte sie ihn höflich. „Wie geht es dir?“
Er musterte sie mit einem herablassenden Blick. „Dir ist doch klar, dass er nie
um dich anhalten wird? Hartleigh gehört nicht zu denen, die für etwas zahlen,
das sie auch umsonst haben können!“
Carissa beschloss, die Beleidigung zu überhören. „Wie gut, dass das nicht
deine Sorge ist, Vater“, sagte sie ruhig. „Schließlich hast du dich ja schon vor
Jahren entschlossen, mich nicht mehr als deine Tochter anzuerkennen.“
„Nun“, der Earl wandte sich zum Gehen, „wenn Hartleigh dich doch um deine
Hand bitten sollte, dann weise ihn bloß nicht zurück!“
Sie sah ihm verwirrt nach. Er musste wissen, dass Phillip noch lebte! Dieser
selbst hatte ihr doch erzählt, dass er mit dem Earl gesprochen hatte. Wollte ihr
Vater ihr etwa zur Bigamie raten? Für sie jedenfalls war es undenkbar, eine
neue Ehe einzugehen, solange ihr erster Gatte noch lebte!
Während des Heimwegs dankte Tante Mattie Lord Hartleigh mindestens
hundert Mal für den wundervollen Abend. Sie schwärmte unentwegt von der
gelungenen Aufführung, von der Bewunderung, die man ihrer Nichte gezollt
hatte, und von der Freude, die es ihr bereitet hatte, mit ihren Freundinnen
zusammen zu sein.
Carissa sagte nur wenig. Auch sie hatte sich die meiste Zeit gut amüsiert.
Doch im Gegensatz zu ihrer Tante war ihr klar, dass ganz London noch immer
glaubte, sie habe eine Affäre mit dem Viscount. Man hielt sie für eine gefallene
Frau, und die Vorstellung behagte ihr nicht besonders.
Zu Hause angekommen, schaute sie zuerst nach Pippa. Das Mädchen schlief
schon fest und rührte sich nicht einmal, als ihre Mama ihr einen zärtlichen Kuss
auf die Wange drückte. Carissa begab sich in ihr Schlafzimmer, das sie mit
Tante Mattie teilte. Diese war, todmüde nach dem herrlichen Abend, bereits
unter die Decke geschlüpft und schnarchte.
Auch Carissa war erschöpft. Doch sie wusste, dass sie nicht würde schlafen
können Zum einen war Tante Matties Schnarchen einfach zu laut. Zum anderen
gab es so viel, das ihr durch den Kopf ging. Und dann war da auch noch ihr
Körper, dessen Bedürfnisse sie seit einiger Zeit einfach nicht mehr leugnen
konnte.
Nur einen Moment lang zögerte sie. Dann trat sie wieder auf den Flur hinaus.
Sie würde in dieser Nacht Lesley Hammonds Bett teilen.
Es war kein spontaner Entschluss. Schon seit einigen Tagen hatte Carissa
immer wieder darüber nachgedacht, wie ihr zukünftiges Leben verlaufen würde.
Sir Gilliams Tod und das fehlende Testament hatten viele ihrer Hoffnungen
zunichte gemacht. Dann hatte Phillips Auftauchen plötzlich alles bedroht, was
sie in den letzten Jahren für sich und Pippa mit viel Mühe aufgebaut hatte. Lord
Hartleigh war der Einzige, der zu ihr stand. Doch gerade seine Aufmerksamkeit
hatte dazu geführt, dass man sie in London nun für eine leichtlebige Frau hielt.
Himmel, warum sollte sie sich nicht wie eine solche benehmen, wo sie sich
doch so überraschend heftig zu dem attraktiven Viscount hingezogen fühlte?
Mit jeder Faser ihres Körpers sehnte sie sich nach den Zärtlichkeiten, die Lesley
– insgeheim nannte sie ihn manchmal so – ihr so gern hätte zuteil werden
lassen.
Carissa atmete tief durch. Noch konnte sie sich nicht dazu überwinden, an
Lord Hartleighs Tür zu klopfen. Sie war eine ehrbare Frau und hatte immer hohe
Ansprüche an ihr eigenes Verhalten gestellt. Unmoralisches Benehmen war ihr
bisher ein Gräuel gewesen. Und das, was sie jetzt tun wollte, war unmoralisch.
Es gab keine Rechtfertigung dafür. Sie war einsam, ja. Aber sie war eine
verheiratete Frau, und Lesley war ein Lebemann.
Sie betrat sein Zimmer schließlich, ohne vorher anzuklopfen. Er fuhr herum
und starrte sie an. Seinen Rock hatte er bereits abgelegt, ebenso seine Schuhe
und sein Krawattentuch.
„Ich konnte nicht schlafen“, sagte Carissa.
„Ah ... Deshalb wollten Sie mich wohl fragen, ob ich Ihnen ein Buch mit
erbaulichen, frommen, schläfrig machenden Texten leihen kann“, gab er
zurück. „Oder haben Sie mein Zimmer womöglich mit der Küche verwechselt, in
der Sie sich einen Becher heiße Milch mit Honig holen wollten?“
„Seien Sie nicht albern, Mylord. Sie wissen genau, warum ich hier bin.“
„Mrs. Kane, ich habe nicht die geringste Ahnung, was Sie in meinem
Schlafzimmer tun. Offen gesagt, ich habe natürlich gehofft, dass ich Sie eines
Tages würde überzeugen können, mein Bett zu teilen. Aber in meiner Welt sieht
es so aus, dass der Gentleman die Dame verführt. Eine Haushälterin, die das
Schlafgemach ihres Arbeitgebers betritt und ihn mit Mylord anredet, muss
andere, mir unerklärliche Absichten verfolgen.“
Es waren weniger seine Worte als der Ausdruck auf seinem Gesicht, der
Carissa zum Lachen brachte. „Bitte, machen Sie sich nicht über mich lustig,
Lesley!“
Er trat auf sie zu, zog ihre Hand an die Lippen und küsste sie zärtlich. „Schon
besser! Aber werden Sie morgen früh nicht alles bereuen und mir Vorwürfe
machen?“
Was sollte sie antworten? Dass sie sich schon seit Tagen vor Sehnsucht nach
ihm verzehrte? Dass alles andere ihr gleichgültig war, wenn er sie nur in die
Arme schloss und sie voller Leidenschaft küsste? Nein, nichts davon würde sie
über die Lippen bringen. Also schaute sie ihm nur schweigend in die Augen.
„Sind Sie sicher, dass Tante Mattie nicht gleich hereinstürzen wird, in der
einen Hand eine Pistole und in der anderen einen Ehevertrag?“
Mit einem Lächeln schloss Carissa die Tür ab und reichte ihm den Schlüssel.
„Ah ...“ Achtlos ließ er den Schlüssel zu Boden fallen. Dann zog er vorsichtig
die Haarnadeln aus ihrer Frisur. Als ihr das Haar weich über die Schultern fiel,
trat er einen Schritt zurück und musterte sie bewundernd. „Wie schön Sie
sind!“ Er streckte die Hände nach ihr aus, zog sie an sich und küsste sie.
Heiße Schauer überliefen ihren Körper. Ja, sie hatte sich richtig entschieden.
Es würde eine wunderbare Nacht werden!
„Ich fühle mich geehrt“, flüsterte Lord Hartleigh, „ich bin sogar gerührt. Und
es fällt mir unsagbar schwer, Ihr großzügiges Angebot abzulehnen. Der Himmel
weiß, wie sehr ich Sie begehre. Aber es ist unmöglich.“
„Es ist unmöglich?“ Vor Scham wäre Carissa am liebsten im Boden
versunken. Das Blut stieg ihr in die Wangen, und sie senkte den Blick. „Aber
warum haben Sie mich dann geküsst? Sie haben mein Haar gelöst. Sie haben
die Knöpfe an meinem Kleid geöffnet! Oh Gott, ich hätte Ihnen niemals
gestatten dürfen, mich zu berühren!“
Er lächelte.
Dieser Unmensch!
„Wenn Sie sich umdrehen, knöpfe ich Ihr Kleid wieder zu.“
Carissa trat einen Schritt zurück. „Oh, bemühen Sie sich nicht.“
„Seien Sie bitte nicht albern!“ Er lächelte noch immer. „Sie können nicht so
in Ihr Zimmer zurückkehren. Wenn Ihre Tante Sie so sähe ...“
„Sie wäre nicht einmal überrascht. Sie glaubt sowieso, ich sei Ihre Geliebte.
Alle glauben das! Nur, dass Sie mich nicht wollen ...“
„Meine Teure, ich will Sie durchaus! Ich fühle mich sehr von Ihnen
angezogen. Aber ich brauche keine Mätresse.“
Wahrscheinlich hatte er schon irgendwo eine kleine Tänzerin, die er aushielt.
Oder eine Opernsängerin ... Waren sie deshalb in die Oper gegangen, hatte er
seine Geliebte auf der Bühne bewundern wollen?
Eine neue Welle der Scham überflutete sie. Wie hatte sie sich nur so weit
vergessen können, sich ihm anzubieten? Nun, es würde nicht wieder
vorkommen! Sie würde kündigen. Sie würde sein Haus verlassen. Wenn Mrs.
March blieb, würde sein Haushalt nicht wieder im Chaos versinken. Selbst Byrd
hatte in den letzten Tagen dazugelernt. Er würde dafür sorgen, dass die
Bediensteten ihre Pflicht erfüllten.
Leslie strich Carissa sanft über die Wange. „Wissen Sie, was ich wirklich
brauche, ist eine Mutter für meine Tochter.“
Sie schob seine Hand beiseite. „Unsinn. Sie haben einen Anwalt beauftragt,
nach einer Pflegefamilie für Sue zu suchen.“
Er atmete tief durch und gestand: „Ich glaube, ich würde es nicht übers Herz
bringen, mich von ihr zu trennen.“
„Das ist lächerlich. Oder schlimmer noch: verantwortungslos! Es genügt
nicht, dass Sie Sue süß finden, solange sie klein ist. Sie müssen an die Zukunft
des Mädchens denken.“
„Ich habe kaum an etwas anderes gedacht, seit Sue bei mir ist. Inzwischen
bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass ich ihr ein sicheres und glückliches
Leben bieten kann, wenn ich nur die richtige Frau finde, die mich dabei
unterstützt. Carissa, Sie sind diese Frau!“
Schon seit langem hatte Carissa die kleine Sue ins Herz geschlossen. Und sie
begriff durchaus, welche Überlegungen Lord Hartleigh angestellt hatte. Die
Lösung, für die er sich entschieden hatte, war tatsächlich gar nicht schlecht: Er
würde ein Cottage kaufen, in dem sie, Carissa, mit Pippa und Sue leben konnte.
Den Nachbarn würde sie einfach sagen, dass sie erst kürzlich Witwe geworden
war. Dann würde man annehmen, die beiden kleinen Mädchen seien
Geschwister. Pippa würde gern auf dem Land leben, wenn sie das Pony
mitnehmen durfte. Sue würde nichts vermissen, solange Maisie sich weiter um
sie kümmerte. Sie selbst würde vielleicht sogar vor Phillip sicher sein, wenn das
Cottage nur weit genug von London entfernt war.
Carissa schaute den Viscount an und nickte. „Ich denke, Ihr Plan könnte
aufgehen.“
„Natürlich.“
„Aber was soll aus Tante Mattie werden? Ich kann sie unmöglich in diese
Pension zurückschicken. Es würde ihr das Herz brechen.“
„Ich möchte auch nicht, dass Tante Mattie wieder von Ihnen und den Kindern
getrennt wird. Sie ist eine so nette alte Dame. Sogar Tor wäre traurig, wenn er
sie nicht mehr sähe.“
„Nun, er wird auf ihre Gesellschaft verzichten müssen. Ich denke nicht daran,
ein kleines Cottage mit einem so großen Hund zu teilen.“
„Ein kleines Cottage?“
„Ja, Sie werden verstehen, dass es unmöglich ist, auf lange Sicht in diesem
Haus zu bleiben. Ein Cottage auf dem Lande wäre viel passender.“
„Oh, ich dachte, Hammond House wäre passend.“
„Wie können Sie nur etwas so Dummes sagen? Es gäbe einen furchtbaren
Skandal, wenn Sie Ihre Haushälterin und Ihre uneheliche Tochter in Hammond
House einquartieren würden.“
„Aber niemand könnte etwas dagegen einwenden, dass ich mit meiner Gattin
und meinem Mündel, das ich natürlich adoptieren werde, in das Haus meiner
Familie ziehe.“
„Kein Mensch wird glauben ... Sagten Sie gerade Gattin?“
Er nickte. Dann ergriff er ihre Hände. „Carissa, wollen Sie mich heiraten?“
Sie fühlte, wie ihre Knie weich wurden. Und da kein Stuhl in der Nähe stand,
setzte sie sich einfach auf den Fußboden.
Lord Hartleigh ließ sich vor ihr auf die Knie nieder. „Bitte!“ drängte er. „Ich
weiß, dass Sie Sue mögen. Ich selbst bin ganz vernarrt in Pippa. Ich werde nicht
zulassen, dass es ihr an irgendetwas fehlt. Außerdem kann keiner von uns
leugnen, dass er sich zu dem anderen hingezogen fühlt.“
Das allerdings stimmte. Einen Moment lang war ihr ganz schwindelig vor
Glück. Ein richtiges Heim für sie und Pippa ... Ein Mann, der sie nachts in den
Armen hielt und sich tagsüber um die Kinder kümmerte ... Es war wie im
Märchen. Nur, dass sie nicht Aschenputtel war. „Nein“, sagte sie, „es ist
unmöglich.“
Ungläubig starrte der Viscount sie an. Unzählige junge Damen hatten
versucht, ihn mit Tricks, mit Charme oder mit sanfter Gewalt dazu zu bewegen,
sie zu heiraten. Stets war es ihm gelungen, sich seine Freiheit zu bewahren.
Und jetzt, da er den ersten Heiratsantrag seines Lebens machte, wurde er
abgewiesen? Es war einfach unfassbar!
Vielleicht wollte Carissa, dass er sie umwarb, dass er ihr eine Zeit lang den
Hof machte? War sie romantischer, als er angenommen hatte? Gut, er war
bereit, jeden ihrer Wünsche zu erfüllen. „Darling ...“, begann er.
Aber sie ließ ihn nicht zu Wort kommen. „Ich kann Sie nicht heiraten.“
Er zwang sich zu einem Lächeln. So leicht würde er sich nicht geschlagen
geben. War er nicht bekannt für die Hartnäckigkeit, mit der er seine Ziele
verfolgte? „Wenn es Ihr Wunsch ist, Carissa“, sagte er, „dann werden wir eben
nicht heiraten – noch nicht.“
9. KAPITEL
Da er nicht begreifen konnte, wie irgendeine Frau einen so vorteilhaften Antrag
ablehnen konnte, verbrachte Lord Hartleigh eine schlaflose Nacht. Carissas
Verhalten hatte ihn nicht in seinem Stolz gekränkt. Er zweifelte nicht daran,
dass sie ihn sowohl begehrte als auch achtete. Sonst wäre sie gar nicht in sein
Schlafzimmer gekommen. Sie mochte ihn wirklich. Aber warum wollte sie dann
nicht seine Viscountess werden? Warum behauptete sie, das Leben in einem
kleinen Cottage auf dem Lande vorzuziehen?
Vielleicht konnte seine Patentante ihm das erklären. Auf jeden Fall war sie
die einzige Person auf Erden, an die Lesley sich wenden konnte, wenn er in
einer so delikaten Angelegenheit Hilfe brauchte.
Niemand wagte es, die verwitwete Duchess of Castleberry ohne wichtigen
Grund zu stören. Lesley Hammond, Viscount Hartleigh, allerdings hatte einen
wichtigen Grund. Und als Patensohn der Duchess wurde er auch überraschend
schnell vorgelassen.
„Da bist du ja, du Schlingel“, begrüßte die alte Dame ihn. „Es hat in letzter
Zeit viel Gerede über dich gegeben. Nun, was ist an diesen Gerüchten dran? Du
bist doch hier, um mir das zu erzählen?“
Der Viscount nickte und begann, noch ehe der Tee serviert wurde, mit
seinem Bericht.
Die Duchess hörte geduldig zu, nippte gelegentlich an ihrem Tee und sagte
schließlich: „Nicht einmal ich könnte erreichen, dass diese Mrs. Kane von den
Mitgliedern der guten Gesellschaft wieder mit offenen Armen aufgenommen
wird. In den Augen der Leute wird sie immer die leichtfertige Hausangestellte
bleiben. Es sei denn, du heiratest sie.“
„Das will ich ja!“ Lesley war aufgesprungen und ging nervös im Raum auf
und ab. „Ich habe ihr einen Antrag gemacht. Aber sie hat mich abgewiesen.“
„Nanu, ich dachte, alle Frauen seien verrückt nach dir! Hast du etwa deine
berühmte Anziehungskraft verloren?“ Die Duchess schien sich königlich zu
amüsieren. Als sie jedoch die bedrückte Miene ihres Patensohns bemerkte,
wurde sie wieder ernst. „Ich weiß nicht allzu viel über Macclesfields Tochter. Er
selbst ist natürlich ein Dummkopf, hat damals das Mädchen praktisch aus dem
Haus getrieben. Er bestand darauf, dass sie seinen Freund Packword heiraten
solle. Es heißt, dass sie mit einem Jüngeren davongelaufen ist.“
„Kein Wunder! Packword ist ein Ekel und außerdem uralt.“
„Ja, aber dieser Kane scheint sie auch nicht glücklich gemacht zu haben.
Doch wie dem auch sei, du scheinst sie zu mögen. Und vielleicht ist sie genau
die Richtige für dich. Wenn du sie wirklich heiraten willst, dann bin ich bereit,
mich einmal mit ihrem Vater zu unterhalten.“
Lord Hartleigh wusste, über welch enormen Einfluss die Duchess verfügte.
„Bitte, sprich mit ihm“, bat er.
„Gut. Aber mach dir keine falschen Hoffnungen. Es wird immer Menschen
geben, die schlecht über eine Frau wie deine Mrs. Kane reden und ihr, auch
wenn sie Viscountess wird, die kalte Schulter zeigen. Einige Türen werden euch
immer verschlossen bleiben.“
„Das ist mir egal.“ Lesley küsste seine Patin auf beide Wangen. „Es gibt
Türen, durch die muss man nicht gehen.“
Eine Tür, durch die er gehen wollte und würde, war die von Hammond House.
Der Butler, der auf sein Klopfen hin öffnete, verzog beim Anblick des Viscount
das Gesicht, als habe er in eine saure Frucht gebissen.
„Sie brauchen gar nicht so gequält zu schauen, Wimberly“, meinte Lord
Hartleigh gut gelaunt. „Ich bin nicht gekommen, um irgendetwas vom
Dachboden oder aus dem Kinderzimmer zu holen. Im Gegenteil, ich denke
daran, alles zurückzubringen. Darüber wollte ich gerade mit der Dame des
Hauses sprechen.“
„Lady Agatha empfängt heute nicht. Sie fühlt sich nicht wohl, und der Arzt
hat ihr absolute Ruhe in einem abgedunkelten Raum verordnet.“
„Nun, dann werde ich selbst alles Wichtige mit den Dienstboten besprechen
müssen. Einige Zimmer sollen neu eingerichtet werden und ...“
„Wenn Sie im Kleinen Salon Platz nehmen möchten, Mylord? Ich werde Lady
Agatha holen.“
Lesleys Stiefmutter sah tatsächlich leidend aus, als sie den Salon betrat. Der
Viscount begann, ihr seine Pläne auseinander zu setzen. Während sie zuhörte,
verfinsterte ihre Miene sich mehr und mehr. Ja, ihr Gesichtsausdruck verriet,
dass sich ihr Leiden von Minute zu Minute verschlimmerte. Schließlich konnte
sie sich nicht länger beherrschen. „Nicht einmal ein gewissenloser Frauenheld
wie du würde es wagen, eine ...“, ihr fehlten die Worte, „... eine unmoralische
Person wie diese Mrs. Kane in sein Elternhaus zu bringen. Ich bin sicher, dass du
den ehrbaren Namen deiner Familie nicht noch tiefer in den Schmutz zerren
willst, als du das bereits getan hast!“
„Weil ich mir meiner Verantwortung für die Familienehre bewusst geworden
bin, möchte ich Mrs. Kane und ihre Tante, Lady Mathilda Wakeford, hierher
einladen. Dann kann jeder sehen, dass sie geschätzte und willkommene Gäste
sind.“
„Ha, welch ein Unsinn! Die Dienstboten werden diese Weiber nicht einmal
bedienen. Ich hoffe nämlich, dass es mir gelungen ist, meinem Personal
beizubringen, wahre Damen zu erkennen.“
„Solange ich den Lohn für die Bediensteten in diesem Haus bezahle,
bestimme ich, was sie tun oder nicht tun. Wenn ich unzufrieden bin, werde ich
nicht zögern, andere Leute einzustellen. Das kannst du auch Wimberly sagen.
Er scheint nämlich immer wieder zu vergessen, wer hier der Hausherr ist.“
Lady Agatha war blass geworden. „Soll das Kind etwa auch hier wohnen?“
„Pippa? Ja, natürlich. Mrs. Kane würde sich niemals von ihrer Tochter trennen.
Sie liebt die Kleine. Und Pippa ist wirklich ein Schatz, ein bisschen ernst
vielleicht für ein Kind ihres Alters. Aber wenn sie fröhlich ist, lacht einem das
Herz.“
„Oh Gott ... Und das Baby?“
„Sue wird selbstverständlich ebenfalls hier leben.“
„Unmöglich! Wie soll ich jemals passende Gatten für meine Schwestern
finden, wenn ...“
Lord Hartleigh unterbrach seine Stiefmutter. „Weder Mrs. Kane noch Sue oder
sonst irgendwer ist dafür verantwortlich, dass kein Mann, der auch nur über
einen Rest gesunden Menschenverstand verfügt, deine Halbschwestern
heiraten möchte.“
Alles Blut wich aus Lady Agathas Wangen. „Wenn du diese Frau herbringst,
ziehe ich aus!“ schrie sie.
„Bei Jupiter“, murmelte der Viscount, „warum bin ich bloß nicht eher darauf
gekommen? Schon vor Jahren hätte ich meine kleine Tänzerin hier
einquartieren können. Dann hätte ich das Haus sogleich wieder für mich allein
gehabt ...“
Von Hammond House aus begab Lord Hartleigh sich zur Bow Street, wo er sich
erkundigen wollte, welche Ergebnisse die in seinem Auftrag angestellten
Nachforschungen erbracht hatten.
Inspektor Nesbitt, ein dürrer alter Mann, empfing den Viscount, bot ihm einen
Platz an und begann in den Papieren, die sich auf seinem Schreibtisch türmten,
herumzusuchen. Als Erstes fand er den Bericht über Mason.
Die Runner hatten herausgefunden, dass der unsympathische Butler das
Haus, in dem er beschäftigt war, mit großer Regelmäßigkeit verließ. Oft suchte
er eine bestimmte Kneipe auf, seltener ein Geschäft, in dem er verschiedene
Kleinigkeiten zu kaufen pflegte. Weder der Wirt noch der Ladenbesitzer
mochten Mason, beide betonten jedoch, dass der Mann stets pünktlich bezahle.
Die interessanteste Neuigkeit war, dass Mason sich fast jeden Tag ins
Dockviertel begab, wo er immer in dasselbe Haus ging. Leider hatten die
Runner nicht herausfinden können, was der Butler dort tat. „Im Dockviertel sind
meine Leute nämlich gar nicht gern gesehen“, teilte Inspektor Nesbitt dem
Viscount mit. „Dort gibt es kaum jemanden, der einem Detektiv freiwillig
Auskunft geben würde. Immerhin konnte einer meiner Männer feststellen,
welche Wohnung Mason stets aufsucht. Niemand außer dem Butler scheint sie
zu benutzen. Das ist aber nicht das einzig Auffällige. Die Wohnungstür ist auch
mit mindestens drei zusätzlichen Schlössern gesichert.“
„Hm, das gibt einem allerdings zu denken. Ich wüsste zu gern, was sich hinter
dieser Tür verbirgt.“
„Das herauszufinden, ist weder ungefährlich noch billig. Ich würde daher
vorschlagen, dass wir noch ein wenig warten, ehe wir uns Zugang zu der
Wohnung verschaffen.“
Lord Hartleigh nickte. „Und was ist mit diesem Phillip Kane?“
Wieder begann der Inspektor in den Papieren herumzusuchen. Der Viscount
fing an, ungeduldig mit den Fingern auf den Tisch zu trommeln.
„Tja“, verkündete Nesbitt schließlich, „da habe ich leider ebenfalls keine
besonders guten Nachrichten. In der Armee weiß man nichts über Kane.“
„Sie meinen, sein Name steht auf keiner der Verlustlisten.“
„Ich meine, sein Name wird auf überhaupt keiner Liste erwähnt.“
„Merkwürdig ... Es ist natürlich bekannt, dass nicht alle Listen gewissenhaft
geführt werden. Aber trotzdem, irgendwo müsste der Mann doch auftauchen.“
„Nur, wenn er sich unter seinem richtigen Namen eingeschrieben hat –
vorausgesetzt, er hat überhaupt jemals als Soldat gedient.“
„Bei Jupiter!“ Lord Hartleigh runzelte die Stirn. „Da stimmt doch etwas nicht.
Ich selber habe bei Mrs. Kane eine Miniatur gesehen, auf der ihr Gatte in
Uniform abgebildet war. Und meine Patentante erwähnte, dass sie sich erinnern
könne, wie viel Staub vor fünf oder sechs Jahren dadurch aufgewirbelt wurde,
dass die Tochter des Earl of Macclesfield sich entschloss, einen einfachen
Leutnant ungewisser Herkunft zu heiraten.“
Inspektor Nesbitt nickte. „Ich hatte auch den Eindruck, dass da etwas nicht in
Ordnung ist. Deshalb habe ich einen meiner Männer beauftragt, weitere
Nachforschungen anzustellen. Er fand heraus, dass vor knapp sechs Jahren ein
Leutnant Phillip Cantwell desertiert ist.“
„Ein Deserteur, der unter falschem Namen in London lebte? Möglich wäre das
schon. Und seine Braut hätte gar nicht gewusst, wen sie da wirklich heiratete
...“
„Niemand hätte auch nur ahnen können, wer dieser Kane wirklich war. Es
gibt aber vielleicht eine Möglichkeit, das jetzt noch herauszufinden. Erwähnten
Sie nicht eben ein Porträt? Die Armee ließ damals natürlich nach dem Deserteur
suchen. Man veröffentlichte eine Art Steckbrief und setzte sogar eine
Belohnung aus. Phillip Cantwell müsste jetzt ungefähr dreißig sein. Er war
mittelgroß, hatte mittelbraunes Haar und ... Können Sie sich an die Augenfarbe
des Mannes auf der Miniatur erinnern?“
Der Viscount schüttelte den Kopf.
„Ich glaube, in dem Steckbrief war von braun-grünen Augen die Rede. Das
müsste ich allerdings noch einmal überprüfen. Andererseits lohnt sich die Mühe
vielleicht gar nicht. Wenn Mrs. Kane Witwe ist, dann muss ihr Mann ja gefallen
sein.“
Oder, dachte Lord Hartleigh, sie gibt sich nur als Witwe aus. Als sie eine
Witwenpension beantragte, musste sie erfahren haben, dass es keine
Unterlagen über ihren Gatten gab. Aber was bedeutete das schon? Sie mochte
es einfach als Beweis dafür angesehen haben, dass die Armee nicht sorgfältig
genug bei der Erstellung der Listen arbeitete.
„Konnten Sie irgendetwas über den Mann in Erfahrung bringen, der Mrs. Kane
kürzlich auf der Straße angesprochen hat? Ich selber bin der Meinung, es
könnte sich um einen Bruder oder einen Freund von Kane beziehungsweise
Cantwell handeln. Das würde auch erklären, warum Mrs. Kane ihm Geld
gegeben hat.“
„Dazu kann ich Ihnen leider nicht viel sagen. Wir wissen einfach zu wenig
über diesen Mann. Nach Ihrer Beschreibung, Mylord, war er mittelgroß und
hatte sandfarbenes Haar. Diese Beschreibung passt auf Hunderte von Männern
in London. Und der Gesuchte scheint sich zwischenzeitlich bei Mrs. Kane nicht
mehr gemeldet zu haben. Jedenfalls hat ihn keiner meiner Männer gesehen.
Allerdings gibt es hier noch etwas anderes, das Sie interessieren könnte.“
Inspektor Nesbitt fuhr glättend mit der Hand über ein Stück Papier. „Also,
dieser Anwalt, Nigel Gordon ... Ich wollte ihm einen Besuch abstatten, weil ich
dachte, er könne mir vielleicht das eine oder andere erzählen. Zweimal habe
ich sein Büro aufgesucht. Er war nicht da.“
„Wahrscheinlich hat er es nicht mehr nötig zu arbeiten. Wenn er wirklich in
eine Verschwörung wegen des Testaments verwickelt ist, dann werden
Parkhurst und Mason ihn mit einer beachtlichen Summe bestochen haben.“
„Das habe ich zuerst auch gedacht. Sicherheitshalber habe ich dann aber
auch noch seine Privatadresse ausfindig gemacht. Er war nicht zu Hause. Doch
seine Wirtin hat mir ein paar interessante Kleinigkeiten erzählt, zum Beispiel,
dass er seit zwei Wochen seine Miete schuldig geblieben ist. Natürlich hat sie
versucht, ihn zu erwischen, um ihn daran zu erinnern. Nun, er ist in der ganzen
Zeit nicht ein einziges Mal in seiner Wohnung gewesen.“
„Hm ...“, murmelte Lord Hartleigh.
„Daraufhin beschloss ich, seinem Büro noch einen dritten Besuch
abzustatten. Die Tür war aufgebrochen.“
„Bei Jupiter!“
„Ich habe natürlich die Gelegenheit genutzt, um mich ein wenig
umzuschauen. Überall lagen Akten und einzelne Papiere herum. Offensichtlich
hatte jemand nach etwas Bestimmtem gesucht. Nur wissen wir nicht, ob es
gefunden wurde und was es überhaupt war.“
„Es könnte natürlich Sir Gilliams Testament gewesen sein.“
„Durchaus. Doch um das mit Sicherheit sagen zu können, müssten wir mit
demjenigen reden, der den Einbruch verübt hat. Interessanterweise gibt es
einen Verdächtigen. Einer der Nachbarn ist nämlich von einem Mann
angesprochen worden, der sich nach Mr. Gordon erkundigt hat. Der Fremde war
mittelgroß, hatte sandfarbenes Haar und braun-grüne Augen.“
„Das kann kein Zufall sein!“ rief der Viscount aus.
Nach seinem Besuch in der Bow Street war Lord Hartleigh mehr denn je davon
überzeugt, dass Carissa Kane Kensington verlassen und nach Hammond House
umziehen müsse.
Das, was er von Inspektor Nesbitt gehört hatte, beunruhigte ihn zutiefst. Es
konnten kaum Zweifel daran bestehen, dass der Fremde, der Carissa auf der
Straße angesprochen hatte, derselbe Mann war, der Gordons Büro durchsucht
hatte. War er womöglich auch ein Mörder? Der Viscount befürchtete, dass
Gordon umgebracht worden war. Denn welchen Grund sollte der Anwalt haben,
sich wochenlang weder in seiner Wohnung noch in seinem Büro blicken zu
lassen?
Carissa befand sich in Gefahr, dessen war Lesley sich ganz sicher. Er musste
sie irgendwie dazu bewegen, dem Umzug nach Hammond House zuzustimmen.
Himmel, wenn sie doch nur nicht so dickköpfig wäre!
Zum Glück kam ihm eine Idee: Hatte Carissa ihm nicht schon mehrfach zu
verstehen gegeben, dass sie sich vor Mäusen fürchtete? Nun, diese Angst
konnte man ausnutzen. Also erwähnte der Viscount beiläufig, dass er gesehen
hatte, wie eine Maus durch sein Schlafzimmer huschte. Auch Mrs. March habe
sich über Mäuse in der Küche beschwert.
„Unmöglich!“ Carissa war entrüstet. „In einem gut geführten Haushalt wie
diesem gibt es keine Mäuse!“
Die Köchin, die gerade damit beschäftigt war, Teig für Ingwerplätzchen zu
kneten, hob den Kopf. „Heute Morgen noch habe ich zwei dieser widerlichen
Tiere gesehen. Sie wollten sich an meinem Mehl zu schaffen machen.“
„An Ihrem Mehl?“ Carissa erbleichte. Nie wieder würde sie Mrs. Marchs
leckeres Backwerk wirklich genießen können!
„Ich habe sie natürlich verjagt.“
„Vielleicht könnte Cleo dafür sorgen, dass keine Mäuse mehr ins Haus
kommen?“ Carissas Stimme hörte sich selbst in ihren eigenen Ohren nicht
überzeugt an.
„Möglich ...“ Lord Hartleigh blickte zweifelnd auf die Katze, die
wahrscheinlich eine Maus nicht von einem Teekuchen unterscheiden konnte.
„Trotzdem bin ich besorgt. Wo Mäuse sind, tauchen im Allgemeinen auch bald
Ratten auf. Ja, ich denke, es wird am besten sein, wenn wir den Kammerjäger
bestellen.“
Ratten? Einen Moment lang war Carissa versucht, auf den Tisch zu klettern.
Zum Glück konnte sie sich beherrschen, weil ihr klar wurde, wie lächerlich ein
solches Verhalten gewirkt hätte. Also schaute sie sich nur ängstlich um.
„Wahrscheinlich wird der Kammerjäger mit Gift gegen die unangenehmen
Tiere vorgehen müssen“, fuhr der Viscount fort. „Das bedeutet, dass wir Cleo
und Tor irgendwo einsperren müssen, damit sie nicht auch vergiftet werden.
Noch sicherer wäre es natürlich, wenn wir alle das Haus eine Zeit lang verlassen
würden. Es könnte während unserer Abwesenheit auch gestrichen werden.
Nötig wäre das sowieso.“
Darin musste Carissa ihm zustimmen. Einige Wände brauchten dringend
frische Farbe. Leider waren die Ausdünstungen von feuchter Farbe gar nicht
gesund für kleine Kinder. Das war ihr durchaus klar. Ihr war allerdings ebenso
klar, dass Lord Hartleigh auf diesem Wege versuchte, seinen Plan, nach
Hammond House umzuziehen, doch noch in die Tat umzusetzen. Nun, in seinem
Stadtpalais am Grosvenor Square wollte sie, Carissa, auf gar keinen Fall leben.
Was also konnte sie tun?
„Es wäre schön, wenn Sie, Mrs. March, gemeinsam mit Byrd hier bleiben
würden, natürlich gegen eine Sonderzahlung zusätzlich zum Lohn“, meinte Lord
Hartleigh. „Dann wären die Handwerker gut beaufsichtigt und gut versorgt.
Was die anderen Dienstboten betrifft, so hatte ich zuerst daran gedacht, ihnen
ein paar Tage frei zu geben. Aber sie sind ja erst so kurze Zeit hier, dass ihnen
das noch nicht zusteht. Und entlassen möchte ich sie nicht. Ich muss sie also
irgendwo beschäftigen. Damit entfällt für uns die Möglichkeit, uns in einem
Hotel einzumieten, solange das Haus renoviert wird.“
Carissa nickte. Sie bezweifelte sowieso, dass irgendein Wirt bereit gewesen
wäre, eine Katze, einen Hund und einen Kanarienvogel aufzunehmen.
„Aber irgendwo müssen wir ja bleiben“, schloss der Viscount seine Rede.
„Meiner Meinung nach sollten wir vorübergehend nach Hammond House
übersiedeln, denn die Reise nach Hart’s Rest in Norfolk, dem Stammsitz meiner
Familie, ist mir im Moment zu weit. Man könnte mich nicht schnell genug
erreichen, wenn ich hier aus irgendeinem Grund gebraucht würde. Außerdem
wäre die Fahrt für Lady Mathilda und die Kinder bestimmt sehr anstrengend.“
„Wäre es nicht doch klüger“, wagte Carissa einzuwenden, „wenn Sie sich
allein in Hammond House einquartieren und für Tante Mattie, Maisie, Sue, Pippa
und mich ein Cottage mieten würden?“
Er zuckte die Schultern. „Es dauert einige Zeit, ein passendes Cottage zu
finden. Aber das ist nicht das einzige Problem. Soll ich etwa Lady Agatha bitten,
sich um meine Bediensteten zu kümmern? Ich brauche Sie und Ihre Tante, um
die jungen Leute weiter auszubilden und ihnen ihre Aufgaben zuzuweisen.
Außerdem wäre es mir noch aus einem anderen Grund lieb, wenn Sie London in
den nächsten Wochen nicht verlassen würden. Meine Patentante erwähnte
nämlich, dass sie ab und zu Hilfe bei der Erledigung ihrer Korrespondenz
brauchen könnte. Ich habe ihr vorgeschlagen, mit Ihnen darüber zu sprechen.“
„Oh ...“ Ob daraus wohl eine Anstellung als Gesellschafterin werden könnte?
Die Vorstellung hatte etwas überaus Reizvolles. Bisher hatte Carissa nie in
Erwägung gezogen, eine solche Position zu finden, denn sie wusste, dass kaum
jemand bereit war, eine Frau mit Kind als Gesellschafterin einzustellen. Aber
eine alte Dame, die zurückgezogen lebte und mit ihren Freundinnen nur noch
schriftlich verkehrte, würde möglicherweise großzügigere Maßstäbe anlegen.
Vielleicht ...
Dann fiel Carissa ein, warum sie auf gar keinen Fall an den Grosvenor Square
ziehen konnte: Es war absolut unmöglich, mit Lady Agatha unter einem Dach zu
leben!
Als könne er Gedanken lesen, sagte Lord Hartleigh genau in diesem Moment:
„Meine Stiefmutter und ihre Halbschwestern befinden sich übrigens auf dem
Weg nach Bath. Lady Agatha war der Meinung, sie müsse etwas für ihre
Gesundheit ...“
„Da!“ fiel Mrs. March ihm in leicht hysterischem Ton ins Wort. Sie deutete mit
dem Zeigefinger auf die Ecke neben dem Herd, und Carissa sah gerade noch,
wie ein grauer Schatten hinter dem Kohleneimer verschwand.
„Sind Sie sicher, dass es in Hammond House keine Mäuse gibt?“ fragte sie
mit bebender Stimme.
Einige Tage später saß Carissa vor dem Frisiertisch in ihrem sehr geschmackvoll
eingerichteten Zimmer in Hammond House und starrte in den Spiegel, ohne
etwas zu sehen.
Zum hundertsten Mal fragte sie sich, ob alle Männer so dickköpfig und
unsensibel waren. Schon als kleines Mädchen war sie zu dem Schluss
gekommen, dass man mit ihrem Vater nicht vernünftig reden konnte. In den
letzten Tagen hatte sie sich des Eindrucks nicht erwehren können, dass es sich
mit Lord Hartleigh ganz genauso verhielt. Unerbittlich hatte er darauf
bestanden, dass sie alles tat, um wieder in den Schoß der Gesellschaft
aufgenommen zu werden. Dass sie daran gar kein Interesse hatte, interessierte
ihn überhaupt nicht.
Carissa war davon überzeugt, dass er jeden, der ihm noch einen Gefallen
schuldete, daran erinnert hatte, dass jetzt der passende Zeitpunkt sei, die
Schuld abzutragen. Zudem hatte er seine Patentante gebeten, alles in ihrer
Macht Stehende zu tun, um der Tochter des Earl of Macclesfield wieder zu
gesellschaftlichem Ansehen zu verhelfen.
Lord Hartleighs Patentante war natürlich keine Geringere als die Duchess of
Castleberry, eine Dame, deren Meinung niemand zu missachten wagte.
Mit einer Mischung aus Zorn und widerwilliger Belustigung dachte Carissa
daran, wie die alte Dame sie gebeten hatte, ihr bei ihrer Korrespondenz und
anderem zur Hand zu gehen. Selbstverständlich war es ganz unmöglich, Ihrer
Gnaden etwas abzuschlagen. Und so war Carissa seitdem damit beschäftigt, die
Duchess zu Teegesellschaften, musikalischen Soireen, Bällen und anderen
gesellschaftlichen Ereignissen zu begleiten oder ihr bei der Vorbereitung
solcher Veranstaltungen zu helfen.
Dass sie dabei nicht wie Aschenputtel wirkte, hatte sie ebenfalls der Duchess
zu verdanken. Diese hatte nämlich – Wunder über Wunder – dafür gesorgt, dass
der Earl of Macclesfield seiner Tochter eine monatliche Apanage ausgesetzt und
ihr endlich den Schmuck ihrer verstorbenen Mutter zugeschickt hatte.
Carissa war gar keine Wahl geblieben: Sie hatte sich neu einkleiden müssen,
wenn sie ihre Gönnerin nicht vor den Kopf stoßen wollte. Natürlich hatte sie
auch einiges für Pippa und Tante Mattie angeschafft. Und tatsächlich hatte das
Aussuchen und Einkaufen ihr Spaß gemacht. Viel zu lange hatte sie jeden
Penny dreimal umdrehen müssen. Jetzt genoss sie es, endlich Geld zur
Verfügung zu haben, Geld, das ihr eigentlich schon vor Jahren zugestanden
hätte, denn ihr Vater hatte sich damals geweigert, ihre Mitgift auszuzahlen.
Sie freute sich auch darüber, dass Pippa und Tante Mattie sich wohl fühlten
und dass die kleine Sue sich hervorragend entwickelte. Es beruhigte sie zu
sehen, wie gut die jungen Dienstboten, die von Kensington zum Grosvenor
Square übergesiedelt waren, sich in dem großen vornehmen Haushalt
zurechtfanden. Ja, manchmal erwischte sie sich sogar dabei, wie sie sich auf
einer der vielen Gesellschaften, an denen sie teilnahm, köstlich amüsierte.
Sobald sie jedoch an Lord Hartleigh dachte, war alle Freude dahin.
Es war absurd, dass gerade der Mann, der sich die größte Mühe gab, sie
glücklich zu machen, ihr nichts als Kummer und Sorgen bereitete. Sie wusste,
dass er seinen Plan, sie zu heiraten, nicht aufgegeben hatte. Sie wusste, dass er
noch immer hoffte, sie würde ihm eine gute Gattin und Sue eine gute Mutter
werden. Und sie hatte keine Möglichkeit, ihm klar zu machen, dass beides nicht
möglich war. Es war furchtbar!
Carissa wurde von Gewissensbissen gequält. Sie sehnte sich danach, sich
dem Viscount anzuvertrauen. Sie sehnte sich danach, in seinen Armen zu
liegen. Sie wusste, dass sie etwas unternehmen musste, ehe es zu spät war.
Aber ihre Situation war ausweglos.
Die Duchess of Castleberry hatte sie darauf hingewiesen, dass es für Carissas
Ruf von größter Bedeutung war, dass keine neuen Gerüchte über sie in Umlauf
gebracht wurden. Das bedeutete, dass sie niemandem – weder den Dienstboten
noch den Mitgliedern der Gesellschaft, mit denen sie verkehrte – Grund zu
irgendwelchen Verdächtigungen geben durfte. Sie würde also niemals, niemals
allein mit Lord Hartleigh sein. Entweder befand sie sich in der Gesellschaft ihrer
Tante oder der Duchess, oder der Viscount hielt sich nicht unter demselben
Dach auf wie sie.
Wenn sie mit seiner Patin Tee trank, trank er Port in seinem Club. Wenn sie
sich mit den Kindern beschäftigte, traf er sich mit seinen Freunden. Wenn sie
begleitet von Tante Mattie einkaufen fuhr, unternahm er einen Ausritt in den
Park.
Letzteres war sogar Pippa aufgefallen. Sie hatte darüber geklagt, dass sie
Lord Hartleigh gar nicht mehr zeigen konnte, welche Fortschritte sie beim
Reiten machte. Ihre Mama hatte sie getröstet, obwohl sie doch selber Trost
gebraucht hätte. Himmel, da lebte sie im selben Haus wie der Viscount und
vermisste ihn doch mehr als je zuvor. Wehmütig dachte sie an die gemütlichen
Abende zurück, die sie mit ihm und den Kindern in seinem Haus in Kensington
verbracht hatte. Jetzt waren ihre Tage ausgefüllt mit den unterschiedlichsten
gesellschaftlichen Verpflichtungen. Dank der Bemühungen der Duchess
schenkte man ihr eine Menge Aufmerksamkeit.
So viel Aufmerksamkeit, dass Phillip sie früher oder später finden und seinen
Erpressungsversuch wiederholen würde ...
Ihre Befürchtungen bewahrheiteten sich ausgerechnet an einem ungewöhnlich
friedlichen Vormittag. Da sie weder ihre Schneiderin aufzusuchen noch sonst
irgendetwas Dringendes zu erledigen hatte, war Carissa mit Maisie und den
Kindern in den Park gegangen. Einer der neuen Lakaien begleitete sie. Er sollte
auf Gladiator Acht geben, hatte aber nur Augen für Maisie, die wiederum Sue
nicht aus den Augen ließ. Tor schenkte seine ganze Aufmerksamkeit Pippa, die
ein paar Ingwerplätzchen mitgebracht hatte, im Moment jedoch hauptsächlich
damit beschäftigt war, den Park nach Lord Hartleigh abzusuchen. Sie wollte ihn
unbedingt bitten, wieder einmal mit ihr auszureiten.
Carissa, die etwas abseits stand, ließ lächelnd den Blick von einem zum
andern wandern. Sie genoss die Sonne und die entspannte Stimmung, die
allerdings jäh ein Ende fand, als sie hinter sich Schritte hörte. Pippa, die bereits
die Hand zum Winken gehoben hatte, ließ den Arm wieder sinken, als sie
erkannte, dass der Spaziergänger nicht Lord Hartleigh war.
Es war Phillip Kane.
„Komm“, forderte Pippa den Hund auf, „wir gehen Enten füttern.“
„Guten Tag, Darling“, begrüßte Mr. Kane seine erschrockene Gattin. „Wie ich
sehe, hast du endlich dein Glück gemacht.“ Er musterte ihr neues Kleid aus
geblümtem Musselin, bemerkte dann die Perlenkette, die sie trug, und streckte
ungeniert die Hand danach aus.
Entsetzt trat Carissa einen Schritt zurück. Phillips Handschuhe waren
angeschmutzt, und sein Rock wirkte noch abgetragener als bei ihrem letzten
Treffen. Er brauchte Geld, das war offensichtlich.
„Die Perlen gehören mir nicht“, erklärte sie mit bebender Stimme. „Mein
Vater hat sie mir als Leihgabe zur Verfügung gestellt.“
„Kaum zu glauben! Der alte Schurke hat sich also endlich daran erinnert,
dass er eine Tochter hat? Hoffentlich ist ihm auch eingefallen, dass er mir
damals deine Mitgift vorenthalten hat! Und hoffentlich ist dir klar, mein Schatz,
dass ich meinen Teil an deinem Vermögen beanspruche.“
„Ich habe kein Vermögen! Ich habe nicht einmal mehr mein Einkommen als
Haushälterin. Meine Rechnungen werden direkt an meinen Vater weitergeleitet,
weil er sich weigert, mir meine Apanage in bar auszuzahlen.“
„Du lügst.“ Phillip Kanes Stimme klang drohend. „Hartleigh ist dafür bekannt,
dass er seine Mätressen stets großzügig behandelt. Deshalb ist er ja so beliebt
bei den Weibern.“
Es war unnötig, darauf zu antworten, das wusste Carissa. Phillip hätte ihren
Worten sowieso keinen Glauben geschenkt. Er war hier, weil er Geld brauchte.
Aber sie konnte ihm nichts geben. Also sagte sie: „Wenn ich Sir Gilliam beerbt
hätte, dann sähe alles anders aus. Eine kleine Familie wie wir hätte – wenn sie
nur sparsam genug wirtschaftete – gut von dem leben können, was Sir Gilliam
besaß. Aber wie du weißt, ist das Testament ja leider verschwunden.“
„Ich habe nach diesem Testament gesucht, so wie du es vorgeschlagen hast.
In diesem Anwaltsbüro war es nicht. Und den Anwalt konnte ich nicht fragen. Er
ist nämlich seit einiger Zeit verschwunden. Sehr merkwürdig, diese ganze
Geschichte ...“
Carissa, die von Lord Hartleigh erfahren hatte, dass man nach dem Mann
suchte, der in das Anwaltsbüro eingebrochen war, nutzte die Gelegenheit, um
ihren Gatten zu warnen. Jemand hat den Mann, der Mr. Gordons Büro
durchsucht hat, gesehen und ihn der Polizei beschrieben. Jetzt wird nach ihm
gefahndet, weil der Verdacht besteht, er habe den Anwalt ermordet.“
„Ich bin diesem Gordon nie begegnet.“
„Dann solltest du dich vielleicht freiwillig in der Bow Street melden und eine
Aussage machen.“
Phillip Kane schüttelte nur den Kopf. „Unsinn. Das alles interessiert mich
nicht. Was mich interessiert, ist Geld. Ich brauche tausend Pfund, um in ein
wirklich gutes, Gewinn bringendes Geschäft einsteigen zu können.“
„Tausend Pfund?“ So viel Geld hatte Carissa in ihrem ganzen Leben noch
nicht gesehen. „Du weißt, dass ich eine solche Summe niemals beschaffen
könnte!“
„Natürlich könntest du das, Darling. Hammond House ist voll mit wertvollen
Dingen.“
„Schlägst du mir etwa vor, Lord Hartleigh zu bestehlen?“
„Nein. Du brauchst ihn nur um das zu bitten, was du gern hättest. Wenn er es
dir nicht wegen deiner schönen Augen gibt, dann wird er es dir geben, um mich
loszuwerden.“
„Nein.“ Wenn Phillip erst einmal Erfolg mit seinen Erpressungsversuchen
gehabt hätte, würde er sie nie mehr in Ruhe lassen.
„Tja“, ein unschönes Lächeln lag auf Kanes Gesicht, „dann werde ich mir wohl
Pippa holen müssen. Es gibt Männer, die bereit sind, große Summen für nette
englische Mädchen zu zahlen.“
Carissa war so entsetzt, dass sie kein Wort über die Lippen brachte. Ihr Gatte
war schon immer habgierig und unmoralisch gewesen. Jetzt aber schien er
vollkommen den Verstand verloren zu haben. Wie konnte ein Vater auch nur
daran denken, seine Tochter zu verkaufen? Eine schreckliche Angst überkam
sie. Ob er ihr womöglich hier und jetzt schon gefährlich werden würde?
Gerade in diesem Moment wandte Pippa sich um. Sie lief auf ihre Mutter zu,
wobei sie den Fremden aufmerksam musterte. „Guten Tag“, sagte sie höflich.
„Sie sehen aus wie mein Papa. Ich habe ein Bild von ihm. Er ist ein Held.“
Phillip starrte seine Tochter an, und sein unangenehmes Lächeln vertiefte
sich.
„Pippa, geh mit Gladiator zu Maisie und Sue“, forderte Carissa das Mädchen
auf, das – gehorsam wie immer – sogleich losging. „Und sag ihnen, dass wir
nach Hause gehen wollen.“
„He, nicht so eilig!“ Kane griff nach Carissas Arm und hielt sie so fest, dass sie
beinahe vor Schmerz aufgeschrien hätte. „Erst wirst du mir verraten, wie ich zu
meinem Geld komme.“
„Ich kann dir nichts geben“, wiederholte sie.
Er lachte spöttisch, kam aber nicht dazu, etwas zu sagen. Denn plötzlich
preschte ein Reiter heran, sprang vom Pferd und versetzte Phillip einen gut
gezielten Kinnhaken.
„Kein Gentleman würde eine Dame belästigen“, donnerte Lord Hartleigh.
Kane, der das Gleichgewicht verloren hatte, schlug die Hände vors Gesicht
und wimmerte: „Genug!“
„Bei Jupiter! Stehen Sie auf und kämpfen Sie wie ein Mann!“
Zögernd gehorchte Phillip.
„Verflucht!“ Fassungslos starrte der Viscount ihn an. „Sie leben?“
„Natürlich. Ihre Faust hat mir vielleicht den Kiefer zertrümmert, aber so
kräftig, dass ich deshalb sterben müsste, war der Schlag nicht.“
„Sie sind Cantwell!“
Alles Blut wich aus Phillips Gesicht, doch er schüttelte den Kopf. „Ich weiß
nicht, wovon Sie reden.“
Lord Hartleigh packte ihn beim Kragen und hielt ihn fest. „Leutnant Cantwell,
bei der Armee wird man sich freuen, Sie wieder zu sehen.“
„He, Sie müssen mich verwechseln. Fragen Sie meine Frau, wer ich bin.
Carrie, sag ihm ...“
Carrie – sie hasste diesen Namen – war nicht in der Lage, überhaupt etwas zu
sagen.
So war es Lesley, der das Wort ergriff. „Sagten Sie nicht, Sie wären verwitwet,
Mrs. Kane?“ meinte er, zwischen Enttäuschung und Entrüstung hin- und
hergerissen.
„Doch“, stammelte sie, „ich habe wirklich geglaubt, er wäre tot. Jedenfalls bis
vor kurzem ... Als er mich verließ, sagte er, er wolle sich wieder seinem
Regiment anschließen. Woher hätte ich wissen sollen ...“ Sie unterbrach sich.
„... dass er ein Deserteur war?“
„Ein Deserteur? Oh Gott! Das wusste ich nicht! Als ich mich bei der Armee
nach ihm erkundigte, teilte man mir mit, es gäbe keinen Phillip Kane in den
Unterlagen. Deshalb glaubte ich, er habe sich seine Offizierskarriere nur
ausgedacht.“
Der Viscount erklärte ihr die Zusammenhänge und schloss mit der
Ankündigung: „Ich werde dafür sorgen, dass er vor ein Militärgericht gestellt
wird. Man wird ihn hängen.“
„Dann hängt Carrie mit mir“, trumpfte Phillip auf. „Ich werde einfach
behaupten, dass sie von Anfang an gewusst hat, dass ich gesucht werde. Wie
hätte ich ohne ihre Hilfe überleben sollen?“
„Du Schuft!“ Carissas Augen blitzten zornig, aber ihre Miene verriet, wie
verzweifelt sie im Innersten war.
Tröstend legte Lord Hartleigh ihr die Hand auf die Schulter.
Phillip Kane alias Cantwell nutzte diesen Moment, um eine Pistole aus der
Tasche zu ziehen. Ehe der Viscount reagieren konnte, schlug der Deserteur ihm
die Waffe mit aller Kraft auf den Kopf.
Dann ging alles ganz schnell: Phillip schwang sich auf Hartleighs Pferd und
preschte davon. Der junge Lakai und der Hund nahmen die Verfolgung auf.
Carissa ließ sich neben dem bewusstlosen Lesley auf die Knie sinken und
bettete seinen Kopf in ihren Schoß. Pippa, Maisie und Sue begannen laut zu
weinen.
Eine Ewigkeit schien zu vergehen, ehe Lord Hartleigh die Augen aufschlug. Er
erkannte Carissa und lächelte.
In diesem Moment verlor sie die Fassung. Wie konnte er es wagen zu lächeln,
nachdem er sie so in Angst und Sorge versetzt hatte? Sie sprang auf und schrie:
„Ich habe Ihnen ja gleich gesagt, dass ich nicht in ein Haus am Grosvenor
Square gehöre!“
10. KAPITEL
Zum Glück beruhigte Carissa sich rasch wieder. Sie war eine praktisch
veranlagte, vernünftige Frau, und ihr war klar, dass der verletzte Viscount
sofort nach Hause gebracht werden musste. Also beruhigte sie Maisie und die
Kinder und beauftragte den Lakaien, der die Verfolgung bald hatte aufgeben
müssen, seinen Herrn nach Hause zu bringen. Dort angekommen, schickte sie
sogleich einen Boten in die Bow Street.
Da Lord Hartleigh darauf bestand, dass er keinen Arzt brauche, musste auch
Byrd aus Kensington herbeigeholt werden, damit er sich um die Platzwunde am
Kopf seines Herrn kümmern konnte. Der Verband war gerade angelegt, als
Inspektor Nesbitt eintraf.
Nachdem man ihn über die Ereignisse informiert hatte, wandte er sich
Carissa zu, um sie zu bitten, ihm die Miniatur ihres Gatten zur Verfügung zu
stellen, und um ihr zu versichern, dass sie sich keine Sorgen um Pippa zu
machen brauche. „Wir werden Phillip Kane alias Cantwell bald fassen, das
verspreche ich Ihnen!“
Carissa bezweifelte das. Schließlich war es ihrem Gatten jahrelang gelungen,
unentdeckt zu bleiben. Er war unmoralisch und wahrscheinlich auch ein
bisschen verrückt. Aber ein Dummkopf war er nicht.
„Es ist für uns alle am besten, wenn ich Hammond House verlasse“,
verkündete sie. „Ich habe Angst, dass Phillip nun – da er weiß, wo Pippa sich
aufhält – etwas Schreckliches plant. Zudem möchte ich nicht, dass Ihre Familie,
Lord Hartleigh, meinetwegen in einen Skandal verwickelt wird. Und ein solcher
ist unausweichlich, falls Phillip gefasst wird.“
Der Viscount widersprach natürlich aufs Heftigste und beendete seine Rede
mit dem Hinweis darauf, dass ein Skandal nur den Deserteur Cantwell berühren
würde, nicht aber eine Dame wie Lady Carissa. „Sie sind ja nicht einmal wirklich
mit diesem Schurken verheiratet. Es gibt schließlich gar keinen Phillip Kane.
Man wird Ihre Ehe annullieren.“
„Oh Gott, das würde Philippa zu einem unehelichen Kind machen!“
„Nur so lange, bis ich sie adoptiere. Bei Jupiter, ich werde eine Speziallizenz
besorgen und Sie schon in der kommenden Woche heiraten, Carissa! Mein
Name sowie die gesellschaftliche Stellung und der Einfluss meiner Patentante
werden uns vor allen üblen Gerüchten schützen. Und ich selbst werde dafür
sorgen, dass Cantwell weder Ihnen noch Pippa etwas antun kann.“
War es wirklich vorstellbar? Würde sie Lesley, den Mann, den sie liebte,
ehelichen und Pippa damit einen neuen Vater geben? Einen Moment lang
fühlte Carissa sich wie im Himmel.
Doch schon hatte die Erde sie wieder. Bedrückt schüttelte sie den Kopf. „Ich
kenne Phillip. Er ist boshaft und gerissen. Niemand kann uns vor ihm schützen.
Wenn wir heiraten, Hartleigh, dann wird er uns umso mehr hassen. Vielleicht
wird er Sie sogar töten. Nein, lieber will ich seine Gattin bleiben, als Sie in
Gefahr bringen!“
Der Viscount stieß einen Fluch aus. „Sie sind nicht mit diesem elenden
Deserteur verheiratet! Sehen Sie das doch ein!“
Aber Carissa schüttelte nur stumm den Kopf.
Carissa war verzweifelt. Nie würde sie frei von der Bedrohung sein, die Phillip
darstellte. Sie hatte Angst um Pippa, und auch Lesleys Verhalten bedrückte sie.
Er hatte wieder begonnen, die Nächte in Spielhöllen und Kneipen von
zweifelhaftem Ruf zu verbringen. Es würde also ein Leichtes für Phillip sein, ihm
irgendwo aufzulauern.
Immerhin hatte der Viscount sich entschlossen, nicht mehr ohne Byrd
auszugehen. Der ehemalige Preisboxer war ein guter Leibwächter. Außerdem
reichte seine Erscheinung im Allgemeinen aus, um Menschen dazu zu bringen,
genau das zu tun, wozu Lord Hartleigh sie aufforderte. Im Moment galt dessen
Interesse allen Schuldscheinen und Wechseln, die Broderick Parkhurst
ausgeschrieben hatte. Er kaufte sie zu einem günstigen Kurs auf, wurde dabei
allerdings trotzdem ein kleines Vermögen los.
Schließlich begab er sich mit den Papieren – sowie mit Byrd und Gladiator –
nach Kensington. Entschlossen klopfte er an die Tür des Hauses, das noch vor
kurzem Sir Gilliam gehört hatte und das bald Carissa gehören würde.
Sie wünschte es sich. Nun gut, sie sollte es bekommen. Dafür würde er,
Lesley Hammond, sorgen. Er würde allerdings auch dafür sorgen, dass sie
niemals dort wohnte – jedenfalls nicht, solange er lebte. Sie würde sein eigenes
Heim mit ihm teilen. Etwas anderes kam gar nicht infrage. Wenn sie ihn nicht
heiraten wollte, um als ehrbare Frau an seiner Seite zu leben und Sue
aufzuziehen, dann würde er sie eben zu seiner Geliebten machen. Er begehrte
sie. Das hatte er sich schon vor langer Zeit eingestehen müssen. Er begehrte
sie mehr, als er je zuvor eine Frau begehrt hatte. Er wollte sie. Und bisher hatte
er immer bekommen, was er wollte.
Er musste ein zweites Mal klopfen, ehe Mason endlich die Tür öffnete.
Gladiator hatte sich inzwischen bereits in den Gatten zurückgezogen.
„Mr. Parkhurst ist nicht zu Hause.“
„Dann werden wir auf ihn warten“, erklärte Byrd und drängte sich an dem
Butler vorbei in die Eingangshalle.
Lord Hartleigh folgte ihm in den Salon, wo er gelassen Platz nahm – weitaus
gelassener als Mason, der sich nervös umschaute.
Tatsächlich gab es eine Menge zu sehen. In Sir Gilliams einst so gepflegtem
Heim war das Chaos ausgebrochen. Es war offensichtlich, dass hier seit Wochen
niemand mehr aufgeräumt oder geputzt hatte. Auch Mason schien darüber
nicht gerade glücklich zu sein. Seine Augen hatten einen gehetzten Ausdruck,
seine Bewegungen wirkten unsicher. Ja, wie der Viscount feststellte, war sogar
seine Perücke verrutscht.
„Wir müssen Mr. Parkhurst in einer äußerst dringenden Angelegenheit
sprechen“, sagte Lord Hartleigh und hielt dem Butler einige der Schuldscheine
unter die Nase.
Offenbar erkannte Mason die Unterschrift. Jedenfalls wurde er bleich. Nach
kurzem Zögern erklärte er: „Mr. Parkhurst schläft. Ich werde ihn wecken.“
„Nicht nötig.“ Der Viscount und sein Diener waren schon auf dem Weg zum
Schlafzimmer.
Broderick Parkhurst hatte noch keine Zeit gehabt, seinen Rausch
auszuschlafen. Aber er war nicht zu betrunken, um zu begreifen, was dieser
Besuch bedeutete. Es würde Ärger geben! Er zog sich die Decke bis unter die
Nase und jammerte: „Was wollen Sie von mir, Mylord? Ich habe niemanden
belästigt, der Ihnen nahe steht. Ich schulde Ihnen nichts und ...“
„Sie täuschen sich“, unterbrach Lesley ihn und warf die Schuldscheine und
Wechsel aufs Bett. Es waren so viele, dass von der Bettdecke kaum noch etwas
zu sehen war.
„Oh ...“
„Wie gedenken Sie Ihre Schulden zu begleichen?“
„Ein einziger großer Gewinn würde reichen ...“
„Glauben Sie wirklich, Sie hätten eine Chance, auch nur ein einziges Mal zu
gewinnen gegen die Leute, mit denen Sie spielen?“ Lord Hartleigh lachte bitter
auf. „In die guten Clubs lässt man Sie nicht. Und in den Spielhöllen, die Sie
aufsuchen, gewinnt ein Mann wie Sie nicht.“
„Sie meinen, ich bin betrogen worden?“
„Ja, Mr. Parkhurst. Man hat Sie betrogen. Aber nicht mehr, als Sie Mrs. Kane
betrogen haben!“
„Diese Haushälterin? Die Mätresse meines Onkels? Ihre derzeitige Geliebte,
Mylord? Was hat sie damit zu tun?“
„Ist Ihnen entfallen, dass das Geld, das Sie verspielt haben, von Rechts
wegen Mrs. Kane zusteht?“ donnerte der Viscount. „Ich würde Ihnen übrigens
raten, in Zukunft mit mehr Respekt von dieser Dame zu sprechen. Sie könnten
sonst womöglich meinen Diener verärgern.“
Byrd nickte.
Mit unerwartetem Mut erwiderte Parkhurst seinen Blick. „Wenn Sie mich
totschlagen wollen, bitte! Sie kommen damit nur den Geldverleihern zuvor oder
vielleicht Mason, der mich ebenfalls schon bedroht hat.“
„Ach, Sie haben ihm seinen Anteil wohl vorenthalten?“ meinte Lord
Hartleigh. „Tja, damit musste er rechnen. Ehrbare Diebe gibt es nun mal nicht.
Trotzdem will ich Ihnen einen Vorschlag machen und darauf vertrauen, dass Sie
Ihren Teil der Abmachung einhalten. Also: Im Austausch gegen diese Wechsel
werden Sie Mrs. Kane das Haus überschreiben. Außerdem werden Sie eine
schriftliche Erklärung aufsetzen, aus der hervorgeht, dass Sie das Testament,
das Sir Gilliam zugunsten von Mrs. Kane gemacht hat, unterschlagen haben.
Und dann werden Sie England für immer verlassen.“
„Ihr Vorschlag gefällt mir nicht“, gab Parkhurst zurück.
„Die Alternative wird Ihnen auch nicht gefallen. Sie lautet: Ich beanspruche
das Haus als Entschädigung für die Schulden ...“, er wies auf die Papiere, die
noch immer auf dem Bett lagen, „und klage Sie außerdem des Mordes an Nigel
Gordon an. Das heißt, den letzten Punkt könnte ich mir noch einmal überlegen.
Vielleicht überlasse ich Sie auch ganz einfach Byrd.“
Dieser trat einen Schritt näher und grinste.
„Bei Jupiter ...“ Aller Mut verließ Broderick Parkhurst. Er zog die Decke noch
ein Stück höher. „Wovon soll ich denn leben, wenn ich das Land verlasse?“
Tatsächlich interessierte das den Viscount überhaupt nicht. Doch da er ein
Interesse daran hatte, den Betrüger wirklich für immer loszuwerden, war er zu
einem kleinen Zugeständnis bereit. „Ich werde Ihnen die Schiffspassage nach
Amerika bezahlen. In Virgina gibt es ein Gestüt, an dem ich beteiligt bin. Wenn
Sie wollen, können Sie dort arbeiten. Es werden ständig Hilfskräfte gesucht.“
Dass diese hauptsächlich zum Ausmisten der Ställe eingesetzt wurden,
erwähnte Lord Hartleigh nicht.
Parkhurst erklärte sich mit diesem Vorschlag einverstanden, nachdem er
Byrd noch einmal eingehend gemustert hatte. Alles war besser, als von dem
tätowierten Muskelprotz zusammengeschlagen zu werden.
Der Viscount setzte zwei kurze Schreiben auf, die Broderick Parkhurst
zähneknirschend unterzeichnete. Byrd, noch immer grinsend, fungierte als
Zeuge.
Als er wenig später an der Seite seines Herrn aus dem Zimmer trat, begann
Sir Gilliams nichtsnutziger Neffe in aller Eile die Schuldscheine und Wechsel
zusammenzulesen. Er warf sie in den offenen Kamin, zündete sie – im Stillen
über Lord Herzlos fluchend – an und sah zu, wie sie verkohlten.
In der Eingangshalle trafen Lord Hartleigh und Byrd auf Mason. „Ihr Herr wird
Hilfe beim Packen brauchen“, sagte der Viscount zu ihm. „Er verlässt London
spätestens morgen. Sie sollten ihn übrigens um ein Empfehlungsschreiben
bitten, denn ich kann Ihnen versichern, dass Mrs. Kane, die neue Besitzerin des
Hauses, Sie weder hier noch anderswo beschäftigen wird.“
Mason starrte ihn wütend an, wagte jedoch nicht, etwas zu erwidern.
Und so trat Lesley einigermaßen gut gelaunt auf die Straße hinaus. Da er nun
einmal in Kensington war, beschloss er, die Gelegenheit zu nutzen, in seinem
eigenen Haus nach dem Rechten zu sehen. Zum einem wollte er sich davon
überzeugen, dass die Renovierungsarbeiten Fortschritte machten. Zum
anderen wollte er mit Mrs. March sprechen, die seit Byrds Übersiedlung nach
Hammond House eine Menge Verantwortung trug.
Es wurde ein kurzes Gespräch, denn plötzlich ertönte von draußen lautes
Geschrei. Der Viscount eilte zur Tür und konnte gerade noch sehen, wie
Parkhurst, der noch immer sein weißes Nachthemd trug, auf dem Bürgersteig
mit einer der Applegate-Schwestern zusammenstieß. Der junge Mann warf
einen entsetzten Blick hinter sich und rannte weiter. Mason war ihm dicht auf
den Fersen. Der Butler hielt ein Messer in der einen und eine Pistole in der
anderen Hand.
In diesem Moment bog ein Reiter um die Ecke. In seiner Verzweiflung griff
Parkhurst nach den Zügeln des Pferdes. Es scheute und warf seinen Besitzer ab.
Dieser stieß eine Reihe von Flüchen aus, die bewirkten, dass die eine Miss
Applegate in Ohnmacht fiel und die andere neben ihr in die Knie sank. Dabei
ließ sie die Leine ihres Terriers los, die sie bisher fest in der Hand gehalten
hatte.
Parkhurst versuchte, sich auf den Rücken des Pferdes zu schwingen, wurde
aber durch sein Nachthemd daran gehindert. Mason hob die Pistole und zielte.
Das Blumenmädchen an der Ecke stieß einen schrillen Schrei aus. Aus einem
Garten stürzte eine Horde neugieriger Kinder auf die Straße.
Dann endlich saß Parkhurst im Sattel. Mason drückte ab, traf aber nur die
Straßenlaterne, die mit lautem Klirren zerbarst. Hysterisch kläffend rannte der
Terrier der Applegate-Schwestern auf die Straße. Das Pferd verfing sich mit den
Hinterbeinen in der Hundeleine, strauchelte, fand das Gleichgewicht wieder,
bäumte sich auf und ging durch. Parkhurst, der nie ein guter Reiter gewesen
war, stürzte zu Boden und blieb reglos liegen.
„Um Himmels willen“, schrie eine Frau, die sich weit aus dem Fenster eines
Hauses am Ende der Straße lehnte, „er ist tot!“
Aber Parkhurst lebte noch, wie Byrd wenig später feststellte. Er zog den
Bewusstlosen auf den Bürgersteig, während Lord Hartleigh damit beschäftigt
war, den Kindern verschiedene Aufträge zu erteilen: Ein Arzt, ein Wachmann
und ein Straßenkehrer, der die Scherben der Lampe entfernen sollte, mussten
herbeigeholt werden. Außerdem galt es, die Applegate-Schwestern, das
Blumenmädchen und verschiedene andere aufgeregte Zuschauer zu beruhigen.
In dem Durcheinander war es für Mason ein Leichtes zu verschwinden.
Sorgen machte der Viscount sich deshalb nicht. Die Bow Street Runner
kannten die Adresse der Wohnung im Dockviertel, in der Mason regelmäßig ein
und aus ging. Sie würden ihn festnehmen, ehe er eine Gelegenheit fand,
London zu verlassen.
Schließlich hatten alle sich so weit beruhigt, dass sie Lord Hartleighs
Einladung, sich in seinem Haus eine kleine Erfrischung servieren zu lassen,
annahmen. Mrs. March setzte ihnen in der Küche Tee, Sherry und Portwein vor.
Die Handwerker unterbrachen ihre Arbeit, um zunächst Byrd zu helfen, der mit
dem noch immer bewusstlosen Parkhurst beschäftigt war, und sich dann
ebenfalls etwas zu trinken zu holen.
Die Stimmung stieg. Man unterhielt sich über die aufregenden Ereignisse und
stellte Vermutungen darüber an, was die Polizei unternehmen würde, wenn sie
endlich eintraf. Das Blumenmädchen strahlte, weil der Viscount alle Blumen
gekauft hatte. Seine Absicht, sie den Applegate-Schwestern zu überreichen,
war allerdings vereitelt worden. Die beiden Damen hatten ihn keines Blickes
gewürdigt, sondern waren mit ihrem wieder eingefangenen Terrier nach Hause
geeilt.
Lord Hartleigh, der darüber nicht allzu enttäuscht war, goss sich gerade ein
Glas Port ein, als ihm der Geruch von Rauch in die Nase stieg. Auch seine Gäste
bemerkten jetzt, dass etwas nicht in Ordnung war. Wie auf einen lautlosen
Befehl hin strömten alle zurück auf die Straße.
Sir Gilliams Haus stand in Flammen. War Parkhurst unachtsam gewesen, als
er begonnen hatte, die Schuldscheine zu verbrennen? Oder hatte Mason
womöglich beschlossen, dass niemand das Haus besitzen sollte, wenn er selbst
nicht darin schalten und walten konnte? Wollte er aus Wut und Missgunst die
wertvollen Teppiche, die schweren Eichenmöbel, die kostbaren Gemälde und
alles andere vernichten?
„Verflucht!“ Der Viscount presste sein Taschentuch vor die Nase und rannte
auf den Eingang des Hauses zu.
„Captain“, schrie Byrd, „es gibt dort nichts, für das Sie Ihr Leben riskieren
sollten!“
Ohne sich auch nur umzuschauen, betrat Lord Hartleigh das brennende
Gebäude. Wenn Mason noch dort war, dann würde er ihn finden und ihn zur
Rechenschaft ziehen! „Mason!“ rief er, wobei seine Stimme durch das
Taschentuch gedämpft wurde. „Mason, wo sind Sie?“
Nur das Knistern des Feuers antwortete ihm.
Da die Treppe bereits in Brand stand, konnte er in den oberen Stockwerken
nicht nachschauen. Also beschränkte er sich darauf, in den Zimmern im
Erdgeschoss zu suchen. Mason war nicht da. Der Rauch wurde immer dichter,
die Hitze immer unerträglicher. Noch einmal rief Lord Hartleigh laut nach
Mason. Dann riss er die Hintertür auf und stolperte laut hustend in den Garten
hinaus.
Er wäre beinahe über den reglosen Körper gestürzt, der ausgestreckt auf dem
Boden lag. Nein, das war nicht ganz richtig: Er lag zur Hälfte in einem frisch
gegrabenen Loch.
Zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit entfuhr dem Viscount ein Fluch. Dann
beugte er sich zu dem gestürzten Mason hinab.
Der Mann war tot. Offenbar war er in ein von Gladiator frisch gegrabenes
Loch getreten und gestolpert. Dabei musste er sich das Genick gebrochen
haben.
„Ich habe doch immer gewusst, dass Tor ein guter Hund ist“, murmelte Lord
Hartleigh.
„Pippa und ich werden London verlassen“, verkündete Carissa. „Es ist hier
einfach zu gefährlich. Brennende Häuser und gewalttätige Männer! Mir
reicht’s!“ Sie warf Lord Hartleigh einen herausfordernden Blick zu.
Der Viscount hustete. Das war eine der Folgen seines Eindringens in das in
Flammen stehende Haus. Andere Folgen waren verschiedene kleinere
Verbrennungen und eine tiefe Schnittwunde an der rechten Hand. Er wusste
selber nicht, wie er sie sich zugezogen hatte.
„Es ist alles meine Schuld“, murmelte er, nachdem sein Hustenanfall endlich
vorbei war. „Ich hätte wissen müssen, dass Mason und Parkhurst sich nicht
ohne weiteres geschlagen geben würden. Ich hätte besser auf sie Acht geben
müssen. Dann könnten Sie jetzt in Ihr Haus einziehen, Carissa.“
„Welch ein Unsinn! Es war nicht mein Eigentum, und ich wäre nie wieder dort
eingezogen.“
„Es war Ihr Haus“, wiederholte Lesley. Dann griff er in die Tasche seines
rußverschmierten, nach Rauch stinkenden Rocks und zog die Papiere hervor,
die Parkhurst unterschrieben hatte.
Carissa nahm die beiden Blätter, las und schluckte. „Oh Gott“, murmelte sie
schließlich, „das haben Sie für mich getan?“
Er schenkte ihr sein unwiderstehliches Lächeln.
Es verfehlte seine Wirkung. Carissa warf die Papiere auf den Tisch und stürzte
aus dem Zimmer.
Es war nicht leicht gewesen, Carissa davon zu überzeugen, dass es falsch wäre,
dem Haushalt des Viscount den Rücken zu kehren. Doch schließlich war es
Lesley, Byrd und Mrs. March mit vereinten Kräften gelungen, sie zum Bleiben zu
bewegen. Allerdings blieben sie nicht in London. Sie siedelten nach Hart’s Rest,
Lord Hartleighs Landsitz in Norfolk, über.
Mehrere Kutschen waren nötig, um den Umzug zu bewältigen, denn Lesley
hatte darauf bestanden, dass auch alle Dienstboten, die sie in Kensington
beschäftigt hatten, mitkommen sollten. Gladiator, Cleo, Pippas Pony und Tante
Matties Kanarienvogel waren ebenfalls mit von der Partie.
Es wurde eine anstrengende Fahrt. In der Kutsche, die Carissa sich mit Pippa,
Maisie, Sue und Tante Mattie samt ihrem Kanarienvogel teilte, herrschte
schlechte Luft, denn die Fenster mussten geschlossen bleiben, weil der Vogel
keinen Zug bekommen durfte. Maisie litt unter Reisekrankheit, Sue war
unruhig, und Pippa hatte wieder begonnen, am Daumen zu lutschen.
Carissa seufzte tief auf und ließ den Blick zum Fenster wandern. Manchmal,
wenn die Straße eine Kurve machte, konnte sie den offenen Landauer sehen, in
dem Lord Hartleigh, Byrd und Gladiator reisten. Dann fühlte sie, wie gleichzeitig
Neid, Zorn, Dankbarkeit und Liebe Besitz von ihr ergriffen. Neid, weil sie in der
geschlossenen Kutsche eingesperrt war; Zorn, weil der Viscount sie nicht gehen
ließ, sondern darauf bestand, sich für sie verantwortlich zu fühlen; Dankbarkeit,
weil er so viel für sie getan hatte; und Liebe – weil sie es einfach nicht
verhindern konnte.
Dabei wusste sie genau, dass diese Liebe aussichtslos war. Wie hätte Lesley –
wie hätte überhaupt irgendein Mann – den Wunsch verspüren können, sie zu
heiraten, nachdem sie ein solches Durcheinander in ihrem Leben angerichtet
hatte?
In den ersten Tagen, nachdem sie Hart’s Rest, ein imposantes Anwesen,
erreicht hatten, war Carissa so damit beschäftigt, die aktuellen, in Folge des
Umzugs auftretenden Probleme zu lösen, dass sie wenig Zeit fand, an die
Vergangenheit und an die Zukunft zu denken.
Das dort beschäftigte Personal war seit Jahrzehnten im Dienst der Familie.
Butler, Haushälterin, Lakaien und Dienstmädchen waren ausnahmslos alt,
freundlich und ihrem Herrn gegenüber vollkommen loyal. Die Arbeiten
allerdings, die durch die Neuankömmlinge entstanden, konnten sie nicht mehr
allein verrichten.
Die drei Ältesten, unter ihnen die Köchin, nahmen das Angebot, sich mit
einer ausreichenden Pension zur Ruhe zu setzen, dankbar an. Einen Tag später
bat auch der Gärtner darum, in den Ruhestand gehen zu können. Tor hatte
begonnen, in dem mühsam gepflegten Garten Löcher zu buddeln.
Für Carissa und all die Bediensteten, die mit ihr und dem Viscount von
London gekommen waren, gab es also mehr als genug zu tun. Viele der Räume
von Hart’s Rest waren seit Jahren nicht mehr benutzt worden. Sie mussten
gründlich gereinigt und zum Teil neu eingerichtet werden. Es gab eine
Unmenge an Bettwäsche, Tischdecken und ähnlichem zu waschen und zu
bügeln. Da manches auch von Motten angefressen war, brachte Tante Mattie
den jungen Dienstmädchen bei, Näh- und Flickarbeiten auszuführen.
Carissa war so beschäftigt, dass sie gar nicht merkte, wie gering ihr
Bewegungsfreiraum war. Sobald sie das Haus verließ, schloss sich einer der
Lakaien ihr an. Lord Hartleigh hatte dafür gesorgt, dass sie niemals ohne Schutz
war.
Der Viscount nutzte unterdessen die Zeit, um sich mit seinem Verwalter zu
besprechen, sich selbst vom Zustand seines Besitzes zu überzeugen und die
Pächterfamilien zu besuchen. Er war viel unterwegs. Dennoch sah Carissa ihn
wieder öfter als während der letzten Wochen in London. Sie war glücklich
darüber – obwohl sie sich immer wieder in Erinnerung rief, dass ihre Liebe zu
ihm keine Zukunft hatte.
Auch Pippa war glücklich. Endlich fand Lord Hartleigh wieder Zeit, mit ihr
auszureiten. Außerdem konnte sie nach Herzenslust mit Sue spielen und mit
Gladiator im Freien herumtoben. Direkt beim Haus gab es nämlich einen
großen, von einer hohen Mauer umgebenen Küchengarten, in dem sie sich frei
bewegen durfte. Bald schon war ihr kleines Gesicht sonnengebräunt. Ihre
Augen glänzten, und am Daumen lutschte sie nur noch vor dem Einschlafen.
Tante Mattie hatte schnell Kontakt gefunden. Sie empfing Besuche oder war
selbst unterwegs, um anderen ihre Aufwartung zu machen. Sie wirkte zehn
Jahre jünger als in London und drängte ihre Nichte, sich nicht vom
gesellschaftlichen Leben auszuschließen. Bald schon gab es die ersten Dinner-
Parties, Whist-Abende, Picknicks und Tanzveranstaltungen, an denen Lord
Hartleighs Nachbarn gern teilnahmen.
Carissa wurde von allen freundlich und mit Respekt behandelt. Anscheinend
hatten die Londoner Gerüchte ihren Weg nicht bis nach Norfolk gefunden.
Niemand unterstellte ihr, die Geliebte des Viscount zu sein, Und dessen Güte
dem Findelkind Sue gegenüber wurde allgemein gelobt.
Geschickt gelang es Lord Hartleigh, die Sympathie, die man ihm
entgegenbrachte, zugunsten von Carissa auszunutzen. So wies er seine Pächter
beispielsweise darauf hin, dass ihre Gattinnen sich nicht scheuen sollten, die
Dame um Rat zu fragen. Es dauerte nicht lange, da tauschte diese mit den
Pächterfrauen Kochrezepte und Tipps zur Gartenpflege aus. Vor allem aber
sorgte sie dafür, dass nicht nur die Jungen, sondern auch die Mädchen die
Chance erhielten, lesen, schreiben und rechnen zu lernen.
Das Leben war angenehm – viel angenehmer, als Carissa je für möglich
gehalten hätte. Manchmal gelang es ihr sogar zu vergessen, welche Bedrohung
Phillip Kane alias Cantwell noch immer für sie und Pippa darstellte. Gelegentlich
wagte sie sogar zu hoffen, dass Lesley sie eines Tages doch noch heiraten
würde. Seit London hatte er sie allerdings nicht mehr darauf angesprochen.
Hatte er es sich anders überlegt? Oder wartete er darauf, dass seine Anwälte
ihm eine verbindliche Auskunft darüber geben konnten, ob sie nun eine ledige
Mutter, eine Witwe oder womöglich doch eine noch immer verheiratete Frau
war?
Pippa, die von solchen Überlegungen nichts ahnte, dachte über ganz andere
Dinge nach – zum Beispiel darüber, wo sich in Hart’s Rest oder im Pfarrhaus und
dem dazu gehörigen großen Garten die besten Verstecke befanden. Seit einiger
Zeit hatte sie nämlich zum ersten Mal in ihrem Leben gleichaltrige
Spielgefährten. Die Kinder des Pfarrers hatten sich mit ihr angefreundet, und
seitdem gehörte das Versteckspiel neben dem Reiten zu Pippas
Lieblingsbeschäftigungen.
Es war ein herrliches Spiel, solange man alle, die mitmachten, auch fand.
Doch eines Tages war Pippa nirgends zu finden.
In kürzester Zeit hatte der Viscount einen Suchtrupp zusammengestellt. Ein
Teil der Männer suchte die nähere und weitere Umgebung des Pfarrhauses ab.
Einige Berittene schickte der Viscount zu den weiter entfernt liegenden
Farmen, den Scheunen und vor allem zu den leer stehenden Cottages. Alle
Helfer hatten eine Beschreibung von Phillip Cantwell erhalten, und alle waren
bewaffnet. Denn Lord Hartleigh wusste sehr wohl, dass Cantwell wahrscheinlich
zu jeder Schandtat fähig war.
Ein paar Bow Street Runner, die sich auf Anweisung des Viscount in Norfolk
aufhielten, beteiligten sich auch an der Suche. Und sogar Inspektor Nesbitt
selbst traf innerhalb kürzester Zeit aus London ein. Er versicherte Carissa, dass
Cantwell ihrer Tochter nichts antun würde. „Bald werden Sie einen Brief mit
einer Lösegeldforderung erhalten, Mylady. Und dann können wir zuschlagen.“
Der Brief kam tatsächlich. Er war, um einen Stein gewickelt, durchs Fenster
des Schulhauses geworfen worden. Und er lautete: Carrie, wenn du nicht willst,
dass die Kleine stirbt, dann komm morgen um neun allein zur Kreuzung an der
Zollschranke und bring 2000 Pfund mit.
„Das bedeutet, dass er sich noch in der Nähe aufhält“, stellte der Viscount
fest. „Wir haben also noch die ganze Nacht, um ihn zu finden.“
„Lasst ihn in Ruhe“, bat Carissa. „Ich will nicht, dass Pippa in Gefahr gebracht
wird!“
Lesley umfasste ihre Schultern. „Vertrauen Sie mir. Sie müssen doch wissen,
dass ich alles tun werde, damit Pippa keinen Schaden nimmt.“
Carissa erwiderte seinen Blick und nickte schließlich.
Inspektor Nesbitt hatte mit gerunzelter Stirn zugehört. „Inzwischen ist schon
praktisch jedes Versteck in der Gegend abgesucht worden. Ich weiß wahrhaftig
nicht, wo wir noch nachschauen könnten. Aber auf jeden Fall werden wir
Männer im Umkreis der Zollstation postieren.“
„Gut, treffen Sie zusammen mit Byrd alle notwendigen Vorbereitungen“,
meinte Lord Hartleigh. „Ich selber werde mich noch einmal mit Gladiator auf
den Weg machen. Ich habe da eine Idee.“
Carissa war wütend. „Sie wollen den Hund mitnehmen und mich hier lassen?
Es geht um meine Tochter, und der Brief war an mich gerichtet.“
Schließlich gab Lesley nach. Wenig später ritt er, begleitet von Carissa und
dem Hund, zum Pfarrhaus.
Zunächst schien Tor einfach nur erfreut darüber zu sein, dass er in einem
fremden Garten nach Mäusen graben konnte. Dann jedoch begann er plötzlich
nach etwas anderem zu schnüffeln. Zielstrebig lief er voran, senkte den Kopf –
und fraß ein Stück Ingwerkeks.
„Dem Himmel sei Dank“, murmelte Lord Hartleigh. „Pippa ist wirklich ein
schlaues kleines Mädchen.“
Tatsächlich hatte Pippa eine richtige Spur aus Krümeln gelegt, der der Hund
– und mit ihm Lesley und Carissa hoch zu Pferd – entschlossen folgte. Als
schließlich keine Keksbrösel mehr da waren, hatte der Viscount eine recht
genaue Vorstellung davon, wo Cantwell sich mit Pippa aufhalten würde.
Warum, bei Jupiter, hatte er nicht eher daran gedacht? In dem Wald, der sich
vor ihnen erstreckte, gab es eine verlassene Holzfällerhütte.
Kurz bevor sie die Lichtung erreichten, banden sie ihre Pferde an einen
Baum, um sich der Hütte unauffällig nähern zu können. Doch Tor machte ihren
Plan zunichte. Laut kläffend stürzte er plötzlich auf die Lichtung. Und als Lesley
und Carissa wenig später eintrafen, hatte Cantwell seine Tochter bereits aus der
Hütte hinausgezerrt. Er stand mit ihr vor der Tür und hielt dem Mädchen eine
Pistole an die Schläfe.
„Ich wusste, dass Sie kommen würden“, meinte er mit einem boshaften
Grinsen zu Lord Hartleigh. „Immer der edle Held, nicht wahr? Los, ab in die
Hütte. Aber vorher will ich mein Geld haben.“
„Dies ist alles, was ich habe.“ Lesley hielt ihm eine gut gefüllte Börse hin.
Doch Cantwell nahm die Pistole nicht von Pippas Schläfe. „Werfen Sie das
Geld vorsichtig herüber.“
Der Viscount gehorchte. „Nun, da Sie haben, was Sie wollten, können Sie das
Mädchen frei lassen.“
Cantwell lachte. „Unsinn! Ich brauche die Kleine noch. Sie garantiert mir,
dass niemand mich aufhält, wenn ich die Gegend verlasse.“
„Nein, Phillip“, schrie Carissa, „bitte, gib mir Pippa zurück!“
„Meine Tochter kommt mit mir. Nicht wahr, Pippa, mein Schätzchen?“
„Ich bin nicht Ihr Schätzchen und auch nicht Ihre Tochter“, gab das Kind
überraschend selbstbewusst zurück. „Lord Hartleigh hat mir versprochen, dass
ich seine Tochter werden soll.“
„Wie großzügig!“ Cantwell lachte noch immer. „Also gut, Carrie. Ich will mich
ebenfalls großzügig erweisen. Ich lasse die Kleine bei der Zollschranke. Da
könnt ihr sie euch holen. Aber jetzt erst einmal ab in die Hütte! Der Hund auch!
Und betet darum, bald gefunden zu werden.“
Da sie keine andere Wahl hatten, ließen Lesley und Carissa, die in Tränen
ausgebrochen war, sich in der Hütte einschließen. Gleich darauf hörten sie
Pferdegetrappel. Cantwell ritt mit Pippa davon.
Lesley schloss Carissa tröstend in die Arme. „Wir werden Pippa gesund
zurückbekommen, das verspreche ich Ihnen. Kommen Sie, Darling, hören Sie
auf zu weinen. Wir wollen einen Weg suchen, aus dieser Hütte
herauszukommen!“
Es war Gladiator, der den Weg fand. Wie es seine Art war, hatte er sogleich
mit der Mäusejagd begonnen. Glücklicherweise befand sich das Mauseloch, das
er sich ausgesucht hatte, direkt an der Außenwand. Ermuntert und schließlich
auch unterstützt von Lord Hartleigh grub der Hund wie verrückt. Dann war das
Loch so groß, dass er sich hindurchzwängen konnte.
„Sie als Nächstes“, forderte Lesley Carissa auf.
Mit Tränen in den Augen schüttelte sie den Kopf. „Ich kann nicht, da sind
Mäuse und Würmer.“
Der Viscount stieß einen Fluch aus. „Da draußen ist Ihre Tochter!“
Wenig später trieben sie ihre Pferde in Richtung Zollstation.
Da Lord Hartleigh die Gegend weitaus besser kannte als Cantwell, erreichten
sie die Zollschranke noch vor diesem. Mit einem Pfiff machte Byrd sie darauf
aufmerksam, dass auch er und ein paar andere Männer bereits eingetroffen
waren. Hinter ein paar Büschen gingen Carissa und Lesley in Deckung.
Unendlich langsam schlichen die Minuten dahin. Als Carissa bereits zu
fürchten begann, dass Phillip einen anderen Weg gewählt hatte, hörte sie in der
Ferne Pferdegetrappel. Das Pferd kam näher – und auf ihm Pippa mit ihrem
Vater.
Lord Hartleigh trat auf die Straße hinaus. „Geben Sie mir das Kind, Cantwell“,
befahl er, „dann können Sie unbelästigt weiterreiten.“
Er lachte und richtete die Pistole auf den Viscount.
„Nein, Gladiator!“ rief dieser, obwohl der Hund nirgends zu sehen war. „Bleib
da. Er ist bewaffnet.“
Cantwell schaute sich um. Und in diesem Moment schlug Pippa ihn mit aller
Kraft auf die Nase.
„Verdammt!“ Wütend stieß er die Kleine von sich. Sie fiel zu Boden, und
schon warf Carissa sich über sie. Ihre weinende Tochter in den Armen haltend,
lag sie im Staub und wagte nicht, sich zu rühren. Voller Entsetzen hörte sie, wie
mehrere Schüsse fielen.
Dann spürte sie Lesleys Hand auf der Schulter. „Es ist vorbei“, sagte er
beruhigend. „Cantwell wird euch nie wieder ängstigen. Er ist tot. Kommt, wir
wollen nach Hause reiten.“
Später – Pippa war erschöpft eingeschlafen – klopfte Lord Hartleigh an Carissas
Tür. Er war elegant gekleidet und hielt eine Flasche Wein in der Hand.
Carissa hatte zwischen Hoffnung und Furcht hin- und hergerissen auf ihn
gewartet. Jetzt erschien ein unsicheres Lächeln auf ihrem Gesicht. „Lesley“,
sagte sie weich.
Er trat auf sie zu und schloss sie in die Arme. „Nun, mein Schatz, bist du
endlich bereit, Lady Hartleigh zu werden?“
Sie barg den Kopf an seiner Schulter. „Bist du dir denn ganz sicher, dass du
das möchtest? Es wird eine Menge Gerede geben, wenn wir heiraten. Und du
könntest ...“
„Ich könnte keine bessere Gattin finden als dich“, fiel er ihr ins Wort. Und
damit sie ihm nicht aufs Neue widersprechen konnte, verschloss er ihr den
Mund mit einem langen, leidenschaftlichen Kuss.
Beide waren außer Atem, als er sie schließlich freigab. „Ich habe dir etwas
mitgebracht“, verkündete er und zog einen Umschlag aus der Rocktasche.
„Eben ist ein Bote aus London eingetroffen. Er brachte Sir Gilliams letzten
Willen mit. Ein Runner hat das Papier in Masons Wohnung im Dockviertel
gefunden. Das Testament ist zwei Jahre alt, und du bist als Haupterbin
eingesetzt.“
„Oh Gott“, murmelte Carissa.
„Da dein Haus in Kensington im Moment unbewohnbar ist, dachte ich, es
wäre am besten, wenn ich dir die Entscheidung überlasse, in welchem meiner
Häuser du während der nächsten Monate leben möchtest, als meine Gattin
natürlich. Hier ...“, er zog einen weiteren Umschlag hervor, „ist eine
Sonderlizenz. Wir können gleich morgen heiraten, wenn es dir recht ist.“
„Lass uns die Hochzeit noch um einige Tage verschieben. Ich würde gern
deine Patin, die Duchess of Castleberry, und ein paar andere gute Freunde dazu
einladen. Aber ...“, Carissa schaute ein wenig scheu zu ihm auf, „die
Hochzeitsnacht könnten wir vielleicht vorziehen.“
„Du bist die klügste, tapferste, schönste und wunderbarste Frau, die mir je
begegnet ist“, flüsterte Lesley, während er begann, die Knöpfe an Carissas Kleid
zu öffnen.
– ENDE –