Metzger, Barbara Was das Herz begehrt

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Barbara Metzger

Was das Herz begehrt

Roman

Aus dem englischen von Sabine Schlimm

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Die junge Marisol Pendenning, Duchess of Denning, muss ihren kleinen Sohn
allein großziehen, denn ihr untreuer Gatte, der wesentlich ältere Duke, wurde
unter mysteriösen Umständen in London erschossen. Dass er in seinem
Testament ausgerechnet den Earl of Kimbrough zum Vormund seines Sohnes
bestimmt, ist für Marisol rätselhaft. Obwohl er als Feind des Duke galt, fühlt sie
sich stark zu dem attraktiven Adligen hingezogen. Fast schämt sie sich dafür,
dass ihr Herz in des Earls Nähe höher schlägt, denn die Gerüchte, dass er den
Tod ihres Gatten zu verantworten hat, wollen kein Ende nehmen …

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Die englische Originalausgabe erschien 1994 unter dem Titel A Suspicious Affair bei Fawcett Crest, New

York.

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Copyright der Originalausgabe © 1994 by Barbara Metzger

Genehmigte Lizenzausgabe © 2014 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg

Published by arrangement with Barbara Metzger

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.

© der deutschen Übersetzung Harlequin Enterprises GmbH, Hamburg, 2004

Übersetzung: Sabine Schlimm, (A SUSPICIOUS AFFAIR)

Covergestaltung: Atelier Seidel - Verlagsgrafik, Teising

Titelmotiv: © Romance Novel Covers

E-Book-Produktion: Datagroup int. SRL, Timisoara

ISBN 978-3-95569-209-4

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1. KAPITEL

„Tatsachen sin’ Tatsachen“, erklärte Jeremiah Dimm. „Daran kann noch nich’
mal ein Duke was ändern.“ Er knöpfte die rote Weste auf und lehnte sich in
dem bequemen Sessel zurück. Zufrieden seufzend beobachtete er, wie sein
Sohn einen Eimer heißes Wasser in die Schüssel goss, in die er die
schmerzenden Füße gestellt hatte. Dann seufzte er erneut und zog seinen
Glücksbringer aus der Westentasche. Man musste dem Jungen beizeiten die
Grundlagen des Geschäfts beibringen, wenn er einmal ein ebenso guter
Verbrecherjäger werden sollte wie sein Vater.

„Hör gut zu, Gabriel. Tatsachen sin’ genau wie der Stein hier.“ Er ließ ihn an

der Schnur vor Gabriels Augen baumeln. „Wie man ihn auch dreht un’ wendet,
er is’ immer derselbe. Aber ’n Verdacht – der is’ aalglatt und trügerisch. Deshalb
muss man höllisch Acht geben, damit er auch zu den Tatsachen passt.“

Der Junge nickte eifrig. „So wie in dem Denning-Fall.“
Zustimmend wiederholte Mr. Dimm: „So wie bei dem Denning-Fall. Klar kann

man der Duchess die Sache anhängen. Nix einfacher als das. Man hat sie am
Tatort gesehen, sie hat zugegeben, dass sie sich mit Denning gestritten hatte,
und ’n Motiv hat sie weiß Gott auch. Aber.“

Dimm junior beugte sich vor. „Aber es passt nicht?“
Der ältere Mr. Dimm streckte die Hand nach seinem Notizbuch aus. „Wenn du

mich fragst – es passt viel zu gut. Genau wie ’n Dutzend anderer Theorien auch.
Problem is’, es gibt nich’ genügend Fakten. Un’ damit – ade, schnelle Lösung.
Der Boss wird nich’ grad begeistert sein.“

In der Hoffnung, seinen Vorgesetzten in der Bow Street doch noch zufrieden

stellen zu können, zog der Konstabler erneut seine Notizen zurate. Aber was er
bisher zusammengetragen hatte, war verteufelt wenig.

An jenem Nachmittag im November war die Duchess of Denning brieflich

aufgefordert worden, sich zu der Gasse zu begeben, die am Portman Square
zwischen Denning House und dem benachbarten Armbruster House verlief. Dort
fand Ihre Gnaden die geschlossene Kutsche ihres Gatten vor. Als sie den Schlag
öffnete, erwischte sie den Duke in flagranti mit Lady Armbruster. Daraufhin
erklärte die Duchess lautstark ihre Absicht, sich aufs Land zurückzuziehen. Dort
wolle sie die bevorstehende Geburt ihres Kindes erwarten, und zwar mit oder
ohne den Duke, zur Hölle mit ihm! Lady Armbruster verließ unterdessen das
Gefährt fluchtartig auf der anderen Seite. Bis zu diesem Punkt stimmten die
Zeugenaussagen der beiden Damen überein. Danach trat die Duchess den
Heimweg an. Die Dienstboten saßen noch beim Essen, als sie Denning House
durch die Seitentür betrat und in ihr Schlafzimmer ging. Dort fand die Zofe ihre
Herrin vor, als die Konstabler Einlass begehrten.

Die Fakten waren so dünn gesät wie Weizen in der Wüste. Mr. Dimm hatte

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den Brief, der nach Aussage des Butlers von einem Straßenjungen abgegeben
worden war. Er hatte Lady Armbrusters Pantoletten, die in der Kutsche des
Duke zurückgeblieben waren. Er hatte eine kürzlich abgefeuerte Duellpistole,
deren Gegenstück immer noch in Dennings Schreibtischschublade lag, und er
hatte einen sehr toten Duke.

Als man ihm den Fall übertrug, stand keine der beiden beteiligten Damen für

eine Befragung zur Verfügung. Einer der Konstabler hatte gerade noch die
Aussage Ihrer Gnaden aufnehmen können, bevor ihr der Arzt ein starkes
Beruhigungsmittel gab. Lady Armbruster hatte das Wenige, was sie wusste, zu
Protokoll gegeben – ständig unterbrochen von dem hysterischen Ausruf: „Ich
bin ruiniert! Ich bin ruiniert!“ Danach hatte sie sich mit Hilfe einer großzügigen
Dosis Laudanum in Morpheus’ Arme geflüchtet.

Bedächtig wiegte Mr. Dimm den Kopf. Wie er die feine Gesellschaft kannte,

hatten sich die Türen von Almack’s für Lady Armbruster nun auf ewig
geschlossen, das war klar wie Kloßbrühe. Und er kannte den ton wahrlich in-
und auswendig. Deshalb hatte der Boss den Fall ja in seine fähigen Hände
gelegt.

Da Mr. Dimm die beiden Hauptbeteiligten nicht befragen konnte, blieb ihm

nur, wenigstens die Bediensteten, Nachbarn sowie die Verwandten und
Bekannten des herzoglichen Paares unter die Lupe zu nehmen. Diese Aufgabe
führte ihn kreuz und quer durch London: in Dienerzimmer und Herrenclubs, in
Salons und Kaschemmen. Am Ende des Tages hatte er außer schmerzhaften
Blasen an den Füßen jede Menge Klatsch und Tratsch vorzuweisen. Zwar gab es
weder Zeugen für das Verbrechen noch brauchbare Indizien. Aber die
gesammelten Informationen reichten immerhin aus, um eine dreiseitige
Verdächtigenliste aufzustellen. Darin war jedes nur erdenkliche Mordmotiv
verzeichnet, und fast niemand verfügte über ein hieb- und stichfestes Alibi.
Eigentlich überraschte Mr. Dimm inzwischen nur noch, dass Arvid Pendenning,
Duke of Denning, nicht schon viel früher der Garaus gemacht worden war.

Als Jeremiah Dimm endlich spät in der Nacht nach Kensington zurückkehrte,

kam ihm sein Häuschen ungewohnt still vor: kein Geschnatter, keine
Streitereien, kein Töpfeklappern wie sonst. Behaglich lehnte er sich zurück und
zündete sich ein Pfeifchen an. Er könnte eine friedliche Stunde am Kamin
genießen – wären da nicht die drückende Verantwortung für den kniffligen Fall
und seine geschwollenen Füße.

Während der Pfeifenrauch zur Decke stieg, nahm er sich noch einmal seine

Notizen vor. Als Erstes hatte er sich die Dienerschaft von Denning House zur
Brust genommen, die gerade das Ableben ihres Dienstherrn feierte. Offenbar
war Seine Gnaden ein Halunke gewesen, der seinesgleichen suchte. Während
für ihn selbst kein Luxus zu extravagant war, gab er zu Hause den tyrannischen
Geizhals. Die Diener mussten sich von ihm anbrüllen lassen, und von den

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Hausmädchen war keines vor seinen Übergriffen sicher. Wenn er zu viel
getrunken hatte, was häufig vorkam, wurde er gewalttätig. Erregte ein
Dienstbote aus irgendeinem nichtigen Grund sein Missfallen, fand sich der
Unglückliche im Handumdrehen auf der Straße wieder. Indes mussten auch die
anderen ständig fürchten, ihren Lohn nicht ausgezahlt zu bekommen.

Die gesamte Dienerschaft versicherte allerdings einstimmig, dass sich die

Verhältnisse sehr gebessert hatten, seit vor drei Jahren die Duchess ins Haus
gekommen war. Etliche weigerten sich zu glauben, dass eine so gutherzige,
freundliche Frau einen kaltblütigen Mord begehen konnte. Die anderen zeigten
Verständnis dafür, dass sie ihn begangen hatte – insbesondere in ihren
Umständen.

Dimm hegte keinen ernsthaften Verdacht gegen das Personal. Seit einem

Jahr hatte es keine Entlassung mehr gegeben. Das Leben unter der Duchess war
erträglich, und halbwegs gute Stellungen waren nicht einfach zu finden.
Außerdem verfügten alle Dienstboten über ein Alibi, da sie zum mutmaßlichen
Tatzeitpunkt gemeinsam im Dienerzimmer zu Tisch gesessen hatten.
Ausgenommen waren lediglich der Koch und die zwei Küchenhilfen, die bereits
das Dinner für die Herrschaft vorbereiteten, sowie die Zofe der Duchess und der
Kammerdiener des Duke. Eleanor Tyson, die Zofe, plättete das Kleid, das Ihre
Gnaden zum Dinner tragen wollte, während Purvis, der Kammerdiener, im
Bügelzimmer darauf wartete, mit den Krawattentüchern seines Herrn an die
Reihe zu kommen. Bei dieser Aussage hatte der befragte Lakai viel sagend die
Nase kraus gezogen. Offensichtlich war Purvis hinter Tyson her und nutzte
jeden nur denkbaren Vorwand, in ihrer Nähe zu sein. Sei’s drum. Dimm zuckte
die Schultern und blätterte in dem Notizbuch eine Seite um.

Selbst die Dienstboten, welche die Duchess empört in Schutz nahmen,

mussten einräumen, dass die Dinge in der herzoglichen Ehe nicht zum Besten
gestanden hatten. Miss Marisol Laughton hatte in ihrer ersten Saison den
Antrag des Duke angenommen, weil ihre Familie am Rande des Ruins schwebte
und ihr Bräutigam versprach, diesem Zustand abzuhelfen. Arvid Duke of
Denning hatte sich eine fast zwanzig Jahre jüngere Frau erwählt, weil sie den
Ruf einer Unvergleichlichen hatte und er einen Erben brauchte. Weder hatte er
nach der Hochzeit ihrem Bruder das versprochene Offizierspatent verschafft
noch ihre Tante unterstützt. Die Duchess wiederum war drei Jahre lang nicht
schwanger geworden. So waren beider Erwartungen enttäuscht worden.
Dennoch versicherte die Dienerschaft übereinstimmend, dass die Duchess bei
dem Abkommen schlechter weggekommen war. Widerstrebend gab die Zofe
preis, dass sie mitunter die Prellungen auf der hellen Haut ihrer Herrin unter
einer Puderschicht hatte verbergen müssen. Glücklicherweise ergab sich die
Notwendigkeit weniger häufig, seit die Duchess of Denning gesegneten Leibes
war. Doch je näher der Zeitpunkt der Niederkunft rückte, desto häufiger stritten

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sich die Eheleute.

Jeder, vom hochnäsigen Butler bis zur letzten Küchenmagd, wusste, dass Ihre

Gnaden sich am liebsten auf den Familiensitz in Berkshire zurückgezogen
hätte. Dort wartete die Kinderstube darauf, hergerichtet zu werden, und die
saubere Landluft hätte der Duchess gut getan. Aber alle hatten den Duke
brüllen hören, dass er keineswegs gewillt war, für ein zimperliches
Frauenzimmer auf die Vergnügungen der Londoner Saison zu verzichten.
Niemand in ganz London glaubte, dass die Ehe der Dennings auf Liebe
gegründet war. Aber beging eine Dame in dem delikaten Zustand der Duchess
– siebeneinhalb Monate, um genau zu sein – einen kaltblütigen Mord? Oder
einen hitzigen, nachdem sie ihren Mann in den Armen einer anderen erwischt
hatte?

Mr. Dimm sog an dem Mundstück der Pfeife. Er bezweifelte es. Ohnehin stand

eine Verurteilung nicht zu erwarten. Wenn die zweifellos teuren Anwälte der
Duchess ihr Geld wert waren, machten sie zeitweilige Unzurechnungsfähigkeit
geltend. Jeder wusste, dass sich schwangere Frauen häufig verflixt merkwürdig
benahmen. Dimm setzte ein großes Fragezeichen neben den Namen der
Duchess und blätterte weiter.

Lady Armbruster – nun, da sah die Sache ganz anders aus. Der Aussage des

Konstablers und dem Dienstbotentratsch zufolge war ihr eine Wahnsinnstat
ohne weiteres zuzutrauen. Selbst bevor man ihr mitteilte, dass ihr Geliebter tot
war, konnte man aus ihrem hysterischen Gekreische kaum schlau werden.
Angenommen, sie wäre nach dem Weggang der Duchess zu der Kutsche
zurückgekehrt und hätte entdeckt, dass Denning seiner Frau tatsächlich nach
Berkshire folgen wollte – ihr Ruf, wenn man von einem solchen überhaupt noch
sprechen konnte, wäre für nichts und wieder nichts ruiniert gewesen. „Da
werden Weiber zu Hyänen“, murmelte Dimm vor sich hin.

Allerdings setzte der Verdacht gegen Lady Nerissa Armbruster voraus, dass

die Mordwaffe bereits in der Kutsche gelegen hatte. Selbst ein blaublütiges
Frauenzimmer, das an den Qualen unerwiderter Liebe litt, schlich wohl kaum in
das Haus des Geliebten, um dort eine Pistole zu entwenden und ihn damit zu
erschießen, wenn die Duellwaffen des eigenen Ehemannes bei der Hand waren.

Dimm notierte sich, am Morgen den Kutscher dazu zu befragen. Jeder feine

Pinkel steckte ein Schießeisen ein, wenn er Londons Elendsviertel passieren
musste. Dann konnte aber auch jeder Dahergelaufene den Duke mit der
eigenen Waffe erschossen und nachher die Beine in die Hand genommen
haben. Allerdings fehlten weder Dennings Geldbörse noch die Diamantnadel.
Dimm ging daher nicht davon aus, dass Seine Gnaden das Opfer eines
zufälligen Raubüberfalls geworden war.

Der Nächste auf der Liste war Lord Armbruster. Hmm. Der eifersüchtige

Ehemann kommt nach Hause und sieht seine Gattin kopflos durch den

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Vorgarten rennen. Dabei schreit sie wie eine Besessene, sie sei ruiniert. Auf der
anderen Seite der Hecke knöpft sich der Duke of Denning gerade die Hose zu.
Lord Armbruster reißt die Pistole an sich und schießt dem Rivalen mitten ins
Herz.

Dimm nickte. Die Vorstellung hatte etwas für sich. Aber wer hatte den Brief

an die Duchess geschickt? Zudem hatte Lord Armbruster ausgesagt, dass er
schließlich nicht jeden Mann erschießen konnte, mit dem seine Frau schlief,
weil sonst im Oberhaus des Parlaments lediglich die Achtzigjährigen übrig
blieben. Allerdings lieferte er keine überzeugende Erklärung, wo er sich zur
Tatzeit aufgehalten hatte. Dimm musste den Butler Seiner Lordschaft
schmieren, um zu erfahren, wo Armbruster sein Liebesnest unterhielt. In der
kleinen Wohnung in der Half Moon Street hatte er jedoch niemanden
angetroffen. Dimm setzte einen erneuten Besuch auf die Liste für den nächsten
Tag – gleich hinter Lady A. und die Witwe und die Pistole.

Vielleicht wollte jemand mit dem Schuss die Schmach rächen, die der Duke

seiner Frau angetan hatte – beispielsweise ihr Bruder, der hitzköpfige
Tunichtgut. Mit seinen zwanzig Jahren hatte Foster Laughton es noch nicht
gelernt, seine Launen zu zügeln. Was ihm fehlte, war ein Ventil für seine
überschüssige Kraft. Die Armee wäre genau das Richtige gewesen, um einen
Mann aus ihm zu machen, überlegte Dimm. Aber durch unvorsichtige
Investitionen hatte sein Vater ihn um Land und Vermögen gebracht. So lebte
der junge Lord von der Hand in den Mund, auf Gnade und Barmherzigkeit dem
Schwager ausgeliefert. Die Spatzen pfiffen es von den Dächern, dass der Duke
den Burschen kurz hielt. Statt sich wie seine Altersgenossen bei harmlosen
Vergnügungen in London zu amüsieren, geriet Foster immer wieder in
schlechte Gesellschaft. Innerlich schäumte er vor Wut, weil seine Schwester mit
dem Nadelgeld knausern musste, um ihm gelegentlich etwas zustecken zu
können. Das Erbe war futsch, die Militärlaufbahn hatte sich in Luft aufgelöst,
und die eigene Schwester musste sich erniedrigen lassen – der Stolz des jungen
Mannes war arg gebeutelt worden, wie Dimm an diesem Abend herausgefunden
hatte.

„Was fällt Ihnen eigentlich ein?“ hatte sich der junge Marquis empört und die

Reitpeitsche gegen den Konstabler gehoben. Sein gut geschnittenes Gesicht
war puterrot angelaufen, als er fortfuhr: „Mag sein, dass mein Titel nichts wert
ist, aber meine Ehre habe ich noch nicht verloren. Seit drei Jahren träume ich
davon, diesen erpresserischen Schurken für alles zu fordern, was er meiner
Schwester angetan hat. Ich habe es sogar einmal getan, aber er hat mich
lediglich ausgelacht. Daraufhin hat mir Marisol verboten, ihn noch einmal zu
reizen.“

„Duelle sin’ gesetzlich verboten“, bemerkte Dimm, ganz pflichtbewusster

Gesetzeshüter.

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Foster schnaubte verächtlich. Ja, und hätte ich diesen Wurm getötet, hätte

ich aus England fliehen müssen. Marisol hat damals gesagt, es würde ihr das
Herz brechen. Außerdem hat sie mich darauf hingewiesen, dass Denning ein
erstklassiger Schütze ist und schon zwei Männer ins Jenseits befördert hat. Und
mein Tod würde ihr erst recht das Herz brechen. Also habe ich ihr mein
Ehrenwort gegeben.“ Angewidert wandte er den Blick ab und hieb sich mit der
Peitsche gegen den Stiefelschaft. „Das Wort eines Gentleman.“

„Un’ wenn also ’n Duell nich’ infrage gekommen is’ ...?“ half Dimm nach:
„Ich habe darum gebetet, dass irgendein anderer armer Teufel die

Angelegenheit für mich erledigt. Egal was Sie denken, ich habe keinen
unbewaffneten Mann in seiner Kutsche erschossen, sosehr ich ihn auch gehasst
habe.“

Dimm neigte dazu, dem Jungspund die edlen Ehrbegriffe abzunehmen.

Andererseits war es durchaus denkbar, dass der aufbrausende Marquis einen
Streit mit dem Duke vom Zaun gebrochen hatte. Vielleicht hatte er ihn mit der
Reitpeitsche bedroht, bis Denning die eigene Waffe zog. Es kam zu
Handgreiflichkeiten um den Besitz der Pistole, und siehe da! – ein toter Duke.
Der junge Narr hatte sogar selbst zugegeben, dass er genau zur Tatzeit aus dem
Park zu den Stallungen von Denning House zurückgekehrt war. Und zwar allein.

„Soso, das heißt also, dass Ihre Schwester ihn auf’m Gewissen hat.“ Dimm

wollte sehen, wie der Marquis auf die Frage reagierte. Sicherheitshalber war er
zuvor einen Schritt rückwärts gegangen.

„Zur Hölle mit Ihnen!“ Unter Fosters Griff brach die Peitsche durch. Erzürnt

schleuderte der junge Hitzkopf dem Inspektor die beiden Hälften vor die Füße.
„Einmal ganz abgesehen davon, dass meine Schwester eine der
weichherzigsten und großzügigsten Frauen von ganz London ist – sie ist eine
Dame! Halten Sie also gefälligst in meiner Gegenwart Ihre Zunge im Zaum.
Verdammt, sie hat diesen Schurken schließlich nur geheiratet, um mich vor
dem Schuldturm zu bewahren!“

„Tja, aber Denning hat seine hübschen Versprechen nie wahr jemacht.“
„Soll das etwa ausreichen, um Marisol zu verurteilen? Eines verspreche ich

Ihnen: Wenn Sie meine Schwester wegen Mordes vor Gericht bringen, dann
gehe ich hin und lege ein Geständnis ab, dass ich den Bastard getötet habe. Ich
bin ihm und Lady Armbruster vom Park aus nach Hause gefolgt, habe mir
schnell von drinnen seine Pistolen geholt, abgewartet, bis meine Schwester weg
war, und ihn dann erschossen. Sie können nicht zwei Menschen dasselbe
Verbrechen anhängen. Und das Gericht wird eher mir Glauben schenken.“

Dimm unterstrich etwas in seinem Notizbuch. Er musste unbedingt
herausfinden, ob Denning die Pistole bereits bei sich gehabt hatte. Dann
klopfte er die Pfeife aus, stand auf und trocknete sich die Füße ab. Auf
Zehenspitzen schlich er zu Gabriel hinüber, der auf dem Sofa eingeschlafen

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war, und deckte ihn zu.

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2. KAPITEL

Ein weiterer Scheit im Kamin, eine weitere Seite in Dimms Notizbuch, eine
weitere Verdächtige. Miss Theresa Laughton, die unverheiratete Tante von
Foster und Marisol, war eine unbestreitbar vornehme Dame gewissen Alters. Sie
bot Dimm während der peinvollen Unterredung Tee an und war bereit, den
Mord auf sich zu nehmen, um ihre beiden Schützlinge vor einer Anklage zu
bewahren. Allerdings zitterte ihre Hand dermaßen, dass sie kaum die Tasse
halten konnte. Immer wieder führte sie ein hauchzartes Spitzentaschentuch an
die Augenwinkel.

„Sie wissen hoffentlich, dass ich nicht um Denning weine“, vertraute sie dem

Konstabler an. „Der Mann war ein ... ein übler Geselle. Da – es ist heraus,
obwohl man nicht schlecht über Tote reden soll. Arme, arme Marisol.“

„Weil Denning tot ist, oder weil sie unter Mordverdacht steht?“
Miss Laughton kramte in ihrem Handarbeitskorb, zog ein winziges Jäckchen

hervor und begann mit den Nadeln zu klappern. „Wie bitte?“

„Sie haben ‚arme Marisol‘ jesagt. Ich will nur wissen, weshalb.“
„Weil ihr dieser furchtbare Mann mit seinen Wutanfällen, seinen

Frauenzimmern und seiner Pfennigfuchserei das Leben zur Hölle gemacht hat.
Und nun auch noch dieser entsetzliche Skandal so kurz vor der Geburt des
Kindes, und dann diese ganze Unsicherheit.“

„Unsicherheit? Was meinen Sie damit, Madam?“ erkundigte sich Dimm.
Unbestimmt fuchtelte Tante Tess mit einer rundlichen Hand in der Luft

herum. „Ach, die testamentarischen Regelungen und so. Ein unseliger Wust.“

„Aber die Witwe is’ doch sicher versorgt.“ Dimm hatte noch keine

Gelegenheit gehabt, mit Dennings Anwalt zu sprechen.

„Wie bitte?“
„Will sagen, Denning war doch betucht. Also muss seine Witwe wohl nich’

betteln gehen, oder?“

„Wer weiß? Der Schuft hat ja schließlich auch den Ehevertrag so formulieren

lassen, dass er seine Versprechungen nie einlösen musste. Niemand von uns
hat auch nur einen Penny des Vermögens zu Gesicht bekommen. Wenn die
liebe Marisol auf meine versprochene Leibrente pochte, drohte Denning, mich
nach Wales aufs Altenteil zu schicken. Das sei Versorgung genug. Und Foster
nahm er mit der Begründung von der Universität, der Junge sei ein
Schwachkopf. Ich bete darum, dass der Herr im Himmel nun für uns sorgt. Auf
Denning verlasse ich mich noch nicht einmal, wenn er im Grab liegt.“

„Sie waren ganz von ihm abhängig?“
„Wie bitte? Ach so, das Geld. Ja, mit meinen Ersparnissen habe ich Marisol

ihre Saison ermöglicht. Es war unsere einzige Chance.“ Miss Laughton legte das
Strickzeug beiseite, um sich erneut die Augen zu betupfen. Dann straffte sie die

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Schultern und hob das Kinn. „Selbst wenn wir nun der Wohlfahrt zur Last fallen
sollten – ich bin froh, dass der Duke tot ist. Von mir aus können Sie mir die
Handschellen anlegen, Mr. Dimm.“

„Hmm. Miss Laughton, haben Sie ’ne Ahnung, wie man ’ne Pistole abfeuert?“
„Selbstverständlich. Das runde Teil hält man von sich weg, und dann zieht

man an dem kleinen Metallding, in dem der Finger steckt.“

Dimm rieb sich das Kinn. „Un’ wo waren Sie noch gleich so ein, zwei Stunden

vor dem Dinner?“

„Na, hier natürlich, in diesem kleinen Salon. Denning hat ihn niemals

betreten, wissen Sie, und man hat hier einen so hübschen Blick über die
Gärten.“

Dimm schlug die Vorhänge beiseite. Von hier aus konnte man die kleine

Gasse nicht sehen, in der der Mord geschehen war. „Haben Sie vielleicht
gesehen, wie jemand durch den Garten gerannt is’? Irjendwelche verdächtigen
Subjekte?“

„Oh nein, ich war mit meinem Strickzeug beschäftigt. Das Baby wird sehr

bald erwartet, wissen Sie.“

„Haben Sie denn wenigstens was jehört? Streitereien, Türenknallen,

Schüsse?“

„Wie bitte?“

Das also war die Familie der Duchess of Denning. Dimm entzündete die Pfeife
von neuem, paffte ein wenig nachdenklich und seufzte. Dann ging er weiter
seine Notizen durch.

Der Duke schien kein Familienmensch gewesen zu sein. Seine Mutter lebte in

Berkshire, zwei verheiratete Schwestern in Wales und Schottland, und sein
einziger Bruder bewohnte eine Zimmerflucht im Albany Hotel.

Dort hatte Dimm Lord Boynton Pendenning bei der Anprobe grauer Westen,

schwarzer Armbinden und Trauerflore angetroffen.

„Eine folgenschwere Entscheidung, meinen Sie nicht auch?“ hatte der blasse,

dünne Mann beiläufig bemerkt und den Konstabler in das Ankleidezimmer
gewinkt. „Man möchte ja schließlich nicht als Heuchler erscheinen, indem man
in Sack und Asche geht. Andererseits gilt es, genau das richtige Maß an
Mitgefühl auszudrücken, wenn man der trauernden Witwe einen Beileidsbesuch
abstattet. Gewissermaßen eine Zwickmühle.“ Er wand eine schwarze Halsbinde
um das weiße Krawattentuch und blickte erwartungsvoll seinen Kammerdiener
an. „Seit ich die Neuigkeiten gehört habe, denke ich über nichts anderes nach.“

Der Diener spendete der Kleiderwahl Beifall. Obwohl Dimm einen Augenblick

blinzeln musste, ließ er sich nicht beirren. „Und wo genau is’ das gewesen, wo
Sie erfahren haben, dass Ihr Bruder tot is’?“

Pendenning winkte mit einer feingliedrigen, beringten Hand ab. „Von dem

Mord, meinen Sie. Das pfeifen doch die Spatzen von den Dächern. Vermutlich

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war ich gerade in der einen oder anderen Spielhölle. Gewöhnlich verbringe ich
meine Nachmittage dort, bis es Zeit wird, nach Hause zurückzukehren und sich
für das Dinner umzukleiden.“

„Ging das vielleicht ’ne Winzigkeit genauer, Mylord? Wann fangen Sie denn

zum Beispiel mit dem Umkleiden an – um vier? Fünf? Sechs?“

„Das hängt vollständig von Fortunas Gunst ab, mein guter Mann. Lassen Sie

mich nachdenken. Ach ja, ich erinnere mich, dass mir das Würfelglück bei
Pimstoke’s nicht hold war. Also bin ich zum Pitpat weitergezogen.“ Dimm
entging keineswegs, dass Lord Boynton nur Etablissements geringeren
Ansehens erwähnte. Hier wurde um höhere Einsätze gespielt als in den feinen
Clubs, die Gesellschaft war weniger erlesen, und nicht immer ging alles mit
rechten Dingen zu.

„Bei Danver’s waren die Karten gegen mich“, fuhr Seine Lordschaft fort.
„Un’ in dem Gässchen am Portman Square, hatten Sie da vielleicht Glück?“
Pendenning sah von seinem Spiegelbild zu Dimm. „Was, bitte schön, wollen

Sie damit andeuten? Etwa dass ich derjenige bin, der den guten alten Arvid
erschossen hat?“

„’tschuldigung, Mylord, aber ich will kein Blatt vor’n Mund nehmen. Ganz

London weiß, dass Sie pleite sin’.“

Seine Lordschaft brachte das Kunststück fertig, keine seiner sorgfaltig

frisierten Locken in Unordnung zu bringen, als er nickte. „Anständige Kleidung
ist kein ganz billiges Steckenpferd, und das Glücksspiel garantiert leider kein
festes Einkommen. Ich verheimliche keinen dieser Zeitvertreibe.“

„Gier is’ als Motiv nich’ zu unterschätzen. Genau wie Neid.“
„Was, etwa auf Arvids Titel? Ich hatte nie den Wunsch, in die Fußstapfen

meines Vaters zu treten. Der alte Herr trug viel zu klobige Schuhe – keinerlei
modisches Feingefühl. Da ist das Vermögen schon verführerischer, wie ich
zugeben muss. Aber denken Sie doch mal nach, mein Guter. Warum hätte ich
so lange damit warten sollen, den alten Arvid um die Ecke zu bringen? Jeder
weiß doch, dass wir bereits als Kinder wie Hund und Katze waren. Schon damals
wollte er sein Spielzeug immer für sich alleine haben. Insofern hat es mich nicht
erstaunt, dass er es nicht über sich brachte, meine Apanage zu erhöhen oder
mir gelegentlich mal ein wenig unter die Arme zu greifen. Nicht der alte Arvid.“

„Dann hatten Sie also kein enges Verhältnis zueinander?“
„Ungefähr so eng wie zwei Kampfhähne in der Arena. Er war ein Bastard –

möge mir meine liebe Mutter diesen Seitenhieb auf ihre Tugend verzeihen.
Immerhin hätte ich zehn, fünfzehn Jahre lang Gelegenheit gehabt,
Straßenräuber auf ihn zu hetzen oder ihm von Schlägern auflauern zu lassen.
Es gibt unendlich viele Wege, sich einen Titel zu sichern.“

„Ohne die eigenen Hände dreckig zu machen.“
Naturellement non, guter Mann. Ich frage jedoch noch einmal: Weshalb

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sollte ich es ausgerechnet jetzt tun?“

„Vielleicht drückende Schulden, die er nich’ übernehmen wollte?“
„Aber meine reizende Schwägerin hat sehr bald eine dringende Verabredung

mit der Hebamme, wie mein liebender Bruder nicht müde wurde, mich zu
erinnern. Mein Neffe verdrängt mich bereits jetzt als Erben.“

„Könnte ja sein, dass es ’n Mädchen wird.“
„Bei meinem Glück? Darauf würde noch nicht einmal ich setzen.“

Als Nächstes war Dimm durch sämtliche Herrenclubs der St. James Street
gepilgert. Beim bloßen Gedanken daran begann sein dicker Zeh bereits wieder
zu schmerzen. Überall hatte er freundlich mit den Türhütern und Butlern
geschwatzt und versucht, Freunde des jüngst Verstorbenen ausfindig zu
machen. Es wäre einfacher gewesen, das versunkene Atlantis zu entdecken.

Arvid Pendenning war ein allseits herzlich unbeliebter Bursche gewesen.

Wenn er nicht gerade am Spieltisch ein etwas zu glückliches Händchen zeigte,
dann pflegte er einen etwas zu vertrauten Umgang mit Ehefrauen und
Töchtern. Er war arrogant und ungehobelt. Stand jemand im gesellschaftlichen
Rang unter ihm, rühmte sich eines weniger guten Rufes als Schütze oder war
töricht genug, sich auf eine Kartenpartie mit ihm einzulassen, legte er
erbarmungslose Grausamkeit an den Tag. Die meisten Mitglieder der Clubs
schienen erstaunt darüber, dass es dem Mörder überhaupt gelungen war, mit
der Pistolenkugel Dennings Herz zu treffen. Dieses Organ dürfte kaum größer
als eine Erbse gewesen sein.

In den Wettbüchern belegte die Duchess als Mordverdächtige unangefochten

den ersten Platz – nicht eben beneidenswert, falls man sie für die Tat
aufknüpfte. Die Stutzer nannten sie bereits die „Kutschenwitwe“ und tranken
auf ihre Zielgenauigkeit. Auf Boynton Pendenning war wesentlich weniger Geld
gesetzt worden, und Foster Laughton, Marquis of Thornhall, war hoffnungslos
abgehängt. Doch es war ein Außenseiter, der Mr. Dimms Aufmerksamkeit
erregte.

Ein Spieler hatte sein Geld, und zwar eine nicht unbeträchtliche Summe, auf

die Täterschaft von Carlinn Kimberly, Earl of Kimbrough, verwettet.
Unwillkürlich entfuhr Dimm ein Pfiff. Man nannte Kimbrough im ton auch den
„Lord Unsichtbar“: Er kam kaum nach London, besuchte bei seinen seltenen
Aufenthalten niemals Gesellschaften und ließ sich auch nach seiner Rückkehr
aus Spanien nicht als Kriegsheld feiern. Wann hatte er noch mal der Armee den
Rücken gekehrt? Es muss an die drei, vier Jahre her sein, nachdem er den Titel
geerbt hat, entsann sich Dimm.

Offensichtlich war der Earl erst kürzlich nach London gekommen, um den

Duke of Denning aufzusuchen. Es ging um ein Stück Land, das zwischen ihren
Landsitzen in Berkshire lag. Alle Berichte stimmten darin überein, dass das
Gespräch erbittert geführt worden war. Den eigentlichen Gegenstand hatten

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die Streitenden schnell hinter sich gelassen, um alsbald ein Lehrstück über den
richtigen Austausch von Beleidigungen aufzuführen.

„Pflichtvergessener Gutsherr“ wurde durch „Schmarotzer“ abgelöst, und von

da an hieß es „Lüstling“ und „Geschwür am Körper der Menschheit“. Auf der
Gegenseite wurde aus „Bauernlümmel“ rasch „Drecksack“ und „Kriechen Sie
doch unter Ihren Stein zurück, Sie Mistkäfer“.

Ein Duell lehnte Kimbrough rundheraus ab. In Spanien starben die Männer

für edlere Ziele. Diese Ansicht hatte er bei White’s kundgetan, wobei er als der
Größere dem Duke von oben herab in das puterrote Gesicht blickte. Während
die Lakaien gafften, der Besitzer des Clubs die Hände rang und Wetten in das
Buch eingetragen wurden, so schnell die Tinte nur fließen wollte, kam es
beinahe zu Handgreiflichkeiten. Dann jedoch stürmte Kimbrough unter
Flüchen, die der ganze Stolz seiner Soldaten gewesen wären, davon.

Als Dimm ihn am Mordabend in Pulteney’s Hotel ausfindig machte, fluchte er

immer noch.

„Natürlich habe ich gehört, dass der Bastard mit den Hosen zwischen den

Knien überrascht wurde. Vermutlich gibt es niemanden in ganz London, der
noch nicht davon weiß. Schließlich scheinen die Menschen in dieser Stadt
nichts anderes zu tun zu haben, als wie die Ferkel am Trog zu grunzen und zu
quieken und den Dreck dann brühwarm an das nächste Schwein
weiterzugeben.“

Kimbroughs unverhohlene Abneigung gegen das höfliche Geschwätz der

beau monde bestätigte Dimm, dass der Earl ein Mann der Tat war. Außerdem
war er, wie Dimms liebe Cherry – Gott habe sie selig – gesagt hätte, eine
Augenweide: groß, breitschultrig, muskulös und gebräunt. Seinen Händen sah
man an, dass sie zupacken konnten, und mit seinen dunkelbraunen Augen
schien er jede Anmaßung sofort zu durchschauen.

„Darf ich Ihnen trotzdem ’n paar Fragen stellen, Mylord, wo ich nun schon

mal hier bin?“

„Bitte sehr. Das ist schließlich Ihr Beruf.“ Kimbrough hörte auf, im Zimmer auf

und ab zu schreiten, setzte sich und bot dem Konstabler ebenfalls einen Stuhl
an. „Allerdings fürchte ich, dass ich Ihnen kaum weiterhelfen kann. Ich habe
das Flittchen noch nie zu Gesicht bekommen.“

„Das – äh, Flittchen?“
„Die Duchess. Die Kutschenwitwe. ‚Schwarze Witwe‘ wäre wohl passender.“
„Dann sin’ Sie also überzeugt, dass Ihre Gnaden die Schuldige ist?“ Dimm

nahm das Notizbuch zur Hand und leckte die Bleistiftspitze an. „Wenn Sie
Beweise dafür haben, is’ Ihnen der Dank meiner wunden Füße gewiss.“

„Beweise? Ich habe keine Beweise. Ich sagte doch, dass ich die Frau noch nie

gesehen habe.“

„Dann haben Sie also nich’ gesehn, wie sie mit ’ner Pistole in der Hand aus

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Denning House gekommen is’, un’ auch keinen Schuss gehört? Ich hab jedacht,
Sie waren vielleicht dort, um Ihren Hickhack mit Denning fortzusetzen.“

Überrascht sah Kimbrough auf. „Weshalb hätte ich Denning aufsuchen

sollen? Er hat sich gestern Abend schlichtweg geweigert, mir das Land zu
verkaufen, und der Mann ist so störrisch, dass man selbst mit einem Maultier
vernünftiger reden könnte.“

Dimm klappte das Notizbuch zu. „Sie waren also nich’ am Tatort, un’ die

Duchess kennen Sie auch nich’. Weshalb um alles in der Welt sin’ Sie dann so
sicher, dass sie den Duke getötet hat?“

„Weil ich diese Sorte Frau kenne. Sie wurde verwöhnt und von der

Gesellschaft gefeiert. Dann muss sie ihre leichtfertigen Vergnügungen
aufgeben und dem Hurensohn einen Erben schenken. Ihre Schönheit beginnt
zu verblassen, und der Duke sieht sich anderweitig um. Also geht sie hin und
erschießt ihn. Schließlich kann sie auf Unzurechnungsfähigkeit plädieren und
ist nachher fein raus: Geld, Macht und kein unbequemer Ehemann mehr.“

Dimm kratzte sich am Kopf. „Klingt ’n bisschen hart, finden Sie nich’? Wie

kommt’s, dass Sie sich nich’ kennen, wo Sie doch Nachbarn sin’?“

„Während ihrer Debütsaison war ich im Krieg, und zum Zeitpunkt ihrer

Hochzeit trug ich Trauer. Als sie das erste Mal Weihnachten auf Denning Castle
verbracht hat, habe ich ihre Einladungen ausgeschlagen. Vermutlich hat sie
mich danach von ihrer Gästeliste gestrichen. Allerdings bezweifle ich, dass sie
während ihrer ganzen Ehe auch nur einen Monat auf dem Lande verbracht hat.
Und wenn ich geschäftlich nach London komme, dann verplempere ich
bestimmt nicht meine Zeit auf den Gesellschaften und Soiréen, auf denen sich
eine Duchess Denning amüsiert.“

„Hmm. Verraten Se mir doch mal ’n paar Einzelheiten zu dem Stück Land, das

Denning Ihnen nich’ verkaufen wollte.“

„Was wollen Sie wissen? Etwa wie Denning das Flüsschen in ein neues Bett

umgeleitet hat, um den Grenzverlauf zu ändern? Oder dass es nun bei jedem
Regenguss über die Ufer tritt und die Ernte meiner Pächter vernichtet? Dass
außerdem der alte Brunnen im Sommer deswegen austrocknet? Oder möchten
Sie vielleicht hören, wie ich angeboten habe, das Land zu kaufen, das von
Rechts wegen ohnehin mir zusteht? Der alte Satansbraten hat abgelehnt. Ich
bin nach London gekommen, um einen erneuten Versuch zu machen. Das
Flüsschen hätte noch vor dem Frühlingsregen wieder in das alte Bett
umgeleitet werden können. Möge der verdammte Kerl in der Hölle schmoren.“

„Nich’ auszuschließen, dass er schon dort is’. Ah, nur noch ’ne klitzekleine

Frage, Mylord. Können Sie mir sagen, wo Sie heute zwei, drei Stunden vor dem
Dinner jewesen sin’?“

„Zwei, drei Stunden vor – zum Teufel mit Ihnen, Sie unverschämter

Schnüffler!“ Kimbrough sprang auf, stürmte zur Tür und öffnete sie so heftig,

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dass sie gegen die Wand schlug. „Raus hier, bevor ich mit einem Tritt
nachhelfe! Ich bin verdammt noch mal Friedensrichter, Sie Klotzkopf, dazu
ehemaliger Offizier des Königs, jawohl, und englischer Edelmann! Noch nicht
einmal eine solche Missgeburt wie Denning würde ich wegen eines dreckigen
Stücks Land umbringen!“

Dimm erhob sich und humpelte zur Tür. „Ich bin nich’ der Einzige, dem dieser

Gedanke gekommen is’. Bei White’s hat jemand auf Sie jewettet.“

„Wollen Sie damit sagen, dass man mich in diese Angelegenheit mit

hineingezogen hat? Hölle und Teufel!“ Der Earl hieb mit der Faust gegen die
Tür. „Verflixt und zugenäht! Das ist es, was ich an dieser Stadt so hasse. Die
Leute hier haben nichts Besseres zu tun, als den Ruf unschuldiger Menschen zu
ruinieren und einen Skandal nach dem anderen breitzureden. Das hat mir, kurz
bevor ich meine jüngere Schwester in die Gesellschaft einführen muss, gerade
noch gefehlt.“

„Denning hatte nich’ zufallig ’n Auge auf diese Schwester geworfen?“
„Diesen Hundsfott hätte ich noch nicht einmal auf eine Meile an Bettina

herangelassen. Verdammt, ich habe Denning nicht getötet. Aber wenn Sie nicht
bei drei verschwunden sind, dann schlage ich Ihnen die Nase ein.“

Als Seine Lordschaft „Drei!“ gebrüllt hatte, war Jeremiah Dimm längst über alle
Berge. Nun, Stunden später, fiel ihm in seinem stillen Wohnzimmer auf, dass
Kimbrough ihm kein Alibi für die Tatzeit gegeben hatte. Verflixt – das hieß, dass
er morgen noch einmal hinmusste, um die Frage erneut zu stellen. Dimm setzte
den Namen Kimbrough ganz ans Ende seiner Liste. Vielleicht war der Earl schon
abgereist, bis er zu diesem Punkt kam.

Jeremiah gähnte. Er sollte ins Bett gehen. Der nächste Tag würde lang

werden. Aber das Bett war kalt und leer, seit Cherry dahingegangen war.
Mochte sie in Frieden ruhen. So blieb er im Sessel sitzen und ließ sich den
Denning-Fall ein ums andere Mal durch den Kopf gehen. Du lieber Himmel, alle
diese Verdächtigen, Motive und Theorien, und nichts davon klang viel
versprechend. Irgendetwas fehlte. Wenn er nur darauf käme, was es war!

Er nahm den Glücksbringer und ließ ihn am Finger hin und her baumeln. Auf

einmal setzte er sich kerzengerade auf. Was, wenn sich der Duke selbst
umgebracht hatte? Oh Mann, der Boss wäre begeistert!

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3. KAPITEL

„Selbstmord? Das ist der lächerlichste Einfall, den ich bisher gehört habe“,
erklärte die junge Witwe. „Der Duke war viel zu niederträchtig, um uns allen
einen solchen Gefallen zu tun.“

Die Duchess of Denning hatte einem vormittäglichen Treffen mit dem

Konstabler der Bow Street Runners zugestimmt. Als er in den Salon geführt
wurde, lag sie auf dem Sofa, und Dimm verspürte einen ungewöhnlichen Anfall
von Neid. Nicht wegen der Vergoldungen, der dicken Teppiche, kostbaren
Vasen und Lackschränkchen, sondern weil die Duchess die Füße auf ein dickes
Kissen gelagert hatte.

Unterdessen fuhr sie fort: „Und was um alles in der Welt hätte ihn außerdem

dazu bewegen sollen, sich das Leben zu nehmen?“

Dimm blickte sich erneut in dem luxuriösen Salon um, der im chinesischen

Stil gehalten war. Dann betrachtete er die junge, hübsche und sichtlich
schwangere Frau und stellte sich dieselbe Frage. Verständlicherweise sah Ihre
Gnaden ein wenig mitgenommen aus. Der schwarze, um ihre Schultern
drapierte Schal nahm ihren Wangen jede Farbe, und das helle Haar war zu
einem nachlässigen Knoten aufgesteckt. Dennoch blieben Dimm weder die fein
geschwungenen Wangenknochen noch die strahlenden blauen Augen
verborgen. Ja, sie musste ein Diamant reinsten Wassers gewesen sein und der
Duke ein größerer Narr, als er gedacht hatte. Mit einem Räuspern wandte sich
Dimm seinem Notizbuch zu.

Der Kutscher hatte vorhin ausgesagt, dass der Duke stets eine Pistole

dabeihatte, wenn er zu einem Tête-à-tête unterwegs war – also fast immer,
wenn er die geschlossene Chaise verlangte. Jede Menge wutschnaubender
Ehemänner und erzürnter Väter sei bei dem Anblick ebenjener Waffe bereits
ausgekniffen, erklärte der Kutscher. Es war also davon auszugehen, dass die
Pistole bereits in der Kutsche gewesen war.

„Es is’ ja bloß eine von ’ner Menge Möglichkeiten, Euer Gnaden. Mag sein, der

Duke hat sich zu diesem verzweifelten Schritt gedrängt gefühlt, weil seine
Liebelei einen Skandal auslösen musste.“

„Mr. Dimm, Sie haben offensichtlich Ihre Hausaufgaben nicht erledigt.

Glauben Sie tatsächlich, dass mein verstorbener Gatte auch nur einen einzigen
Gedanken an die Meinung anderer verschwendete, bevor oder nachdem er
handelte?“

Allmählich musste selbst Dimm zugeben, dass sein glänzender Einfall bei

Tageslicht betrachtet ein wenig an Überzeugungskraft verlor. Dennoch
unternahm er einen letzten halbherzigen Versuch. Mit etwas Glück konnte er
den Fall ja doch noch schließen, ohne all die hochwohlgeborenen Verdächtigen
weiter belästigen zu müssen.

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„Vielleicht hat ihn Reue gepackt.“
„Wer’s glaubt, wird selig“, gab die Duchess zurück. „Morgen reisen wir nach

Berkshire ab. Es sei denn, Sie möchten mich verhaften. Wenn wir meinen Mann
in der Familiengruft bestattet haben, kann ich auf Denning Castle in Ruhe mein
Kind bekommen.“

„Oft waren Sie bisher ja nich’ dort.“
„Das lag an meinem Mann. Er hasste das Landleben. Zu niedrige

Spieleinsätze, zu wenig Gelegenheit, mit Frauen anzubändeln. Ich dagegen
habe mich auf den ersten Blick in die sanften Hügel, die Bäume und kleinen
Bauernhäuser von Berkshire verliebt. Wissen Sie, vor meiner ersten Saison
habe ich nie in der Stadt gelebt. Aber Denning wollte mich nicht von seiner
Seite lassen.“ Sie zuckte die Schultern. „Und zuletzt hat er mir nur deshalb
untersagt, nach Denning Castle zu gehen, weil ich es so gerne wollte.“

„Also gab’s Krach.“
„Also gab’s Krach“, bestätigte die Duchess.
„Un’ Sie? Waren Sie eifersüchtig?“
„Wegen seiner Affären? Auf seine Paradiesvögelchen und Balletttänzerinnen

und Lady Armbruster? Weshalb fragen Sie mich nicht rundheraus, ob ich
meinen Mann umgebracht habe, Mr. Dimm?“

„Weil der Boss sagt, so kann man ’ne Duchess nicht behandeln, Euer Gnaden.

Aber wo Sie’s schon erwähnen: Haben Sie den Duke erschossen, als Sie ihn mit
Ihrer Nachbarin in der Kutsche erwischten?“

„Nein, Mr. Dimm. Ich war nicht eifersüchtig auf Nessie Armbruster. Mein Gatte

war ein stadtbekannter Schürzenjäger, als ich ihn heiratete, und hat auch
später keine Gelegenheit zu einer Liebelei ausgelassen. Es spielte keine Rolle.“

„Aha“, bemerkte Jeremiah Dimm, der allmählich diesen Fall verfluchte.

„Haben Sie vielleicht ’ne Ahnung, wer Ihnen diesen Brief geschickt hat, Euer
Gnaden? Kann ja sein, Sie sollten Ihren Gatten in flagranti erwischen, damit der
Verdacht auf Sie fällt.“

„Nein, ich weiß es nicht. Die Handschrift kam mir nicht bekannt vor.“
„Un’ Sie sin’ also an dem hundekalten Tag in die Gasse gelaufen. Warum,

frag ich mich, wenn es doch keine Rolle gespielt hat?“

„Ich wollte Denning in eine peinliche Lage bringen, damit er mir erlauben

muss, nach Denning Castle zu fahren.“

„Glauben Sie, Lady Armbruster hat den Duke erschossen?“
„Fragen Sie sie doch am besten selbst.“
Dimm kratzte sich mit dem Bleistift am Kopf. „Hmm, ’n bisschen schwierig.

Lady Armbruster hat gestern Nacht noch mal Laudanum genommen, und dann
noch mal, und dann noch mal. Jetzt is’ wohl eher der himmlische Richter für sie
zuständig.“

Mit einem entsetzten Aufkeuchen griff sich die Duchess an die Brust. Dimm

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sprang auf, um nach der Zofe zu läuten, doch sie gebot ihm Einhalt. „Nein,
warten Sie. Es geht schon wieder.“

„’tschuldigung, Euer Gnaden. Ich hätte es besser wissen sollen.“
„Ach was. Fragen Sie ruhig weiter, wenn Sie noch etwas wissen wollen.“
Dimm blätterte in seinem Büchlein. „Was denken Sie über Lord Armbruster?“
Die Duchess zeichnete Dimm das Bild eines höflichen, freundlichen

Gentleman, ungefähr im gleichen Alter wie Denning, aber wesentlich
umgänglicher. „Ich kann mir kaum vorstellen, dass er so wütend werden kann,
dass er einen Mann erschießt. Wer steht noch auf Ihrer Liste – abgesehen von
meinem Bruder? Ich weiß, dass man seinen Namen nennt. Aber er ist ein durch
und durch ehrlicher Kerl, wenn auch manchmal ein wenig hitzköpfig. Über ihn
brauchen wir kein weiteres Wort zu verlieren.“

Abwesend malte Dimm Kringel in sein Notizbuch. „Wenn nicht Ihr Bruder,

Madam, was is’ dann mit dem vom Duke?“

„Was, Boynton Pendenning? Der Mann ist ein Modegeck. Ich kann nicht

glauben, dass er in der Lage wäre, seinen Bruder umzubringen.“

„Eifersucht, Gier, Ehrgeiz – da gibt’s viele Gründe.“
„Aber wenn Boynton so sehr darauf aus war, seinen Bruder zu beerben,

warum hätte er warten sollen, bis ich – möglicherweise – den Stammhalter
erwarte?“

„Hat er auch gesagt. Is’ natürlich schon vorjekommen, dass so’n Hosenmatz

die Kindheit nich’ überlebt hat.“

Dimm hätte sich am liebsten die Zunge abgebissen, als die Duchess

erschrocken die Arme um den gerundeten Leib schlang. „Mein Kind! Meinen
Sie, mein Kind ist in Gefahr? Bitte, bitte sagen Sie Nein!“

Liebend gerne hätte Dimm ihr den Wunsch erfüllt. Aber er konnte sie nicht

anlügen. „Na ja, ’n Mädchen is’ sicher“, beruhigte er sie. „Un’ wenn Ihnen
einfällt, wer den Duke ins Jenseits befördert haben könnte, werden wir ihn
einbuchten. Dann geschieht auch einem Jungen nix. Oh, Entschuldigung, Euer
Gnaden“, fügte er hastig hinzu, als sie bei seiner Wortwahl erneut grün um die
Nase wurde. Zur Hölle, der Boss würde ihm bei lebendigem Leib die Eingeweide
herausreißen. „Wie gut kennen Sie übrigens den Earl of Kimbrough?“

„Überhaupt nicht. Um Gottes willen, sagen Sie nicht, dass er auch unter

Verdacht steht.“

„Na ja, am Abend vor dem Mord hat er bei White’s lautstark mit Ihrem Gatten

gestritten.“

„Alle Auseinandersetzungen mit Arvid waren lautstark. Vermutlich ging es

wieder um dieses Stück Land, oder?“ Als Dimm zustimmend nickte, erklärte
Marisol: „Ich wusste, dass es deswegen Zwist gab, aber mein Mann hat mir die
Sache nie näher erläutert. Er verbot mir lediglich, den Earl bei unseren wenigen
Besuchen auf Denning Castle einzuladen. Deshalb habe ich ihn nie kennen

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gelernt. Aber die Menschen in Berkshire halten große Stücke auf ihn. War er
nicht außerdem so etwas wie ein Kriegsheld? Das klingt mir kaum nach einem
Mörder.“

„Weiß man’s? Ich sag Ihnen, in der Bow Street hab ich gelernt, in uns allen

steckt ’ne Kanaille.“

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4. KAPITEL

Eine Kanaille? Boynton Pendenning? Arvids Bruder sah nicht wie ein
blutrünstiger Unhold aus – nicht mit Kragenspitzen, die bis zu den Wangen
reichten, sorgsam geschnürter Taille und gepolsterten Schultern. Ein Dandy
mittleren Alters, der eher lachhaft als gefährlich wirkte. Doch dann sah Marisol
genauer hin. Der verkniffene Mund, die Tränensäcke unter den tief liegenden
Augen und die ungesunde Blässe verrieten den skrupellosen Spieler. Wer weiß,
wozu er fähig war, wenn ihm die Gläubiger im Nacken saßen ...

Ihre Hand, die Boynton zur Begrüßung an die Lippen hob, zitterte.

Selbstverständlich hatte Marisol den Schwager empfangen müssen. Eine
Unmenge von Einzelheiten wegen des Begräbnisses war zu besprechen.
Dennoch wünschte sie, sie hätte Mr. Dimm nicht zu Arvids Sekretär geschickt,
um den Safe in Augenschein zu nehmen. So blieb nur der kleine Terrier von
Tante Tess, um sie zu beschützen. Zumindest konnte man sich darauf
verlassen, dass Max beim leisesten Geräusch zu kläffen anfing. „Wie geht es dir,
Boynton?“ fragte sie höflich und bedeutete dem Besucher, Platz zu nehmen.

„Nun, den Umständen entsprechend“, antwortete er. „Ich trage den

schmerzlichen Verlust so tapfer wie erwartet.“ Als Marisol bemerkte, wie seine
Mundwinkel zuckten, lächelte sie zurück. Zumindest sprach Boynton ihr nicht
geheucheltes Beileid aus oder vergoss Krokodilstränen über den Bruder, den er
gehasst hatte. Als er sie durch das Einglas musterte, verzog sie das Gesicht.

„Sag nichts, ich weiß, dass ich aussehe wie eine Vogelscheuche.“
„Aber keineswegs. Wenn man mal davon absieht, dass du kein Schwarz

tragen solltest, meine Liebe, und dass du um das Kinn herum ein wenig
blässlich aussiehst, bist du ganz die Madonna, die ich immer schon so
bewundert habe.“ Er seufzte übertrieben und polierte das Monokel mit einem
schwarz gesäumten Taschentuch. „Arvid wusste seine schöne, geduldige,
fruchtbare Gattin überhaupt nicht zu schätzen.“

„Wenn du solche zärtlichen Gefühle für die Weiblichkeit hegst, dann verstehe

ich nicht, weshalb du nie geheiratet hast.“

„Oh, ganz einfach. Eine Frau, die schöner ist als ich, hätte ich nicht an meiner

Seite ertragen. Und wenn ich jeden Morgen eine hässliche Frau ansehen
müsste, dann verginge mir der Appetit auf das Frühstück. Es hilft nichts: Ich
muss dich geradewegs nach Gretna Green entführen. Denk nur: Auf einen
Schlag könnte ich Vermögen, Titel und Stammhalter mein Eigen nennen, ganz
abgesehen von einer reizenden Lebensgefährtin! Ach, dieses verwünschte
Verbot der Verwandtenehe!“

Marisol nickte mitfühlend, wenn auch nicht zustimmend. Als ob sie jemals ihr

Leben – oder das ihres Kindes! – in die Hand dieses Lackaffen legen würde!
„Titel und Vermögen könnten dir ohnehin bald gehören.“

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„Wenn es einen Gott gibt, dann sorgt er dafür, dass ich eine Nichte

bekomme, die genauso unvergleichlich ist wie ihre Mutter. Darum bete ich jede
Nacht.“

„Bevor oder nachdem du dich dem Glücksspiel ergibst, zu viel trinkst und

den Namen des Herrn leichtfertig im Munde führst?“

„Währenddessen, meine Liebe, währenddessen. Im Übrigen bin ich auch nur

kurz hier vorbeigekommen und muss gleich weiter zu meinem Schneider, um
mir angemessene Kleidung für die Beisetzung zu bestellen. Ich kehre später
zurück, um diese ganzen ermüdenden Einzelheiten zu besprechen, die du wohl
auf meine Schultern abladen willst.“

„Weshalb kommst du nicht zum Mittagessen? Ich habe Mr. Dimm eingeladen.

Er ist Konstabler bei den Bow Street Runners.“

Boynton hob die sorgfältig gezupften Augenbrauen. „Ein Schnüffler an der

herzoglichen Tafel? Ts, ts, ts, wie sich die Dinge innerhalb eines einzigen Tages
ändern können. Ich nehme die Einladung mit Vergnügen an, und sei es nur, um
zu hören, wie Arvid auf der Bahre mit den Zähnen knirscht. Aber du solltest vor
dem Essen wirklich etwas mit deinen Haaren anstellen. Schließlich muss der
Ruf der Pendennings gewahrt bleiben.“

„Ja, ich weiß. Heute Morgen hatte ich solche Kopfschmerzen, dass ich Tyson

mit ihrer Brennschere nicht ertragen hätte. Und Arvid hat mir verboten, das
Haar offen zu tragen. Er sagte immer, es gehöre sich nicht für eine Duchess.“
Lächelnd zog sie die Nadeln heraus, so dass ihr das schwere blonde Haar über
die Schultern fiel. Dann schüttelte sie den Kopf, bis sich die Locken in herrlicher
Unordnung kringelten. „Er ist wirklich fort, nicht wahr?“

Boynton zwinkerte ihr lediglich zu und verschwand.
Aufatmend lehnte sich Marisol in die Kissen zurück. Zum ersten Mal, seit die

Wirkung des Schlaftrunks nachgelassen hatte, war sie alleine und konnte
nachdenken.

Beschützend legte sie sich eine Hand auf den Bauch. Nun, da Arvid nicht

mehr lebte, war es gleichgültig, ob sie einem Sohn oder einer Tochter das
Leben schenkte. Selbst wenn sie keinen Erben gebar, würden sie sich schon
durchschlagen. Sie, Tante Tess und das kleine Mädchen könnten sorgenfrei
leben, wenn sie die Juwelen verkaufte, die ihr gehörten. Arvid war immer darauf
bedacht gewesen, dass seine Gattin eine standesgemäße Erscheinung bot.
Zwar hatte Marisol die Schmuckstücke nicht selbst auswählen dürfen und er
hatte nach Gutdünken bestimmt, welches sie wann zu tragen hatte, aber sie
gehörten ihr. Wenn der Erlös nicht ausreichte, um Foster ein Offizierspatent zu
kaufen, dann musste er eben als gewöhnlicher Soldat in die Armee eintreten. Er
war mutig und ehrgeizig genug, um auch so sein Glück zu machen. Auf keinen
Fall würde sie sich erneut verkaufen.

Arvid war tot. Marisol erinnerte sich, wie sie ihm zum ersten Mal begegnet

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war. Der naiven Debütantin war er als älterer, vornehmer Mann von Welt
erschienen. Er hatte ihr ein Vermögen geboten, einen gesellschaftlichen Rang,
der nur noch von dem der königlichen Familie übertroffen wurde, und
Sicherheit. Alle hatten ihr versichert, dass er der Ehemann war, den sie sich
immer schon gewünscht hatte. Natürlich stimmte das nicht, aber die
Aufmerksamkeiten des Duke hatten ihr geschmeichelt.

Warum hatte ihr bloß niemand erzählt, dass Arvid arrogant und grausam,

geizig und ehrlos war? Seit sie vor drei Jahren in der Kirche „Ich will“ gesagt
hatte, hatte sie keine Entscheidung mehr selbst treffen dürfen. Arvid hatte ihre
Kleider, ihren Schmuck und ihre Zofe ausgewählt. Gestern hatte sie sich zum
ersten Mal gegen seine Tyrannei aufgelehnt, als sie ihm entgegenschleuderte:
„Ich fahre nach Hause!“ Und heute hatte sie ihr Haar gelöst. Kein Mann wird
jemals wieder Macht über mich ausüben, schwor sich Marisol. Niemand wird
mich erniedrigen, misshandeln oder meine Familie bedrohen. Arvid ist wirklich
tot.

Die Stimmung beim Mittagessen war angespannt, und das lag nicht nur an dem
leeren Stuhl am Kopf der Tafel.

Marisol erkundigte sich bei Mr. Dimm, ob ihm die Papiere im Safe neue

Erkenntnisse verschafft hätten.

Dimm legte den Löffel hin. „Seine Gnaden besaß Schuldverschreibungen von

halb London. Nun ja, wenn Gentlemen ihre Spielschulden nich’ zahlen können,
erschießen sie normalerweise sich selbst und nich’ jemand anders.“

„Das nennt man Ehre, guter Mann“, bemerkte Boynton Pendenning in

herablassendem Tonfall.

Hastig warf Marisol ein: „Aber Sie werden doch die Namen überprüfen, nicht

wahr?“

Die Frage der Duchess rief ihm seine schmerzenden Füße ins Gedächtnis

zurück. „Ja, Euer Gnaden. Meine Kollegen un’ ich, wir werden sie uns alle
vorknöpfen.“

Foster Laughton fragte: „Und was geschieht mit den Schuldscheinen?“
Mit einem Blick auf Boynton Pendennings hoffnungsvolle Miene zog Dimm

ein Kartenspiel aus der Tasche. „Die hier lagen auch im Safe. Gezinkt.“

„Wie bitte?“ fragte Miss Laughton.
„Falsche Karten, Madam. Ich sag noch nich’, dass es so is’, aber’s könnte sein,

dass die Schuldscheine nich’ ehrlich erworben wurden.“

Marisol griff nach den Karten, überreichte sie dem Butler und wies ihn an, sie

ins Feuer zu werfen, bevor der Name Pendenning weiteren Schaden litt. Dann
begann sie, die Einzelheiten der bevorstehenden Reise aufs Land zu
besprechen.

„Foster, du kannst in den Ställen Bescheid sagen, dass eine Person weniger

mitkommt. Meine Zofe hat beschlossen, lieber in London zu bleiben.“

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Dimm horchte auf. „Kommt ’n bisschen plötzlich, die Entscheidung, was?“
„Nun ja, ich gebe zu, dass es mich auch ein wenig überraschend trifft. Aber

ich brauche in meinem Zustand wirklich niemanden, der mir die Haare kräuselt
und mir Seidenkleider zurechtlegt. Und Tyson hat ein Auge auf Purvis
geworfen, den Kammerdiener des Duke, der selbstverständlich nicht mit nach
Berkshire kommt.“

Aufgebracht wandte Foster ein: „Verdammt treulos. Du müsstest wenigstens

während der Fahrt ein Mädchen bei dir haben, falls du etwas brauchst.“

„Zufällig is’ ’ne Tochter von mir gerade auf der Suche nach ’ner Stellung“,

bot Dimm an. Hastig schaufelte er sich ein großes Stück Braten auf den Teller,
bevor der Lakai die Platte wieder fortnehmen konnte. „Könnte ’ne Lösung sein.“

„Oh, und Sie hätten damit einen Spion in den Haushalt eingeschleust“,

bemerkte die Duchess anerkennend und prostete ihm zu. „Nun gut, da ich
nichts zu verbergen habe, können Sie mir Ihre Tochter heute Nachmittag
vorbeischicken.“ Damit erhob sie sich, um sich zurückzuziehen. Die Männer
waren gezwungen, gleichfalls aufzuspringen, und die Lakaien räumten die
Platten ab. Dimm seufzte.

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5. KAPITEL

Zuerst wurde der Ehemann ermordet, dann kündigte die Zofe. Was konnte noch
alles schief gehen?

„Lord Kimbrough möchte Euer Gnaden sprechen. Entschuldigen Sie, dass ich

Sie störe, aber ...“, setzte der Butler an.

„Aber er sagt, es ginge um Leben und Tod“, ergänzte eine aufgebrachte

Stimme.

Der Butler verzog schmerzlich das Gesicht, weil er dermaßen roh an der

Ausübung seiner Pflichten gehindert wurde. Doch nach einem Blick auf die
breiten Schultern und die grimmige Miene des Besuchers besann er sich und
zog sich hastig zurück.

Marisol blickte von der Chaiselongue hoch, auf der sie lag. Dann blickte sie

noch höher. Das also war der Earl of Kimbrough. Abgesehen von der gefurchten
Stirn über den zusammengezogenen dunklen Brauen und den abfällig
heruntergezogenen Mundwinkeln konnte man ihn vermutlich als attraktiv
bezeichnen. Natürlich besaß er weder Arvids klassische Züge noch Boyntons
Eleganz, und schon gar nicht Fosters jungenhaften Charme, aber doch, er sah
gut aus. Das kantige Kinn, die wachen braunen Augen und wettergegerbten
Wangen dürften so manches Mädchen zu schmachtenden Seufzern
veranlassen. Aber er ließ sich ja nie auf Gesellschaften in London blicken. Kein
Wunder. Vermutlich würden sich die Mütter geradezu überschlagen, ihm ihre
Töchter zu präsentieren.

Selbstverständlich gehörte Marisol keineswegs zu denen, die sich von

markanten Gesichtszügen und überwältigender Männlichkeit beeindrucken
ließen. Und sie schätzte auch keine Besucher, deren Stiefel Schlamm auf ihren
Orientteppichen hinterließen, noch solche, die sie unhöflich anstarrten.
Mühsam setzte sie sich auf und räusperte sich.

Kimbrough kehrte mit einem Ruck in die Wirklichkeit zurück. Bei Jupiter, zum

ersten Mal in seinem Leben wünschte er sich, eines dieser stutzerhaften
Eingläser bei sich zu tragen. Dann könnte er dieser Person wenigstens deutlich
zeigen, was er davon hielt, dermaßen herablassend gemustert zu werden.
Weder war ihm ihr leichtes Lippenkräuseln beim Anblick seiner schmutzigen
Stiefel noch das arrogante Hochziehen einer Augenbraue angesichts seiner
ledernen Reithosen entgangen. Dann hatte sie die Nase gehoben – keineswegs
die zarte kleine Stupsnase, die er an Frauen schätzte –, als habe er Stallgeruch
in den Salon gebracht. Und selbst wenn das stimmte, so war sie trotzdem ein
hochmütiges Ding mit der aufdringlichen Schönheit eines Flittchens – ganz und
gar nicht der Diamant, den er erwartet hatte. Ihr Kleid war kaum elegant zu
nennen, und das blonde Haar ringelte sich keineswegs damenhaft um ihre
Schultern. Unter den gegebenen Umständen konnte man über diese Dinge

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natürlich hinwegsehen. Die himmelblauen Augen jedenfalls waren zweifellos
das Hübscheste an ihr.

Allerdings konnte Kimbrough kaum den Blick von dem Leibesumfang der

Duchess losreißen. Ihm war nicht klar gewesen, dass sie so kurz vor der
Niederkunft stand. Anderenfalls wäre er selbstverständlich nicht einfach so
hereingeplatzt. Als er gerade zu einer Entschuldigung ansetzte, fing der kleine
Terrier zu seinen Füßen an, zu kläffen und nach den Reitstiefeln zu schnappen.

„Verdammt und zugenäht“, fluchte Carlinn. Er bückte sich, packte den Hund

und hob ihn auf Augenhöhe. Das Tier winselte. „Du, mein Lieber, bist eine
Schande für deine ganze Rasse. Benimm dich, oder ich sperre dich in eines
dieser Lackschränkchen.“

Als Kimbrough den Terrier wieder auf den Boden setzte, verschwand dieser

zitternd unter den Röcken der Duchess. „Unterstehen Sie sich, meinem Hund
Angst einzujagen!“ rief Marisol aus. Einen Augenblick lang hatte sie vergessen,
dass Max eigentlich der Hund ihrer Tante und darüber hinaus ein lästiger
kleiner Kläffer war.

„Einen echten Hund bräuchte man nicht einzuschüchtern“, gab der Earl

zurück, „aber es passt alles zusammen.“ Mit einer ausholenden Armbewegung
wies er auf die exotische Einrichtung, als entspräche der Salon seinen
Vorstellungen genauso wenig wie die Duchess und Max. Marisol war empört. Es
reichte! Sie ließ sich doch nicht von einem ... einem ungehobelten Klotz
beleidigen!

„Hinaus! Ich habe Sie nicht hergebeten, und ich möchte Sie auch nicht

sehen. Verlassen Sie auf der Stelle mein Haus!“

„Oh nein, meine Liebe. Zuerst hören Sie an, was ich zu sagen habe. Und ich

rate Ihnen, von Ihrem hohen Ross herunterzukommen. So etwas wirkt bei mir
nicht.“

„Sie wagen es, ohne Erlaubnis in den Salon einer Dame zu stapfen – in einem

Trauerhaus, wie ich hinzufügen möchte –, noch dazu mit schlammigen Stiefeln
und Reithosen wie ein ... ein ...“

„Krautjunker? Gutsherr? Ehrlicher Landadliger? Es überrascht mich

keineswegs, dass Sie diesen Menschenschlag nicht kennen.“

„Und mich überrascht es nicht, dass Sie die Stadt meiden, wenn Sie keine

besseren Manieren aufbieten können! Was fällt Ihnen ein, mich in meinem
eigenen Heim zu beleidigen?“

„Und was fällt Ihnen ein, bitte schön, mich in Ihre erbärmlichen Skandälchen

zu verwickeln? Nie zuvor ist der gute Name meiner Familie befleckt worden. Es
ist allein Ihre Schuld und die der Londoner Klatschmäuler, dass er jetzt überall
in den Schmutz gezogen wird. Haben Sie auch nur einen Gedanken daran
verschwendet, was das für meine Schwester bedeutet? Sie wird nächstes Jahr in
die Gesellschaft eingeführt, wenn ihr Ruf nicht durch Ihren Skandal bis dahin so

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zerstört ist, dass keine Dame sie einlädt und kein Mann um ihre Hand anhält.“

Außer sich vor Wut schäumte Marisol: „Mein Skandal? Ich soll Sie in meinen

Skandal verwickelt haben? Mein Gatte wurde ermordet, und Sie waren der
Letzte, der sich mit ihm gestritten hat. Sie haben ihn bedroht! Dafür gibt es
massenhaft Zeugen!“

„Denning war ein Flegel.“
„Er war mein Mann!“
„Mein herzliches Beileid.“
Marisol schnappte nach Luft. „Also, das ... Sie kommen hier herein und

spucken große Töne über Ihren beschmutzten Ruf, und gleichzeitig drängen Sie
mir Ihre Gegenwart auf, ohne dass eine Anstandsdame anwesend ist! Wie kann
ich wissen, ob Sie nicht Arvid auf dem Gewissen haben und nun gekommen
sind, um das Werk zu vollenden?“

„Nun werden Sie nicht albern, Madam. Noch nicht einmal Bauerntölpel aus

der Provinz verführen oder erwürgen schwangere Frauen.“

Letzteres traute Marisol ihm allerdings nach einem Blick in seine wütende

Miene ohne weiteres zu. Misstrauisch fragte sie: „Warum um alles in der Welt
sind Sie überhaupt gekommen?“

Kimbrough zog einen mehrfach gefalteten Zeitungsausschnitt aus der

Innentasche und warf ihn wütend auf den Tisch. „Darum“, knurrte er. „Ich
bestehe darauf, dass Sie eine Gegendarstellung drucken lassen.“

Der Mann ist verrückt, entschied Marisol, während sie den Bogen entfaltete.

Das war es – er gehörte ins Irrenhaus. Dass er glaubte, sie könne die Zeitung zu
einer Entschuldigung für eine Karikatur bewegen, beseitigte endgültig jeden
Zweifel an seinem Geisteszustand. Das Bild zeigte das Innere einer Kutsche.
Eine Frau in anderen Umständen und ein hoch gewachsener Gentleman
richteten Pistolen auf das ineinander verschlungene Paar auf dem Sitz
gegenüber. Darunter stand: „Nach dir, Liebes.“

„Deshalb?“ erkundigte sich Marisol ungläubig. „Das hier bringt Sie so auf?

Die Ähnlichkeit ist noch nicht einmal besonders gelungen.“

„Zum Teufel mit der Ähnlichkeit! Ich kenne Sie noch nicht einmal, und ich

weigere mich, mit Ihnen zusammen auf diese Weise abgebildet zu werden! Sie
schreiben augenblicklich an die Zeitung und verlangen, dass dieser Schmutz
widerrufen wird.“

„Wie bitte? Nachdem Sie an Legionen von Journalisten vorbei hier

hereingestürmt sind? Oder haben Sie in Ihrer Entrüstung etwa nicht bemerkt,
dass sie vor dem Haus schon die Bleistifte spitzen? Ich mache mich ja
lächerlich, wenn ich nun stehenden Fußes in die Fleet Street renne und einem
der Redakteure vorjammere, dass ich keine hoch gewachsenen Männer zu
meiner Bekanntschaft zähle.“

Kimbrough fuhr sich mit der Hand durch das Haar. „Verdammt!“

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In diesem Augenblick verspürte Marisol keinerlei Mitleid mit ihm. „In der Tat.

Ich besäße nicht mehr das geringste Restchen Glaubwürdigkeit. Vielen
herzlichen Dank, Mylord, dass Sie ein so zweifelhaftes Licht auf meine Ehre
werfen!“

„Ehre? Was weiß denn eine Pendenning von Ehre?“
Hätte Marisol in diesem Augenblick eine Pistole zur Hand gehabt, sie hätte

womöglich abgedrückt. Die Augen zusammengekniffen, forderte sie den Earl
mit rauer Stimme erneut auf, endlich zu verschwinden. „Sie sind wirklich der
unverschämteste Mann, den ich jemals kennen gelernt habe, Arvid Pendenning
mit eingeschlossen!“

„Ich gebe zu, dass die letzte Bemerkung taktlos war“, räumte er ein, während

er betont zu dem Stuhl sah, den sie ihm nicht angeboten hatte. Da sie trotzdem
keine Anstalten machte, ihn Platz nehmen zu lassen, schlenderte er zum Kamin
und betrachtete eines der chinesischen Porzellanhündchen auf dem Sims.
Marisol hielt den Atem an. Hoffentlich ließ der Tölpel die kostbare Figur nicht
fallen! „Was haben Sie also vor, in dieser Angelegenheit zu unternehmen?“
fragte der Earl endlich.

„Falls Sie sich Hoffnungen machen, dass ich den Mord gestehe, muss ich Sie

enttäuschen, Mylord. Aber ich unterstütze Mr. Dimm aus der Bow Street, soweit
es mir möglich ist. Er hat die Erlaubnis, sowohl hier als auch auf Denning Castle
ein und aus zu gehen, um jede Spur verfolgen zu können.“

Die Betonung ließ keinen Zweifel daran, dass die Duchess ihn für einen der

Hauptverdächtigen hielt. Unter gemurmelten Flüchen lief Kimbrough vor ihrer
Chaiselongue auf und ab, bis Marisol sich seekrank fühlte. Aber vermutlich war
es nutzlos, wenn sie ihn bat, stehen zu bleiben. Schließlich hatte er auch ihre
Befehle, das Haus zu verlassen, einfach überhört. Plötzlich hielt er von selbst
inne und fragte ungeduldig: „Madam, wer verfügt jetzt eigentlich über die
Ländereien der Pendennings? Sie? Dieser Zierlaffe Boynton? Oder die
Anwälte?“

Sein Unmut befriedigte Marisol zutiefst. Ehrlich musste sie zugeben, dass sie

es nicht wusste. „Aber wie ich meinen Mann kannte, wurden die
Angelegenheiten so hinterlassen, dass sie die größten Ungelegenheiten
verursachen. Ich fürchte, Sie müssen wie wir anderen auch die
Testamentseröffnung und die Geburt meines Kindes abwarten. Sie können mit
Boynton zusammen um ein Mädchen beten. Ich bin mir sicher, dass er jedes
Stückchen Boden, das nicht zum Erbland gehört, verkaufen wird, um seine
Spielleidenschaft zu befriedigen.“

Kaum waren die Worte heraus, als sich Marisol die Hand vor den Mund

schlug. In ihrem Arger über diesen starrköpfigen Krautjunker hatte sie fast
vergessen, dass er der Mörder sein konnte. Wenn dieser Acker Kimbrough so
viel bedeutete, dass er dafür Arvid ermordete, was machte dann noch ein

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weiteres Leben aus? Sie legte sich die andere Hand auf den Leib.

Carlinn war die beschützende Geste keineswegs entgangen. Angesichts der

Angst in ihren Augen fluchte er erneut. Es machte ihn wütend, dass eine
schwangere Frau sich vor ihm fürchtete, und noch wütender, dass sie ihn für
den Mörder hielt. „Verdammt noch mal“, schrie er aufgebracht. „Ich ermorde
keine unschuldigen Frauen und Kinder! Ich habe noch nicht einmal Ihren
Gatten ermordet. Zwar tut es mir nicht gerade Leid, dass jemand anders das
übernommen hat, aber Fakt ist, dass ich die Tat nicht begangen habe.“

„Und wie kann ich das ahnen? Sie kommen hier tobend herein, verlangen

von mir, dass ich die Meinung der Öffentlichkeit ändere, und scheren sich um
keine gesellschaftliche Regel, die mir jemals beigebracht wurde. Woher soll ich
wissen, wozu Sie sonst noch in der Lage sind?“

„Und woher soll ich wissen, dass Sie ihn nicht selbst wegen eines

Schmuckstücks oder einer ähnlichen Bagatelle umgebracht haben?“

„Wegen eines Schmuckstücks?“ rief Marisol erbost aus. Was zu viel war, war

zu viel. „Sie glauben, ich würde meinen eigenen Ehemann wegen einer bloßen
Perlenkette töten? War Lady Armbruster vielleicht eine Bagatelle? Oder das
Wohlergehen meines Kindes?“ Sie war immer lauter geworden, während sie
sich redlich bemühte, sich aus den Kissen zu hieven, um nicht immer zu ihrem
hoch gewachsenen Besucher aufsehen zu müssen. Max verschwand aufjaulend
unter dem Sofa.

Als Gentleman beugte sich Kimbrough selbstverständlich hinab, um ihr zu

helfen. Die Duchess ergriff seine Hand. Als sie sicher auf den Beinen stand,
bedankte sie sich, holte aus und gab ihm eine so saftige Ohrfeige, dass selbst
der kräftige Earl zurücktaumelte.

„Oben liegt mein toter Gatte“, schluchzte die Duchess, „und im Nachbarhaus

seine Geliebte. Ein merkwürdiger kleiner Mann in roter Weste verdächtigt mich
des Mordes. Meine Zofe hat gekündigt, und ich fühle mich wie eine
Elefantenkuh. Aber Sie ... Sie setzen dem Ganzen wirklich die Krone auf!“ Das
Gesicht in den Händen verborgen, ließ sie sich zurück auf das Sofa sinken. „Und
jetzt habe ich einen Mann geohrfeigt, der mir noch nicht einmal vorgestellt
wurde!“

Zerknirscht hielt ihr der Earl sein Taschentuch hin. „Carlinn Kimbrough,

Madam, zu Ihren, äh, Diensten.“

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6. KAPITEL

Das ungeborene Kind machte Marisol die Reise nach Berkshire zur Hölle. Die
Begleitung von Sarah Turner, Dimms Tochter, stellte sich dagegen als Segen
heraus. Sie reichte der Duchess Pfefferminzplätzchen und lenkte sie mit
angeregtem Geschwätz über ihre große Familie und ihren Mann Ned, der bei
der Armee diente, ab. Nach der Ankunft auf Denning Castle brauchte Marisol
einen Tag und eine Nacht, bevor sie sich wieder daran erinnerte, was sie jemals
an Gärten, Blumen und frischer Luft hatte finden können.

Doch der eiskalte Regen, die kahle Winterlandschaft und das zugige alte

Gemäuer holten sie schnell in die Wirklichkeit zurück – eine Wirklichkeit, in der
die alte Duchess of Denning eine enervierende Rolle einnahm.

Arvids Mutter war nach der Heirat ihres Sohnes nicht auf den Witwensitz

übergesiedelt. Sie vertrat die Meinung, dass dazu nicht der geringste Anlass
bestand. Schließlich verbrachte Arvid kaum Zeit auf dem Land.

Nach wie vor spielte sie sich als Hausherrin auf. Von den Essenszeiten bis hin

zu den neuen Vorhängen für das Kinderzimmer bestimmte sie jede Einzelheit
des Lebens auf Denning Castle. Ihren Befehlen verlieh sie Nachdruck, indem sie
mit einem Ebenholzstock herrisch auf die Marmorböden klopfte.

Am ersten Abend kam Marisol zum Dinner herunter, um Boynton am Kopf und

ihre Schwiegermutter am Fuß der Tafel vorzufinden. Daraufhin entschied sie,
die Mahlzeit lieber in ihrem Zimmer einzunehmen. Sie hatte ohnehin kein
Bedürfnis, sich beim Essen das ständige Gezänke zwischen Foster und Boynton
anzuhören. Hoffentlich war das Begräbnis bald vorüber.

Lord Kimbrough beschloss, doch an der Beerdigung teilzunehmen. Es ging ihm
nicht darum, einem Mann, den er verachtet hatte, die letzte Ehre zu erweisen.
Aber er wollte es nicht an Höflichkeit gegenüber der Duchess fehlen lassen –
gegenüber beiden Duchessen. Außerdem sollte niemand behaupten können, er
bleibe der Beerdigung aus schlechtem Gewissen fern. Es gab schließlich keinen
Grund, ein schlechtes Gewissen zu haben. Jedenfalls keinen, der mit dem Mord
an Denning zusammenhing. Eine gerade verwitwete Frau und werdende Mutter
zum Weinen zu bringen – das war allerdings etwas anderes. Und dann auch
noch die Flucht zu ergreifen! Er hatte sich nicht nur wie ein Grobian, sondern
dazu noch wie ein Hasenherz benommen.

Während des Gottesdienstes saß Kimbrough neben Dimm. Er hatte den

Konstabler am Vorabend zum Essen eingeladen, um ihn nach dem Stand der
Ermittlungen zu fragen. Im Laufe des Abends hatte Dimm seinem Jüngsten eine
Stellung als Stallbursche bei Kimbrough verschafft und seinen Schwager für die
verwaiste Pfarrstelle im Dorf ins Gespräch gebracht.

Nun nannte der Earl dem Bow Street Runner die Namen der Trauergäste, die

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dem Sarg zur Familiengruft folgten. Im Gegenzug stellte Dimm ihm Foster
Laughton, den Marquis of Thornhall, vor. Als Foster den Namen Kimbrough
hörte, leuchteten seine Augen auf. Der bewunderte Kriegsheld stand leibhaftig
vor ihm! Herzlich bat er den Earl, mit zum Leichenschmaus zu kommen.

Nach kurzem Zögern nahm der Earl die Einladung an. Doch als er mit Dimm

zusammen den Empfangssalon von Denning Castle betrat, stellte er fest, dass
die meisten Gäste nach dem Begräbnis so schnell wie möglich wieder abgereist
waren. Boynton war von ein paar Kumpanen umgeben, die ihr Bestes taten, den
Weinkeller des verstorbenen Duke leer zu trinken. Vor dem Kamin hielt die
Herzoginwitwe Hof. Kimbrough verbeugte sich und murmelte sein Beileid.

Am entgegengesetzten Ende des großen Raums saßen die junge . Duchess,

ihr Bruder und eine ältere Dame zusammen. Der Rest der Gesellschaft schenkte
den dreien ungefähr so viel Beachtung wie einer Gruppe Aussätziger. Jede
andere Frau hätte sich vermutlich in ihre Gemächer zurückgezogen, aber die
Duchess thronte mit geradem Rücken und erhobenem Kinn in ihrem Sessel. Ein
schwarzer Spitzenschal bedeckte ihr Haar. Kimbrough fühlte sich an die
Mantillas erinnert, die er in Spanien gesehen hatte. Dann bemerkte er, dass sie
ihr Haar offen trug. Er musste ihr eine gehörige Portion Mut zugestehen. Und
Würde.

„Die alte Herzoginwitwe glaubt fest, das Mädel is’ an Dennings Tod schuld“,

flüsterte Dimm dem Earl zu, während sie den riesigen Aubusson-Teppich
überquerten. „Wenn nich’ sie selbst gefeuert hat, dann ihr Bruder, sagt die alte
Hexe. Sie wird wohl nix zu lachen haben, bis ihr Kind geboren is’.“

„Sie hat Denning um seines Titels und Vermögens willen geheiratet. Sie hat

bekommen, was sie wollte.“

Dimm schnalzte mit der Zunge. „Wenn die Welt so simpel wär, dann wär ich

arbeitslos.“

Es half nichts. Sie konnte den Salon nicht verlassen, bevor Kimbrough bei ihr
war – sie kam ja noch nicht einmal aus dem Sessel hoch. Wenn sich nicht die
Erde auftat und sie verschluckte, dann musste sie dem Mann in die Augen
sehen, dem sie eine Ohrfeige gegeben hatte. Natürlich hatte er sie verdient,
aber eine Dame benahm sich nun einmal nicht wie ein Fischweib. Und dann war
sie auch noch vor den Augen dieses Fremden in Tränen ausgebrochen!
Zumindest war er Gentleman genug gewesen, ihr ein Taschentuch zu reichen
und sich dann taktvoll zurückzuziehen. Warum musste sich dieser Barbar
ausgerechnet heute erneut auf seine guten Manieren besinnen?

Sogar sein Äußeres wirkte zivilisiert. Der Rock verriet einen guten Schneider,

wenn auch keinen modischen Ehrgeiz, und auf den faltenlosen Pantalons waren
weder Stäubchen noch Schlammspritzer zu sehen. Keinerlei Stallgeruch
umwehte ihn, die Haare waren gekämmt, die Augen sprühten keine Funken,
und die Finger schlossen sich um den Stiel eines Weinglases und nicht um

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ihren Hals. Wie es schien, gab es nichts zu befürchten.

„Marisol, hast du bereits die Bekanntschaft des Earl of Kimbrough gemacht?“
fragte Foster, der seinen Begleiter eifrig dichter zu der kleinen Gruppe zog.

„Wir sind einander nie offiziell vorgestellt worden“, kam Kimbrough ihr zuvor.

„Wie geht es Ihnen, Madam? Ich möchte Ihnen bei dieser Gelegenheit sagen,
wie sehr es mir Leid tut.“

Erstaunt blickte Foster ihn an. Selbst Tante Tess konnte nicht umhin zu

bemerken: „Wie bitte? Hat er gesagt, dass ihm Arvids Tod Leid tut?“

Keineswegs. Marisol verstand, dass er sich lediglich für ihre letzte Begegnung

entschuldigte. Sie nickte. „Danke. Wir alle machen gerade eine schwierige Zeit
durch.“

„Zu freundlich“, murmelte er. Er hätte gern noch mehr gesagt, aber vor der

Familie und dem Konstabler konnte er kaum offen sprechen. Doch merkwürdig
– es schien, als habe Dimm seine Gedanken gelesen. Er zwinkerte dem Earl zu
und zog dann Laughton beiseite, um ihn über Boyntons Kumpane auszufragen.

Diesmal sprach der Earl leise. Mit einem Lächeln, das sein nicht unattraktives

Gesicht geradezu unwiderstehlich machte, entschuldigte er sich noch einmal in
aller Ausführlichkeit. Marisol traute ihren Ohren kaum. Arvid hatte niemals für
irgendetwas um Verzeihung gebeten.

„Es gibt keine Entschuldigung für mein Verhalten“, fuhr Kimbrough fort.

„Gewöhnlich habe ich mein Leben unter Kontrolle, Madam, genau wie meine
Zunge und mein Temperament. Aber an jenem Tag schien mir alles aus den
Händen zu gleiten. Ich fand mich im Mittelpunkt eines öffentlichen Skandals
wieder, ohne etwas dagegen tun zu können. Dennoch hätte ich meinen Zorn
nicht an Ihnen auslassen dürfen. Ich bitte Sie von ganzem Herzen um
Verzeihung.“

„Nun, und ich hätte Ihnen niemals einen so unerzogenen, erregten Auftritt

geliefert, wenn nicht dasselbe für mich gegolten hätte. Ich glaube also, wir sind
quitt, Mylord – es sei denn, Sie sind der Mörder meines Mannes.“

„Biest“, murmelte er noch leiser.

Den Geboten der Höflichkeit folgend, verabschiedeten sich der Earl und der
Konstabler nach zwanzig Minuten. Während sie auf die Kutsche warteten, fragte
Kimbrough: „Haben Sie etwas Neues herausgefunden?“

Dimm dachte einen Augenblick nach. „Nö, nich’ viel – nur dass diese

Hummerpastetchen verflixt gut sin’.“

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7. KAPITEL

Der Boss in der Bow Street war unzufrieden. Seit dem Denning-Mord hatte kein
neuer Skandal London erschüttert, und die Zeitungen ließen nicht locker. Das
wiederum hieß, dass Jeremiah Dimm sich erneut die Schuhsohlen durchlaufen
musste, um nach weiteren Spuren zu fahnden.

Wieder zog er sein Notizbuch zurate, überprüfte die Alibis der Verdächtigen

und befragte noch einmal Dennings Dienerschaft. Die Zofe der Duchess war zu
ihrer Mutter gezogen, wie er erfuhr, und Purvis, der Kammerdiener, sah sich
nach einer neuen Stellung um.

Eine ganze Woche lang hatte Dimm Lord Armbrusters Liebesnest rund um die

Uhr überwachen lassen, aber niemand war dort aufgetaucht. So machte er sich
auf den Weg nach Armbruster House, wo die Tür ebenfalls mit Trauerflor
geschmückt und der Klopfer abgenommen worden war.

Lord Armbruster war noch nicht aus Cumberland zurückgekehrt, wo er seine

Frau bei ihren Verwandten hatte aufbahren lassen. Vielleicht hatte er bisher
noch keinen Pfarrer davon überzeugen können, dass sie die Überdosis
Laudanum unabsichtlich genommen hatte. Lady Armbrusters Zofe war gerade
dabei, die Kleider der Toten in Koffer zu packen, als Dimm sie zum achten oder
neunten Mal fragte, ob sie nicht doch einen Abschiedsbrief gefunden hatte.

„Nein, Mylady war zu schläfrig, um noch zu schreiben“, erwiderte das

Mädchen. „Sie kann nich’ ganz richtig im Kopf gewesen sein, als sie die Flasche
leer gemacht hat. Und dabei wollt ich sie sogar noch davon abhalten,
überhaupt Laudanum zu nehmen. Ich hab ihr von Anfang an gesagt, dass das
nicht gut für das Kind is’.“

Diese neue Erkenntnis nahm Dimm mit nach Berkshire, wo er gerade

rechtzeitig zur Testamentseröffnung eintraf.

„Ein Baby? Wie traurig.“ Es fiel Marisol schwer, Mitleid mit der Frau zu
empfinden, die auf Grund einer nichtigen Affäre ihr Leben weggeworfen hatte.
Aber ein unschuldiges Kind – das war etwas ganz anderes. „Warum nur?“ fragte
sie Mr. Dimm, als wisse er die Antwort.

„Tja, hatte gehofft, Sie könnten mir das sagen. Hat sie zu Ihnen mal was

fallen gelassen? Oder zu Ihrem Gatten?“

„Du liebe Zeit, Mr. Dimm! Mein Mann teilte mir ja noch nicht einmal mit,

wenn er wochenlang London verließ, um Besuche zu machen. Persönlichere
Angelegenheiten hätte er niemals mit jemand so Unwichtigem wie seiner Frau
besprochen. Falls das Kind von Arvid war, verstehe ich nicht, weshalb Nerissa
es nicht einfach Armbruster unterschob. So werden diese Dinge doch
gewöhnlich gehandhabt.“ Die Duchess schenkte dem Konstabler Tee nach.
„Bitte, nehmen Sie noch Gebäck. Ich möchte nicht alleine essen, dabei bin ich

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ständig hungrig.“

Mr. Dimm war gerne bereit, einer Dame in ihrem delikaten Zustand diesen

Wunsch zu erfüllen. Er schluckte die Enttäuschung über die kargen
Erkenntnisse mit einem Stachelbeertörtchen hinunter.

„Was hat dieser Mann hier zu suchen?“ Die alte Herzoginwitwe stieß mit
Nachdruck die Spitze ihres Stocks in den Axminster-Teppich, der in der
Bibliothek von Denning Castle lag. Niemand wusste, ob sie den Earl oder den
Konstabler meinte.

Mr. Stenross – der zweite Mr. Stenross der Anwaltskanzlei Stenross, Stenross

und Dinkerly – verkündete, er habe Lord Kimbrough eingeladen, weil auch ihn
die Testamentseröffnung anginge. Mr. Dimm verdrückte sich in eine Ecke, wo
ihn die alte Duchess nicht sehen konnte.

Mit einem Räuspern blickte Mr. Stenross in die Runde. „Seine Gnaden

verfasste dieses vorläufige Testament für den Fall, dass das Geschlecht seines
Nachkommen bei seinem Ableben noch nicht feststeht.“ Er räusperte sich
erneut und begann zu lesen: „Meiner Mutter, die auf Denning Castle statt auf
dem Witwensitz Wohnung genommen hat, um ihre eigenen Mittel nicht
antasten zu müssen, hinterlasse ich die Jahresrente, die mein Vater festgesetzt
hat.“

Stöhnend sank die alte Herzoginwitwe in ihrem Sessel zusammen. Boynton

warf ihr ein Riechfläschchen zu. „Weiter, weiter.“

„Mein Bruder bezieht derzeit bereits ein ausreichendes Einkommen. Jeder

zusätzliche Penny würde ihn nur der Spielsucht tiefer in die Arme treiben.“

„Bastard!“ schrie Boynton.
„Meiner Frau, Marisol Laughton Pendenning, hinterlasse ich die Summe von

zehntausend Pfund, sollte sie eine Fehlgeburt oder Totgeburt haben und mich
so um leibliche Nachkommen bringen.“

Marisol knirschte mit den Zähnen. Es sah ihrem Gatten ähnlich, auch noch

die schrecklichsten Möglichkeiten vollkommen gefühllos in Betracht zu ziehen.
Aber immerhin, von zehntausend Pfund konnten sie gut leben, wenn sie zudem
den Schmuck verkaufte. Sie tätschelte Tante Tess die Hand.

„Sollte meine Frau von einem Mädchen entbunden werden, hinterlasse ich

ihr zehntausend Pfund im Jahr, bis meine Tochter heiratet oder volljährig wird.
Zu diesem Zeitpunkt erhält besagte Tochter eine Mitgift von fünfzigtausend
Pfund. Die festgesetzte Leibrente endet, wenn meine Frau sich wieder
verheiratet.“

Tante Tess ließ Marisols Hand los, um sich die Augen zu wischen. „Ich hatte

solche Angst, dass er uns verhungern lässt, wenn du keinem Erben das Leben
schenkst.“

Ungehalten über die Unterbrechung, warf ihr Mr. Stenross einen strafenden

Blick zu. „Ja, der Erbe. In den beiden genannten Fällen erbt gemäß dem Gesetz

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der Bruder Seiner Gnaden den Titel und das Vermögen, soweit es im
Fideikommiss steht, also in erster Linie Denning House in London, Denning
Castle in Berkshire, das Jagdschloss in Leicester und die Besitztümer in Jamaica
sowie die Einkünfte daraus.“

Boynton lächelte, und sogar die alte Duchess schien wieder Mut zu schöpfen.

Mr. Stenross fuhr fort: „Ich habe versucht, Seine Gnaden bezüglich der
Vorkehrungen für nicht im Fideikommiss befindliche Vermögen zu beraten,
aber er zeigte sich unnachgiebig. Über die Bankguthaben, Ländereien,
Staatspapiere und se weiter konnte er frei verfügen.“

„Ja, ja, schon richtig. Wir wissen alle, dass das den weitaus größeren Teil des

Vermögens ausmacht. Wer bekommt es denn nun?“ Boynton zerriss in seiner
Erregung beinahe die Spitze an seinen Manschetten.

„Wenn ich ohne rechtmäßigen Erben sterbe, sollen weder meine Frau noch

mein Bruder auch nur einen Penny des freien Vermögens erhalten“, verlas Mr.
Stenross mit unverhohlener Missbilligung. „Es soll stattdessen dazu verwendet
werden, ein Heim für ledige Mütter zu gründen.“

Bei diesen Worten fiel Boynton in Ohnmacht, rutschte vom Sessel und blieb

vor den Füßen seiner Mutter liegen. Die Lesung der weiteren
Testamentsklauseln musste unterbrochen werden. Vermutlich war das ein
Glück, denn Marisol fühlte sich arg in Versuchung geführt, der alten Duchess
den Stock wegzunehmen und Lord Kimbrough damit einen überzuziehen, damit
er endlich zu lachen aufhörte.

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8. KAPITEL

Eine Weile später konnte Mr. Stenross fortfahren. „Wenn das Kind, das meine
mir rechtmäßig angetraute Gemahlin gebiert, männlichen Geschlechts ist,
erhält meine Frau fünfzigtausend Pfund zur freien Verfügung. Weiterhin ist sie
berechtigt, die Einkünfte aus dem nicht im Fideikommiss stehenden Vermögen
zu beziehen, bis unser Sohn volljährig ist und dieses Vermögen selbst verwaltet
oder bis sie sich wieder verheiratet, je nachdem, welcher Fall früher eintritt.“

Als Foster einen lauten Jubelruf ausstieß, blickte Mr. Stenross missbilligend

hoch. „Die nächsten Klauseln betreffen die Firma Stenross, Stenross und
Dinkerly, die das Vermögen treuhänderisch verwaltet, da Ihre Gnaden die
Volljährigkeit noch nicht erreicht hat.“

Boynton, der auf dem Sofa lag, schien darin einen Hoffnungsschimmer zu

entdecken. „Und was ist mit dem Fideikommiss-Vermögen und dem
Einkommen daraus? Ich meine, mein Neffe braucht einen Vormund, oder
nicht?“

„Sehr richtig. Seine Gnaden hat einen Vormund benannt.“ Boynton rückte

das Krawattentuch zurecht, und Foster straffte die Schultern. „Daher habe ich
Lord Kimbrough gebeten, heute zugegen zu sein. Seine Gnaden benannte
Carlinn Kimberly, Earl of Kimbrough, als Vormund für seinen unmündigen Sohn
und als Verwalter des Vermögens.“

„Wie bitte?“
„Das ist doch die Höhe!“
„Unmöglich – ich werde dagegen vorgehen!“
„Wie konnte er nur?“
Marisol gelang es zuerst, die Aufmerksamkeit von Mr. Stenross zu erlangen.

„Sir“, setzte sie an. Es ärgerte sie, dass ihre Stimme zitterte. „Das kann nicht
sein. Ich weigere mich, diesem ... diesem Fremden die Verantwortung für
meinen Sohn zu geben, nur damit er sich bei der Erziehung in jede Einzelheit
einmischt.“

„Es tut mir Leid, Madam. Das Testament Seiner Gnaden ist nicht anfechtbar.

Zudem würden die Behörden ohnehin einen Vormund für Ihren Sohn einsetzen.
Möglicherweise wäre ihre Wahl noch weniger nach Ihrem Geschmack.“

Es fiel Marisol schwer, sich das vorzustellen. Es musste doch einen Ausweg

geben – außer dem, dass sie ein Mädchen gebar! „Aber Seine Lordschaft hat
keine Ahnung von Kindern. Er ist ja noch nicht einmal verheiratet!“

„Entschuldigen Sie, Sie hingegen wissen genauso wenig darüber, wie ein

Vermögen verwaltet werden muss.“

„Ich kann es einfach nicht glauben! Noch nicht einmal Arvid kann so dumm

gewesen sein, einen ... einen ...“

Bevor ihr ein Wort einfiel, das ihre Gefühle für diesen ungehobelten Klotz

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auch nur annähernd ausdrückte, verließ Kimbrough seinen bisherigen Platz an
der Wand und kam auf den Rechtsanwalt zu.

„Es mag nicht in der Macht der Duchess stehen, meine Vormundschaft

anzufechten, aber es steht in meiner. Ich lehne das Angebot ab. Mit Denning,
diesem Taugenichts, wollte ich mein Lebtag lang nichts zu tun haben, und
dasselbe gilt für seine gesamte Hinterlassenschaft. Diese ganze vermaledeite
Angelegenheit hat nichts mit mir zu tun. Ich verabschiede mich.“

Es kostete Mr. Stenross nur ein paar leise Worte, den Abgang des Earl

aufzuhalten. „Im Gegenzug für die Vormundschaft hat Seine Gnaden Ihnen das
umstrittene Stück Land überschrieben.“

„Bei allen Höllenhunden!“ fluchte Kimbrough und schlug mit der Faust gegen

den Türrahmen. „Dieser Erpresser! Er wusste natürlich genau, dass ich in
diesem Fall nicht ablehnen würde. Ich kann meinen Pächtern nicht bei jedem
Gewitter die Saat davonschwimmen lassen.“

Als habe er nie Zweifel an einem Einlenken des Earl gehabt, fuhr der

Rechtsanwalt fort: „Bis das Kind geboren ist, läuft alles weiter wie bisher. Alle
Kosten werden aus dem Einkommen des Erblandes beglichen, und ich selbst
verwalte das Vermögen.“

Auf einmal sprang die alte Duchess auf, fuchtelte mit ihrem Stock vor

Marisols Nase herum und kreischte: „Es ist alles deine Schuld! Du scheinheilige
Schlampe! Arvids gehorsame kleine Braut, die kein Wässerchen trüben kann,
was? Du hast doch die ganze Zeit hinter seinem Rücken Intrigen gesponnen.
Mit deinem Liebhaber hier hast du geplant, Arvid aus dem Weg zu räumen,
damit ihr euch das gesamte Vermögen sichert!“ Drohend tat sie einen Schritt
auf Marisol zu. „Aber das wirst du noch bereuen ...“

„Es reicht, Madam.“ Kimbrough trat auf die alte Herzoginwitwe zu, nahm ihr

den Stock aus der Hand und zerbrach ihn über dem Knie, als handele es sich
um ein Stück Reisig. „Da. Meine erste Aufgabe als Vormund des künftigen
Duke. Ihr Sohn war von Kindesbeinen an ein hinterhältiger Schuft. Statt Ihrer
Schwiegertochter Vorwürfe zu machen, sollten Sie die Schuld lieber bei sich
suchen. Schließlich haben Sie ihn so verzogen, dass er glaubte, über dem
Gesetz, den Geboten der Höflichkeit und der Moral zu stehen. Ich habe nicht
vor, mich in die Erziehung des künftigen Duke einzumischen, Sie können also
aufhören, Ihr Taschentuch zu zerknüllen. Aber wenn ich ein Wörtchen
mitzureden habe, dann sorge ich dafür, dass er nicht nur seine Rechte, sondern
auch seine Pflichten lernt. Arvid hat nie verstanden, dass er nicht besser als
jeder andere ist, nur weil er den Namen Denning trägt. Sein Sohn wird zwar mit
einem goldenen Löffel im Mund geboren, Anerkennung hingegen muss er sich
trotzdem erst verdienen.“

Die alte Herzogin zog sich in ihre Gemächer zurück, Boynton suchte Trost bei
der Weinflasche, und Mr. Dimm ging mit dem Rechtsanwalt die restlichen

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Testamentsklauseln durch. Er musste feststellen, dass niemand von einem
frühzeitigen Tod des Erben profitieren würde, weil in diesem Fall das gesamte
frei verfügbare Vermögen an das Heim für ledige Mütter ging. Enttäuscht
seufzte er auf. Nirgends ein Motiv zu erkennen.

Da Kimbrough ihn in seinem Zweispänner mitgenommen hatte, war Dimm

nun gezwungen, bei der jungen Duchess und ihrer Tante auf ihn zu warten. Es
war deutlich zu merken, dass die Damen ihn dorthin wünschten, wo der Pfeffer
wächst. Tante Tess saß mit ihrem Strickzeug – hellblaue Kindersöckchen – am
Kamin. Die Duchess läutete, woraufhin der Butler den Tee servierte.

„Vielen Dank, dass Sie mir zu Hilfe gekommen sind“, bemerkte Marisol steif,

während sie Kimbrough einschenkte. Dann jedoch sprach sie aus, was ihr auf
dem Herzen lag: „Werden Sie es tatsächlich mir überlassen, meinen Sohn
großzuziehen?“

„Solange ich keine Veranlassung zum Einschreiten sehe, ja. Schließlich ist

die Verwaltung meiner eigenen Güter schon zeitaufwendig genug, ohne dass
ich mich auch noch um Ihre kümmern muss – ganz zu schweigen davon, dem
Erben die Nase zu putzen.“ Carlinn war nicht gewillt, sich von einer Londoner
Gesellschaftslöwin Verantwortung aufbürden zu lassen, nur damit sie ihr
sorgenfreies Luxusleben wieder aufnehmen konnte.

„Noch einmal vielen Dank“, sagte sie erleichtert. „Ist es nicht merkwürdig,

dass man mich zwar für fähig hält, eine Tochter zu erziehen, nicht aber einen
Sohn?“

„Keineswegs. Ein Junge braucht männlichen Einfluss.“
Marisol verstummte. Welchen Einfluss hätte Arvid wohl auf das Kind gehabt?

Und würde es mit der Zeit seinem Vater immer ähnlicher werden? Sie stellte
den Teller beiseite. Plötzlich war ihr der Appetit vergangen. Unruhig zerknüllte
sie den Stoff ihres Kleids zwischen den Fingern.

Und eine Frau braucht einen Mann, dachte Carlinn, als sie nichts mehr sagte.

Vermutlich dachte Ihre Gnaden gerade daran, welchen armen Kerl sie sich als
Nächstes schnappen könnte, damit er ihr die Pelze und Juwelen bezahlte.
Natürlich musste sie zunächst ihre schlanke Figur zurückgewinnen,
anderenfalls schreckte sie wohl auch den hartnäckigsten Verehrer ab. Aber
vielleicht hatte sie auch vor, mit ihrem neuen Reichtum nach London
zurückzukehren und dort das Leben einer flotten Witwe zu führen. Diese Damen
wechselten ihre Tanz- und Bettpartner bekanntlich schneller als die
Diamantarmbänder. Ja, so musste es sein. Die Trauerkleidung hatte sie
jedenfalls bereits abgelegt, obwohl Dennings Leiche noch kaum im Grab
erkaltet war.

Marisol bemerkte, dass der Blick des Earl auf dem blauen Wollstoff ihres

Kleides ruhte. Schnell strich sie den Rock glatt und zog den schwarzen Schal
fester um die Schultern. Als Nächstes ertappte sie sich dabei, ihm zu erklären:

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„Ich habe nur drei Trauerroben schneidern lassen.“ Weshalb verspürte sie
eigentlich das Bedürfnis, ihre Kleiderwahl diesem Landjunker gegenüber zu
rechtfertigen? Er saß schließlich mit ungestärktem Krawattentuch und einem
Gehrock aus Cord in ihrem Salon! Dennoch fuhr sie fort: „Es kam mir wie die
reinste Verschwendung vor, nur für einen oder zwei Monate noch mehr zu
bestellen. Ich werde ohnehin kaum eine Menschenseele zu Gesicht bekommen.
Außerdem regt meine unangemessene Kleidung meine Schwiegermutter
entsetzlich auf.“ Plötzlich lächelte sie, und Carlinn bemerkte zum ersten Mal die
bezaubernden Grübchen, die ihr einst den Ruf einer Unvergleichlichen
eingetragen hatten.

Er lächelte zurück. „Bereitet Ihnen die alte Duchess Schwierigkeiten? Sie hat

eine furchtbar spitze Zunge. Soll ich ausziehen und Drachen töten? Betrachten
Sie es ruhig als Bestandteil meiner Verpflichtungen.“

„Noch bedarf es solch edler Taten nicht, Sir. Alles wartet auf das große

Ereignis. Wenn ich einen Jungen bekomme, dann zieht Ihre Gnaden auf den
Witwensitz, selbst wenn ich persönlich für die Instandsetzung aufkommen
muss. Ich schicke ihre Dienerschaft in Rente und stelle meine eigenen Leute
ein. Sollte es ein Mädchen werden, packe ich einfach meine Koffer und gehe. In
jedem Fall muss ich meine Schwiegermutter nur noch ein oder zwei Monate
lang ertragen. Allerdings gibt es einen anderen Gefallen, den Sie mir tun
könnten, da Sie es freundlicherweise angeboten haben.“

Am liebsten hätte sich Carlinn die Zunge abgebissen. Himmel, was kam jetzt?

Doch er nickte auffordernd, auch wenn seine zusammengebissenen Zähne und
gerunzelten Brauen nicht gerade ermutigend wirkten.

„Es handelt sich nur um einen kleinen Drachen. Es geht um meinen Bruder

und meinen Schwager, die sich ständig in den Haaren liegen. Und je mehr das
schlechte Wetter Foster dazu zwingt, im Haus zu bleiben, desto schlimmer wird
es. Boynton kann seiner Schulden wegen nicht nach London zurückkehren. Die
ständigen Streitereien der beiden stören meinen Frieden weitaus mehr als die
alte Duchess. Ich wage die zwei Kampfhähne kaum allein zu lassen. Könnten Sie
nicht ein wenig Zeit mit Foster verbringen und ihm vielleicht dabei helfen, ein
Regiment auszuwählen? Jetzt wissen wir ja, dass wir uns das Offizierspatent
leisten können. Ihm fehlt eine Aufgabe.“

„Ihm fehlen Manieren, so wie er vorhin hinausgestürmt ist.“
„Die Testamentseröffnung hat ihn schmerzlich daran erinnert, wie jung er

noch ist. Wäre er älter, könnte er selbst Vormund sein. Und wenn unser
Familienbesitz nicht verloren gegangen wäre, dann wüsste er auch über die
Verwaltung von Gütern Bescheid. Er braucht Rat und Unterstützung, nicht
Boyntons ständige Sticheleien. Außerdem blickt er zu Ihnen auf.“

„Das liegt daran, dass ich so groß bin.“
„Wie bescheiden. Aber schließlich haben Sie selbst gesagt, dass ein Junge

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männlichen Einfluss benötigt.“

Erneut verfluchte sich Kimbrough dafür, dass er seine Zunge nicht im Zaum

hatte. Nun steckte er in der Klemme, und es gab keinen Ausweg. „Ich sehe,
dass ich bei Ihnen jedes meiner Worte sorgfältig abwägen muss. Aber ja, wenn
es Sie beruhigt, dann will ich sehen, was ich tun kann. Vielleicht könnte er
meinen Armeehengst Beau ein wenig bewegen, dann galoppieren sie sich beide
die Unruhe vom Leib.“

„Vielen Dank. Foster wird außer sich vor Freude sein, und mir tun Sie einen

großen Gefallen damit. Vielleicht mag ja auch Ihre Schwester gelegentlich
einmal zu einem Besuch vorbeikommen. Ein wenig Gesellschaft wäre mir nur
recht.“ Sie erwähnte nicht, dass sie die Einsamkeit als schier unerträglich
empfand. Die alte Duchess hatte es geschafft, alle Damen der Nachbarschaft
gegen die ungeliebte Schwiegertochter aufzubringen. In der gesamten Woche,
die seit dem Begräbnis vergangen war, hatte nicht eine einzige Besucherin
vorgesprochen.

Carlinn schnippte sich ein Stäubchen vom Rockärmel. „Ich fürchte, meine

Schwester nimmt ihre neuen Pflichten als Schlossherrin sehr ernst, seit sie die
Schule beendet hat. Ständig stellt sie Speisepläne und Ähnliches auf.
Außerdem kommen bald einige ihrer Schulfreundinnen zu Besuch.“

„Aha. Nun ja, dann vielleicht nach der Geburt des Kindes.“ Marisol hatte

verstanden. Dieser Hornochse wollte nicht, dass seine wohl behütete Schwester
Umgang mit der Kutschenwitwe pflegte. So viel zu dem freundschaftlichen
Verhältnis. „Vermutlich bin ich selbst gar nicht in der Stimmung, Besuch zu
empfangen. Sie brauchen sich daher nicht verpflichtet zu fühlen, hier
vorbeizukommen, Sir. Man wird Sie benachrichtigen, wenn Ihre Dienste als
Vormund gebraucht werden – falls überhaupt. Guten Tag.“

Sie hatte ihn entlassen! Mit offenem Mund fand sich der Earl of Kimbrough in

der zugigen Eingangshalle von Denning Castle wieder. Zuerst zeigte sie ihm
ihre Grübchen, um ihn um den Finger zu wickeln und ihm das Versprechen
abzunehmen, Kindermädchen für ihren nichtsnutzigen Bruder zu spielen. Und
dann zeigte sie ihm die Tür! Eingebildete Ziege!

Die Gewitterwolken bereiteten Dimm Sorgen. Nicht die am Himmel, sondern die
in Lord Kimbroughs Miene. Der Earl trieb das Gespann an, als seien ihm alle
Höllenhunde auf den Fersen. Oder Dennings Witwe.

„Nehmen Sie sich das Geschwätz von der alten Schachtel nich’ so zu Herzen.

Sie is’ ja völlig auf’m Holzweg, wenn sie glaubt, Sie stecken mit der jungen
Duchess unter eine Decke.“

„Unter einer Decke? Eher würde ich sie erwürgen! Dieses Weibsbild kann

einen wahrlich zur Raserei bringen! Allein schon ihre Art, auf alle
herabzusehen, die ihre Schnupftabaksdose nicht geziert genug öffnen!“

„Ach, für so’n piekfeines Frauenzimmer is’ sie schon in Ordnung. Beim Tee

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lässt sie einen jedenfalls nich’ verhungern. Passen Sie auf, Mylord, der
Heuwagen!“

Kimbrough achtete weder auf Dimms Worte noch auf das große Gefährt, um

das sie haarscharf herumkamen. „Selbst während eines kurzen Besuchs bei ihr
fällt es mir schwer, die Höflichkeit zu wahren“, schäumte der Earl. „Stellen Sie
sich die einundzwanzig Jahre vor, bis der Junge volljährig wird! Das bedeutet
lebenslänglich!“

„Aber denken Sie dran, wie gut es den Leutchen hier geht, wenn Sie erst die

Güter verwalten! Sie haben selbst gesagt, Denning hat sich um seine Pächter
nich’ die Bohne geschert. Gibt ja noch nich’ mal ’n Doktor hier! Ach übrigens, ’n
Neffe von mir sitzt grad bei mir zu Hause un’ dreht Däumchen. Hat in Edinburgh
Medizin studiert, bis sein Geld alle war. Ich schätze mal, er verpflichtet sich
gerne auf fünf Jahre hier, wenn Sie ihm das letzte Studienjahr bezahlen. Was
meinen Sie, Mylord?“

„In Ordnung.“ Die nächste Kurve nahm der Earl auf zwei Rädern. „Hölle und

Teufel, es wäre mir fast lieber, wenn das Kind ein Mädchen wird. Mit dem Heim
für ledige Mütter kann man sicher über das Stück Land verhandeln.“

„Tja, da können Sie wohl nix tun als beten. Wobei mir einfällt: Mein

Schwager, der Vikar, kann sofort ins Pfarrhaus einziehen.“ Das bedeutete
wieder ein wenig mehr Platz in Dimms Häuschen in Kensington.

Von Seiner Lordschaft kam lediglich ein Brummen. Dann trieb er die Pferde

zu noch größerer Eile an. Dimm musste sich mit beiden Händen festhalten.
„Was Ihnen fehlt, is’ ’ne Frau, Mylord.“

„Sie haben wohl zufällig noch eine in Ihrer weitläufigen Verwandtschaft, was?

Aber das fehlte mir gerade noch – jemand, der ständig an meinem Cognac,
meiner Zigarre oder meiner Fahrweise herummäkelt. Vielen Dank, auf ein
zimperliches Weibsbild kann ich verzichten!“

„Sachte, Mylord. Denken Sie doch mal nach, was passiert, falls Ihre Gnaden in

den nächsten paar Jahren das Zeitliche segnet? Dann haben Sie das Balg am
Hals, Mylord, un’ zwar allein.“

Zum ersten Mal seit zwölf Jahren fuhr Carlinn den Zweispänner in den

Graben.

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9. KAPITEL

Kimbrough hielt Wort und nahm Foster unter seine Fittiche. Zumindest dafür
musste Marisol ihm Anerkennung zollen. Leider brachte jeder Gedanke an den
hochmütigen Earl ihr Blut erneut in Wallung. Vielleicht war das sogar ganz gut.
Die Wutanfälle bildeten die einzige Abwechslung in dem faden Einerlei der
regnerischen grauen Tage.

Der Earl hatte seit der Testamentseröffnung nicht wieder vorgesprochen, der

ungehobelte Feigling. Einfach lächerlich, wie viel er auf die Meinung der Leute
gab! Noch nicht einmal einen nachbarschaftlichen Besuch traute er sich
abzustatten. Innerlich schäumend, musste sich Marisol täglich Fosters
Lobeshymnen über Kimbrough anhören. „Er hat für mich sogar seinem alten
Befehlshaber in der Kavallerie geschrieben. Carlinn sagt, dass ich von ihm höre,
wenn ein Adjutantenposten frei wird.“

Ihren Schwager Boynton bekam Marisol kaum zu Gesicht. Er hielt sich

meistens in Gesellschaft mehrerer Flaschen in seinen Gemächern auf. Die alte
Duchess dagegen war in eine Zwickmühle geraten. Nachdem sie sich bei allen
ihren Freundinnen erbittert über ihre Schwiegertochter, dieses Flittchen, diese
Mörderin, beschwert hatte, wollte niemand mehr einen Fuß in das Haus der
Verfemten setzen. So war die alte Herzogin gezwungen, sich Marisol gegenüber
zurückzuhalten, um eine vierte Person am Whisttisch zu haben.

In dem gemütlichen Dorfgasthof erholte sich Dimm nach dem Kutschierunfall
auf Kosten des Earl in aller Ruhe von seiner Gehirnerschütterung. Leider legte
der Boss in der Bow Street keinerlei Geduld an den Tag. Schon nach einer
Woche befahl er Dimms Rückkehr nach London und verlangte Ergebnisse.

„Verhaften Sie jemanden, Mann! Von mir aus die Frau – man wird sie ohnehin

nicht hängen, also schadet es niemandem.“

„Un’ der Mörder macht sich aus’m Staub. Nee, tut mir Leid, Sir, aber das geht

nich’. Außerdem hab ich so’n Jefühl, Lord Armbruster hat was zu verbergen. Er
gibt einfach sein Alibi nich’ an.“

Der Boss ordnete die Unterlagen auf seinem Schreibtisch und wich Dimms

Blick aus. „Die Männer, die die Wohnung in der Half Moon Street beobachtet
haben, sind jedenfalls abgezogen worden. Befehl von oben.“

Doch so schnell gab ein Dimm nicht auf. Er ließ seinen Sohn Gabriel

gegenüber von Armbrusters Liebesnest in einer Kutsche Stellung beziehen. So
lernte der Junge wenigstens das Handwerk von der Pike auf.

„Fakten sin’ wie Steine. Umso mehr sie sich verstecken, umso tiefer musst du

graben.“

Den Earl hatte es bei dem Unfall schlimmer erwischt als Dimm. Zudem machte

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er sich wütende Vorwürfe, weil er wie ein blutiger Anfänger in den Graben
gefahren war.

Das alles war allein die Schuld dieses Frauenzimmers, das ihn ständig zur

Weißglut brachte. Wie hochnäsig sie ihn ansah! Und selbst mit diesem Köter
Max sprach sie freundlicher als mit ihm. Wie sehr er sich auch einredete, dass
ihm an der Meinung dieses verwöhnten Gesellschaftsdämchens nicht ein Deut
gelegen war – in ihrer Gegenwart kam er sich jedes Mal wieder vor wie ein
Bauerntrampel. Zur Hölle mit ihr! Wie sollte er ihr nun vor die Augen treten?
Die Hälfte seines Gesichts hatte bei dem Unfall Schürfungen davongetragen,
und die angebrochenen Rippen waren verbunden, so dass er sich noch nicht
einmal verbeugen konnte. Wie würde diese Hexe über seine wohlverdiente
Strafe lachen! Lieber hielt er sich von ihr fern. Sollte sie doch glauben, dass er
die Gesellschaft ihres Bruders der ihren vorzog!

Wenn er mit dem jungen Laughton ausritt und ihn in die Grundlagen der

Gutsverwaltung einführte, entkam er wenigstens dem Weiberhaushalt zu
Hause. Ständig umflatterte ihn Cousine Winifred mit Lavendelwasser und
Senfpflastern. Seine Schwester Bettina dagegen benahm sich halb hysterisch
vor Aufregung, je näher ihr Debüt als Gastgeberin rückte. Dabei wurden
lediglich drei Schulfreundinnen mit ihren Mamas erwartet.

Sobald die Gäste eingetroffen waren, wurde Carlinn der Aufenthalt im Haus

erst recht verleidet. Die Mädchen hatten nichts Besseres zu tun, als zu kichern,
kokett die Augen niederzuschlagen und über den Fächerrand hinweg zu flirten,
sobald er in ihre Nähe kam. Der berechnende Schimmer in den Augen ihrer
Mamas war einfach zu deuten. Carlinn verfügte über Titel und Vermögen, und
er war Junggeselle. Allmählich kam er sich in seinem eigenen Heim vor wie ein
Fuchs, dem die Meute auf den Fersen ist.

Was Dimm sich vorstellte – etwa dass er eines dieser schnatternden

Schulmädchen zur Braut wählte? Sie alle, Bettina eingeschlossen, schienen
mehr Haare als Hirn zu haben. Ihre Unterhaltung beschränkte sich auf Kleider,
Verehrer und die Gesellschaften, die sie in London besuchen würden.
Vermutlich würde ihnen die erste Saison nur noch mehr Flausen in den Kopf
setzen. Kimbrough schauderte bei dem bloßen Gedanken daran, eine dieser ...
dieser künftigen Kutschenwitwen zu heiraten.

Nichts konnte ihm daher gelegener kommen als die Nachricht, dass Mr. Dimm

nach London zurückkehren musste. Carlinn wurde immer noch von einem
schlechten Gewissen geplagt, weil er die Schuld an Dimms Verletzungen trug.
So bestand er darauf, den Konstabler in der eigenen wohl gefederten Kutsche in
die Stadt zu bringen. Bei der Gelegenheit konnte er gleich ein paar
Weihnachtseinkäufe erledigen und Foster Laughton einigen Freunden im
Kriegsministerium vorstellen. Sofern dessen Schwester ihn entbehren konnte.

Foster war so begeistert, dass Marisol es nicht übers Herz brachte, ihre

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Zustimmung zu versagen. Hoch und heilig versprach der junge Marquis,
innerhalb einer Woche zurückzukehren.

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10. KAPITEL

Bereits zwei Tage früher als geplant hielt die Kutsche wieder vor Denning
Castle. Foster wurde von Lord Kimbrough und einem jungen Mann in Uniform
die Stufen hinaufgetragen. Als Marisol in die Eingangshalle kam, half der Earl
ihrem Bruder gerade aus dem Überrock.

Fosters Augen waren zugeschwollen, seine Nase kreuz und quer mit Pflastern

verklebt, und seine Lippen bluteten.

„Mein Gott!“ rief Marisol aus. „Was haben Sie mit ihm angestellt?“

Vollkommen außer sich ging sie mit dem Pantoffel, den sie gerade als Geschenk
für ihren Bruder bestickte, auf Kimbrough los. „Reichte es Ihnen denn noch
nicht, meinen Mann umzubringen?“

Foster stöhnte. „Habe ich es nicht gesagt? Sie gerät völlig aus dem

Häuschen. Halt die Luft an, Marisol“, brachte Foster mühsam durch die
aufgesprungenen Lippen heraus. „Nicht Carlinn. Lord Kimbrough würde nie ...“
Er nahm einen Schluck aus der Flasche, die der Earl ihm an den Mund hielt.
Dann legte er den Kopf zurück, so dass er Marisol aus seinen zugeschwollenen
Augen ansehen konnte. „Und reg dich gefälligst nicht so auf, sonst kriegst du
noch hier auf der Stelle das Kind.“

Fosters unverblümte Worte trieben Marisol die Schamesröte in die Wangen.

Sie wandte den Blick von ihrem Bruder ab. Jetzt erst nahm sie wahr, dass auch
Lord Kimbroughs Gesicht Prellungen aufwies.

„Es tut mir Leid.“ Langsam ließ sie den Pantoffel sinken. „Ich hätte das

niemals sagen dürfen. Aber ... Sie hatten doch wohl nicht schon wieder einen
Kutschierunfall?“

„Nein, zum Kuckuck!“ gab Carlinn heftig zurück. Ihre Worte hatten ihm einen

Tiefschlag versetzt. Dieses Frauenzimmer traute ihm also immer noch einen
Mord zu. Er selbst hingegen hatte die Duchess schon lange nicht mehr im
Verdacht. Schließlich kannte er sie und ihren Bruder inzwischen ein wenig. Sie
war hochnäsig und eine wahre Kratzbürste, aber keine Mörderin. Er konnte sich
ohne weiteres vorstellen, wie sie mit einem Schuh auf ihren Mann losging. Aber
mit einer Pistole?

Foster stöhnte, und der Earl flößte ihm einen weiteren Schluck aus der

Flasche ein. „Er sollte ins Bett gebracht werden. Wenn ich ihm hinaufgeholfen
habe, können wir reden.“

Sofort machte Marisol Anstalten, ihren Bruder ebenfalls zu stützen. „Seien Sie

nicht albern, Madam. Ihr Lakai kann uns den Weg zeigen.“ Kimbrough legte
sich den einen Arm des Verletzten um die Schultern, der junge Mann in Uniform
packte den anderen. „Ach ja, bevor ich es vergesse: Das hier ist Joshua Dimm,
einer von Mr. Dimms Söhnen. Er wollte unbedingt zur Armee, also haben wir ihn
als Fosters Offiziersburschen angestellt. Auf der Rückfahrt war er eine große

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Hilfe.“

„Nun dann, vielen Dank, Joshua. Offensichtlich stehen wir in Ihrer Schuld.“
Der junge Mann errötete. „Kein Problem, Euer Gnaden. Er kommt schon

wieder in Ordnung.“

Als sich der Earl zu Marisol in den Salon gesellte und erschöpft in den
angebotenen Stuhl sank, hatte die Duchess bereits die Hälfte der Leckereien
aufgegessen, die zum Tee serviert worden waren. Dankbar ließ sich Kimbrough
eine Tasse einschenken und beobachtete fasziniert, wie seine Gastgeberin
Erdbeermarmelade auf ein Kressesandwich strich.

„Ich muss Sie noch einmal um Verzeihung bitten“, sagte sie, ohne seinen

Blick zu bemerken. „Sie haben Foster nichts als Freundlichkeit erzeigt, das weiß
ich. Alles, was ich zu meiner Entschuldigung vorbringen kann, ist, dass ich
gerade eine ... eine schwierige Zeit durchmache.“

Carlinn hatte schon des Öfteren gehört, dass Frauen in dem delikaten

Zustand der Duchess besonderer Zuwendung bedurften. Sie aber hatte
niemanden, der ihr die Wünsche von den Augen ablas und sie beruhigte. Also
verkniff er sich die Bemerkung, dass man für gewöhnlich nicht Zitrone, Milch,
Zucker und Butter in den Tee nahm.

Während er zusah, wie sie eine Gurkenscheibe zuckerte, gestand er sich mit

schlechtem Gewissen ein, dass er ihr Foster nicht hätte entführen sollen. Und
noch viel weniger hätte er den Jungen in diesem Zustand heimbringen und sie
damit erschrecken dürfen. Wenn er ihr nun erst erzählte, was in London
vorgefallen war ... Schon die ganze Zeit sah sie ihn aus großen blauen Augen
an und wartete darauf, dass er endlich begann. Zur Hölle, er hätte ihr
weismachen sollen, dass er erneut die Kutsche in den Graben gefahren hatte!

„Ich habe Foster zu ein paar Freunden aus der Home Guard mitgenommen“,

erklärte er zögernd, „falls er doch nicht zur Kavallerie gehen will. Ich dachte, Sie
schlafen vielleicht etwas ruhiger, wenn er englischen Boden nicht verlässt.“

Marisol nickte. Wenn er nur wollte, konnte dieser Mann geradezu aufmerksam

sein.

„Bei der Kaserne traf Foster Bekannte und zog mit ihnen ab, während ich bei

einem alten Kameraden dinierte. Ich hatte angenommen, er könnte sich unter
Offizieren seines Alters ungezwungener benehmen. Sonst hätte ich ihn nicht
aus den Augen gelassen.“

„Er ist doch ein junger Mann, kein Kleinkind. Niemand hat verlangt, dass Sie

vierundzwanzig Stunden am Tag auf ihn aufpassen.“

„Aber ich sollte einen guten Einfluss auf ihn ausüben, erinnern Sie sich? Wie

dem auch sei, jedenfalls haben die Grünschnäbel ein wenig zu tief ins Glas
geschaut.“

„Wie es oft bei jungen Männern der Fall ist“, unterbrach ihn die Duchess. In

diesem Augenblick kam der Butler herein und fragte, ob sie noch Wünsche

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habe. „Ja, bitte bringen Sie doch ein paar Erdbeeren mit Sahne, Jeffers.“

Mit unbewegtem Gesicht verbeugte sich der Butler und verschwand, als

könne er tatsächlich mitten im Dezember frische Erdbeeren aus dem Hut
zaubern.

Die Duchess wandte sich erneut Kimbrough zu. „Entschuldigen Sie, Sir. Was

geschah dann?“

Sorgfältig glättete Kimbrough seinen Rockärmel. „Dann erkundigte sich einer

der Burschen nach dem Mord. Es tut mir Leid, aber offenbar fiel dabei Ihr Name,
und Foster fühlte sich verpflichtet, Ihre Ehre zu verteidigen.“

„Ich verstehe.“ Schweigend saß sie eine Weile da. Kimbrough störte sie nicht.
Schließlich bemerkte er: „Er hat es mit einem halben Regiment

aufgenommen und einige der Offiziere mit seinem Mut tief beeindruckt, falls es
Ihnen ein Trost ist. In der Armee ist er gut aufgehoben.“

„Falls er noch lebt, bis die Uniform geschneidert ist. Schließlich kann er nicht

jedes Mal einen Streit vom Zaun brechen, wenn mein Name genannt wird.“
Damit schob die Duchess die Tasse beiseite und griff nach dem Taschentuch.

Kimbrough vernahm ein Schnüffeln. Dann noch eins. Es hielt ihn nicht länger

in dem Sessel. „Verflixt noch mal, unterstehen Sie sich zu weinen!“

Marisol sah zu dem Earl auf, der mit grimmiger Miene vor ihr stand. „Ist das

ein Befehl, Sir?“

„Ja, zum Kuckuck! Ich meine, nein, natürlich nicht. Aber hören Sie auf. Bitte.

Es ... es ist, äh, nicht gut für das Kind.“ Kimbrough griff nach einer Bonbonniere.
„Hier, versuchen Sie eins davon.“

Mit dem Taschentuch betupfte Marisol sich die Augen. „Danke, es geht schon

wieder. Sie sagten, Foster ist nicht ernsthaft verletzt?“

„Der Kurpfuscher in London hat mir versichert, dass nichts gebrochen ist –

abgesehen von der Nase.“

„Schlimm?“
„Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Ich glaube sogar“, fuhr der Earl

erleichtert fort, „dass er hinterher besser aussehen wird. Nicht so hochnäsig,
wenn Sie verstehen, was ich meine.“

Marisol runzelte die Stirn. Was meinte er damit? Foster hatte die Nase der

Laughtons, genau wie sie selbst.

Hastig fuhr Kimbrough fort: „Wahrscheinlich hat er noch eine Weile

Schmerzen und bietet einen nicht gerade schönen Anblick, aber er wird wieder
vollständig genesen. Der Arzt sagt, Ihr Bruder hat einen harten Schädel.“

„Das hätte ich ihm auch sagen können! Vielleicht hat die Sache ja doch noch

ihr Gutes und Foster lernt, sich nicht vorschnell in die Schlacht zu stürzen.“

Jedenfalls nicht, ohne dass ein Regiment hinter ihm steht.“
Während die Duchess noch lächelte, erschien der Butler mit einer Schüssel in

der Hand. Kimbrough lief das Wasser im Mund zusammen, als er einen

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Vanillekuchen mit eingemachten Erdbeeren und Sahne erblickte. Jeffers
verkündete mit unbewegtem Gesicht: „Mit schönen Grüßen von der Köchin,
Euer Gnaden. Sie bittet um Entschuldigung, aber in dieser Jahreszeit ist es das
Beste, was sie tun kann.“

Doch die Duchess winkte ab. „Es tut mir Leid, Jeffers, ich habe keinen Appetit

mehr. Essen Sie es, bevor die Köchin davon Wind bekommt.“

„Sehr wohl, Madam.“ Unter dem bedauernden Blick des Earl entschwand der

Butler mit dem Leckerbissen.

Unruhig knetete Marisol das Taschentuch im Schoß. „Gibt es Neuigkeiten von

Mr. Dimm? Er ist meine einzige Hoffnung, dass dieser Albtraum ein Ende
nimmt.“

„Nein, leider nicht. Das letzte Mal, als ich ihn sah, faselte er irgendetwas von

Tatsachen, die so schlüpfrig seien wie Aale.“

„Aale! Ob wohl die Köchin eingelegten Aal im Haus hat?“

In der Woche vor Weihnachten sprach der Earl zweimal auf Denning Castle vor,
um sich nach Fosters Befinden zu erkundigen. Der junge Marquis sah zwar
immer noch aus, als sei er unter die Räder einer Kutsche geraten, aber er war
wohlauf und langweilte sich. Bei beiden Besuchen hielt sich die Duchess in
ihren Gemächern auf.

„Wegen der Stufen, wissen Sie“, vertraute Foster dem Earl bei einer

Schachpartie an.

„Dann bitte ich Sie lieber, Ihrer Schwester meine Weihnachtsgrüße schon

jetzt auszurichten.“

„Ach nein, vermutlich sehen wir uns Heiligabend in der Kirche. Marisol ist

entschlossen hinzugehen, damit wenigstens ein bisschen Weihnachtsstimmung
aufkommt. Die alte Duchess scheint zu denken, dass sich Arvid im Grabe
umdreht, wenn wir so kurz nach seinem Tod auch nur einen Stechpalmenzweig
aufhängen.“

„Wenn er schon keinen Spaß haben kann, dann soll ihn auch niemand anders

haben, was?“

„Typisch Arvid. Aber Marisol tut, was sie kann – hinter dem Rücken ihrer

Schwiegermutter natürlich.“

„Natürlich.“ Der Earl zog den Turm.
Der trockene Tonfall ließ Foster aufblicken. „Sie hat lediglich dafür gesorgt,

dass im Dienerzimmer ein Mistelzweig hängt und dass alle bis hinunter zum
letzten Küchenmädchen Gebäck und Weihnachtspudding bekommen.
Außerdem hat sie Spielzeug für die Kinder der Pächter besorgen lassen. Nichts
davon ist respektlos oder anrüchig.“

„Immer schön mit der Ruhe, Sie Hitzkopf. Ich meinte nichts weiter, als dass

die Duchess ihren eigenen Willen hat.“

Foster errötete – kein schöner Anblick in seinem gelb und violett schillernden

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Gesicht. „Entschuldigung. Wahrscheinlich sollte ich nicht so empfindlich sein.“

„Stimmt. Ihre Schwester ist durchaus in der Lage, sich bei Bedarf selbst zu

verteidigen.“ Damit vertiefte sich Kimbrough wieder in die Betrachtung des
Schachbretts.

Foster zog einen Bauern. „Marisol hat auch darauf bestanden, dass wir ins

Dorf zur Christmette gehen. Natürlich war die alte Hexe dagegen. Sie sagt, wir
sollten den Gottesdienst in der Hauskapelle abhalten. Schließlich seien wir in
Trauer und Marisol sei – äh ...“

„Stehe zu kurz vor der Entbindung?“ beendete Kimbrough den Satz und bot

Foster Schach. „Natürlich hat das deine Schwester nur darin bestärkt, in die
schlecht gefederte Kutsche zu steigen und durch die kalte Nacht in eine kleine,
ungeheizte Kirche zu fahren. Wie kommt es bloß, dass mich das kein bisschen
überrascht?“

Doch als der Weihnachtsabend herangekommen war, fehlte die herzogliche
Gesellschaft in der Dorfkirche. Nachdem Lord Kimbrough seine Familie
heimgefahren und gebührend auf die Geburt des Christkindes angestoßen
hatte, ritt er nach Denning Castle hinüber, um sich zu erkundigen, was los war.

Die große Stunde war da. Vor Erleichterung fiel Foster dem Earl beinahe um

den Hals. „Dem Himmel sei Dank, dass Sie gekommen sind. Das Kind will zwei
Wochen zu früh auf die Welt. Der eine Arzt in der Stadt hat schon zu viel
Weihnachtspunsch getrunken, der andere liegt selbst mit Grippe im Bett, und
die Hebamme im Dorf besucht über die Festtage ihre Tochter in Oxford. Ich
weiß nicht mehr ein noch aus!“

„Bei Jupiter, was stellen Sie sich denn vor, was ich tun kann?“ Er zuckte die

Schultern. „Eine von den Frauen ...“

Mit zitternden Händen goss Foster dem Earl Brandy ein. „Meine Tante ist eine

alte Jungfer. Weder die Zofe noch die Köchin oder die Haushälterin haben
Kinder. Die alte Duchess hat zwar vier in die Welt gesetzt, aber das ist vierzig
Jahre her.“

„Ich glaube kaum, dass sich der Vorgang seitdem wesentlich verändert hat“,

sagte Carlinn beruhigend.

„Das habe ich ja auch gesagt, aber Marisol will sie nicht an sich heranlassen.

Sie behauptet, die alte Duchess würde das Kind kaltblütig sterben lassen, falls
es ein Junge wird. Natürlich ist meine Schwester im Moment nicht richtig
beieinander, aber vielleicht hat sie ja nicht ganz Unrecht, ich weiß es nicht.
Himmel, was soll ich bloß tun? Sie spricht schon vom Sterben und solchen
Dingen!“

Foster sah genauso verängstigt aus wie ein junger Rekrut im ersten

Artilleriehagel. Kimbrough dagegen fühlte sich, als hätte er einen Volltreffer
abbekommen. Rückzug war unmöglich, also versuchte er es mit

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Verzögerungstaktik. „Was haben Sie bisher unternommen?“

„Sarah, also Marisols Zofe, hat nach ihrer Tante im Pfarrhaus geschickt. Sie

ist Dimms Schwägerin und hat selbst drei oder vier Gören, wenn ich es richtig
verstanden habe.“

„Na also, das ist doch die Lösung! Wir müssen lediglich die Stellung halten,

bis Verstärkung eintrifft. Mrs. Hambley hat vier Kinder. Vor nicht ganz zwei
Stunden habe ich sie noch in der Kirche gesehen. Sie wird wissen, was zu tun
ist.“

Foster schien nicht ganz beruhigt. Oben lag seine Schwester und verfluchte

ihren toten Gatten. „Aber was ist, wenn Mrs. Hambley nicht rechtzeitig hier ist?“

„Denken Sie gar nicht erst daran. Was haben Sie noch getan?“
„Na ja, ich habe Dimm eine Nachricht geschickt. Kann sein, dass Marisol

spinnt, wenn sie glaubt, dass jemand dem Kind an den Kragen will, aber man
weiß ja nie. Allerdings kann er vor morgen nicht hier sein.“

„Eine Nachhut kann nicht schaden. Was noch?“
„Wir haben Wasser aufgesetzt. Das weiß schließlich jeder. Und er“, Foster

wies auf Boynton, der in der Zimmerecke saß, „er hat noch mehr Punsch
bereitet.“

„Ausgezeichnet. Die Moral der Truppe stärken. So, dann setzen wir uns jetzt

also hin und warten. Das ist immer das Härteste an einem Feldzug, die
Warterei. Und es gibt noch etwas, was ein guter Soldat vor der Schlacht tut: Er
betet wie der Teufel.“

Im oberen Stockwerk wurde eine ganz andere Schlacht geschlagen. Marisol
versuchte ihre Schwiegermutter aus dem Schlafzimmer zu werfen, doch die alte
Duchess wich nicht.

„Eine Frau, die mir zutraut, meinem eigenen Enkel etwas anzutun, ist auch

imstande, ein Baby zu vertauschen, um die eigene Haut zu retten. Ich bleibe
hier, bis ich das Kind mit eigenen Augen gesehen habe.“

Lautstark schwor Marisol, sie bekäme das Kind nicht, solange ihre

Schwiegermutter zugegen war. In diesem Augenblick betrat Mrs. Hambley das
Schlafgemach. Als Erstes krempelte sie die Ärmel auf. „Sehen Sie? Kein
Wechselbalg versteckt“, sprach sie die ältere Frau an. „Und ich bin Pfarrersfrau
und würde niemals mitmachen bei so einer Schandtat. Alles, was geschieht, ist
Gottes Wille. Sie können ruhig runtergehn und die Mannsbilder davon abhalten,
sich zu betrinken. Oder Sie setzen sich still in eine Ecke.“ Dann wusch sie sich
die Hände und drehte sich zu der Schwangeren um. „Und wir machen uns an
die Arbeit, statt zu schimpfen. Sparen Sie sich lieber den Atem für das Kleine,
Euer Gnaden. Sieht so aus, als hätten Sie damit schon genug zu tun.“

Gehorsam kümmerte sich Marisol nicht weiter um die alte Duchess.

Stattdessen klammerte sie sich an die Hoffnung, dass ihr elender Gatte für das,
was er ihr angetan hatte, in der Hölle schmorte.

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Die Gentlemen liefen im Salon auf und ab. Später nickte Foster in einem Sessel
ein, während Boynton auf dem Sofa seinen Rausch ausschlief. So drehte der
Earl of Kimbrough schließlich allein seine Runden, was ihn so wütend machte,
dass er schneller und schneller lief. Was zur Hölle tat er überhaupt hier, und
weshalb war ausgerechnet er derjenige, der wach blieb und sich Gedanken
über die Nachkommenschaft Arvid Pendennings machte? Er würde einfach
nach Hause gehen. Sie konnten ihm schließlich einen Boten schicken.

Dann knallte eine Tür. Mit einem Ruck setzte sich Foster auf. Oben wurden

weitere Türen geöffnet und geschlossen. Eine Frau schrie. Boynton wankte zu
der fast leeren Punschschüssel und schenkte sich einen Becher ein. Den
nächsten Schrei hörten sie alle. Wie ein Mann ließen sie den Punsch links liegen
und griffen nach der Brandykaraffe.

Noch ein Schrei. Dann hörten die Männer das unverkennbare Gewimmer

eines neuen Erdenbürgers, der den Weihnachtsmorgen begrüßte.

Boynton und Foster folgten Kimbrough hinaus. In der riesigen Marmorhalle

hallten ihre Schritte wider. Während sich die Minuten zu Ewigkeiten dehnten,
standen sie dort und sahen nach oben.

„Um Himmels willen“, rief Boynton schließlich die Treppe hinauf. „Was ist es

denn nun?“

Ein langer, lauter, schriller Schrei der alten Duchess gab ihm die Antwort.

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11. KAPITEL

Zwei Tage später stattete der Earl der jungen Mutter einen Anstandsbesuch ab.
Schließlich war er der Vormund des Kindes. In der einen Hand hielt er einen
Blumenstrauß aus den Gewächshäusern von Kimbrough Hall, in der anderen
eine silberne Rassel, die er vorausschauend in London besorgt hatte.
Kimbrough beabsichtigte, dem Butler die Geschenke zu überreichen, mit Foster
eine Runde Schach zu spielen und wieder nach Hause zurückzukehren.

Die Duchess machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Sie ließ bitten.

Während er Jeffers die Treppe hinauffolgte, rückte Carlinn sich unbehaglich das
Krawattentuch zurecht.

Marisol lehnte in den geblümten Kissen, den bernsteinfarbenen

Samtmorgenmantel bis zum Kinn zugeknöpft. Ein sonnengelbes Band war
durch den langen blonden Zopf gewunden, der ihr über der Schulter lag. Zwar
sah sie blass und mitgenommen aus, aber glücklicher, als Kimbrough sie je
zuvor gesehen hatte.

Mit einem Nicken nahm die Duchess seine Ankunft zur Kenntnis. Dann

wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder dem kleinen Bündel an ihrer Seite zu.

„Ich wollte Ihnen Ihr Mündel vorstellen, Mylord“, sagte sie mit sanfter

Stimme. „Es ist ein Junge.“

„Ja, ich habe es gehört“, gab Carlinn trocken zurück. Fosters Freudenschreie

und Boyntons Zähneknirschen klangen ihm immer noch im Ohr. Gleich nach
der Geburt hatten die Bediensteten den Erben lautstark hochleben lassen, die
Kirchenglocken läuteten, und Boten wurden nach London geschickt. Am
nächsten Tag hatte Mr. Stenross etliche Papiere zur Unterschrift
vorbeigebracht, Foster fragte wegen des Offizierspatents an, und der
betrunkene Boynton musste aus dem Karpfenteich gefischt werden. Man
konnte mit Fug und Recht behaupten, dass der Earl von dem Ereignis gehört
hatte.

„Und er ist der hübscheste Junge auf der ganzen Welt“, gurrte die Duchess.

„Sehen Sie nur.“

Vorsichtig trat Lord Kimbrough an das Bett heran. „Sehr schön. Meine

Glückwünsche.“

„Seien Sie nicht albern. Von dort aus können Sie sein Gesicht gar nicht

sehen. Kommen Sie näher.“

Sie hatte Recht. Carlinn beugte sich über das Bett. Vorsichtig schob die

Duchess ein paar der Stoffschichten beiseite. Ach du liebe Zeit! Kimbrough war
sich sicher, dass ihm aus morschen Baumstümpfen schon ansprechendere
Wesen entgegengekrochen waren. Doch was das Schlimmste war – dieser rote
und verschrumpelte Wicht besaß unverkennbar bereits die Laughton-Nase. Du
lieber Himmel, dachte der Earl. Muss ich als Bestandteil meiner Pflichten etwa

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auch dafür sorgen, dass seine Nase gebrochen wird? Erwartungsvoll blickte die
Duchess zu ihm auf.

Carlinn hüstelte. „Äh, ja, sehr hübsch. Strammer Junge.“ Das hatte jedenfalls

die Tante gesagt. In den Augen des Earl wirkte das Kind kaum größer als ein
neu geborener Jagdhund-Welpe, und keineswegs so niedlich. Aber offenbar
hatte er das Richtige gesagt, denn die Duchess lächelte selig.

„Haben Sie bereits einen Namen für ihn ausgewählt?“ lenkte Kimbrough das

Gespräch vorsichtig auf ein unverfänglicheres Thema. „Ich, äh, habe ihm ein
Geschenk mitgebracht, aber das Monogramm muss noch eingraviert werden.“
Er streckte der stolzen Mutter das Päckchen hin. Die Zofe nahm ihm die Blumen
ab und rückte ihm einen Stuhl ans Bett. So viel zu dem kurzen Anstandsbesuch.

Marisol wickelte die Silberrassel aus. „Wie freundlich von Ihnen. Nolly wird

sich sehr darüber freuen, wenn er ein bisschen älter ist.“

„Nolly? Hören Sie, ich habe zwar versprochen, mich nicht einzumischen, aber

Sie können Ihren Sohn wirklich nicht mit einem Namen wie Nolly durchs Leben
schicken. Bei Jupiter, die anderen Kinder würden ihm die Schulzeit zur Hölle
machen!“

„Das weiß ich, Mylord. So töricht bin ich nun auch wieder nicht. Sein Name

lautet Noel, weil er am Weihnachtstag geboren wurde. Aber wir nennen ihn
Nolly, bis er ein wenig größer ist. Meine Schwiegermutter ist natürlich außer
sich.“

„Natürlich. Ich nehme an, dass sie das Kind Arvid nennen wollte?“
„Ja, damit sein Andenken fortlebt. Nichts läge meinen Wünschen ferner! Ich

bete täglich, dass Nolly seinem Vater so wenig wie möglich ähnelt.“

Zumindest mit der Nase des verstorbenen Duke wäre Nolly besser dran,

überlegte Kimbrough. Aber er behielt diesen Gedanken für sich.

„Noel ist ein so hoffnungsfroher Name, finden Sie nicht auch? Noel Alistaire

Laughton Pendenning, siebter Duke of Denning. Natürlich spielt der Titel im
Augenblick noch keine Rolle.“

„Natürlich nicht. Hat sich denn die Herzoginwitwe nun mit ihrem, äh, viel

versprechenden Enkel abgefunden?“

„Keineswegs! Wir haben uns schon wieder gestritten. Sie möchte Nolly ins

Kinderzimmer verbannen, wo niemand als Boyntons taube alte Kinderfrau auf
ihn aufpasst.“

„Kommen Sie denn alleine mit dem Kind zurecht? Schließlich müssen Sie

bald wieder die Aufsicht über dieses riesige Gemäuer führen und Ihre
Schwiegermutter vom Thron stoßen. Vermutlich brauchen Sie bis dahin alle
Ruhe und Erholung, die Sie bekommen können.“

Marisol nickte, während sie den Säugling sorgfältig wieder zudeckte. „Meine

Zofe Sarah ist ein Goldstück. Sie geht mir zur Hand, bis ihre Schwester hier
eintrifft. Mr. Dimm sagte, Rebecca habe schon bei den Kindern der Hambleys

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geholfen. Was für ein Glück, dass sie gerade auf Stellungssuche war!“

„Ach, dann haben Sie also mit Dimm gesprochen?“ In den Anblick seiner

polierten Stiefel versunken, fragte er sich, wie viel der Konstabler von den
neuesten Ereignissen hatte verlauten lassen.

Während die Duchess den Kopf des Säuglings liebkoste, antwortete sie: Ja,

Mr. Dimm kam gestern Nachmittag hier vorbei. Ist es nicht wunderbar?“

„Was? Dass Mr. Dimm Ihnen einen Besuch abgestattet hat?“
„Nein, die Schießerei. Ich meine, natürlich ist es für Lord Ashcroft oder seine

Familie nicht so wunderbar, aber ich habe es nicht getan.“

Zu spät. Wahrscheinlich hatte Kindbettfieber bereits ihren Verstand in

Mitleidenschaft gezogen. „Wie bitte?“

„Nun seien Sie doch nicht so schwer von Begriff! Ihr Nachbar, Lord Ashcroft,

wurde in seiner Kutsche angeschossen, als er am Weihnachtsmorgen zum
Squire fuhr. Und kein Mensch in ganz England kann mir die Tat in die Schuhe
schieben. Ist das nicht herrlich?“

„Also wirklich, einen größeren Schwachsinn habe ich noch nie gehört! Es

handelt sich um nichts als einen missglückten Raubüberfall. Ashcroft hat
lediglich eine Fleischwunde davongetragen. Das Ganze hat weder mit Ihnen
noch mit Arvid auch nur das Geringste zu tun.“

„Warum hat Mr. Dimm dann Foster gefragt, ob er nach Nollys Geburt

geradewegs zu Bett gegangen sei? Und Boynton, ob er noch Umwege gemacht
habe, bevor er in den Gasthof ging?“

„Weil ich der örtliche Friedensrichter bin und ihn gebeten habe, bei den

Ermittlungen zu helfen. Er wollte wissen, ob wir etwas gesehen haben, das ist
alles.“

„Wir? Waren Sie etwa auch nicht zu Hause?“
„Nein, ich habe mit den anderen Verdächtigen hier gewacht. Nach dem

glücklichen Ereignis bin ich querfeldein nach Kimbrough Hall gegangen, ohne
jemandem zu begegnen. Dort habe ich mich selbst ins Haus gelassen und allein
in meinem Bett geschlafen, bis mich meine Schwester geweckt hat, um die
Geschenke auszupacken. Kein Alibi.“ Die Arme vor der Brust verschränkt,
funkelte er die Duchess an.

„Aha. Nun ja, wenn Sie es sagen, wird es wohl ein Raubüberfall gewesen sein.

Foster ist viel zu aufgeregt, dass er endlich zur Armee gehen kann. Und
Boynton habe ich versprochen, seine Schulden zu bezahlen, wenn es ein Junge
wird. Also gibt es weit und breit kein Motiv.“ Endlich riss sie den Blick lange
genug von dem Baby los, um die zusammengezogenen Augenbrauen des Earl
zu bemerken. „Und Sie sind selbstverständlich viel zu sehr Ehrenmann.“

Kimbrough erhob sich. „Vielen herzlichen Dank. Ich muss mich auf den Weg

machen. Schließlich bin ich Friedensrichter und habe ein Verbrechen
aufzuklären.“

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Da die Duchess schon wieder hingerissen das Kind in ihrem Arm betrachtete,

entging ihr sein Sarkasmus vollkommen. „Wissen Sie“, sagte sie, „ich glaube,
ich könnte wirklich töten. Früher dachte ich, dass ich dazu nicht imstande wäre.
Aber seit ich Nolly beschützen muss, sehe ich das anders.“ Mit einem kalten,
harten Gesichtsausdruck blickte sie auf. „Meinetwegen spielen Sie Nollys
Vormund, aber ich schwöre, wenn Sie ihm auch nur ein Haar krümmen, dann
...“

„Nolly hat bisher überhaupt kein Haar auf dem Kopf! Und ich bin weder ein

Mörder, noch misshandle ich Kinder! Was glauben Sie denn – dass ich Nolly
hängen und vierteilen lasse, wenn er die Windel voll macht?“

Das Kind begann zu schreien, und Marisol drückte es beschützend an sich.

„Sehen Sie, nun brüllen Sie auch noch! Wenn Sie einen winzigen Säugling
anbrüllen können, dann sind Sie zu allem fähig!“

„Ich habe nicht das Kind angebrüllt, Madam, sondern Sie!“ Carlinn senkte die

Stimme zu einem durchdringenden Flüstern. „Und ja, Sie reizen mich über alles
erträgliche Maß hinaus, aber das ist auch alles, hören Sie? Das ist alles! Ich
kann wütend sein, ohne gleich handgreiflich zu werden. Der Himmel weiß, dass
mir bei Ihnen manchmal fast der Geduldsfaden reißt, aber ich bin kein
gewalttätiger Mann! Und eins will ich Ihnen auch noch sagen, Ihr Kind ist nicht
...“ Er hatte sagen wollen „nicht hübsch“. Aber dann fiel sein Blick auf die
Duchess, die den Säugling im Arm wiegte und ihm besänftigende Worte
zuflüsterte. Augenblicklich bedauerte er, eine solche Kränkung auch nur
gedacht zu haben, und endete lahm: „Ihr Kind ist nicht in Gefahr.“

„Diese Frau hat Angst vor mir! Soll sie der Teufel holen.“

„Regen Sie sich man nich’ auf, Mylord“, tröstete Dimm ihn über den Rand

seines Cognacglases hinweg. „Frauenzimmer sin’ unberechenbar, besonders im
Zustand Ihrer Gnaden. Launisch.“

„Ja, aber diese Person kennt lediglich schlechte Laune! Und nicht erst seit der

Niederkunft. Sie hat immer schon Angst vor mir gehabt.“

„Wenn Sie mal drüber nachdenken – vielleicht hat sie sogar Grund dazu.“

Dimm hob den Cognacschwenker gegen das Licht und bewunderte die
bernsteinfarbene Flüssigkeit. Doch er dehnte die Betrachtung nicht über
Gebühr aus, sondern nahm wieder einen Schluck. „Sehn Sie: Sie is’ ’ne
Duchess, zugegeben, aber eigentlich is’ sie nix als ’n schwaches Dingelchen,
das sich noch nich’ mal gegen ’ne Fliege verteidigen kann. Un’ Sie sin’ ’n
großer, Furcht einflößender Mann, der ganz schön brüllen kann.“ Bevor der Earl
widersprechen konnte, hob Dimm die Hand. „Weiß schon, Mylord. Sie haben
Ihre Truppen angeschrien, damit sie Ihnen gehorchen. Aber die Duchess is’ nun
mal kein Soldat.“

„Nach Ihrer Beschreibung könnte man meinen, ich sei Attila der

Hunnenkönig. Verdammt, ich bin ein Gentleman!“

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„Wissen Sie, ich könnt’ mir vorstellen, das gilt nicht viel bei Ihrer Gnaden.

Gucken Sie sich doch mal die Gentlemen an, mit denen sie’s bisher zu tun
hatte: Ihr Bruder is’ ’n hitzköpfiger Milchbart, der mit den Fäusten schneller is’
als mit der Zunge. Ihr Vater scheint zwar ’n ganz anständiger Kerl gewesen zu
sein. Aber wenn er das Familienvermögen nich’ durchgebracht hätte, hätte die
Duchess nich’ den höchsten Bieter nehmen müssen: Denning. Un’ der war’n
gewalttätiger Mann. Nee, kein Wunder, dass sie vor Männern Bammel hat.“

„Wollen Sie damit etwa sagen, er – nein, ich möchte es lieber gar nicht erst

wissen.“ Kimbrough schwenkte den Cognac im Glas. „Dieser Bastard.“

„Darauf trink ich gern.“ Und Dimm ließ den Worten Taten folgen. Die Füße

hoch gelegt und die Pfeife im Mund, betrachtete er den Earl, der ihm
gegenüber im Ledersessel saß. „So ’ne Frau braucht ’n Mann mit sanfter Hand,
genau wie ’n Fohlen, das zu hart an die Kandare genommen wurde. Sonst lässt
sie keinen Mann mehr an sich ran.“

„Glauben Sie etwa, dass die Duchess allein bleibt?“ Kimbroughs Erfahrung

nach griffen alle Frauen sofort zu, wenn sich ihnen die Gelegenheit zum
Heiraten bot.

„Schwer zu sagen. Jedenfalls is’ klar, bei ihrer Pinke hat sie’s nich’ nötig. Die

Männer scharwenzeln sicher um sie rum wie Bienen um ’n Honigtopf. Sobald sie
wieder auf ’n Beinen ist und ausgeht, kann sie in Ruhe auswählen.“

„Oh nein. Wenn ich dabei ein Wörtchen mitzureden habe, heiratet sie keinen

Mitgiftjäger.“

„Haben Sie aber nich’, wenn Sie mir die Offenheit verzeihen. Sie sin’

Vormund von dem Jungen, nich’ von Ihrer Gnaden.“

„Genau. Und mein Mündel wird nicht unter dem Dach eines zwielichtigen

Halunken wohnen.“

Dimm pfiff. „Ich seh’ Stürme voraus. Will lieber nich’ dabei sein, wenn Sie der

Duchess sagen, sie kann wieder nich’ heiraten, wen sie will. Falls sie überhaupt
will.“

„Unsinn. Ich würde diese Angelegenheit nicht mit ihr besprechen, sondern

dem Kerl einen Hinweis zukommen lassen. Und damit täte ich ihm sowieso
einen Gefallen. Ihre Gnaden wäre eine grauenhafte Ehefrau.“

Bedächtig schüttelte Dimm den Kopf. „Ich weiß wirklich nich’, warum Sie

ständig mit ihr aneinander geraten. Die Duchess is’ ’ne echte Dame, außerdem
klug un’ ’n Bild von ’nem Frauenzimmer.“

„Sie meinen wohl ein Bild von einem Schlachtschiff! Nein, ich heirate einmal

eine zierliche Frau, das steht fest. Und fügsam, bei Jupiter, ohne all diese
Launen und Grillen.“

„Ach, Sie überlegen auch, sich Ehefesseln anlegen zu lassen?“ erkundigte

sich Dimm.

„Nachdem Denning so plötzlich das Zeitliche gesegnet hat und Ashcroft

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angeschossen wurde, bin ich nachdenklich geworden. Außerdem ist da noch
meine Schwester und ihr verwünschtes Debüt. Eine wohlerzogene, angesehene
Gattin könnte Bettina unter ihre Fittiche nehmen und die Sache stilvoll
aufziehen.“

„Sie suchen also ’ne Frau, die Ihren Frieden nich’ stört, nich’ vor den

Patronessen von Almack’s kuschen muss un’ außerdem nich’ zu kostspielig is’?“

Carlinn erhob das Glas auf die Scharfsicht des Konstablers. „Klingt ideal.“
Genauso gut könnte man einen Besen mit ins Bett nehmen, dachte Dimm,

äußerte den Gedanken jedoch nicht laut. Stattdessen fragte er: „Un’ wo woll’n
Sie so’n Fabelwesen auftreiben, Mylord? Falls ich fragen darf.“

Der Earl wischte den Einwand mit einer Handbewegung beiseite. Jedenfalls

nicht in London, so viel steht fest. Ich brauche keinen geschliffenen Diamanten,
der im Bett kalt ist wie ein Stein und zu meiner Schwester und meinen Pächtern
hart wie ein Fels. Aber natürlich darf meine Braut auch keine sitzen gebliebene
alte Jungfer sein. Außerdem keines dieser schnatternden Gänschen, sonst muss
ich während der Saison zwei junge Dinger hüten. Und bitte auch keine
Unschuld vom Lande, der es am notwendigen Schliff fehlt.“

„Hmm. Ganz schön wählerisch. Nich’ zu alt, nich’ zu jung, nich’ vom Land,

nich’ aus der Stadt. Kein Wunder, dass man Sie noch nich’ vor’n Altar gezerrt
hat.“

„Sie täuschen sich. Es gibt ihn tatsächlich, diesen Ausbund aller Tugenden.

Die Patentochter meiner Cousine Winifred gilt als gefeierte Schönheit von Bath,
wo sie ihre leidende Mutter pflegt. Ein gutes Zeichen, finden Sie nicht? Das
Mädel kennt seine Pflichten. Vor drei Jahren hatte sie eine Saison in London und
seitdem zwei Heiratsanträge, soweit Cousine Winifred weiß. Also ist sie keine
Schreckschraube, wenn auch vielleicht keine Unvergleichliche. Das ist die Art
von Frau, die mir vorschwebt – eine verantwortungsbewusste Dame, auf deren
Vernunft und Weltklugheit man sich verlassen kann.“

„Un’ – ist sie dünn genug? Oder besser, wie dünn is’ die Mama? Ich sag

immer, ein Blick auf’n Stammbaum, un’ man weiß Bescheid“, erwiderte Dimm.

„Lady Sherville hat ihre schlanke Figur bewahrt“, war alles, was der Earl dazu

äußerte. Lady Sherville war dürr wie eine Hopfenstange, und leider war ihre
Tochter so flachbrüstig wie ein Junge. Dafür kam Miss Edelia Sherville aus guter
Familie, besaß geschliffene Manieren, beste Verbindungen und sogar eine
beachtliche Mitgift. Ein Mann konnte schließlich nicht alles haben.

„Un’? Wann machen Sie dem Mädel ’n Antrag?“

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12. KAPITEL

Man durfte diese Dinge nicht überstürzen. Gevatter Tod mochte ja winken,
aber, zum Henker, man hatte sich schließlich auch noch um andere Dinge zu
kümmern.

Als Erstes galt es, das Stück Land, das Denning ihm überschrieben hatte,

trockenzulegen. Kimbrough traf sich täglich mit dem neuen Verwalter, den er
für die Güter des dahingeschiedenen Duke eingestellt hatte, und besprach mit
ihm die notwendigsten Arbeiten und Verbesserungen. Nachdem Denning Land
und Pächter jahrelang vernachlässigt hatte, wusste man kaum, wo beginnen.

Dann musste Kimbrough für das Offizierspatent Foster Laughtons sorgen. Der

Bursche musste so schnell wie möglich in die Armee, wo er mit seinem hitzigen
Temperament keinen Schaden mehr anrichten konnte. Vorher galt es aber, ihm
und seinem Burschen Uniformen und Reittiere zu verschaffen.

Außerdem verunsicherte ein weiterer Raubüberfall die Bewohner Berkshires,

und Kimbrough musste als Friedensrichter zusammen mit Dimm die
Ermittlungen leiten.

Nein, mit der Reise nach Bath hatte es wahrlich keine Eile. Wenn jahrelang

niemand die flachbrüstige Miss Edelia Sherville heimgeführt hatte, konnte sie
gut und gerne noch einen oder zwei Monate warten. Der Earl redete sich ein,
dass ihr Mangel an weiblichen Kurven nichts mit seinem Zögern zu tun hatte.
Schließlich wünschte er sich eine schlanke Frau. Außerdem fehlte Miss Sherville
nichts, was nicht durch ein oder zwei Kinder zu beheben war.

Draußen tobten die Winterstürme, aber der neue Wind, der durch Denning
Castle blies, war nicht weniger frisch. Marisol hatte das Regiment im Haus – in
ihrem Haus – übernommen. Foster flüchtete nach London. Boynton, dem
Marisol die Schulden bezahlt und die Apanage erhöht hatte, reiste im Gefolge
des Prinzregenten nach Brighton. Die alte Duchess hielt sich in ihren
Gemächern auf. Dass sie verschnupft war, hatte nichts mit dem Wetter zu tun.

Marisol ließ im Schloss das Unterste zuoberst kehren. Tagaus, tagein lief sie

die langen Marmortreppen auf und ab. Sie war entschlossen, bis zum Frühling
ihre schlanke Gestalt wiederzuhaben, um die leichten Musselinkleider tragen zu
können, die sie so liebte. Daher ordnete sie auch an, dass zum Dinner weniger
Gänge serviert wurden. Ihre Schwiegermutter ließ sich ohnehin wegen
Kopfschmerzen von den Mahlzeiten entschuldigen. Vermutlich hatte sie den
Kopf zu oft gegen die Wand geschlagen.

Nolly wuchs und gedieh. Wie war es auch anders möglich angesichts der

Liebe, die seine Mutter ihm schenkte? Der Säugling wurde von den
Strickmützchen, Söckchen und Decken seiner Tante Tess warm gehalten, von
Dimms Tochter Rebecca gewickelt und gewaschen und von ihrer Schwester

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Sarah auf den Arm genommen, sobald er den geringsten Laut von sich gab.
Zusätzlich hätschelte und tätschelte ihn ein ganzer Haushalt von Menschen,
deren Lebensunterhalt von ihm abhing.

Das Einzige, was der kleine Herzog entbehrte – nicht dass er den Verlust

besonders schmerzlich empfunden hätte – war die Zuneigung seiner
Großmutter, die unter Herzbeschwerden litt. Vermutlich hatte sie keines.

Kein Pfau hätte stolzer sein Gefieder vorführen können als Foster seinen
brandneuen scharlachroten Regimentsrock.

„Du liebe Zeit“, rief Marisol aus. „Wie soll ich dich nur gehen lassen?“ Ihr

Bruder war nun kein kleiner Junge mehr, der Soldat spielte. Dieses Mal ging es
wirklich in den Krieg, und Degen und Pistolen waren echt.

„Sei keine Gans“, empfahl ihr Foster liebevoll. „Du kannst mich nicht

aufhalten. Außerdem warst du diejenige, die mir diese Chance gegeben hat.
Arvid hätte mir nie geholfen, bei Jupiter.“

Natürlich hatte er Recht, aber sie würde ihn trotzdem vermissen und sich

Sorgen um ihn machen. Allerdings wollte sie ihn um keinen Preis mit ihren
Ängsten belasten. Daher bemerkte sie nur, wie stolz Nolly sein würde, einen
Helden zum Onkel zu haben.

„Aha!“ neckte Foster sie. „Wusste ich es doch, dass du es keine zwei Minuten

aushalten würdest, ohne das Balg zu erwähnen! Du wirst mich überhaupt nicht
vermissen, solange du nur um Nolly herumtanzen kannst. Ich glaube fast, im
vergangenen Monat hast du mich kaum bemerkt.“ Wohlwollend kitzelte er den
schlafenden Säugling unter dem Kinn.

„Das stimmt nicht!“ Jedenfalls nicht ganz.
Als Fosters Marschbefehl eintraf, legte Marisol den Termin für Nollys Taufe

fest. So konnte er für seinen Neffen Pate stehen, bevor er sich mit seiner Truppe
einschiffte.

Marisol verschickte für die Taufzeremonie in Pfarrer Hambleys kleiner Kirche

und den folgenden Empfang auf Denning Castle Einladungen in die ganze
Nachbarschaft. Doch es trafen kaum Zusagen ein. Dennoch machte sich Marisol
so viele Gedanken um ihre Kleidung wie schon lange nicht mehr. Die Zofe hatte
eine der alten lavendelfarbenen Roben mit schwarzen Bändern und Spitzen auf
Halbtrauer getrimmt. Das lange blonde Haar der Duchess fasste Sarah locker
zusammen und setzte ihr ein modisches Hütchen mit einem langen schwarzen
Schleier auf. Sowohl der Hut als auch das Oberteil des Kleids waren mit kleinen
Veilchensträußen aus Seide geschmückt. Schwarze Handschuhe
vervollständigten die Toilette. Von ausgemachten Moralaposteln einmal
abgesehen, dürfte niemand daran etwas auszusetzen haben. Und da die
sittenstrengsten Damen der Nachbarschaft auf ihre Einladung noch nicht
einmal geantwortet hatten, war Marisol unbesorgt. Sie fühlte sich beinahe
wieder attraktiv.

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Langsam füllte sich die kleine Kirche. Es waren mehr Angehörige von

Jeremiah Dimm als von dem Täufling zugegen. Nun gut. Das waren die
Menschen, denen wirklich etwas am Wohlergehen des kleinen Duke lag.

Dann traf Lord Kimbrough ein. Streng ermahnte sich Marisol, dass es keinen

Grund gab, überrascht zu sein. Immerhin war Nolly das Mündel des Earl, und
Kimbrough war äußerst gewissenhaft in der Ausübung seiner Pflichten. Er
erschien sogar dem Anlass entsprechend in einem Rock aus feinstem Bath-Tuch
und taubengrauen Pantalons. Seine Lordschaft mochte ein wenig zu groß sein,
um eine wirklich elegante Erscheinung zu bieten, aber er sah trotzdem tipptopp
aus, um mit Foster zu sprechen. Abgesehen von der finsteren Miene natürlich.
Nicht dass der Anblick von Lord Kimbroughs zusammengezogenen Brauen
Marisol sonderlich neu gewesen wäre. Aber sie fragte sich dennoch, ob er
Anstoß daran nahm, dass sie Foster als Paten gewählt hatte. Die Vormundschaft
reichte für einen Mann voll und ganz, hatte sie entschieden.

Als Foster hinausging, um dem Earl die Hand zu schütteln, erkannte Marisol,

dass die Zornesfalten auf Kimbroughs Stirn ausnahmsweise einmal nichts mit
ihr zu tun hatten. Er war außer sich, dass er gezwungen war, den jungen
Marquis seiner Familie vorzustellen. Foster, dieser gut aussehende Nichtsnutz,
beugte sich höflich über die Hand der ältlichen Cousine und der jüngeren
Schwester des Earl. Letztere, eine brünette Schönheit, blickte Foster trotz
seiner allmählich verblassenden blauen Flecken mit unverhohlener
Bewunderung an. Hastig wurde sie von ihrem wütenden Bruder in eine der
Kirchenbänke geschoben.

Marisol musste ein schadenfrohes Lächeln unterdrücken. Soso, war

Kimbrough also doch daran gescheitert, seine Schwester von dem schlechten
Einfluss der Pendenning-Sippe fern zu halten.

In diesem Augenblick strömte eine Schar bunt gekleideter Dandys durch die

Eingangstür. Boynton hatte es mit einigen seiner Freunde noch rechtzeitig zur
Taufe geschafft – und, wie er lautstark erklärte, ein Geschenk des Prinzregenten
mitgebracht.

„Hoffentlich kein Porträt Seiner königlichen Hoheit“, flüsterte Tess Laughton

ihrer Nichte zu. „Lady Harrowsmith hat der Regent damals eines geschickt.
Selbstverständlich musste sie es im Kinderzimmer aufhängen, und das arme
Kleine hatte jahrelang Albträume.“

Marisol wurde der Notwendigkeit einer Antwort enthoben, da die Eingangstür

erneut aufging.

Fanfaren hätten ertönen müssen. Zumindest hätte ein ehrwürdiger Butler am

anderen Ende des roten Teppichs stehen müssen, um den Neuankömmling
anzukündigen. Nein, nicht der Prinzregent hatte in letzter Sekunde
entschieden, doch noch persönlich zu erscheinen, sondern Ihre Gnaden, die alte
Duchess.

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Am Arm ihres Kaplans stolzierte sie in die Kirche, von Kopf bis Fuß in

schwarzen Krepp gehüllt. Den pflichtbewussten Wangenkuss ihres Sohnes und
die Verbeugungen der restlichen Gentlemen wischte sie mit einer
Handbewegung beiseite. Zielstrebig segelte sie auf die erste Bank zu. Als Lord
Kimbroughs Schwester bei ihrem Vorübergehen in einem tiefen Knicks versank,
hielt sie an, tätschelte dem Mädchen die Hand und sagte: „Üben Sie.“ Selbst
über den halben Kirchenraum hinweg konnte Marisol erkennen, wie Bettinas
Unterlippe zu zittern begann. Doch dann trug Foster der Duchess einen Schal
hinterher, den sie fallen gelassen hatte, und zwinkerte dem Mädchen zu. Sofort
ging die Sonne in Bettinas Gesicht wieder auf.

Ach du liebe Zeit, Kimbrough wird alles andere als beglückt sein, dachte

Marisol gerade noch. Doch schon fuhr eine Kutsche nach der anderen vor und
setzte hochherrschaftliche Gäste an der kleinen Kirche ab. Wo die alte Duchess
befahl, da folgten ihr sämtliche juwelenbehängten und turbangekrönten alten
Harpyien der Nachbarschaft, ihrerseits gefolgt von Ehemännern, Söhnen und
Töchtern.

Hastig ließ Marisol Sarah eine Nachricht zum Schloss schicken. Die Köchin

musste gewarnt werden, dass eine Menge unangemeldeter Gäste erschienen
war.

Endlich war es so weit. Marisol legte Foster den kleinen Noel Alistaire

Laughton Pendenning in den Arm und weinte, als Pfarrer Hambley den Segen
über dem kleinen Köpfchen sprach.

Nolly benahm sich, Foster hörte auf, Lady Bettina zuzulächeln, und die alte

Duchess nickte.

Später nahm Marisol die Glückwünsche der Gesellschaft und Komplimente

über ihren hübschen Sohn, die eleganten, neu ausgestatteten Salons und die
köstlichen Erfrischungen entgegen. Wenn einige der Gäste die gebotenen
Leckereien insgeheim ein wenig schlicht fanden, so war das nicht weiter
verwunderlich. Die Köchin war über sich selbst hinausgewachsen, aber viele der
Gerichte waren ursprünglich für die Feier im Dienerzimmer gedacht gewesen.
Die Duchess hatte dem Personal ein noch größeres Fest am nächsten Tag
versprochen – und ein Geldgeschenk.

Dennoch waren die Gäste dank der ausgezeichneten Weine in

Hochstimmung. Die beste Laune verbreitete die alte Duchess, die ihren Enkel
auf den Knien hielt, so dass sein langes weißes Spitzentaufkleid über ihre
schwarze Trauerrobe fiel. „Dieses Kleid haben schon Arvid und Boynton
getragen, und ihre Ahnen vor ihnen“, erklärte die Duchess. „Aber keiner von
ihnen war ein so prächtiges Bürschchen wie Noel, nicht wahr, mein Kleiner?“

Mit aller Macht versuchte Marisol die Tränen zurückzuhalten. Lord Kimbrough

steckte ihr unauffällig ein Taschentuch zu.

„Hoffentlich Freudentränen“, bemerkte er gebieterisch, drehte sich jedoch so,

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dass sein breiter Rücken sie vor neugierigen Blicken abschirmte.

„Vielen Dank. Und danke, dass Sie gekommen sind. Es war ein wunderbarer

Tag.“

„Das freut mich für Sie“, antwortete er, und er meinte jedes Wort. Diese Frau

konnte ihn mit einem Kräuseln ihrer Lippen in Rage bringen, und ihre Tränen
verwandelten seine Knie in Pudding. Dennoch war er froh, sie zufrieden im
Kreise ihrer Familie und der hiesigen Gesellschaft zu sehen. Ja, dachte Carlinn,
ein guter Tag und ein glücklicher Anlass. Wenn nur nicht seine Schwester
schon wieder am Arm des jungen Foster Laughton hinge!

Verwünscht! Die Reise nach Bath wurde immer dringender. Wenn Bettina

bereits beim Anblick der erstbesten scharlachroten Uniform schwach wurde,
dann war es höchste Zeit, sie endlich in die Gesellschaft einzuführen. Vielleicht
sollte er sie für ein, zwei Monate nach Bath bringen. Dort konnte sie lernen, sich
in den kleineren Kreisen des ton zu bewegen, der dort den Winter verbrachte.
Das war es! Am besten fuhr er schon einmal voraus, um eine geeignete
Unterkunft zu finden und sich ein wenig umzusehen. Dann war es auch weniger
offensichtlich, dass er eigentlich Miss Edelia Sherville in Augenschein nahm. Ich
brauche eine Gattin, sagte Kimbrough sich mit Nachdruck. Bettina braucht das
Vorbild einer reifen, verantwortungsbewussten Dame wie Miss Sherville. Jawohl,
ich tue es. Sobald wir den Straßenräuber gefasst haben.

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13. KAPITEL

Der Fall des Räubers erhielt noch an jenem Abend neue Dringlichkeit. Einer von
Boyntons Freunden wurde nach Verlassen der Tauffeier überfallen. Der Dieb
entkam, und Sir Oswald kehrte leicht mitgenommen, um etliche
Wertgegenstände erleichtert und mit einem Einschussloch in seinem eleganten
Biberhut nach Denning Castle zurück. Rebecca braute ihm einen speziellen
Beruhigungstee. Unterdessen warteten Marisol und Foster auf den örlichen
Konstabler, Mr. Dimm und den Friedensrichter, Lord Kimbrough.

Sir Oswald gab von dem Straßenräuber die gleiche Beschreibung wie das

vorherige Opfer, Lord Ashcroft. Allerdings passte sie auf keinen der
ortsbekannten Missetäter. Zudem waren diese bisher lediglich durch Wilderei,
Raufhändel und Schmuggelei aufgefallen. Lord Kimbrough versuchte die
Duchess zu beruhigen. Diese abgelegene Gegend Berkshires konnte nicht
gerade als Tummelplatz für Verbrecher gelten.

„Zumindest nicht, bevor wir Londoner hier angekommen sind“, bemerkte

Marisol und bot dem Earl Sherry an. Kimbrough war mit Dimm und dem
Konstabler übereingekommen, lieber morgen früh bei Tageslicht am Tatort
nach Spuren zu suchen.

„Unter der höflichen Maske stand heute deutlich in den Mienen der Damen zu

lesen, dass wir hier nicht willkommen sind“, fuhr Marisol fort. „Glücklicherweise
reist Foster am Dienstag ab. Zumindest ihm kann man dann nichts mehr
vorwerfen.“

Der junge Marquis schenkte Sherry ein. Bei den Worten seiner Schwester fuhr

er sich durch das Haar. „Verflixt, jetzt tut es mir Leid, dass ich wegmuss. Ich
würde Ihnen liebend gerne bei der Verbrecherjagd zur Hand gehen, den
Halunken aufspüren und damit diesen Humbug ein für alle Mal aus der Welt
schaffen.“

„Versuchen Sie lieber, den Korsen aus der Welt zu schaffen, Sie

Grünschnabel“, empfahl Kimbrough dem jungen Mann. Dieser nahm die Worte
mit einem Grinsen entgegen.

Doch Marisol ließ sich nicht so einfach ablenken. Nachdem der Earl gegangen

war, lag sie noch lange wach und machte sich Sorgen. So kam es, dass sie die
Geräusche nebenan in Nollys Zimmer bemerkte.

Sie streckte die Hand nach dem Leuchter aus. Dabei fegte sie ein Buch vom

Nachttisch, das mit lautem Knall zu Boden fiel. Es folgte ein unterdrückter
Fluch, ein Schrei von Rebecca und eine hastig geschlossene Tür. Zur Hölle mit
der Kerze, dachte Marisol, während sie schon zu ihrem Sohn hinübereilte. Dabei
rief sie so laut seinen Namen, dass jeder im ganzen Schloss bis auf Tante Tess
und die alte Duchess in ihrem abgelegenen Flügel erwachte.

Als Marisol im Kinderzimmer ankam, saß Rebecca aufrecht im Bett und rieb

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sich die Augen. Nolly schrie, das Nachtlämpchen glimmte noch, und niemand
war zu sehen.

„Ich hab gemerkt, das heißt, ich bin mir nicht sicher, Euer Gnaden, aber

jemand hat mich an der Schulter gepackt, falls ich es nicht geträumt habe. Und
dann war da dieses Geräusch.“

Im nächsten Augenblick kamen Foster und die Dienstboten angerannt.

Niemand hatte etwas gesehen.

Sie ließen Lord Kimbrough und Dimm holen.

Der Earl hatte geträumt, und es war kein schöner Traum gewesen. Selbst im
Schlaf wusste er, dass eigentlich Edelia Sherville vor seinem inneren Auge
auftauchen sollte. Das Leben an ihrer Seite wäre ein Bootsausflug an einem
sonnigen Tag. Friedlich und glatt läge das Wasser vor ihnen, und nichts brächte
sie vom Kurs ab. Stattdessen entführten ihn seine Träume in einen Orkan,
hoffnungslos in die Segel des untergehenden Boots verheddert, während ihn
eine üppige Sirene mit goldenen Locken in felsige Untiefen lockte.
„Verdammt“, fluchte er, als er schweißgebadet erwachte. „Nun bricht diese
verwünschte Frau sogar schon in meine Träume ein.“

Aber geweckt hatte ihn nicht der Ruf einer blauäugigen Meerjungfrau,

sondern sein Kammerdiener. Er überbrachte ihm erneut eine dringende
Nachricht von Denning Castle.

Hastig schlüpfte der Earl in Hemd, Breeches und Stiefel, während ein

schläfriger Stallbursche das Pferd sattelte.

Die Duchess trat ihm en deshabillé entgegen. Der blaue Morgenmantel

verbarg ein weißes Nachthemd mit Spitzenkragen, und ihr Kinn zierte die
Schleife eines albernen Nachthäubchens. Diesmal war sie nicht nur besorgt,
sondern geradezu außer sich vor Angst.

„Aber ich sage Ihnen doch, dass der Straßenräuber in Nollys Zimmer war! Sie

müssen etwas unternehmen! Sofort!“

„Vielleicht hätten Sie heute Nachmittag nicht so viel Champagner trinken

sollen, Madam. Dazu der Sherry – so etwas führt leicht zu Albträumen.“
Immerhin träumte er selbst auch die unwahrscheinlichsten Dinge, und zwar
äußerst lebhaft. Nicht auszuschließen, dass dasselbe ebenfalls für Ihre Gnaden
galt.

„Zum hundertsten Mal, es war kein Traum! Jemand ist in das Zimmer meines

Sohnes eingedrungen. Und um Ihrer nächsten absurden Frage zuvorzukommen:
Nein, ich glaube nicht an Gespenster.“

„Aber haben Sie nicht selbst erklärt, dass die Dienerschaft niemanden

gesehen hat? Und das Kindermädchen war sich auch nicht sicher. Die
Anspannung der letzten Tage ...“

„Ich bin nicht hysterisch, also hören Sie auf, dermaßen von oben herab mit

mir zu sprechen. Da draußen läuft ein bewaffneter Verbrecher frei herum,

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vielleicht sogar ein zweiter, wenn man Arvids Mörder mitrechnet. Ich will, dass
er gefasst wird – dass sie gefasst werden –, wer auch immer hier im
Kinderzimmer war. Sie sind Friedensrichter, Lord Kimbrough, und ich verlange,
dass Sie etwas unternehmen!“

Auch Foster war erregt. „So kann ich doch nicht abreisen und meine

Schwester ohne männlichen Schutz zurücklassen – es sei denn, Sie zählen
diesen Lackaffen Boynton. Ich meine, was ist, wenn der Kerl verrückt ist?“

„Boynton? Sie wollen sagen, Pendenning ist nicht ganz richtig im

Oberstübchen?“ Der Earl wandte sich Marisol zu. „Verdächtigen Sie Ihren
Schwager etwa immer noch des Mordes an Ihrem Mann und glauben nun, er
wolle seinen Neffen aus dem Weg räumen, um doch noch den Titel zu erben?“

Unruhig spielte Marisol an dem Gürtel des Morgenmantels herum. „Ich weiß

wirklich nicht mehr, was ich noch denken soll. Als ich ihm die Schulden bezahlt
und die Apanage erhöht habe, schien Boynton mir überaus erfreut zu sein. Ich
habe eher Ihren Straßenräuber im Verdacht.“

Kimbrough lief vor dem Kamin auf und ab. Schließlich blieb er stehen und

hieb mit der Faust auf den Sims. „Entschuldigen Sie, Madam, aber was um alles
in der Welt hat Ihrer Ansicht nach ein Galgenstrick im Zimmer dieses
Hemdenmatzes verloren?“

„Wie bitte?“
„Verzeihung. Lassen Sie es mich anders ausdrücken: Warum, falls jemand im

Zimmer Ihres Sohnes war, glauben Sie, dass es ausgerechnet der Straßenräuber
gewesen sein sollte?“

„Es war jemand im Kinderzimmer, und Ihr Straßenräuber läuft schließlich

herum und raubt und schießt. Darum.“

Was zum Teufel war das für eine Logik? Kimbrough versuchte es erneut:

„Aber wäre ein Räuber nicht eher hinter Ihrem Silber und dem Schmuck her?“

Zustimmend nickte Foster. „Da hat er nicht ganz Unrecht, Schwesterherz.“
„Vielleicht wollte er Nolly entführen, um Lösegeld zu erpressen. Ich würde

jeden Preis zahlen, um mein Kind zurückzubekommen. Das weiß jeder hier!“
Inzwischen glänzte es verräterisch feucht in Marisols Augen, und ihre Stimme
hatte zu zittern begonnen. Beruhigend tätschelte Foster ihr die Hand.

„Bitte, Madam, werden Sie jetzt nicht hys ... äh, regen Sie sich nicht auf.“

Genauso gut hätte Kimbrough die Sonne bitten können, jetzt lieber nicht
aufzugehen. Ein Blick aus dem Fenster zeigte ihm, dass sie gerade dabei war.

„Wie bitte? Ich soll mich nicht aufregen? Was für ein gefühlloser Unmensch

sind Sie eigentlich?“

„Komm, komm, Schwesterherz, das ist ein bisschen ungerecht. Lord

Kimbrough versucht nur zu helfen.“

„Keineswegs! Er versucht, mir den Mund zu verbieten, damit er in sein

schönes, warmes, sicheres Bett zurückkehren kann. Aber ich frage Sie, Sir, wie

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soll ich mich nicht aufregen, wenn möglicherweise jemand meinem Sohn etwas
antun will? Sobald Foster in den Krieg zieht, ist er das Einzige, was mir bleibt –
und zudem ist er vermutlich das einzige Kind, das ich jemals haben werde.“

„Ich bitte Sie, werden Sie doch nicht melodramatisch“, äußerte Kimbrough,

der allmählich am Ende seiner Geduld angekommen war. „Ihrem Sohn wird
nichts zustoßen, und Sie können noch ein ganzes Haus voller Sprösslinge
haben, wenn Ihnen danach ist.“

Sie schnüffelte. „Was, Sie glauben, dass mich irgendein anständiger Mann

nach dem Mordskandal noch heiraten würde?“

Nun, nicht er selbst, aber ... „Selbstverständlich, Madam. Sie sind jung, aus

guter Familie und reich.“

„Aber sicher, das Vermögen dürfen wir keinesfalls vergessen“, gab sie zornig

zurück. Nur zu deutlich hatte dem prüden, dünkelhaften Adligen sein erster
Gedanke ins Gesicht geschrieben gestanden. „Als ob ich irgendeinen
Glücksjäger heiraten würde, der in der Klemme sitzt. Doch das gehört nicht
hierher, Mylord. Was haben Sie vor, in der Sache dieses Einbrechers zu
unternehmen?“

Zunächst schlug Kimbrough vor, die Duchess solle den kleinen Kläffer Max in

Nollys Zimmer schlafen lassen. Er würde den Haushalt schon warnen, wenn sich
erneut jemand dem Kinderbettchen näherte. Dann schickte er Dimm eine
Nachricht. Darin fragte er den Konstabler, ob dieser einen erfahrenen
Wachmann kenne, der nachts im Schloss und auf dem Grundstück seine
Runden drehen könnte. Diese Maßnahmen schienen zumindest Foster zu
erleichtern, der sich wieder daranmachte, seine Koffer zu packen. Kimbrough
dagegen befragte erneut die Dienstboten.

Alle schienen ehrlich entrüstet, dass jemand auch nur daran denken konnte,

dem jungen Herrn ein Leid anzutun oder die Herrin zu ängstigen. Doch niemand
hatte etwas gesehen oder gehört. So sprach der Earl noch einmal mit Sir
Oswald, falls sich das Opfer des Raubüberfalls doch noch an hilfreiche
Einzelheiten erinnern konnte. Er konnte.

„Was diesen kleinen Trubel letzte Nacht angeht ... Wissen Sie, ich wollte das

Mädel nicht erschrecken.“

„Das Mädel?“
„Das Kindermädchen, das mir heute Abend den Beruhigungstee gebracht

hat. Hmm, ich dachte, die Süße lädt mich gewissermaßen ein. Wollte aber nicht
das ganze Haus durcheinander bringen“, lautete die Antwort.

„Sie wollten nicht ... Also wirklich, Sie ...!“
Der Straßenräuber hatte Sir Oswald bereits einen Schrecken eingejagt. Doch

das war nichts gegen die Angst, die er nun verspürte, als der Earl of Kimbrough
ihn am Schlafittchen packte und durchschüttelte. Der alternde Dandy schwor,
das Schloss, Berkshire, seinetwegen auch England den Rücken zu kehren – was

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der Earl nur wollte.

Kimbrough wollte all das, und zusätzlich eine Entschuldigung bei dem

Kindermädchen und bei der Duchess of Denning. Befriedigt sah er zu, wie der
Mann zu Kreuze kroch. Auch Foster grinste erleichtert, nachdem er Sir Oswald
einen Kinnhaken versetzt und ihn zur Tür hinausgeworfen hatte. Nur die
Duchess lächelte nicht. Sie dankte dem Earl noch nicht einmal. Stattdessen
warf sie einen Blick auf seine selbstzufriedene Miene und erinnerte ihn daran,
dass die Sonne hoch am Himmel stand und draußen immer noch ein
Straßenräuber frei herumlief. Dann ging sie zu Bett.

Zum Henker! War er denn in den Augen dieses vermaledeiten Frauenzimmers
nichts als ein Nichtsnutz? Was kümmerte es ihn, wenn die Duchess ihn für
unhöflich, arrogant und unfähig hielt? Und was tat es, dass sie sich vollkommen
unvernünftige Sorgen um die Sicherheit ihres Kindes machte? Noch unsinniger,
dass sie ihn, Kimbrough, immer noch fürchtete? Er wollte verdammt noch mal
alles tun, um ihr endlich diese alberne Angst auszutreiben! Keine Frau sollte
zittern müssen. Weder vor ihrem Gatten noch vor Fremden, und schon gar nicht
vor ihm selbst.

Es gab nur eines, um die Rüstung des edlen Ritters, der er eigentlich war, ein

wenig aufzupolieren: Er musste diesen Galgenvogel fangen, der die Straßen
unsicher machte. Da es weder brauchbare Spuren noch neue Erkenntnisse gab,
blieb nur, ihm eine Falle zu stellen. Der Wegelagerer schien es auf Gentlemen
abgesehen zu haben, die nach Einbruch der Dunkelheit alleine unterwegs
waren. Also beschlossen der Earl und Dimm, dass er genau das bekommen
sollte.

Die Falle wurde noch für denselben Abend vorbereitet. Es war Vollmond –

beste Voraussetzungen für einen Raubüberfall. Bevor Lord Kimbrough sich nach
Hause begab, um ein wenig dringend benötigten Schlaf zu bekommen, suchte
er noch einmal die Duchess auf. Selbstverständlich ging es ihm lediglich
darum, Ihre Gnaden ein wenig zu beruhigen. Sicher war sie froh zu hören, dass
ein Plan gefasst war, den Strauchdieb zu fangen. Außerdem sollte sie erfahren,
dass Dimms Sohn Gabriel, der zukünftige Bow-Street-Runner, bereits unterwegs
war, um den kleinen Duke zu beschützen. Dimm war der Ansicht, dass die
Aufgabe für den Jungen eine gute Übung war. Und dem Säugling konnte es
auch nicht schaden, ab und zu eine männliche Stimme zu hören.

„Potzblitz, nix wie Weiberröcke, die um diesen Hemdenmatz rumspringen.

Wenn der Bruder Ihrer Gnaden erst weg ist, braucht Nolly ’n Mann, der ihm
beibringt, ’n Ball zu werfen un’ ’n Reifen zu treiben.“

Bei der Taufe hatte der Earl zwar den Eindruck gehabt, dass der kleine

Herzog bisher nur jemanden brauchte, der ihm die ausgespuckte Milch vom
Kinn wischte, aber sei’s drum. Wenn die Duchess dadurch besser schlief, dann
machte ein weiterer Dimm auch keinen Unterschied mehr.

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Marisol schien wirklich erfreut darüber, dass gegen Ende der Woche der

bewaffnete Leibwächter für Nolly eintreffen sollte. Viel weniger begeistert war
sie von dem Plan, dass der Earl sich zum Lockvogel für den Räuber machen
wollte. Wenn Kimbrough gehofft hatte, in ihren Augen Anerkennung, Vertrauen
und Bewunderung aufleuchten zu sehen, dann hatte er sich gründlich
getäuscht. Stattdessen funkelte darin ein Feuerwerk, das dem in Vauxhall
Gardens zur Ehre gereicht hätte.

„Ich glaube es einfach nicht. Noch nicht einmal Sie können dermaßen

einfältig sein, Mylord“, rief sie aus, während sie die Hände ballte. Sie war so
aufgebracht, dass sie ihm noch nicht einmal Tee anbot. „Andererseits müssen
Sie der Dummkopf sein, denn Mr. Dimm hätte sich niemals einen so
halsbrecherischen Plan ausgedacht. Ich bin nur überrascht, dass er überhaupt
zugestimmt hat.“

Der Earl hatte Dimms Einwilligung hart erkämpfen müssen. Das verschwieg

er jedoch, um nicht noch Öl auf das Feuer der Duchess zu gießen. „Ich dachte,
Sie wollten, dass ich den Verbrecher ergreife“, bemerkte er stattdessen.

„Ja, genau. Sie sollten ihn fangen und ihm nicht Ihren Kopf auf einer

silbernen Schale präsentieren“, schrie sie ihn an. „Es ist viel zu gefährlich, Sie
Narr! Verstehen Sie das nicht, oder hat Ihr Dünkel Sie so verblendet, dass Sie
sich nicht vorstellen können, von einem bewaffneten, verzweifelten Mann
überwältigt zu werden?“

„Was, Sie wollen mir doch nicht erzählen, dass Sie sich Sorgen um mich

machen? Dabei dachte ich die ganze Zeit, Sie wären heilfroh, mich los zu sein.“

„Machen Sie sich nicht lächerlich“, antwortete die Duchess vernichtend.

Kimbroughs letztes Restchen Eitelkeit fiel bei ihren Worten in sich zusammen.
„Es geht mir allein um Nollys Wohl. Was, bitte, soll aus ihm werden, wenn
dieser Strauchdieb sich nicht wie ein Gentleman verhält? Wenn er Sie zum
Beispiel zuerst erschießt, bevor er Sie um Ihre Geldbörse bittet? Ein Mr. Dimm,
der sich irgendwo im Gebüsch versteckt, dürfte dann nicht mehr viel helfen.
Und welchen Nutzen soll mein Sohn von Ihnen haben, wenn Sie tot sind? Der
Prinzregent wird einen neuen Vormund ernennen, vermutlich Boynton.
Immerhin ist er Prinnys Freund, zum Kuckuck. Und Sie kennen ihn und wissen,
was er mit Nollys Vermögen anfangen würde.“ Grimmig verschränkte sie die
Arme vor dem wogenden Busen und erklärte: „Sie dürfen es nicht tun.“

Carlinn riss den Blick von ihren verführerischen Rundungen. „Verdammt,

Madam, Sie können mir nicht sagen, was ich zu tun und zu lassen habe. Zum
Glück sind Sie nicht meine Gattin.“

„Ich danke dem Himmel für diese Gnade! Der Frau, die diese undankbare

Aufgabe einmal übernimmt, gehört jetzt schon mein volles Mitgefühl.
Andererseits würde eine Ehefrau Sie vielleicht ein wenig an Ihre Pflichten
erinnern.“

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Nun verschränkte auch Carlinn die Arme, um nicht in Versuchung zu

kommen, die Duchess zu packen und zu schütteln. „Sie gehen zu weit, Madam.
Ich habe auf Grund Ihres Geschlechts und Ihres Zustandes Nachsicht geübt. Ich
hatte Verständnis für Ihre unangenehme Lage, weil sich ein fast Fremder in Ihre
Angelegenheiten einmischen musste. Sogar Ihre spitze Zunge habe ich
entschuldigt. Aber ich hatte niemals jemanden nötig, der mich an meine
Pflichten erinnert. Ich erlaube daher weder Ihnen, mir mein Tun und Lassen
vorzuschreiben, noch einem Kriminellen, nach Belieben die Gegend unsicher zu
machen.“

Marisol stürmte zur Tür und riss sie so heftig auf, dass die Angeln

quietschten. „Dann begeben Sie sich doch von mir aus in Gefahr wie ein
unverschämter, verantwortungsloser Junggeselle, mit Ihrem Stolz als einzigem
Schutz! Aber was wird aus Ihrer Verantwortung Nolly gegenüber, Mylord? Oder
Ihrer Schwester gegenüber? Sie sind offenbar ein noch größerer Narr, als ich
dachte.“

Mit rauschenden Seidenröcken entschwand sie. Der Earl schüttelte den Kopf.

Stammte der Lärm von der zugeknallten Tür, oder rasselte ihm schon das Hirn
im Kopf herum? Dabei hatte er geglaubt, die Duchess wisse seine Bemühungen
zu schätzen.

Trotz der Einwände Ihrer Gnaden setzten Lord Kimbrough und Jeremiah Dimm
ihren Plan noch am selben Abend in die Tat um. Der Earl lenkte seinen
Zweispänner über sämtliche Landstraßen und Feldwege weit und breit und
summte dabei scheinbar sorglos vor sich hin. Zu seinen Füßen lag Dimm unter
der Wagendecke, die Pistole in der Hand.

Es ist ein guter Plan, redete sich Carlinn ein. Keinesfalls waghalsig oder

leichtsinnig. Ihm selbst war es schließlich auch nicht ganz unwichtig, am Leben
zu bleiben, zum Henker. Er hatte sogar bereits Zimmer im Ship Inn in Bath
reserviert, so sehr vertraute er auf die Zukunft. Während er sein Gespann durch
eine Kastanienallee lenkte, überlegte er, wie bald nach seiner Ankunft er Miss
Sherville einen Besuch abstatten konnte, ohne dass es zu offensichtlich war.
Selbstverständlich hatte er einen Brief von Cousine Winifred, ihrer Patin, als
Vorwand. Dennoch wollte er in keinem mütterlichen Busen hoffnungsfrohe
Erwartungen wecken, bevor er sich ganz sicher war.

Glücklicherweise wählte der Straßenräuber nicht ausgerechnet diese Stelle

für einen Überfall. Denn der mütterliche Busen rief leider keineswegs
Erinnerungen an Miss Shervilles Hühnerbrüstchen wach, sondern im Gegenteil
an die üppigen Rundungen der teuflischen Duchess. Die Kutsche geriet in eine
tiefe Wagenspur, und Dimm fluchte. Verdammt, dachte Kimbrough. Je eher ich
heirate, desto besser.

Der Räuber wählte auch keine der anderen Straßen, durch die Kimbrough in

dieser Nacht fuhr. Der Plan ging nicht auf. Genauso wenig wie alle

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Anstrengungen des Earl, die Duchess of Denning aus seinen Träumen zu
verbannen, als er endlich lange nach Mitternacht müde ins Bett fiel.

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14. KAPITEL

Die dringende Nachricht wurde um drei Uhr in der Frühe überbracht. Auf
Denning Castle war es zu einem weiteren Zwischenfall gekommen. Der Earl
hatte in zwei Tagen kaum zwei Stunden geschlafen und war zusätzlich noch
von äußerst beunruhigenden Träumen heimgesucht worden. Kein Wunder, dass
ihn dieser Hilferuf nicht mehr in die gespannte Erregung versetzte, mit der er
früher in die Schlacht geritten war. Ohne sich um Krawattentuch, Weste oder
Haarbürste zu bekümmern, machte er sich auf den Weg, keineswegs in
Hochform für einen neuerlichen Alarm.

Dasselbe traf auf Marisol zu. Die ganze Nacht war ihr der Gedanke an die Braut
des Earl im Kopf herumgegangen, wer immer die Ärmste auch sein mochte. Er
würde sie herumscheuchen und anbrüllen und in allem und jedem seinen
Dickkopf durchsetzen. Die Frau sah einem elenden Schicksal entgegen, sofern
sie nicht gerade breite Schultern, ein markantes Kinn und ein felsenfestes
Pflichtbewusstsein zu ihren Vorlieben zählte.

Wütend schlug Marisol auf ihr Kissen ein. Wenigstens das gab ihrem Willen

nach. Allerdings rächte es sich, indem es Klumpen und Dellen bildete, die
Marisol am Schlafen hinderten. Ruhelos wälzte sie sich hin und her. So kam es,
dass sie ein winziges Geräusch von nebenan aus dem leichten Schlummer
weckte. Sie horchte. War Nolly aufgewacht? Sah Rebecca nach dem Kind? Oder
war es Max, der seine Pflicht als Wachhund tat? Doch alles blieb still. Marisol
schalt sich eine Närrin, die kostbaren Schlaf auf Hirngespinste verschwendete.
Nur allzu bald würde Nolly schon wieder nach seiner ersten Mahlzeit verlangen.

Dann hörte sie erneut ein Geräusch: eine Tür, die geschlossen wurde.

„Und versuchen Sie mir nicht einzureden, dass ich es mir nur eingebildet habe,
Mylord“, erklärte sie Kimbrough, „denn es war jemand dort. Wer es auch war, er
kannte sich jedenfalls gut genug aus, um Max mit einem Lammkotelett ruhig zu
stellen. Was wäre wohl passiert, wenn ich nicht geschrien hätte?“

Der Schrei hatte nicht nur das Kind aufgeweckt, sondern auch die

erschöpften Dienstboten, die in ein paar Stunden aufstehen mussten, und
Foster, der nach dem Frühstück aufbrechen wollte. Selbst Boynton war im
Nachthemd und mit Lockenpapieren auf dem Kopf zur Rettung herbeigeeilt.
Doch von dem Eindringling gab es außer dem Lammkotelett keine Spur.

Der Earl wies die Dienerschaft an, im Schein von Laternen draußen nach

Fußabdrücken unter den Fenstern oder aufgebrochenen Türen zu suchen.
Zuvor jedoch befragte er alle Dienstboten einzeln, wo sie gewesen waren, und
ließ sie auf die Bibel schwören, dass sie sich dem Kind nicht genähert hatten.
Als Nächstes bestellte er Wein für die Duchess, die offenbar zutiefst beunruhigt

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war. Sie kanzelte ihn noch nicht einmal dafür ab, dass er dermaßen herrisch mit
ihrem Personal umging. Lediglich seinen Wunsch nach Wein änderte sie in Tee
für sich selbst und Brandy für die Gentlemen ab. Angesichts ihrer Blässe, der
violetten Ringe unter ihren Augen und ihrer bedrückten Stimme verzieh er ihr
beinahe, dass sie ihn erneut um den Schlaf gebracht hatte.

Was für ein verflixtes Durcheinander! Foster litt Seelenqualen, weil er die

Familie in der Gefahr zurücklassen musste. Doch Befehl war schließlich Befehl.
Boynton dagegen wies seinen Kammerdiener an zu packen, um so schnell wie
möglich diesem Irrenhaus den Rücken kehren zu können. Schließlich war
angesichts des ständig plärrenden Balgs und Marisols Anfällen an
Schönheitsschlaf nicht einmal zu denken. Unterdessen wies Marisol den Butler
an, ihr das Jagdgewehr ihres verstorbenen Mannes zu bringen. Ach du liebe
Zeit, dachte Carlinn. Das hat uns allen noch gefehlt: ein hysterisches
Frauenzimmer mit einer geladenen Waffe. So angespannt, wie sie ist, erschießt
sie noch einen knackenden Scheit im Kamin oder einen Nachtvogel, der am
Fenster vorbeifliegt. Oder mich, weil ich das Kind nicht ausreichend beschützt
habe.

Der Vorwurf stand ihr ins Gesicht geschrieben: Nollys Vormund unternahm

vergnügliche Spritztouren über Land, obwohl ein ruchloser Spitzbube sich mit
ihrem Sohn davonmachen wollte. Während sie auf Dimm und das Teetablett
warteten, strafte die Duchess Kimbrough mit Nichtachtung. Sie schien zu
bereuen, dass sie den Earl mit seinen nutzlosen Vorschlägen überhaupt
herbeigerufen hatte.

Es stimmte, dass Marisol es vermied, Lord Kimbrough anzusehen. Sein offen

stehendes Hemd und das zerzauste Haar ließen ihn nicht wie einen
verschlafenen Landedelmann, sondern wie einen wagemutigen Helden
aussehen. Wenn seine arme Gattin Glück hatte, bekam sie diese breite Brust
jede Nacht zu Gesicht. Bei diesem Gedanken errötete Marisol und zwang sich,
wieder an Nolly zu denken. Sollte sie ihn vielleicht in ihrem eigenen Bett
schlafen lassen? Nolly, ermahnte sie sich, ich meine Nolly. Wenn das so
weiterging, würde ihr Sohn niemals das frisch renovierte Kinderzimmer
beziehen, auf dem Schaukelpferd reiten oder mit den Zinnsoldaten spielen.
Stattdessen musste man ihn auf Schritt und Tritt mit Leibwachen umgeben.
Tränen stiegen ihr in die Augen, aber sie schwor sich, nicht zu weinen. Nicht
eine Träne. Jedenfalls nicht, bis sie alleine in ihrem Schlafzimmer war, Nolly im
einen Arm und das Gewehr im anderen. Bis dahin musste sie um Fosters willen
stark sein, damit er gehen und seinem eigenen Traum folgen konnte. Und dem
Earl musste sie beweisen, dass sie kein weinerliches Mimöschen war.
Entschlossen schob sie eine vorwitzige Locke unter das Nachthäubchen zurück
und schenkte Tee ein, als bewirte sie adlige Damen bei einem nachmittäglichen
Anstandsbesuch.

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Widerwillig musste Kimbrough der Duchess zugestehen, dass sie Rückgrat

besaß. Aber wie konnte sie hier so ruhig sitzen, während er sich das Gehirn
zermarterte, was zu tun war? Zwar glaubte er nicht, das Kind schwebe in
ernsthafter Gefahr. Wenn jemand dem Jungen wirklich an den Kragen wollte,
dann hätte er dazu bereits reichlich Gelegenheit gehabt. Ob sich die Duchess
wohl auf Kimbrough Hall sicherer fühlen würde? Er konnte sie mitsamt
Säugling, Kindermädchen und Tante in sein Haus holen. Doch bekäme er
überhaupt noch Schlaf, wenn er wüsste, dass sie nur ein paar Türen weiter lag?
Verdammtes Durcheinander. Dazu kam noch, dass er ihr wohl kaum
versprechen konnte, sie unter seinem Dach zu beschützen, wenn er kurz darauf
nach Bath entschwand.

„Sie brauchen einen Wachhund“, erklärte er. „Nicht ein kläffendes

Schoßhündchen wie Max, sondern einen ausgebildeten Wachhund. Einen von
denen, die gewöhnlich Schafe und Kühe vor Wölfen beschützen. Für diese
Rassen wäre es ein – äh, Kinderspiel, auf einen Säugling aufzupassen.“

Zweifelnd sah Marisol ihn an. Ein großer, struppiger Hütehund an Nollys

Bettchen? In England gab es schon seit Menschengedenken keine Wölfe mehr.
Sie hätte mehr Sorge, das Tier könne das Kind verschlingen. Aber Foster nickte
aufgeregt, und der Earl schien begeistert, endlich einen Plan zu haben. Zwar
kam Marisol dieser Einfall mindestens so schwachsinnig vor wie der, dem
Straßenräuber eine Falle zu stellen, sie sagte jedoch nichts. Kimbrough meinte
es gut, und schließlich brauchte sie ja nicht wirklich einen Hund zu besorgen.
Also nickte sie.

Dann versicherte der Earl: „Keine Angst, ich kümmere mich persönlich

darum, ein geeignetes Tier aufzutreiben.“

Bevor Marisol ihre Einwände vorbringen konnte, spazierte Tante Tess in den

Salon, das Rüschenhäubchen schief auf dem grauen Haar. Missbilligend sah sie
ihre Nichte an. „Ich habe überall die Lichter gesehen, meine Liebe. Meinst du
nicht, dass es ein wenig spät ist, um noch Gäste zu empfangen?“

„Das ist kein Anstandsbesuch, Tante Tess“, erklärte Marisol mit lauter Stimme

und goss der alten Dame eine Tasse Tee ein. „Ich habe dich schlafen lassen,
weil ich dich nicht erschrecken wollte. Aber es ist schon wieder jemand in
Nollys Zimmer eingedrungen. Bitte reg dich nicht auf, Tante Tess. Jemand hat
Max etwas zu fressen hingeworfen, um ihn ruhig zu stellen. Wir glauben zwar
nicht, dass es vergiftet war, aber ...“

„Vergiftet?“ Ihre Tante blinzelte überrascht. „Aber nein, die Köchin würde

doch niemals vergiftetes Essen auf dem Tisch stehen lassen, wo es womöglich
einer der Diener isst. Um die Ratten zu töten, würde man das Lammkotelett
eher hinter den Schrank werfen. Aber ich bin der Meinung, Käse ...“

„Tante Tess, du wusstest, dass Max dabei war, ein Lammkotelett zu fressen?“
„Aber natürlich, Liebes. Erwähnte ich nicht, dass die Köchin mir nachts

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gewöhnlich etwas zu essen hinstellt? Ich schlafe nicht mehr so gut. Das sind die
alten Knochen, weißt du. Also gehe ich oft in die Küche, um mir Milch zu
wärmen oder einen kleinen Imbiss zu mir zu nehmen. Und heute Nacht dachte
ich, dass Max auch einmal eine Belohnung verdient hat. Er ist doch so ein
treuer Wachhund. Und ich wollte sehen, ob der liebe kleine Nolly vielleicht
noch eine Häkeldecke braucht. Aber er hat so tief und fest geschlafen, dass ich
das Kinderzimmer auf Zehenspitzen wieder verlassen habe.“

„Und du hast mich nicht schreien gehört?“
Tante Tess rührte in ihrem Tee. „Wie bitte, Liebes?“

Der Morgen graute schon, als Carlinn sein Gespann heimlenkte. Er war
erschöpft, am Ende seiner Geduld und verwirrt von den widerstreitenden
Gefühlen, die in ihm tobten. Natürlich wählte der Straßenräuber diesen
Augenblick, um zuzuschlagen.

Der erste Schuss erschreckte die Pferde, so dass sie stiegen und ausschlugen.

Kimbrough hatte alle Hände voll zu tun, das Gefährt vor dem Umkippen zu
bewahren. Er hätte eine dritte Hand gebraucht, um die Pistole aus der Tasche
seines Überrocks zu ziehen. So konnte er nur den Anweisungen folgen und die
Pferde zum Stehen bringen.

„So ist’s recht, halt sie still. Hände an den Zügeln, wo ich sie sehen kann.“

Der maskierte Räuber ritt heran. Der Lauf seiner Pistole zielte geradewegs auf
Carlinns Herz. „Und nun werfen Sie mir schön langsam die Geldbörse herunter.
Falls Sie daran denken sollten, stattdessen eine Waffe hervorzukramen, lassen
Sie’s bleiben. Aus dieser Entfernung kann ich mein Ziel unmöglich verfehlen.“

Die geringe Summe, die der Earl bei sich trug, lohnte das Risiko nicht, und

die auf ihn gerichtete Pistole war bereits entsichert. Carlinn gehorchte.

„Bei allen Höllenhunden“, fluchte der Bandit, als er die Börse in der Hand

wog. „Und für all die Mühe noch nicht einmal die kleinste Brillantnadel oder
Taschenuhr. Verdammt!“

Einen Augenblick lang fürchtete Carlinn, von dem Wegelagerer aus

Enttäuschung ermordet zu werden. „Tut mir Leid“, sagte er. „Hätte ich von
Ihrem Vorhaben gewusst, hätte ich mich besser vorbereitet.“

„Da bin ich mir sicher. Vermutlich mit der Bürgerwehr und einer kleinen

Kanone, was?“

„Nein, lediglich mit gezückter Pistole. Ich bezweifle, dass Sie dieselbe

Frechheit besäßen, wenn das hier ein gerechter Kampf wäre.“

Rau lachte der Räuber auf. „Das Leben ist nicht gerecht, oder haben Sie

davon noch nichts gehört?“ Damit versetzte er dem ihm am nächsten
stehenden Kutschpferd einen Schlag auf die Kruppe, so dass das Gespann
erneut durchzugehen drohte. Während der Earl seine Pferde zu halten
versuchte, ritt der Galgenvogel davon.

Zwar hatte der Halunke es fertig gebracht, ihn um seine Geldbörse und eine

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gehörige Portion seines Stolzes zu bringen, aber diesmal war es ihm nicht
gelungen, spurlos zu verschwinden. Als Carlinn die Pferde beruhigt und an
einem Ast angebunden hatte, folgte er den Hufspuren, die auf dem bereiften
Waldboden deutlich zu sehen waren. Nach kurzer Zeit hatte er eine recht klare
Vorstellung, wohin der Bandit geflohen war.

Statt sich allein und nur mit seiner Pistole bewaffnet an die Verfolgung zu

machen, kehrte der Earl nach Hause zurück, trommelte sämtliche Stallburschen
zusammen und ließ Dimm und Foster holen. Kurze Zeit später führte er seine
Truppen zu einer kleinen, verlassenen Jagdhütte im Wald. Tatsächlich sahen sie
bald zwischen den Bäumen Rauch aufsteigen. Der Earl gab Befehl, die Hütte zu
umstellen. „Aber nicht vergessen: keine Heldentaten“, warnte er mit einem
Seitenblick auf Foster.

Als alle Männer ihre Posten eingenommen hatten, schlich sich Carlinn an das

Häuschen heran, bei jeder Bewegung die Bäume als Deckung benutzend.
Vorsichtig spähte er durch das schmutzige Fenster in das Innere. Ein Bett, ein
Hocker, eine Waschschüssel, ein Schrank. Auf dem grob behauenen Tisch lagen
zwei Pistolen neben seiner Geldbörse. Schließlich erblickte Kimbrough den
gefährlichen, kaltblütigen, abgebrühten Straßenräuber. Er rasierte sich. Mit
gezogener Pistole schlich der Earl zur Tür und winkte seine Männer heran. Dann
trat er die Tür auf, sprang in den Raum und fegte im selben Atemzug die
Waffen des Mannes vom Tisch.

„Hände hoch, Sie Hundsfott!“
Der Bandit, der ihnen den Rücken zukehrte, hob langsam die Arme und ließ

das Rasiermesser fallen. Jeremiah Dimm beförderte es mit einem gezielten Tritt
aus dem Weg und hob die Pistolen vom Boden auf. „Beweisstücke“, murmelte
er. Dann räusperte er sich. „’tschuldigung, Mylord, das hier is’ mein Auftritt.“
Nach erneutem Räuspern sprach er den Rücken des Gefangenen an: „Hiermit
erklär ich Sie im Namen des Gesetzes für verhaftet. Un’ nu’ drehn Se sich ma’
um, Sie Schurke!“

Langsam wandte sich der Mann den fünf Pistolenläufen zu, die auf ihn

gerichtet waren. Sein Gesicht war immer noch von Seifenschaum bedeckt. Lord
Kimbrough warf ihm ein Handtuch zu. Nachdem sich der Räuber damit das
Gesicht abgewischt hatte, verbeugte er sich spöttisch vor dem Earl. „Jack
Windham, zu Ihren Diensten.“

„Windham? Kommt mir irgendwie bekannt vor“, überlegte Dimm und griff

nach seinem Notizbuch.

Foster starrte den jungen Mann an, der nicht viel älter war als er selbst. „Aber

ich kenne Sie! Wir haben doch mal bei Banning Karten gespielt.“

„Vermutlich habe ich verloren. Das tue ich immer. Schulde ich Ihnen

vielleicht Geld?“ Mit dem Kopf wies er auf eine Kiste in der Ecke. „Bedienen Sie
sich.“

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Nachdenklich kniff Kimbrough die Augen zusammen. „Windham, ja? Zufällig

verwandt mit Lord ...“

„Mein Onkel“, erwiderte der Mann hastig mit einem Blick auf die

Stallburschen, die offenen Mundes an der Tür standen.

„Was zum Teufel tut ein Neffe von Lord ...“, begann Kimbrough, doch er

wurde von dem Konstabler unterbrochen.

„Aha! Das ist er. Einer der Burschen, die gesalzene Spielschulden bei Seiner

Gnaden hatten.“

Kimbrough schüttelte den Kopf. „Sie haben doch wohl nicht mit der

Straßenräuberei angefangen, nur um Ihre Schuldverschreibungen einzulösen!“

„Denning hat mir alles abgewonnen, was ich besaß. Mir blieb nur noch meine

Ehre.“ Damit wandte er sich zu dem kleinen Spiegel um. „Ich muss mich
wirklich dringend rasieren. Sie könnten nicht vielleicht ...“

Die nächsten Worte schrie der Earl fast: „Sehen Sie mir gefälligst in die

Augen, und sagen Sie mir, was ehrenhaft daran sein soll, unschuldige Leute
auszurauben und anzuschießen!“

„Ich schwöre, dass ich Ashcroft nie verletzen wollte. Er warf seine Peitsche

nach mir, und mein Pferd ist gestiegen. Der Schuss hat sich versehentlich
gelöst. Und was die Räuberei angeht – die Schuldhaft war mir sicher, während
der Galgen ein Glücksspiel war. Ich bin Spieler.“ Windham zuckte die Schultern.
„Außerdem war dies die einzige Möglichkeit, um meine Schulden bei Denning
beziehungsweise seiner Witwe zu begleichen.“

„Soll das heißen, dass Sie die Nachricht von Ihrer Gnaden niemals bekommen

haben?“

Der junge Mann verzog das Gesicht. „Untergetauchte Kriminelle erhalten

keine regelmäßigen Postzustellungen, Mylord.“

„Ihr Pech, Sie Narr. Sie hat alle Schuldscheine für nichtig erklärt. Denning war

Falschspieler.“

Der Räuber warf das Handtuch zu Boden und trampelte wütend darauf

herum. „Verflucht! Wollen Sie damit sagen, dass ich für nichts und wieder
nichts baumeln werde?“

„Aber keineswegs. Sie werden wegen Straßenräuberei, Körperverletzung und

möglicherweise wegen Mordes am Duke of Denning baumeln.“

„Oh nein, das können Sie mir nicht in die Schuhe schieben. An dem Tag habe

ich zwei Kutschen ausgeraubt. Wollen Sie Beweise sehen?“ Er trat zu der Kiste
in der Ecke und kippte ihren Inhalt auf den Tisch. „Das hier ist die
Schnupftabaksdose von Lord Lithgow, und diese Uhrkette gehörte Mr.
Harriman-Browne.“

Dimm kaute an seinem Bleistift. „Stimmt. Ich war damals noch froh, den

Denning-Fall zu kriegen statt der Raubüberfälle am selben Tag. Na ja, nu’
haben wir wenigstens ’n geständigen Verbrecher.“

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„Was wir hier haben“, erklärte Lord Kimbrough dem Konstabler, „ist der Neffe

eines der höchsten Regierungsmitglieder.“

Er flüsterte dem älteren Mann einen Namen ins Ohr. Dimm seufzte. „Oje, da

wird der Boss nich’ glücklich sein.“

Auf einmal fühlte sich der Earl sehr niedergeschlagen. Er zog Dimm beiseite

und beratschlagte sich im Flüsterton mit ihm. Dann überließ er es Dimm, die
Beute einzusammeln und nach London zu fahren, um die einzelnen
Gegenstände ihren rechtmäßigen Besitzern zurückzuerstatten. Er selbst begab
sich nach Hause, packte und reiste mit Foster und dessen Offiziersburschen
Joshua Dimm nach Bristol, um der Armee Seiner Majestät noch einen weiteren
Freiwilligen zu überstellen.

Endlich waren die notwendigen Papiere unterzeichnet, und das Schiff lichtete

den Anker. Carlinn benachrichtigte Jack Windhams Onkel, dass sein Neffe
überraschend die Armeelaufbahn eingeschlagen hatte. Dann nahm er sich ein
Zimmer in einem Gasthof und schlief zwei volle Tage lang. Erfrischt und von
seiner neuen Aufgabe durchdrungen, erwachte er. Bath lag beinahe auf dem
Heimweg. Er würde dort anhalten und Miss Edelia Sherville einen Besuch
abstatten. Doch irgendwo zwischen Bristol und Bath fand der Earl genau das,
was er gesucht hatte. Und er konnte schlecht mit einem dreibeinigen Collie
unter dem Arm in Miss Shervilles Salon auftauchen.

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15. KAPITEL

Ein alter Schäfer hatte Kimbrough die Colliehündin Sal verkauft, da sie in eine
Schnappfalle geraten war und sich seither nicht mehr zum Hütehund eignete.
So kam sie nach Denning Castle. Dem Terrier Max schien Sals fehlendes Bein
genauso wenig auszumachen wie der Größenunterschied zwischen ihnen: Er
war bis über beide Ohren verliebt und folgte der Colliehündin auf Schritt und
Tritt. Diese schien von Anfang an zu verstehen, was man von ihr erwartete.
Carlinn musste Nolly noch nicht einmal in ein Lammfell wickeln, wie ihm der
Schäfer geraten hatte – zum Glück. Der Earl war keineswegs erpicht darauf
gewesen, Ihrer Gnaden diesen Plan zu unterbreiten.

Sal war dem kleinen Duke vom ersten Augenblick an treu ergeben. Näherte

sich jemand dem Kinderbettchen, sträubte sich ihr Nackenfell, bis Rebecca oder
Marisol „Freund“ riefen. Da inzwischen auch Dimms Sohn Gabriel über den
Säugling wachte, der Straßenräuber gefasst und Boynton abgereist war, gab es
nichts mehr, worüber sich Marisol Sorgen machen musste.

So gelang es dem Earl, sie zu einem kurzen Ausflug zu überreden.

Unverblümt teilte er ihr mit, dass sie aus Mangel an frischer Luft allmählich
aussah wie ihr eigenes Gespenst. Kimbrough kutschierte sie zu dem einst
strittigen Stück Land, damit die Duchess den Fortschritt der dort
vorgenommenen Arbeiten in Augenschein nehmen konnte. Eine ganze Stunde
lang ließ Marisol ihren Sohn alleine. Aber was noch erstaunlicher war: Sie
verbrachte diese ganze Stunde in der Gesellschaft des Earl, ohne sich auch nur
ein einziges Mal mit ihm zu streiten.

Von nun an begann sie, wieder ein wenig aus dem Haus zu gehen. Mit Tante

Tess zusammen erwiderte sie ein paar Höflichkeitsbesuche, die ihr einige der
ortsansässigen Damen abgestattet hatten. Doch am meisten genoss sie es, im
Pfarrhaus vorbeizuschauen, um mit Mrs. Hambley ihren Plan für eine größere
Dorfschule zu besprechen. Eines Nachmittags kamen auch die Damen von
Kimbrough Hall zum Tee. Bettina schwatzte angeregt von der Londoner Saison,
und Marisol gestand sich ein, dass sie das gesellschaftliche Leben in der
Hauptstadt nicht im Geringsten vermisste. Stattdessen machte sie sich
Gedanken über die Bepflanzung der Gärten im kommenden Frühjahr.

Dennoch freute sie sich, als Mr. Dimm nach einem Besuch bei den Hambleys

auf Denning Castle vorsprach und Neuigkeiten aus London mitbrachte. „Der
Boss is’ nich’ glücklich, dass der Mordfall noch immer nich’ gelöst is’“, vertraute
ihr der Konstabler an. „Jack Windhams Alibi is’ wasserdicht, un’ Lord
Armbrusters auch.“

„Oh, dann haben Sie also Armbrusters Paradiesvögelchen gefunden?“
„Nich’ ganz. Ich hab rausgefunden, mit wem er sich in seinem Liebesnest

trifft, aber das is’ auch alles.“

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„Hat sein, äh, halbseidenes Verhältnis für ihn gebürgt?“
„Sein Verhältnis trägt höchstens halbseidene Krawatten.“
„Oh.“ Marisol warf einen schnellen Blick zu Tante Tess hinüber, aber diese

war in ihre Strickarbeit vertieft. „Deshalb also war Lady Armbruster so
verzweifelt, als sie schwanger wurde.“

„Genau. Armbruster wusste wohl, dass er nich’ der Vater sein konnte. Nur, in

dem Mordfall bringt uns das auch nich’ weiter.“

Marisol war enttäuscht, indes nicht sonderlich überrascht. Ohnehin hatte sie

dem stillen Lord Armbruster nicht zugetraut, einen Menschen zu erschießen.
Allerdings hatte sie ihm auch nicht zugetraut, dass er ...

„Ach, übrigens“, fuhr Dimm fort, „haben Sie vielleicht die Anschrift von der

Mutter Ihrer ehemaligen Zofe? Ich will dem Mädel doch noch mal ’n paar Fragen
stellen. Manchmal erstaunlich, woran sich manche Leute erinnern, wenn sie ’n
bisschen Zeit zum Nachdenken hatten.“

Marisol schüttelte den Kopf. „Nein, aber die Dienstbotenagentur muss die

Anschrift haben. Oder Purvis, der Kammerdiener meines Mannes. Obwohl der
inzwischen auch eine neue Stellung haben dürfte.“

„Noch nich’. Im Dienerzimmer sagt man, er will in die Kolonien auswandern.

Hat die Nase voll von feinen Herren. Aber wer weiß, vielleicht sagt er das auch
nur so, weil er nix findet.“

„Ob Lord Kimbrough ihn wohl einstellen würde? Weiß der Himmel, der Mann

wirkt oft genug so, als hätte er sich im Dunkeln angezogen.“

„Haben Sie Seine Lordschaft letztlich öfter mal gesehen?“ fragte Dimm

beiläufig, während er die Platte mit den köstlichen Kuchenstücken einer
sorgfältigen Musterung unterzog. „Ich hab drüben vorbeigeschaut, aber er war
unterwegs.“

„Nein, wir bekommen ihn auch kaum zu Gesicht“, antwortete Marisol.

Gleichzeitig schalt sie sich für den schnippischen Klang ihrer Stimme. „Soweit
ich gehört habe, ist der Earl sehr beschäftigt. Er ordnet offenbar gerade seine
Angelegenheiten so, dass wir alle seine Abwesenheit für ein paar Wochen
überleben können, wenn er demnächst nach Bath reist.“

„Bath? Macht er ’ne Trinkkur?“
„Wenn man dem Klatsch Glauben schenken will, geht er auf Brautschau. Es

überrascht mich, dass Sie nichts davon wissen.“

Dimm verschluckte sich an seiner dritten Makrone.

Gewöhnlich gab Marisol nichts auf Klatschgeschichten, aber dieses Gerücht
stammte von der Schwester des Earl.

„Er behauptet, er fährt hin, um sich nach einem geeigneten Haus

umzusehen“, murrte Bettina. „Als ob ich monatelang in so einem verstaubten
alten Kaff wie Bath wohnen wollte! Sogar Carlinn hat sich früher einmal darüber
beklagt, dass es dort nur Invaliden und alte Damen gibt. Er hat sich dort von

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einer Verwundung erholt.“

„Aber weshalb fährt er dann hin – ausgerechnet jetzt, wo er neben seinen

eigenen Gütern auch noch Nollys zu verwalten hat?“ Marisol empfand mitunter
Gewissensbisse, weil sie dem Earl noch mehr Arbeit auf die Schultern lud –
obwohl diese ja recht breit waren. „Fühlt er sich etwa so überarbeitet, dass er
eine Kur nötig hat? Und die geprellten Rippen sind doch geheilt, oder nicht?“

Bettina lachte. „Carlinn? Er ist gesund und kräftig wie ein Ochse. Wenn er

nur hart genug arbeiten kann, fühlt er sich pudelwohl. Nein, ich fürchte, dieser
jüngste Einfall ist meine Schuld. Vielleicht nicht direkt meine Schuld, aber er
fragte Cousine Winifred neulich, ob sie nicht eine weibliche Verwandte im ton
habe. Carlinn hat Angst, dass ich während meiner Saison kein Fettnäpfchen
auslasse, wenn ich keine Dame an meiner Seite habe, die mich leitet.“

„Das hat er sicher nicht so gemeint. Vermutlich wünschte er sich jemanden,

der alle Gastgeberinnen und die gesellschaftlichen Regeln kennt, um es Ihnen
ein wenig einfacher zu machen.“

„Mag sein. Jedenfalls hat er dann darüber gesprochen, dass es für ihn an der

Zeit ist, an Nachkommen zu denken.“

Die freundlichen Gefühle, die Marisol für den Earl zu hegen begonnen hatte,

waren auf einmal wie weggeblasen. Übrig blieb nur eisige Verachtung.
Vergessen waren der Wachhund, Kimbroughs Unterstützung bei Fosters
Armeekarriere und seine Gewissenhaftigkeit bei der Verwaltung des
Vermögens. Soso, er war also auf der Suche nach einer Ehefrau. Vermutlich
stellte er alle infrage kommenden Damen vor sich auf und wählte die mit der
besten Kinderstube, den breitesten Hüften und der größten Mitgift. Ach nein,
Kimbrough hatte eine reiche Gattin genauso wenig nötig wie Arvid damals.
Aber wieder drohte einer armen Frau eine kalte, lieblose Ehe. Ihr Herr und
Meister sorgte dafür, dass er die erhofften Gegenleistungen für seine Investition
bekam, und ging ansonsten seiner Wege. Vielleicht würde seine Gattin ihn
erschießen.

Bettina plapperte unterdessen munter weiter. „Und dann hat er Cousine

Winifred nach ihrer Patentochter gefragt, die in Bath lebt. Edelia Sherville.
Kennen Sie sie?“

Schadenfroh lächelte die Duchess. Edelia Sherville konnte sich die Mühe

sparen, Kimbrough zu erschießen. Sie würde ihn zu Tode langweilen. Ja, sie
kannte Miss Sherville. Sie waren in derselben Saison in die Gesellschaft
eingeführt worden. Und ja, diese Dame war in jeder Hinsicht passend und
standesgemäß. Sie sah gut aus, war gebildet und verfügte sowohl über beste
Verbindungen als auch eine große Mitgift. Außerdem war sie fast so sehr von
sich eingenommen wie Kimbrough von sich selbst. Was für ein perfektes Paar:
zwei geschwollene Großköpfe! Nur ungünstig, dass die beiden gleich nebenan
wohnen würden.

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Im nächsten Augenblick schalt sich Marisol für die hartherzigen Gedanken.

Sie wusste selbst nicht, weshalb ihr der Gedanke an Lord Kimbroughs Heirat
zuwider sein sollte. Der Mann hatte schließlich ein Recht auf eine Familie. Und
sollte seine Wahl auf Miss Sherville fallen – nun, zumindest war Edelia kein
grünes Schulmädchen, das auf dem Heiratsmarkt meistbietend verkauft wurde.
Sie würde Kimbroughs Werbung nur dann annehmen, wenn sie auf der Suche
nach einem breitschultrigen, pedantischen Landjunker war. Oder wenn sie
glaubte, ihren Bräutigam nach ihren Vorstellungen formen zu können. Marisol
konnte ihr nur Glück wünschen. Um Bettinas willen wünschte sie außerdem,
dass sich der Earl nur aus Neugier oder familiärem Pflichtgefühl nach Miss
Sherville erkundigt hatte.

Carlinn hatte sich nach Miss Sherville erkundigt, weil er sichergehen wollte,
dass sie sich weder in Skandale noch in Männergeschichten verwickelt hatte,
während er in Berkshire weilte. Da die Antwort zufrieden stellend ausfiel, fuhr er
zu einem Abschiedsbesuch nach Denning Castle.

Marisol hielt sich im Morgenzimmer auf, als er vorsprach. Neben ihr auf der

Chaiselongue strampelte Nolly mit den Beinchen in der Luft herum, und Sal lag
zu ihren Füßen. Einen Augenblick lang blieb Carlinn an der Tür stehen und
bewunderte das Bild der Liebe zwischen Mutter und Kind, einer Liebe, die die
junge Frau beinahe schön erscheinen ließ. Bis der Butler ihn anmeldete. Sofort
setzte die Frau wieder ihre hochmütige Maske auf, hob das Kinn und blickte ihn
von oben herab an. Die Duchess war zurück. Zum Kuckuck, die Dame wechselte
ihre Stimmungen so oft wie seine Schwester ihre Kleidung. Heute, das spürte
er, war die Duchess so kratzig wie ein selbst gestrickter Schlüpfer.

Marisols Begrüßung war kühl, ihre guten Reisewünsche waren allenfalls

lauwarm, und ihre Grüße an seine Familie lediglich der Pflicht geschuldet. Nach
zehn Minuten erhob sich Carlinn bereits wieder und schützte dringende
Reisevorbereitungen vor. Die Duchess wickelte das Kind in seine diversen
Decken und nahm es auf den Arm, um Kimbrough hinauszugeleiten. Sie hatten
die Tür noch nicht erreicht, da hörten sie aus der Eingangshalle lautes Poltern
und Klappern, Krachen, Schreie und Flüche. Als der Earl nachsehen wollte,
gebot Marisol ihm Einhalt: „Nein, Mylord, bleiben Sie. Offensichtlich handelt es
sich um eine Haushaltsangelegenheit. Es wäre dem Personal sicher peinlich,
wenn Sie Zeuge dieses Tohuwabohus würden. Ich gehe. Hier, nehmen Sie
Nolly.“

Sie reichte ihm den Säugling. Einfach so. „Aber Madam, ich habe noch nie ...“
„Dann ist es höchste Zeit, dass Sie es lernen“, antwortete sie, schon im

Gehen begriffen.

Carlinn blickte auf das Bündel in seinen Armen hinunter. Hilflos sagte er: „Ich

kann nicht glauben, dass Sie ihn mir so einfach anvertrauen.“

„Tue ich auch nicht. Ich vertraue Sal. Und keine Sorge, Sir, Sie kommen

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schon zurecht. Halten Sie ihn nur aufrecht.“ Damit war sie verschwunden.

Was sollte das heißen, aufrecht halten? Sonst passierte – was? Unter

Missachtung der zarten Gefühle der Dienerschaft wollte er der Duchess folgen.
Doch Sal hatte den Befehl zum Bleiben vernommen. Sie stellte sich zwischen
Kimbrough und die Tür. Ihr Nackenfell sträubte sich, und sie bleckte die Zähne.

„Freund“, rief Carlinn im besten Befehlston.
„Grrr.“ Sal schien nicht bei der Armee gewesen zu sein.
Langsam ging der Earl rückwärts, bis er an die Chaiselongue stieß. Er setzte

sich, den Säugling vor sich haltend wie ein rohes Ei. Der Hund setzte sich
ebenfalls und wedelte mit dem Schwanz. „Guter Hund. Gutes Kind.“

Aber das Kind hielt das gute Benehmen nicht durch. Sein Gesichtchen verzog

sich und wurde rot. Oh Gott. Carlinn sprang auf und begann auf und ab zu
laufen, immer gefolgt von Sals wachsamem Blick. Die Bewegung schien das
Baby zu beruhigen, doch nun strampelte es wild unter seinen Decken herum.
„Du willst wohl ausgewickelt werden, was, alter Knabe? Kann dir keinen Vorwurf
daraus machen. Das ist ja schlimmer als eine Zwangsjacke.“

Doch als er den Säugling hinlegen wollte, fing Nolly an zu schreien, und Sal

winselte. Augenblicklich nahm Carlinn das Kind wieder hoch. Nun versuchte er
gleichzeitig, den kleinen Duke aus den Decken zu schälen, ihn aufrecht zu
halten und hin und her zu laufen, ohne sich der Tür zu nähern. „Und bloß nicht
fallen lassen“, murmelte er. Sehnlichst wünschte er sich eine weitere Hand, um
sich die Schweißperlen von der Stirn zu wischen.

Endlich hatte er den Säugling mehr oder weniger freigelegt. Prompt wandte

Nolly das Gesichtchen Carlinns Brust zu, nahm ein Stück von dem blauen Rock
in den Mund und begann zu saugen. „Ach du liebe Zeit, auch das noch!“ Doch
als der Earl ihn anders nehmen wollte, bekam das Baby einen Zipfel des weißen
Krawattentuchs zu fassen. „Nein!“ schrie Carlinn beinahe. Falten erschienen auf
Nollys kleiner Stirn, so dass er aussah wie ein nachdenklicher alter Mann. Der
Earl steckte ihm seinen Daumen in den Mund. „Mehr kann ich nicht für dich
tun, mein Guter. Gib mir nicht die Schuld. Sie hat dich allein gelassen.“

Nolly saugte an dem großen Männerdaumen und sah zu seinem Vormund

auf. Wie gebannt blickte der Earl auf die großen graublauen Augen, die
winzigen Fingerchen, den Haarflaum und die pfirsichweiche Haut. Das Baby
blickte ihn so missbilligend an wie die Duchess. Und es war weich, genauso
weich wie seine Mutter.

In diesem Augenblick ließ Nolly vom Daumen des Earl ab und lächelte zu ihm

auf.

„Und außerdem genauso wetterwendisch wie deine Mutter, Euer Gnaden“,

stellte Carlinn fest und lächelte zurück. Wie gut, dass er bald nach Bath fuhr. Je
eher er Miss Sherville einen Antrag machte, desto eher konnte er so ein Kleines
ganz für sich haben. Eins ohne die Laughton-Nase. Und hoffentlich eines, das

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auf seinen hellen Kniehosen keinen nassen Fleck hinterließ.

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16. KAPITEL

Bath war genauso fürchterlich, wie Carlinn es in Erinnerung hatte, nur noch
schlimmer. Die Bandbreite der möglichen Vergnügungen reichte von gesitteten
Spaziergängen im Park über Gesellschaftsabende zweimal in der Woche bis hin
zu gelegentlichen Kartenpartien. Bath wimmelte nur so von alten Jungfern und
pensionierten Generälen. Hier gab es alles, was der Earl an London
verabscheute, nur auf engerem Raum. Vor allem tratschende Matronen.

Sechs davon saßen in Lady Shervilles Salon und ließen ihn nicht aus den

Augen, als er sich vor den Damen des Hauses verbeugte. Im Namen seiner
Cousine Winifred erkundigte er sich höflich nach Lady Shervilles Befinden.

„Nun, ich bin ein wenig anfällig, wie ich Winifred erst letzte Woche

geschrieben habe. Aber die Luft in Bath ist meiner Gesundheit sehr zuträglich.“

Wie bitte? Kimbrough fand die Luft in diesem Salon erstickend. Himmel,

wenn er nur das verwünschte Krawattentuch ein wenig lockern könnte!

„Und was führt Sie nach Bath, Lord Kimbrough? Wohl kaum das Heilwasser.

Sie sehen geradezu erschreckend gesund aus.“

Der Earl wusste nicht, ob er sich dafür entschuldigen oder bedanken sollte.

So erklärte er stattdessen sein Vorhaben, ein Haus in Bath zu mieten.

„Aber nein“, rief Miss Sherville aus, „Sie dürfen Miss Kimberly nicht um diese

Zeit nach Bath bringen. Erst der Sommer bietet den jüngeren Leuten genügend
Zerstreuungen. Die Sydney Gardens stehen dann in voller Blüte.“

Was, er sollte das Angeln und Reiten aufgeben, um den Sommer in der Stadt

zu verbringen? Unmöglich. Diese Jahreszeit brachte die meiste Arbeit auf den
Gütern mit sich. Doch nach seinen ersten Eindrücken von Bath hatte Edelia
vollkommen Recht. Bettina käme sich hier elend eingesperrt vor. Selbst ein
einfacher Ausritt erforderte ja einen Tagesausflug!

Nach seinen ersten Eindrücken von Miss Sherville schien sich die Reise

jedoch zu lohnen. Edelia sah in ihrem modischen, jedoch nicht aufdringlichen
Morgenkleid aus perlfarbener Seide äußerst hübsch aus. Jedes kastanienbraune
Haar lag an seinem Platz. Nicht eine einzige vorwitzige Locke brachte einen
Mann in Versuchung, sie ihr aus dem Gesicht zu streichen. Edelia besaß eine
kleine, wohlgeformte Nase – dem Himmel sei Dank! – und angenehm
nussbraune Augen. Aus ihrem Blick sprach weder die empfindsame Jungfrau
noch die feurige Verführerin, sondern eine keusche, vernünftige junge Frau, die
ihren Gatten nicht hintergehen würde. Angesichts seiner Musterung schlug sie
sogar bescheiden die Augen nieder.

Sein Blick glitt tiefer. Doch hastig wandte er sich wieder ihrem Gesicht zu. Er

verweilte besser nicht zu lange auf dem bedrückend reizlosen Dekollete.

Die für einen Höflichkeitsbesuch vorgeschriebenen zwanzig Minuten

vergingen ohne Störungen durch Säuglinge, Hunde oder zudringliche

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Verwandte. Bevor sich der Earl verabschiedete, fragte er Miss Sherville, ob sie
ihn auf einem Spaziergang begleiten wolle. Sie könne ihn sicher bei der Suche
nach einem geeigneten Haus für den Sommer beraten. Bereitwillig stimmte sie
zu. Während sie in äußerst gesetzter Geschwindigkeit eine Runde durch die
Stadt drehten, auf Schritt und Tritt gefolgt von einer Anstandsdame in Schwarz,
empfahl Edelia ihm wärmstens den Royal Crescent als die eleganteste Adresse.
Voller Abneigung betrachtete der Earl die Häuser, die genauso dicht
aufeinander hockten wie die gute Gesellschaft von Bath.

Am selben Abend tanzte Carlinn bei dem Ball in den Gesellschaftsräumen mit

Miss Sherville – den einzigen Kontertanz, der auf ihrer Tanzkarte noch frei war.
Den restlichen Abend war Edelia an eine Schar mittelalterlicher Romeos mit
Pomadenlocken, knarrenden Korsetts und schnupftabakgelben Fingern
vergeben. Die Konkurrenz bereitete dem Earl keine Sorgen.

Am nächsten Morgen geleitete er Miss Sherville durch die Trinkhalle, um ihrer

Mutter ein Glas von dem übel riechenden Wasser zu holen. Gleich darauf wurde
Kimbrough höflich, aber bestimmt entlassen. Nachmittags trank er eine Tasse
Tee, bis die ihm zugestandene Zeit verstrichen war, und später spielte er eine
Partie Karten mit Miss Sherville, bevor man die Whistpartner tauschte. Nein,
Edelia Sherville würde sich nie zum Gegenstand leichtfertigen Klatsches
machen. Andererseits schien man an die Frau auch erst heranzukommen, wenn
man ihr bereits den Ring auf den Finger gesteckt hatte.

Himmel und Hölle, er konnte ihr doch nicht einfach so einen Antrag machen!

Er war noch nicht bereit. Außerdem erwartete eine Frau schließlich, dass man
sie umwarb. Umsicht mochte schön und gut sein. Aber er wollte verdammt sein,
wenn er unter den Blicken jeder Matrone von ganz Bath das Mondkalb spielte.

Wie konnte er Miss Sherville nur kennen lernen und herausfinden, ob sie

zusammenpassten, wenn sie niemals alleine waren? Und wie lange musste er
noch an diesem verflixten Ort ausharren, bevor er wieder heimfahren konnte?

Er schlug einen Ausritt vor die Stadtmauern vor. Miss Sherville entgegnete,

ihre Mutter wäre sicher von einem Ausflug sehr angetan. Ein Einkaufsbummel?
Die Leihbibliothek? Miss Sherville lud ein paar Freundinnen dazu ein, mit
anschließendem Mittagsimbiss in einem der Kaffeehäuser. Ein Mädchen im
Alter von Miss Kimberly könne sich ein derartig gewagtes Benehmen
selbstverständlich nicht leisten, gestand Edelia dem Earl mit ernsthafter Miene.
Aber sie selbst dürfe sich glücklich schätzen, den einengendsten der
gesellschaftlichen Zwänge inzwischen entwachsen zu sein.

Warum zum Teufel konnte er sie dann nicht dazu bewegen, in den Sydney

Gardens auch nur einen Fußbreit vom Weg abzuweichen? Himmel, die Duchess
of Denning schlief mit einer Jagdflinte an der Seite! Sie bot der Gesellschaft die
Stirn, indem sie sich weigerte, volle Trauer zu tragen. Sie fuhr ohne
Anstandsdame mit ihm aus und errötete noch nicht einmal, wenn sie ihn nur

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mit einem Nachthemd bekleidet bewirtete. Zugegeben, die Herzogin war Mutter
und Witwe, aber sie konnte nicht viel älter sein als Edelia Sherville. Tatsächlich
wirkte sie jünger. Nur ihren Augen merkte man zuweilen an, was sie bereits
gesehen hatte. Kimbrough ermahnte sich, dass er keine Braut mit Erfahrungen
wünschte. Er wollte genau das, was Miss Edelia Sherville verkörperte: eine
ehrenhafte Adlige, die den Anstand zu wahren wusste.

Erneut erinnerte er sich daran. Und am nächsten Tag wieder.

Nie zuvor hatte Lord Kimbrough den Aufruhr zu schätzen gewusst, der mit der
Duchess of Denning in seinem Leben Einzug gehalten hatte. Nie zuvor hatte er
eine ihrer dringenden Nachrichten dermaßen entzückt in Empfang genommen.
In Wirklichkeit forderte Ihre Gnaden keineswegs seine Rückkehr nach
Berkshire, und sie hatte den Stallburschen auch nicht angewiesen, in
gestrecktem Galopp nach Bath zu reiten. Sie schrieb dem Earl lediglich, um ihn
von den Vorkommnissen zu unterrichten. Aber das musste schließlich in Bath
niemand erfahren.

„Ich bedaure es sehr, dass ich meinen Besuch abbrechen muss, bevor die

Angelegenheiten hier abgeschlossen sind“, deutete er Miss Sherville, ihrer
Mutter und dem stets anwesenden schwarz gekleideten Drachen an. „Ich meine
natürlich die Suche nach einer geeigneten Residenz. Aber aus Berkshire hat
mich ein Notruf erreicht. Eine Nachbarin benötigt meine Hilfe. Der Bote hat
beinahe sein Pferd zuschanden geritten, um rechtzeitig hier zu sein, daher
muss ich umgehend aufbrechen. Vielen Dank, dass Sie mir den Aufenthalt in
Bath so angenehm gestaltet haben. Auf Wiedersehen.“ Miss Sherville gestattete
ihm, ihre Hand zu ergreifen und zu küssen. Näher war er dem Frauenzimmer
während der ganzen zwei Wochen nicht gekommen.

Carlinn verließ Bath schneller, als Marisols Bote hergekommen war. Und

freudiger.

Der Notfall in Berkshire war Foster Laughtons Rückkehr als Held. Er sei

verwundet worden, schrieb Marisol, aber die Ärzte hätten versichert, alles sähe
gut aus. Sie wolle nicht, dass Lord Kimbrough die Nachricht von anderer Seite
hörte und sich womöglich unnötig sorgte. Er nahm sie beim Wort und
überstürzte die Reise nicht. Weder trieb er die Pferde unnötig an, noch riskierte
er schlechtes Wetter oder schlammige Straßen. Die Freiheit war ein
berauschendes Getränk, und Carlinn war entschlossen, sie bis zum letzten
Tropfen auszukosten.

„Zur Hölle“, brüllte Kimbrough, als er endlich den Salon der Duchess betrat

und die Lage mit einem Blick erfasste. „Weshalb haben Sie mir nicht gesagt,
dass ich mich bei der Rückreise beeilen soll?“

Die Duchess schlug ihm die Tür vor der Nase zu. Nolly lag auf seiner Decke

und gab ein freudiges Gurgeln von sich, während Tante Tess in der Ecke saß
und strickte. Sal hielt vor dem Kamin Wache, und Max jagte hinter einem

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Wollknäuel her. Auf dem Sofa lag Foster und ließ sich pflegen. Doch die Person,
die sich über den Invaliden beugte, war nicht etwa eine Krankenschwester oder
die Zofe Ihrer Gnaden – es war Kimbroughs eigene kleine Schwester! Sie hing
Foster förmlich an den Lippen, brachte ihm Limonade und kühlende Tücher für
die Stirn, las ihm vor und spielte Ratespiele mit ihm.

Carlinn hatte der Duchess versprochen, sich des jungen Laughton

anzunehmen. Aber, zum Henker! Wenn der Grünschnabel nicht augenblicklich
den Blick von Bettinas Busen abwendete, dann würde Kimbrough dafür sorgen,
dass sich alle Höllenteufel seiner annahmen! Und wo zum Kuckuck steckte
Cousine Winifred?

Offensichtlich war Foster tatsächlich ein Held, wie Kimbrough in allen

Einzelheiten in den Zeitungen nachlesen konnte. Sein Truppentransportschiff
hatte kurz vor der Landung in Lissabon Feuer gefangen. Schuld daran war nicht
etwa feindlicher Beschuss, sondern ein fahrlässiger Matrose, der in der Nähe
der Munitionskammer geraucht hatte. Plötzlich war auf dem Schiff ein wahres
Inferno ausgebrochen. Explosionen setzten die Segel in Flammen, Funken
sprühten und Masten brachen.

Die letzten Worte des Kapitäns lauteten „Schiff aufgeben“. Die meisten der

höheren Dienstgrade gehorchten auf der Stelle und überließen die frischen
Rekruten und ihre paar unerfahrenen Offiziere ihrem Schicksal. In Panik
stürmten die Männer zu den Rettungsbooten. Wer fiel, wurde erbarmungslos
zertrampelt. Andere sprangen einfach über Bord. In diesem Augenblick bewies
Foster, was in ihm steckte. Er befahl Joshua Dimm und Jack Windham, sich mit
gezogenen Pistolen neben den Rettungsbooten aufzustellen, und zwang die
Männer so zum geordneten Rückzug.

In der Zwischenzeit machte sich Foster unter Deck daran, die Verwundeten

nach oben zu tragen. Als alle Männer, die er in dem Rauch und den Flammen
ausmachen konnte, in Sicherheit waren, ließ er Joshua Dimm und Windham die
restlichen Boote klarmachen. Stundenlang ruderten die drei umher, um auch
noch den letzten verängstigten Soldaten zwischen den brennenden
Schiffstrümmern hervorzuziehen. Obwohl Joshua protestierte, sprang Foster
sogar selbst ins Wasser, um erschöpfte Schwimmer zu retten. Endlich kam eines
der anderen Schiffe nahe genug heran, um Rettungsboote zu Wasser zu lassen.

Alle Überlebenden wurden an Bord genommen und in Lissabon bei den

Armeeärzten abgeliefert. Die Unversehrten und leichter Verletzten wurden zu
ihren Einheiten geschickt. Die Schwerverletzten kehrten geradewegs nach
England zurück. Jack Windham erhielt seine Beförderung in Portugal, und
Foster Laughton wurde zum Kriegshelden, ohne dass seine Füße jemals
fremden Boden berührt hätten.

Nun lag er beinahe so hilflos wie Nolly zu Hause, die Verbrennungen an Brust

und Armen mit Salben und Verbänden bedeckt. Joshua Dimm war befördert

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worden, wurde aber trotzdem heimgeschickt, um sich um seinen Offizier zu
kümmern. Der junge Marquis musste gefüttert, angezogen und von seinen
Schmerzen und Beschwerden abgelenkt werden. Allerdings ließ er sich
offensichtlich am liebsten von Bettina Kimberly ablenken.

„Hölle und Teufel“, fluchte ihr Bruder erneut. „Du hättest den

Gesichtsausdruck dieses Milchbarts sehen sollen“, erklärte er später seiner
Cousine, die mit einer schweren Erkältung zu Bett lag. Deshalb hatte sie Bettina
nicht als Anstandsdame begleitet. Allerdings hatte sie geglaubt, die Duchess,
ihre Tante und die alte Herzoginwitwe genügten, um ihren Schützling vor den
Aufmerksamkeiten eines bettlägerigen Soldaten zu bewahren. Doch
offensichtlich hatte sie sich getäuscht. Darauf ließ jedenfalls Cousin Carlinns
Benehmen schließen. Dieser war mit seinem wutentbrannten Auf- und
Abschreiten auf dem besten Wege, ein Loch in den kostbaren Aubusson-
Teppich zu laufen.

„Er sah aus wie einer dieser Märtyrer auf den Kirchenfenstern, denen sich

gerade der Himmel öffnet. Und Bettina hätte ich höchstens mit der Brechstange
von seiner Seite loslösen können. Ich hatte Recht. Sie braucht einfach eine
festere Hand.“ Immer noch lief er hin und her. Cousine Winifred putzte sich die
Nase. Hoffentlich war sie am nächsten Tag so weit wiederhergestellt, dass sie
den lieben Foster und den niedlichen kleinen Noel besuchen konnte. Doch
Carlinns nächste Worte rissen sie aus ihren Gedanken.

„Deine Patentochter Edelia hat mir in Bath äußerst hilfreich zur Seite

gestanden. Sie hat mich so zuvorkommend herumgeführt und allen ihren
Freunden vorgestellt, dass ich mich dafür erkenntlich zeigen sollte.“

„Ganz sicher fände sie einen Brief nicht zu aufdringlich. Edelia ist ein sehr

höfliches Mädchen.“

„Ja. Allerdings hatte ich daran gedacht, dass du sie vielleicht zu einem

Besuch hierher einladen möchtest. Gewiss übt sie einen guten Einfluss auf
Bettina aus und zeigt ihr ein wenig, wie eine Dame sich benimmt.“

Überrascht blinzelte Winifred. „Du möchtest, dass ich sie einlade?“
„Selbstverständlich. Daran ist doch nichts auszusetzen. Schließlich bist du

ihre Patin. Natürlich – wenn ich die Einladung ausspräche, würde sicher
geklatscht. Vielleicht würden sogar in gewissen Kreisen Erwartungen geweckt.
Aber es spricht wohl nichts dagegen, dass Miss Sherville einmal für eine Weile
aus dieser verstaubten alten Stadt herauskommt, wo sie lediglich
Achtzigjährige zur Gesellschaft hat.“

„Hierher? Du erwartest von mir, dass ich Edelia mitten im Winter nach

Berkshire einlade?“

„Es ist überhaupt nicht mehr winterlich“, behauptete Carlinn. Entschlossen

schob er die Tatsache beiseite, dass ihm auf dem Rückritt von Denning Castle
beinahe die Ohren abgefroren waren. „Du liebe Zeit, es ist doch schon beinahe

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April! Ehe man sich versieht, steht alles in voller Blüte, und man kann angeln
gehen.“

„Angeln – Edelia?! Sagtest du nicht, du hättest in Bath bereits ihre

Bekanntschaft gemacht?“

„Dann von mir aus Spaziergänge im Garten oder Ausritte, um Blumen zu

pflücken. Du weißt schon, Frühling auf dem Lande. Was gibt es Idyllischeres?“

„Ja, aber dazu müsste sie dem Landleben etwas abgewinnen können, oder?“
Richtig, und es war höchste Zeit, genau das herauszufinden. Carlinn hatte

nicht vor, auch nur einen einzigen Tag seines zukünftigen Lebens in Bath zu
verbringen, und London stand vollkommen außer Frage.

Winifred wischte sich die Nase ab. „Edelia ist nicht auf dem Lande

aufgewachsen und hat daher etwas andere Interessen. Ich glaube nicht, dass
sie kommt.“

Carlinn dachte an die pomadisierten Vogelscheuchen, die Miss Sherville in

Bath den Hof machten: den Baronet mit der teigigen Gesichtsfarbe und dem
krächzenden Husten, den ewig salbadernden Vikar und den Witwer mit den
abstehenden Ohren und vier kleinen Kindern. Ohne übergroße Eitelkeit konnte
er Winifred versichern: „Sie wird kommen.“

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17. KAPITEL

Und sie kam. Edelia Sherville mochte eine Städterin sein, aber sie war keine
Törin. Sie war bereit, die Schönheiten der Landschaft zu bewundern – aus der
Ferne natürlich – und sich in Geduld zu üben. Sie witterte die Möglichkeit, nach
London zurückzukehren. Oh, wie sie das Theater, die Oper, die Bälle und die
eleganten Geschäfte vermisste! Oh, wie sie die anfällige Gesundheit ihrer
Mutter verfluchte, die sie dazu zwang, ihren Wohnsitz in Bath zu nehmen! Oh,
und wie sie es bereute, keinen der Anträge in ihrer ersten Saison angenommen
zu haben! Damals hatte sie daran geglaubt, während der zweiten werde sich
eine noch bessere Partie bieten.

„Oh, wie idyllisch“, schwärmte sie, als ihr Lord Kimbrough den Ausblick aus

der Bibliothek über die Gärten zeigte. Ob sie dort ein wenig spazieren gehen
wollte? Ach, wie dumm, aber ihre Schuhe waren dazu leider nicht geeignet.
Vielleicht später ein Ausritt über die Güter? Nun, sie hatte sich vorgenommen,
ein Aquarell des Zierteiches zu malen, wie man ihn von ihrem
Schlafzimmerfenster aus sah. Ein Spaziergang durch das Wäldchen, um nach
den ersten Osterglocken Ausschau zu halten? Sie hatte ihrer Mutter fest
versprochen, ihre Klavierübungen nicht zu vernachlässigen.

Mit Begeisterung nahm Edelia dagegen Kimbroughs Vorschlag an, ins

Städtchen zu fahren und durch die Geschäfte zu bummeln – bis sie die Lädchen
sah. Alle drei, wenn man die Fleischerei nicht mitzählte. Dennoch genoss sie es,
neben dem gut aussehenden Earl auf dem Bock zu sitzen, während er gekonnt
den eleganten Zweispänner durch die Straßen lenkte. Ihre Freude wäre noch
gesteigert worden, wenn außer Kühen und Dorftrampeln auch nur eine
Menschenseele Zeuge davon geworden wäre. Zu allem Überfluss verfügte der
Gasthof, in dem sie sich vor dem Heimweg mit einer Tasse Tee stärken wollte,
noch nicht einmal über einen privaten Salon. Hastig trank Miss Sherville ihre
Tasse leer und aß ihr süßes Brötchen, bevor sich noch der Schmied oder sonst
jemand neben sie setzen konnte. Mama wäre entsetzt.

Der Earl dagegen schien hoch erfreut. „Sehen Sie, Sie sollten mehr

hinausgehen. Die frische Luft stärkt den gesunden Appetit und färbt sogar Ihre
Wangen rosig.“

Den Rest des Tages verbrachte Miss Sherville in ihrem Zimmer und betupfte

sich die Haut mit Dänischer Lotion.

Cousine Winifred hielt sich ebenfalls einen Großteil der Zeit im Schlafzimmer

auf. Sie hatte beschlossen, einen Rückfall zu erleiden. Sollten sich doch Carlinn
und Bettina um Edelias Zerstreuung kümmern.

„Ts, ts, ich weiß wirklich nicht, was Mama dazu sagen würde“, stellte Miss

Sherville mindestens dreimal täglich fest. „Natürlich ist mir bewusst, dass man
es auf dem Land mit den strengen Sitten weniger genau nimmt. Aber ein

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Mädchen kann nie vorsichtig genug sein.“

„Miss Sherville, ich versichere Ihnen, dass Sie nicht in Gefahr sind,

kompromittiert zu werden.“ Eher noch, mit einem nassen Handtuch erschlagen
zu werden. Vielleicht war der Besuch doch kein so guter Einfall, gestand sich
Carlinn ein. Leider war er selbst zu dieser Jahreszeit zu beschäftigt, um sich
ständig um Miss Sherville zu kümmern. So blieb sein Gast mehr und mehr
Bettina überlassen. Edelia hielt die Schwester des Earl für nichts als ein
unerzogenes Mädchen, das eben seine erste unreife Schwärmerei durchlebte.
Zudem war Miss Sherville nicht gewillt, sich einfach so abschieben zu lassen.
Dazu hatte sie ihren eigenen Vorteil zu fest im Auge.

„Ihre Schwester bleibt zu sehr sich selbst überlassen, Mylord“, teilte sie ihrem

Gastgeber mit, den sie in seinem Arbeitszimmer aufgesucht hatte. „Ein so
junges Mädchen muss strenger beaufsichtigt werden. Sie sollte ihre Garderobe
für die erste Londoner Saison vorbereiten, statt mit schlammbespritzten Röcken
vom Reiten nach Hause zu kommen. Wenn Sie mir zustimmen, dass sie nach
Reading fahren sollte, um sich ein paar neue Kleider schneidern zu lassen, bin
ich gerne bereit, ihr mit Rat und Tat zur Seite zu stehen.“

„Bettina weiß, dass sie nur Madame Molyneaux kommen lassen muss, wenn

sie etwas braucht. Außerdem findet ihr Debüt nicht vor dem nächsten Herbst
statt.“ Ungeduldig blätterte Carlinn in ein paar Unterlagen auf dem
Schreibtisch, doch der zarte Hinweis verfehlte völlig sein Ziel.

„Im Herbst? Nächstes Jahr?“ Dahin waren Miss Shervilles Hoffnungen auf eine

frühe Hochzeit. „Aber Sie wollen sie doch wohl nicht während der Nebensaison
nach London bringen? Meine Güte, sie ist alt genug, um sofort in die
Gesellschaft eingeführt zu werden!“

„In meinen Augen gibt es keinen Grund, diese Dinge zu überstürzen.

Außerdem bin ich mir sicher, dass sich irgendein flotter junger Mann Bettina
schnappt, sobald sie auch nur die Nasenspitze bei Almack’s hineinsteckt. Und
ich bin noch nicht bereit, mich von ihr zu trennen.“

Mich hat auch niemand geschnappt, dachte Miss Sherville erbittert. Aus

purer Gehässigkeit bemerkte sie: „Wenn Sie nicht Acht geben, geht sie noch
hier auf dem Lande eine vollkommen unpassende Verbindung ein. Dann kommt
sie womöglich gar nicht mehr dazu, bei Almack’s ihren Knicks vor der
vornehmen Welt zu machen.“

„Laughton? Ach was, die Schwärmerei für den Jungen wird sich schon

auswachsen. Und zwar umso schneller, wenn ich kein Machtwort spreche. Das
Verbotene erscheint doch immer noch verlockender.“ Diese Weisheit stammte
von der Duchess. Wäre es nach Carlinn gegangen, hätte er seine Schwester
schon längst auf die andere Seite des Erdballs verfrachtet. „Nichts als ein wenig
Heldenverehrung.“

„Lieutenant Laughton? An dem Marquis ist nichts auszusetzen, jetzt, wo er

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sich ausgezeichnet hat. Abgesehen davon natürlich, dass ihm nicht einmal das
Hemd gehört, das er am Leibe trägt. Nein, ich meinte seine Schwester, die
Kutschenwitwe. Vollkommen unschicklich.“

Mit einem scharfen Geräusch zerbrach der Bleistift in den Händen des Earl.

Doch er äußerte lediglich: „Sie ist unschuldig.“

„Vielleicht an dem Mord. Aber was ist mit dem Rest? Du liebe Zeit, ich habe

gehört, dass sie noch nicht einmal richtig Trauer trägt.“

„Sie können hier nicht die gewöhnlichen Maßstäbe anlegen.“ Zu seinem

Ärger erwischte sich Kimbrough dabei, wie er die Duchess in Schutz nahm.
„Außerdem muss sie an das Kind denken, und der Kleine mag leuchtende
Farben. Sie sollten einmal sehen, wie begeistert er von Mr. Dimms roter Weste
ist. Meine Goldknöpfe waren auch ein großer Erfolg.“

Miss Shervilles sorgfältig nachgezogene Augenbrauen verschwanden beinahe

unter ihrem Haaransatz.

Beim Mittagessen unternahm Edelia einen neuerlichen Versuch. Soeben hatte
Bettina verkündet, dass sie am Nachmittag einen Besuch auf Denning Castle
abstatten wollte. Sie habe Lieutenant Foster versprochen, ihm vorzulesen. Ihre
Worte wurden von einem herausfordernden Blick begleitet.

„Vielleicht möchte Miss Sherville ja lieber einigen der anderen Nachbarn

vorgestellt werden“, versuchte Carlinn es mit Diplomatie.

„Dann solltest du sie vielleicht herumfahren, Bruderherz“, gab seine

Schwester spitz zurück. Sie war wütend, weil er und Cousine Winifred
versuchten, die Sorge um diese Porzellanprinzessin vollständig auf sie
abzuwälzen.

„Wir könnten doch morgen alle zusammen nach Denning Castle fahren. Sie

müssen das Gebäude wirklich sehen, Miss Sherville, mit seinen alten Zinnen
und ...“

„Nein, vielen Dank. Es tut mir Leid, dass ich die Begegnung mit Ihren

Nachbarn ablehnen muss, aber wie ich bereits erwähnte, würde sich ein Besuch
dort ganz und gar nicht schicken. Und Sie, Lady Bettina, täten besser daran,
meinem Beispiel zu folgen. Eine junge Frau kann gar nicht genug auf ihren Ruf
bedacht sein, wenn sie sich eine erfolgreiche Saison erhofft. Sie sollten
sorgsamer mit Ihrem guten Namen umgehen. Man beurteilt eine Dame auch
immer nach dem Umgang, den sie pflegt.“

Cousine Winifred griff ein, bevor Bettina antworten konnte. „Ich bin mir

sicher, dass die Duchess über jeden Zweifel erhaben ist. Du lieber Himmel, du
solltest einmal sehen, wie rührend sie sich um die Dorfschule kümmert und den
Pfarrer bei der Armenfürsorge unterstützt.“

„Selbstverständlich bleibt ihr nichts anderes übrig, als sich auf dem Land zu

vergraben und mit guten Werken zu beschäftigen. Schließlich wurde sie von
der Gesellschaft verstoßen.“

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„Marisol Pendenning ist eine wahre Dame!“ rief Bettina aus und warf ihre

Serviette hin.

Ein Stirnrunzeln ihres Bruders erstickte den drohenden Wutausbruch im

Keim. Mit hochmütigem Blick wandte sich der Earl Miss Sherville zu und sagte:
„Während der letzten Monate haben die Bewohner von Denning Castle genug
unter Tratsch und Missgunst gelitten. Die Duchess hat bewiesen, dass sie ein
wertvolles Mitglied unserer hiesigen Kreise ist, und verdient daher unseren
Respekt. Foster Laughton wurde im Dienst des Königs verwundet. Aber selbst
wenn sie keine vollendete Dame und ihr Bruder ein Flegel wäre – Noel
Pendenning ist mein Mündel, und ich bin für sein Wohlergehen verantwortlich.
Daher wird meine Familie ...“, sein Blick wanderte zuerst zu Bettina, dann zu
Cousine Winifred, um schließlich bei Edelia zu verweilen, die sich die
Mundwinkel mit der Serviette abtupfte, „morgen einen Besuch auf Denning
Castle abstatten, jedenfalls sofern es der Duchess recht ist. Sie, Miss Sherville,
sind herzlich eingeladen, uns zu begleiten.“

Edelia spielte auf Zeit, indem sie sorgfältig die Serviette zusammenfaltete. Es

war ihr keineswegs entgangen, dass Kimbrough wütend war. Bettina, dieses
kleine Biest, grinste schadenfroh in sich hinein. Selbst ihre eigene Patin war ihr
in den Rücken gefallen. Wenn sie sich weigerte, der Duchess ihre Aufwartung
zu machen, konnte sie genauso gut die Koffer packen und nach Bath
zurückkehren. So ließ sie lächelnd ihre makellosen Zähne sehen. „Du lieber
Himmel, ich vergesse doch immer wieder, dass die Sitten auf dem Lande
weniger streng sind. Wie ich merke, stehen Sie alle auf der Seite der armen
Marisol. Habe ich eigentlich erzählt, dass wir uns von unserer ersten
gemeinsamen Saison kennen? Ein reizendes Mädchen. Ich muss wirklich bei ihr
vorbeischauen, wenn ich schon einmal in der Gegend bin.“

„Was hat der Hund hier verloren?“ zischte Edelia dem Earl ins Ohr, der neben
ihr saß. All diese Ritterrüstungen, Kampfäxte, Schwerter und Hellebarden waren
schon abstoßend genug, aber ein großes, haariges Vieh, das darüber hinaus
auch noch verkrüppelt war? Da entsprach das struppige kleine Ding, das auf
der Suche nach Krumen um sie herumhüpfte, schon eher Edelias Vorstellung
von einem Schoßhündchen. Steif saß sie in ihrer Sofaecke und wagte sich kaum
zu rühren, um nicht die Aufmerksamkeit dieses Ungeheuers zu erregen.

„Wie bitte?“ Miss Laughtons Frage war laut genug, dass jeder sie hören

konnte. „Was war das mit dem Hund?“

Lord Kimbrough beugte sich vor. „Das ist nur Sal. Sie passt auf den Säugling

auf. Sofern Sie Nolly nicht bedrohen, tut sie Ihnen nichts.“

Das lenkte Miss Shervilles Gedanken auf einen weiteren Stein des Anstoßes.

Gewöhnlich brachte man kleine Kinder nur in den Salon, damit sie bewundert
und wieder fortgetragen werden konnten. Was hatte dieses hier am Teetisch zu

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suchen? Sie flüsterte dem Earl zu: „Weshalb ist es nicht im Kinderzimmer?“

„Nolly? Ach, hier auf dem Lande sind wir für jede Belustigung dankbar, nicht

wahr, mein Junge?“

Damit nahm der Earl den Säugling aus dem Arm seiner Mutter.

Augenblicklich protestierte Bettina: „Das ist ungerecht! Ich war dran.“

Edelia traute ihren Augen nicht. Erwachsene Menschen gerieten sich in die

Haare darüber, wer ein feuchtes, sich windendes Bündel halten durfte. Als wäre
das nicht schon schlimm genug, ließ Kimbrough das Kind nun auch noch vor
ihrem rosafarbenen Musselinkleid baumeln. Vermutlich war der Rock ohnehin
bereits voller Hundehaare.

„Möchten Sie ihn gerne einmal nehmen?“ bot der Earl an, als habe er die

Kronjuwelen in der Hand statt eines Wickelkinds.

„Nein, vielen Dank.“ Niedlich? Nie in ihrem Leben hatte sich Edelia ein

weniger reizvoller Anblick geboten. Jedenfalls wenn man Lieutenant Laughton
ausnahm, der auf dem gegenüberliegenden Sofa lag. Stinkende Salben waren
auf die großen Stellen rohen roten Fleisches aufgetragen worden. Edelia
musste die Augen abwenden. Konnte man nicht wenigstens erwarten, dass man
den Verwundeten mit mehr als ein paar Verbänden und einem Morgenmantel
bedeckte, wenn jemand zu Besuch kam?

Als Nächstes fiel Miss Shervilles Blick auf den abstoßenden kleinen Mann mit

der roten Weste und den zu engen Pantalons. Kimbrough bemerkte es. „Mr.
Dimm arbeitet für die Bow Street Runners. Heute ist er allerdings gekommen,
um seinen Sohn zu besuchen. Joshua dort drüben ist als Offiziersbursche von
Lieutenant Foster auf Heimaturlaub. Auf dem Lazarettschiff, das die
Verwundeten nach England zurückgebracht hat, befand sich übrigens auch Mr.
Dimms Schwiegersohn. Er ist der Gatte der Zofe Ihrer Gnaden. Ned Turner und
Sarah sind gerade oben. Aber der Bursche dort in der Ecke mit der Pistole in der
Tasche ist noch einer von Dimms Söhnen.“ Diese Worte wurden mit der größten
Ernsthaftigkeit hervorgebracht. Edelia war zu entgeistert, um das belustigte
Funkeln in den Augenwinkeln des Earl wahrzunehmen.

Es kostete Miss Shervilles gesamte Beherrschung, nicht entsetzt

aufzuschreien. Wie war Marisol nur so tief gesunken, dass sie ihren Salon als
Kinderzimmer, Krankenstube, Hundezwinger und Diebesnest missbrauchen
ließ? Mord war das eine, aber diese völlige Missachtung der gesellschaftlichen
Etikette übertraf wirklich alles. Außerdem stellte Edelia befriedigt fest, dass
Marisol ihre Schönheit in erschreckendem Maß eingebüßt hatte. Sie sah
geradezu schlampig aus. Kaum vorstellbar, dass sie, Edelia Sherville, einst
eifersüchtig auf diese Person gewesen war, die in ihrer ersten Saison Arvid
Pendenning, Duke of Denning, eingefangen hatte.

Wenigstens war die alte Duchess anwesend, um der Gesellschaft einen

Anstrich von Wohlanständigkeit zu verleihen, und zumindest sie trug

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schwärzeste Trauer. Ihre Gnaden war mit Miss Shervilles Mama und etlichen
anderen in Bath ansässigen Matronen bekannt. Es gab daher genügend
Neuigkeiten auszutauschen und Grüße aufzutragen. So brauchte Edelia die
übrigen Anwesenden einfach nicht zu beachten, ohne dadurch unhöflich zu
wirken.

Die Gesellschaft löste sich bald in kleinere Gruppen auf. Tante Tess und

Cousine Winifred buhlten mit den Teekuchen um Mr. Dimms Aufmerksamkeit.
Foster und Bettina hatten sich in ein Buch vertieft, dessen Titel keiner von
ihnen kannte oder auch nur wissen wollte. Inzwischen war der kleine Duke
eingeschlafen und wurde von seinem Kindermädchen hinausgetragen. Der
große Hund und der Leibwächter folgten den beiden.

Lord Kimbrough zog Marisol unter dem Vorwand beiseite, mit ihr über einen

neuen Pächter zu sprechen. Während sie am anderen Ende des Raums
vorgaben, die alten Wandteppiche zu bewundern, entschuldigte er sich dafür,
dass er ihr und ihrer Familie Miss Sherville aufgedrängt hatte.

„Das macht nichts, Sir. Ich versichere Ihnen, ich bin durchaus vertraut mit

Menschen von Edelias Sorte. Seien Sie froh, dass nicht noch die Hambleys mit
ihrer Kinderschar vorbeigekommen sind. Von diesem Schreck hätte sich Miss
Sherville nie wieder erholt.“ Einen Augenblick glaubte Marisol, ihn murmeln zu
hören: „Selbst schuld.“ Aber sie musste sich wohl getäuscht haben. „Ich
vermute, dass sie sich hier einfach wie ein Fisch auf dem Trockenen fühlt. Mein,
äh, zwangloser Stil ist sicher nicht das, was sie aus London oder Bath kennt.“

„Apropos London, Madam. Es tut mir Leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass

Sie in Bezug auf London Ihre Pläne ändern müssen.“

„Meine Pläne? Ich wüsste nicht welche.“
Ohne ihren Einwand zu beachten, fuhr er fort. Was er ihr zu sagen hatte, war

auch so verzwickt genug. „Nach Miss Shervilles Aussage pfeifen es in der Stadt
bereits die Spatzen von den Dächern, dass Sie sich weigern, Trauer zu tragen.
Ich zweifle nicht daran, dass Miss Sherville mit den neuesten on-dits bestens
vertraut ist.“ Er trat näher an den Wandteppich heran und betrachtete eine
Gruppe Mohren, die Tiger an der Leine führten. „Dieses ganze Durcheinander ist
dem ton immer noch frisch im Gedächtnis. Man wird Sie nicht empfangen. Lady
Sherville hat mich wissen lassen, dass man über meinen Anteil an den
Verwicklungen nur deshalb gnädig hinwegsieht, weil ich ein Mann bin. Mit
Ihnen werden die Klatschmäuler weniger zimperlich umgehen.“

Marisol schüttelte den Kopf, so dass sich eine Locke aus dem Haarband löste.

„Lord Kimbrough, man hält Ihnen zugute, dass Sie ein reicher, adliger
Junggeselle sind. Ich bin eine reiche verwitwete Duchess. Nach einer Weile
würde man mich wieder in den höchsten Kreisen aufnehmen, abgesehen von
ein paar Moralaposteln vielleicht. Aber vielen Dank für Ihre Besorgnis. Ach, und
ich darf nicht vergessen, auch Miss Sherville für die ihre zu danken“, fügte sie

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trocken hinzu. „Allerdings habe ich nicht vor, mein Glück auf die Probe zu
stellen. Ich hege keinerlei Pläne, in nächster Zeit nach London zu reisen.“

„Selbstverständlich tun Sie das. Es ist das Leben, an das Sie gewöhnt sind“,

widersprach er hartnäckig.

„Was, ich soll Nolly und meine Pflichten hier einfach gegen die Lustbarkeiten

der Stadt eintauschen?“

„Jede Frau täte das.“ Zumindest Miss Sherville, das wussten sie beide.
„Vielen Dank für die Unterstellung. Sicherlich erleichtert es Edelia ungemein,

dass Sie der Auffassung sind, eine wahre Dame gehöre nach London. Aber ich
kann nur wiederholen, dass ich hierhin gehöre. Das ist mein Heim. Ich bin nicht
Miss Sherville.“

Gemeinsam wanderten ihre Blicke hinüber zu Edelia, die immer noch in ihre

Unterhaltung mit der alten Duchess vertieft war. Dem Rest der Gesellschaft
kehrte sie den Rücken zu, als stehe sie über ihnen.

Carlinn konnte nicht umhin, die dunkelhaarige Schönheit mit der blonden

Frau an seiner Seite zu vergleichen. Edelia hatte wie immer die äußerste
Sorgfalt auf ihre Toilette verwendet. Sie fröstelte in einer tief ausgeschnittenen
Kreation aus dünnem Musselin, während Marisol ein weiches dunkelblaues
Merinokleid mit langen Ärmeln und Stehkragen trug. Sie wirkte warm,
behaglich und einladend. Streng schob der Earl diesen letzten Gedanken
beiseite.

„Ich bitte nochmals um Entschuldigung. Ich hätte es wissen sollen.“
„Wie bitte? Der Earl of Kimbrough entschuldigt sich zweimal innerhalb eines

einzigen Tages? Wo hat man denn so etwas schon gehört?“ Marisol lächelte, um
die Sorgenfalten auf seiner Stirn zu vertreiben. „Außerdem könnte es durchaus
sein, dass ich im nächsten Jahr nach London fahre, um Einkäufe zu erledigen
und wieder einmal in die Oper zu gehen. Insofern wäre es weit angenehmer,
wenn der Mord an Arvid endlich aufgeklärt und vergessen wäre. Zu dumm, dass
Dimm keine neuen Spuren mehr finden kann.“

Gemeinsam sahen sie zu dem Trio, das sich um den Teetisch versammelt

hatte. „Obwohl ich wirklich nicht weiß, wie er Beweisstücke in London sammeln
will, wenn er ständig hier in Berkshire mit Tante Tess flirtet.“

„Sie wollen doch nicht etwa auch bei den beiden mit Ihrer Kuppelei

anfangen!“ bemerkte Carlinn herausfordernd.

Augenblicklich schwand ihr Lächeln, und sie hob das Kinn. „Das geht Sie

überhaupt nichts an, Sir. Versuchen Sie meinetwegen, Ihre Schwester vor einer
mésalliance zu bewahren, aber für meine Tante und Mr. Dimm sind Sie nicht
verantwortlich.“

„Donnerwetter, wie leicht Sie auf die Palme zu bringen sind, Madam.“ Mit

einem Finger tippte er ihr auf die Nasenspitze. „Ich habe nur Spaß gemacht,
weil ich Mr. Dimm für Cousine Winifred haben will.“

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Sie lachte, aber Carlinn entging keineswegs, wie schnell ihre Heiterkeit

schwand. Vermutlich machte sie sich doch Gedanken über das Geschwätz der
Leute. Außerdem fiel ihm auf, wie müde sie aussah. Er hätte ihr nicht
gleichzeitig seine ganze Familie und einen schwierigen Gast aufbürden sollen.
Sie musste ja erschöpft sein. Auf ihren Schultern ruhten Fosters Pflege, die
Sorge um das Kind und die Verantwortung für die neue Dorfschule. Auch ihre
Zofe war ihr keine große Hilfe. Sarah war damit beschäftigt, den eigenen
Ehemann zu versorgen. „Sind Sie in der letzten Zeit überhaupt einmal vor die
Tür gekommen, abgesehen von Ihrer Gemeindearbeit?“ verlangte er zu wissen.

„Wie, auf Gesellschaften und Ähnliches? Das wäre wirklich ein gefundenes

Fressen für die gesamte Grafschaft. In mancher Hinsicht beachte ich die
Trauerzeit durchaus, Lord Kimbrough.“

„Mag sein, aber Sie haben schließlich auch das Recht auf ein wenig

Zerstreuung. Was halten Sie von einem kleinen nachbarschaftlichen Dinner auf
Kimbrough Hall? Mit den erwachsenen Hambleys, dem Squire und seinen
Söhnen und vielleicht ein paar anderen. Niemand könnte daran etwas
auszusetzen finden.“

Abgesehen von Miss Sherville, die sich umgedreht hatte und sie beobachtete.

Offensichtlich fühlte sie sich von ihrem Kavalier vernachlässigt. Carlinn war
ernstlich besorgt um die Duchess. Doch er durfte nicht vergessen, dass es Zeit
war, an einen eigenen Haushalt zu denken. Wenn aber Miss Sherville seine
Freunde nicht mochte ...

Marisol sah ebenfalls zu Edelia hinüber und las kaum verhohlenen Abscheu in

deren Augen. Einmal hinauszukommen klang verführerisch. Allerdings – wie
vergnüglich wäre der Abend, wenn die ganze Zeit diese eifersüchtige Katze an
Kimbroughs rechter Seite saß?

„Kommen Sie schon, sagen Sie zu. Es kann doch nicht sein, dass Ihr Bruder

den gesamten Mut der Familie abbekommen hat.“

Die Entscheidung wurde der Duchess abgenommen. Die Dinnerparty war kein

Thema mehr, nachdem man den soeben abgegebenen Brief gelesen hatte. Er
begann: „Wenn Ihnen etwas an Dennings Balg liegt ...“

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18. KAPITEL

Der gesamte Brief lautete: „Wenn Ihnen etwas an Dennings Balg liegt, legen
Sie nächsten Donnerstag um 17 Uhr zweihundert Pfund in den Hyde Park.“ Die
grobe Zeichnung darunter zeigte den Park mit einem Pfeil, der auf einen der
Wege deutete. Ein X bezeichnete die dritte Bank hinter einem Tintenklecks.
Nein, wahrscheinlich sollte es sich dabei um einen großen Baum oder ein
Denkmal handeln. Marisol erinnerte sich nicht genau an diesen Pfad. Dennoch
war sie entschlossen, jene dritte Bank ausfindig zu machen, als hinge ihr Leben
davon ab – oder Nollys.

Was haben Sie vor?“ schrie der Earl. Er traute seinen Ohren nicht. „Sie

wollen diesem armseligen Erpresserbrief Folge leisten und zahlen? Die haben
den Jungen doch noch nicht einmal! Ticken Sie noch richtig im Oberstübchen?“

„Unterstehen Sie sich, mich anzuschreien! Und ja, ich gebe denen alles, was

sie wollen, wenn sie uns nur in Ruhe lassen.“

„In Ruhe lassen? Das ist doch erst der Anfang. Wenn Sie jetzt zahlen, können

Sie die Erpresser genauso gut gleich auf Ihre Lohnlisten setzen. Ich habe in
meinem ganzen Leben noch keine schwachsinnigere Idee gehört, und ich
verbiete es!“

„Sie können mir nichts verbieten, Mylord. Ich habe meine eigenen Konten,

von denen ich das Geld nehmen kann.“

Der Earl riss sich das Krawattentuch vom Hals und warf es zu Boden –

vermutlich, um lauter brüllen zu können. „Sie heilige Einfalt, man bezahlt
niemanden, nur weil er leere Drohungen macht!“

Zornig sprang Marisol auf und funkelte Lord Kimbrough an. „Was glauben Sie

denn, was ich tun soll? Etwa abwarten, bis sie Nolly etwas antun, und dann
bezahlen? Das hieße denn doch die Pfennigfuchserei etwas zu weit treiben,
Sir.“

„Das hat nichts mit Geld zu tun, zum Kuckuck!“
„Im Gegenteil, es hat ausschließlich mit Geld zu tun. Ich besitze es, die wollen

es. Zweihundert Pfund sind ein geringer Preis für die Sicherheit meines
Sohnes.“

„Das ist auch noch so ein Punkt. Was für ein schäbiger kleiner Erpresser ist

das, der zweihundert Pfund fordert, wenn er auch tausende haben könnte? Sie
dürfen nicht zahlen.“

„Ich darf und ich muss!“ Zur Bekräftigung stampfte die Duchess mit dem Fuß

auf. „Ob mit oder ohne Ihre Billigung, ich bringe das Geld in den Hyde Park.“

„Wunderbar“, entgegnete er höhnisch. „Die Duchess hat wieder das

Kommando übernommen. Sie missachten meinen Rat nur, um Recht zu
behalten. Was haben Sie denn vor – etwa mit wehenden Röcken nach London
abzureisen, und Nolly bleibt schutzlos hier? Dabei haben Sie ihn während

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seiner ersten – wie viel? – vier Lebensmonate kaum aus den Augen gelassen.“

„Fast fünf. Feiner Vormund, der sich noch nicht einmal das Alter seines

Mündels merkt“, murmelte sie bissig.

„Gut, fast fünf Monate. Was haben Sie also vor? Wollen Sie ihn etwa mit in

die Stadt nehmen? Dann könnten Sie ihn genauso gut gleich diesen
blödsinnigen Halunken übergeben, und zwar mitsamt seinem Vermögen. In
London ist es unmöglich, ihn zu beschützen.“

„Daran hatte ich nicht gedacht“, gab sie leise zu und setzte sich wieder.
Carlinn ließ sich neben ihr nieder und nahm ihre Hände. „Ich weiß, Madam.

Sie denken mit dem Herzen, nicht mit dem Kopf. Aber um Nollys willen dürfen
Sie es nicht tun. Die Drohung soll Sie erschrecken, das ist alles. Wenn Sie jetzt
nachgeben, haben die Erpresser gewonnen. Und dazu mussten sie nichts weiter
tun, als einen Brief zu schreiben. Hier können wir für Nollys Sicherheit sorgen,
und das wissen Sie auch.“

Eine wahre Armee von Verwandten, vertrauenswürdigen Bediensteten und

Hunden umgab den Säugling. Er blieb nie mit weniger als zwei Leuten und
einem Hund alleine. Wenn man ihn in sein Zimmer brachte, ging jemand vor
und sah nach, ob ihm dort auch niemand auflauerte. Wenn er das Haus verließ,
dann lediglich in Begleitung eines Trupps Erwachsener. Wachen liefen
regelmäßig das Gelände ab, alle Dorfbewohner hielten die Augen nach
verdächtigen Fremden offen, und Marisol trug ihre Handarbeitsschere an einer
Schnur um den Hals. Selbst Lord Kimbrough hatte sich angewöhnt, immer seine
Pistole dabeizuhaben. Außerdem hielt sich Dimms Sohn Gabriel mit seiner
Waffe stets in Rufweite auf.

„Nolly ist sicher, bis jemand Mr. Dimms Sohn erschießt, um an meinen

heranzukommen. Wir können so nicht weiterleben, Carlinn!“ Weder bemerkte
sie, dass sie ihn mit dem Vornamen angesprochen hatte, noch, dass er immer
noch ihre Hand hielt. Kimbroughs Stärke flößte Marisol Vertrauen ein, während
Carlinn sich besser fühlte, wenn er ein wenig zu ihrer Beruhigung beitragen
konnte. „Verlangen Sie nicht von mir, dass ich den Rest meines Lebens in Angst
und Schrecken verbringe, denn das kann ich nicht.“

„Selbstverständlich nicht. Dimm und ich haben einen Plan, um diese

Erpresser zu fassen.“

Marisol stöhnte auf. „Oh nein, nicht schon wieder eine Falle. Ich erlaube

Ihnen nicht, Nolly als Köder zu benutzen. Da können Sie sagen, was Sie wollen.“

„Meine liebe Duchess, die Aufregung benebelt Ihnen den Verstand. Wenn

Foster mit einem Adjutantenposten liebäugelt, dann ist zu hoffen, dass er nicht
außer Ihrer Nase auch noch Ihren Wirrkopf hat.“

Kimbroughs Ablenkungsmanöver hatte Erfolg. „Was, bitte schön, ist an

meiner Nase auszusetzen?“ erkundigte sich die Duchess. „Und an meinem
Kopf?“

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Carlinn tätschelte ihr die Hand, stand auf und lief mit großen Schritten im

Salon auf und ab. „Wenn Sie glauben, dass ich Nolly auch nur im Geringsten
gefährden würde, können Sie nicht ganz richtig im Oberstübchen sein, meine
Liebe. Ja, wir werden das Geld schon unter die Bank legen. Aber es wird sich
nicht um richtiges Geld handeln.“

„Natürlich wird es das“, entgegnete sie mit Nachdruck. „Sonst reizen wir die

Erpresser noch, und sie machen ihre Drohungen wahr.“

Kimbrough warf ihr einen ungeduldigen Blick zu. „Verflixtes, dickköpfiges

Frauenzimmer.“ Weiter den Salon durchquerend fuhr er fort: „Dann legen wir –
Dimm und ich – uns auf die Lauer und warten ab, wer das Geld holen kommt.
Wir folgen demjenigen, der das Päckchen mit falschen ...“

„Nein!“
„Nun gut, dann also dem richtigen Lösegeld, falls der Abholer nur ein Bote

ist. Wir sehen, wo er das Geld abliefert und voilà, die Erpresser sind gefasst.“

„Was hält Mr. Dimm davon?“ fragte Marisol. Der Zweifel war ihrer Stimme

deutlich anzuhören.

„Er hat die Hoffnung, dass wir am Ende der Fährte sogar Arvids Mörder

finden. Gerade überprüft er die Handschrift in dem Erpresserbrief. Vielleicht ist
sie dieselbe wie in dem Schreiben, das Sie damals aufgefordert hat, zu
Dennings Kutsche zu gehen. Es muss eine Verbindung geben. Außerdem ist
Dimm ebenfalls der Meinung, dass an einer Lösegeldforderung von zweihundert
Pfund etwas faul ist.“

„Weil sie so niedrig ist?“
„Richtig. Verdächtige wie Boynton entfallen damit von vornherein. Ihr

Schwager verspielt ja noch vor dem Mittagessen höhere Summen.“

„Sie haben Boynton immer noch im Verdacht?“ fragte die Duchess.
„Er ist und bleibt derjenige, der am meisten zu gewinnen hätte, wenn ...“

Kimbrough ließ das Ende des Satzes in der Luft hängen. „Aber nicht für
zweihundert Pfund. Wenn das alles wäre, was er braucht, würde er Sie direkt
anpumpen. Trotzdem dachte ich, dass man ihn für alle Fälle herkommen lässt,
um ihn im Auge zu behalten.“

„Ich schreibe ihm und lade ihn ein. Da wir uns nie sehen, ohne dass er

beiläufig eine Schneiderrechnung oder ein neues Paar Stiefel erwähnt, wird er
kommen.“

Der Earl nickte. „Dimm meint, die niedrige Forderung riecht eher nach einem

armen Schlucker, der das Geld braucht, um London den Rücken zu kehren. So
wie Dennings Kammerdiener, der in die Kolonien auswandern möchte. Nicht
dass Dimm ihn verdächtigt – er hat schließlich durch den Mord nichts
gewonnen, sondern im Gegenteil seine Stellung verloren. Trotzdem will sich
Dimm einmal ansehen, wer in der nächsten Zeit Schiffspassagen gebucht hat.
Vielleicht fördert er ja etwas zu Tage, und wir brauchen uns um das Lösegeld

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gar nicht mehr zu kümmern.“

„Sie sprechen immer von ‚wir‘. Haben Sie und Dimm diesen Plan etwa bereits

beschlossen? Ohne mich vorher zu fragen?“

Jetzt gehen Sie nicht schon wieder hoch, Madam. Selbstverständlich fragen

wir Sie. Ah, ich frage Sie. Jetzt gerade.“

„Es ist zu gefährlich. Und die Entführer erwarten mich.
„Nein, in dem Brief steht lediglich, dass das Geld gebracht werden soll. Kein

Wort davon, dass Sie die Überbringerin sein sollen. Ich bezweifle, dass die
Erpresser jemanden sehen wollen, der sie erkennen würde.“

„Umso mehr Grund, dass ich gehe!“
„Auf keinen Fall! Und streiten Sie nicht, sonst muss ich Sie fesseln und

knebeln lassen. Foster hat mir die Erlaubnis gegeben. Es macht ihn schon
wütend genug, dass er nicht helfen kann, weil er weder eine Pistole halten noch
die Kutschfahrt unternehmen könnte. Außerdem brauche ich Sie hier, um Miss
Sherville zu unterhalten.“

„Lieber träte ich den Erpressern gegenüber.“
Kimbrough grinste. „Ich auch.“

Edelia fand Lord Kimbroughs Idee, selbst nach London zu fahren, großartig. Sie,
seine Schwester und seine Cousine würden ihn allesamt begleiten. Kein
Gentleman konnte die Damen schutzlos in einer Gegend zurücklassen, in der
sich solch merkwürdige Vorkommnisse zugetragen hatten.

„Was? Sie glauben, dass Sie in London sicherer wären? Unter all dem

Gesindel der Hauptstadt?“

„Sie sind doch da, um uns zu beschützen, Mylord“, schmeichelte sie und

schlug die langen Wimpern auf.

„Es tut mir Leid, aber ich werde zu sehr damit beschäftigt sein, diese

Galgenvögel zu fangen. Da kann ich mich nicht auch noch um Sie kümmern.“

Doch so schnell gab Edelia nicht auf. „Dann haben wir umso mehr Zeit, ein

wenig einkaufen zu gehen und die Sehenswürdigkeiten zu besichtigen. Gewiss
werden Sie nicht wollen, dass Ihre Schwester wie eine Unschuld vom Lande mit
offenem Mund umherstarrt, wenn sie zur Saison nach London kommt. Dies ist
die perfekte Gelegenheit für sie, sich schon einmal ein wenig einzugewöhnen,
bevor der ton in die Stadt zurückkehrt.“

„Miss Sherville, ich weiß Ihre Besorgnis um das Wohlergehen meiner

Schwester sehr zu schätzen. Aber ich fahre in einer ernsten, vielleicht sogar
gefährlichen Angelegenheit dorthin, die meine gesamte Aufmerksamkeit
erfordert. Es ist ausgeschlossen, dass Sie oder Bettina mitkommen.“

„Und was, bitte schön, soll ich den Rest meines Besuchs hier anfangen, wenn

sich mein Gastgeber nicht blicken lässt?“ fragte Edelia ungehalten.

Sie kann sich um ihre Patin kümmern, die schließlich die Einladung

ausgesprochen hat, dachte Kimbrough. Oder Spaziergänge und Ausritte

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unternehmen. Noch eine Woche, und sie ist wieder in Bath. Gott sei Dank! Und
noch einmal Gott sei Dank, dass ich ihr gegenüber keine Verbindlichkeit
eingegangen bin.

In Miss Shervilles Augen kam die Einladung allerdings einem Antrag bereits

so gut wie gleich. Doch auch sie bezweifelte, dem Earl die entscheidende Frage
abringen zu können, wenn er noch nicht einmal in der Nähe war. „Vielleicht
wäre es besser, wenn ich meinen Besuch abkürze.“

„Ich kann Sie natürlich nicht daran hindern, aber ich hatte gehofft, dass Sie

der Duchess in dieser schwierigen Zeit eine Stütze sein könnten. Sagten Sie
nicht, dass Sie alte Freundinnen sind? Ich bin mir sicher, dass Ihre Anwesenheit
ihr ein Trost wäre.“

Marisol Laughton? Sie, Edelia Sherville, sollte dasitzen und die Hand dieser

blonden Vogelscheuche halten? Immerhin war Marisol diejenige, die einen
reichen Duke geheiratet hatte. Und es schien ganz so, als habe sie darüber
hinaus auch noch einen reichen Earl in der Hinterhand. „Meinen Sie nicht, dass
Sie die Vormundschaft für den kleinen Jungen ein wenig zu ernst nehmen,
wenn Sie sich so um die Mutter kümmern?“ fragte Edelia gehässig. „Das sollte
eigentlich das Vorrecht ihres Bruders sein ... oder ihres Ehemannes.“

Hastig lockerte sich der Earl den Hemdkragen, der auf einmal viel zu eng

schien. „Ihr Ehemann ist tot, Miss Sherville, und ihr Bruder verwundet. Ich tue
nur, was jeder Gentleman an meiner Stelle täte.“

„Wie schön für Ihre Gnaden“, fauchte Edelia zurück. Nun war sie sich sicher,

dass sie die Schlacht verloren hatte. „Ich glaube, ich ziehe es vor, nach Hause
zu fahren. In dieser schwierigen Zeit dürfte die Duchess Gäste weniger als Trost
denn als Bürde empfinden.“ Einmal ganz abgesehen von den Gefahren, die in
einem Schloss voller bewaffneter Wachen, bösartiger Hunde und spuckender
Säuglinge lauerten. „Die Schicklichkeit verlangt, dass ich meinen Besuch unter
diesen Umständen abkürze.“

„Allerdings kann ich Sie derzeit nicht nach Hause geleiten, Miss Sherville.

Wenn Sie es wünschen, stelle ich Ihnen eine Kutsche und Postillione zur
Verfügung. Nur eine passende männliche Begleitung kann ich Ihnen leider
nicht bieten. Es bleibt Ihnen also lediglich Ihre Zofe als Chaperone. Natürlich
sagt mir dieser Gedanke so wenig zu wie Ihnen, aber wenn Sie darauf bestehen
...“

Ob mit oder ohne Begleitung, Edelia war ohnehin keineswegs angetan von

dem Gedanken, ohne Verlobungsring nach Bath zurückzukehren. Wenn sie
blieb, konnte sie noch einmal ihr Glück versuchen, wenn Kimbrough aus
London zurückkehrte. Andererseits – der Earl hatte zwar einen Titel, sah gut aus
und war reich, leider ließ sich jedoch nicht leugnen, dass er so tief in der Erde
von Berkshire verwurzelt war wie eine alte Eiche. Wahrscheinlich blieb er bis in
alle Ewigkeit hier auf dem Land zwischen seinen überspannten Nachbarn

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hocken. Earl hin oder her, da war selbst Bath vorzuziehen.

Am Vortag von Kimbroughs Abreise nach London war Miss Sherville immer

noch unentschlossen, was sie tun sollte. Dann traf Lord Boynton ein, und sie
entschied sich zu bleiben. Welche modische Eleganz; welche Weltgewandtheit
und welche vollmundigen Komplimente!

„Was? Die Sherville-Erbin ist zu Besuch in der Nachbarschaft? Bei Jupiter,
wusste ich doch, dass sich mit Arvids Dahinscheiden das Blatt für mich
gewendet hat! Sie ist das einzige Kind des alten Krösus Sherville, weißt du. Und
das riesige Haus, das sie am Grosvenor Square besitzt, steht einfach leer. Darin
könnte ich sogar meine eigene Spielhölle eröffnen. Ich will verdammt sein,
wenn ich nicht schon immer gesagt habe, du bist die beste Schwägerin der
Welt! Danke, dass du mich hierher eingeladen hast, meine Liebe.“

Marisol nippte an ihrem Sherry. „Dabei ging es nicht um Miss Sherville. Du

hast so lange damit gewartet, eine Erbin zu heiraten – ich dachte nicht, dass du
jetzt Interesse hättest.“

„Ach, für jeden kommt einmal der Tag, an dem er in den sauren Apfel beißen

muss. Du warst mehr als großzügig, aber schließlich kann ich mich nicht ewig
von meiner Schwägerin aushalten lassen. Dafür sind schließlich Ehefrauen da.“
Boynton klopfte Marisol auf die Schulter. „Und keine Sorgen um den Kleinen,
meine Liebe, sonst bekommst du noch Falten auf der Stirn. Weißt du was? Ich
mache einfach die zweihundert Pfund locker. Diese Woche war mir Fortuna
gnädig. Oder noch besser, ich gebe dir eine Bankanweisung. Dann kannst du
den Schuldigen überführen, wenn er das Papier einlösen will. Natürlich haben
wir die Anweisung dann ohnehin schon gesperrt, das tue ich schließlich
ständig.“ Kritisch beäugte Boynton seine Weste. „Für einen Besuch bei einer
brünetten Schönheit kommt Hellrot selbstverständlich überhaupt nicht infrage.
Was meinst du, meine Liebe, sollte ich eher die weiße Piquéweste nehmen oder
die aus bronzefarbenem Brokat?“

Marisol musste sich auf die Lippe beißen. „Ich weiß nicht so genau, ob Miss

Sherville deine modische Begeisterung teilt“, deutete sie an. „Edelia achtet
sehr auf Schicklichkeit.“

Boynton rückte den Trauerflor zurecht, den er am Arm trug. „In Ordnung.

Dann also die grau gestreifte aus Satin. Und Blumen – ich sollte ihr Blumen
mitbringen.“

„Ich, äh, ich glaube, dass Lord Kimbrough sie eingeladen hat, weil er ihr

einen Antrag machen wollte.“ Marisol dachte lieber nicht darüber nach,
weshalb ihr dieser Gedanke so viel Unbehagen verursachte.

„Ach was, der braucht ihren Zaster nicht. Ich schon. Er fährt nach London, um

sich für dich um diese kleine Angelegenheit zu kümmern, ich kümmere mich
hier an seiner Stelle um Miss Sherville. Ein gutnachbarlicher Dienst. Er wird es
mir danken.“

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Marisol empfand ebenfalls Dankbarkeit.

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19. KAPITEL

Der Plan sei todsicher, teilte Dimm Lord Kimbrough mit. Das Geld war der Köder,
und weit und breit würden keine Wachen zu sehen sein. Der Halunke musste in
die Falle gehen.

Carlinn machte sich zur Promenadenstunde in den Hyde Park auf, wo die

elegante Gesellschaft alle Wege verstopfte. Vor lauter Verbeugen und
Hutziehen kam er kaum vorwärts. Er war gezwungen, Witwen zuzulächeln, die
ihre Möpse im Landauer spazieren fuhren, und jungen Stutzern auszuweichen,
die ihre feurigen Reittiere kaum bändigen konnten. Dabei hatte die Saison noch
nicht richtig begonnen! Stockschwingend verbarg er seine Wut über diese
Ansammlung von Lackaffen und Zierpüppchen und bahnte sich seinen Weg.

Allmählich ließ er die Spaziergänger, Reiter und eleganten Kutschen hinter

sich und näherte sich den abgelegeneren Parkbereichen. Wie in dem Brief
eingezeichnet, bog er in einen Weg nahe dem Serpentinenteich ein. Hier
fütterten Kindermädchen mit ihren Schützlingen die Enten, und ein kleiner
Junge ließ ein Segelboot schwimmen. Carlinn dachte an sein Mündel. Für Nolly
war es den Aufwand wert. Und für Marisol.

Inzwischen war er auf einem schmalen Pfad angekommen, auf dem nur noch

wenige Spaziergänger unterwegs waren. Und dort stand die Statue, ein Ritter
auf einem Pferd, den offensichtlich Generationen von Tauben zu ihrem
Lieblingsplatz erkoren hatten. Kimbrough ging pfeifend weiter, vorbei an einem
Gentleman mit altmodischer Perücke, einer großmütterlichen Frau, die einem
kleinen Jungen vorlas, und einem Gärtner, der den Rasen mähte. Auf der
vierten Bank lag ein zerlumpter Alter, dessen Geschnarche beinahe die
Ginflasche an seiner Seite umwarf. Gott sei Dank war die dritte Bank leer.
Erleichtert ließ sich Carlinn darauf nieder. Von ferne schlug eine Uhr die fünfte
Stunde. Er zog seine Taschenuhr hervor und verglich die Zeit. Als er die Uhr
wieder wegsteckte, fiel wie zufällig ein kleines, versiegeltes Päckchen aus
seiner Rocktasche und rollte unter die Bank. Kurz darauf spazierte Carlinn
pfeifend in Richtung der Parktore.

An seiner geschlossenen Kutsche angekommen, ließ er sich zwei Straßen weit

fahren, bevor er dem Kutscher befahl, wieder umzukehren und vor dem Parktor
zu warten.

Der Erste, der an den Schlag klopfte, war der junge Gärtner mit der Sense.

„Feierabend“, verkündete Dimms Jüngster, derzeit Stallbursche bei Seiner
Lordschaft. „Papa hat gesagt, es sieht komisch aus, wenn ich noch bleibe. Bis
jetzt hat keiner das Päckchen aufgehoben.“

Als Nächstes tauchte die großmütterliche Frau auf. Dimms Schwester Cora,

die ihm den Haushalt führte, hielt den kleinen Jungen an der Hand, den
irgendeine Cousine eines Tages in der Hill Street in Kensington abgeliefert und

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nicht wieder abgeholt hatte.

„Niemand sitzt nach der Abendbrotzeit noch mit ’nem kleinen Jungen im Park

rum“, erklärte Cora. „Darum hat Jeremiah uns weggeschickt. Aber das Päckchen
ist noch da.“

Carlinn verfrachtete sie alle in eine Droschke und schickte sie heim. Endlich

klopfte der Gentleman mit der altmodischen Perücke. „Tut mir Leid, länger
kann ich nicht bleiben“, sagte er. „Wichtige Sitzung in Whitehall, Mylord.“

„Danke, Boss – äh, Euer Ehren. Ich weiß Ihre Hilfe sehr zu schätzen.“
„Am liebsten wäre es mir, wenn wir diesen Fall endlich abschließen könnten.

Aber heute haben wir damit anscheinend kein Glück.“

Kopfschüttelnd schloss der Mann den Wagenschlag und eilte fort.
Es war bereits vollständig dunkel, als Dimm in die Kutsche kletterte. Er

klopfte seinen Mantel ab und bot dem Earl die Ginflasche an. Ablehnend verzog
Kimbrough das Gesicht. „Sind sie gekommen?“

„Ich hab ja immer schon gesagt: keine Falle is’ todsicher. Heut kommt keiner

mehr.“

„Bei allen Höllenhunden! Dann bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als der

Duchess das Geld zurückzubringen und abzuwarten, bis wir wieder von den
Erpressern hören.“

Dimm wischte sich den Mund am Rockärmel ab. „Na ja, ich musste Ihrer

Gnaden versprechen, die Kröten auf jeden Fall liegen zu lassen.“

„Wollen Sie damit etwa sagen, dass dort unter der Bank zweihundert Pfund

herumliegen? So dass jeder Bettler sie finden kann, falls nicht ein Eichhörnchen
damit sein Nest polstert? Verdammt, auf diese Weise werden wir nie erfahren,
ob die Erpresser das Geld bekommen haben!“

„Ich hab’s versprochen“, wiederholte Dimm.
Kimbrough nahm eine der Wagenlaternen in die eine und seine Pistole in die

andere Hand und machte sich auf den Weg zu der Bank. Bei der Statue löschte
er das Licht und stellte sich hinter das Bronzepferd. Stunden später, Carlinns
Finger waren inzwischen blau gefroren, war noch immer niemand gekommen,
um das Geld abzuholen. Fluchend hob der Earl das Päckchen auf und ging nach
Hause.

Was haben Sie getan? Natürlich ist niemand gekommen, während Sie dort
standen! Wahrscheinlich hat man Sie gesehen!“

„Madam, außer ein paar Tauben hat mich niemand zu Gesicht bekommen.

Sie sind einfach nicht gekommen. Punktum.“

„Woher wollen Sie das wissen? Wie konnten Sie das Geld nehmen – es war

doch völlig gleichgültig, ob Sie die Verbrecher schnappen!“ Marisol stach die
Nadel so wütend durch Nollys Hemdchen, dass sie nicht einmal merkte, wie sie
es an ihrem eigenen Kleid festnähte. Carlinn lief wie üblich auf und auf. „Und
setzen Sie sich endlich hin. Es reicht voll und ganz, dass Sie das Leben meines

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Kindes gefährdet haben. Sie müssen mich nicht außerdem noch seekrank
machen.“

„Ich kann Ihnen versichern, Madam, dass ich nicht zwei Stunden lang in der

Kälte hinter einem Denkmal gestanden habe, nur um Sie zu ärgern.“ Er setzte
sich, trommelte jedoch unruhig mit den Fingern auf die Sessellehne. „Es war
weiß Gott kein Vergnügen. Und wenn ich das Geld nicht wieder mitgenommen
hätte, hätte es sich irgendein Bettler unter den Nagel gerissen. Ihre Quälgeister
werden wiederkommen, keine Angst. In der Zwischenzeit ist Nolly hier sicher.“

„Und falls nicht? Vor Sorge mache ich nachts schon kein Auge mehr zu.“
Nun, da er sie ansah, fiel ihm auf, dass sie blass und abgespannt aussah.

Auch hatte sie abgenommen, und ihr Haar war noch zerzauster als gewöhnlich.
Lord Kimbrough war sicherlich der Letzte, der sich mit Kleidung und äußerer
Erscheinung abgab. Er selbst saß schließlich in Reithosen im Salon Ihrer
Gnaden. Nun, er hatte es eilig gehabt, die Neuigkeiten zu überbringen. Aber
von Anstand und Sitte einmal vollkommen abgesehen, fand er die
ungebändigte Haarpracht der Duchess merkwürdig beunruhigend. Um nicht die
Hand auszustrecken und die seidigen Strähnen zu berühren, trommelte er
fester auf der Sessellehne herum. Verdammt, er erlaubte ihr einfach nicht, ihn
aus der Fassung zu bringen.

„Übrigens, Dimm ist in London geblieben. Er lässt Ihnen ausrichten, dass er

Ihre ehemalige Zofe noch nicht ausfindig machen konnte.“

Marisol bemerkte, wie starr der Earl sie ansah, und strich sich das Haar

zurück. Entschlossen hob sie das Kinn. Nein, sie würde sich nicht bei ihm für ihr
Erscheinungsbild entschuldigen. Natürlich hätte sie gerne etwas hübscher
ausgesehen. Aber wenn Kimbrough in staubiger Reisekleidung auf dem Sofa
sitzen konnte, dann durfte sie auch darauf verzichten, die Haare
hochzustecken. Ohnehin tat ihr der Kopf vor lauter Sorgen weh. Und wenn sein
Gehrock so wenig der Mode entsprach, dass er tatsächlich bequem war, dann
brauchte sie ja wohl nicht jede Woche ihre Kleider ändern zu lassen, nur weil sie
wieder zu weit geworden waren. Vielleicht konnte sie im nächsten Monat eine
neue Garderobe ins Auge fassen. Arvid wäre dann ein halbes Jahr tot. Natürlich
entsprach das noch längst nicht der vorgeschriebenen Trauerzeit, aber zu mehr
war sie nicht bereit.

„Wie aufmerksam von Mr. Dimm, sich darum zu kümmern. Nächsten Monat

brauche ich eine neue Zofe. Sarahs Mann hat sich von seinen Verletzungen fast
erholt. Nun möchte er nach Yorkshire zurückgehen, um dort in der Weberei
seiner Familie zu arbeiten. Es tut mir Leid, dass ich dadurch Sarah verliere. Da
Tyson noch keine neue Stellung gefunden hat, kommt sie ja vielleicht zu mir
zurück, selbst wenn ich jetzt nur noch eine Landpomeranze und damit
eigentlich unter ihrer Würde bin.“

Selbst en deshabillé ist Marisol Pendenning nichts weniger als reizend,

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dachte Kimbrough, der seinen ersten Eindruck vollständig verdrängt hatte.
Wenn er nur den Gedanken daran, sie vollständig unbekleidet zu sehen,
genauso leicht verdrängen könnte ... Er erhob sich und blickte zum Fenster
hinaus. Nein, er lief nicht auf und ab, sondern sah nach dem Wetter. Der
Himmel war nicht ganz so blau wie ihre ... Zur Hölle! Er ging zum Sofa zurück.

„Dimm hat inzwischen die Anschrift von Tysons Mutter herausbekommen,

aber niemand von ihrer Familie hat sie seit Weihnachten gesehen. Dieser
Kammerdiener, der ein Auge auf sie geworfen hatte, packt seine Koffer, um
nach Amerika zu gehen. Er sagt, dass er Eleanor Tyson nach dem Mord gebeten
habe, ihn zu heiraten, doch sie habe abgelehnt. Seitdem habe er sie nicht mehr
gesehen. Dimm ist sich allerdings nicht sicher, ob das der Wahrheit entspricht.
Vielleicht will er sie nur decken.“

„Weshalb sollte das nötig sein? Verdammt!“ Marisol bemerkte, dass sie das

Hemdchen an ihren Rock genäht hatte. „Nun sehen Sie sich das an! Sie regen
mich so sehr auf, dass ich sogar fluche, und das tue ich sonst nie, verflixt und
zugenäht!“ Zutiefst gedemütigt, sich vor den Augen des Earl dermaßen zur
Närrin gemacht zu haben, ging sie daran, die Stiche wieder aufzutrennen. Und
dieser elende Mann grinste auch noch! „Ich wünschte, Sie hätten das Geld
liegen gelassen.“

„Irgendwie habe ich geahnt, dass wir wieder bei diesem Thema landen“,

seufzte er. „Ich habe lediglich getan, was ich für das Beste hielt.“

„Aber es war nicht das Beste, und Sie haben mir Ihr Wort gegeben, das Geld

liegen zu lassen. Sie hören mir zu, nicken und machen dann einfach, was Sie
wollen“, beklagte sie sich, wie es Frauen schon seit Jahrhunderten tun. „Was ist
das für ein Benehmen?“

Ein unentschuldbares natürlich, also versuchte er sich gar nicht erst zu

rechtfertigen. „Mit Ihnen habe ich auch noch ein Hühnchen zu rupfen. Haben
Sie nicht behauptet, dass diese Sache zwischen meiner Schwester und Ihrem
Bruder nichts als kindische Schwärmerei ist?“

„Ist sie auch. Foster ist krank und gelangweilt und Bettina reizend und

aufmerksam. Dadurch, dass sie bei seiner Pflege helfen kann, fühlt sie sich reif
und erwachsen. Und ihre Bewunderung heilt Fosters Stolz, der durch Arvid und
sogar durch Sie verletzt wurde, weil man Sie zum Vormund seines Neffen
gemacht hat. Trotzdem, er ist erst zwanzig und verrückt nach der Armee. Für
die Ehe ist er noch nicht bereit. Und Bettina ist siebzehn und hat noch nichts
von der Welt gesehen. Machen Sie sich keine Sorgen.“

„Merkwürdig – wenn ich Ihnen sage, dass Sie sich nicht um Nolly sorgen

sollen, dann hören Sie nicht auf mich. Und wenn es keinen Grund zur Sorge
gibt, weshalb erklärt Bettina auf einmal, eine Londoner Saison sei doch nicht
mehr so wichtig?“

„Vielleicht sind daran Edelia und Boynton schuld. Es tut mir Leid, das sagen

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zu müssen, aber die beiden führen sich auf wie die Kletten. Inzwischen kommt
Edelia sogar unter dem Vorwand her, Anstandsdame für Bettina spielen zu
müssen. Dann sprechen Boynton und sie über nichts anderes als über London –
die Mode und die neuesten on dits. Bettina ist vernünftig genug, um zu
begreifen, wie hohl und nichts sagend das elegante Leben in der Stadt wirklich
ist.“

„Wunderbar. Am besten sollte ich sie einmal mit in den Hyde Park nehmen,

um das Werk zu vollenden. Danach müsste ich den Ort wenigstens nie wieder
betreten.“

Außer um das Lösegeld zu überbringen, das in dem zweiten Erpresserbrief

gefordert wurde.

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20. KAPITEL

Diesmal forderten die Erpresser vierhundert Pfund. Gleicher Ort, gleiche Zeit
am Freitag dieser Woche. Diesmal gefälligst ohne Unterstützung der Bow
Street. „Es ist Ihre letzte Chance, den kleinen Bastard zu retten“, hieß es in dem
Brief. Die Worte schnitten Marisol mitten ins Herz. Wer so roh von Nolly
sprechen konnte, schreckte vor nichts zurück.

Sie hielt das Kind fester im Arm, während es versuchte, ihr Haarband zu

erhaschen. „Keine Sorge, mein Engel, der Earl lässt nicht zu, dass dir etwas
geschieht.“ Zu Marisols Überraschung glaubte sie inzwischen selbst daran.
Obwohl Lord Kimbrough dickköpfig und unerträglich hochfahrend war,
vertraute sie ihm. Noch vor einiger Zeit hatte sie geglaubt, nie wieder dem Wort
eines Mannes Glauben schenken zu können. Noch viel weniger war sie bereit
gewesen, einem Mann je wieder Macht über ihr Leben zuzugestehen, aber bei
dem Earl war das anders. Er ähnelte Arvid überhaupt nicht.

Diesmal schwor er hoch und heilig, das Geld liegen zu lassen und

wegzugehen. Vorher kam es allerdings zu einem heftigen Streit darüber, wer
das zusätzliche Geld aufbringen sollte. Carlinn war entschlossen, es selbst
beizusteuern. Immerhin war er schuld daran, dass überhaupt ein zweiter
Erpresserbrief eintraf. Davon wollte Marisol nichts hören. Geld aus Dennings
Hinterlassenschaft sollte für die Sicherheit des kleinen Duke verwendet werden.
Sie mutete Kimbrough schon genug damit zu, das Geld zu überbringen.
Dadurch fühlte der Earl sich zum Botenjungen herabgewürdigt. Wütend lief er
im Salon auf und ab. Schließlich musste er das Geld von der Duchess
annehmen.

Marisol wusste, dass Arvid ungeachtet ihres Einspruchs getan hätte, was er

wollte. Beim ersten Anzeichen von Widerstand hätte er sich in einen Wutanfall
hineingesteigert. Niemals hätte er nachgegeben oder sie nachher angelächelt.
Und Arvids Lächeln hatte auch nie seine Augen erreicht und ihr Herz gewärmt,
so wie Kimbroughs es tat. „Ach Nolly“, flüsterte Marisol und kitzelte den
Säugling am Ohr, „wie schade, dass Seine Lordschaft es mit den
gesellschaftlichen Regeln so genau nimmt.“

Der Earl nahm es so genau, dass er Miss Sherville noch am selben Nachmittag
anbot, sie nach Hause zu geleiten. Längst war ihre Besuchszeit abgelaufen.
Vermutlich vermisste ihre Mutter sie bereits schmerzlich. Außerdem war es Miss
Sherville nicht zuzumuten, weiterhin die Abwesenheit eines pflichtvergessenen
Gastgebers ertragen zu müssen. Wenn sie sich beeilten und er auf dem
Rückweg die ganze Nacht hindurch ritt, dann konnte er trotzdem rechtzeitig in
London sein.

Ein solches Opfer war vollkommen unnötig. Lord Boynton hatte sich bereits

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erboten, Miss Sherville und ihre Zofe nach Bath zu bringen – selbstverständlich
mit häufigen Pausen, reservierten Zimmer in den besten Gasthöfen und
eleganten Mahlzeiten unterwegs. Auf Kosten des Earl.

„Nicht der Rede wert, Boynton“, erklärte Kimbrough dem Alteren. „Sie tun

mir einen großen Gefallen, wenn Sie mir die Reise nach Bath ersparen.“

Boynton zog eine emaillierte Tabaksdose hervor und bot dem Earl daraus an.

Der schüttelte den Kopf. Mit einer Hand nahm Boynton elegant eine Prise und
nieste in ein Spitzentaschentuch. „Verflucht nett von Ihnen. Hoffe nur, dass ich
Ihren Plänen nicht in die Quere komme.“

„Meinen Plänen?“
„Ihren Plänen mit Miss Sherville. Unter uns Gentlemen – verdammt schlechter

Stil, Sie einfach auszustechen.“

Mit Nachdruck versicherte ihm der Earl, dass er nicht nur keine Einwände

hatte, sondern dem Paar sogar seinen Segen gab. „So braucht Miss Sherville
wenigstens nicht das Gefühl zu haben, dass ihr Besuch in Berkshire
vollkommen verschwendet war.“

Entschlossen warf sich Boynton in die sorgfältig wattierte Brust. „Dann

versuche ich mein Glück, bei Jupiter. Miss Sherville ist ein hübsches
Frauenzimmer und weiß sich zu kleiden. Sieht auch an meiner Seite gut aus.
Wohlerzogen, wohlversorgt – was mehr könnte ein Mann wünschen?“

Dass sie wohlgerundet ist, dachte Carlinn bei sich. Sofort stieg vor seinem

inneren Auge das Bild einer weichen, fraulichen Figur auf. Laut äußerte er
lediglich: „Ich wünsche Ihnen Glück.“

„Ich Ihnen auch. Gute Jagd.“
„Jagd? Ach, Sie meinen die Erpresser.“
Boynton legte den Finger an die Nase und zwinkerte. „Wenn Sie es so

ausdrücken wollen. Unter uns Gentlemen, wissen Sie: Es holt uns alle einmal
ein, Kimbrough. Klar wie Kloßbrühe, dass die Reihe an Ihnen ist, selbst wenn Sie
es noch nicht zugeben wollen.“

Zu seinem Ärger musste sich Carlinn eingestehen, dass er genau wusste,

worauf Boynton anspielte. Himmel, wenn dieser alternde Geck schon Wetten
abschloss, dann musste seine, Kimbroughs, Fassade zu bröckeln begonnen
haben. So ging es nicht weiter. Und alles war nur die Schuld dieser Frau. Sobald
die Angelegenheit mit dem Lösegeld erledigt war, schlug er sie sich aus dem
Kopf. Und zwar ein für alle Mal. Selbstverständlich würde er sein Bestes tun, die
Erpresser zu schnappen und Arvids Mörder vor Gericht zu stellen, um Marisols
Seelenfrieden und ihren guten Name wieder herzustellen. Dann konnte ihr
niemand mehr absprechen, dass sie eine Dame war. Und zwar die
aufreizendste, verführerischste, liebevollste, mutigste und schönste, der er
jemals begegnet war ... aber das musste er sich aus dem Kopf schlagen.

Dimm hatte Befehl, vor den Parktoren stehen zu bleiben. Diesmal trug er seine

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Dienstkleidung mit der roten Weste und versuchte gar nicht erst, sich zu
verstecken. Lord Kimbrough dagegen machte erneut seinen Diener vor der
eleganten Gesellschaft. Diesmal war der Park sogar noch überfüllter als beim
letzten Mal. Das wärmere Wetter hatte den Adel von seinen Landsitzen zurück
nach London gelockt. Kimbrough lächelte, verbeugte sich und schlug
Einladungen zu unzähligen Abendgesellschaften und in unzählige Betten aus.
Vor seinen Augen führten mondäne Damen eitel wie Pfauen ihre modischen
Roben, ihren anmutigen Reitstil und ihre Eignung zur Countess vor.

Pah! Gott sei Dank hielt es nicht jede Frau für nötig, sich dermaßen öffentlich

zur Schau zu stellen. Wenn er Kunstreiterinnen sehen wollte, würde er zu
Astley’s gehen. Wenn er jemanden brauchte, der ihm das Bett wärmte, würde
er sich im Opernballett umsehen. Und wenn er eine Ehefrau brauchte, dann
würde er jedenfalls nicht nach Bath zurückkehren.

Heute allerdings hatte er ein gewisses Päckchen abzuliefern. Als er in den

schmalen Pfad einbog, sah er zu seiner Zufriedenheit, dass ein Parkwächter
dabei war, das Denkmal abzuschrubben. Nicht dass es lange sauber bleiben
würde. Die meisten Bänke waren leer. Auf einer genossen eine Dienstmagd und
ihr Verehrer einen freien Nachmittag, auf einer anderen las ein würdiger älterer
Herr die Zeitung. Eine junge Frau mit einem Schutenhut, der ihr Gesicht fast
vollständig verdeckte, saß gegenüber der dritten Bank. Sie schaukelte einen
Kinderwagen, aus dem lang gezogenes Gebrüll ertönte. Carlinn musste daran
denken, wie viel Glück sie mit Nolly hatten. Der kleine Duke benahm sich nie so
ungezogen.

Der Earl setzte sich auf die dritte Bank. Beim ersten Schlag der fünften

Stunde zog er das Päckchen aus der Innentasche, ließ es unauffällig zu Boden
gleiten und erhob sich wieder, um zu gehen.

Als jedoch der fünfte Schlag ertönte, brach in der Nähe Lärm los.

„Durchgehendes Pferd!“ rief jemand. Frauen kreischten, Männer schrien, und
Hufgetrappel näherte sich.

Mit einem Blick überzeugte sich Carlinn, dass der junge Liebhaber das

Dienstmädchen hinter eine Bank gezogen hatte und der ältere Mann
fluchtbereit aufgestanden war. Die Frau mit dem Kind kreischte, so dass der
Säugling zu allem Überfluss wieder zu brüllen anfing. Hastig packte der Earl die
Mutter mit der einen und den Kinderwagen mit der anderen Hand und brachte
sie hinter der Bank in Sicherheit.

„Er kommt hierher!“ rief der Parkwächter, als ein großer grauer Hengst, die

Flanken mit Schweiß und Blut befleckt, den Pfad herunterdonnerte. Nachdem
Carlinn sich davon überzeugt hatte, dass Mutter und Kind in Sicherheit waren,
trat er auf den Weg und blickte dem Ross entgegen. „Nein, ruhig!“ Der Ruf
erklang in so befehlsgewohntem Ton, dass das verängstigte Tier kurz innehielt.
Sein Zögern reichte Carlinn aus, um die Zügel zu fassen und sie sich fest um

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die Faust zu wickeln. Als das Pferd steigen wollte, brachte er es unter Einsatz
seines gesamten Körpergewichts langsam unter Kontrolle.

„Guter Junge“, redete der Earl beruhigend auf den Hengst ein und tätschelte

seine Seite. Auf der Flanke floss Blut aus einer Wunde, die verdächtig nach
einem Streifschuss aussah. „Vermutlich kommt dein Besitzer jeden Augenblick
hier vorbei und bringt dich heim.“

„Soll ich ihn ein bisschen am Zügel herumführen, um ihn abzukühlen,

Mylord?“ bot der junge Parkwächter an.

„Ja, gute Idee, Isaac. Er ist zu erschöpft, um noch mehr Schwierigkeiten zu

machen.“

Der Junge, Kimbroughs Stallbursche Isaac Dimm, grinste.
Carlinn drehte sich um. Das junge Pärchen, Dimms Nichte Sukey und ihr

Bruder, der bei Stenross, Stenross und Dinkerly beschäftigt war, halfen dem
älteren Herrn, Mr. Stenross persönlich, seine Zeitung aufzuheben. Die Mutter
mit dem Kinderwagen war – fort. Genau wie das Lösegeld.

Hereingelegt, zum Teufel!

„Ich hoffe, Sie sind nun endlich zufrieden, Madam“, knurrte der Earl. „Sie haben
das Geld, und alles, was wir für den Aufwand zu bieten haben, ist ein verletzter
Hengst.“ Natürlich war niemand gekommen, um das Pferd aus den Stallungen
der Polizei abzuholen. So nahm Kimbrough den herrenlosen Grauen mit nach
Hause.

„Nein“, entgegnete Marisol, während sie Tee eingoss. „Wir haben ein wenig

Seelenfrieden gewonnen, der die vierhundert Pfund gut und gerne wert ist.
Wenn die Erpresser den Brief lesen, den ich dazugelegt habe, dann merken sie
vielleicht, wie viel mir Nolly bedeutet, und lassen uns in Ruhe. Wenn die Frau
mit dem Kinderwagen wirklich die Schuldige war, dann wird sie schon
verstehen. Jedenfalls fühle ich mich jetzt wesentlich besser.“

Sie sah auch besser aus, seit sie wusste, dass die Geldübergabe gelungen

war. Marisol trug ein blaues Seidenkleid, das beinahe die Farbe ihrer Augen
hatte. Es lag eng genug an ihrem Körper an, um den Earl erkennen zu lassen,
dass sie nicht zu viel Gewicht verloren hatte. Lediglich genug, um eine schmale
Taille, leicht gerundete Hüften und einen immer noch üppigen Busen zur
Geltung zu bringen.

„Endlich kann ich nachts schlafen, ohne jede Stunde aufzuwachen und auf

Nollys Atemzüge oder Sals Knurren zu horchen. Ich danke Ihnen, Mylord.“

Mit einer Handbewegung tat er ihren Dank ab. „Dann könnten Sie ja

versuchen, mich Kimbrough oder Carlinn zu nennen. Ich glaube wirklich, dass
wir einander inzwischen gut genug kennen, Madam. Sie wissen sogar schon,
wie ich meinen Tee am liebsten trinke, ohne nachfragen zu müssen.“

Marisol spürte, wie ihr schulmädchenhafte Röte in die Wangen stieg. Um ihre

Verlegenheit zu verbergen, nippte sie am Tee. „Und ich habe genug davon,

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ständig ‚Euer Gnaden‘ und ‚Madam‘ genannt zu werden. Bitte nennen Sie mich
Marisol, My ... – Carlinn.“ Hastig wechselte sie das Thema. „Glauben Sie denn,
dass das die letzte Drohung war?“

„Das wird sich erweisen. Allerdings kann die Frau nicht allein gehandelt

haben – denken Sie nur an das Pferd. Noch ist es zu früh, um mit unserer
Wachsamkeit nachzulassen. Aber ja, ich glaube, dass Sie ruhiger schlafen
können.“

Kimbrough kehrte nach Hause zurück, um ebenfalls ein wenig Schlaf

nachzuholen. Doch der Schlummer wollte sich nicht recht einstellen. Ständig
drängte sich die hübsche Marisol in seine Gedanken – nein, „Duchess“ passte
besser zu ihr, besonders wenn sie ihm damenhaft für seine Anstrengungen
dankte. Er lag im Bett und träumte davon, wie sie stündlich in seinen Armen
aufwachte und ihm für seine Anstrengungen dankte. Stündlich dürfte für den
Anfang wohl genügen. Oh, der bloße Gedanke daran, welche Anstrengungen er
für sie auf sich nehmen würde, ließ ihm jetzt schon den Schweiß ausbrechen.
Merkwürdig, er hatte nie daran gedacht, mit Edelia Sherville das Bett zu teilen,
lediglich sein Leben. Aber selbstverständlich wollte kein Mann eine Frau
ehelichen, die Gegenstand unkeuscher Gedanken war. Oder doch?

Auch Marisol fand in dieser Nacht keinen Schlaf. Und das lag nicht nur daran,

dass sie ständig daran denken musste, wie ihr der Earl die Hand geküsst und
geflüstert hatte: „Schlafen Sie gut, meine Liebe.“ „Meine Liebe“, das klang viel
netter als „Duchess“ oder „Marisol“. Trotzdem schlief sie nicht gut, denn das
Baby schrie die ganze Nacht über.

Doch es war nicht ihr eigenes Kind, das sie die ganze Nacht wach hielt,

sondern der Säugling, der auf der Schwelle des Hauptportals abgelegt worden
war.

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21. KAPITEL

„Ein Bastard? Sie wollen sagen, dass ich mich für einen Bastard von Arvid
Pendenning beinahe hätte tottrampeln lassen?“

„Ja, und ich habe vierhundert Pfund für ihn bezahlt. Ist er nicht niedlich?“
Nein, keineswegs. Der Säugling war dunkel und mager und hatte sowohl

Arvids schmale Augen als auch seine missmutige Miene geerbt. In dem Brief
stand, er heiße Arlen und sei drei Wochen alt. Nach Aussage der Amme war er
ein schwieriges Kind, das nicht ordentlich trank. Jedermann im ganzen Haus
konnte darüber hinaus bezeugen, dass er kaum schlief. Arlen fand schnell
seinen Platz im Kinderzimmer, wo er außer Hörweite war. Tagsüber ließ Marisol
beide Säuglinge in das Morgenzimmer bringen. Ihre Zofe Sarah schaukelte
Arlen in der Wiege, und sie selbst sang Nolly etwas vor, so dass das erschöpfte
Kindermädchen Rebecca Zeit für ein Nickerchen hatte.

Als Lord Kimbrough gemeldet wurde, gab die Duchess Sarah frei, so dass die

Zofe sich um ihren genesenden Ehemann kümmern konnte. Der Earl trat an die
Wiege und beugte sich darüber. Kein Zweifel, das Kind war Dennings Sohn.
Wusste der Himmel, wie viele davon im Laufe der Zeit noch auftauchen würden.

„Ich frage mich, wer die Ärmste war und weshalb sie ihr Baby fortgeben

musste.“ Marisol trug Nolly herbei. Seite an Seite mit dem Earl blickte sie auf
das uneheliche Kind ihres Gatten hinab. Nolly nutzte die Gelegenheit, sich eine
Hand voll ihres Seidenschals in den Mund zu stopfen.

„Sie kommt sicher aus den niederen Schichten“, überlegte Carlinn. „Offenbar

brauchte sie Geld. Eine reiche Frau hätte sich diskret zurückgezogen, um das
Kind zu bekommen, und es dann einem Waisenhaus oder Pflegeeltern
überlassen.“

„Vermutlich werden wir es nie erfahren. Glauben Sie, Sie würden sie wieder

erkennen?“

Carlinn sah auf und machte sich daran, seinem Mündel den Schal aus dem

Mund zu ziehen. „Dummer Junge. Ein Gentleman verzehrt eine Dame höchstens
mit Blicken, aber er versucht nicht, ihre Kleidung zu essen.“ Dann wandte er
sich wieder Marisol zu, die über seinen Scherz lächeln musste. „Nein, ich
fürchte, ich würde sie nicht wieder erkennen. Ihr Hut bedeckte fast ihr ganzes
Gesicht, und sie hielt den Kopf gesenkt. Außerdem bin ich ohnehin nicht mit
Dennings Schmusekätzchen vertraut.“

„Aber vielleicht Mr. Dimm. Das war wohl der Grund, weshalb sie geschrieben

hatte, es sollte niemand von der Bow Street im Park zugegen sein. Allerdings
hat er nie erwähnt, dass Arvid noch eine andere Frau aushielt. Ob er wohl
davon wusste?“

„Er hat nichts gesagt. Nur, dass er nach Bristol fährt, um die Schnur um den

Stein zu knoten oder so etwas.“

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Als das Findelkind anfing zu wimmern, drückte Marisol dem Earl Nolly in den

Arm. Dann hob sie Arlen hoch, bevor dieser rot anlaufen konnte. „Schsch,
Liebchen, alles wird gut. Ich weiß, dass du deine Mama vermisst, aber wir tun
unser Bestes.“

„Seine Mutter konnte den Schreihals wohl auch nicht beruhigen.

Wahrscheinlich hat sie ihn deshalb fortgegeben.“ Der Earl ließ Nolly auf dem
Arm auf und ab hüpfen und erntete begeistertes Gurgeln. „Sehen Sie, so muss
ein Kind sein!“

„Natürlich. Schade nur, dass nicht alle als Duke geboren werden können.“

Lachend setzte sich Marisol wieder hin und wiegte Arlen. Sal ließ sich zu ihren
Füßen nieder und klopfte mit dem Schwanz auf den Teppich. „Was hätte die
Mutter wohl getan, wenn wir sie nicht bezahlt hätten?“

„Vermutlich hätte sie ihn auf der Schwelle eines Pfarrhauses abgelegt.“
„Und wir hätten niemals erfahren, dass niemand Nolly etwas antun wollte,

sondern dass nur ein unglückliches Mädchen ein Heim für Arvids Sohn suchte.“

„Falls das eine zarte Erinnerung sein sollte, dass ich dagegen war, das

Lösegeld zu zahlen – in Ordnung, ich gebe meinen Fehler zu.“ Kimbrough ließ
seine Taschenuhr vor Nollys Augen baumeln und erklärte dem Jungen: „Deine
Mutter ist eine harte Frau, kleiner Mann. Sie vergisst niemals auch nur den
kleinsten Fehltritt und lässt keine Gelegenheit aus, sich daran zu weiden. Du
tust besser daran, deinen Porridge immer schön aufzuessen. Sonst erzählt sie
dir dein Lebtag, dass du so groß und stark wie Onkel Carlinn geworden wärest,
wenn du nur auf Mama gehört hättest.“

Lächelnd blickte er zu Marisol hinüber. Die Duchess wünschte, er würde mit

der Neckerei aufhören. Seine Späße lösten merkwürdige Empfindungen in ihr
aus. Es fühlte sich beinahe an, als habe sie Schmetterlinge im Bauch. „Aber Sie
hatten Recht, dass Nolly nicht in Gefahr ist“, gab sie zu.

„Oho, ein huldvolles Zugeständnis. Hast du das gehört, kleiner Duke?

Während des vergangenen halben Jahres hatte ich doch tatsächlich ein ganzes
Mal Recht! Erstaunlich, nicht wahr?“

„Sie Dummkopf, Sie waren klug und freundlich und mutig, und das wissen

Sie ganz genau. Ich würde Ihnen ja erzählen, wie sehr ich das zu schätzen
gelernt habe. Aber ich nehme davon Abstand, damit Sie nicht noch
eingebildeter werden, als Sie ohnehin schon sind.“

„Nun, das war doch schon beinahe ein Kompliment! Nolly, mein Junge, ich

glaube fast, sie mag mich!“ Er warf das jauchzende Kind in die Luft.

Marisol lief tiefrot an. Barsch ermahnte sie den Earl, etwas sanfter mit Nolly

umzugehen. Eilig setzte Carlinn das Kind auf seinen Schoß und ließ es mit den
Goldknöpfen an der Weste spielen.

Marisol hatte Arlen in den Schlaf gewiegt und summte ihm nun leise etwas

vor. Eifersüchtig sah und hörte Kimbrough zu. Inzwischen hatte Denning schon

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zwei Kinder, und dabei war er tot! Während er die Duchess beobachtete, stieg
in ihm der Zorn darüber auf, dass es Dennings Sohn war, den sie liebkoste –
sogar Dennings Bastard.

„Sie wissen, dass Sie ihn nicht behalten können, nicht wahr?“
Abrupt hob Marisol den Kopf. Der Säugling strampelte ein wenig, schlief aber

weiter. „Wie bitte?“

„Ich sagte, dass Sie ihn nicht behalten können. Er ist eine zu große

Belastung. Nolly beansprucht schon den Großteil Ihrer Zeit und
Aufmerksamkeit. Denken Sie an ihn.“

„Wollen Sie damit etwa andeuten, dass ich meinen Sohn vernachlässige?“

erkundigte sie sich mit gefährlich ruhiger Stimme.

„Nein, natürlich nicht. Ich sage nur, dass Sie schon genug zu tun haben, ohne

sich auch noch um Dennings Bastard kümmern zu müssen. Es wird ohnehin
schon schwierig genug für Sie sein, Ihren Platz in der Gesellschaft wieder
einzunehmen. Mit der Zeit wird der ton Arvid und seine Geliebten vergessen.
Aber wenn Sie den Leuten durch seinen Bankert ständig in Erinnerung rufen,
dass diese Dinge in den höchsten Kreisen vorkommen, wird man Ihnen das
niemals verzeihen.“

„Warum wärmen Sie nur immer wieder diesen Unsinn auf, dass ich etwas auf

die Billigung der eleganten Welt gebe? Ich bin zufrieden hier, wo ich Familie
und Freunde besitze und mich um Dinge kümmern kann, die der Mühe wert
sind. Sollen sie sich in London doch die Mäuler zerreißen – es ist mir
gleichgültig.“

„Also gut, ich glaube Ihnen. Aber denken Sie auch an den Jungen. Man wird

ihn niemals akzeptieren. Sie können ihn nicht als Ihren eigenen ausgeben, und
er wird nie mehr sein als Arvids Bastard – ein Mensch zweiter Klasse. Sein
ganzes Leben lang wird er auf Noel blicken, den Duke, den Erben, den
Lieblingssohn. Was auch immer Sie für ihn tun, es bleiben ihm nur Neid und
Eifersucht. Arvid hat dem Jungen ein höllisches Erbe hinterlassen. Einem Kind
so etwas anzutun ist entsetzlich. Sie können nicht so selbstsüchtig sein, ihn
behalten zu wollen.“

„Sind Sie fertig, Mylord?“ Die Kälte in ihrer Stimme hätte ausgereicht, selbst

die heißen Quellen von Bath zu Eis erstarren zu lassen. „Hören Sie gefälligst
auf, mir vorzuschreiben, was ich zu tun und zu lassen habe! Sie besitzen dazu
nicht die geringste Befugnis.“

Carlinn hielt den Blick auf Nolly geheftet. „Es ist nur gut gemeint. Ich denke

lediglich an Sie und den Jungen“, murmelte er.

„Wollen Sie sich nun endlich anhören, was ich in Bezug auf Arlen beschlossen

habe?“

Er nickte. Gleichzeitig flüsterte er Nolly ins Ohr: „Hart wie Stein. Ich habe

dich gewarnt.“

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Marjsol räusperte sich. „Ich bin keineswegs selbstsüchtig, im Gegenteil.

Ständig mache ich mir Vorwürfe, weil ich das Kind nicht so lieb gewinnen kann,
wie ich es sollte. Ich blicke es an und sehe Arvid, seine Niedertracht, seine
Gemeinheit. Ich sehe eine Mutter, die kein guter Mensch ist – vielleicht ist sie
sogar eine Mörderin. Natürlich kann man dem kleinen Arlen daraus keinen
Vorwurf machen, aber er ist auch nicht gerade ein pflegeleichtes Kind.
Vielleicht, wenn er weich und sanft wäre ... doch das ist er nicht.
Glücklicherweise kann meine Zofe Sarah gut mit ihm umgehen, besser als
Rebecca, Nollys Kindermädchen. Und Sarah hat mich gefragt, ob sie und Ned
Turner Arlen nicht mit nach Yorkshire nehmen können. Die Verletzung ihres
Mannes – nun, die Ärzte wissen nicht, ob sie jemals eigene Kinder haben
werden. Sarah und Ned wollen ihn in Leonard umbenennen und an Sohnes statt
annehmen. Ich werde seine Patin und komme für seine Ausbildung und alles
Weitere auf.“

„Und ich schenke ihm sein erstes Pony! Wunderbar, meine Liebe, wunderbar!

Ich hätte wissen sollen, dass Sie eine ausgezeichnete Entscheidung treffen
würden.“

„In der Tat“, äußerte Marisol trocken. Sie setzte hinzu: „Wir haben Mr.

Stenross gebeten, die Angelegenheit in die Wege zu leiten. Er soll dafür sorgen,
dass kein Zweifel daran bleibt, wer Arl ... – Leonards rechtmäßige Eltern sind.
Aber zunächst wollen wir mit Mr. Dimm sprechen. Was ist, wenn er die Mutter
findet und sie das Kind zurückhaben möchte?“

„Sie hat es verkauft, zum Kuckuck! Höchstens verlangt sie noch mehr Geld,

aber der Verkauf von Kindern ist immer noch ein Verbrechen. Wenn sie die
Papiere von Mr. Stenross nicht unterzeichnen will, droht ihr Gefängnis.
Schwierigkeiten gibt es nur, wenn er sie nicht findet. Was ist, wenn die Frau
ihre Geschichte an die Zeitungen verkauft, um Ihnen zu schaden?“

„Mir? Mir kann man nichts vorwerfen! Weder habe ich ein uneheliches Kind

zur Welt gebracht noch meinen Liebhaber getötet oder meinen Sohn gegen
einen Sack Gold eingetauscht.“

„Ja, aber die Leute werden reden. Sie können doch nicht bis in alle Ewigkeit

dem Klatsch Nahrung geben wollen!“

Marisol wusste genau, dass er es war, der dem Geschwätz der Leute nicht
gewachsen war. Kimbrough achtete darauf, alle gesellschaftlichen Regeln stets
peinlich genau zu befolgen. Es würde ihn zutiefst demütigen, seinen Namen
erneut in den Klatschspalten zu lesen. Und Bettinas erste Saison wäre selbst
durch den Hauch eines Skandals ruiniert, sei er nun alt oder neu. Nein,
Kimbrough würde tunlichst alles vermeiden, was den guten Namen seiner
Familie beschmutzen oder ihn um seine Gemütsruhe bringen könnte.

In dieser Nacht war es Marisols eigenes Schluchzen, das sie wach hielt.

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Wie es seine Gewohnheit war, ritt Carlinn am nächsten Morgen früh aus. Er ließ
den neuen Grauen satteln, um festzustellen, wie weit er sich erholt hatte. Zu
seiner Zufriedenheit stellte er fest, dass der Hengst zwar ein wenig kopfscheu
war, aber keineswegs bösartig. Eine feste Hand war alles, was er brauchte.

In der Hoffnung, zu einem zweiten Frühstück eingeladen zu werden, ritt

Carlinn zum Schloss. Er übergab den Grauen der Obhut eines Stallburschen und
wischte sich sorgfältig die Stiefel ab, bevor er an die Eingangstür klopfte. Doch
nach Auskunft des Butlers schlief Ihre Gnaden heute aus und hatte darum
gebeten, nicht gestört zu werden. Nolly, die zweite Wahl des Earl, wurde
gebadet, um dann noch einmal ins Bett gesteckt zu werden. So blieb nur
Foster. Dessen Willkommenslächeln verlor ein wenig von seinem Strahlen, als
er bemerkte, dass Kimbrough alleine kam.

„Verflucht gut, Sie zu sehen, Mylord. Bei Jupiter, es ist verdammt öde, so

herumzusitzen. Ich kann noch nicht einmal Zeitung lesen, wenn mir nicht
jemand die Seiten umblättert. Bei dem Versuch, es mit den Zähnen zu machen,
bekam ich nur Druckerschwärze an die Nase.“

„Soll ich Ihnen etwas vorlesen? Ich habe ein wenig Zeit.“ Je länger er blieb,

desto wahrscheinlicher war es, dass er doch noch Marisol begegnete.
„Vermutlich lechzen Sie nach den neuesten Kriegsberichten.“

Foster rieb die verbundene Hand an der Bettkante. „Also, äh, die Sache ist

die, dass Ihre Schwester sich freundlicherweise angeboten hat, heute
Nachmittag vorbeizukommen und mir vorzulesen.“ Seine Miene hellte sich auf.
„Aber wie wäre es mit einer Partie Schach? Letztes Mal habe ich Sie beinahe
geschlagen. Allerdings müssen Sie die Figuren immer noch für mich setzen. Mit
den dicken Verbänden, die dieser alte Knochenbrecher für nötig hält, kann ich
die Finger nicht bewegen. Immerhin hat er gesagt, es dauert nun nicht mehr
lange. Vor dem Sommer kann ich zu meinem Regiment zurückkehren. Ist das
nicht großartig?“

„Der Sommer in Spanien ist heiß, voller Mücken, Krankheiten und Schlamm.

Sind Sie sicher, dass Sie dort hinwollen? Sie haben doch Ihren Beitrag für König
und Vaterland bereits geleistet. Schwarz oder weiß?“

„Aber diesen Sommer geht es sicher zur Sache. Und diesmal will ich mitten

im Schlachtgetümmel stehen, nicht auf irgendeinem vermaledeiten Schiff
sitzen. Ich hatte letztes Mal weiß. Eröffnen Sie ruhig.“

„Ihre Schwester wird sich Sorgen machen.“ Carlinn zog mit dem Bauern.
Foster betrachtete aufmerksam das Brett. „Das hat Sie doch auch nicht daran

gehindert zu gehen, oder? Ich meine, alle Kameraden haben doch Mütter,
Schwestern, Ehefrauen oder Geliebte.“

„Manche sogar alles. Wie wollen Sie setzen?“
Ein paar Züge später schweiften Carlinns Gedanken ab. War sie schon auf?

Kam sie zu ihrem Bruder ins Zimmer, bevor sie hinunterging? Er rückte das

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Krawattentuch zurecht. Foster räusperte sich.

„Sie sind am Zug, Carlinn.“
„Was? Oh, Entschuldigung.“
Während sich der Earl in den Anblick des Schachbretts versenkte, räusperte

sich Foster erneut. Das Geräusch war der Konzentration Seiner Lordschaft nicht
eben förderlich. Kimbrough sah auf.

Foster rieb wieder die Verbände am Bett. „Ich wollte Sie ohnehin um

Erlaubnis bitten, dass ich Ihrer Schwester schreiben darf, wenn ich weg bin“,
sagte er. „Genauso gut kann ich es jetzt tun.“

„Habe ich richtig gehört? Ich soll Ihnen die Erlaubnis geben, Bettina zu

schreiben?“

„Na ja, ich möchte schließlich nichts Anrüchiges tun und Sie damit

womöglich noch gegen mich aufbringen. Sie müssen wissen, dass es sich für
eine junge Dame ganz und gar nicht gehört, von einem Mann Briefe zu
empfangen, der nicht mit ihr verwandt ist.“

Carlinn musste zugeben, er habe etwas Derartiges schon einmal läuten

gehört. Doch sein Hohn war an Foster vollkommen verschwendet. Der junge
Mann brannte darauf, sein Anliegen vorzutragen.

„Meine Absichten sind wirklich ehrenhaft. Nicht zu bald, natürlich. Bettina

soll ihre Saison haben – sich die Schuhe zertanzen, wissen Sie? Ich bin kein
großer Tänzer, und sie freut sich auf die Bälle. Außerdem gehe ich jede Wette
ein, dass sie in London ordentlich Furore macht.“

Carlinn war nicht bereit, auch nur einen Penny dagegen zu setzen. Bettina

war hübsch, fröhlich und reich. Sie würde Erfolge feiern. So große Erfolge, dass
er fragen musste: „Haben Sie denn keine Angst, dass die Londoner Gentlemen
ihr den Kopf verdrehen?“

„Das Risiko muss ich eingehen. Auf diese Weise wissen wir beide, dass sie

sich sicher ist. Danach bitte ich Sie um Erlaubnis, um ihre Hand anzuhalten.
Wenn der Krieg vorbei ist, versteht sich.“

„Und ich werde sie mit Stolz erteilen, wenn Sie beide ein wenig mehr von der

Welt gesehen haben und dann immer noch derselben Überzeugung sind.“

Foster nickte und wandte sich wieder dem Schachbrett zu. Dann blickte er

den Earl von der Seite an und fragte: „Gibt es vielleicht etwas, das Sie mich
noch fragen wollen, bevor ich aufbreche?“

Carlinn hatte bereits die Hand nach dem Springer ausgestreckt. Nun hielt er

inne und erkundigte sich: „An was hatten Sie gedacht, Sie Frechdachs?“

„Zum Beispiel, ob ich Ihnen erlaube, um meine Schwester anzuhalten?“
Der Springer fiel zu Boden. „Allmählich scheint Ihnen diese Balzerei zu Kopfe

zu steigen. Oder ist es die Verehrung, die Sie als Held genießen?“

„Dann sollte ich Sie vielleicht nach Ihren Absichten fragen.“ Foster sprach

nur halb im Scherz. „Ein begehrter Junggeselle, der in diesem Haushalt ein und

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aus geht und noch vor dem Frühstück Besuche abstattet – so etwas könnte dem
Ruf meiner Schwester schaden.“

„Sie stecken Ihre hässliche Laughton-Nase in Dinge, die Sie nichts angehen,

Lieutenant“, bellte Carlinn.

Foster war nicht lange genug in der Armee gewesen, um bei diesem Ton

stramm zu stehen. Zudem hatte er nie unter Major Lord Kimbrough gedient,
wofür er dem Schicksal aus tiefstem Herzen dankte. Tapfer – oder tollkühn –
fuhr er daher fort: „Was haben Sie an meiner Nase auszusetzen, abgesehen von
der neuen Beule? Kein Vergleich zu Wellesleys Zinken. Marisol hat schließlich
die gleiche, und trotzdem sagt jeder, dass sie eine Schönheit ist. Wie auch
immer, ich dachte, es ist meine Pflicht, mich nach Ihren Absichten zu
erkundigen. Schließlich bin ich das Familienoberhaupt.“ Er grinste. „Zum Glück
muss ich mich noch nicht gleich einschiffen. Sie haben noch mindestens einen
weiteren Monat Zeit, um Ihren Mut zusammenzunehmen.“

Kimbrough stand so hastig auf, dass er das Schachbrett zu Boden stieß, und

stürmte aus der Tür.

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22. KAPITEL

„Oh, Mr. Dimm – wie tüchtig von Ihnen! Dass Sie Tyson ausgerechnet jetzt
ausfindig machen, wo ich so dringend eine neue Zofe brauche!“

Dimm war nach Berkshire zurückgekehrt, aber er kam nicht allein. Eine Hand

an ihrem Ellbogen, führte er die Zofe in den Salon der Duchess.

„Nich’ ganz, Euer Gnaden. Ich hab Eleanor Tyson schon gefunden, das is’

richtig. Aber sie arbeitet nicht mehr als Zofe.“

„Wie schade“, bemerkte Marisol. Weshalb hatte er Tyson dann überhaupt

hergebracht? Und weshalb stand die Frau, nachdem sie ihren Knicks gemacht
hatte, mit gesenktem Kopf da und starrte zu Boden? „Welchen Beruf haben Sie
denn ergriffen, Tyson?“

An ihrer Stelle antwortete Dimm: „Erpresserin.“
Marisol sank in die Kissen zurück. „Die Briefe? Das Kind?“ Nein, unmöglich.

Nicht Tyson und Arvid. Drei Jahre lang hatte Eleanor Tyson ihr die Kleider
zurechtgelegt und die Haare frisiert. Marisol hatte ihr vertraut. Sie schüttelte
den Kopf. „Das kann ich einfach nicht glauben.“

„Ich hatte keine Wahl, Euer Gnaden, ich schwöre es“, ließ sich Tyson

vernehmen. „Ich hätte Ihnen niemals ein Leid zugefügt, dazu waren Sie immer
viel zu gut zu mir. Aber er ...“

„Warum warten wir nich’ auf Seine Lordschaft?“ schlug Dimm vor. „Er is’ nun

mal der Friedensrichter. Dann hören wir uns die ganze Geschichte an un’
überlegen, was zu tun is’.“

Als Kimbrough eintraf, kam auch Foster in den Salon. Nur die alte Duchess

zog es vor, im Bett zu bleiben, statt weitere Einzelheiten über die Sünden ihres
Sohnes zu erfahren. Sarah und Ned standen schweigend in der Ecke, während
Tante Tess am Kamin die Stricknadeln fliegen ließ. Dort bekam sie zwar nicht
viel mit, aber sie konnte sich die Dinge ja später von Marisol berichten lassen.
Jetzt war es wichtiger, dass der kleine Leonard genügend Strickjäckchen
bekam, bevor er nach Yorkshire abreiste. Die Säuglinge waren nicht anwesend.
Marisol ertrug es nicht, Nolly in einem Raum mit dieser Frau zu sehen, die ihr
eigenes Kind verkauft hatte. Tyson hatte sich noch nicht einmal nach Arlens
Wohlergehen erkundigt.

Als alle versammelt waren, brachte Dimms Sohn Gabriel einen Mann in

Handschellen herein.

„Purvis? Sind Sie das?“ Marisol bemerkte, dass ihre Hände zitterten. Sie hatte

den beiden glänzende Zeugnisse geschrieben, während das Pärchen
gleichzeitig Pläne gegen sie schmiedete. Wie hatte sie sich nur so in Eleanor
Tyson täuschen können? Sie hatte ihrer Herrin nicht nur einfach in Zeiten der
Not den Rücken gekehrt. Nein, sie hatte auch eine Liebschaft mit deren Gatten
unterhalten. Dann hatte sie ihn möglicherweise sogar getötet – oder dies von

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ihrem anderen Geliebten, dem Kammerdiener, erledigen lassen. Marisol
versuchte, ihre Hände am Zittern zu hindern, indem sie sie im Schoß faltete.

Ruhig reichte Lord Kimbrough ihr ein Glas Sherry und stellte sich hinter sie.

Seine starke Hand lag auf ihrer Schulter. „Lassen Sie uns am besten die ganze
Geschichte hören, Mr. Dimm, bevor wir voreilige Schlüsse ziehen.“

„Also“, begann der Konstabler, „meine Wenigkeit kommt in Bristol ins Spiel.

Dort hab ich rausgefunden, dass der Name Purvis auf den Passagierlisten
auftauchte. Ich war also nich’ allzu überrascht, ihn zu sehn. Dann – Simsalabim!
– erscheint auf einmal die Zofe, die vier, fünf Monate wie vom Erdboden
verschluckt gewesen is’. Un’ sie hat auch die nötige Pinke für ’ne Schiffskarte in
der Tasche. Alles Weitere konnt’ ich mir einfach zusammenreimen.“

„Aber weshalb?“ fragte Marisol. „Ich verstehe das nicht.“
Tyson brach in Tränen aus. „Ich schwöre, dass ich niemandem schaden

wollte!“ Sie schlug die Hände vor die Augen.

Unbeholfen legte Purvis ihr die gefesselten Hände um die Taille. „Schsch,

Nell, ich erzähl, wie’s war. Euer Gnaden, Mylord, die Sache war die: Ich hatte
Nell, also Eleanor, gebeten, mich zu heiraten. Sie hat Ja gesagt, aber Seine
Gnaden sagte Nein. Diener sin’ nich’ zum Heiraten geboren, hat er jemeint.“

„Das sieht dem Halunken ähnlich“, murmelte Foster von seinem Sofa aus.

Lord Kimbrough schenkte auch ihm einen Sherry ein, und mit verbundenen
Händen hob der junge Mann das Glas zum Mund.

Unterdessen fuhr Purvis fort: „Also hab ich ’ne Weile gewartet. Dann hab ich

ihn wieder gefragt. Er war grad gut gelaunt, weil das Kind kommen sollte. Ihr
Kind, Euer Gnaden. Endlich konnte er mit einem Erben Lord Boynton
ausbooten. Also sagt der Duke, vielleicht dürfen wir heiraten, vielleicht aber
auch nich’. Er denkt drüber nach.“ Mit versteinerter Miene starrte Purvis auf
seine Füße. „Aber in Wirklichkeit hat er gedacht, wenn ich Nell so sehr will,
dann wirft er vielleicht selbst noch mal ’n Blick auf sie.“

„Oh nein.“
Purvis nickte. „Doch. Tut mir Leid, das sagen zu müssen. Je klarer zu sehn

war, dass Euer Gnaden in interessanten Umständen war, umso mehr hat er sich
anderswo umgesehn un’ ein Auge auf Nell geworfen. Is’n hübsches Mädel,
meine Nell.“ Mit gefesselten Händen tätschelte er ihr den Rücken. „Er hat ihr
gesagt, sie hat keine Wahl.“

„Sie hätten zu mir kommen sollen, Tyson.“
Aus tränenverschwollenen Augen sah Eleanor die Duchess an. „Aber ich hab

doch gewusst, wie er zu Ihnen war, Madam. Jeder konnte sehen, dass er an
Ihnen seine Launen ausgelassen hat. Wenn Sie ihm meinetwegen Vorwürfe
gemacht hätten, wäre alles nur noch schlimmer geworden. Ich hatte solche
Angst um Sie und das Kind“, schloss sie bitter.

Marisol wandte den Blick ab. Es beschämte sie, dass ihre schmutzige Wäsche

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vor Lord Kimbroughs Augen gewaschen wurde. Verständnisvoll packte er ihre
Schulter fester.

„Deshalb habe ich mich nicht gewehrt, Madam“, fuhr Eleanor fort. „Er

behauptete, Purvis und ich dürften heiraten, wenn er mit mir fertig wäre. Wenn
ich mich aber wehre oder schreie, dann würde er uns beide entlassen. Es war
also keine Vergewaltigung.“

„Selbstverständlich war es das. Sie hatten keine Wahl. Er hat Sie gegen Ihren

Willen missbraucht.“

„Aber Purvis hat es anders gesehen“, sagte sie traurig.
„Ich hab doch gesagt, es tut mir Leid, Nell. Die Sache war nur die, dass ich

zuerst nich’ ...“

„Sie trifft keine Schuld, Eleanor“, bekräftigte Marisol mit einem erzürnten

Blick zu Purvis. „Erzählen Sie weiter.“

„Nun, ich stellte bald fest, dass ich ebenfalls schwanger war. Als ich Seiner

Gnaden davon berichtete, lachte er bloß und sagte, jetzt könnte ich Purvis
heiraten und verschwinden. Er würde keinen von uns behalten. Aber Purvis
wollte mich nicht mehr.“

Das Schwein. In Marisols Augen war ihre Zofe zwischen Arvid und Purvis vom

Regen in die Traufe geraten. Die Blicke, die sie dem Kammerdiener zuwarf,
sprachen Bände.

„Aber wie sollte ich denn ohne Stellung eine Frau und ein Kind ernähren,

Euer Gnaden? Und es war noch nicht einmal mein eigenes Kind! Zumindest
hätte er Geld lockermachen sollen ...“

„Also haben Sie dafür gesorgt, dass er zahlt, was?“ Foster hielt das Glas in

beiden Händen und prostete dem Kammerdiener zu.

Es war Marisol, die die Frage stellte: „Wer von Ihnen ...?“
Tyson antwortete: „Zuerst habe ich den Brief an Sie geschrieben, um mich zu

rächen. Purvis hatte mir erzählt, mit wem sich der Duke traf und wo. Seine
Gnaden brüstete sich ständig damit. Ich wollte, dass Sie sehen, was für ein
Unhold er ist.“

„Oh, das wusste ich bereits, das wusste ich“, flüsterte Marisol.
„Aber vor allem wollte ich ihn vor einer wirklichen Dame, vor seiner eigenen

Frau, beschämen.“

Purvis nahm den Faden auf. „Als Nell mir gesagt hat, was sie getan hat,

kriegte ich es mit der Angst. Der Duke wurde sehr wütend, wenn man seinem
Vergnügen in die Quere kam, wenn Sie wissen, was ich meine. Un’ außerdem
hatte er die Pistole dabei. Ich bin also raus, um Sie aufzuhalten.“

„Sie wollten mich beschützen?“ fragte Marisol.
„Ja, aber ich bin zu spät gekommen. Sie war’n schon da gewesen und wieder

weg, un’ Lady Armbruster war auch über alle Berge. Seine Gnaden war
fuchsteufelswild. Ich hab ihn nie so in Weißglut gesehen. Er kreischte wie

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besessen, dass ich Sie auf ihn gehetzt hätte, Madam. Ich würd dafür büßen, un’
Sie auch. Es war klar, er hat’s ernst gemeint.“

Inzwischen schmerzte Marisols Schulter, weil sich Kimbroughs Finger so tief

hineinbohrten. Sie tätschelte ihm die Hand, und er entspannte sich ein wenig.
Aber Marisol wusste genau: Träte Arvid Pendenning in diesem Augenblick
lebendig in diesen Salon, dann würde er sich wünschen, wieder tot zu sein.
Selbst die Hölle musste ein Spaziergang sein im Vergleich zu dem, was der Earl
ihm antäte.

Purvis schüttelte den Kopf. „Ich hab seine Drohungen nicht mehr ausjehalten,

Euer Gnaden – Mylord. Dieser Blutegel hat uns allen das Leben zur Hölle
gemacht un’ mich sogar dazu gebracht, die beste Frau, die mir jemals über’n
Weg gelaufen war, zu verlassen. Also hab ich ihm gesagt, ich heirate Nell, auch
wenn sie sein Kind kriegt. Er sollte uns unseren Lohn auszahlen un’ außerdem
’n bisschen Geld, wovon wir leben können, bis ich wieder ’ne Stellung hab.
Wenn nich’, hab ich gesagt, dann geh ich zu den Zeitungen un’ zum
Friedensrichter un’ zu Lord Armbruster. Aber er hat nur gelacht. War ihm egal,
verstehn Sie? Er hat genau gewusst, dass man ihn nich’ verhaftet, weil er ’n
Dienstmädchen geschwängert hat oder ’n gewöhnlichen Diener ohne Geld auf
die Straße gesetzt hat.“

„Also haben Sie ihn erschossen?“
„Nein. Ich hatte ja keine Waffe. Also hab ich ihn angespuckt. Ich wollte ihm

zeigen, was ich von seiner gemeinen Art halte. Schließlich hab ich vorher schon
für andere Gentlemen gearbeitet. Ich weiß genau, was richtig un’ ehrenhaft is’.
Genau ins Gesicht hab ich ihm gespuckt.“

„Bravo!“ rief Foster begeistert.
Purvis achtete nicht auf die Unterbrechung. „Ich hab gedacht, ihn trifft auf

der Stelle der Schlag. Aber er hat die Pistole gezogen un’ angefangen, damit
rumzufuchteln wie ’n Irrer. Ich hatte Angst, sie geht los, un’ hab seine Hand
gepackt, um die Waffe von mir wegzuhalten. Er hat geschrien, ich soll meine
Pfoten wegnehmen. Aber ich hab festgehalten. Un’ dann hat sich der Schuss
gelöst. Mir war klar, dass er tot war, deshalb hat es keinen Sinn gemacht, Hilfe
zu rufen. Also bin ich reingegangen. Außer Nell waren alle noch beim Essen.
Keiner hat mich gesehen, un’ ich hab den Mund gehalten.“

„Bei den Ermittlungen hätten Sie doch sagen können, dass es Notwehr war.“
Über die Arglosigkeit der Duchess konnte Purvis nur den Kopf schütteln. „Wer

glaubt denn ’nem Diener? Das konnt ich nich’ riskieren, nich’ wo Nell von mir
abhängt. Also hab ich geschwiegen. Tut mir Leid, dass der Verdacht dann auf
Sie gefallen is’, Euer Gnaden, Lord Kimbrough, Lord Thornhall. Aber was hätt ich
denn tun soll’n?“

Niemand antwortete. Der Kammerdiener fuhr fort: „Ich hatte genug auf die

hohe Kante gelegt, um auszuwandern. Ein Vetter von mir lebt in Amerika. Er

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würde uns helfen, ’n neuen Anfang zu machen. Ich dacht, wenn ich mich nur
lang genug nich’ muckse, können wir einfach verschwinden.“

Nell unterbrach ihn. „Aber ich konnte nicht mitten im Winter und in meinem

Zustand eine Seereise unternehmen. Außerdem wusste ich, dass Purvis jedes
Mal, wenn er mich ansah, daran dachte, wie ich bei Seiner Gnaden gelegen
hatte, und da fühlte ich mich ständig von neuem beschmutzt. So packte ich
meine Siebensachen zusammen und ging fort. Ich behauptete, dass mein Mann
in der Armee ist und ich keine Familie habe, die sich um mich kümmert. In
Richmond, wo mich niemand kannte, nahm ich mir ein Zimmer und bekam das
Kind.“

„Das Arvid wie aus dem Gesicht geschnitten war.“
„Und das schrie und weinte, was ich auch mit ihm anstellte. Ich wollte mit

Purvis auf und davon gehen und ein neues Leben anfangen, ohne ständig an
das alte erinnert zu werden.“

„Also beschlossen Sie, uns das Kind zu verkaufen.“ Es war Marisol nicht

möglich, die Missbilligung aus ihrem Tonfall herauszuhalten.

„Ich hatte nur die Wahl, es so zu machen oder ihn auf irgendwelche

Kirchenstufen zu legen und das Beste zu hoffen. Eine Seereise wäre ihm nicht
gut bekommen, und wir wollten einen kleinen Kurzwarenladen im Westen
aufmachen. Der Cousin von Purvis hatte geschrieben, dass man dort gutes Geld
verdienen kann, aber dass es wild und gefährlich ist, mit Indianern und so.
Dorthin konnte ich doch keinen Säugling mitnehmen!“

„Und Sie brauchten Geld, um das Geschäft zu eröffnen“, deutete Kimbrough

an.

„Ich fand, dass uns der Duke etwas schuldete, und Purvis stimmte zu.“
„Aber wir wollten nie, dass Sie glauben, wir täten dem kleinen Duke etwas

zuleide“, warf Purvis ein. „Keiner von uns wollte Ihnen etwas Böses, Madam.“

Ja, ich verstehe. Mein Gatte war ein noch üblerer Geselle, als ich dachte. All

dies ist allein seine Schuld. Doch was ist nun zu tun, Mr. Dimm? Diese beiden
sind eher Opfer als Täter.“

„Ich schätze, das müssen wir dem Richter überlassen, Euer Gnaden.“
Lord Kimbrough war in Gedanken bereits bei der Gerichtsverhandlung. Die

Presse würde die Vorgänge aufsaugen wie ein Scheuerlappen das
Schmutzwasser. Marisol musste als Zeugin erscheinen und berichten, wie sie
Denning mit Lady Armbruster überrascht hatte. Sämtliche Einzelheiten ihrer
elenden Ehe würden an die Öffentlichkeit gezerrt. „Gibt es keinen Weg, um
eine Gerichtsverhandlung herumzukommen?“ fragte er. „Wir wissen doch nun,
dass es Notwehr war. Außerdem hatte Denning es verdient. Ich hätte ihn zum
Duell gefordert, wenn ich gewusst hätte, was er ... Warum können diese Leute
nicht einfach fortgehen? Sie stellen für niemanden eine Gefahr dar, und die
Qualen, die sie durch diesen Schurken erlitten haben, sind Buße genug.“

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Hoffnungsvoll blickte Marisol den Konstabler an. Doch dieser kratzte sich

unschlüssig am Kopf. „Hmm, ich weiß nich’. Wir können doch nich’ einfach das
Gesetz in die eigene Hand nehmen.“

„Und wenn ich die Entscheidung als Friedensrichter befürworte? Purvis und

Tyson sollen ihre Geständnisse unterschreiben. Dann kann ihnen der Prozess
gemacht werden, falls sie jemals zurückkehren sollten. Und natürlich die
Adoptionsurkunde, damit sie keine Ansprüche mehr auf den Jungen haben.
Wenn sie nach Amerika gehen, ist es doch schon fast wie die Deportation,
allerdings mit besseren Überlebenschancen. Wir brauchen nur zu sagen, dass
Denning sich unabsichtlich selbst erschossen hat. Sogar die Zeitungen werden
die Geschichte so drucken.“

„Der Boss wär wohl zufrieden. Besonders, wenn wir damit neuen Tratsch

vermeiden. Könnte klappen.“

Purvis bat: „Nächste Woche geht wieder ’n Schiff. Wenn wir es nehmen,

hören Sie von keinem von uns jemals wieder was. Ich schwöre, Euer Gnaden.“

„Ich auch“, versprach Tyson.
Alle Blicke waren auf die Duchess geheftet. Die endgültige Entscheidung

über Rache oder Sühne blieb ihr überlassen. „Lasst sie gehen“, sagte sie
endlich, „nachdem sie die Papiere unterschrieben haben.“

Ruhig nahm sie die Dankesbezeigungen des Paares entgegen. Zweifellos

kamen sie aus tiefstem Herzen. Sie selbst brachte es nicht über sich, den
beiden mehr als eine gute Reise zu wünschen, bevor sie den Salon verließ. Ja,
Purvis und Tyson hatten gelitten. Aber sie selbst hatte nicht weniger Schmerz
erduldet, und zwar durch die Schuld der beiden. Außerdem hatten sie sich noch
nicht einmal nach der Zukunft des Kindes erkundigt. Eleanor Tyson hatte ihren
Sohn nicht sehen wollen.

Marisol ging hinauf zu ihm und Nolly und schickte Rebecca hinaus. Endlich

blieb sie mit den schlafenden Säuglingen und den Hunden alleine.

Es war vorbei, Gott sei Dank. Noch vor Anbruch der Nacht würden Tyson und

Purvis aufbrechen. Sarah ging mit ihrem Ned und dem kleinen Leonard in ein
paar Tagen nach Yorkshire, und Dimms Nichte Suky übernahm dann Sarahs
Stellung als Zofe. Foster war fast schon wieder so weit genesen, dass er zu
seinem Regiment zurückkehren konnte, Bettinas Londoner Saison stand vor der
Tür ... und Seine Lordschaft begab sich vermutlich wieder auf die Suche nach
der vollkommenen Ehefrau.

Sie und Nolly konnten nun endlich ungestört ihr Leben miteinander beginnen

– nur sie beide, Tante Tess und die alte Duchess.

„Und du, Sal.“ Der Collie klopfte mit dem Schwanz auf den Boden. Empört

winselte der Terrier auf. „Und du natürlich, Max.“

Himmel, vielleicht sollte sie auch auswandern. Alles war besser, als hier in

Berkshire mit anzusehen, wie der Earl eine untadelige Braut wie Edelia

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Sherville heimführte. Marisol seufzte. Auf der ganzen Welt gab es keinen Ort,
der weit genug weg war, um ihrem eigenen gebrochenen Herzen zu entfliehen.

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23. KAPITEL

„Ich habe beschlossen, Nolly mit nach Kimbrough Hall zu nehmen“, erklärte der
Earl bei einem Nachmittagsbesuch ein paar Tage später.

„Sie haben – was?“ Marisol schrie die Worte fast.
Angelegentlich betrachtete Carlinn seine Fingernägel. „Mein Recht als

Vormund. Ich glaube, es ist besser für den Jungen. Er braucht den Einfluss eines
Mannes.“

Die Duchess war leichenblass geworden. „Er ist kaum ein halbes Jahr alt. Was

haben Sie denn vor – wollen Sie ihn etwa mit zu Hahnenkämpfen nehmen?“

„Außerdem ist dieses Schloss“, er beschrieb mit der Hand einen weiten Kreis,

„für einen kleinen Jungen vollkommen ungeeignet. Diese ganzen Erker, Türme
und Schießscharten sind viel zu gefährlich, ganz zu schweigen von den
Schwertern, Hellebarden und Kampfäxten, die überall herumstehen. Vermutlich
bekommt er davon Albträume“, log der Earl mit ernster Miene. Dabei wusste er
genau, dass dieses Gemäuer der Traum jedes Jungen war. Selbst auf ihn übte
das Geländer der großen Freitreppe eine fast unwiderstehliche Anziehungskraft
aus, und das in seinem reifen Alter! Er fuhr fort: „Und dann sind da die ganzen
Kunstgegenstände, die beschädigt werden könnten.“

„Alles, was gefährlich oder zerbrechlich ist, wurde bereits weggeräumt“,

erwiderte Marisol durch zusammengebissene Zähne. Gerade wünschte sie sich
sehnlich, eine der Kampfäxte zur Hand zu haben.

„Nein, der kleine Duke wird es bei mir auf Kimbrough Hall besser haben.“
„Besser? Sie ... Sie geschwollene Kröte! Sie können doch noch nicht einmal

mit Nolly spielen, ohne dass er Sie von oben bis unten bespuckt! Und Sie
wollen wissen, was für meinen Sohn besser ist? Sie widerlicher Lump, Sie
Ungeheuer, Sie! Noch vor kurzem haben Sie mir Ihr Wort gegeben, sich nicht in
seine Erziehung einzumischen! Ich bringe Sie vor Gericht, Sie Bestie! Nie, nie
werde ich ihn fortlassen!“

„Ich weiß.“
Vorsichtig stellte Marisol die Porzellanschäferin wieder hin, die sie ihm an den

Kopf hatte werfen wollen. „Was soll das heißen, ‚ich weiß‘? Wollten Sie mich
etwa nur wieder auf die Palme bringen?“

„Es ist einfach unwiderstehlich, dich zu reizen, meine Liebe. Die

‚geschwollene Kröte‘ hat mir besonders gut gefallen. Aber es war mir nicht in
erster Linie darum zu tun, dich Funken sprühen zu sehen. Natürlich weiß ich,
dass du dich nie von Nolly trennen würdest, und das würde ich auch niemals
verlangen.“

„Was sagst du da, Carlinn?“
„Was ich auf meine übliche ungeschickte Weise zu sagen, nein, zu fragen

versuche, ist, ob du mich zum glücklichsten aller Männer und zu Nollys Vater

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machen würdest.“

„Du willst, dass ich dich heirate, nur um Nolly zu bekommen?“
„Ts, ts, ts, Duchess, was für eine reichlich alberne Vermutung. Zugegeben,

der Junge ist das anbetungswürdigste, vollkommenste Wesen, das jemals
geboren wurde. Doch selbst ich ziehe irgendwo eine Grenze.“

„Aber ... aber warum dann?“ stotterte Marisol verdutzt.
„Weil ich glaube, dass ich dich schon ewig liebe und es nicht ertrage, auch

nur einen Tag länger von dir getrennt zu sein. Weil ich die ganze Zeit an dich
denke und mir wünsche, den Rest meines Lebens damit zu verbringen, dich
glücklich zu machen.“

„Aber du dachtest doch, dass ich oberflächlich und skandalös bin und einen

schlechten Einfluss auf deine Schwester ausübe. Du hast mich sogar des
Mordes an Arvid verdächtigt!“

„Dann war ich eben ein Narr. Das dürfte wohl kaum eine große Überraschung

für dich sein, schließlich hast du es mir schon tausendmal unter die Nase
gerieben. Und Tyson hat Purvis noch größere Sünden vergeben“, fügte er
hoffnungsvoll hinzu, während er auf ihren gesenkten Kopf blickte.

„Ich soll also nicht ungnädiger sein als meine Zofe.“
„Genau. Außerdem habe ich das hier in London für dich gekauft, noch bevor

Purvis gestanden hat.“ Er öffnete ein kleines Kästchen. Ein goldener Ring mit
Diamanten, die um einen Saphir herum angeordnet waren, kam zum Vorschein.
„Es gibt auch einen offiziellen Verlobungsring, der in der Familie Kimbrough
von Generation zu Generation vererbt wird. Aber ich wollte, dass du etwas
bekommst, das nur dir gehört. Und dieser hier passt zu deinen Augen.“ Carlinn
kniete sich vor Marisol auf den Teppich, um ihr ins Gesicht sehen zu können.
„Verflixt, ich hasse es, wenn du weinst!“ Er sprang auf und reichte ihr sein
Taschentuch.

„Ich weiß“, schniefte sie durch das weiße Stück Stoff. „Es tut mir Leid.“
„Zur Hölle, ich sollte derjenige sein, der sich entschuldigt.“ Erregt lief Carlinn

auf und ab. „Ich hatte zu hoffen gewagt ... das heißt, ich bitte um
Entschuldigung, falls meine ... meine unerwünschten Aufmerksamkeiten Ihnen
Unbehagen verursacht haben. Vergessen Sie, was ich gesagt habe.“

„Ach nein, das ist es doch gar nicht. Es ist nur, dass du mich zur glücklichsten

Frau auf der ganzen Welt gemacht hast.“

„Habe ich? Bist du? Dann heißt das, dass du meine Frage mit Ja

beantwortest?“

„Oh ja. Ich liebe dich schon so lange, aber ich hätte nie gedacht ...“
Was die Duchess dachte oder nicht dachte, wurde in seiner Umarmung

erstickt. Es gab nun keine Gedanken mehr, nur noch Empfindungen: die
magische Wärme seiner Berührung, das Versprechen von Leidenschaft,
zärtliche Zuneigung, liebevolle Stärke und leichter Zitronenduft. Wenn man

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Marisol gebeten hätte, den Himmel zu beschreiben – genau so war er.

„Du liebe Zeit, das hatte ich schon seit Ewigkeiten vor“, gab Carlinn zu, als

sie wieder zu Atem gekommen waren. Irgendwie hatte es sich so ergeben, dass
Marisol plötzlich auf seinem Schoß saß, die Arme fest um ihn geschlungen. Sie
legte den Kopf an seine Brust und seufzte zufrieden auf.

„Zum Kuckuck“, beschwerte er sich, „ich werde nie verstehen, wie du dich

von einem Augenblick zum nächsten aus einer fauchenden Wildkatze in ein
schnurrendes Kätzchen verwandeln kannst. Meinst du, ich komme dahinter,
wenn ich es die nächsten vierzig oder fünfzig Jahre lang versuche?“

„Du kannst es versuchen, Mylord.“
„Könntest du mich nicht Carlinn nennen, Duchess? Du wirst nicht mehr lange

Duchess sein. Macht es dir etwas aus, stattdessen Countess genannt zu werden,
meine Liebste?“

„‚Meine Liebste‘ klingt am allerbesten!“ Ein langer Kuss folgte.
„Was hättest du getan, wenn ich Nein gesagt hätte?“ erkundigte sich Marisol

später.

„Ach, auf deiner Schwelle ein Zelt aufgeschlagen, all deine anderen Verehrer

vergrault und Nolly beigebracht, ‚Papa Carl‘ zu sagen.“

Sie musste lachen. Doch schnell wurde sie wieder ernst. „Und der ganze

Klatsch macht dir wirklich nichts mehr aus?“

„Die Klatschbasen können von mir aus sagen, was sie wollen, solange du nur

sagst, dass du mich liebst.“

„Ich rufe es tagtäglich von allen Türmen, selbst wenn es dich noch viel

eingebildeter werden lässt, als du ohnehin schon bist.“

„Und ich schwöre, dass mir der Stolz, dass die wundervollste Frau in ganz

England meine Liebe erwidert, nicht zu sehr zu Kopf steigt. Für dich täte ich
alles, mein Schatz.“

„Sogar nach London ziehen?“
Carlinn setzte sich so plötzlich auf, dass Marisol beinahe zu Boden geglitten

wäre. „Du lieber Himmel, das kannst du doch nicht wollen, oder?“

„Nein, natürlich nicht. Ich wollte bloß sehen, wie dir der Hut hochgeht,

Liebling.“

„Touché. Allerdings ist Tinas Gesellschaftsdebüt zu bedenken. Ich fürchte,

darum müssen wir uns kümmern.“

„Können Nolly und ich nicht auf dem Land bleiben?“
„Was, und mich den Drachen alleine entgegentreten lassen? Auf keinen Fall,

mein Mädchen. Außerdem habe ich nicht die Absicht, dich länger als ein, zwei
Stunden allein zu lassen, hier wie dort. Nun ja, vermutlich werden wir genug
Zeit füreinander haben. Meine Schwester redet sowieso nichts anderes mehr als
Foster dies und Foster das.“

„Macht es dir sehr viel aus? Außer seinem Titel und seinem Charakter hat er

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nicht viel zu bieten, nur das, was ich ihm geben kann.“

„Aber wenn Bettina heiratet, erlangt sie die Verfügungsgewalt über ein

hübsches Anwesen, das sie von meiner Mutter geerbt hat. Foster wird mit der
Verwaltung alle Hände voll zu tun haben, und ich habe mehr Zeit, mich um
unsere Güter zu kümmern.“

„Oh, das klingt schön: ‚unsere‘“, wiederholte Marisol verträumt, den Kopf an

seine Schulter gelegt.

Er küsste ihre sehr zerzausten Locken. „Mein Schatz, macht es dir etwas aus,

dass ich nur ein Landedelmann ohne elegante Londoner Lebensart bin? Der
sich mehr um seine Ländereien als um seine Garderobe kümmert? Ist es sehr
schlimm, dass ich nicht mit Blumen und Konfekt und Gedichten um dich
geworben habe?“

Marisol verzog nachdenklich die Stirn, doch er gab ihr nicht viel Zeit, sich für

eine Antwort zu entscheiden. „Tja, schade drum. Dafür bringe ich dir Welpen
und Kätzchen, die jungen Triebe des Hafers und meine ganze Liebe.“

„Nun, da du es erwähnst, glaube ich wirklich, dass Sal das einzige Geschenk

ist, das du mir bis eben gemacht hast. Aber welche Frau könnte sich mehr als
das wünschen, was du mir gerade angeboten hast? Deinen Namen, deinen
Ring, deine Liebe. Ich nehme an, damit muss ich mich wohl bescheiden, mein
dummer Liebling.“

Nach einer weiteren Unterbrechung, während der Marisols Frisur rettungslos

zerzaust wurde – und Carlinns auch –, äußerte sie staunend: „Ich dachte, du
wolltest eine richtige Dame wie Edelia Sherville.“

„Nein, ich dachte, dass ich eine kalte, schickliche Frau wie Edelia Sherville

heiraten sollte. Zwischen dem, was ich wollte, und dem, was ich auf mich
genommen hätte, besteht ein Riesenunterschied. Ich habe mir immer eine
lebhafte, liebevolle Dame gewünscht. Mit einem üppigen Busen.“

Es überraschte Marisol selbst, dass sie noch erröten konnte, obwohl besagter

Busen bereits halb entblößt war. „Ich bin keine richtige Dame, so wie Edelia. Du
weißt, dass ich nie die vollkommene Gattin für dich abgeben kann.“

„Du bist nicht vollkommen? Schsch, sag es niemandem weiter. Schließlich

habe ich überall herumtrompetet, dass du es bist. Abgesehen von deiner Nase
natürlich.“

„Meiner Nase? Was gibt es an meiner Nase auszusetzen?“
„Nichts, mein Schatz. Sie eignet sich hervorragend zum Küssen.“ Und das tat

er. Dann fragte er: „Bist du sicher, dass du mich ertragen kannst? Ich weiß, dass
ich mitunter hochfahrend und herrschsüchtig bin.“

„Ich werde es versuchen, Mylord“, antwortete sie und unterstrich ihre Worte

mit Küssen. „Und wenn nicht, na ja, dann erschieße ich dich einfach.“

„Manchmal sin’ Tatsachen wie Felsblöcke“, sagte sich Jeremiah Dimm. „Da
liegen sie vollkommen offensichtlich und warten drauf, dass man mit dem Zeh

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dran stößt.“

Der Konstabler saß in seinem weichen Sessel, die Füße hochgelegt, die Pfeife

in der einen Hand und ein Ale in der anderen. In dem kleinen Haus in
Kensington war es ruhig geworden. Das Leben war schön.

Selbst der Boss war zufrieden damit, wie tadellos der Fall gelöst worden war,

ohne dass es ein öffentliches Aufsehen gegeben hatte. Er hatte Dimm
befördert. Dabei war all die Detektivarbeit ein reines Kinderspiel gewesen,
verglichen mit der Mühe, die es gekostet hatte, diese beiden schwierigen
Adligen zusammenzubringen. Ein Blinder mit dem Krückstock konnte sehen,
dass sie füreinander geschaffen waren. Aber sie dazu zu bekommen, dass sie es
sich eingestanden ... Ich will verdammt sein, wenn das nicht geradezu das
Glanzstück meiner Laufbahn war, überlegte Dimm.

Nachdenklich sog er an der Pfeife und dachte über das Angebot der frisch

gebackenen Lady Kimbrough nach, als Verwalter nach Denning Castle zu
kommen. Er hätte sein eigenes kleines Häuschen und das gesamte Personal
unter sich. Außerdem, wie die Countess als Anreiz hinzugefügt hatte, wäre er in
Berkshire mitten unter Söhnen und Töchtern, Nichten, Neffen und der
verschwägerten Familie Hambley.

Dimm blies im Frieden des leeren Hauses einen Rauchring zur Decke und

lächelte. Er würde darüber nachdenken. Nächste Woche.

– ENDE –


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