ABER DAS HERZ IRRTE NICHT
Roman von Leni Behrendt
Dr. Ralf Skörsen, ein begabter und tüchtiger junger Arzt, hat oft
Sorgen, weil der die Schulden abzahlt, die sein verstorbener Vater
hinterlassen hat. Mutter und Schwester haben kein Verständnis
für ihn; sie denken nur an ihr Vergnügen, stellen hohe Ansprüche
und halten die Rückzahlung der Schulden für überflüssig. Eines
Tages eröffnet Ralf seinen Angehörigen, daß er geheiratet hat,
und zwar die Tochter jenes Mannes, der Skörens Vater das Geld
geliehen hat; nach dessen Tod ist nun Frau Lenore die
Gläubigerin. Als sich herausstellt, daß Ralf dies nicht getan hat,
um die restlichen Schulden loszuwerden, sondern die Raten
peinlich genau an seine Frau weiterzahlt, sind Mutter und
Schwester enttäuscht und machen der jungen Frau das Leben zur
Hölle. Der vielbeschäftigte Arzt scheint blind und taub gegenüber
dem Treiben der beiden bösen Frauen. Die Ehe zerbricht, Lenore
verläßt ihren Gatten. Als Ralf endlich den wahren Sachverhalt
erkennt und Lenore bittet, es noch einmal mit ihm zu versuchen,
sagt sie ihm, dazu sei es zu spät. Ob dies wirklich das letzte Wort
in der Angelegenheit ist?
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Printed in Germany.
Es war im November und das passende Wetter dazu –
nämlich eines, wo der Bauer nicht einmal seinen Hund
hinausjagt, wie es im Volksmund heißt.
Zwar regnete es nicht Bindfäden vom grauverhangenen
Himmel, es nieselte nur; aber es dringt auf die Dauer durch
den dichtesten Wettermantel.
Also drang es auch durch den des Mannes, der die
Endstation der Straßenbahn verließ und raschen Schrittes
eine nur mäßig beleuchtete Straße entlangging. Der Weg,
den er einschlug, war dunkel und schlecht gehalten,
obwohl zu beiden Seiten Häuser standen.
Am letzten Haus verhielt er den raschen Schritt, öffnete
eine Pforte, überquerte den kurzen Fliesengang und stand
nun vor dem Haus, in dem er wohnte.
Durch die Fenster im Parterre schimmerte Licht mit
traulichem Schein. Dahinter klang gedämpft Musik,
flatterte Lachen zu dem Mann hin, der mit den fröhlichen
Menschen nichts gemein hatte; denn seine Wohnung
befand sich in der ersten Etage, und hinter seinen Fenstern
war es dunkel. Ein Zeichen, daß er nicht erwartet wurde.
Mit einem Gefühl der Enttäuschung schloß er die Haustür
auf, knipste Licht an, durchquerte den kleinen Flur und
stieg die Treppe hinauf.
Rosalia Skörsen – konnte man auf dem Emailleschild
lesen, das an der Etagentür angebracht war. Darunter
hielten zwei Reißstifte eine Visitenkarte mit dem Namen:
Dr. Ralf Skörsen.
Der Mann schloß nun auch diese Tür auf und stand jetzt in
einem Korridor, in dem gerade nur eine Flurgarderobe
Platz fand, an die er sorglich den nassen Mantel und den
Hut hängte, bevor er nachsah, ob Mutter und Schwester zu
dieser frühen Abendstunde etwa schon zu Bett gegangen
wären.
Doch das Schlafzimmer war leer.
Ein resignierter Zug grub sich um den hartgeschnittenen
Mund des jungen Arztes, als er in die Küche ging, die kalt
und unaufgeräumt war. Wahrscheinlich waren die beiden
gleich nach dem Mittagessen fortgegangen, da Geschirr und
Kochtöpfe ungesäubert herumstanden.
Aber dafür hatte der nachsichtige Sohn und Bruder eine
Entschuldigung. Nun ja, wenn man ohne Hilfe den
Haushalt versehen mußte, konnte so etwas schon mal
vorkommen.
Also setzte er den Wasserkessel auf den elektrischen Herd
und suchte
sich etwas zu essen. Was er fand, war Brot, Butter, Wurst,
aß einige belegte Schnitten and verließ die Küche erst, als
sie sauber war.
Im Wohnzimmer war es auch nicht gerade mollig, aber
immerhin wärmer als in der Küche.
Ohne Licht zu machen, ließ er sich in einen Sessel sinken,
steckte seine zweitletzte Zigarette in Brand und dachte an
die Vergangenheit.
Die war sorglos gewesen, bis der Vater, der die Stellung
eines Regierungsrates einnahm, eine Frau kennenlernte, die
den alternden Mann von seinem bisher korrekten
Lebensweg abirren ließ. Und da solche Frauen ja immer
viel Geld kosten, ließ der blindverliebte Narr sich zu etwas
hinreißen, was er im normalen Zustand nie getan hatte:
Er begann zu spielen.
Und wie das bei einem so gefährlichen Wagnis wohl öfter
vorkommt, war ihm zuerst Fortuna hold, bis – ja, bis sie
sich hohnlachend von ihm abwandte. Er verlor an einem
Abend eine Summe, die ihm nicht zur Verfügung stand.
Nun wandte sich noch jemand von ihm ab: die Frau, die
ihn ruinierte. Als nichts mehr von dem närrischen
Liebhaber zu holen war, ließ sie ihn kaltlächelnd im Stich
und ging mit einem anderen auf und davon.
Und der verlassene Mann? Er konnte mit Schiller sagen: Ich
habe ein gewagtes Spiel gespielt.
Aber da die meisten Menschen die Schuld nie bei sich,
sondern bei anderen zu suchen pflegen, geschah es auch
hier.
Schuld hatte seine Frau, jawohl! Wäre sie mit ihm in
Urlaub gefahren, so hätte er zu einer Liebelei gar keine
Gelegenheit gehabt!
Aber nein, sie wollte, wie gewöhnlich in den Ferien, an die
See, die er so gar nicht vertrug. Jedesmal holte er sich in der
rauhen Luft eine Erkältung, die er dann nur schwer wieder
loswurde.
Außerdem wollte er auch einmal in ein mondänes Bad. Als
seine Frau ihm klarmachte, daß ihr zurückgelegtes
Urlaubsgeld für Extravaganzen nicht ausreichte, erklärte er
kurz:
»Anka geben wir zu Bekannten aufs Land, wo sie den
Ferienaufenthalt umsonst hat, und Ralf braucht uns nicht
ewig am Rock zu hängen. Der soll zusehen, daß er uns
nach dem teuren Studium endlich von der Tasche kommt,
indem er sich um einen Posten als Assistenzarzt bemüht.«
»Du bist ja der reinste Rabenvater!« geriet die Gattin nun
auch in Rage. Es fielen harte, böse Worte, da sie beide
hitzige, rechthaberische Naturen waren. Also gab keiner
nach, und man fuhr getrennt in Urlaub: die Mutter mit
ihren Kindern an die See, der Vater in ein mondänes Bad.
Und damit begann ein Elend, das der Mann zwar allein
verursachte, dessen Ursache er jedoch seiner Frau zuschob.
Rücksichtslos eröffnete er ihr, als man wieder zu Hause
war, was sich ereignet hatte. Der Krach war da, eine bis
dahin ganz gute Ehe bekam einen gehörigen Knacks, aber
die Spielschulden blieben.
In seiner Bedrängnis ging der Mann in Gedanken sämtliche
Freunde und Bekannten durch – bis ihm ein Studienfreund
einfiel, der ihm als Studenten in seiner Gutmütigkeit so
manches liebe Mal aus der Patsche geholfen hatte,
vielleicht würde er es jetzt wieder tun.
Und er tat es. Allerdings nicht um Skörsens willen – mit
dem hatte dieser Mann von hohen Ehrbegriffen kein
Erbarmen, sondern weil ihn die Familie dauerte, die dieser
skrupellose Spieler und Ehebrecher mit sich in Schande
und Not ziehen würde, falls er die Spielschulden nicht
zahlte.
Also bekam er das Geld, aber erst, nachdem es notariell
gesichert war; denn sein Gläubiger, Privatdozent Dr.
Ingwart, war ein vorsichtiger Mensch.
Skörsen mußte sich verpflichten, monatlich die Schuld,
einschließlich Zinsen, mit einer Summe abzudecken, die
die Hälfte seines Gehalts ausmachte. Nach seinem Ableben
hatte die Witwe die Zahlungen fortzusetzen, nach deren
Ableben wiederum ihre Kinder; und so fort, bis die Schuld
abgedeckt war, was immerhin zehn Jahre dauern würde.
Sollte jedoch Ingwart inzwischen sterben, so erhielten seine
Erben die Raten.
Nun, auf das alles ging der bedrängte Mann ohne weiteres
ein. Was er damit seiner Familie antat, war ihm
gleichgültig. Hauptsache, er konnte die Spielschulden
bezahlen und somit in den Augen seiner Mitmenschen der
»ehrenwerte« Bürger bleiben – was ihm tatsächlich auch
gelang, selbst über seinen Tod hinaus, der schon einige
Monate danach eintrat.
Herzschlag, hieß es allgemein. Doch sein Sohn, der ja Arzt
war, wußte es besser. Er wußte, der Vater hatte eine zu
starke Dosis Schlaftabletten genommen. Diesem jedoch lag
gar nichts daran, das Geschehnis an die große Glocke zu
hängen.
Als die Skörsens dann in die Stadt zogen, wo der junge Arzt
seinen Posten hatte, verlor man die angesehene Familie aus
den Augen.
So weit war der Grübler in seinen unerquicklichen
Gedanken gekommen, als die Tür geöffnet wurde.
Das Licht wurde angeknipst, und die Mutter riß überrascht
die Augen auf.
»Junge, du bist schon hier? Ich habe dich frühestens
morgen erwartet. Aber warum sitzt du im Dunkeln?«
»Weil das die Augen schont«, gab er scherzend zurück,
während er die Mutter mit einem Handkuß begrüßte und
die Wange seiner Schwester tätschelte.
»Einen Bummel gemacht, Ankalein?«
»Er war zauberhaft«, schwärmte das Mädchen. »Zuerst
waren wir im Cafe, dann im Kino. Da spielte ein Mann,
einfach gottvoll! Nicht wahr, Mama?«
»Naja«, dämpfte diese den Enthusiasmus der
Siebzehnjährigen, weil sie augenblicklich dafür kein
Interesse hatte.
»Du bliebst lange fort, mein Sohn. Gab es etwas
Besonderes zu regeln?«
»Zuerst eine Hochzeit – und dann ein Begräbnis.«
»Junge, redest du etwa irre?«
»Keineswegs, mein Verstand ist klar wie eh und je.«
»Dann drück dich deutlicher aus.«
»Ich bin ja gerade dabei. Du weißt doch, daß Frau Ingwart
gleich nach dem Tod des Gatten vom Schlag gerührt
wurde?«
»Allerdings. Aber was hat das mit dir zu tun? Warum rief
sie dich überhaupt außer der Zeit zu sich?«
»Sie rief mich zu sich, weil sie ihr Ende nahen fühlte. Da sie
ihre Tochter nicht mutterseelenallein zurücklassen wollte,
bat sie mich, sich ihrer anzunehmen.«
»Mein Gott, Ralf, du kannst dich als junger Mann doch
unmöglich mit einem Mädchen belasten!« fiel die Mutter
ihm erregt ins Wort.
»Siehst du, Mama, der Ansicht war ich auch. Also habe ich
der Einfachheit halber dieses Mädchen geheiratet.«
Entsetzt starrte die Mutter ihren Sohn an, als zweifelte sie
an seinem Verstand.
»Ralf, warst du überhaupt zurechnungsfähig? Oder hat dich
die Frau dazu gezwungen – angesichts unserer Schulden?«
»Die wir bisher vertragsmäßig abzahlten«, unterbrach er die
Erregte gelassen. »Also kann von Zwang nicht die Rede sein
– in keiner Beziehung. Was ich tat, geschah aus freiem
Willen.«
»Damit willst du doch nicht sagen, daß du deine Frau aus
Liebe geheiratet hast?«
»Genau das.«
»Warum hast du nie darüber gesprochen? Ich meine, so
eine Liebe kommt doch nicht von heute auf morgen.«
»Das wohl kaum. Aber ich wurde mir dieses Gefühls erst
recht bewußt, als ich mir vorstellte, daß dieses junge und
dazu noch schöne Menschenkind nach der Mutter Tod
schutzlos allen Fährnissen des Lebens ausgesetzt sein
würde. Es davor zu behüten und zu bewahren, dieser
Wunsch stieg fordernd in mir auf. Und wie könnte ich das
wohl besser und einfacher tun als bei meiner Frau?«
»Das schon«, räumte die Mutter widerwillig ein. »Aber
mußte diese Heirat denn so überstürzt werden?«
»Ja. Denn die Tage Frau Ingwarts waren gezählt. Sie sollte
mit dem Bewußtsein dahingehen, ihr Kind wohlbehütet
zurückzulassen.«
»Wann habt ihr geheiratet?«
»Vor einer Woche.«
»Aber das ist doch gar nicht möglich. Du warst doch nur
zwölf Tage von zu Hause fort, und schon die Frist des
Aufgebots allein…«
»Man hat eine Ausnahme gemacht«, warf er kurz ein.
»Jedenfalls sind Lenore und ich vorschriftsmäßig getraut,
standesamtlich wie auch kirchlich.«
»Nur deine Mutter wußte nichts davon«, bemerkte sie spitz.
Er zog ihre Hand an die Lippen und sah sie bittend an.
»Mama, du bist doch eine vernünftige Frau, nicht wahr?
Also wirst du auch das verstehen, was gewiß nicht aus
böser Absicht geschah, sondern vielmehr der Not
gehorchend.«
»Mein Gott, wie gräßlich!« schauerte Anka zusammen, die
dem allen mit atemloser Spannung gelauscht hatte. »So
heiraten – nein – das könnte ich nicht.«
»Davor möge dich auch Gott bewahren, mein Kleines«,
sprach Ralf mit einem warmen Blick auf die um zwölf Jahre
jüngere Schwester. »Auch für Leonore hoffte ich inbrünstig,
daß ihre Mutter, an der sie mit ganzer Kindesliebe hing,
wenigstens noch einige Wochen nach der so traurigen
Hochzeit gelebt hätte.«
»Wie verhielt sie sich nach dem Tod der Mutter?«
»Bewundernswert tapfer, Anka. Ein Trost für sie war, daß
ihre Mutschi, wie sie die Mutter manchmal zärtlich nannte,
mit dem Bewußtsein dahingegangen war, ihr so sehr
geliebtes Kind in guter Hut zurückzulassen. – Leonore ist
überhaupt ein tapferes Menschenkind, welches das, was
ihm das Schicksal in so jungen Jahren an Schwerem
auferlegte, ohne Klage trug wie eine Selbstverständlichkeit.
Denn schon mit siebzehn Jahren verlor sie den Vater und
mußte danach die Mutter pflegen, die durch einen
Schlaganfall an den Lehnstuhl gefesselt wurde. Das
bedeutete für das blutjunge Mädchen nicht nur ein
Entsagen aller Vergnügungen, sondern auch ein gutgerüttelt
Maß an Arbeit. Denn Leonore mußte ja nicht nur die
Mutter pflegen, sondern auch den Haushalt versehen, weil
sie mit den Hausmädchen so böse Erfahrungen machte,
daß sie lieber auf eine solche Hilfe verzichtete. Und die
Stundenfrauen waren unzuverlässig. Sie kamen, wann sie
wollten, oder blieben ganz aus. Also rechnete ihre Arbeit
kaum, alles blieb an der jungen Leonore hängen. – Wieviel
besser geht es dir dagegen, Schwesterchen! Unbekümmert
lebst du dahin.«
» Na aber, halte dem Kind das nur ja vor!« warf die Mutter
pikiert ein. »Ich meine, daß gerade Anka auf vieles
verzichten muß bei dem armseligen Leben, das zu führen
wir gezwungen sind.«
»Aber gewiß nicht durch meine Schuld, Mama. Außerdem
ist die Bezeichnung armselig hier fehl am Platze. Denn wir
haben ein behagliches Zuhause, sind immer noch satt
geworden, gehen, wenn auch nicht gerade elegant, so doch
nett gekleidet, können uns sogar noch manch ein
Vergnügen leisten; somit gehören wir noch lange nicht zu
den Armseligen, meine liebe Mama.«
»Junge, sei doch nicht immer gleich so schroff!« lenkte die
Frau ein, als sie merkte, daß sie zu weit gegangen war.
»Bisher kamen wir gan? gut aus – aber wenn du nun
deinen eigenen Hausstand gründen willst…«
»Daran ist vorläufig nicht zu denken. Leonore wird
zunächst einmal bei uns wohnen. Oder bist du damit nicht
einverstanden, Mama?«
Nein, das war sie ganz und gar nicht. Doch was blieb ihr
anderes übrig, als so zu tun, als ob das der Fall wäre? Denn
erstens gehörte die Wohnung dem Sohn, weil er die Miete
zahlte, zweitens trug er noch einen Teil zum gemeinsamen
Lebensunterhalt bei, was beides aufhören würde, wenn er
seinen eigenen Hausstand gründete.
Doch halt, seine Frau bekam ja jetzt laut Vertrag die
monatlichen Raten. Wenn sie ihnen die erlassen würde?
Man mußte mal vorsichtig sondieren, wie Ralf darüber
dachte.
Doch bevor sie es tun konnte, kam Anka ihr bereits zuvor,
die aller dings die Worte nicht wog, sondern ungeniert
herausplatzte:
»Jetzt sind wir wenigstens unsere Schulden los! Somit hat
deine Heirat schon etwas für sich.«
»Halt mal!« unterbrach der Bruder sie scharf. »Deine
Annahme ist falsch. Wie kommst du überhaupt darauf?«
»Och, nur so.« Sie schob maulend die Unterlippe vor.
»Weil es doch unter Eheleuten heißt: Was mein ist, ist auch
dein.«
»Das stimmt, soweit es sich auf die Eheleute selbst bezieht,
aber nicht mehr für deren Anhang.«
»Aber Ralf, wie kannst du unser Dummchen nur so
ernstnehmen!« fiel die Mutter hastig ein, um dieses
verfängliche Gespräch im Keim zu ersticken. »So eine
Siebzehnjährige spricht doch nur gedankenlos nach, was
sie hört oder liest. Laß uns lieber beraten, wie wir uns am
besten einrichten. Wir haben doch nur die drei Zimmer.«
»Und eins davon gehört mir. Darin wird Leonore mit mir
wohnen.«
»Wenn ihr euch damit begnügen wollt, mir soll es recht
sein. Doch wie wird es mit der Beköstigung?«
»Da bleibt alles beim alten«, entgegnete er immer noch
sehr reserviert, was die Mutter zur weiteren Vorsicht
mahnte.
Und als der Sohn damit beschäftigt war, seine letzte
Zigarette in Brand zu stecken, warf sie der Tochter einen
verstohlenen Blick zu, der zu warnen schien: Hüte ja deine
Zunge!
»Na, schön«, meinte sie, als Ralf das Feuerzeug in die
Tasche schob und sich im Sessel zurücklehnte. »Ich fürchte
nur, daß unsere einfache Kost deiner – Frau nicht zusagen
wird. Denn die Ingwarts hatten doch Geld und werden
daher gut gelebt haben.«
»Du scheinst die Vermögenslage zu überschätzen, meine
liebe Mama«, enttäuschte er sie immer mehr. »Außer der
Summe, die wir an Leonore zu zahlen verpflichtet sind,
besitzt sie nicht viel an barem Geld. Ist ja auch egal.
Schließlich bin ich dazu da, um für meine Frau zu sorgen.
Da ich als Ehemann in eine höhere Gehaltsstufe komme,
bin ich in der Lage, für Leonore einen angemessenen
Pensionspreis zu zahlen, damit du und Anka in keiner
Weise übervorteilt werden. Noch etwas?«
O ja, sehr viel! – hätte sie ihm entgegenschreien mögen.
Aber was würde sie damit erreichen, wenn sie jetzt die
Beherrschung verlor? Doch nur, daß er für sich und diese
Lenore eine andere Wohnung suchte.
Und was wurde dann aus ihr und Anka – ohne den
Zuschuß des Sohnes? Was ihnen dann blieb, damit
konnten sie wohl leben, aber wirklich nur mehr schlecht
als recht.
So sah nun die Hoffnung aus, welche diese egoistische
Mutter gerade auf den Sohn gesetzt hatte. Bis vor wenigen
Stunden noch hatte sie sich in dem schönen Wahn gewiegt,
daß er Nita Krofft heiraten würde, die sich so eifrig um ihn
bemühte. Zwar war sie nicht mehr ganz jung und auch
nicht hübsch zu nennen, hatte außerdem bereits zwei Ehen
hinter sich – aber sie hatte Geld, von dem sie Ralf eine gute
Praxis einrichten wollte, wie sie neulich durchblicken ließ.
Und nun verpfuschte der dumme Junge sich seine Zukunft,
indem er Hals über Kopf ein Mädchen heiratete, das ihm
zugelistet wurde!
Ja, wenn er die Konsequenzen seines törichten Handelns
allein tragen müßte – aber leider waren sie und Anka auch
davon betroffen. Statt in die schmucke Villa Nitas
einzuziehen, mußten sie nun weiter in der primitiven
Wohnung leben – dazu noch mit dieser – dieser…
Oh, hätte Frau Rosalia nur so gekonnt, wie sie wollte!
Verstohlen sah sie zu Ralf hin, der gedankenvoll dasaß.
Was er dachte, konnte die Mutter nicht ergründen, weil er
ihr wesensfremd war.
»Wenn du mit der jungen Frau zusammen in deinem
Zimmer wohnen willst, wirst du wohl noch verschiedene
Sachen anschaffen müssen.«
»Wie bitte, Mama?« fuhr er aus seinen Gedanken auf, so
daß sie das Gesagte wiederholen mußte. Dann erst kam die
Antwort.
»Nicht erforderlich. Lenore besitzt von ihren Eltern Wohn-
und Schlafzimmer mit allem Drum und Dran.«
»Gott, wie altmodisch!« rümpfte Anka das Naschen. »Ich
würde mich als junge Frau bestimmt nicht mit dem alten
Kram begnügen.«
»Mein liebes Kind, dieser Kram, wie du sehr geschmacklos
zu sagen beliebst, sind Stilmöbel von hohem Wert«,
versetzte der Bruder gelassen. »Du müßtest schon einen
wohlhabenden Mann heiraten, damit er dir so wertvolle
Stücke kaufen könnte. Ich bin ordentlich stolz auf die
Zimmer, die Lenore auf meinen Wunsch behielt, während
sie die übrige Einrichtung verkaufte. Bis wir uns eine eigene
Wohnung leisten können, haben wir das, was in mein
Zimmer nicht hineingeht, einem Spediteur zur
Aufbewahrung übergeben.«
»Wann wirst du dir die Wohnung denn leisten können?«
warf die Mutter lauernd ein.
»Wahrscheinlich erst, wenn ich Oberarzt geworden bin.
Und nun wollen wir schlafen gehen.«
Das Schlafzimmer, das Mutter und Tochter teilten, war
bedeutend behaglicher ausgestattet. Denn die Möbel
stammten noch aus der »Glanzzeit« der Familie Skörsen,
ebenso die Sachen im Wohnzimmer. Die Einrichtung des
Herrenzimmers, des Salons und des reizenden
Jungmädchenstübchens hatte man vor dem Umzug
verkauft, weil man, seitdem man die Schulden abzahlen
mußte, sich keine Sechszimmerwohnung mehr leisten
konnte. Nicht einmal für eine Dreizimmerwohnung
inmitten der Stadt reichte es; denn bekanntlich sind in der
Großstadt die Mieten hoch.
Also zog man dahin, wo sich die Füchse gute Nacht sagten,
wie es Anka maulend bezeichnete. Das Haus befand sich
nämlich so weit außerhalb der Stadt, daß man eine
Viertelstunde benötigte, um die Endstation der
Straßenbahn zu erreichen.
Übrigens war das, was ihr zur Verfügung stand, gar nicht so
armselig, wie die gute Frau Rosalia es mit Vorliebe betonte,
weil der Sohn sein Gehalt bis auf ein Taschengeld hergab.
Wie die Mutter nun damit wirtschaftete, darum kümmerte
er sich nicht. Also war ihm auch nicht bekannt, daß sie
durchaus nicht sparte, soweit es sie und Anka betraf. Nur
wenn der Sohn ein Kleidungsstück brauchte, machte sie
daraus fast eine Staatsaktion.
Wie die meisten Mütter, so hatte auch diese Mutter mit
ihren Kindern große Pläne.
Ach, wie hatte Frau Rosalia in Zukunftsplänen geschwelgt,
die der rücksichtslose Sohn nun heute so brutal
durchkreuzte! Und als Anka gar noch darüber zu
räsonieren begann, hielt die ohnehin schon gereizte Frau
sich verzweifelt die Ohren zu.
»Hör bloß auf, sonst werde ich noch verrückt! Ohrfeigen
könnte ich den Narren für seine Eselei, eine so gute Partie
auszuschlagen und sich mit einer Frau zu belasten, die er
ernähren muß! Das hätte er bei Nita wahrlich nicht nötig
gehabt. Mit einem Schlage wären wir aus der Misere
herausgekommen. Statt dessen wird uns jetzt noch eine
Person mehr aufgehalst. Ja, wenn wir dadurch wenigstens
unsere Schulden loswürden – aber du hörtest ja, daß wir
nach wie vor die monatlichen Zahlungen leisten müssen.
Eine direkt hirnverbrannte Idee, die nur so ein
lebensuntüchtiger Mensch wie Ralf haben kann.«
»Warum hast du ihm das alles nicht gesagt?« fragte Anka.
Einige Male holte die Mutter tief Luft.
»Weil ich mir das nicht leisten kann. Du kennst Ralf doch
und mußt daher wissen, daß er aus allem die
Konsequenzen zieht. Also würde er es in diesem Fall tun,
indem er sich und seine Frau woanders einmietete. Damit
fiele seine Unterstützung fort, die immerhin so viel
ausmacht, daß wir hier frei wohnen und von seinem
Pensionsgeld noch ganz nett etwas für uns erübrigen
können. Wären wir jedoch auf das angewiesen, was uns
nach Abzahlung der Raten bliebe, würdest du wohl auf
manches verzichten müssen, meine liebe Anka.«
»Das wäre ja gräßlich!«
»Finde ich auch. Daher wählen wir das kleinere Übel und
nehmen Ralfs Frau auf, zumal er einen angemessenen
Pensionspreis für sie zahlen wird.«
»Mama, warum müssen wir bloß so armselig sein!«
»Weil dein gewissenloser Vater uns dahin gebracht hat«,
kam es verbissen zurück. »Das weißt du doch genausogut
wie ich.«
»Nur, daß ich mehr darunter leiden muß als du«, maulte
die verzogene Tochter. »Denn du bist alt…«
»Wer ist hier alt, wie?« warf die Mutter scharf ein, die es
nun einmal nicht vertragen konnte, an ihr Alter gemahnt
zu werden. »Ich befinde mich immer noch in den besten
Jahren – bin gerade knapp fünfzig.«
Was Anka gern mit Hinzufügen von sechs Jahren
richtiggestellt hätte.
Eben war diese bemüht, ihr Korsett abzulegen, das die
Kleine bei sich mit »Panzer« zu bezeichnen pflegte und das
alles einzwängen mußte, was gar zu üppig geworden war.
Daß die Mama in einem solchen Ding überhaupt atmen
konnte, war der Tochter ein Rätsel, die bei ihrer Magerkeit
einen Panzer wahrlich nicht benötigte – Gott sei Dank! wie
sie dachte.
Mit dieser Frohlockung schlüpfte sie unter die
Daunendecke.
Am nächsten Tag trafen die von Ralf erwarteten Möbel ein
und konnten aufgestellt werden, nachdem die
Möbelräumer die Sachen, die bisher in Ralfs Zimmer
gestanden hatten, auf den Boden gebracht hatten. Mit
einem guten Trinkgeld zogen sie ab, was Frau Rosalia mit
einem süßsauren Lächeln zur Kenntnis nahm, während
Anka ungeniert herausplatzte:
»Ralf, kannst du aber nobel sein! Wenn doch auch ich
einmal etwas davon zu spüren bekäme! Doch da hältst du
dein Portemonnaie verschlossen, wie die Muschel ihre
Perle. Aber weißt du, die Möbel sind doch ganz nett.«
»Beruhigt mich ungemein«, kam es trocken zurück.
»Nämlich, daß der Kram Gnade vor deinen Augen findet.«
Von der Frau Mama wurden die Sachen von vornherein
verächtlich abgetan, was bei ihrer Voreingenommenheit gar
kein Wunder war. Was konnte schließlich von »diesen
Leuten« Gutes kommen? Sie hütete sich jedoch, dem Sohn
gegenüber derartiges lautwerden zu lassen, enthielt sich
überhaupt jeder Kritik, während Anka diese ohne jede
Hemmung kundtat.
Jedes Stück, das der Bruder den Koffern und Kisten
entnahm, wurde von ihr bewundert oder kritisiert. Doch
als das Zimmer komplett eingerichtet war, mußte sie
zugeben, daß ihr eigenes dagegen geradezu schäbig wirkte.
Und was die Tochter aussprach, dachte die Mutter. Und
nun kam zu der Abneigung, die sie ohnehin für die
Schwiegertochter hegte, auch noch der Neid – eine Wurzel
vielen Übels.
Hätte Ralf seine Mutter besser gekannt, so hätte er seine
junge, unerfahrene Frau gewiß nicht hierher gebracht. Aber
leider kannte er sie nur so, wie sie sich gab, nicht so, – wie
sie wirklich war.
Anka hingegen kannte die Mutter, da diese es nicht für
nötig hielt, sich in Gegenwart der Tochter Zwang
aufzuerlegen – weil sie ja von dieser nicht abhing. Und
wäre Anka nicht so oberflächlich und dickfellig gewesen,
dann hätte sie die unangenehme Art der Mutter wohl kaum
auf die Dauer ertragen. So jedoch nahm sie diese
gleichmütig hin, zumal sie von Frau Rosalia verhätschelt
und dem Bruder gegenüber stets in Schutz genommen
wurde, wenn er an der Schwester etwas auszusetzen fand.
So auch jetzt, als Anka voller Neugierde die Kleider aus
dem großen Koffer zerrte, den Ralf geöffnet hatte.
»Laß die Hände weg, Anka!« gebot er unwillig – und schon
schnappte die Frau Mama ein.
»Komm, mein Kind, wir sind hier unerwünscht.«
Damit zog sie die Tochter energisch mit sich und schloß
die Tür mit Nachdruck, was Ralf nur recht war. Nun konnte
er wenigstens in Ruhe die Sachen in Schrank und
Schubladen tun, ohne daß die neugierige Kleine alles
durcheinanderbrachte.
Nachdem alles fein säuberlich verstaut war, nahm der
junge Arzt in einem Sessel Platz und steckte eine Zigarette
in Brand. Dabei ließ er die Blicke durch das Zimmer
schweifen.
Der große dicke Teppich, der so lange im Wohnzimmer der
Ingwarts gelegen, hatte jetzt seinen Platz in dem
kombinierten Wohn- und Schlafgemach, ihm Wärme und
Traulichkeit verleihend. Auf den Bett glänzten die
Daunendecken in ihrem stickereibesetzten Überschlag.
Dieselbe Stickerei wiesen auch die Kissen auf, denen man
die Daunenfüllung geradezu ansah. Die eine Querwand
nahm der wuchtige Garderobenschrank ein. Die dazu
passende Kommode, die Frisiertoilette, der Hocker davor
und zwei Stühle machten die Schlafzimmereinrichtung
komplett.
Die anderen Möbelstücke waren dem Wohnzimmer
entnommen: zwei weiche, bequeme Sessel, die in einer
Ecke standen, dazwischen der reichgeschnitzte Klubtisch.
Zwischen den beiden Fenstern stand schräggestellt der
Schreibtisch. Dann gab es noch einen Schrank, oben mit
Glas, unten mit Schüben. Das alles zusammen bot einen
höchst erfreulichen Anblick.
Nur die billigen Gardinen wollten zu dieser Möblierung
durchaus nicht passen, ebenso die Lampe nicht. Aber
dieses beides stammte eben aus der bescheidenen
Einrichtung des ebenso bescheidenen Mannes, der es noch
gar nicht fassen konnte, daß er dieses wunderbare Zimmer
nur bewohnen sollte, zusammen mit der Frau, die ihm so
herrliche Dinge in die Ehe brachte. Und wenn er noch alles
das dazurechnete, was bei einem Spediteur untergestellt
war, so hatte er eigentlich eine ganz gute Partie gemacht.
Das sagte er auch der Mutter, als er später deren
Wohnzimmer betrat, wohin sie sich mit Anka
zurückgezogen hatte. Und obwohl sie anderer Ansicht war,
enthielt sie sich jeder Äußerung, während Anka ihr
vorlautes Zünglein wieder einmal nicht zügeln konnte.
»Bist du bescheiden!« rümpfte sie das Stupsnäschen. »Du
hättest eine ganz andere Partie machen können.«
»Anka!« griff die Mutter mahnend ein. »Was redest du nur
wieder für einen Unsinn! Übrigens hast du uns noch gar
nicht verraten, wo deine Frau sich zur Zeit befindet, mein
lieber Junge. Etwa noch in der alten Wohnung?«
»Nein, Mama, die ist seit vier Tagen geräumt. Bevor ich
herkam, brachte ich Lenore in einem Fremdenheim unter.
Ich wollte sie erst abholen, wenn das Zimmer hergerichtet
ist. Das sind wir ihr ja wohl schuldig, deren* Vater so viel
für uns tat.«
»Wann kommt sie her?« fragte sie jetzt lauernd.
»Morgen. Entschuldige bitte, daß ich aufbreche, aber ich
muß mich beeilen, damit ich den Zug erreiche.«
»Du holst sie ab?«
»Natürlich.«
Nachdem er gegangen war, konnte die erboste Mutter nun
endlich der Tochter gegenüber ihrem Ärger Luft machen.
»So viel Aufhebens ist dieses dumme Ding doch nun
wirklich nicht wert. Als ob sie nicht ohne ihn herfinden
könnte. Diese unnötige Reise ist doch nichts weiter als
Geldvergeudung.«
Nach zwei Stunden Fahrt hatte Dr. Skörsen sein Ziel
erreicht und wurde auf dem Bahnsteig von seiner jungen
Frau empfangen, die sich an seinen Arm hängte und die
Wange an seinem Ärmel rieb gleich einem zärtlichen
Kätzchen.
»Wie bin ich froh, daß du da bist«, bekannte sie leise, und
neckend kam die Frage:
»Hast du etwa angenommen, daß ich dich sitzenlassen
könnte – nach einwöchiger Ehe?«
»Ist alles schon dagewesen.«
»Aber nicht bei mir, du Dummes«, lachte er, ihren Arm an
sich drückend und mit ihr dem Ausgang des Bahnhofs
zustrebend.
Ein schönes Paar, wie es unser Herrgott nicht oft
zusammenbringt. Er hochgewachsen, blondhaarig,
blauäugig, mit rassigem Kopf und scharfgeschnittenem
Gesicht; sie mittelgroß, grazil, mit goldbraunem Gelock
und feinem Gesicht.
Jetzt allerdings lag darüber ein trüber Schein, wie es bei
Augen der Fall ist, die viele Tränen vergossen haben – was
Lenore nach der Mutter Tod reichlich tat.
Drei Jahre hindurch hatte nun das blutjunge
Menschenkind die Kranke mit rührender Sorgfalt gepflegt.
Hatte mit Selbstverständlichkeit auf die Vergnügungen
verzichtet, die ihm die Krankenpflege unmöglich machte.
Hatte allabendlich den Höchsten angefleht, ihm das
Liebste, was es hatte, noch viele Jahre zu erhalten.
Allein gegen den Tod ist nun einmal kein Kraut gewachsen.
Diese Erkenntnis traf die mittlerweile zwanzig Jahre alt
gewordene Lenore so schwer, daß sie wohl am Leben
verzweifelt wäre, wenn nicht in ihrer seelischen Not ein
Retter erschienen wäre – und dieser Retter hieß Ralf
Skörsen, für den sie schon vom ersten Sehen an eine
Schwärmerei hegte. Dieses erste Sehen geschah am Grab
ihres Vaters und wurde dann zum Wiedersehen, viermal im
Jahr. Denn pünktlich alle drei Monate stellte Dr. Skörsen
sich ein, um nach der Gelähmten zu sehen. Die wenigen
Stunden, die er dann verweilte, wurden für Mutter und
Tochter zu Feierstunden.
Als der Arzt sich wieder einmal verabschiedet hatte und
Lenore ihm nachschaute, fragte die Mutter behutsam:
»Nicht wahr, mein Kind, du hast Ralf lieb?«
»Aber, Mutti, wie kommst du denn darauf?« fragte das
Mädchen zurück, während ihm heiße Röte ins Gesicht
stieg, ganz langsam, hinauf bis zum goldenen Gelock. »Ich
mag ihn natürlich schrecklich gern, freue mich, wenn er
kommt, und bin…«
»Traurig, wenn er geht«, vollendete die Ältere lächelnd den
stockenden Satz. »Daraus brauchst du doch deiner Mutter
gegenüber kein Geheimnis zu machen.«
»Wäre mir auch gar nicht eingefallen, wenn ich das
Geheimnis nur selbst gewußt hätte«, kam es kläglich
zurück. »Da mußtest du mich erst mit der Nase
daraufstoßen. Ach, Mutschi, nun liegt mein Herz vor dir
ganz nackt und bloß.«
Dieses Gespräch brachte Frau Ingwart eine Gewißheit, die
ihr sorgendes Mutterherz ruhiger werden ließ.
Und als sie einige Zeit darauf ihr Ende nahen fühlte, rief sie
Dr. Skörsen zu sich und konnte mit dem beruhigenden
Gefühl die Augen schließen, ihr junges, unerfahrenes Kind
nicht nur in guter Hut zurückzulassen, sondern auch am
Herzen des Mannes, den es liebte.
Am nächsten Vormittag fuhr das junge Paar der Stadt zu,
die Lenore fortan Heimat sein sollte.
Das Gehetze der Menschen, überhaupt das ganze nervöse
Treiben, das nun einmal auf den Bahnhöfen herrscht,
wirkte beängstigend auf sie. Kein Wunder, da sie drei Jahre
lang kaum aus den vier Wänden des Krankenzimmers
herausgekommen war.
Endlich war es soweit, daß sie sich in die Ecke des Abteils
setzen konnte, wo sie sich richtig geborgen fühlte. Mit
einem Neidgefühl sah sie auf den Gatten, dem der Trubel
so gar nichts ausmachte – genausowenig wie früher ihr, als
sie noch mit den Eltern weit gereist war. Wie unbekümmert
war sie damals gewesen, eben wie ein behütetes Kind, das
die Eltern für sich sorgen ließ, ihnen folgte in
unbegrenztem Vertrauen.
Und weshalb hatte sie dieses Vertrauen nicht auch zu dem
Gatten? Er war doch lieb zu ihr – und dennoch hatte sie
ihm gegenüber Hemmungen. Das kam wohl daher, daß sie
ihn zu wenig kannte.
Dennoch liebte sie ihn – oder nicht? Wenn sie doch die
Mutter fragen könnte, ob das, was sie für Ralf empfand,
wirklich die echte Liebe war, die, wie es in der Bibel heißt,
nimmer aufhört! Aber ihre geliebte Mutschi lag ja auf dem
Friedhof – nie mehr würde sie ihre gütige Stimme hören,
nie mehr ihr liebes Lächeln sehen – nie mehr.
Nicht weinen, nur nicht weinen! sprach das junge
Menschenkind mit dem wunden Herzen sich selbst gut zu.
Sie schrak aus ihren schmerzlichen Gedanken auf, als jetzt
die Abteiltür zugeworfen wurde. Gleich darauf setzte sich
der Zug in Bewegung.
Und nun kamen Lenore die Tränen.
Ein wehes Schluchzen klang auf, und erschrocken sah
Lenore zu dem Mann hin, der ihr gegenübersaß,
wahrscheinlich hatte er nichts gehört, sonst hätte er doch
wenigstens von der Zeitung aufgeschaut, in die er so vertieft
war, daß er nichts anderes sah.
Ein bitteres Gefühl stieg in Lenore auf, als sie sich fester in
die Ecke drückte. Dabei stieß sie mit der Fußspitze an das
Bein des Gatten, so daß er erschrocken hochfuhr.
»Verzeihung, Ralf, das war ungeschickt von mir«, sagte sie
leise unter seinem forschenden Blick.
»Du weinst, Lenore?«
»Nur so ein bißchen. Entschuldige, bitte.«
»Vor allen Dingen entschuldige du, daß ich mich so gar
nicht um dich kümmerte. Aber der Artikel im Fachblatt – es
ist so interessant…«
»Dann lies nur ruhig weiter«, unterbrach sie ihn freundlich.
Gleich darauf betrat ein Herr das Abteil, welches das junge
Paar bisher allein gehabt hatte. Der Hinzugekommene
machte den Eindruck, als ob er sich selbst nicht leiden
könnte.
»Machen Sie das Fenster auf!« gebot er barsch, während er
sich bemühte, den Koffer ins Netz zu heben, wobei er mit
besonderem Ungeschick vorging. »Es ist ja hier eine Luft
zum Ersticken.«
»Bedauere sehr«, entgegnete Ralf kühl. »Sie sehen doch, wie
die Tropfen gegen die Scheiben schlagen.«
»Was ist schon dabei?«
»Daß es bei geöffnetem Fenster hereinregnen würde… Ja,
sind Sie denn ganz von Gott verlassen?«
Mit diesem empörten Ruf sprang Ralf auf und griff nach
dem schweren Koffer, der unweigerlich auf Lenore gefallen
wäre, hätte der Gatte nicht so schnell gehandelt.
Anstatt sich nun zu entschuldigen, knurrte der
Ungeschickte wie ein böser Kettenhund. Bedankte sich
auch nicht, als der Arzt den Koffer ins Netz hob, sondern
drückte sich in die dritte Ecke des Abteils und spielte mit
sich selbst böse.
Doch nur Sekunden war ihm das Spezialvergnügen
gegönnt. Es kam nämlich eine junge Frau dazu. Man sah
ihr auf den ersten Blick an, daß sie sich nicht so ohne
weiteres die Butter vom Brot nehmen ließ. Auf dem einen
Arm trug sie ein Baby, das aus Leibeskräften schrie, der
andere Arm schleppte eine vollgestopfte Tasche, aus der es
überquoll.
»Was wollen Sie denn mit dem Schreihals hier?« fuhr der
Choleriker sie an, worauf sie ihn zuerst verdutzt ansah und
dann schnippisch bemerkte:
»Fahren natürlich, wie Sie ja auch.«
»Aber nicht in diesem Abteil.«
»Warum denn nicht?«
»Weil ich Kindergebrüll nicht vertragen kann.«
»Dann müssen Sie zu Hause bleiben. Denn auch
Schreihälse haben das Recht, mit der Bahn zu fahren. –
Danke, mein Herr!« Das galt dem Arzt, der ihr die schwere
Tasche abnahm. »Bitte, nicht ins Netz tun, da ist nämlich
so allerlei darin, was der Junge braucht. Stellen Sie also das
Ding auf den Sitz!«
»Das ist verboten!« belferte der Mann in der Ecke
dazwischen. »Der Sitz muß für die Reisenden freibleiben.«
»Wenn noch welche hinzukommen sollten, werde ich mich
schon danach richten.«
»Moment mal«, fiel Ralf hastig ein, indem er aufsprang und
zu dem Herrn trat, der mit schmerzverzogenem Gesicht
dasaß und die Hand rechtsseitig auf die Magengegend
drückte. Der Mund war verkrampft, und auf der Stirn
perlten Schweißtropfen.
»Ich bin Arzt, mein Herr, und möchte Ihnen helfen. Ist es
die Galle?«
»Ja. Bitte, eine Spritze.«
»Die habe ich leider nicht bei mir. Ist es denn so arg?«
»Es fängt erst an, aber bald wird’s unerträglich werden, das
kenne ich aus Erfahrung. Wenn ich wenigstens Wasser
hätte, um eine Tablette nehmen zu können.«
»Das hole ich Ihnen rasch aus dem Speisewagen.«
»Damit kann auch ich aushelfen«, meldete sich die junge
Frau, die angesichts des leidenden Mannes ihre
Rachegelüste vergessen hatte. »Ich habe nämlich immer auf
Reisen eine Flasche Wasser bei mir, für alle Fälle!«
Schon hatte Lenore das Baby wieder auf dem Schoß, das
jetzt jedoch friedlich war, weil es satt war und schlief.
Flinke Hände kramten in der Tasche und förderten nicht
nur eine Flasche Wasser, sondern auch einen Becher zutage.
Indes hatte der Arzt sich von dem Herrn die Tabletten
zeigen lassen, die dieser der Rocktasche entnahm.
»Das Mittel ist gut, wenn auch stark. Vom Arzt verordnet?«
»Na, was denn sonst? Ohne Rezept kriegt man die Dinger
ja nicht.«
»Ein Glück. Und nun geben Sie mal her, meine kleine
Gnädige. Sie sammeln ja direkt feurige Kohlen auf das
Haupt Ihres Widersachers.«
»Wenn er Schmerzen hat, muß man doch schon«, lachte sie
Ralf an, daß die Zähne nur so blitzten.
Sie war überhaupt eine hübsche Frau – rosig, mollig,
blitzsauber. Ein rasches Mundwerk, aber ein gutes Herz.
Nachdem der Leidende die Tablette geschluckt hatte,
knurrte er den jungen Mann an:
»Danke, Sie sollten sich um einen so unleidlichen Kerl gar
nicht bemühen.«
»Dafür bin ich Arzt«, kam es ruhig zurück. »Haben Sie noch
weit zu fahren?«
»Auf der nächsten Station steige ich aus. Ich will dort ins
Krankenhaus zur Beobachtung. Da sollen die Ärzte eine
Menge verstehen. Hauptsächlich der eine Arzt. Skörsen
heißt er wohl.«
In Ralfs Augen blitzte es auf, allein er gab sich nicht zu
erkennen. Auch nicht, als die junge Frau eifrig sagte:
»Da kann sich der Herr mir anschließen. Ich will nämlich
auch ins Krankenhaus, wo dieser Dr. Skörsen arbeitet.«
»Nanu, was wollen Sie denn da?« fragte Ralf verwundert.
»Sie schauen doch aus wie das blühende Leben.«
»Ich will ja auch nicht als Patientin ins Krankenhaus,
sondern anders. Mein Mann ist nämlich dort Portier. Er
heißt Ewald Druschke. Gott, was bin ich froh, daß der alte
Portier gestorben ist und Ewald nicht nur seinen Posten,
sondern auch seine Wohnung bekommen hat! Ach herrje,
da fahren wir ja schon in den Bahnhof ein, und hier liegt
alles herum wie in Sodom und Gomorrha.«
Schon stopfte sie alles kunterbunt in die Tasche, bis diese
seitwärts wie ein Ballon anschwoll und oben heraushängen
ließ, was beim besten Willen nicht mehr Platz hatte.
Ihr Kind schien die Aufgeregte vergessen zu haben, und
hätte Lenore sie nicht daran erinnert, wäre die Mutter wohl
ohne es ausgestiegen.
»Richtig, der Junge!« klatschte sie mit der flachen Hand vor
die Stirn. »Na, so was! Komm her, mein Süßer, was hast du
bloß für eine Rabenmutter! – Da hält der Zug ja schon.
Kommen Sie mit, Sie kranker Herr?«
»Gott soll mich bewahren!« hob dieser entsetzt die Hände.
Da wandte sie sich achselzuckend ab, während er sich
bemühte, seinen Koffer aus dem Netz zu ziehen.
»Lassen Sie mich das machen«, schob Ralf ihn zur Seite.
»Der Koffer ist für Sie doch viel zu schwer. Konnten Sie ihn
denn nicht aufgeben?«
»Nein«, kam es verdrießlich zurück. »Es wird so viel
gestohlen.«
»Gehen Sie schon voran, ich folge Ihnen mit dem Gepäck.«
»Danke, das trage ich selber.«
Damit riß er dem Arzt förmlich den Koffer aus der Hand
und hastete so schnell davon, als wäre ihm das Angebot
des jungen Mannes nicht geheuer.
Ralf wandte sich nun Lenore zu, die dem allem mit
gemischten Gefühlen gefolgt war.
»Ich muß hinter dem Mann her, damit er nicht
zusammenklappt«, erklärte er hastig. »Muß ihn ins
Krankenhaus bringen.«
»Aber du hast doch heute und morgen noch Urlaub«, wagte
die Gattin einzuwenden.
»Wenn ein hilfloser Kranker den Arzt braucht, gibt es für
diesen keinen Urlaub. Geh in den Wartesaal und warte da
auf mich.«
Fort war er, und Lenore kam sich vor wie ein Kind, das die
Mutter im Dunkeln allein gelassen hatte.
Obwohl das große Gepäck mit den Möbeln zusammen
vorausgeschickt worden war, hatte Lenore doch manches
an Handgepäck bei sich.
Die Decke über die Schulter geworfen, die Handtasche
unter einen, den Schirm unter den anderen Arm geklemmt,
in jeder Hand einen Koffer, so wankte Lenore den D-
Zuggang entlang. Sie hatte alle Mühe, nicht die Balance zu
verlieren, als sie über das Trittbrett auf den Bahnsteig
kletterte.
Doch kaum stand sie unten, als sie hinter sich eine
bekannte Stimme hörte:
»Herrje, Fräulein, Sie sind ja der reinste Packesel! Los,
Ewald, nimm der Ärmsten was ab, sie hat im Zug so lieb
unseren Jungen gehalten.«
»Na, dann geben Sie mal her, Fräuleinchen!« Ein Mann
stand jetzt vor Lenore – groß und breit wie ein Haus. »Was
Sie Küken da mühsam schleppen, nimmt unsereins auf den
kleinen Finger.«
»Aber Sie haben doch das Kind auf dem Arm und in der
anderen Hand die Tasche.«
»Die kann meine Frau tragen, außerdem noch Ihre Decke.
Den größeren Koffer geben Sie mir, ich gehe bestimmt
nicht mit ihm durch.«
»Nehme ich auch gar nicht an.«
»Dann sind wir uns ja einig.«
Kurz und bündig nahm er ihr den Koffer aus der Hand und
reichte die Decke seiner Frau, die lachend sagte:
»Ja, ja, mein Ewald fackelt nicht lange.«
Danach setzte man sich einträchtig in Bewegung und
strebte dem Bahnhofsgebäude zu.
Auf einmal sagte der Mann überrascht:
»Nanu, da geht doch unser Doktor durch die Sperre mit
einem Herrn am Arm, der ganz wacklige Beine hat!«
»Was, das ist euer Doktor?« unterbrach seine Frau ihn
perplex. »Du, da kann ich dir erklären, was es mit dem
Herrn für eine Bewandtnis hat.«
Sie erzählte nun von dem Intermezzo im Zug, und Ewald
nickte stolz.
»Ganz unser Dr. Skörsen. Wo es etwas zu helfen gibt, da
packt er zu. Und gar noch bei einem Kranken. Den liefert
er bestimmt im Krankenhaus ab, obwohl er das gar nicht
nötig hat, weil er in Urlaub ist. Heiratsurlaub hat er.«
»Uije, Ewald, ich glaube, daß ich mich im Abteil nicht
gerade fein benommen habe«, bekannte seine Ehehälfte
kläglich. »Aber wie konnte ich auch wissen, daß es euer
Doktor war? Der wird einen guten Begriff von mir gekriegt
haben.«
»Glaub ich auch«, schmunzelte der Hüne. »Na, laß man,
Fridchen. Der Mann ist als Arzt an weibliche Beredtsamkeit
gewöhnt.«
Indes hatten auch sie die Sperre passiert, und nun meldete
sich Lenore, die bisher schweigend mit dem Ehepaar
gegangen war.
»Darf ich meinen Koffer haben, Herr Druschke? Ich muß
nämlich in den Wartesaal, wo ich abgeholt werde.«
»Das beruhigt mich«, tat Fridchen großartig. »Sie sehen mir
so aus, als ob Sie sehr schüchtern wären. Denk dir bloß,
Ewald, kein Wort hat sie im Zug gesprochen!«
Lenore sah ihnen amüsiert nach, bis sie ihrem Blick
entschwanden. Dann ging sie in den Wartesaal, der so
überfüllt war, daß sie in einer Ecke gerade noch einen Tisch
erwischte, der nur zwei Personen Platz bot. Hoffentlich
blieb der andere Stuhl unbesetzt; denn ihr lag gar nicht
daran, Gesellschaft zu bekommen. Ihr genügte die
vollkommen, die sie im Abteil gehabt hatte.
Still weinte sie in sich hinein und schrak zusammen, als
eine angenehme Stimme neben ihr sprach:
»Ist dieser Stuhl noch frei?«
»Ja, bitte.«
»Danke sehr«, ließ die Dame mittleren Alters sich nieder.
»Habe ich denn doch noch den letzten Platz erwischt!«
Sie zog ein Päckchen mit belegten Broten aus der großen
Tasche und biß gleich darauf so herzhaft in eine Schnitte,
daß Lenore tatsächlich das Wasser im Mund zusammenlief.
Sie hatte nämlich seit dem Frühstück nichts mehr gegessen,
und jetzt war es bereits über die Kaffeezeit hinaus.
Verlegen senkte sie die Augen, als die Dame sie so
forschend ansah, als wollte sie ihre Seele ergründen; doch
der Blick hatte etwas Gütiges, Mütterliches.
Lenore hatte keine Ahnung, wie sehnsüchtig der Blick war,
mit dem sie die Dame musterte. Sie ahnte auch nicht, daß
diese sofort ihre verweinten Augen bemerkt hatte.
Sollte dieses junge, schöne Geschöpf etwa…?
»Gertraude, kombiniere nicht!« hörte sie so deutlich des
Gatten Stimme, als ob er neben ihr wäre.
Da lachte sie ein gutes, herzliches Lachen, das Lenore
entzückte, denn so hatte ihre Mutter einst gelacht.
Und schon kamen wieder die Tränen, deren die junge Frau
sich schämte. Um so mehr noch, als die Dame nun
behutsam fragte:
»Mein liebes Fräulein, fühlen Sie sich nicht wohl?«
»Doch, gewiß«, kam die Antwort verwirrt. »Ich habe wohl
nur Hunger.«
»Muß der aber groß sein«, bemerkte ihr Gegenüber trocken.
»Nun, dem ist rasch abzuhelfen. Darf ich Ihnen eine
Schnitte anbieten?«
»O ja, danke, sehr gern nehme ich sie. Ich habe nämlich
seit dem Frühstück nichts mehr gegessen.«
»Dann allerdings. Bitte, sich zu bedienen!«
Damit schob sie Lenore die Brote zu, und als diese danach
griff, bemerkte sie an der Rechten den schmalen Reif,
dessen Gold so neu und unbenutzt funkelte.
Das gab der guten Gertraude noch mehr zu kombinieren.
Doch sie ließ sich nichts anmerken, sondern sagte lachend:
»Wie ich sehe, sind Sie verheiratet. Entschuldigen Sie die
falsche Bezeichnung, aber Sie sehen wirklich noch so ganz
und gar fräuleinhaft aus.«
»Ich bin ja auch erst eine Woche verheiratet.«
»Und dann weinen Sie schon? Kindchen, wo gibt es denn
so was! Scheint ein böser Barbar zu sein, der Herr
Gemahl!«
Da mußte Lenore denn doch lachen, wenngleich ihr
wahrlich nicht danach zumute war.
In dem Moment trat der junge Arzt an den Tisch und sagte
zufrieden:
»Du bist ja so vergnügt, Nore, das beruhigt mich ungemein.
Ich hatte nämlich schon Gewissensbisse, daß ich dich so
lange allein ließ, aber es ging wirklich nicht anders. Es freut
mich, daß du Gesellschaft hast.«
»Die sich gleich auf die Strümpfe machen wird, weil der
Zug nicht wartet«, warf die Fremde ein, indem sie die Brote
in die Tasche tat und aufstand.
»Leben Sie wohl, kleine Frau. Lachen Sie viel, dann sehen
Sie nämlich bezaubernd aus.«
Lenore verschmitzt zuwinkend, nahm sie die Tasche auf
und setzte sich in Bewegung.
Ralf fragte unangenehm berührt:
»Kennst du die Dame, weil sie so vertraut tat?«
»Nein, ich kenne sie nicht. Sie setzte sich zu mir an den
Tisch und gab mir eine Schnitte ab, weil ich sehr hungrig
war. Schließlich habe ich seit dem Frühstück nichts mehr
gegessen.«
»Aber es gibt doch hier zu essen.«
»Wenn man Glück hat. Und das hatte ich nicht, weil die
Bedienung nicht zu erwischen war.«
»Es ist heute auch ganz besonders voll hier. Es tut mir leid,
Nore.«
»Ach, laß doch, jetzt bist du ja da. Es wird wohl nicht das
letzte Mal sein, daß ich auf dich warten muß, dafür bist du
Arzt. Wie wurde es übrigens mit dem kranken Herrn?«
»Wir erreichten gerade so knapp das Krankenhaus, als die
Schmerzen richtig losbrachen. Allerdings mußte ich eine
Taxe nehmen und sie auch bezahlen, da Herr Gompa sich
weigerte, es zu tun. Wenn ich so großspurig wäre, eine Taxe
zu nehmen, dann müßte ich sie auch bezahlen, meinte er.«
»Wenn er noch so couragiert sein konnte, werden die
Schmerzen nicht arg gewesen sein«, meinte Lenore.
Als sie am Portal des Bahnhofsgebäudes anlangten, regnete
es so arg, daß Ralf sagte:
»Da hilft nun nichts, ich muß eine Taxe nehmen, obgleich
ich heute bereits eine bezahlte. Aber bis wir zur
Straßenbahn kommen und dann wieder von der
Endstation bis nach Hause, wären wir naß wie gebadete
Katzen.«
Also winkte er eine Taxe herbei und stieg zuerst ein, was
ihm erst bewußt wurde, als Lenore hinterherkam.
Dunkel schoß ihm das Blut ins Gesicht, doch er
entschuldigte sich erst, nachdem der Wagen sich in
Bewegung gesetzt hatte. Da legte er den Arm um die grazile
Gestalt und zog sie dicht zu sich heran.
»Verzeih, Norelein«, murmelte er beschämt. »Ich benehme
mich heute einfach unglaublich. Wird dir nicht angst,
einen solchen Banausen geheiratet zu haben?«
»Ich glaube schon«, lachte sie ihn so lieblich an, daß er sich
beherrschen mußte, sie nicht ganz toll und heiß zu küssen,
wozu er durchaus berechtigt war. Aber der Chauffeur störte
ihn.
Schön ist das jetzt, dachte Lenore beglückt, sich fester in
den Arm des Gatten schmiegend.
Aber bald werde ich in meinem neuen Zuhause sein. Was
wird mich dort erwarten? Ich habe Angst.
Daß diese Angst nicht unbegründet war, merkte die junge
Frau sofort, als sie den Anverwandten gegenüberstand.
Nein, sie gefielen ihr nicht. Nicht die üppige Frau mit der
eingepferchten Figur, der zu jugendlichen Kleidung, dem
geschminkten Gesicht, den kühlen Augen. Auch nicht das
junge Mädchen, das zwar hübsch aussah, aber in seiner
ganzen Art etwas Dreistes hatte. Wenn es nach Lenore
gegangen, wäre sie dieser Stätte sofort wieder entflohen.
Aber wo sollte sie hin? Sie hatte ja kein anderes Zuhause
mehr und war außerdem an den Mann, der neben ihr
stand, durch das Ehegesetz gebunden. Hätte er nur geahnt,
was in ihr vorging!
Doch er ahnte es nicht. Er war außerordentlich aufgeräumt,
als er Mutter und Schwester seine junge Frau zuführte.
»Da habt ihr sie, meine Lenore. Gefällt sie euch?«
»Gewiß«, entgegnete die Frau Mama mit scheinheiliger
Freundlichkeit, die Lenore herausfühlte. »Sie ist reizend,
aber noch sehr jung.«
»Immerhin zwanzig«, gab Ralf launig zurück. »Also schon
fast hinter den Öhrchen trocken. Und nun tischt auf, wir
haben nämlich seit dem Frühstück fasten müssen. Das kam
so…«
Kurz schilderte er, was sich begeben hatte, und die Frau
Mama nickte stolzgeschwellt dazu.
»Das warst wieder einmal du, mein Sohn. Man nennt dich
ja nicht umsonst einen vorzüglichen, hilfsbereiten Arzt.
Nur noch ein wenig Geduld, ich richte sofort das Essen.«
»Während du auftischst, führe ich meine Lenore in ihr
neues Heim.«
Was denn auch geschah. Nur daß nicht die junge Frau
zuerst über die Schwelle schritt, sondern Anka, die sich mit
der Frechheit ihres Naturells einfach vordrängte, was
Lenore befremdete, den Gatten jedoch nur amüsierte.
»Natürlich muß unser Fräulein Naseweis immer voran sein.
Zur Begrüßung Blumen hier hineinzustellen, das fiel dir
wohl nicht ein, du Irrwisch, wie?«
»Hätte ich schon getan, aber leider – die Moneten«,
versetzte sie keck. »Du hältst mich verflixt kurz.«
»Ein Schelm gibt mehr, als er hat«, kam es launig zurück.
»Nun troll dich, mein Mädchen, und hilf der Mama.«
»Ooch, die wird auch ohne mich fertig. Ihr Jungvermählten
seid mir doch zu interessant.«
»Anka!«
Dieser Warnungsruf mußte der kecken Kleinen wohl
geläufig sein, denn sie zog sich zwar maulend, aber
immerhin zurück.
»Sie ist doch noch ein ganzes Kind«, sprach der
nachsichtige Bruder ihr schmunzelnd nach. »Aber wohl
gerade deshalb so harmlos von Sinn und Gemüt. Und nun
komm, mein Liebes, laß dich in deinem Heim herzlich
willkommen heißen.«
Er zog sie in die Arme, küßte sie zärtlich und sagte dann
stolz:
»Ist es nicht schön bei uns? Bis auf die Lampe und die
Gardinen, die passen zu der feudalen Einrichtung
allerdings nicht.«
»Da hast du recht«, bestätigte Lenore, nachdem sie sich mit
prüfendem Blick umgeschaut hatte. »Aber soviel ich weiß,
ist beides mit den anderen Sachen mitgeschickt worden.«
»Ist es auch«, unterbrach er sie verlegen. »Aber weißt du, da
wagte ich mich nicht heran. In solchen Dingen bin ich
reichlich ungeschickt.«
»Dafür bist du ja Arzt und kein Handwerker. Laß nur, ich
bringe das schon in Ordnung.«
»Kannst du denn das?«
»Ich glaube schon. Die Ständerlampe, die zwischen den
Sesseln fehlt, kaufen wir uns.«
»Kind, bedenke…«
»Sie kostet Geld«, vollendete sie lachend den stockenden
Satz. »Aber so viel haben wir schon noch.«
»Wir – Nore?«
»Natürlich, was denn sonst? Oder gedenkst du etwa streng
getrennte Kasse zwischen uns einzuführen? Das wäre ja…«
In dem Moment steckte Anka den Wuschelkopf durch den
Türspalt und sagte mit einem Lächeln, das Lenore
irgendwie abstieß:
»Störe ich das zärtliche Tete-á-tet sehr empfindlich? Aber es
geht nicht anders. Das Essen steht auf dem Tisch, und
Mama kann fuchsteufelswild werden…«
»Anka!«
»Herrje, ja. Zank nicht, sondern komm!«
Wenig später betraten sie den Raum, der als Wohn- und
Eßzimmer zugleich diente. Die Einrichtung war gut, aber
trotzdem vermißte Lenore darin das, was man Traulichkeit
nennt.
Und dann das Essen. Gewiß, es war als Mittagsmahl
bestimmt gewesen und mußte gewännt werden,
nichtsdestoweniger hätte es nicht lauwarm und vertrocknet
zu sein brauchen; das konnte Lenore gar wohl beurteilen,
die vom Kochen etwas verstand.
Natürlich enthielt sie sich jeder Äußerung. Sie machte
schweigend ihre Beobachtungen.
Zum Beispiel fand sie es empörend, daß die Mutter der
Tochter die besten Bissen vorlegte. Wohl war Anka schmal
und blaß – bleichsüchtig, wie die Ärzte es früher zu
bezeichnen pflegten. Da war es schon verständlich, daß die
Mutter die heranwachsende Tochter mit Sorgfalt pflegte.
Aber darüber durfte sie nicht den Sohn vergessen, und das
war hier der Fall.
Kurz und gut: Lenore war im Bilde.
Und daß dieses Bild nicht falsch war, sollte die Zukunft
lehren.
Eine Zukunft, in der das Herz der blutjungen Frau durch
alle Höhen und Tiefen des Lebens geschleift werden sollte.
War der Gatte mit ihr allein in seiner Liebe und
Zärtlichkeit, glaubte sie wenigstens am Rande des siebenten
Himmels zu weilen; doch war er fort, sorgten seine
Angehörigen schon dafür, daß Lenore mit beiden Beinen in
der realen Welt stand, wo Gehässigkeit und Heuchelei sie
umgaben.
Das heißt, in der ersten Zeit umgaben sie Lenore mit einer
süßlichen Liebenswürdigkeit, und zwar aus Berechnung.
Nahmen sie doch an, daß diese »einfältige Person« eben
einfältig genug sein würde, ihnen Geld und andere Dinge
zu geben, auf die sie ein Auge geworfen hatten: Frau
Rosalia auf Wäsche, die ja reichlich vorhanden war, Anka
auf Kleider und Schmuck.
Nun, Lenore war alles andere als einfältig. Sie war im
Gegenteil so klug, daß sie sofort begriff, was man da von
ihr mit honigsüßer Miene erpressen wollte.
Diese Anstrengung hätten die beiden nicht nötig gehabt,
wenn sie der jungen Frau zumindest sympathisch gewesen
wären. Dann hätte Lenore das getan, was sie ursprünglich
vorgehabt, nämlich mit vollen Händen gegeben von dem,
was sie selbst besaß.
Lenore war ein warmherziger, hilfsbereiter Mensch, aber
deshalb noch lange nicht so sanftmütig, daß sie nach
einem Backenstreich auch noch geduldig die andere Wange
hinhielt. Da hielt sie sich eher an eine andere Stelle der
Bibel: Auge um Auge, Zahn um Zahn.
Zumal sich bei der ständigen Abwehrstellung, zu der sie ja
geradezu herausgefordert wurde, der Trotz zu regen
begann, von dem sie nicht wenig besaß. Und wenn der
Mensch trotzig ist, dann ist er eben unzugänglich – in jeder
Beziehung.
Also knöpfte Lenore nicht nur ihr Portemonnaie fest zu,
sondern verschloß auch Schübe und Schränke, nachdem
sich Anka dieses und jenes einfach anzueignen versucht
hatte. Im anderen Fall hätte Lenore gern mit der
Schwägerin geteilt, was sie im Überfluß besaß – freiwillig,
aber nicht gezwungen.
Was sie dann allerdings büßen mußte. Denn als Frau
Rosalia zu ihrer grenzenlosen Enttäuschung merkte, wie
»geizig« die Schwiegertochter war, ließ sie die honigsüße
Maske fallen und zeigte das, was sich darunter verbarg.
Zuerst ging sie dabei vorsichtig vor, weil sie nicht ganz
sicher war, ob Lenore bei Ralf nicht petzte. Das tat lieber
sie, und zwar nach Art des Maulwurfs, der zwar wühlt, aber
dabei unsichtbar bleibt.
Leider war Ralf gegen die Einflüsterungen seiner Mutter
nicht gefeit, die allerdings auch sehr geschickt angebracht
wurden. Er war eben von der Ehrbarkeit der Seinen so
überzeugt, daß er ihnen Intrigen einfach nicht zutraute.
Dann schon eher seiner Frau, obwohl sie über seine
Angehörigen nie Klage führte. Aber sie benahm sich auch
ihm gegenüber so, daß sich nach und nach eine
Entfremdung einstellte, die den Mann verstimmte. Und als
er gar an einem Tag, da er unerwartet nach Hause kam, die
Tür verschlossen fand, stellte er, nachdem Lenore ihn auf
sein energisches Klopfen eingelassen harte, sie unwillig zur
Rede.
»Lenore, was soll das? Hast du denn gar keine Ahnung, wie
sehr du die Mama damit kränkst, wenn du dich nicht nur
von ihr absonderst, sondern gar die Tür verschließt? Das
hat meine Mutter doch wahrlich nicht um dich verdient.«
Darauf erwiderte sie nichts, sah ihn nur mit Augen an, in
denen der Trotz funkelte.
Ihre Haltung drückte so viel Aufsässigkeit aus, daß der
sonst so ruhige Mann die Beherrschung verlor, sie bei den
Schultern packte und schüttelte.
»Du – laß mich los!« sprach sie so dumpf und schwer, daß
er von ihr abließ.
Hastig fuhr er sich über Kopf und Stirn, in seinen Augen
brannte der Schmerz.
Das hätte Lenore wohl stutzig gemacht, wenn sie nicht so
verbittert gewesen wäre. Und Verbitterung nimmt dem
Menschen genauso die Logik und den klaren Verstand wie
Verblendung.
Wenn Lenore jetzt gesprochen, sich alles vom Herzen
geredet hätte, was ihr junges Leben kaum erträglich
machte, vielleicht hätte sie dann dem Gatten die Binde von
den Augen gerissen, und er hätte Mutter und Schwester so
erkannt, wie sie waren – und nicht so, wie sie sich ihm
gegenüber gaben. Aber sie preßte den Mund zusammen
und schwieg verbissen.
Da wandte er sich brüsk ab und ging hinaus. Ein tiefer Riß
war da – nach sechswöchiger Ehe.
Da Lenore gewohnt war, sich im Haushalt zu betätigen, so
erschien es ihr selbstverständlich, es gleich von Anfang an
auch hier zu tun, was wiederum die Schwiegermutter für
selbstverständlich hielt. Aber nur bei der Schwiegertochter,
versteht sich. Die Tochter durfte sich schon erlauben, faul
zu sein, sie wurde von der Mutter sogar noch bedient.
Nun ja, das arme Kind war ja so schmächtig, während
Lenore robust war – bei der Größe von 1,68 und dem
Gewicht von nicht viel mehr als einem Zentner! – Die
sollte nur ruhig arbeiten und sich das Essen verdienen.
Denn bei den paar Mark, die Ralf für seine Frau an Pension
zahlte, konnte man bei diesen Zeiten unmöglich einen
Menschen mit solchem Riesenappetit durchfüttern.
So wurden Lenore nicht nur die Bissen in den Mund
gezählt, ihr wurden so nach und nach auch sämtliche
Hausarbeiten zugeschoben, was ihr nur recht war.
Sie nahm es gelassen hin, als die Frau ausblieb, die zu
Anfang jede Woche einmal zu dem üblichen Hausputz
erschienen war. Sie kochte auch und kaufte ein, als Frau
Rosalia sich plötzlich so leidend fühlte, so schwindlig und
schwach, daß sie sich kaum noch auf die Straße wagte.
Nur wenn es ins Kino ging, ins Cafe oder zu sonstigen
Vergnügungen, dann hatte die »Leidende« ihren »guten
Tag«, wo sie schon wagen durfte, auszugehen, zumal in
Begleitung des Töchterchens.
Von dem allen hatte Ralf keine Ahnung. Ihm genügte es,
daß alles so reibungslos verlief.
Er war ja auch so wenig zu Hause. Ging morgens fort und
erschien zum Mittagessen, sofern im Dienst nichts
Besonderes vorlag.
Kurz vor Weihnachten bekam man ihn zu Hause kaum
noch zu sehen, weil eine heftige Grippeepidemie ausbrach
und so die Ärzte alle Hände voll zu tun hatten. Außerdem
mußte Ralf noch den Chefarzt vertreten, da dieser sich auf
einem Ärztekongreß befand.
Und gerade in der Zeit wurde auch noch Anka krank. In
heller Aufregung rief Frau Rosalia den Sohn mitten aus der
Arbeit herbei, der die Schwester gründlich untersuchte,
jedoch nichts Besonderes feststellen konnte.
Vorsichtshalber verordnete er Bettruhe, die ja nie schaden
konnte.
Und nun hatte die bedauernswerte Lenore auch noch die
Schwägerin zu pflegen, die bei dem Schnupfenfieber und
anderen leichten Beschwerden ein Lamento machte, in das
die vernarrte Mutter natürlich einstimmte.
Ihr armes Kind, was mußte es doch leiden. Und dabei
konnte man es noch nicht einmal so richtig pflegen, weil
das Geld dazu fehlte. Ja, wenn man nicht diese unseligen
Schulden abzahlen müßte.
Das bekam Lenore jeden Tag zu hören, sie stellte sich
jedoch taub. Bis dann die Schwiegermutter recht
nachdrücklich wurde.
»Auf die nächsten Monatsraten mußt du verzichten«,
erklärte sie kurz und bündig. »Ich muß sie dazu
verwenden, um mein krankes Kind zu pflegen und dafür zu
sorgen, daß es während der rauhen Jahreszeit in den Süden
kommt. Hast du etwas dagegen?«
»Durchaus nicht«, entgegnete Lenore gelassen.
»Dann verzichtest du?«
»Darüber kann ich nicht entscheiden, weil ich ja noch nicht
mündig bin und Ralf als Ehemann mein Vormund ist.
Sprich mit ihm.«
Der raffinierten Frau zunickend, die jetzt den Eindruck
machte, als ob sie in nächster Minute vor Wut platzen
müßte, verließ sie das Zimmer und lachte sich ins
Fäustchen. Denn wie schon gesagt, war sie durchaus kein
Engel, sondern ein Mensch, unter denen kaum einer von
Schadenfreude frei ist.
Und die empfand Lenore, weil sie genau wußte, daß ihre
Peinigerin nicht wagen würde, dem Sohn das zu
unterbreiten, was sie mit der Schwiegertochter allein
abmachen wollte. Denn so schwach Ralf der Mutter
gegenüber sonst auch war – wenn es um das Geld seiner
Frau ging, wurde er auch ihr gegenüber unzugänglich.
Aber versuchen wollte Rosalia es trotzdem noch einmal.
Und als der Sohn gegen Abend erschien, um nach der
Schwester zu sehen, fand er die Mutter in Tränen vor.
»Ja, was hast du denn, Mama?« fragte er erschrocken. »Geht
es Anka nicht gut?«
»O Gott, mein Sohn, ich habe so große Angst um unseren
Liebling!« klagte sie mit dem Blick einer Mater dolorosa,
was bei der üppigen, alternden Frau nicht erschütternd,
sondern lächerlich wirkte und daher den Sohn peinlich
berührte.
Schweigend wandte er sich ab und ging ins Schlafzimmer,
wo Anka geruhsam im Bett lag, Konfekt naschte und las.
Hätte sie allerdings gewußt, daß der Bruder in der Nähe
war, so hätte sie wohl beides unterlassen und sich
wehleidig gestellt. Aber er trat überraschend ein, bevor die
Mutter ihr noch einen Wink geben konnte.
»Ja, sag mal, Mama, warum jagst du mir so einen Schreck
ein?« wandte er sich ungehalten der Frau zu, der gar nicht
wohl in ihrer Haut war. »Anka geht es doch recht gut, will
ich meinen. Sie ist sogar fieberfrei«, stellte er fest, nachdem
er den Puls gefühlt hatte. »Der Schnupfen ist auch fort.«
»Ja – aber die Lunge.«
»Was ist denn damit?«
»Sie ist bestimmt nicht in Ordnung. Ankalein klagte heute
wiederholt über Stiche…«
Schon zog der Arzt das Stethoskop aus der Tasche, horchte
und klopfte den Oberkörper der Schwester gründlich ab
und sagte kurz:
»Die Organe sind in Ordnung. Ich finde, Anka hat sich im
Bett großartig erholt. Kein Wunder bei der guten Pflege.«
»Wie willst du das wissen?« fragte die Frau Mama spitz,
worauf er zuerst auf die Pfundpackung Pralinen zeigte, die
fast leer war, dann auf die Leckerbissen und den stärkenden
Wein, die auf dem Nachttisch standen.
Ja, da konnte Frau Rosalia die gute Pflege wohl nicht mehr
ableugnen, die sie der Tochter zuteil werden ließ.
Und als Ralf gar noch sagte: »Anka kann morgen für eine
Stunde aufstehen«, da schwammen der guten Frau
sozusagen alle Felle weg, die sie so schön gerben wollte.
»Jetzt werde ich Lenore noch rasch guten Tag sagen.«
»Sie ist nicht da«, hielt die Mutter ihn zurück. »Ist
unterwegs, um Einkäufe zu machen.«
»Hoffentlich hat sie sich warm angezogen. Es weht draußen
ein eisiger Schneesturm.«
Kaum daß er außer Hörweite war, fragte Anka gespannt:
»Was hast du erreicht, Mama? Wird etwas aus unserer
geplanten Reise?«
»Er gab mir gar keine Gelegenheit, mit ihm darüber zu
sprechen«, kam es verbissen zurück. »Bevor ich davon
anfangen konnte, ging er zu dir – und wie er dich dann
fand – ich meine, da ist wohl jeder Kommentar
überflüssig.«
»Wie konnte ich auch ahnen, daß er so außer der Zeit
kommen würde!« maulte Anka. »Du hättest mich wirklich
verständigen können.«
»Das war unmöglich. Aber laß nur, ich spreche schon noch
mit ihm.«
Indes kämpfte Ralf sich durch den Schneesturm zur
Haltestelle der Straßenbahn, wo ihm auf halbem Weg
Lenore entgegenkam. Sie schleppte in einer Hand eine
Tasche, die so schwer war, daß sie die Schulter des zarten
Geschöpfs hinunterzog, in der anderen eine große
Milchkanne.
»Mein Gott, Nore!« sagte er betroffen. »Du schleppst dich
ja schief. Dazu noch in dem eisigen Wetter. Konntest du
den Einkauf nicht auf morgen verschieben?«
»Nein«, entgegnete sie kurz. »Wir haben eine Kranke im
Haus, die ihre Pflege haben muß. Geh nur, Ralf, damit du
nicht die Bahn versäumst und dann zwanzig Minuten auf
die nächste warten mußt. Ich kämpfe mich schon allein
durch.«
»Wie meinst du das, Lenore?«
»Genauso, wie es gesagt ist.«
Ihm mit einem Lächeln zunickend, das ihn ungemein
reizte, ging sie weiter und ließ ihn wie einen dummen
Jungen stehen.
Da hatte er nun geglaubt, in Lenore eine Frau zu
bekommen mit einem offenen, unkomplizierten Wesen –
und nun mußte er daran herumrätseln wie bei einer
Sphinx!
Also hatte seine Mutter schon recht, wenn sie sich über die
Unzugänglichkeit und Launenhaftigkeit ihrer
Schwiegertochter beklagte. Es war eine Zumutung von ihm
gewesen, ihr so ein launenhaftes Geschöpf ins Haus zu
bringen.
Er mußte Lenore mal gehörig ins Gewissen reden, und
wenn das nicht half, war er gezwungen, einen eigenen
Hausstand zu gründen, was seinen Etat über Gebühr
belasten würde.
Als Lenore müde und durchgefroren von dem Einkauf
zurückkehrte, wurde sie von der Schwiegermutter höchst
ungnädig empfangen.
»Warum kommst du so spät?«
»Weil ich nicht früher fertig wurde.«
»Also, Lenore, ich verbitte mir den patzigen Ton! Steh hier
nicht so faul herum, sieh zu, daß Anka ihr Abendessen
bekommt. Hast du alles bekommen, was sie dir auftrug?«
»Nein. Gänseleberpastete sowie Räucheraal waren
ausverkauft.«
»Ich sage ja, daß du immer viel zu spät zum Einkaufen
gehst«, lamentierte die liebe Schwiegermutter. »Aber das ist
so deine Art, herumzulungern und alles auf die lange Bank
zu schieben. Gerade auf die Sachen hat das arme Kind sich
so gefreut und muß nun durch deine Nachlässigkeit darauf
verzichten. Das rührt dich wohl gar nicht, du undankbares
Ding? Der ewige Ärger mit dir wird mich noch ins frühe
Grab bringen.«
Damit entschwand sie, und auch Lenore ging in ihr
Zimmer, um den Pelz abzulegen, der naß geworden war,
ebenso Schuhe und Strümpfe. Sie zu wechseln, dazu kam
sie aber nicht, weil Frau Rosalia ungeduldig nach ihr rief.
Und da Lenore ohnehin schon erkältet war, gaben die
nassen Sachen ihr den Rest.
Als sie nach getaner Arbeit endlich zu Bett gehen konnte,
fieberte sie stark. Und da das bedauernswerte junge
Menschenkind seit seiner Heirat wie an einer Pechsträhne
zu kleben schien, war es gar nicht verwunderlich, daß Dr.
Skörsen heute Nachtdienst hatte.
Und morgen war Weihnachten, das für Frau Rosalia schon
morgens eine gute Bescherung brachte. Als sie wie eine
Fregatte ins Zimmer segelte, um das »faule Ding« aus den
Federn zu jagen, fand sie dieses mit fieberheißem Gesicht
vor.
Da blieb ihr denn doch das Wort im Hals stecken. Aber
nicht etwa vor Besorgnis, sondern vor Ärger.
Das ausgerechnet heute, wo es alle Hände voll zu tun gab!
Am liebsten hätte sie die Kranke aus dem Bett gezerrt und
sie an die Arbeit getrieben, aber die Angst vor dem Sohn
war doch zu groß.
»Du machst ja nette Geschichten«, bemühte sie sich einen
besorgten Ton anzuschlagen, in dem jedoch der Ärger
vibrierte. »Ausgerechnet zu Weihnachten wirst du krank. Ist
es arg, soll ich Ralf verständigen?«
»Danke, er kommt gegen Abend ja nach Hause.«
»Wie du willst. Wenn du etwas brauchst, wirst du dich
schon melden müssen. Ich habe heute gerade genug zu tun
und kann dich nicht noch großartig bedienen.«
Das verlangte Lenore auch gar nicht. Sie war ganz
zufrieden, hier unbehelligt liegen und schlafen zu dürfen,
was sie denn nach einer Schlaftablette auch so lange tat, bis
die Schwiegermutter geräuschvoll das Zimmer betrat und
Licht machte. Da schreckte sie auf.
»Na, endlich bist du wach. Zweimal habe ich hier
hereingeschaut, aber du schliefst ja wie ein Murmeltier.
Also kann die Krankheit nicht so arg sein. Ralf hat beim
Hauswirt angerufen und durch ihn bestellen lassen, daß es
wahrscheinlich spät werden wird, bis er nach Hause
kommt. Es ist ein Verunglückter eingeliefert worden, der
sofort operiert werden muß. Wie ist es, willst du
rüberkommen?«
»Das wird bei dem Fieber kaum möglich sein.«
»Na, na, hab dich bloß nicht so! Aber wie du willst.«
Als könnte Lenore sich doch noch eines anderen besinnen,
so rasch schloß Frau Rosalia die Tür von draußen.
Die junge Frau jedoch, noch halb umnebelt von der ersten
Tablette, schluckte, sich selbst wohl kaum bewußt, noch
eine zweite und versank im Land der Träume, wo es keine
böse Schwiegermutter gab, keinen verblendeten Gatten –
und keinen trostlosen Weihnachtsabend. Wo alles so schön
war, so paradiesisch schön.
Bis Ralf sie aus diesen Paradies riß. Er sprach erregt. Kein
Wunder, da er auf dem Nachttisch die Tabletten entdeckte,
die durchaus nicht harmlos waren.
»Lenore, wach auf! Mein Gott, Kind, so wach doch endlich
auf!« drang es in ihr noch schlafumnebeltes Hirn. Es waren
jedoch nicht die beschwörenden Worte, was sie wach
werden ließ, sondern vielmehr das derbe Schütteln.
»Ralf, laß mich doch los, du tust mir weh!«
»Na endlich! Du bereitest mir ja eine schöne Bescherung zu
Weihnachten. Wie viele Tabletten hast du geschluckt?«
»Zwei.«
»Du bist wohl nicht recht gescheit! Woher hast du die
Dinger überhaupt?«
»Der Arzt verschrieb sie Mutti, die danach immer so
wunderbar schlief. Und das wollte ich auch, ich will es
auch noch weiter.«
»Zuerst wirst du dich noch untersuchen lassen.«
»Warum? Mir fehlt doch nichts.«
»Woher denn auch?« versetzte er trocken. »Du fieberst nur
und krächzt wie eine Krähe.«
Nachdem er sie untersucht hatte, hellte sich seine besorgte
Miene auf.
»Es ist wahrscheinlich nichts weiter als eine Erkältung«,
sagte er auf ihren fragenden Blick, worauf sie sich dann mit
tiefem Seufzer auf die Seite legte und erneut dem Schlaf in
die Arme sank.
Am liebsten hätte der Gatte es ihr gleichgetan, denn er war
zum Umfallen müde. Kein Wunder nach einer
aufreibenden Arbeitszeit von sechzehn Stunden.
Aber Mutter und Schwester warteten auf ihn. Außerdem
verspürte er Hunger, da er heute kaum etwas gegessen
hatte, weil ihm die Zeit dazu fehlte. Also ging er ins
Wohnzimmer, wo die Mutter ihr^aufgeregt empfing:
»Wo bleibst du nur so lange? Das Essen ist inzwischen
wieder kalt geworden.«
»Dann hättest du es erst nach meinem Erscheinen
auftragen sollen«, entgegnete er gereizt. Denn er war ja
auch nur ein Mensch, dessen Nerven keine Drahtseile
waren. Und diese Nerven waren bis zum Reißen gespannt.
»Ich mußte doch erst einmal feststellen, was meiner Frau
fehlt. Das ging doch wohl vor, nicht wahr?«
»Gewiß, gewiß. Was fehlt ihr denn?«
»Sie ist erkältet.«
»Habe ich mir doch gleich gedacht.«
»Trotzdem hättest du mich fernmündlich davon
verständigen müssen, daß Lenore erkrankt ist.«
»Sie wollte es nicht haben.«
»Ach was, ein Kranker hat gar nichts zu wollen, das müssen
Gesunde für ihn tun.«
»Nun mach mir auch noch Vorwürfe!« weinte die Frau auf.
»Wo ich mich heute so abgeschuftet habe.«
»Na ja, ist doch schon gut«, winkte er verlegen ab und
würgte dann das Essen hinunter, das nicht nur kalt,
sondern auch angebrannt war. Aber wenn der Mensch so
richtigen Hunger hat, kommt es ihm mehr auf die
Quantität als auf die Qualität an.
Ein Arzt hat es bestimmt nicht leicht, hauptsächlich dann
nicht, wenn er so gewissenhaft ist, wie Dr. Skörsen es war.
Daher hatte er die beiden Ruhetage, die der Chefarzt ihm
Weihnachten zubilligte, auch redlich verdient und wollte
sie als wirkliche Ruhetage verbringen.
Doch mit des Geschickes Mächten ist kein ew’ger Bund zu
flechten – sagt Schiller, und er hat recht.
Denn es war acht Uhr morgens, als die Flurglocke
aufreizend schrillte und den Arzt, dem so ein Alarmzeichen
geläufig war, aus dem festen, wohlverdienten Schlaf riß.
Mit einem Satz war er aus dem Bett, warf rasch den
Morgenmantel über, schlüpfte in die Pantoffeln, eilte zur
Tür und stand gleich darauf dem Hauswirt gegenüber, der
erregt sprach:
»Herr Doktor, Verzeihung! Ich weiß, Sie üben keine Praxis
aus, aber meine Schwiegertochter – helfen Sie ihr!«
»Was hat sie denn?«
»Sie kriegt ein Kind.«
»Olala, ausgerechnet zu Weihnachten?«
»Es kommt nach unserer Berechnung um eine Woche zu
früh, sonst hätten wir uns besser eingerichtet«, wischte der
alte Herr sich den Schweiß von der Stirn. »Sie hat wohl
gestern zuviel Bowle getrunken…«
»Ist die Hebamme schon da?«
»Keine zu bekommen. Drei rief ich an – alle unterwegs.«
»Da scheint ja das Geschäft zu blühen«, schmunzelte der
Arzt. »Ich ziehe mich rasch an, so schnell wie möglich bin
ich unten.«
»Besten Dank, Herr Doktor, besten Dank.«
Der Mann polterte die Treppe hinunter, und Ralf schloß
die Korridortür, während sich die Tür zum Schlafzimmer
der Mutter auftat. Ein lockenwickelbedecktes Haupt steckte
sich durch den Spalt, und eine unwillige Stimme fragte:
»Eine Unverschämtheit, in dieser Herrgottsfrühe fast die
Klingel von der Tür zu reißen! Wer war das?«
»Der Hauswirt.«
»Was wollte er denn?«
»Seine Schwiegertochter bekommt ein Kind. Halt mich jetzt
nicht auf, Mama, ich glaube, die Sache eilt.«
Fünf Minuten später eilte Ralf aus der Wohnung, wo die
schrille Klingel die Bewohner so unsanft aus dem Schlaf
gerissen hatte. Auch Lenore, die den Gatten erst gar nicht
zu fragen brauchte, weil sie durch die halbgeöffnete Tür das
Gespräch zwischen Mutter und Sohn mit angehört hatte.
Um Ralf nicht aufzuhalten, stellte sie sich schlafend,
obwohl ihr sterbenselend zumute war. Das kam wohl
daher, daß sie seit vorgestern abend nichts gegessen und
auf den leeren Magen die starken Tabletten genommen
hatte.
Als Ralf fort war, stand sie auf und schlich in die Küche,
um sich etwas zu essen zu holen. Denn soweit sie die
Schwiegermutter kannte, war diese ins Bett zurückgegangen
und würde sich auch später nicht bequemen, der verhaßten
Schwiegertochter gar noch das Frühstück ans Bett zu
bringen. Also mußte die kranke Lenore sich selbst damit
versorgen.
In der Küche, die sie immer so blitzblank gehalten hatte,
sah es jetzt lustig aus. Gebrauchtes Geschirr, angebrannte
Töpfe und Lebensmittel aller Art bildeten ein kunterbuntes
Durcheinander. Lenore kribbelte es förmlich in den
Fingern, hier Ordnung zu schaffen, aber erstens fühlte sie
sich zu matt, und dann würde man ihr die Arbeit gewiß
nicht danken, sondern für eine Selbstverständlichkeit
halten.
Außerdem bereitete es der jungen Frau eine Genugtuung,
daß die bequeme Dame nun einmal gezwungen war, den
Haushalt selbst zu versorgen, noch dazu ausgerechnet am
Feiertag. Lenore konnte sich denken, wie sehr Frau Rosalia
das erboste.
So beeilte sie sich denn, aus der Küche zu kommen,
nachdem sie eine Schnitte Brot und einen Wurstzipfel
gewissermaßen stibitzt hatte. Im Bett angelangt, wollte sie
es heißhungrig verzehren, doch schon nach dem ersten
Bissen wurde ihr übel. Trotzdem würgte sie Brot und Wurst
hinunter, in der Hoffnung, daß ihr dann besser werden
würde, was jedoch nicht zutraf.
Was hatte sie nur? Sollte etwa… Es war nicht das erstemal,
daß ihr übel wurde, hauptsächlich morgens nach dem
Aufstehen.
Ob sie sich Ralf anvertraute? Nein, zuerst noch abwarten.
Und wenn es stimmte, was sie befürchtete, wollte sie es
verheimlichen, so lange es ging-
Befürchten, dachte sie bitter. Eine häßliche Bezeichnung für
das, worüber man sich freuen müßte.
Aber konnte sie das – hier, unter der Fuchtel einer
rücksichtslosen, hochfahrenden Frau? Da würde nicht nur
sie selbst zu leiden haben, sondern auch…
Weiter kam sie mit ihren trostlosen Gedanken nicht, weil
der Gatte ins Zimmer kam und an ihr Bett trat.
»Ach, da sind wir ja schon wieder!« sprach er in dem Ton,
den er bei seinen Patienten anzuwenden pflegte. »Wie geht
es dir?«
»Danke, ich habe wunderbar geschlafen.«
»Du scheinst zu den Patienten zu gehören, die sich
gesundschlafen«, stellte er lächelnd fest, nachdem er den
Puls gefühlt hatte. »Das Fieber hat erheblich nachgelassen,
was mich beruhigt. Denn ich kann mich jetzt nicht um
dich kümmern, weil ich die junge Frau Warteck ins
Krankenhaus bringen muß. Ich möchte den schwierigen
Fall nicht allein übernehmen.«
»Kommst du wieder zurück, wenn du die junge Frau im
Krankenhaus eingeliefert hast?«
»Ich glaube nicht. Die Ärmste bat mich so flehentlich, sie
nicht zu verlassen, und sie leidet schwer.«
»Du hast doch heute deinen freien Tag.«
»Na, wenn schon«, sagte er ungeduldig. »Das verstehst du
eben nicht, Lenore. Da höre ich unten die Hupe des
Krankenwagens. Bleib ja im Bett, Lenore, hörst du?«
Fort war er. Und Lenore drückte das Gesicht in die Kissen
und weinte bitterlich.
Drei Stunden später kam dann die Schwiegermutter herein
– im Morgenrock, die Wickel im Haar, ungetuscht und
ungelackt.
»Du mußt aufstehen, und zwar sofort. Anka hat Hunger –
und ich bin einfach nicht dazu fähig, das Frühstück zu
bereiten, weil sich mir alles vor den Augen dreht.«
»Bedaure sehr«, entgegnete Lenore kühl. »Ralf hat mir
verboten, aufzustehen.«
»Da soll ich dich etwa noch bedienen, wie?«
»Das verlange ich gewiß nicht. Ich halte schon durch, bis
Ralf zurückkommt und mir etwas zu essen bringt.«
»Frech wie gewöhnlich!« empörte sich Frau Rosalia – aber
sie ging. Und zwar aus feiger Angst vor dem Sohn. Wenn
der seiner Frau Bettruhe verordnet hatte, mußte das
respektiert werden – wenn auch verbissen und erbost.
Nachdem die Tür zugeknallt war, schlief Lenore wieder.
Sie schlief über alle Not und Kümmernisse hinweg, bis der
heimkehrende Gatte an ihr Bett trat – müde und erschöpft
von den heißen Stunden, da er der Gebärenden, die
wirklich schwer leiden mußte, alle nur erdenkliche Hilfe
geleistet hatte. Darüber war es Kaffeezeit geworden.
»Nun, Kind, wie geht es dir?« fragte er, dabei
gewohnheitsgemäß den Puls fühlend. »Nun, schon ganz
ordentlich. Irgendwo Schmerzen?«
»Nein.«
»Guten Appetit gehabt?«
»Bisher nicht.«
»Und jetzt?«
»Allerdings«, mußte sie zugeben, da sie ja außer Brot und
Wurst am Morgen seit zwei Tagen nichts genossen hatte.
Nun jedoch verlangte der Magen energisch sein Recht.
»Dann werde ich dir wohl was servieren müssen«, scherzte
er. »Mama und Anka sind nämlich ins Kino gegangen, wie
der hinterlassene Zettel besagt. Trotzdem sollst du deine
Atzung haben. Nur noch ein wenig Geduld.«
Bevor Lenore ihn zurückhalten konnte, hatte er bereits das
Zimmer verlassen- und sah dann in der Küche betroffen
auf die Unordnung. So viel gebrauchtes Geschirr stand
herum, daß nicht nur Tisch und Abwaschtisch damit
vollgestellt waren, sondern auch ein Teil des Fußbodens.
Aus dem Geschirrschrank dagegen, dessen Türen weit
offenstanden, gähnte Leere.
Ungesäuberte Töpfe standen auf dem Herd, das Gerippe
der Feiertagsgans lag auf einem Brett, von dem das Fett auf
den Tisch gelaufen und da erstarrt war. Im Ausguß lagen
Kartoffelschalen – kurz und gut, es herrschte ein herrliches
Tohuwabohu.
Und doch fand der Sohn dafür eine Entschuldigung. Nun
ja, die Mutter hatte alles allein machen, außerdem noch
eine Kranke und eine Rekonvaleszentin versorgen müssen.
Schließlich war sie nicht mehr die Jüngste.
Allerdings, Anka war von der Mutter gepäppelt worden –
als verhätscheltes, als vielgeliebtes Töchterchen. Doch daß
dieselbe Frau der Schwiegertochter weder Speise noch
Trank gereicht hatte, darauf kam der arglose Mann nicht. Er
nahm mit Selbstverständlichkeit an, daß Lenore zu Mittag
gegessen hatte und brachte ihr daher Kaffee nebst Kuchen
ans Bett. Wohl hatte die Kranke Appetit auf ein warmes
Mahl, doch sie sagte nichts, aß ein Stück Kuchen und trank
zwei Tassen des belebenden Tranks.
»Ist der Kaffee gut?« fragte er, und sie nickte.
»Sehr gut, er hat mich richtig erquickt. Aber warum hältst
du nicht mit?«
»Weil ich mehr als satt bin. Die Wartecks unten haben
mich nämlich genudelt wie eine Weihnachtsgans.«
»O weh, da habe ich ja ganz vergessen zu fragen, wie es der
jungen Frau geht. Ist das Kind schon da?«
»Natürlich, sonst wäre ich bestimmt nicht hier. Es ging
heiß her, aber wenigstens nicht umsonst, wie es zuerst den
Anschein hatte. Das kleine Mädchen ist gesund, die junge
Mutter verhältnismäßig munter, der junge Vater und die
Großeltern sind halb närrisch vor Freude. Sie ließen nicht
nach, bis ich mit ihnen im Mietauto hierher fuhr und in
ihre Wohnung kam, wo sie auftischten wie zur Hochzeit.
Ich habe bisher nicht gewußt, was für nette Menschen die
Wartecks sind, weil Mama doch stets Klage über sie führt
und so schlecht mit ihnen auskommt.«
Daß dieses an ihr liegen könnte, darauf kommst du in
deiner Arglosigkeit natürlich nicht, dachte Lenore bitter.
Er sah müde und abgespannt aus, so daß sie nicht das Herz
hatte, ihm auch noch mit einer erregenden Debatte zu
kommen.
»Hast du noch einen Wunsch?«
»Nein, du hast mich ja versorgt. Warum fragst du?«
»Weil ich sonst zu Bett gehen möchte. Ich bin rechtschaffen
müde.«
»Tu’s doch. Aber nein, zuerst komm einmal her, damit ich
dir dein verspätetes Weihnachtsgeschenk überreichen
kann.«
»Was ich natürlich prompt versäumte«, unterbrach er sie
beschämt. »Es ist ohnehin nicht viel – und kommt nun
noch zu spät.«
»Beruhige dich, meines auch.«
»Du bist aber auch krank.«
»Und du bist überarbeitet.«
Indes hatte sie der Nachttischschublade einen Umschlag
entnommen, den sie ihm, der sich auf den Bettrand setzte,
in die Hand drückte. Verständnislos drehte er ihn zuerst
herum, öffnete ihn dann zögernd, und was er herauszog,
waren rund tausend Mark.
»Nore, das kann ich doch nicht annehmen«, sagte er
betroffen, doch sie winkte kurz ab.
»Ralf, sprich bitte nicht weiter!« warnte sie. »Ich weiß
schon, was du sagen willst, doch das würde mich zutiefst
verletzen.«
»Ja, aber was soll ich denn mit dem vielen Geld?«
»Erstens ist es gar nicht so viel, du bescheidener Mensch,
und zweitens ist es der Grundstein zu einer Praxis.«
»Nein, Nore.«
»Ja, Ralf! Reg mich hier gefälligst nicht auf, sonst steigt das
Fieber so hoch, daß das Thermometer platzt.«
Da mußte er denn doch lachen.
»Darauf will ich es natürlich nicht ankommen lassen, nicht
als Arzt und schon gar nicht als Gatte.«
»Also, Kommentar überflüssig. Doch wo bleibt mein
Geschenk?«
Er gab es ihr mit verlegenem Lächeln.
»Nore, es ist so wenig, aber man weiß ja gar nicht, was man
dir schenken soll, weil du alles hast. Als ich jedoch das
Tuch sah, stellte ich mir vor, wie gut es dich kleiden müßte
zu deinem schönen Gesicht und dem goldigschimmernden
Haar.«
»Herr Doktor, Sie machen ja Komplimente!« sagte sie
neckend. »Das ist ja ganz was Neues!«
»Jetzt lachst du Schelm mich auch noch aus.«
»Keineswegs, ich freue mich. Das Tuch gefällt mir gut.«
»Wirklich?«
»Ganz wirklich. Nun mach, daß du ins Bett kommst, dir
fallen ja vor Müdigkeit die Augen zu.«
»Zuerst noch einen Kuß. Ich finde, du bist in letzter Zeit
sehr sparsam damit geworden.«
»Du dito, mein Lieber.«
Es war schon nach neun Uhr, als Lenore am nächsten
Morgen erwachte.
In der Wohnung war noch alles still. Kein Wunder, da Frau
Rosalia gewohnt war, bis mindestens elf Uhr zu schlafen,
und diesen Schlaf heute wohl noch länger ausdehnte, weil
sie wahrscheinlich erst nach Mitternacht von der
Bummeltour zurückgekehrt war.
Lenore schaute zu Ralf hinüber, der ihr den Rücken
zukehrte und immer noch fest schlief. Vorsichtig griff sie
zum Thermometer, steckte es ein und war dann fünf
Minuten später recht zufrieden, daß der rote Strich fast bis
zur Zahl achtunddreißig geklettert war.
Als er erwachte, sah er auf die Uhr und wollte seinen Augen
nicht trauen.
»Schon zehn vorbei? Das ist kaum zu glauben! Da habe ich
dich gestern ein Murmeltier genannt und bin selbst eins.
Bist du schon lange wach?«
»Seit ungefähr einer Stunde.«
»Warum hast du mich nicht geweckt?«
»Sollte mir einfallen. Du hast den Schlaf doch wahrlich
nötig.«
»Der mich auch wunderbar erquickt hat. Ich bin durchaus
wieder zu neuen Taten gerüstet. Und wie geht es dir?«
Schon griff er nach ihrem Puls und war gar nicht zufrieden.
»Kind, du hast ja Fieber! Da wollen wir mal messen.«
»Ist bereits geschehen.«
»Wie hoch?«
»Nicht ganz achtunddreißig.«
»Das gefällt mir aber gar nicht, Nore.«
»Mir doch«, lachte sie. »Da darf ich wenigstens im Bett
bleiben, was bei dem scheußlichen Wetter geradezu ein
Vergnügen ist. Schau nur, wie es draußen schlackert, und
hör nur, wie es stürmt! Da muß ja Himmel und Erde
zusammen sein, und hier im Bett ist es so heimelig. Wenn
du schlau bist, verläßt du es auch nicht.«
»Vorausgesetzt, daß man mich nicht mit Gewalt hinausjagt.
Trotzdem muß ich jemand verarzten, und zwar dich, meine
holde Patientin.«
»Und das wäre?«
»Erst einmal Tabletten schlucken. Helfen die nicht, kommt
unweigerlich die Spritze. – Es ist hier übrigens eine
Grabesstille. Ob Mama und Anka noch schlafen?«
»Wahrscheinlich.«
»Hast du gehört, wann sie nach Hause kamen?«
»Nein.«
»Da will ich doch mal nachsehen.«
Er stand auf, schlüpfte in die Pantoffeln, warf den
Morgenmantel über, ging in den Korridor und klopfte dort
an die Schlafzimmertür.
Mußte es mehrmals wiederholen, wobei es jedesmal lauter
wurde. Und endlich kam dann die Mutter an die Tür.
»Mein Gott, Ralf, du trommelst ja wie ein Wilder«, gähnte
sie verschlafen. »Was ist denn los, mußt du wieder fort?«
»Nein. Ich finde nur, daß es Zeit ist, aufzustehen, wir
haben bald elf Uhr. Wann seid ihr übrigens nach Hause
gekommen?«
»Um zwei Uhr«, drang Ankas helle Stimme vom Bett aus zu
ihm hin. Sehr zum Ärger der Mutter, der die
wahrheitsgemäße Zeitangabe gar nicht gefiel. »Es war
einfach prima, Bruderherz!«
»Also prima«, wiederholte er, indem er an das Bett trat und
die Schwester forschend betrachtete. »Wird es auch prima
sein, wenn du einen Rückfall bekommst und somit kränker
wirst, als du es warst?«
»Wer denkt denn daran?«
»Ich als Arzt. Aber du kannst ja weniger für deinen
Leichtsinn als Mama«, wandte er sich ihr zu, die ein
Gesicht machte wie ein beleidigter Mops. »Wie konntest du
nur so lange mit Anka wegbleiben?«
»Ach, Junge, sie bettelte doch so sehr.«
»Na eben, dann laß sie mich auch um meine Behandlung
anbetteln, die ich trotzdem ablehnen werde.«
»Wenn du dazu kommst«, warf Anka schnippisch ein,
während die Frau Mama sich mühte, ein paar
»Krokodilstränen« zu erpressen.
Und da war der Sohn wieder einmal beschämt. Er
entschuldigte sich sogar für seine Heftigkeit, bevor er das
Zimmer verließ.
Er ist und bleibt ein blinder Narr, dachte Lenore, die durch
die geöffnete Tür alles mit angehört hatte. Aber nur, wenn
es um Mutter und Schwester geht, sonst verfügt er sogar
über Scharfsinn.
»Na ja«, meinte er entschuldigend, nachdem er wieder bei
Lenore war. »Die Mama kann Anka eben nichts abschlagen,
wie es die Mütter bei den Nesthäkchen wohl alle nicht
können. Und Anka hat ja auch wirklich wenig
Abwechslung.«
Habe ich etwa mehr? wäre es Lenore beinahe entfahren,
und sie war froh, daß sie ihre Zunge noch gerade so
meistern konnte. Denn es lag ihr gar nichts daran, einen
Streit zu entfachen und den Gatten damit zu verärgern, der
endlich einmal zu Hause war.
»Es ist kalt hier, ergo werde ich heizen«, erklärte Ralf, was
dann auch geschah. Er heizte auch die Öfen in den beiden
anderen Zimmern, schleppte unermüdlich Holz und
Kohlen aus dem Keller, was sonst Lenores Arbeit war, und
half der Mutter sogar beim Abwasch. Dann erschien er
wieder bei Lenore, ein Tablett tragend, auf dem beider
Frühstück stand. »So, mein Liebes, jetzt werde ich mir mal
den Luxus erlauben, mit meiner holden Gemahlin im Bett
zu frühstücken«, lachte er so jungenhaft froh, wie Lenore
ihn überhaupt noch nicht kannte. »Setz dich auf, mein
herziges Kind, der gute Onkel Doktor wird dich mit Kissen
liebevoll stützen.«
»Ja, sag mal, Ralf, was hat dich in diese so ungewohnt
heitere Stimmung versetzt?« fragte sie verwundert, und er
lachte.
»Daß ich meine erste Privatpatientin habe, die mich so
fürstlich bezahlt. Mit tausend Mark Honorar komme ich
mir wie eine Kapazität vor. So, halte bitte das Tablett,
damit ich mich an deine grüne Seite setzen kann. Denn
grün ist das verführerische Nachtgewand, grün sind die
Decken, und grün ist die Hoffnung.«
Mit einem Satz war er im Bett, stellte das Tablett in die
Mitte und schmauste mit Lenore um die Wette.
»Wie ist es mit einer Zigarette – genehmigt?«
»Etwa für dich?«
»Natürlich.«
»Mein liebes Kind, ich bin Arzt.«
»Aber jetzt im Schlafanzug und somit aller Würde bar.«
Da lachte der Mann voll überschäumender Herzlichkeit.
»Na, warte nur, du keckes Persönchen, für die allerliebste
Bosheit räche ich mich schon noch!«
»Daß ich nicht lache.«
»Wird dir vergehen, wenn ich in deinen klassischschönen
Arm pieke, wovor du doch so schreckliche Angst hast.«
»Und du willst ein barmherziger Samariter sein?«
»Warum denn nicht?«
»Recht barmherzig sein will heißen: wenden eines andern
Pein – verlangt der Dichter Logau. Und was willst du tun?
Dich an meiner Pein weiden. Schäm dich!«
Und dieser Sonntag sollte auch der letzte sein, den das
junge Paar in Harmonie verbrachte.
Zuerst einmal mußte sich der Arzt sechs Wochen von der
Gattin trennen.
Denn als er am nächsten Tag im Krankenhaus erschien,
erklärte ihm der Chefarzt kurz und bündig, daß Dr.
Skörsen als Leiter eines Ärztekursus angefordert worden
wäre.
»Ja, mein lieber Ralf, das kommt davon, wenn man so
tüchtig ist, daß man auffällt«, lachte der joviale Herr
schadenfroh. »Ob Sie da nun wollen oder nicht, Sie
müssen. Befehl ist Befehl. Mir ist es wahrlich auch nicht
recht, daß die Wahl ausgerechnet auf Sie gefallen ist, ich
werde Ihre Arbeitskraft hier sehr vermissen. So reisen Sie
denn mit Gott, und zwar schon morgen früh, denn die
Sache eilt.«
Mit warmem Händedruck war er entlassen.
Aber es dauerte dann doch noch Stunden, bis er
aufbrechen konnte. Immer wieder kam etwas dazwischen,
und so wurde es gegen Abend, bis Ralf zu Hause anlangte,
wo er aber nur Lenore im Bett vorfand. Mutter und
Schwester waren wieder mal unterwegs.
So bekam die junge Frau als erste die Neuigkeit zu hören,
die sie so hart traf, daß sie zuerst davon wie betäubt war.
Doch dann kam eine solche Verzweiflung über sie, daß sie
sich an ihren Mann klammerte und ihn anflehte:
»Geh nicht, Ralf, hörst du – geh nicht! Laß mich hier nicht
so allein! Bitte, bitte, geh nicht!«
»Aber Kind, was hast du denn?« fragte er erschrocken. »Du
bist ja ganz außer dir, zitterst am ganzen Körper. Wie
kannst du dich nur so erregen? Du wirst wieder Fieber
bekommen, was nicht sein darf. Ich würde dann
beunruhigt abfahren.«
»Nur deshalb, Ralf?«
»Ja, warum denn sonst?« fragte er verwundert zurück. »Ich
lasse dich doch hier in guter Hut zurück.«
»Das nennst du gute Hut?« schrie sie so jäh auf, daß er
zusammenzuckte. »Wenn du fort bist und sie dich nicht
mehr zu fürchten brauchen, werden sie mich so richtig in
die Hand bekommen. Werden mich immer mehr peinigen
und quälen mit ihren Schikanen. Oh, sie sind ja so
gehässig und faul, deine von dir so sehr geliebte Mutter
und Schwester.«
»Genug, Lenore, kein Wort weiter!« gebot er scharf und
schneidend. »Du bist ja ein ganz boshaftes Geschöpf,
hinterhältig und verlogen! Wäre dein wahrer Charakter
schon damals zutage getreten, dann hätte ich mich
nimmermehr von deiner Mutter zur Heirat überreden
lassen, selbst nicht um aller Dankbarkeit willen, die ich ihr
zu schulden glaubte.«
»Hör auf! Hör doch auf!« unterbrach sie ihn mit ganz
fremder Stimme, die wie zerbrochen klang, wie sprödes
Glas, und das brachte den erregten Mann endlich zur
Besinnung.
Zögernd streckte er seine zitternde Hand nach ihr aus, doch
nachdrücklich wurde sie zurückgestoßen.
»Rühre mich nicht an«, sagte sie dumpf und schwer. »Ich
verachte dich!«
Da fuhr der Mann auf, als habe ihn ein Stich getroffen
durch und durch.
Doch ehe er etwas erwidern konnte, hörte er die
Korridortür schließen, riß sich mit aller Energie zusammen
und trat in den Korridor, um zu verhüten, daß die Mutter
ins Zimmer kam, um nach Lenore zu sehen, was er als
selbstverständlich annahm. Denn wie er seine Frau jetzt
kennengelernt hatte, hielt er sie zu allem fähig, auch daß
sie ihm im Beisein der Mama weitere Szenen machte.
Also ging er dieser entgegen, die hastig fragte:
»Junge, du bist schon hier?«
»Und zwar aus einem besonderen Grund. Ich muß morgen
früh nach Berlin, als Leiter eines Ärztekursus.«
»Ralf, welch eine Auszeichnung!« rief die Mutter entzückt.
»Dann wird es bestimmt nicht lange dauern, bis du
Oberarzt wirst.«
»Das weiß ich nicht, Mama«, dämpfte er ihre
Hoffnungsfreudigkeit. »Zuerst möchte ich mit dir über
Lenore sprechen.«
»Warum, ist sie kränker geworden?«
»Nein, sie ist fieberfrei. Aber da du dich so oft über ihre
trotzige, launenhafte Art beklagtest, wirst du kaum mit ihr
fertig werden, wenn ich fort bin.«
»Aber Junge, darüber brauchst du dir doch keine Sorge zu
machen«, schauspielerte sie so überzeugend, daß manch
ein Star vor Neid erblaßt wäre. »Ich bin bisher ganz gut mit
ihr ausgekommen und werde es auch weiter tun. Gott ja,
man muß wohl so allerlei einstecken, aber was tut man
nicht alles seinem Sohn zuliebe. Lenore ist eben von ihren
Eltern zu sehr verzogen worden, die in dem einzigen Kind
einen Abgott sahen, mit dem andere Menschen sich dann
abplagen müssen. Aber ich beschwichtige sie schon, wenn
sie zu bocken anfängt«, schloß die vortreffliche Dame
lachend. Und da beugte der Sohn sich voll Verehrung über
ihre Hand.
»Ich danke dir, Mama.«
»Nichts zu danken, mein Junge, ich bin doch deine Mutter.
Doch nun erzähle mal ausführlich über deine plötzliche
Abberufung!«
Nachdem er es getan hatte, geriet die Mutter in helle
Aufregung.
»Schon morgen früh mußt du fort, und gleich auf sechs
Wochen? Da mußt du ja einen Riesenkoffer voll Sachen
mitnehmen. Und ausgerechnet jetzt müssen deine
Oberhemden in der Wäscherei sein!«
Das war zwar gelogen, aber man mußte doch so tun als ob.
Mußte überhaupt sehr besorgt tun, um möglichst viele
Vorteile herauszuschlagen.
»Mit der Wäsche, das ist wirklich fatal«, tat sie bekümmert.
»Aber wer konnte wissen…«
»Laß doch, Mama, das ist doch so unwichtig. Wäsche fehlt
mir sowieso; ich werde mir von den Tagegeldern, die ja
reichlich bemessen sind, etwas anschaffen.«
Das gefiel der Frau Mama zwar nicht, weil sie sich bereits
Hoffnungen auf den Überschuß machte. Aber nur immer
hübsch die Maske der Besorgnis beibehalten, es lohnte
sich.
»Das tu nur!« riet sie eifrig. »Nun geh und pack deine
Sachen, damit du nicht zu spät ins Bett kommst; denn du
mußt ja morgen früh raus. Indes bereite ich das
Abendessen.«
»Wo ist übrigens Anka?« begann er, doch schon schnitt sie
ihm das Wort ab.
»Sie kommt gleich, macht nur noch einige Besorgungen.«
Auch gelogen – das liebe Töchterchen befand sich auf Tour.
Man hatte unterwegs eine Bekannte in Begleitung ihres
Bruders getroffen, der die beiden Mädchen ins Cafe einlud.
Frau Rosalia ließ ihr Herzenskind gehen, denn der junge
Mann war gutsituiert – und man konnte nie wissen.
Jetzt allerdings sehnte sie Anka herbei. Hoffentlich blieb sie
nicht so lange aus, daß Ralf mißtrauisch wurde und weiter
forschte!
Doch er dachte gar nicht daran, er hatte augenblicklich mit
sich selbst genug zu tun. Und dann mußte er packen, was
denn auch in seinem Zimmer geschah.
Für Lenore hatte er keinen Blick, kein Wort. Er tat so, als ob
sie gar nicht anwesend wäre. Regungslos lag sie da, die
Hände hinter dem Kopf verschränkt, den
schmerzverdunkelten Blick auf die Decke gerichtet. Ihr war
sterbenselend zumute.
Sie zuckte zusammen, als die Schlösser des Koffers
einschnappten. Ungemein aufreizend klang es, so, als
wollte der Mann damit ausdrücken, daß er nun sein
Bündel geschnürt hätte, um damit einen Weg zu wandern,
der weit ab von dem ihren führte.
Dann ging er hinaus.
Als er nach Stunden zurückkehrte und zu Bett ging, stellte
Lenore sich schlafend. Ach, wenn sie es doch wirklich
könnte! Aber sie lag schlaflos da, starrte in die Dunkelheit
und zergrübelte sich das Hirn, was nun werden sollte.
Sie hatte Angst, eine bebende Angst vor der Zukunft. Für
die wenigen Minuten, da sie die Beherrschung verlor und
ihm entgegenschrie, was sie so lange schweigend erduldet
hatte, würde sie schwer büßen müssen.
Erst beim Morgengrauen schlief sie ein, und zwar so fest,
daß sie nicht merkte, wie der Gatte aufstand. Erst als sie die
Stimme der Schwiegermutter hörte, die im Korridor laut
und wortreich den Sohn verabschiedete, da schreckte sie
auf.
Er war gegangen, wirklich gegangen, ohne ihr Lebewohl zu
sagen.
Doch nein, nicht ganz so. Lenore entdeckte auf ihrem
Nachttisch einen Umschlag, den sie mit zitternden Fingern
aufriß und dann die wenigen Zeilen las.
Du wirst bei meiner Mutter bleiben, bis ich zurückkomme, das
befehle ich Dir! Alles Weitere wird sich dann finden. Ralf.
Und dem Brief lag das Geld bei – ihre Weihnachtsgabe an
ihn.
So schieden zwei Menschen, die sich doch eigentlich aus
Liebe geheiratet hatten.
Nun begann für die junge Frau eine Leidenszeit, die kaum
zu ertragen war. Immer wieder spielte sie mit dem
Gedanken, ihrem armseligen Leben einfach ein Ende zu
machen, schreckte aber immer wieder davor zurück. Denn
was sie vermutet hatte, war nun zur Gewißheit geworden.
Ihr Leben zu vernichten, wäre ihre eigene Angelegenheit
gewesen, aber bei dem keimenden Leben, das sie in sich
trug, hielt sie es für Mord.
Von Ralf wußte sie nichts – und wollte auch nichts von
ihm wissen; machte sich gar nichts daraus, daß er nicht an
sie schrieb. Wenn er wieder zu Hause war, mochte er über
sie bestimmen, wie er wollte, ihr war alles recht. Sie
empfand über nichts mehr Schmerz und Trauer, konnte
kaum noch logisch denken, Herz und Hirn schienen wie
ausgebrannt.
Was sie tat, geschah alles automatenhaft. Sie aß und trank
so nebenbei, arbeitete ihr Pensum ab, sank am Abend
todmüde ins Bett, schlief den Schlaf tiefster Erschöpfung –
bis der Wecker am Morgen sie wieder aufrief zur
gewohnten Fron.
Und die beiden Damen? Nun, die freuten sich ihres
Lebens, das aus Müßiggang und Vergnügen bestand. Nun,
sie konnten es sich ja leisten! Den Haushalt versorgte ihre
Sklavin, und Geld für ihre Zerstreuungen besaßen sie jetzt
mehr denn je, da der Sohn und Bruder jedem der Briefe,
die mindestens zweimal in der Woche eintrafen, einen
Geldschein beizulegen pflegte, den er von seinen
Tagegeldern absparte.
Um den Anschein zu wahren, erkundigte er sich in den
Briefen stets nach Lenore – und diese Fragen beantwortete
die Frau Mama auf ihre Art, nämlich mit faustdicken
Lügen.
Es änderte sich – allerdings nicht nach Wunsch der
raffinierten Frau Das Schicksal griff endlich ein – aber auch
nicht gerade zugunsten des bedauernswerten jungen
Menschenkindes.
Oder doch?
Eine Frage, die sich schwer beantworten ließ.
Es war an einem bitterkalten Tag Anfang Februar, als
Lenore zur großen Wäsche befohlen wurde. Sie war gerade
dabei, einen Korb voll davon in die Waschküche zu tragen,
als ihr so schwindlich wurde, daß sie den Korb fallen ließ,
der mit großem Gepolter die Treppe hinabsauste.
Das hörte man in der Parterrewohnung, wo man gerade
beim Frühstück saß.
»Was war denn das?« fuhr Herr Warteck samt Gattin und
Schwiegertochter erschrocken hoch. »Es hörte sich fast so
an, als wäre jemand die Treppe heruntergefallen.«
Schon sprangen sie auf, eilten in den Flur und bemerkten
zuerst einmal den Korb, der seines Inhalts entledigt dalag.
Und als die Blicke weiterschweiften, erfaßten sie auch
Lenore, die sich krampfhaft am Geländer festhielt. Das
Gesicht erschreckend blaß, die Augen wie erloschen.
Gleich darauf wurde die regungslose Gestalt von
hilfreichen Armen umfaßt und vorsichtig in das
Wohnzimmer geführt, wo Frau Warteck das elende
Geschöpf behutsam in den Sessel drückte.
»Frau Skörsen, was haben Sie denn?« fragte sie leise. »Sie
sind ja weiß wie die Wand.«
»Mir wurde schwindlig«, tropften die Worte langsam von
den Lippen. »Aber das – vergeht – wieder.«
»Dann haben Sie das schon öfter gehabt?«
»Ja, das gehört wohl zu meinem Zustand.«
Die drei Menschen warfen sich bedeutungsvolle Blicke zu.
Mütterlich streichelte Frau Warteck über das
goldschimmemde Köpfchen und sagte mit leisem Vorwurf:
»Aber Kindchen, dann dürfen Sie doch nicht so schwere
Körbe schleppen! Das sollte der Herr Gemahl nun wirklich
nicht dulden, schon gar nicht als Arzt.«
»Er ist ja nicht da und weiß außerdem von meinem
Zustand noch nichts.«
»Und die Schwiegermutter?«
»Auch nicht. Und wenn, würde sie bestimmt keine
Rücksicht darauf nehmen.«
»Sieht der Menschenschinderin ähnlich«, brummte der alte
Herr. »Was sie nämlich mit Ihnen treibt, kann man nur mit
Schinderei bezeichnen. Die ganze Nachbarschaft hält sich
schon darüber auf. Wenn der Herr Doktor zurückkommt,
wird sich schon jemand finden, der den Mut hat, ihm über
seine von ihm so verehrte Mutter die verblendeten Augen
zu öffnen. Ich aber werde sofort zu der Megäre gehen und
ihr gehörig den Marsch blasen.«
»Bitte, nicht!« hielt Lenore ihn angstvoll am Ärmel zurück.
»Ich müßte ja doch nur dafür büßen.«
»Sie hat recht«, bestätigte Frau Warteck, ein liebes,
betuliches Muttchen, das man sich beim besten Willen
nicht als böse Schwiegermutter vorstellen konnte, und die
es gewiß auch nicht war. Sie liebte ihre Schwiegertochter
wie ein eigenes Kind und begriff es einfach nicht, daß es
auch anders sein könnte.
»Lenore!« drang jetzt eine laute, scharfe Stimme bis zu
ihnen hin. Erschrocken sprang Lenore auf und hastete
davon.
»Na, wenn einem da nicht der Kragen platzen soll, dann
gibt es so was überhaupt nicht«, knurrte Herr Warteck wie
ein gereizter Kettenhund. »Und es findet sich keiner, der
dieses bedauernswerte Geschöpfchen aus den Krallen
dieser Bestien befreit. Alle sind zu feige dazu – auch wir.«
»Mann, es tut nicht gut, sich in die Angelegenheiten seiner
Mitmenschen zu mischen.«
»Ach was!« sagte er unwirsch. »Es gibt ja sogar
Tierschutzvereine. Halt mal, zetert die alte Scharteke da
oben nicht wieder? Das höre ich mir jetzt nicht mehr
länger mit an. Ich werde ihr so fünf Minuten lang das
Leben bestimmt nicht lieb machen.«
Zornig stampfte er ab, doch schon hängten Gattin und
Schwiegertochter sich in seine Arme.
»Alter, mach ja keine Dummheiten!« bat Frau Warteck
beschwörend. »Wenn du denen da oben Grobheiten sagst,
schadest du dem armen Ding mehr, als du ihm nützt. Wir
wollen erst mal sehen, was da überhaupt los ist.«
Spaltbreit öffnete sie die Korridortür, und nun konnte man
jedes Wort hören, das gesprochen wurde.
»Beeil dich gefälligst, damit ich sehen kann, daß du auch
wirklich in die Waschküche gehst!« schrillte die Stimme
Frau Rosalias, die gleich der Tochter zum Ausgehen
gekleidet auf der halben Treppe stand, die Lenore nun
hinabhastete. Wobei sie das Pech hatte, im Vorbeigehen
der Schwägerin auf den Fuß zu treten, was diese so erboste,
daß sie der jungen Frau einen harten Stoß versetzte.
»Kannst du nicht aufpassen, du Tolpatsch!«
Aber da wurde der alte Herr mobil. Die Tür flog auf, mit
einigen Sätzen war er auf der Treppe und sprang mit
erhobenen Fäusten auf Anka zu, die sich mit lautem
Aufschrei hinter den Rücken der Mutter flüchtete.
»Kanaille!« knirschte der Mann, außer sich vor Empörung.
»Raus aus meinem ehrbaren Haus, das keinen Platz für
Mörder hat! Zur Polizei werde ich gehen und Anzeige
erstatten.«
Weiter kam er nicht, weil die beiden Feiglinge Reißaus
nahmen. Wie gejagt hetzten sie die Treppe hinauf, die
Etagentür knallte zu. Und dann atembeklemmende Stille,
in die nur das Weinen der jungen Frau Warteck tönte. Auf
dem Boden kniend, hielt sie im Schoß Lenores Kopf, der
aus einer Wunde blutete, die sie sich am Flußabkratzer
geschlagen hatte.
»Mein Gott, sie ist doch nicht etwa tot?« fragte schluchzend
die junge Frau, doch der Schwiegervater, gleich der Gattin
zutiefst erschüttert, sagte leise:
»Gottlob nicht, mein Kind. Sieh nur, ihre Augenlider
zucken. Faß an, wir bringen sie zu uns. Dann rufe ich
sofort das Krankenhaus an und bestelle den Wagen, denn
bei dem harten Aufprall wird die Wunde wohl nicht die
einzige Verletzung sein.«
Damit sollte er recht behalten. Als Lenore nämlich nach
vielen Bemühungen endlich zu sich kam, krümmte sie sich
vor Leibschmerzen. Zum Glück kam der Krankenwagen
überraschend schnell, die Bahre wurde hineingeschoben,
die Türen schlossen sich.
Das war Lenores Auszug aus dem Haus, das sie vor einem
Vierteljahr so bangen Herzens betreten hatte.
Der Chefarzt des Krankenhauses »Zur Barmherzigkeit« saß
in seinem Zimmer und prüfte die Röntgenaufnahmen, die
heute gemacht worden waren. Er hatte einen
verantwortungsvollen Posten.
Klein, rundlich, mit einem rosigen Gesicht und
respektabler Glatze sah er eher wie ein gemütlicher Onkel
als wie eine Respektsperson aus. Aber er war eine, das
wußten alle, die mit ihm zu tun hatten.
»Herein!« forderte eine markige Stimme, die an dem Mann
geradezu frappierte, zum Eintritt auf, und schon schob sich
ein haubengeschmückter Kopf vorsichtig durch den
Türspalt.
»Ist es erlaubt, Herr Professor?«
»Eigentlich nicht, verehrte Oberin, aber kommen Sie
schon.«
Gleich darauf stand ein weibliches Wesen vor dem
mächtigen Schreibtisch, das man als Pendant des Arztes
bezeichnen konnte. Aber auch hier trog der Schein, das war
längst bewiesen; denn die Oberschwester war alles andere
als ein rundliches Tantchen.
Professor Hollgart lehnte sich im Schreibtischsessel zurück,
schob die große Brille auf die Stirn und sah die
Oberschwester vergnügt an, die seine beste Mitarbeiterin
und Vertraute war seit vielen Jahren. Daher bestand auch
zwischen ihnen ein Ton, den sich ein gewöhnlicher
Sterblicher beileibe nicht diesen beiden Gefürchteten
gegenüber erlauben durfte.
»Na, nun schießen Sie mal los, Agathchen, was gibt’s? Sie
machen nämlich den Eindruck, als hätten Sie so allerlei auf
dem Herzen. In der Klemme?«
»Man hat eine Patientin eingeliefert, Herr Professor.«
»Das dürfte bei uns wohl nichts Neues sein.«
»Aber die Patientin heißt Lenore Skörsen.«
»Wie – was? Etwa die Frau unseres Ralf?« horchte er auf,
und sie nickte.
»Stimmt genau.«
»Was hat sie?«
»Eine nicht ungefährliche Kopfwunde und einen Abortus.«
»Nanu, wie ist das beides zugleich möglich? Ist das
Unglückswürmchen etwa vor Schmerzen gegen die Wände
gerannt?«
»Nein. Die liebe Schwägerin hat sie wutentbrannt die
Treppe hinuntergestoßen.«
»Jetzt schlägt es aber dreizehn«, sagte der Arzt verblüfft.
»Wo gibt es denn so was?«
»Kommt in den besten Familien vor – sagt ein Ausspruch.«
»Oberin, Ihre Pomadigkeit möchte ich auch mal haben.
Gottsdonner, da wird der Ralf aber staunen, wenn er
zurückkommt! Wo haben Sie die Ärmste untergebracht?«
»In meinem Zimmer.«
»Wozu das? Ist sonst nichts mehr frei?«
»Sogar noch ein Bett in Zweiter.«
»Und warum bringen Sie die Kranke da nicht unter?«
»Sie spricht im Fieber, Herr Professor, und zwar
mancherlei, was dem Ralf nebst Angehörigen nicht gerade
zur Ehre gereicht.«
Sie sahen sich an und verstanden sich wie immer auch
ohne viele Worte.
»Wer hat sie eingeliefert?« fragte der Arzt nach
sekundenlangem Schweigen. »Etwa die lieben
Anverwandten?«
»Die werden sich hüten. Die Wirtsleute, die auch mit
ansahen, wie der Unfall geschah, begleiteten die Kranke.«
»Sind sie noch im Haus?«
»Ja.«
»Ich möchte sie sprechen.«
Minuten später standen Wartecks vor dem Professor und
der Oberschwester. Sie weinte in sich hinein, er machte ein
Gesicht, als würde er am liebsten alles um sich her
verschlingen. Bevor der Arzt ihn noch dazu auffordern
konnte, legte er auch schon los, mit Grimm und Groll
geladen bis zur Halskrause.
Und so bekamen denn die beiden atemlos Lauschenden
das ganze Martyrium Lenores zu hören – kraß,
schonungslos, aber auch wahrheitsgemäß. Denn Herr
Warteck war kein Freund von Klatsch, der in der engeren
Umgebung natürlich herrlich blühte, er verließ sich lieber
auf seine eigenen Augen und Ohren.
»So ein schönes, liebes Kind«, sagte er mit vibrierender
Stimme, nachdem er alles andere vom Herzen gepoltert
hatte. »Die hätte lieber eine alte Jungfer werden sollen, als
so einen verblendeten Duckmäuser heiraten.«
»Warum verblendet?« warf der Arzt ein.
»Weil er Mutter und Schwester für noble Naturen hält,
während sie in Wirklichkeit ausgewachsene Kanaillen
sind…«
»Nun, nun – wer sagt denn so was?«
»Ich, Herr Professor – und ich bin kein Schwätzer.«
»Nein, das ist er nicht«, bestätigte die Gattin mit
tränendunkler Stimme. »Er sagt eher zuwenig als zuviel.
Und was er jetzt sagte, stimmt Wort für Wort. Oder glaubt
der Herr Professor etwa nicht, daß es so schlechte
Menschen gibt?«
»O ja, das glaube ich schon, sonst wären Gefängnisse und
Zuchthäuser wohl nicht so überfüllt. Frau und Fräulein
Skörsen kenne ich nur ganz flüchtig, kann mir daher kein
Urteil über sie erlauben. Aber Dr. Skörsen kenne ich gut
und möchte beinahe behaupten, daß er kein schlechter
Mensch ist – eher verblendet, wie Sie es bezeichneten.
Jedenfalls haben Sie herzlichen Dank, daß Sie sich der
bedauernswerten jungen Frau so liebreich annahmen. Daß
Sie über alles schweigen, darum brauche ich Sie wohl nicht
extra zu bitten?«
»Nein, ich halte den Mund. Ob ich es jedoch diesem
vernagelten Doktor gegenüber tun werde, dafür verbürge
ich mich allerdings nicht. Wird für Lenore auch wirklich
alles getan werden?«
»Was in Menschenkräften steht. Das sind wir schon allein
unserem Mitarbeiter Dr. Skörsen schuldig.«
»Ach der«, brummelte der alte Herr. »Der hat ja keine
Rücksicht verdient. Wann kommt er zurück?«
»Übermorgen. Und nun muß ich Sie leider verabschieden,
weil ich zu der Patientin gehen möchte. Haben Sie
nochmals herzlichen Dank.«
»Was wir taten, war Selbstverständlichkeit, Herr Professor.
Dürfen wir mal anrufen und fragen, wie es der Lenore
geht?«
»So oft Sie wollen.«
»Dann danke schön.«
Damit zogen sie ab, und der Arzt sah die Oberschwester so
durchbohrend an, als wollte er ihr die Gedanken aus dem
Hirn ziehen.
»Wieviel glauben Sie von dem Gehörten, Agathe?«
»Jedes Wort, Herr Professor. Das ist kein Mann, der
aufschneidet oder gar lügt.«
»Ei, der Donner!« Er kratzte steh den Kopf. »Na, prost
Mahlzeit! Denn Ihre Menschenkenntnis ist mir zu gut
bekannt, als daß ich sie anzuzweifeln wage. Kommen Sie,
sehen wir uns das Unglückswürmchen an.«
Als sie das Zimmer der Oberschwester betraten, fanden sie
außer der Patientin auch den jüngsten der Ärzte vor.
»Nun, mein Lieber, solo?« fragte der Chef. »Ohne
Assistenz?«
»Zu gefährlich, Herr Professor«, entgegnete der lange
Mensch mit dem sommersprossigen Gesicht und den
weißblonden Haaren in aller Trockenheit, die ihm eigen
war. »Lenorchen schwatzt nämlich, und das ist nicht von
Pappe. Wirft kein gutes Licht auf unsern lieben Ralf.«
»Wie steht es mit, den Wehwehchen?«
»Das im Bäuchlein ist futsch.«
»Von wie lange ungefähr?«
»Zwei Monate.«
»Hat sie sehr zu leiden gehabt?«
»Nein, ich gab ihr eine Spritze. Nun duselt sie dahin und
redet.«
Prüfend sah der Professor auf die Patientin nieder, die ein
fieberheißes Gesicht hatte. Um die Stirn trug sie einen
Verband.
»Das ist ja noch ein halbes Kind. Scheint hübsch zu sein.«
»Und ob!« bekräftigte der Lange mit einer Pomadigkeit, die
andere manchmal in Rage bringen konnte. Sein trockener
Humor ließ da, wo er auftauchte, keine Traurigkeit
aufkommen, was den Kranken oft bessere Medizin war als
sämtliche Mixturen.
»Ausgerechnet mich scheint sie für ihren Mann zu halten –
Kunststück, so schön wie ich bin!«
Die beiden anderen konnten nur mit Mühe ein amüsiertes
Lachen unterdrücken; denn der lange Arzt war alles andere
als schön.
»Woraus schließen Sie das?« fragte der Chef.
»Einesteils fleht sie mich an, sie nicht zu verlassen,
andererseits hält sie mich für so eine Art von Schuft – und
ich habe doch so gar keine Schuld.«
Während die Oberschwester rasch das Taschentuch gegen
die Nase drückte, beugte sich der Professor zu der Patientin
nieder, um so seinen lachenden Mund zu verbergen. Es sah
aber auch zu komisch aus, wie der junge Mann dastand mit
Sorgenfalten auf der Stirn, den langen Rücken gebeugt, als
läge auf ihm alle Last der Welt.
»Kleine Frau, wie geht es Ihnen?« sprach Hollgart sie
behutsam an, und da huschte ein Ausdruck von Qual über
ihr Gesicht.
»Lassen Sie mich, ich bin tot!« kam es dann murmelnd
über die zersprungenen Lippen. »Das wird Ralf freuen.«
Betroffen richtete der Arzt sich auf und flüsterte den beiden
anderen zu: »Was mag der Skörsen da bloß angerichtet
haben? Hat Ihnen das die kleine Frau vielleicht in ihrem
Halbdusel verraten, Wilmar?«
»Bruchstücke«, kam es gleichfalls flüsternd zurück. »Aber
wenn man sie zu leimen versteht, formen sie sich hübsch
zu einem Ganzen.«
»Und das wäre?«
»Die Schwiegermutter hat den Skörsen wahrscheinlich zur
Hochzeit mit der Tochter bewogen. Geld muß da auch eine
Rolle spielen, da das süße Dinglein von Raten spricht,
welche zwei Weiblichkeiten ihr erpressen wollen, die wohl
überhaupt ihre Peiniger sind. Müssen ja liebe Herzchen
sein – Pack möchte ich am liebsten sagen, nach alledem,
was das arme Hascherchen da mir über sie verriet. Naja,
und dann der gute Ralf. Muß ganz nett was auf dem
Kerbholz haben. Zuerst heißes Flehen, sie nicht zu
verlassen, und zuletzt der gequälte Schrei: Rühr mich nicht
an, ich verachte dich!«
»Ei, verflixt!« Der Chef kratzte sich den Kopf. »Das scheint
ja böse auszusehen. Hört mal zu: Nur wir drei allein dürfen
die Kranke betreuen, dürfen keinen anderen Arzt, keine
andere Schwester zu ihr lassen. Sonst gibt es hier einen
Klatsch, der nicht so ohne ist.«
»Weil auch ich der Ansicht bin, habe ich die Patientin in
mein Bett gelegt«, gestand die Oberschwester, und der
junge Arzt setzte hinzu:
»Weil mir das höchst sonderbar erschien, habe ich mir
gedacht: Achtung, Feind darf nicht mithören! und habe
daher die liebliche Charitas, die so dienstbeflissen
assistieren wollte, erst gar nicht in das Allerheiligste
gelassen.«
Wie Verschwörer sahen sich die drei Menschen an, die
gewohnt waren, miteinander durch dick und dünn zu
gehen. Und sie taten es auch, der Chef konnte den beiden
Getreuen trauen wie sich selbst.
Als vierter hatte bisher Dr. Skörsen gezählt, aber nachdem
man solche Unerfreulichkeiten von ihm hören mußte…
»Behalten Sie die Kleine diese Nacht hier, Oberin, und
achten Sie gut auf das, was sie spricht! Morgen früh frage
ich meine Schwägerin, ob wir ihr unser Sorgenkind ins
Zimmer bringen können.«
Tierarzt Dr. Hermann Hollgart war ein Bruder des
Chefarztes der »Barmherzigkeit« und Gatte der Dame, von
der der Professor in so wannen Worten sprach.
Sie war auch wirklich eine prächtige Frau. Immer vergnügt
und guter Dinge, voll Mutterwitz, zufrieden,
verständnisvoll und stets hilfsbereit.
Da eine Operation bei ihr notwendig wurde, hatte sie sich
dem Schwager anvertraut, der sie dann zurechtschnippelte,
wie er es schmunzelnd bezeichnete. Nun war sie über das
Ärgste hinweg, lag zufrieden in ihrem Bett und machte
Ärzten sowie Schwestern das Leben gewiß nicht schwer.
»Oha, der hohe Herr!« begrüßte sie den Professor, der
soeben eintrat. »Warum denn heute so früh?«
»Weil ich es vor Sehnsucht nach dir nicht länger aushalten
konnte«, ließ er sich schmunzelnd auf den Bettrand nieder.
»Wie geht es, geliebte Gertraude?«
»Unverschämt gut, geliebtes Dickerchen. Steck die
gestrenge Miene weg, meine Respektlosigkeit hört ja keiner.
Rück lieber mit deinem Anliegen heraus.«
»Wer sagt dir denn, daß ich eins habe?«
»Mein sechster Sinn, Schwagerherz. Schieß los!«
So sprach er denn über das, was er von anderen gehört und
selbst beobachtet hatte. Sprach rückhaltlos, weil er wußte,
daß er dieser Frau voll und ganz vertrauen konnte.
Aufmerksam hörte sie zu und wischte sich, als er schwieg,
über die nassen Augen.
»Gott, so ein armes Wurm! Also los, ein Bett her, an die
gegenüberliegende Wand gestellt, und dann hinein mit der
kleinen Frau! Ist sie immer noch ohne Besinnung?«
»Seit heute früh nicht mehr. Aber eine Gesellschafterin
wirst du kaum an ihr haben, sie liegt apathisch da und
spricht kein Wort.«
»Na, laß man, das kommt noch«, tröstete Gertraude. »Sie
wird sich schon alles vom Herzen reden, das heißt, falls sie
Vertrauen zu mir fassen sollte.«
»Wer sollte das bei dir wohl nicht?« entgegnete er warm.
»Aber nicht aufstehen, Traude, hörst du?«
»Warum sollte ich denn?«
»Nun, ich kenne dich doch. Dich und deine
Hilfsbereitschaft.«
»Die aber nicht so weit geht, daß ich mir dabei Schaden
zufüge«, unterbrach sie ihn lachend. »Ich werde schon die
Klingel in Bewegung setzen, wenn die Kleine was braucht.«
»Und bestimmt nicht selbst zu ihr gehen?«
»Bestimmt nicht – auf Ehre!«
»Dann bin ich beruhigt.«
»Das beruhigt wiederum mich. Nun ab mit dir, schaff dein
Sorgenkind her!«
Eine halbe Stunde später wurde dann Lenore umgebettet,
höchstpersönlich von der Oberschwester und dem
Professor. Wenig später erschien dann auch sein Assistent
Dr. Wilmar Hörse und fragte verschmitzt:
»Gnädige Frau, ist das nun ein fürstliches Aufgebot oder
nicht?«
»Wenn Sie dabei sind, immer«, gab sie schlagfertig zurück.
Doch dann nahm sie mal erst ihren »Zuwachs« in
Augenschein und war nicht wenig überrascht. Sie griff nach
Block nebst Drehstift, die auf dem Nachttisch lagen, und
schrieb im Telegrammstil, während die anderen um die
Kranke bemüht waren:
Der kleinen Frau schon einmal begegnet. Anfang November.
Saß auf dem Bahnhof im Wartesaal verschüchtert und weinend.
Eine Woche verheiratet, wartete auf den Gatten. Hatte Hunger,
gab ihr eine Schnitte ab. Wurde dann zutraulich, die übrigens
bildhübsche Kleine, lachte sogar. Gerade da erschien der Herr
Gemahl. Sprach von Gewissensbissen, weil er sie so lange warten
ließ. Leider mußte ich fort zum Zug – aus’.
Diesen Zettel steckte Gertraude verstohlen dem Schwager
zu, der ihn in die Kitteltasche gleiten ließ. Später las er ihn
dann gemeinsam mit der Oberschwester und dem
Assistenten, und dann sahen sie sich erst einmal betroffen
an.
»Au Backe!« sprach Wilmar als erster. »Ein Geheimnis
umhüllt uns mit dunstigem Nebel.«
»Durch den meine Schwägerin schon ihr Geisteslicht
dringen lassen wird«, spann der Chef trockenen Tones den
Faden weiter. »Außerdem werde ich dem guten Ralf, sofern
ich seiner ansichtig werde, mal so ein bißchen die
Daumenschrauben ansetzen.«
Es war am nächsten Tag gegen Abend, als es wieder an der
Tür zum Allerheiligsten klopfte, wie die Zimmer des
Professors nebst dem der Oberschwester von der ganzen
Belegschaft betitelt wurden. In der Annahme, daß es
»Agathchen« wäre – denn kein anderer Sterblicher hätte es
sich erlauben dürfen, unangemeldet ins Allerheiligste zu
dringen – rief er sein kräftiges: »Herein!«
Doch nicht die rundliche Gestalt mit dem Häubchen auf
dem glattgescheitelten Haar trat durch die aufgehende Tür,
sondern ein hochgewachsener Mann.
»Ach, Sie sind es, Herr Dr. Skörsen«, sagte der Chef
gedehnt, und der junge Arzt zuckte bei der formellen
Anrede zusammen. »Ist gut, daß Sie da sind, ich habe mit
Ihnen zu sprechen.«
»Nicht mehr erforderlich, Herr Professor«, winkte der
andere müde ab. »Ich bin von dem, was Sie mir sagen
wollen, bereits unterrichtet.«
»Wer tat es?«
»Mein Hauswirt.«
»Aha! Und was haben Sie zu Ihrer Entschuldigung
vorzubringen?«
»Nichts, Herr Professor.«
»Nehmen Sie Platz!«
Ralf tat es. Lehnte sich in dem tiefen Sessel zurück und
schloß die Augen. Sein hartgeschnittener Mund zuckte.
Und da war es dem ihm gegenübersitzenden Mann, als ob
er die warnende Stimme der Oberschwester hörte: Ei, Herr
Professor, erst hören, und dann, wenn mit Recht,
verurteilen.
»Kognak?« fragte er kurz.
»Bitte.«
»So, mehr gibt es nicht«, erklärte Hollgart energisch,
nachdem Ralf drei Glas des scharfen Getränks
hinuntergestürzt hatte. Er brachte die Flasche in Sicherheit
und betrachtete den anderen kopfschüttelnd.
»Sie scheinen mir nicht zu knapp durcheinander zu sein,
mein lieber Freund. Ich kann mir nicht helfen, ich finde
mich in Ihnen einfach nicht zurecht. Sie sind doch sonst
ein scharfsinniger Mensch, wie konnten Sie sich da bloß
von zwei – äh, hm – so unverantwortlich blenden lassen?
Hat die Gattin denn nie Klage über ihre Peiniger…«
Bei dem Wort zuckte der junge Arzt zusammen, als hätte
man ihm eine Ohrfeige versetzt. Hollgart, der es bemerkte,
murmelte verlegen:
»Entschuldigen Sie, bitte!«
»Nichts zu entschuldigen, Sie haben ja recht«, kam es
endlich bitter von den schmalen Männerlippen. »Daß ich
meine Verblendung büßen muß, ist nur gerecht. Aber daß
meine Frau so unsagbar darunter leiden mußte, das ist es,
was mich fast wahnsinnig werden läßt.«
Aufstöhnend beugte er sich vor, dabei die Fäuste in die
Augen pressend. Und da hatte der Professor das Gefühl, als
stülpe sich ihm der Magen um.
»Aber, aber«, würgte er hervor. »Wie kann man nur? Sie
sind doch ein Mann.«
»Aber was für einer!« lachte Ralf hart auf. »Nämlich einer,
der sich von zwei raffinierten Weiblichkeiten blauen Dunst
vormachen läßt, wie Herr Warteck mir voller Empörung
entgegenschrie. Ich kann dem Mann noch nicht einmal
gram sein, er sprach die Wahrheit – eine grausame
Wahrheit.«
»Ralf, nun reißen Sie sich mal gefälligst zusammen! Ich
kann Ihre Selbstvorwürfe ja verstehen, aber sie dürfen nicht
in Verzweiflung ausarten. Ihre Frau lebt ja und wird gewiß
nicht unversöhnlich sein.«
»Doch, sie verachtet mich.«
»Hat sie Ihnen das gesagt?«
»Ja.«
»Bei welcher Gelegenheit?«
»Bitte, Herr Professor.«
»Nichts da, mein Lieber!« wurde der andere unwirsch. »Sie
sind doch Arzt und müssen daher wissen, daß es Wunden
gibt, bei denen man beherzt die Sonde ansetzen muß,
wenn man sie zum Heilen bringen will. Also?«
Da sprach der Mann mit müder, schleppender Stimme.
Sagte alles, verschwieg auch das kleinste nicht. Als alles
gesagt war, meinte Hollgart achselzuckend:
»Da wundern Sie sich etwa noch darüber, daß Ihre Gattin
Sie verachtet?«
»Nein, jetzt nicht mehr, nachdem mir die Binde von den
Augen gerissen wurde, die ich Trottel mir so arglos
vertrauend umbinden ließ. Wie soll ich wohl Achtung von
meiner Frau verlangen, der ich mich selbst verachten
muß?«
»Na ja, gewiß.« Der Professor räusperte sich, dem es aber
auch gar nicht wohl in seiner Haut war. »Fehler macht ja
schließlich jeder, sonst wären wir ja keine fehlerhaften
Menschen. Wie heißt es im Horaz: Niemand wird ohne
Fehler geboren, der Beste ist der, den die kleinsten
drücken.«
»Nun, klein sind die meinen doch wahrlich nicht.«
»Aber auch nicht unverzeihlich.«
»Gebe Gott, daß meine Frau genauso denkt oder
wenigstens mit der Zeit denken lernt.«
»Wird sie schon, sie ist ja noch so jung. Und nun mal eine
Frage: Wußten Sie wirklich nicht, daß Ihre Gattin sich – äh,
hm – in gesegneten Umständen befand?«
»Nein. Ich konnte mich ja gerade in letzter Zeit so wenig
um sie kümmern, weil ich beruflich so völlig in Anspruch
genommen war. Und dennoch… Ach, was soll man noch
viel darüber reden, verpfuscht bleibt verpfuscht.«
»Hören Sie mal, Ralf, ich hätte nie gedacht, daß Sie die
Flinte so leicht ins Korn werfen könnten. Sie tun es doch
bei den Kranken nicht, geben die Hoffnung bis zuletzt
nicht auf. – Na ja, ich will da nicht so klug reden«, lenkte er
rasch ab, als er das qualdurchwühlte Gesicht sah. »Lassen
wir genug sein des grausamen Spiels, damit Sie endlich zur
Ruhe kommen.«
»Ruhe – ich? Das ist ja wie ein Witz, Herr Professor. Darf
ich jetzt zu meiner Frau?«
»Auch das noch! Mein lieber Freund, Sie gehen doch sonst
so behutsam mit Ihren Kranken um, bewahren sie vor
Aufregung wie ein Zerberus. Wissen Sie was? Gehen Sie
nach Hause, nehmen Sie eine Tablette, meinetwegen auch
zwei…«
»Nein, nach Hause gehe ich nicht«, wurde er hart
unterbrochen. »Es würde dann sicherlich ein Unglück
geben.«
»Mein Gott, Mann, Sie können einem ja die kalte Angst in
die Glieder jagen«, brummte der Dicke unbehaglich. »Ich
glaube jetzt auch, daß Sie in dieser Verfassung zu allem
fähig wären. Vergessen Sie um Himmels willen nicht das
vierte Gebot!«
»Ich, Herr Professor?«
»Auch Sie – trotz allem. Du sollst Vater und Mutter ehren.«
»Ach nee?«
»Bengel, Sie sind mir heute zu rebellisch. So gehen Sie
denn in das Zimmer, das Ihnen hier zur Verfügung steht.
Legen Sie sich ins Bett, aber nicht ohne Schlaftabletten.«
Damit schob er ihn kurzerhand hinaus, und als Ralf
verschwunden war, knurrte er erbost:
»Verflixte Weiber! So was müßte auf dem Scheiterhaufen
verbrannt werden.«
Frau Skörsen senior und die ihrer würdige Tochter Anka
hatten die vergangenen drei Tage nicht gerade in
geruhsamer Beschaulichkeit verbracht. Aber nicht etwa,
weil ihnen das Gewissen schlug, das sie übrigens gar nicht
besaßen, sondern aus feiger Angst vor dem Sohn und
Bruder.
Und daß diese Angst nicht unbegründet war, sollten sie
erfahren, als der Mann vor ihnen stand, um Abrechnung zu
halten. Hoch aufgerichtet stand er da, mit steinernem
Gesicht und einer Ruhe, die manchmal ärger wirken
konnte als ein Wutausbruch. Jedes Wort, das er sprach,
kam dem Sturz eiskalten Wassers gleich.
»Also, das bist du, Mama, wirklich du«, besah er sich ganz
eingehend die Frau, die aus feiger Angst an allen Gliedern
zitterte, weil hinter dieser eiskalten Ruhe eine helle Flamme
zu lodern schien. »Und dich habe ich bis gestern mittag
noch über alle Frauen der Welt gestellt. Nun, für meine
blöde Verblendung werde ich die Konsequenzen tragen,
aber auch ihr werdet es für eure erbärmliche Niedertracht.«
»Ralf, du sprichst mit deiner Mutter!«
»Leider.«
»Ralf, denk an das vierte Gebot!«
»Habe ich bisher stets getan. Doch nun ist Schluß damit –
böse Beispiele verderben gute Sitten.«
»Ralf, so hab doch mit mir Erbarmen!«
»Hast du das etwa mit dem jungen Geschöpf gehabt, das
ich dir so arglos anvertraute? Sprich jetzt nicht, es wäre ja
doch nur Lüge und Scheinheiligkeit. Um die Sache kurz zu
machen: Fortan trennen sich unsere Wege. Du wirst dich
nach einer anderen Wohnung umsehen müssen, da Herr
Warteck mir diese gekündigt hat.«
»Dir?«
»Natürlich, wem denn sonst? Denn ich bin der Eigentümer
dieser Wohnung, weil ich die Miete zahlte. Jedenfalls muß
die Wohnung bis zum ersten März geräumt sein. Das wäre
das. Und nun weiter: Selbstverständlich zahlst du die
Monatraten an meine Frau nach wie vor.«
»Und wenn ich es nicht tue?«
»Dann gibt es ein Gesetz, das dich dazu zwingen wird.«
»Da soll ich von den paar Groschen, die mir bleiben, gar
noch die Miete für die neue Wohnung zahlen?«
»Ganz recht. Die paar Groschen betragen immerhin
monatlich dreihundert Mark, davon kann eine Person ganz
gut leben.«
»Und Anka?«
»Die soll arbeiten und sich ihren Lebensunterhalt selbst
verdienen, wie es Millionen Mädchen auch müssen. Und
nun genug davon, damit wir endlich zum Ende kommen.
Das alles widert mich nämlich an. Der Koffer, den ich in
Berlin mithatte, befindet sich im Krankenhaus, wo ich fürs
erste auch wohnen werde. Die Sachen, die noch hier sind,
hole ich später ab, auch die von meiner Frau.«
»Und die Möbel?«
»Komische Frage. Du scheinst immer noch nicht begriffen
zu haben, daß die Wohnung bis zum ersten März geräumt
sein muß. Bis dahin werde ich wohl noch einige Male
herkommen müssen und ersuche euch, mir dann nicht in
den Weg zu treten. So, das wäre alles.«
Brüsk wandte er sich ab, die Tür fiel hinter ihm zu, und die
beiden Zurückbleibenden saßen erst einmal da, als hätte
man ihnen einen Eimer eiskaltes Wasser über den Kopf
gegossen.
Drei Tage lang lag Lenore noch so apathisch da. Dann
begann langsam das Interesse für ihre Umgebung, die sie
bisher kaum wahrgenommen. Die Augen hatten den
stumpfen Ausdruck verloren, blickten, wenn auch nicht
gerade munter, so doch schon klar, und was sie erspähten,
regte die Denkfähigkeit an.
Daß sie im Krankenhaus lag, war ihr natürlich bekannt. Sie
war ja noch bei Bewußtsein gewesen, als man sie dort
einlieferte. Doch nachdem ihr der Arzt die Spritze gegeben
hatte, hatte die Denkfähigkeit ausgesetzt. Im Dämmerschlaf
duselte sie dahin, gleichgültig gegen alles, was mit ihr
geschah.
Zwar war Lenore sensibler Natur, aber so sensibel nun
wiederum auch nicht, um völlig in Apathie zu versinken.
Schließlich zählte sie erst zwanzig Jahre, war körperlich wie
geistig kerngesund. Da rang sich die Natur schon durch,
hinauf zum Licht, versank nicht in die Düsternis völliger
Lethargie.
Zuerst fiel Lenore auf, daß sie sich jetzt nicht mehr in dem
Zimmer befand, in das man sie nach der Einlieferung
bettete. Als sie dann den Blick weiterschweifen ließ,
bemerkte sie in dem gegenüberliegenden Bett eine Dame,
die sie freundlich anlachte. Sie kam ihr irgendwie bekannt
vor, doch bevor sie noch darüber grübeln konnte, wo sie
dieses Gesicht schon einmal gesehen hätte, sprach eine
Stimme lieb und herzlich:
»Guten Morgen, kleines Murmeltierchen! Endlich
ausgeschlafen?«
»Ja.«
»Oho, das klingt noch reichlich verträumt. War es denn so
schön im Land der Träume?«
»Ja.«
»Na, lassen Sie nur, auf unserer alten Mutter Erde ist es
auch ganz schön. Doch nun schauen Sie mich mal genauer
an – fällt Ihnen an mir nichts auf?«
»Doch, Sie kommen mir irgendwie bekannt vor, ich kann
mich nur nicht erinnern.«
»Obwohl wir bereits von dem berühmten Scheffel Salz die
ersten Körnchen miteinander verzehrten?«
»Wie soll ich das verstehen?«
»Nun, das Salz befand sich in der Schnitte Brot, die ich
Ihnen spendierte.«
»Dann sind Sie die Dame vom Bahnhof?«
»So ist es.«
»Was tun Sie denn hier?«
Es klang so erstaunt, daß die andere lachte. Und dieses
warme, herzliche Lachen legte sich wie Balsam auf Lenores
wundes Gemüt.
»Was tut man wohl im Krankenhaus, wenn man nicht
gerade zur Zunft gehört, Sie Dummchen?«
»Man ist krank.«
»Also. Das bin ich auch, vielmehr ich war es. Denn jetzt
fühle ich mich wieder mopsfidel und möchte aufstehen,
wenn mein gestrenger Herr Schwager nicht so hartherzig
wäre.«
»Hat denn der Herr über Sie zu bestimmen?«
»Will ich meinen. Er ist hier nämlich Chefarzt.«
»Professor Hollgart?«
»Ganz recht. Ich habe die Ehre, die Frau seines Bruders zu
sein, führe den schönen Namen Gertraude Hollgart.«
»Danke. Daß ich Lenore Skörsen heiße, ist Ihnen wohl
schon bekannt?«
»Allerdings. Ihr Name steht ja auf der Tafel über Ihrem
Kopf.«
Wird sie nun nach ihrem Mann fragen? dachte Gertraude
erwartungsvoll.
Doch nein, Lenore schwieg und war Minuten später
eingeschlafen.
Nun, Traude war auch so zufrieden. Es schien mit dem
armen Wurm, wie sie Lenore bei sich nannte, endlich
bergauf zu gehen.
Da der Herr Professor seine Schwägerin nicht im
Krankenzimmer sprechen konnte, weil man ja nicht sicher
war, ob Lenore da nicht mithörte, hatte er Gertraude
gebeten, alles Bemerkenswerte über diese aufzuschreiben,
was sie auch gewissenhaft tat.
Doch so viel wie heute hatte noch nie auf dem Zettel
gestanden, den Gertraude dem Schwager zusteckte, als er
später erschien. Er ging ans Fenster, las, nickte zufrieden,
trat dann an das Bett und sah prüfend auf die Fieberkurve.
»Also fieberfrei«, sprach er absichtlich laut, worauf die
junge Frau auch prompt erwachte.
»Da ist unser Sorgenkind ja endlich«, lachte er sie
freundlich an. »Dazu noch mit so klaren Guckerchen, das
freut mich aber. Aha, da steckt unsere Schwester Agathe
ihren haubengeschmückten Kopf durch den Türspalt. Und
das Gesicht, das darüberschwebt, gehört dem Nesthäkchen
unserer ärztlichen Zunft, Dr. Hörse benamst. Tretet näher,
damit unsere kleine Majestät ihren Vasallen Audienz
erteilen kann.«
Sie traten näher und standen dann vor dem Bett Lenores,
die so rührend jung und so rührend süß dalag in ihrem
spitzenbesetzten Nachtkleidchen. Langsam stieg die Röte
der Verlegenheit in das feine Gesicht.
»Guten Tag«, sagte sie schüchtern. »Ich – ich möchte aber
nun wirklich nicht… Bitte, nicht so viel Aufhebens mit mir
machen.«
»Das tun wir hier mit schönen Frauen immer«, blähte sich
Wilmar förmlich auf. »Bitte sehr: Cherchez la femme!«
In dem Moment lugte ein allerliebstes Gesichtchen durch
den Türspalt, und eine Stimme fragte zaghaft:
»Darf ich nun endlich zu meiner Mutti?«
»Du darfst«, ermunterte der Chef des Hauses, worauf ihm
ein reizendes Mägdlein um den Hals flog, das aber auch
kein bißchen Respekt vor dem Gefürchteten zu haben
schien. Ein rosiger Mund drückte sich auf seine Wange, was
er sich schmunzelnd gefallen ließ. Doch dann setzte er eine
Amtsmiene auf.
»Das Plappermäulchen im Zaum halten, verstanden?«
»Bei dem Ton allemal, Onkelchen«, lachte die Kleine ihn
lieblich an. Dann huschte sie zum Bett Gertraudes, küßte
sie stürmisch und setzte sich dann mit einer Miene auf den
Bettrand, die zu sagen schien: Geschafft ist geschafft.
Nachdem sich die beiden Ärzte nebst der Oberschwester
lachend entfernt hatten, sprach Gertraude zu Lenore
hinüber, die dem allen mit sehnsüchtigen Blicken gefolgt
war:
»Das ist meine Tochter llga – und das ist meine liebe
Zimmergenossin Frau Skörsen.«
»Guten Tag, Frau Skörsen«, grüßte das Mädchen artig. »Wie
geht es Ihnen?«
»Danke, ich kann nicht klagen.«
»Das hört man gern. Und wie ist es mit dir, geliebtes
Muttileinchen, wann kommst du nach Hause?«
»Das sind zwei Fragen, du Irrwisch. Also: es geht mir gut,
und nach Hause komme ich vorerst noch nicht.«
»Oh, Mutti!«
»Oh, llga! Zieh kein Mäulchen, es geht nicht anders. Wie
steht es zu Hause?«
»Alles noch auf demselben Fleck. Die Madam hat nun
endlich ihr Kind gekriegt, entzückend, sage ich dir. Mit
einer so süßen Schnauze und so wunderbar gefleckt. Auch
Eulalia hat sich vermehrt, aber diesmal nur zwei Junge
geworfen.«
»Halt ein!« unterbrach die Mutter lachend ihre Tochter, die
vor Eifer ganz rote Bäckchen bekommen hatte. »Sieh dir
mal die entsetzten Augen von Frau Skörsen an. Sie wird
einen schönen Begriff von deiner Ausdrucksweise
bekommen.«
»Ja, warum denn?«
»Weil du erzählst, das Kind der Madam hätte eine süße
Schnauze, und Eulalia hätte Junge geworfen.«
»Richtig!« lachte Ilga hell auf. »Nichtsdestotrotz stimmt’s.
Denn das Kind ist ein Kälbchen, und die Jungen sind
Kätzchen.«
»Ach so«, versuchte Lenore mit den anderen zu lachen,
doch es klang wie ein schluchzender Laut.
Erschrocken sah Ilga ihre Mutter an, die ihr einen Wink
gab, in der Erzählung fortzufahren. Doch so munter wie
vorher ging es nicht mehr, das wehe Lachen klang noch in
Ilga nach, die so ganz das Kind ihrer Mutter war und daher
auch das weiche Herz besaß.
Das heißt, auch ihr Vater war ein warmherziger Mensch,
besaß dazu Humor und ein frohes Gemüt. Also konnte das
Kind dieser Eltern ja gar nicht anders sein, zumal Ilga von
beiden etwas mitbekommen hatte. Groß, schlank, dunkles
Haar, blaue Augen und ein rundliches Gesicht mit frischen
Farben und Grübchen in den Wangen. Alles zusammen gab
ein reizendes Mägdlein ab.
Ilga, die durch die Briefe der Mutter über Lenore bereits
unterrichtet war, tat diese ohnehin schon leid. Und nun sie
dieses elende Geschöpf mit den übergroßen Augen sah, tat
ihr das Herzchen sogar weh.
»Wir haben nämlich eine kleine Landwirtschaft«, erzählte
sie weiter, zuerst zögernd, dann immer eifriger. »An Tieren
besitzen wir ein Pferd, eine Kuh, drei Schweine, zwei
Hunde, zwei Katzen, Hühner, Enten, Gänse, Puten nun,
eben das, was zu einer Landwirtschaft gehört.«
»Wie schön«, sagte Lenore leise. Es klang so voller
Sehnsucht, daß Ilga nun wirklich die Tränen kamen.
Gut, daß die Oberschwester eintrat und das Essen für
Lenore brachte. Da sprang Ilga lachend auf.
»Aha, das bedeutet soviel wie einen Hinauswurf. Also,
verehrte Frau Oberin, ich gehe schon freiwillig.«
Sie verabschiedete sich von der Mutter mit herzlichem Kuß,
winkte den anderen zu. Die Tür schloß sich, wurde dann
jedoch noch einmal spaltbreit geöffnet.
»Muttilein, das übliche Mitbringsel befindet sich wie üblich
in der üblichen Tasche.«
Dann erst entschwand Ilga endgültig, und die
Oberschwester sagte lachend:
»So ein richtiger Wirbelwind. Sie hat Sie doch nicht etwa
aufgeregt, Frau Skörsen?«
»O nein, im Gegenteil, sie kann so lieb erzählen.«
Jetzt kam noch eine Schwester hinzu, die das Essen für
Gertraude brachte. In den letzten drei Tagen hatte die
Oberin sie allein versorgt, doch nun Lenore wieder bei
vollem Bewußtsein und somit ihrer Sinne mächtig war,
konnte man getrost das Pflegepersonal zu den Patientinnen
lassen.
Die junge Schwester konnte es sich natürlich nicht
verkneifen, die Frau des »schönen Mannes« der Anstalt
neugierig zu betrachten. Also bemerkte sie auch den
Kopfverband und hätte so liebend gern gewußt, warum,
weshalb, wieso. Sie wagte natürlich nicht zu fragen, weil ihr
das in Gegenwart der Oberin schlecht bekommen wäre.
»Na, Schwester, was bringen Sie denn heute Gutes?« fragte
Gertraude munter, sich dabei ohne Hilfe aufsetzend. »Ah,
Hühnerfrikassee, Salat, Kompott und Speise, direkt
fürstlich. Und was kriegt mein kleiner Kumpel?«
»Der muß noch ein wenig diät leben«, antwortete die
Oberin, die Lenore soeben aufgerichtet hatte und nun die
Kopfstütze des Bettes hochzog. »Sitzen Sie so gut, Lenore?«
Schau mal an, beim Vornamen wird sie von dem Rollmops
– das war der Spitzname der Oberschwester – genannt!
dachte die junge Schwester respektlos. Gehört somit zur
Kategorie der Bevorzugten wie die dicke Traude.
Absichtlich machte sie sich in dem Zimmer zu schaffen, in
der Hoffnung, etwas Interessantes zu erlauschen. Doch
leider schickte die Oberin sie hinaus, und enttäuscht zog
sie ab.
»Guten Appetit!« sprach Agathe zu Gertraude hin, die, das
Tablett vor sich, vergnügt zu schmausen begann, während
Lenore keine Anstalten machte, ihre Brühe zu löffeln.
Bittend sah sie die Oberin an, die jedoch kein Erbarmen
hatte.
»Nichts da, kleine Frau, es wird gegessen! Vier Tage haben
Sie so gut wie nichts in den Magen gekriegt. Wenn Sie so
weitermachen, werden Sie ewig hier liegen müssen.«
»Warum denn nicht? Es ist doch hier so schön.«
»Kind, Sie sind wohl nicht recht gescheit!« sagte Traude in
so komischem Entsetzen, daß nicht nur die Oberschwester
lachte, sondern auch Lenore. »Du lieber Himmel, welcher
Mensch bleibt denn gern im Krankenhaus! Nun essen Sie
gefälligst, sonst steh ich auf und füttere Sie.«
»Sie kriegt es fertig«, bestätigte Agathe immer noch lachend.
»So werde ich das wohl verhindern müssen, indem ich Sie
füttere.«
Was dann auch geschah. Lenore mußte schlucken, bis der
Teller leer war.
Sie nahm das Tablett, ging hinaus, und als Gertraude
bemerkte, daß Lenore bereits schlief, kuschelte sie sich voll
Behagen in das Kissen und wechselte hinüber ins
Traumland.
Indes erstattete der Chefarzt dem Kollegen Bericht über das
Befinden seiner Frau.
»Ich glaube, wir haben sie jetzt über den Berg«, sprach er
dann weiter. »Wenn kein Rückschlag kommt, dann kann
sie in ungefähr zehn Tagen die Anstalt verlassen. Und was
wird dann aus ihr?«
»Wenn ich das wüßte, Herr Professor. Ginge es nach mir,
würde ich sie solange in einer Pension unterbringen, bis
ich eine Wohnung für uns gefunden habe. Aber ich fürchte,
sie wird darauf nicht eingehen.«
»Das fürchte ich auch. Na, warten wir ab, mit der Zeit
kommt dann auch der Rat. Hauptsache, daß die kleine Frau
wieder ganz gesund wird, körperlich wie seelisch. Ich bin
nur gespannt, wann sie nach Ihnen fragen wird. Schließlich
können Sie ja nicht ihrem Gedächtnis entschwunden sein,
denn das Hirn ist vollkommen intakt.«
So war es auch. Lenore beschäftigte sich in Gedanken
schon mit dem Gatten, doch keine Frage kam über ihre
Lippen, obwohl sie wußte, daß er wieder im Krankenhaus
arbeitete.
Vernünftig von ihm, sich bei ihr nicht sehen zu lassen.
Unweigerlich hätte sie ihm die Tür gewiesen, so verbittert
war sie.
Schade, daß die Heilung der Wunde so gut voranging.
Hätte sie es nur gekonnt, so hätte sie das gewiß
aufgehalten, um noch recht lange hierzubleiben, wo es ihr
so gut ging. Wo alle so lieb zu ihr waren, hauptsächlich
Frau Hollgart. Wenn Lenore morgens erwachte, freute sie
sich schon auf den Tag, den sie mit dieser prächtigen Frau
verbringen durfte, die sie so sehr an ihre Mutter erinnerte.
Sie schwatzten geruhsam über dies und jenes und kamen
so eines Tages auch auf Lenores Eltern zu sprechen. So
erfuhr Gertraude, daß die Mutter der jungen Frau einem
Patriziergeschlecht entstammte, da oben von der
Waterkant.
»Daher stamme ich auch«, sagte Traude vergnügt. »Nur daß
mein Vater kein Patrizier war, sondern ein gottgelehrter
Mann, nämlich Pfarrer. Übrigens war ich das schwarze
Schaf der Familie, weil ich so gar keine sittsame
Pfarrerstochter abgab. War eher wie ein ungebärdiges
Füllen, das über die Stränge schlug vor lauter Übermut.
Übrigens hatte ich ein zweites Ich, das mir auch sogar
äußerlich ähnlich sah. Allerdings waren wir auch so um
sieben Ecken miteinander verwandt. Wir hielten
zusammen wie Pech und Schwefel. Jedenfalls war der Herr
Senator über seine Tochter genauso entsetzt wie der Herr
Pfarrer über sein mißratenes Kind. Schade, daß wir später
so nach und nach auseinanderkamen. Das lag wohl daran,
daß sie erstens einige Jahre früher heiratete als ich und
dann mit ihrem Gatten lange auf Reisen ging. Zuerst
kamen Kartengrüße aus aller Herren Länder, dann blieben
auch die allmählich aus, und zuletzt hörten wir überhaupt
nichts mehr voneinander. Ich denke noch so oft an meine
liebe Melanie…«
»Wie heißt sie?« fragte Lenore hastig dazwischen.
»Melanie«, entgegnete die andere verwundert. »Melanie
Höverking.«
»Das war meine Mutter.«
Zuerst sah Gertraude die junge Frau nicht gerade geistreich
an, doch dann ging das Fragen los, hin und her, kreuz und
quer. Kein Irrtum war möglich, die Tochter Melanie
Höverkings lag dort im Bett.
»Na, so was.« Gertraude schüttelte immer wieder den Kopf.
»Gibt es nun eine Schicksalsbestimmung oder nicht?
Ausgerechnet mit der Tochter meiner Lanie liege ich hier
Bett an Bett. Daher kamen Sie mir gleich so lieb und
vertraut vor. Obwohl Sie Ihrer Mutter nicht direkt ähnlich
sehen, haben Sie doch so manches von ihr, was mir jetzt so
richtig auffällt, nun ich im Bilde bin. Das Kind meiner
Lanie – ich kann es immer noch flicht fassen. Na, da
werden wir mal gleich die fremde Anrede lassen. Du bist
für mich die Lenore, und ich bin für dich die Tante Traude,
einverstanden?« .
»Und wie! Lieber Gott, ich danke dir, daß du mir einen
Menschen in den Weg führst, der meine Mutter gekannt
und geliebt hat.«
Es klang so erschüttert, daß der weichherzigen Gertraude
die Tränen in die Augen schossen.
»Lenore, willst du mir nicht von deinen Eltern erzählen?«
fragte sie leise.
»Gern. Ich bin ja so froh, daß ich mich einmal aussprechen
kann.«
Und dann erzählte sie von ihrer Mutter, dieser lieben,
gütigen Frau, von ihrem Vater, der erheblich älter war und
wohl gerade deshalb seine Frau auf Händen trug und sein
einziges Kind förmlich vergötterte. Sprach von ihrer
Kindheit, die so unbekümmert und glückselig verlief, bis
sich das Glück jäh von ihr abwandte.
Zuerst der Tod des Vaters. Dann kam der Schlaganfall, der
die Mutter lähmte, dann die ständige Angst um das geliebte
Leben, dann die überstürzte Heirat, gewissermaßen am
Sterbebett der Mutter.
Und dann brach sie brüsk ab. Die Lippen preßten sich
zusammen, die Augen verfinsterten sich.
Gertraude sah es mit Schrecken, hütete sich jedoch, eine
Frage zu stellen. Leise sagte sie:
»Dann hast du armes Kind in deinen jungen Jahren ja
schon viel Schweres mitgemacht. Ich weiß auch gar nicht,
was ich dir zum Trost sagen soll, es würde alles so banal
klingen. Jedenfalls freue ich mich riesig, die Tochter meiner
Lanie gefunden zu haben«, schlug sie absichtlich einen
munteren Ton an. »Da werden wir beide jetzt
Gesprächsstoff haben, noch und noch.«
Weiter konnte sie nicht sprechen, da Dr. Hörse sich durch
die Tür schob, wie gewöhnlich die Hände in den
Kitteltaschen, den langen Rücken leicht gebeugt. Vergnügt
pfiff er die Melodie des Liedes:
Von allen den Mädchen so blink und so blank gefällt mir
am besten die Lore…
»Sagen Sie
(
vergnügtes Huhn, wann haben Sie mal schlechte
Laune?« fragte Gertraude lachend, und seelenruhig kam es
zurück:
»Dann müßte ich ja einen Flunsch ziehen, der auf die
Dauer ein verknittertes Gesicht macht – und meins ist doch
so glatt und schön. – Und was macht unsere Süße?«
»Die wird Sie bald bei den Ohren nehmen, wenn Sie weiter
so respektlos sind«, drohte Traude, worauf er sie
vorwurfsvoll ansah.
»Aber gnädige Frau, warum so streng mit dem
Wilmarchen? Er ist doch sooo ein liebes Bübchen.«
Da mußte selbst Lenore lachen – und der junge Arzt hatte
erreicht, was er wollte. Er setzte sich zu ihr, und während er
mit behutsamen Händen den Kopfverband abnahm, fuhr
er mit seinen Schnurren und Spaßen fort. Damit pflegte er
die Kranken abzulenken – dann tat es nur noch halb so
weh.
Was bei Lenore übrigens gar nicht nötig war; denn sie
fühlte keinen Schmerz, weil die Wunde fast schon heil war.
Befriedigt nahm der Arzt das zur Kenntnis.
»Na also, das haben wir beide wunderbar hingekriegt. Da
ein Verband nicht mehr nötig ist, kleben wir ein Pflaster
auf die Tonsur.«
Nachdem dies geschehen war, besah er wohlgefällig sein
Werk.
»Einfach schick, modern, überhaupt wie der letzte Schrei!
Wie ein rosenrotes Band inmitten der Lockenpracht. Herz,
bleib hart!«
Da lachte Lenore hier zum erstenmal so goldig, daß den
beiden anderen ganz warm ums Herz wurde. Sie dachten
beide dasselbe, nämlich daß Dr. Skörsen ein kompletter
Narr wäre, weil er dieses entzückende Menschenkind, das
ihm das Schicksal in die Hand gegeben, so schlecht gehütet
hatte.
»Wer wagt denn da, unsere heilige Ruhe zu stören?« sprach
Wilmar pathetisch, als es klopfte. »Herein!«
Gleich darauf stand in der Tür eine Schwester, die ganz
überflüssig fragte:
»Ist Herr Dr. Hörse hier?«
Nun, der war doch in seiner Länge bestimmt nicht zu
übersehen. Gerade wollte er fragen, ob die Schwester eine
Lupe brauchte, als ein weibliches Wesen sichtbar wurde,
das Lenore wie ein Wunder anstarrte.
»Ja – Fräulein – was machen Sie denn hier?«
»Krank sein«, versetzte Wilmar pomadig. »Aber woher
kennen Sie denn das Fräulein Fridchen?«
»Die hat doch meinen Jungen so lieb gehalten.«
»Was – etwa über die Taufe?«
»Also, Herr Doktor, daß Sie doch nie Ihre Spaßvogelei
lassen können!«
»Apartes Wort!«
Da lachte Fridchen Druschke und mit ihr die anderen.
Sprudelnd vor Eifer erzählte sie das kleine Intermezzo im
Eisenbahnabteil, in dem auch dieser fabelhafte Dr. Skörsen
mitfuhr.
Wilmar, der sie zuerst Lenores wegen unterbrechen wollte,
besann sich eines anderen und ließ dem Plappermäulchen
freien Lauf.
Und dann wagte er etwas, das Gertraude fast den Atem
verschlug.
»Was meinen Sie wohl, Fridchen, als was Ihr Fräulein sich
entpuppen wird?«
»Da bin ich aber neugierig.«
»Als Gattin unseres Dr. Ralf Skörsen.«
»Nein!«
»Ja. Machen Sie den Mund zu, Fridchen, sonst wird’s
Herzchen kalt. Und nun lassen Sie mal dieses gewiß
interessante Thema fallen, und sagen Sie mir, was Sie sonst
noch auf dem Herzen haben.«
»Ach so, ja – mein Junge zahnt.«
»Weshalb gehen Sie da nicht zum Zahnarzt?«
»Da gibt es doch gar nichts zu ziehen.«
»Doch – so ein bißchen die Beißerchen raus, damit es
schneller geht.« Und nun mal gemeinsam ab! Was meinen
Sie wohl, wie uns Dr. Skörsen auf die Zehen tritt, wenn er
erfährt, daß wir sein heißgeliebtes Weib womöglich
aufregen – es ist nämlich krank.«
Damit nahm er Fridchen Druschke ungeniert am Ärmel
und zog sie mit sich fort. Die Tür klappte zu – und unter
den beiden Zurückbleibenden war es erst einmal still.
Am nächsten Tag eröffnete der Professor seiner Schwägerin,
daß sie für eine Stunde aufstehen könnte, was dieser einen
Freudenjauchzer entlockte.
»Endlich. Nach vier Wochen wieder einmal spüren dürfen,
daß man auch Beine hat.«
»Die dir ganz nett zittern werden«, schmunzelte der
Schwager. »Wetten, daß du schon früher, als du es sollst,
wieder ins Bettchen zurücksinkst?«
»Na, du, unterschätz mich nicht. Nach der guten Pflege hier
fühle ich Kräfte, daß ich Bäume aus der Erde reißen
könnte.«
»Abwarten.«
»Aber nicht lange, ich will nach Hause. Wann?«
»Wenn dir das Aufstehen bekommt, in den nächsten
Tagen.«
»Wunderbar! Und wie ist es mit meinem reizenden
Kumpelchen?«
»Kann auch mal versuchen, sich auf die Beinchen zu
stellen. Also, dann viel Vergnügen!«
Er ging, und Gertraude wollte gerade zur Klingel greifen
und eine Schwester herbeibeordern, als ein schluchzender
Laut ihre Hand sinken Heß.
Erschrocken sah sie zu Lenore hinüber, die von Weinen nur
so geschüttelt wurde.
»Nore, um Himmels willen, was hast du denn?«
Als keine Antwort erfolgte, sondern das stoßweise
Schluchzen sich noch verstärkte, hielt es Traude nicht
länger im Bett. Sie sprang auf – zwei lange Schritte, und sie
umfaßte erbarmend die bebende Gestalt.
»Kind, du darfst doch nicht so weinen!« sagte sie
beschwörend. Doch schon umklammerten zwei Arme sie
so fest, daß sie Mühe hatte zu atmen. Ein heißes Gesicht
drückte sich gegen ihren Hals, der naß wurde von Tränen.
Und unter Herzstößen brach es heraus:
»Tante Traude, wenn du gehst, dann bin ich allein, so
furchtbar allein.«
»Aber Lenore, du hast doch deinen Mann.«
»Nein!« schrie sie so gequält auf, daß die andere
zusammenzuckte. »Ich will ihn nicht mehr sehen – nein,
ich will ihn nicht mehr sehen!«
Wieder dieses erschütternde Weinen, das Gertraude ins
Herz schnitt. Ratlos sah sie auf das zuckende Köpfchen
nieder. Ob sie nicht doch lieber den Schwager zur Hilfe
rief? Nein, erst wollte sie versuchen, mit dem verzweifelten
jungen Menschenkind allein fertig zu werden.
»Hör mal zu, mein Kind«, begann sie behutsam. »Dein
Mann ist doch nicht schlecht, er war nur in bezug auf seine
Angehörigen verblendet. Nun ihm die Augen geöffnet
worden sind, wird er sich hüten, dich noch einmal zu
ihnen zu bringen. Was meinst du wohl, wie erschüttert er
war, als er von Berlin zurückkehrte und hören mußte, was
sich während seiner Abwesenheit zu Hause zugetragen
hatte. Er ist darüber unglücklich genug.«
»Mir egal, ich gehe nicht mehr zu ihm zurück. Und wenn er
mich zwingen will, bringe ich mich um.«
Es klang so entschlossen, daß Gertraude erschrak.
»Ja, was willst du denn sonst beginnen?« fragte sie zögernd.
»Du bist doch so unerfahren, so weltfremd, daß du allein
gar nicht bleiben kannst.«
»Ob ich kann oder nicht, ich muß ja wohl.«
So unendlich traurig klang es, daß Traude die Tränen in die
Augen traten. Ein kurzes Überlegen, und dann die Frage,
die das gute Herz ihr eingab:
»Hör mal, Lenore, möchtest du erst einmal mit mir nach
Hause kommen?«
Da ging ein Ruck durch den grazilen Körper. Die Arme
sanken, und zwei verweinte Augen sahen die gütige Frau
ungläubig an.
»Tante Traude, scherzt du etwa?«
»Mein liebes Kind, danach ist mir jetzt wahrlich nicht
zumute. Im Gegenteil, ich habe Angst um dich, weil du in
deiner jetzigen Verfassung tatsächlich imstande wärest, eine
nie wieder gutzumachende Dummheit zu begehen. Zu
deinem Mann willst du nicht zurück, für dich allein
bleiben darfst du auf keinen Fall. Also wärst du in meinem
Haus am besten aufgehoben – das heißt, wenn du willst.«
»Da fragst du noch? Oh, Tante Traude.«
»Sieh mal an, wie du jetzt lachen kannst!« brummte sie.
Doch schon wurde Lenore ernst.
»Ich habe auch allen Grund dazu, Tante Traude. Weiß ich
doch nun endlich, was aus mir wird. Glaub mir, ich habe
Angst genug davor gehabt, so mutterseelenallein in der
Welt dastehen zu müssen.«
»Als Ehefrau«, warf Gertraude trocken ein.
»Das zählt nicht – und wird auch nicht mehr zählen.«
»Na, na, ist ja schon gut, reg dich bloß nicht wieder auf!
Schlaf lieber.«
»Habe gar kein Verlangen danach. Ich möchte dich
fragen…«
»Aber bitte nichts Unerfreuliches!«
»Kommt ganz darauf an. Also: werden deine Angehörigen
auch damit einverstanden sein, daß du mich so mir nichts
dir nichts ins Haus bringst?«
»Sie werden sich freuen. Genügt dir das?«
»Es ist mehr, als ich zu hoffen wagte. Wie lange darf ich bei
euch bleiben?«
»So lange du willst.«
»Ach, Tante Traude, das würde wohl sein, solange ich lebe.«
»Na schön«, meinte die andere nun schon ganz
gottergeben. »Dann hat Ilga später wenigstens eine
zuverlässige Muhme für ihre sechs Kinder, wie sie immer
großtut. Die nimmt nämlich den Mund genauso voll wie
du, mein Herzchen. Und nun hopp, heraus aus dem
weichen Pfühl! Nutzen wir die Stunde, die der gestrenge
Chef des Hauses uns bewilligt hat.«
»Ich habe keine Lust aufzustehen.«
»Wirst dich schon besinnen, wenn du mich so stramm auf
beiden Beinen siehst.«
Damit drückte sie auf den Knopf, und überraschend
schnell erschien eine Schwester, über dem Arm die Kleider
der beiden Patientinnen.
»Nanu, Schwester, können Sie hellsehen?«
»O nein, gnädige Frau, ich bin von der Frau Oberin bestens
informiert. Wer von den Damen steht zuerst auf?«
»Ich. Der kleine Faulpelz da findet es zu schön im Bett, als
daß sie es verlassen möchte. Na, immer, wie jedem schön
ist. Und nun wollen wir mal.«
Schwungvoll verließ sie das Bett, stellte sich couragiert auf
die Beine, die dann jedoch langsam zu zittern begannen.
Doch tapfer hielt sie durch, bis sie angekleidet war, dann
ließ sie sich aufatmend in den Korbsessel fallen und trank
mit Behagen den stärkenden Wein, den die Schwester ihr
brachte. Danach wurde sie so unternehmungslustig, daß sie
erklärte:
»Nun kommt ein Spaziergang durch den langen Korridor.«
»Gnädige Frau, der ist nicht vorgesehen.«
»Machen Sie nicht solche Angstaugen, Schwester Erika! Ich
nehme diese Eigenmächtigkeit auf meine Kappe, also
haben Sie nichts zu befürchten.«
Lenore vergnügt zuwinkend, verließ sie das Zimmer. Doch
kaum, daß sie einige Meter gegangen war, lief sie der
Oberschwester in die Arme.
»Ja, gnädige Frau, sehe ich recht? Sind Sie es wirklich?«
»Natürlich«, kam es lachend zurück. »Um hier als Geist
einherzuwandeln, dafür bin ich denn doch zu rundlich.«
»Na, so ein Leichtsinn! Schwester Erika!«
»Lassen Sie die Schwester in Frieden«, unterbrach Gertraude
sie gemütlich. »Die hat keine Schuld.«
»Sie können gehen«, wandte die Vorgesetzte sich an das
Mädchen, das nur zu gern entschwand. Als es außer
Hörweite war, fragte Agathe gedehnt:
»Na, gnädige Frau, wenn dieser Spaziergang nur nicht
etwas zu bedeuten hat.«
»Kluges Kind! Reichen Sie mir galant Ihren Arm und
führen Sie mich zu meinem Schwager!«
Der sah dann seiner Schwägerin unwillig entgegen:
»Also, Gertraude…«
»Stopp ab, Schwagerherz!« ließ sie sich in den nächsten
Sessel sinken. »Gib mir lieber ein Glas Wein und laß mich
dann reden. Es ist nämlich wichtig, was ich dir zu sagen
habe.«
»Brieflich hätte es auch genügt.«
»Nein, dieses nicht.«
Nachdem sie den Wein getrunken hatte legte sie sich im
Sessel zurück und erwischte gerade noch den Ärmel der
Oberin, die das Zimmer verlassen wollte.
»Bleiben Sie bitte hier! Sie haben sich wahrlich um Lenore
verdient gemacht, und von ihr werde ich jetzt sprechen.«
Sie tat es, gab alles ziemlich wörtlich wieder.
Danach war es erst einmal bedrückend still, bis der Arzt
kopfschüttelnd sagte:
»So ist dein gutes Herz wieder einmal mit dir
durchgegangen, meine liebe Traude. Aber ich weiß nicht,
ob Dr. Skörsen das anerkennen wird. Denn schließlich hast
du über seinen Kopf hinweg eine Bestimmung getroffen…«
»Ach was!« unterbrach sie ihn hitzig. »Der soll doch man
ganz ruhig sein. Hat gerade genug auf dem Kerbholz.«
»Gertraude!«
»Na ja, ich halte schon den Mund«, brummte sie halb
ärgerlich, halb beschämt. »Ist es nicht besser für ihn, daß
ich mich seiner Frau annehme, selbst über seinen Kopf
hinweg, als daß sie sich ein Leid antut?«
»Kindisches Geschwätz!«
»Wenn du dich da nur nicht irrst. Wie ist Ihre Ansicht
darüber, Frau Oberin?«
»Daß man Lenores Reden nicht auf die leichte Schulter
nehmen darf. Denn in solch einer seelischen Verfassung, in
der sie sich jetzt befindet, hat schon mancher seinem Leben
ein Ende gemacht.«
»Will ich meinen«, nickte Gertraude. »Also wird man Dr.
Skörsen mitteilen müssen…«
»Was natürlich mir zugeschoben wird«, knurrte Rudolf
Hollgart dazwischen. »Als ob es so einfach wäre, dem
armen Kerl gewissermaßen den Dolch ins Herz zu stoßen.
Außerdem wird er dann hier nicht länger bleiben wollen,
und wir sind unsere beste Kraft los.«
So kam es dann auch. Denn nachdem der Professor mit
Skörsen gesprochen hatte, lachte dieser hart auf.
»Das habe ich kommen sehen. Na, schön, mag meine Frau
ihren Willen haben – sagen wir, vorerst mal auf ein halbes
Jahr. Sie wird in der Zeit mich weder sehen noch von mir
hören, da ich ins Ausland zu gehen gedenke. Ich habe
während des Kursus, an dem auch Ausländer teilnahmen,
mancherlei Verbindungen angeknüpft, die ich jetzt
auszuwerten gedenke. Ich bitte daher, Herr Professor, mich
meiner Verpflichtung hier zu entbinden, wenn möglich
sofort.«
»Also doch! So gehen Sie mit Gott. Sollten Sie jedoch ein
Fiasko erleiden, dann steht Ihnen hier die Tür immer
offen.«
Es war drei Tage später.
Gertraude und Lenore, die jetzt schon ziemlich sicher auf
den Beinen waren, saßen in bequemen Sesseln und
blätterten in Illustrierten. Im Zimmer war es mollig warm,
doch draußen fror es, daß es knackte. Kein Wunder, da
man sich in der zweiten Hälfte des Februar befand.
»Morgen gibt es einen klaren Wintertag«, sprach Gertraude
in die Stille hinein, und Lenore sah sie erstaunt an.
»Wie kannst du das heute schon wissen?«
»Schau durch das Fenster und sieh dir die Sonne an, die
blutrot hinter dem Horizont versinkt. Oder bist du so sehr
Großstadtkind, daß du solche Anzeichen in der Natur nicht
kennst?«
»Na, Tante Traude, in der Großstadt gibt es schließlich
auch einen Himmel und Sonnenuntergang.«
»Aber alles verräuchert, mein Herzchen.«
Lenore kam zu keiner Antwort, weil Schwester Erika eintrat,
einen Koffer tragend, den sie zuerst abstellte und dann der
jüngeren der Damen einen Brief überreichte.
»Beides ist für Sie abgegeben worden, gnädige Frau.«
Sie zog sich zurück.
Lenore starrte erst einmal den weißen Umschlag an wie
etwas, das nicht ganz geheuer war. Doch nachdem sie die
Schrift erkannte, öffnete sie das Kuvert mit bebenden
Händen.
Während sie las, kam und ging die Farbe auf ihrem Gesicht
in jähem Wechsel. Dann ließ sie das Schreiben sinken und
sah wie hilflos zu Gertraude hinüber, die wohl ahnte, von
wem es kam, sich jedoch abwartend verhielt.
»Tante Traude?«
»Ja?«
»Ein Brief von meinem Mann. Willst du ihn lesen?«
»Gern, wenn du mich dieses Vertrauens für würdig hältst.«
»Bitte.«
»Na schön, gib her!«
Dann las sie aufmerksam, was da in prägnanter Schrift
stand:
Lenore! Da Du mich nicht mehr sehen willst, bin ich
gezwungen, schriftlich von Dir Abschied zu nehmen. Ich habe
mich für ein halbes Jahr als Arzt nach Australien verpflichtet.
Doch dann kehre ich wieder nach Deutschland zurück und hoffe
Dich dann seelisch wie körperlich wieder ganz auf der Höhe zu
finden. Es ist mir eine Beruhigung, Dich bei so prächtigen
Menschen wie Familie Hollgart zu wissen.
Deine Möbel habe ich einem Spediteur übergeben. Kleider,
Wäsche und sonstiges schicke ich an Deine neue Adresse. Einen
Koffer erhältst Du gleichzeitig mit diesem Brief, er enthält das,
was Du jetzt wohl nötig haben wirst. Der Kofferschlüssel steckt
im Umschlag.
Und nun leb wohl, Lenore! Zürne mir nicht zu sehr, obwohl ich
es verdient habe.
Ralf.
»Ja, Kind, du hast es nicht anders gewollt«, sagte Gertraude,
als sie den Brief zurückgab. »Nun beklage dich nicht!«
»Tue ich auch gar nicht, Tante Traude.«
Damit nahm sie den Schlüssel und öffnete den Koffer, in
dem unter anderen Sachen auch ihr Pelz lag, den sie bei
der Kälte wirklich nötig hatte. Ebenso den wannen Pullover
nebst Rock, denn sie war ja in Hauskleid und
Küchenschürze im Krankenhaus eingeliefert worden.
Auch feste Schuhe fand sie vor, Mütze, Schal, Handschuhe.
Ralf schien tatsächlich an alles gedacht zu haben.
Selbst die Kassette mit dem Schmuck fehlte nicht. Als
Lenore diese öffnete, lag obenauf ein Umschlag, in dem
einige Hundertmarkscheine und ein Zettel steckten, auf
dem stand:
Dieses zuerst für Deinen Unterhalt. Weitere Summen gehen
über Dein Bankkonto. Die Raten werden selbstverständlich
weiter gezahlt.
Ralf.
»Sieh mal, Tante Traude, wenn das da kein Unsinn ist!«
hielt Lenore ihr unmutig die Scheine unter die Nase. »Ich
habe doch Geld, von dem ich leben kann, schon allein von
den Raten…«
»Das ist aber dein Geld, mein Kind«, unterbrach Gertraude
sie gelassen. »Der Ehemann ist jedoch verpflichtet, für den
Unterhalt seiner Frau zu sorgen.«
»Gewiß. Na egal. Er muß ja wissen, was er tut.«
Am nächsten Vormittag standen die beiden im Zimmer des
Professors, um Abschied von ihm, der Oberschwester und
dem jungen Arzt zu nehmen. Gertraude rundlicher denn je,
so daß die Kleider ihr knapp paßten, Lenore schlank und
biegsam wie eine Gerte. Der Pullover war so blau wie das
leuchtende Augenpaar, das natürliche Gelock glänzte und
gleißte im Schein der Wintersonne, die ins Zimmer
strahlte. Jetzt sah man erst, wie schön dieses junge
Menschenkind war, von einer natürlichen, bezaubernden
Schönheit.
»Die Narren werden eben nicht alle«, brummte Wilmar,
und man wußte sehr wohl, wen er mit diesem Namen
meinte: nämlich Skörsen, der es nicht verstanden hatte, so
viel Köstlichkeit zu hüten.
Lenore jedoch sah ihn kopfschüttelnd an.
»Wer ist denn hier ein Narr, Herr Doktor?«
»Ich. Ich werde weinen, wenn wir voneinandergehen.«
»Wir sehen uns ja bald wieder«, tröstete Gertraude. »Ich
will doch hoffen, daß Sie uns bald besuchen werden.«
»Wenn ich darf, gnädige Frau, so will ich mich gewiß nicht
lumpen lassen.«
»Sähe Ihnen auch gar nicht ähnlich. Daß du kommst,
geliebter Schwager, ist ja Selbstverständlichkeit, aber auch
die Frau Oberin möchte ich gern mal zu unseren Gästen
zählen. Wie wäre es, wenn Sie Ihren Urlaub bei uns
verlebten?«
»Ich nehme dankend an, gnädige Frau, ich komme mit
tausend Freuden.«
»Dann wäre ja alles aufs beste geregelt. Und nun weinen
Sie, Herr Doktor, Ihre Süße wird Sie verlassen.«
»Kann ich nicht, gnädige Frau. Meinen müdgeweinten
Augen entquillt keine Träne mehr.«
»Ist der Ausspruch etwa von Ihnen?« fragte Gertraude
lachend.
»Und ob!« schlug er sich an die Brust. »Ich bin ein Denker
und Dichter – sieht man mir das denn gar nicht an?«
So nahm man denn lachend Abschied, und die beiden
Expatientinnen fuhren im Auto des Chefarztes davon. In
ihren Pelzen und dem geheizten Wagen spürten sie nichts
von der Kälte da draußen, behaglich schmiegten sie sich in
das weiche Polster.
Der Hollgarthof war ein kleines, aber schmuckes Anwesen,
blitzsauber und solide gebaut. Zwölf Morgen Land
gehörten dazu, die ein Mann namens Matthes Ergurat
bewirtschaftete. Er war schon auf dem Hollgarthof vor
einem halben Jahrhundert geboren und hatte ihn nie
länger als nur auf Stunden verlassen, mit so zäher Liebe
hing er an ihm.
Genauso wie sein Riekchen, das so wunderbar zu ihm
paßte. Er schwang sein Zepter draußen, sie ihres in Küche
und Keller. Und somit befand sich der Hollgarthof in den
treuesten Händen.
Diese beiden Getreuen standen nun am Fenster der
geräumigen Küche und warteten voll Sehnsucht auf ihre
Herrin. Und was da zwischen ihnen vor Aufregung
zappelte, war der Abgott Ilga.
Als das Auto dann endlich da war, stürmte Ilga davon und
kam gerade zurecht, der aussteigenden Mutter um den Hals
zu fallen.
Vom Hof her rasten die beiden Hunde herbei, die an dem
lieben Frauchen vor Freude jaulend hochsprangen, und um
Frauchens Füße schnurrte die Katze Eulalia.
»Herrschaften, laßt mich leben!« flehte Gertraude. »Laßt ab
von mir und stürzt euch hier auf unseren Gast.«
Allein bei dem benahmen sie sich denn doch gesitteter. Ilga
hieß den Gast artig willkommen, Jagdhund und Dackel
beschnupperten ihn vorsichtig, und Eulalia beäugte ihn aus
der Ferne.
»Nun kommt schon!« lachte Gertraude. »Sonst frieren wir
hier noch an.«
Also zog man vereint in die Diele, wo Matthes und
Riekchen standen, Hand in Hand. Er lang und hager, mit
einem Gesicht, als wäre braunes Leder über die Knochen
gespannt, sie klein und rundlich, wie es sich für eine gute
Wirtschafterin gehört.
»Na, ihr beiden Getreuen, ihr seht mich ja so angstvoll an?
Nichts da, ich bin wieder gesund und fidel wie eh und je.
Schaut mal, was ich mitgebracht habe, einen lieben Gast.«
»Das ist schön – ja, ja, das ist schön!« lachte und weinte
Riekchen durcheinander. »Aber am schönsten ist, daß wir
unsere liebe Frau wiederhaben. Kein Leben war das ohne
Sie.«
»Nein, kein Leben.« Matthes nickte bekräftigend. »Aber
jetzt ist wieder Leben, und wir können gehen.«
Sprach’s, hängte die Pfeife in den Mundwinkel und stapfte
befriedigt ab.
»Bring aus dem Auto den größeren Koffer ins
Fremdenzimmer!« rief Gertraude ihm nach. »Der kleine
gehört mir. Und du, Riekchen, gib dem Chauffeur von dem
Festessen, das du doch sicher zum Empfang bereitet hast.
Aber keinen Alkohol, er muß heute noch zurückfahren.«
»Nein, nein, wo werde ich denn so was! Der kriegt einen
steifen Kaffee.«
Weg war sie, und Ilga lachte hellauf.
»Die beiden sind vor Freude ganz durcheinander. Riekchen
hat jeden Winkel im Haus unter die Bürste genommen,
dazu gebacken und gebrutzelt, als stände ein Hochzeitsfest
bevor. Matthes hat Pferd und Kuh gestriegelt und die Hufe
so blank geputzt, als müßten sie auf Lackschuhen zum
Tanz. Die Schweine wurden gewaschen, am liebsten hätte
er auch die Hühner in die Wanne gesteckt. Und das alles zu
deinem Empfang, Mutzileinchen.«
»Ja, sie sind rührend«, entgegnete Traude warm. »Nur mein
Herr Gemahl…«
»Erscheint wie auf ein Stichwort«, kam eine Baßstimme von
der Tür her, durch die ein Mann trat – groß, breit, mit
einem frischen Gesicht, von denen er jetzt das eine
verschmitzt zukniff.
»Sei mir gegrüßt, mein holdes Weib, fleuche an mein
Herz!«
Damit breitete er die Arme aus, in die Gertraude lachend
sank.
Nach herzlicher Begrüßung machte sie sich frei und zeigte
auf Lenore, die dem allen mit großen Augen gefolgt war.
»Das da ist unser lieber Gast, Frau Skörsen.«
»So was ist nun schon Frau.« Er betrachtete das grazile
Persönchen kopfschüttelnd. »Das ist ja kaum aus den
Windeln, zum Umpusten zart. Na, unser Riekchen wird
schon Fleisch auf die Knöchelchen bringen. Doch zuerst
mal herzlich willkommen.«
Behutsam nahm er das Händchen, das sich ihm zaghaft
entgegenstreckte, in seine braune Faust – und eine
spontane Freundschaft war geschlossen.
»Jetzt aber ab mit euch!« sagte Gertraude, sehr befriedigt
von der beiderseitigen Sympathie. »Bring Lenore in ihr
Zimmer, Ilga. Aber schwatzt euch dort nicht fest. Denn
soweit ich Riekchen kenne, wird das Festmahl bald zum
Vertilgen bereitstehen.«
Die Treppe, die sie emporstiegen, war so breit, daß drei
schlanke Menschen bequem nebeneinander gehen
konnten. Überhaupt war alles in dem Haus weit und
geräumig, wie man eben vor einem Jahrhundert gebaut
hatte.
Und so alt war das Gebäude bereits, aber tadellos gehalten
und auch modernisiert, doch nur so viel, wie erforderlich
war. Elektrisches Licht gab es natürlich, Anlage für kaltes
und warmes Wasser, gekacheltes Badezimmer, aber keine
Zentralheizung. Man zog die behäbigen Kachelöfen hier
immer noch vor.
Die Einrichtung der Räume war nicht gerade altmodisch,
aber auch nicht vom sogenannten letzten Schrei, sondern
vornehm, gediegen und behaglich.
Ilga nannte ein allerliebstes Jungmädchenzimmer ihr eigen,
zartgrüner Schleiflack mit bunten Seidenpolstern.
»So ein ähnliches Zimmer habe ich auch einmal besessen«,
sagte Lenore leise. »Oh, wie lange ist das her, wie lange.«
»Na, soo lange nun auch wieder nicht«, warf Ilga ein, um
keine wehmütige Stimmung aufkommen zu lassen. »Ihr
kleines Reich ist nebenan, hoffentlich gefällt es Ihnen.«
»Und wie es mir gefällt«, sagte Lenore erfreut, nachdem sie
das sehr hübsch eingerichtete Zimmer betreten hatte. »So
behaglich und traut.«
»Muß es ja auch«, nickte Ilga befriedigt. »Sie sollen sich
darin wohl fühlen, Frau Skörsen. – Ooch, die Anrede finde
ich albern«, gestand sie unumwunden. »Wollen wir so
einen formellen Ton erst gar nicht zwischen uns
aufkommen lassen und gleich Du zueinander sagen?«
»Von Herzen gern, Ilga.«
»Freut mich, Lenore. Weißt du, dann ist man gleich
vertrauter und kann sich viel besser die Meinung sagen.«
»Glaubst du, daß es nötig sein wird?« fragte Lenore
lachend.
»Ich glaube schon. Wenigstens von dir aus, denn ich bin
alles andere als ein sanftmütiges Säuselinchen.«
»Was isch von mir auch nicht gerade behaupten kann. Ach,
Ilga, ich bin ja so froh, bei euch sein zu dürfen! Du weißt
doch sicher von deiner Mutter…«
»Ja, ich weiß«, winkte das Mädchen entschieden ab. »Wirst
das alles bald vergessen haben in unserem vergnügten
Kreis. Nun zieh dich aus, aber nicht ganz.«
Da lachte Lenore, wie sie schon lange nicht mehr gelacht
hatte. Gerade in dem Moment trat Gertraude ein und sagte
befriedigt:
»Na also: du siehst mich lachend an, Eleonore.«
»Na, Mutti, wenn du schon zitierst, dann aber richtig. Es
heißt lächelnd und nicht lachend.«
»Diese Bezeichnung finde ich aber schön, weil sie lustig ist.
Wo man lustig ist, da laß dich ruhig nieder.«
»Wieder falsch. Wo man singt, heißt es.«
»Habe ich aber eine kluge Tochter. Na, macht nichts, ich
bescheide mich. Wie gefällt dir denn dein kleines Reich,
Nore?«
»Oh, Tante Traude, ich bin ja so froh – nein, ich bin
glücklich.«
»Bescheidenes Gemüt! Ich gehe jetzt. Aber erscheint
pünktlich zum Essen, sonst wird unser Riekchen böse.«
Sie ging, und zehn Minuten später betraten Lenore und Ilga
Seite an Seite das Speisezimmer, das den Wohlstand des
Hauses verriet, denn nichts darin war billiger Tand.
Jetzt lernte Lenore auch den Sohn des Hauses kennen,
einen stämmigen Krauskopf, der nach drei Jahrzehnten
wahrscheinlich so aussehen würde wie sein Vater heute.
Gut von Herz und Gemüt, wie es bei den prächtigen Eltern
ja gar nicht anders sein konnte, aber auch mit den
»hervorstechenden Eigenschaften« eines Fünfzehnjährigen
behaftet. Zuerst benahm er sich Lenore gegenüber linkisch,
was sich aber bald gab, und dann blieb sie von seinen
gelegentlichen Frechdachsereien nicht verschont.
Den Abschluß dieses für Lenore so wunderschönen Tages
bildete der gemütliche Plausch, der sich bis Mitternacht
ausdehnte. Denn Ilga hatte der neuen Freundin so viel zu
erzählen, diese mußte ja schließlich in die Verhältnisse hier
eingeweiht werden.
Damit sie vom Nebenzimmer aus nicht zu schreien
brauchte, legte sie sich zu Lenore ins Bett und ließ ihrem
Plappermäulchen freien Lauf. Erzählte von diesem und
jenem und kam so auch auf die nähere Verwandtschaft zu
sprechen.
»Den Bruder von Paps kennst du ja bereits«, leitete sie die
Erklärung ein. »Aber er hat noch einen…«
»Sieht er ihm auch so wenig ähnlich wie der Professor?«
fragte Lenore dazwischen.
»Nein, gar nicht. Die drei Brüder sehen alle verschieden
aus. Vielleicht wäre Onkel Reinhard meinem Vater in der
Gestalt ähnlich geworden, wenn er nicht verwachsen wäre.«
»Oh, wie traurig!«
»Nicht wahr? Ausgerechnet einen so feinen, wertvollen
Menschen mußte dieses Unglück treffen.«
»Ist er so geboren?«
»Nein. Das Kindermädchen ließ ihn als Säugling fallen,
was sie aus Angst verschwieg. Als es dann später
herauskam, war es zur Heilung zu spät. Aber weißt du,
Onkel Reinhard macht sich gar nicht so viel daraus, ihm ist
es egal, wie er aussieht. Er lebt nur für seine Patienten und
seine wissenschaftliche Arbeit.«
»Ist er denn auch Arzt?«
»Ja. Und zwar ein bedeutender, wie Onkel Rudolf. Nur auf
anderem Gebiet, mehr Psychiater. Ihm gehört das
Sanatorium Friedberg auf der Anhöhe, das ständig belegt
ist. Also muß er schon etwas von seinem Beruf verstehen.«
»Verheiratet?«
»Nein, Junggeselle.«
»Und der Professor?«
»Witwer seit fünf Jahren.«
»Kinder?«
»Leider nicht. Dafür war seine Frau viel zu zart. Er hat sie
sehr geliebt, und ich glaube nicht, daß er ihr eine
Nachfolgerin geben wird.
Denn erstens ist er über fünfzig, zweitens beruflich so in
Anspruch genommen, daß er sich um seine Frau wenig
kümmern könnte, drittens versorgt ihn die langjährige
Wirtschafterin so vortrefflich, daß er in seinem Hause an
Sorgfalt und Behaglichkeit nichts vermißt. Schade, daß
Günther und ich die einzigen Sprößlinge in der Familie
Hollgart sind – ich hätte so gern eine Base oder einen
Vetter.«
»Hast du auch keine von Mutterseite?«
»Nein, sie war das einzige Kind.«
»So wie meine Eltern auch einzige Kinder waren. Daher
stehe ich jetzt so allein da.«
Allein? wäre es Ilga fast entschlüpft, was sie gerade noch
hinunterschlucken konnte. Denn sie hatte von der Mutter
strikte Anweisung – wie auch die andern im Haus –, in
Gegenwart Lenores deren Gatten nicht zu erwähnen. So
meinte sie denn herzlich:
»Du hast ja jetzt uns, Nore – und wir haben dich alle sehr
gern.«
»Das werde ich euch ewig danken. Doch nun erzähle
weiter. Wird es dir nicht langweilig in dieser
Abgeschiedenheit?«
»Na, du, dazu fehlt es mir wirklich an Zeit. Ich erledige den
schriftlichen Kram für Paps, führe die Bücher und springe,
wenn nötig, in der Hauswirtschaft ein. Da wird der Tag
manchmal viel zu kurz.«
»Sag mal, Ilga, wie alt bist du eigentlich?«
»Siebzehn. Bis sechzehn Schule, ein Jahr Handelsschule –
und jetzt die tüchtige Sekretärin des Tierarztes Dr.
Hermann Hollgart auf Hollgartshof. Klingt das nicht
nobel?«
»Außerordentlich.«
»Also! Übrigens ist Abgeschiedenheit für unser Rittergut
keine richtige Bezeichnung. Fünf Kilometer entfernt ist die
Kreisstadt, die du per Auto und wenn das unterwegs ist, per
Equipage – bitte sehr! – jederzeit erreichen kannst. Und in
dieser Stadt, die immerhin über hunderttausend
Einwohner zählt, gibt es Vergnügungen noch und noch.
Bist du Großstadtkind jetzt zufrieden? Oder glaubst du
dich hier immer noch wie von aller Welt abgeschnitten? –
Was heißt überhaupt Welt? Ich kenne sie nicht – und
möchte sie auch gar nicht kennenlernen. Es mag darin
schön, herrlich, wunderbar, einzigartig sein, aber: Tohuus
ist tohuus – und ich habe ein trautes Zuhause, nie möchte
ich von ihm fort.«
»Und wenn du heiratest, Ilga?«
»Dann nur einen Mann, der gewillt ist, hier zu wohnen.«
»Aber du hast doch einen Bruder. Wenn er später das
Vätererbe übernimmt?«
»Das tut er gewiß, will sogar aus alter Tradition Tierarzt
werden. Er wird wahrscheinlich auch heiraten und Kinder
haben. Aber das Haus ist ja groß, es bietet zwei Familien
genügend Platz. Mit Günther verstehe ich mich glänzend,
und sollte ich es mit seiner Frau nicht tun, so kann jeder
für sich allein leben. – Aber soweit ist es ja noch länge
nicht. Günther ist fünfzehn, ich bin siebzehn. Bis wir eine
Familie gründen, hat es noch gute Weile. Apropos heiraten
– meine Mutter sagt, man soll es nie zu früh tun, weil
einem dann die Reife zur Ehe fehlt. So Mitte zwanzig, das
wäre das richtige Heiratsalter.«
Weiter sprach sie nicht, weil sie sich dessen bewußt wurde,
daß Lenore erst zwanzig zählte und doch schon verheiratet
war.
»Na ja, dem Heiratsalter sind schließlich keine Grenzen
gesetzt«, versuchte sie ihren Lapsus zu bemänteln.
»Außerdem bin ich müde – du auch?«
»Sehr.«
»Dann gute Nacht. Schlaf wohl und träume süß, Norelein!
Merk dir gut, was du träumst. Denn die ersten Träume
unter fremdem Dach sollen in Erfüllung gehen.«
Und Lenore träumte einen Traum von Liebe und Glück, in
dem Ralf Skörsen eine große Rolle spielte. Von seinem Arm
umschlungen schritt sie dahin durch einen blühenden
Garten im Sonnenschein, pflückte lachenden Mundes rote
Rosen, die Blumen der Liebe. In dem Paradies gab es keine
Schwiegermutter, keine Schwägerin, ein liebend Paar war
allein im Garten der Glückseligkeit.
Träume sind Schäume, darum erwache und lache.
Nun, Lenore lachte beim Erwachen nicht, dafür war sie zu
benommen von diesem merkwürdigen Traum. Es dauerte
sekundenlang, bis sie sich aus ihm zurückfand in die
Wirklichkeit, die sie dann allmählich erfaßte.
Richtig, sie befand sich ja auf dem Hollgarthof. Angestrengt
lauschte sie durch die offene Tür zum Nebenzimmer hin,
doch nichts rührte sich. Demnach schien Ilga noch zu
schlafen. Erst als sie einen Blick auf die Uhr warf, welche
die zehnte Stunde anzeigte, wunderte sie sich nicht mehr,
daß nebenan alles still war.
Wohlig streckte Lenore sich im Bett und ließ dabei den
Blick durch das Zimmer schweifen. Wie gemütlich es hier
war, wie warm und traut. Durch das Fenster lachte die
Wintersonne so hell und klar, daß es die Langschläferin
nicht mehr im Bett hielt. Sie erhob sich aus dem weichen
Pfühl, griff nach dem Bademantel und ging ins Bad, das
ihrem Zimmer gegenüber lag.
Als sie dann wieder, erfrischt von der Dusche, dahin
zurückkehrte, streifte ihr Blick die großen Koffer, die in der
Ecke standen – und schon war ihre frohe Stimmung wie
weggeweht.
Welche Hoffnung hatte sie auf die Zukunft gesetzt, als sie
kurz nach der Hochzeit die Koffer packte. Das zweite Mal
hatte es ein anderer getan, und dieser andere…
Nein, nicht mehr daran denken, vorwärts schauen und
nicht zurück! Was ihr die Zukunft auch bringen mochte, es
würde alles nicht so schwer zu ertragen sein wie das, was
sie so qualvoll erleiden mußte.
Als Lenore das Wohnzimmer betrat, begrüßte Gertraude sie
lachend:
»Guten Morgen, kleine Siebenschläferin, hast du jetzt
wenigstens ausgeschlafen?«
»Danke, ich fühle mich herrlich frisch. Aber bitte, laß mich
in Zukunft nicht mehr so lange schlafen.«
»Kindchen, du versäumst doch nichts.«
»Ich möchte aber nicht müßig sein, wo alle so fleißig sind.
Eine Arbeit mußt du mir schon zuteilen, Tante Traude.«
»Dafür bist du noch zu sehr Rekonvaleszentin. Werde erst
ganz gesund, dann wird sich schon alles finden.«
»Dann meine ich… Hör mal zu, Tante Traude, ich kann
doch nicht – du kannst doch nicht…«
»Er kann doch nicht«, lachte Gertraude in das Gestammel
hinein. »Kind, was stotterst du da bloß zusammen. Was
soll ich – du – nicht können?«
»Mich in Pension nehmen. Ach, Tante Traude, merkst du
denn gar nicht, wie peinlich mir das ist?«
»Warum sprichst du dann darüber, du Dummchen?«
»Ich muß doch.«
»Kein Mensch muß müssen, behauptet Lessing in seinem
weisen Nathan. Und nun komm, iß erst einen Scheffel Salz
bei uns. Was drumrum ist, werde ich dir in Rechnung
stellen. Doch vorher möchte ich nichts davon hören.
Übrigens ist hier ein versiegelter Umschlag, der mit den
Koffern zusammen abgegeben worden ist. Wahrscheinlich
sind die Schlüssel darin. Pack also die Sachen aus und
richte dich häuslich ein.«
Das tat Lenore denn auch, nachdem sie ihr Frühstück
eingenommen hatte. Als sie dann in einem Chaos von
Kleidungsstücken stand, kam Ilga hereingewirbelt.
»Himmel, Nore, das ist ja wie in einem Warenhaus! Wie
kann ein Mensch sich nur so viele Sachen anschaffen!«
»Die meisten stammen noch aus meiner Jugendblütezeit,
wo Mutti mich wie ein Äffchen putzte. Ich wäre froh, wenn
ich alles Unbrauchbare loswerden könnte.«
»Du, da weiß ich gute Abnehmer«, wurde Ilga eifrig. »Erst
einmal unser Hausmädchen, und dann ihre Schwestern,
vier an der Zahl. Mutti gibt unsere ausrangierten Sachen
auch dorthin, denn die Leute sind arm. Ich hole rasch
einen Korb – und dann alles hinein, was dir nur Ballast
bedeutet!«
Und tatsächlich wurde der große Korb voll, mit dem das
Mädchen Grete glückstrahlend abzog. Denn wie sagt
Reuter: Was dem einen sin Uhl, is dem andern sin
Nachtigall.
Eine Woche hielt Lenore es ohne Arbeit aus, doch dann
machte sie kurzen Prozeß und suchte sich ihre
Beschäftigung. Als sie in der Küche erschien, war Riekchen
skeptisch, doch als die junge Frau unter Beweis stellte, daß
sie von der Hauswirtschaft etwas verstand, durfte sie hier
und da mal einspringen.
Auch Ilga traute dem Frieden nicht, als die Freundin bei ihr
im Büro auftauchte.
»Ja, sag mal, was willst du denn eigentlich helfen?« fragte
sie lachend. »Unsinn machen, den ich dann in Ordnung
bringen muß?«
»Wollen wir es erst einmal darauf ankommen lassen«, blieb
Lenore hartnäckig. »Gib mir irgend etwas, woran ich nichts
verderben kann. Wenn ich mich dann gar zu dumm
anstelle, kannst du meine Hilfe mit Fug und Recht
ablehnen, früher nicht.«
»Na schön«, gab Ilga gutmütig nach. »Du wirst schon bald
kneifen.«
»Abwarten!«
Und tatsächlich zeigte Lenore sich so anstellig, daß Ilga ihr
nach und nach leichte Arbeiten anvertrauen konnte.
So sprang Lenore denn da ein, wo gerade eine Hilfe
gebraucht wurde, und nannte sich stolz: Mädchen für alles.
Wobei ihr jedoch immer noch Zeit genug blieb, mit Ilga,
die sich bei der Arbeit auch »kein Beinchen ausriß«, wie der
Vater es schmunzelnd nannte, dem Wintersport zu
huldigen.
Dabei erholte sie sich zusehends, wurde so strahlend frisch
und froh, daß der Professor, der an einem Sonntag die
Verwandten besuchte, seine ehemals so elende Patientin
kaum wiedererkannte.
»Na, Sie haben sich aber mal herausgemacht, kleine Frau«,
sagte er bewundernd. »Prächtig, ganz prächtig sehen Sie
aus.«
»Das hat sie mir zu verdanken, die ich ihr mit so gutem
Beispiel vorangehe«, prahlte Ilga, und man glaubte es ihr
sogar. Denn ihre Munterkeit ließ keine seelischen
Komplexe aufkommen, und die gerade waren es, an denen
Lenore am meisten gekrankt hatte.
An diesem Tag sollte die junge Frau auch den dritten der
Brüder kennenlernen, die doch alle so ganz verschieden
aussahen. Rudolf, der älteste, mittelgroß, rundlich, rosig,
der jüngste durch die Verwachsung klein geblieben, mit
einem klugen, durchgeistigten Gesicht, der mittlere ein
kraftstrotzender Hüne. Charakterlich jedoch waren sie sich
ähnlich, waren grundanständige Männer mit hohen
Ehrbegriffen.
Als Lenore den kleinen Herrn begrüßte, hatte sie das
Gefühl, als ob diese klaren, forschenden Augen ihre Seele
ergründen wollten. Doch als es in ihnen humorvoll
aufzuckte, faßte sie ein spontanes Vertrauen und lachte den
Mann so strahlend an, daß es ihm warm ums Herz wurde.
»Ein reizendes Geschöpfchen!« sprach er ihr nach, als sie
nach dem Nachmittagskaffee mit Ilga und Günther
hinausging, um sich mit ihnen bis zur Dunkelheit noch im
Freien zu tummeln. »Ihr Mann muß tatsächlich ein Narr
sein – oder blind.«
»Im allgemeinen ist er es nicht«, bemerkte der Professor.
»Wenn es um seine Kranken geht, verfügt er sogar über
einen bewundernswerten Scharfsinn. Die kranken Frauen
versteht er wunderbar zu nehmen, sonst würden sie gewiß
nicht so für ihn schwärmen, nur den gesunden gegenüber
scheint er zu sein wie Parzival, der tumbe Tor. Sonst hätte
er sich von zwei Intrigantinnen, wie seine Mutter und
Schwester es sind, unmöglich so einwickeln lassen können.
Übrigens war erstere kürzlich bei mir und flehte mich mit
magdalenenhafter Demut an, ihr doch die Adresse ihres
Sohnes zu verraten.«
»Hast du es womöglich getan?« warf Gertraude ein.
»Nein, ich weiß sie ja selbst nicht. Und wenn, hätte ich sie
hübsch für mich behalten, weil ich ein Menschenfreund
bin. Wie der in jeder Beziehung vornehme Ralf zu der
Mutter kommt, das mögen die Götter wissen.«
»Vielleicht ähnelt er seinem Vater«, meinte der Tierarzt.
Doch der Bruder winkte ab.
»Ich glaube nicht, daß Ralf dazu fähig wäre, so
ehrenrührige Dinge aufs Kerbholz zu kriegen wie der alte
Geck.«
»Was hat der denn verbrochen?« fragte Reinhard
interessiert.
»Darüber wird Traude besseren Bericht geben können, weil
Lenore mit ihr über alles gesprochen hat. Also sprich,
geliebte Schwägerin.«
Sie tat’s, und am aufmerksamsten hörte der verwachsene
Mann zu. Als sie schwieg, wandte er sich an seinen Bruder
Rudolf.
»Du kennst diesen Dr. Skörsen ja am besten. Ob da
wirklich keine Liebe mitsprach, als er sich zu der
überstürzten Heirat entschloß?«
»Vielleicht – vielleicht auch nicht. Auf jeden Fall halte ich
ihn für fähig, einer sterbenden Frau, der er durch den Vater
zu Dank verpflichtet war, eine inbrünstige Bitte zu erfüllen
und ihr so das Sterben leichter zu machen.«
»Das soll es geben«, meinte Reinhard nachdenklich.
»Wahrscheinlich wäre diese Ehe nicht schlechter verlaufen
als viele andere, wenn der Mann nicht die Torheit
begangen hätte, seine junge Frau zu seiner Mutter zu
bringen, der er so blind vertraute. Nun, was er verbrach,
muß er jetzt auch büßen. Ich jedenfalls möchte in seiner
Haut nicht stecken. Ob er nun wenigstens mit seiner
Mutter Abrechnung gehalten hat?«
»Soviel ich deren Tiraden entnehmen konnte, hat er sich
vollständig von ihr losgesagt«, berichtete der Professor.
»Daß sie somit den Sohn verlor, scheint ihr nicht viel
auszumachen; doch daß seine nicht unerhebliche
Unterstützung jetzt fortfällt, das bereitet ihr argen Kummer.
Wohl bezieht sie als Regierungsratswitwe eine gute
Pension, muß jedoch die Hälfte davon an ihre
Schwiegertochter abgeben – die Erbin des Mannes, der
ihrem Gatten damals ein Kapital lieh, damit er seine
Spielschulden bezahlen konnte. Nun ist sie gezwungen,
mit ihrer Tochter in einer primitiven Wohnung von zwei
Zimmern und Küche zu hausen, hat kaum satt zu essen,
und so weiter und so weiter. Es wäre einfach
unverantwortlich von dem Sohn, sie in dieser Misere zu
lassen. In ihrer Not hätte sie es einmal versucht, die
monatliche Rate nicht zu entrichten. Doch schon schaltete
sich das Vormundschaftsgericht ein, weil Lenore ja noch
nicht mündig ist – und vor dieser Behörde schien die sonst
gewiß nicht furchtsame Dame einen Heidenrespekt zu
haben.«
»Da muß Dr. Skörsen ja ganz nett aufgeräumt haben«,
meinte der Tierarzt ungerührt. »Der Ruck wird aber auch
brutal genug gewesen sein, mit dem man ihm die Binde
der Verblendung von den Augen riß. Jetzt kann er sprechen
mit den Worten Wilhelm Teils: Was ich mir gelobt in jenes
Augenblickes Höllenqualen, ist eine heil’ge Schuld – ich
will sie zahlen.«
Nun weilte Lenore bereits vier Wochen auf dem
Hollgarthof und sah aus wie das blühende Leben, so
wunderbar hatte sie sich körperlich wie seelisch erholt. An
die Vergangenheit dachte sie kaum noch, außer an die
toten Eltern. Doch während das Bild des Vaters strahlend
hell vor ihren Augen stand, war das der Mutter getrübt.
Auch an das keimende Leben dachte sie, das brutal zerstört
worden war. Aber Schmerz konnte sie darüber nicht
empfinden, eher eine Beruhigung, daß dieses Kind nie
geboren wurde. Denn Kinder sind ja immer die
Leidtragenden, wenn Eltern sich trennen.
Und Ralf? Nun, der war in ihrem jungen Leben nichts
weiter als eine Episode gewesen- und zwar eine trostlose.
Was sie für ihn empfunden, war längst verweht wie Spreu
im Wind. Sie hatte geirrt und diesen Irrtum schwer büßen
müssen.
Somit schien sie mit dem Schicksal quitt zu sein, denn jetzt
ging es ihr wieder gut, sehr gut sogar. Man betrachtete sie
hier ganz als Tochter des Hauses, was sie immer wieder
beglückte.
Lenore war ganz aufgeregt, als sie an einem
Sonntagmorgen an den Tisch trat, wo Familie Hollgart
beim Frühstück saß. In der Hand trug sie Schneeglöckchen,
die sie der Hausherrin überreichte.
»Die ersten, die ich gefunden habe«, erklärte sie eifrig. »Die
sind natürlich für dich, Tante Traude.«
»Möchte bloß gern wissen, was dich dabei so aufregt«,
meinte Günther pomadig. »Schneeglöckchen sind doch
nun wirklich nichts Besonderes.«
»Für dich natürlich nicht, du unpoetisches Gemüt.«
»Fangt um Himmels willen nicht an, euch zu zanken!« hob
Gertraude beschwörend die Hände, während der Herr
Gemahl schmunzelte. »Stopf dir deinen großen Mund mit
dem Schinken, den du gerade auf dem Teller hast, mein
Sohn.«
»Und das verhätschelte Töchterchen hat wohl einen
kleinen Mund, wie?«
Da mußten sie alle lachen, und der Friede trat ein.
Als Lenore gerade das obligate Morgenei aufklopfte, sprach
Ilga sie an:
»Kommst du mit?«
»Wohin?«
»Zu Onkel Reinhard.«
»Dort oben auf der Höh?«
»Jawohl. Er hat nämlich heute Geburtstag. Ich bin beordert
worden, ihm mit Blumenstrauß und Knicks zu gratulieren.«
»Und was soll ich dabei?«
»Dasselbe tun.«
»Er kennt mich doch kaum.«
»Er ist trotzdem vernarrt in dich. Kommst du nun, oder
kommst du nicht?«
»Ich komme.«
»Erledigt.«
»Das nennt man kurz angebunden«, schmunzelte der
Hausherr, der immer Spaß an dem Geplänkel seiner Kinder
hatte, zu denen er auch Lenore zählte. »Recht so, ihr
Marjellchen! Warum da viele Worte machen? Was sein
muß, muß eben sein.«
»Muß ist eine harte Nuß, die ein jeder knacken muß«,
setzte der Sohn des Hauses sein Siegel darauf, dabei mit
vollen Backen kauend. »Also knackt sie, ihr Holden. Ich
werde per Fernglas geruhsam zusehen, wie ihr mühsam
den Berg erklimmt.«
Nun, so arg war es nun auch wieder nicht. Was der
Pennäler großartig mit Berg bezeichnete, war eine Anhöhe,
welche die beiden Freundinnen später emporstiegen, dem
lockenden Ziel zu.
Denn lockend war es, was sich vor ihren Blicken
ausbreitete. Schneeweiße Gebäude mit prangend roten
Dächern, umstanden von Bäumen, die jetzt allerdings
unbelaubt waren und daher freie Sicht boten.
»Und das alles gehört deinem Onkel?« fragte Lenore
bewundernd.
»Ja. Er ist stolz darauf, dieses prachtvolle Werk sein eigen
nennen zu dürfen.«
»Dann müssen deine Großeltern doch sehr reich gewesen
sein, wenn sie ihren Söhnen so viel hinterlassen konnten.
Ich meine…«
»Was du meinst, weiß ich schon«, unterbrach Ilga sie
trocken. »Nimm zur Kenntnis, daß meine Großeltern wohl
ganz gut situiert waren, aber um ihrem Sohn das da zu
schaffen, so viel hatten sie denn doch nicht, zumal die
beiden anderen Söhne ja auch nicht leer ausgehen durften.
Onkel Reinhard beerbte eine reiche Großtante, die
kinderlos starb. Er nur allein, weil er von der Natur so
benachteiligt wurde. Aha, da naht bereits der Hund, also
kann sein Herr nicht weit sein.«
Und tatsächlich tauchte dieser auf, lachend über das ganze
Gesicht.
»Ei, ei, so viel Holdseligkeit darf der Wanderer schauen.
Wohin des Wegs, ihr süßen Grazien?«
»Zu dir, vieledler Herr«, gab Ilga schlagfertig zurück. »Das
heißt, wenn dein Zerberus gewillt ist, uns den Weg
freizugeben.«
»Hierher, Zotter!« rief er den prächtigen Neufundländer an
seine Seite. »Mit dem einen Frauchen bist du doch längst
gut Freund, nun geh mal zu dem anderen.«
»Bitte nicht!« wehrte Lenore ängstlich. »Er ist so groß…«
»Und so gutmütig«, fiel der Arzt lächelnd ein.
»Aber nicht, wenn man dir etwas tut, Onkelchen.«
»Nanu, seid ihr denn hierhergekommen, um mir etwas zu
tun?« fragte er lachend, und fröhlich fielen die beiden ein.
Dann fragte Ilga:
»Weißt du überhaupt, warum wir gekommen sind?«
»Wahrscheinlich, um mir zum Geburtstag zu gratulieren.«
»Ein Wunder, daß du überhaupt an den denkst. Meinen
allerherzlichsten Glückwunsch, und noch viele, viele
Lebensjahre zum Heil deiner Patienten, du lieber Onkel!«
Damit drückte sie ihm den Strauß in den Arm, küßte ihn
auf die Wange und sagte dann lachend zu der steif
dastehenden Lenore:
»Tu desgleichen, Norchen, der Onkel nimmt’s nicht übel.«
»Wo werde ich denn!« bestätigte dieser schmunzelnd. »Ein
Kuß von süßen Lippen ist jede Sünde wert.«
Da mußte Lenore denn doch lachen. Wenn auch nicht
gerade mit einem Kuß, so doch voller Herzlichkeit brachte
sie ihren Glückwunsch an.
Einträchtig stieg man die letzte Strecke der Anhöhe hinauf,
bis ihr Begleiter vor einem villenartigen Gebäude
haltmachte und sich mit Grandezza verneigte.
»Darf ich die holden Grazien bitten, in meinem
bescheidenen Heim zu verweilen?«
»Bescheiden ist gut«, lachte Ilga. »Tritt näher, Lenore, du
wirst staunen!«
Und Lenore staunte über alles, was sich ihren Augen
darbot.
Wie reich muß der Mann sein, um sich so ein feudales
Heim leisten zu können. Aber ob er auch glücklich ist?
Die Finken schlagen, der Lenz ist da, und keiner kann
sagen, wie es geschah.
Dieses Lied sollte die junge Lenore begreifen lernen bis in
des Wortes tiefster Bedeutung. Denn gestern noch hatte der
launische April sich verzweifelt gegen den Einzug des
Götterknaben Mai gewehrt und hatte doch weichen
müssen dem drängenden, sprühenden Leben der Natur.
Gestern noch hatte es geregnet und gestürmt, doch als
Lenore am nächsten Morgen erwachte, war ihr Zimmer wie
in Sonne getaucht.
Mit einen Satz war sie aus dem Bett, trat an das geöffnete
Fenster und breitete die Arme aus, als wollte sie das
lachende Land da draußen umfassen.
»Er ist gekommen so über Nacht, der Frühling ist
gekommen in all seiner Pracht«, sang sie jubelnd in die
prangende Natur hinaus.
»Als erster Gratulant zu deinem Geburtstag!« kam es von
unten herauf, wo Ilga stand. »Nun mach schon, daß du
bald erscheinst!«
Eiligst verschwand sie, und Lenores eben noch lachendes
Gesicht wurde ernst.
Richtig, sie hatte ja heute Geburtstag.
Im vorigen Jahr war noch die Mutter bei ihr gewesen, hatte
ihr voll Liebe gratuliert, ihr alles Glück der Erde gewünscht.
Und hatte sie dann…
Hastig griff sie nach dem Foto, das neben dem des Vaters
auf dem Nachttisch stand. Es war ein gütiges Antlitz, in das
sie schaute, mit Augen so rein und klar, wie sie nur
Menschen haben können, die ohne Fehl sind.
Und diese Frau sollte einen Mann überredet haben, ihr
einziges, so sehr geliebtes Kind zu heiraten?
Überredet – so hatte Ralf sich ausgedrückt. Ein Wunder,
daß er nicht das Wort aufgedrängt gebraucht hatte.
Weiter kam sie nicht in ihren verbitterten Gedanken, weil
es klopfte und sich gleich darauf das Hausmädchen durch
die Tür schob. In der einen Hand hielt sie einen flachen
Karton, in der anderen einen Brief.
»Das ist eben per Eilboten gekommen«, erklärte sie wichtig.
»Per Eilboten und per Einschreiben. Bitte, hier sind die
Zettel zur Unterschrift.«
Nachdem Lenore diese erledigt hatte, gratulierte ihr das
Mädchen und zog dann ab.
Die junge Frau überlegte, was sie zuerst öffnen sollte, den
Karton oder den Brief. Ersterer trug als Absender den
Namen eines Blumengeschäfts, letzterer den eines Notars.
Doch schon nestelten die Finger an dem Bindfaden, der
Deckel hob sich – und was er verdeckt hatte, waren rote
Rosen, sorgfältig in feuchtes Moos gebettet. Obenauf lag
ein Umschlag, den Lenore mit bebenden Fingern öffnete.
Sie zog ein Kärtchen heraus, auf dem stand:
Im Auftrag von Herrn Dr. Skörsen.
Von ihm selbst keine Zeile, kein Glückwunsch, nur
einundzwanzig Rosen.
Rote Rosen – Blumen der Liebe. Ausgerechnet von dem
Menschen, von dem sie nichts mehr wissen wollte.
Doch halt, da lag ja noch eine Karte, auf der etwas gedruckt
stand:
Nie soll weiter sich durchs Land
Lieb von Liebe wagen,
als sich blühend in der Hand
läßt die Rose tragen.
Liebe? dachte Lenore, während ein bitteres Lächeln ihren
Mund umzuckte. Liebe?
Es war gewiß keine, aus der du mich gefreit, und es war
auch keine von mir, aus der ich dich zum Ehemann nahm.
Ein Irrtum beiderseits, mein lieber Ralf. Wir sind beide
quitt.
Schroff schob sie die prangende Pracht zur Seite, griff nach
dem Brief. Und was sie zuerst aus dem Umschlag zog, war
ein zweiter, der die Schriftzüge ihrer Mutter trug, die
Lenore fassungslos anstarrte.
Aber die Mutter war doch tot!
Bis ihr hilfloser Blick den Namen des Notars auf dem
Umschlag erfaßte, da begann sie langsam zu begreifen.
Behutsam, als ob sie etwas Heiliges berührte, öffnete sie
den hinterlassenen Brief, den letzten, den ihre Mutter
geschrieben hatte, wie das Datum bewies. Demnach war er
an Lenores Hochzeitstag geschrieben worden.
Mein geliebtes Kind!
Wenn Du diese Zeilen liest, bin ich schon längst von Dir
gegangen. Ich kann jetzt ruhiger sterben, da ich Dich in der Hut
eines Mannes zurücklasse, dem ich voll und ganz vertraue.
Darum bat ich ihn auch, sich Deiner anzunehmen, sich um
Dich zu kümmern.
Er warb um Dich, und wie er seine Werbung anbrachte, daraus
konnte ich ersehen, daß es aus Liebe geschah. Aus Liebe, Nore,
hörst Du? Daran darfst Du nie zweifeln, auch wenn es Dir
manchmal anders erscheinen will.
Damit Du nicht womöglich denkst, daß Ralf Dich des Geldes
wegen geheiratet hat, habe ich Dir und ihm verschwiegen, daß
Du recht vermögend bist. Du sollst heute erst in den Besitz des
Geldes gelangen, heute, am Tag Deiner Volljährigkeit. Da ich
Dein gescheites Köpfchen kenne, brauche ich wohl nichts weiter
zu erklären. Ich kann es auch nicht, da meine Kräfte erschöpft
sind.
Grüße Ralf sehr herzlich von mir, der mir lieb war wie ein
eigener Sohn. Gottes Segen über Euch, meine lieben Kinder!
Eure Mutter
Das letzte war kaum noch leserlich und mußte mit großer
Anstrengung geschrieben worden sein.
»Mutti«, stöhnte Lenore gepeinigt auf. »Meine liebe, liebe
Mutschi! Wie gut, daß du nicht wußtest, was deinem Kind
bevorstand, als du es dem Mann so vertrauend übergabst.
Auch du bist einem Irrtum unterlegen.«
Es waren wohl die bittersten Tränen, die je ein Mensch
geweint, die über das zuckende Gesicht liefen.
So fand Gertraude das Geburtstagskind vor, die nachsehen
wollte, warum es sich gerade heute so vertrödelte.
»Nore, Kind, was hast du denn?« fragte sie zutiefst
erschrocken. »Weinst du etwa über diesen flammenden
Liebesgruß?«
»Nein, deswegen«, kam die Antwort leise. »Bitte lies!«
Gertraude, die es eilig hatte, wollte die Zeilen stehend
überfliegen. Als sie jedoch feststellte, von wem sie waren,
wurden ihr die Knie weich. Also setzte sie sich und las das
Schreiben mit einem Gefühl der Andacht, einmal –
zweimal. Dann gab sie es Lenore zurück und fragte
behutsam:
»Nun, mein Kind, bist du immer noch von dem Wahn
befangen, daß deine Mutter den Mann zu der Heirat
überredet hat, wie du es so geschmacklos nanntest?«
»Der Ausdruck stammt von Ralf, nicht von mir.«
»Das kling verflixt trotzig, Nore.«
»Tante Traude, hab’ doch Nachsicht mit mir – nach diesem
erschütternden Brief!«
»Das habe ich wahrlich, mein Herzchen«, strich sie zärtlich
über den geneigten, goldflimmernden Kopf. »Wenn dir die
Rosen da nichts zu sagen haben, dann nützen auch tausend
eindringliche Worte nichts.«
»Wie weißt du denn, daß die Rosen von Ralf sind?«
»Na, hör mal, wer sonst würde es wohl wagen, einer jungen
Ehefrau so einen Liebesgruß zu senden? Lag kein
Glückwunsch dabei?«
»Nein. Außer der Karte des beauftragten Blumengeschäftes
fand ich nur diese gedruckten Zeilen.«
Nachdem Gertraude sie gelesen hatte, nickte sie
bestätigend.
»Das sollte sich jedes junge Paar zur Warnung dienen
lassen. Steckte übrigens der Brief deiner Mutter allein in
dem Umschlag da?«
»Ich weiß nicht.«
»Dann sieh mal nach. Da ein Notar dir den Brief
übersandte, wird er ein Begleitschreiben beigefügt haben.«
Das zog Lenore denn auch aus dem Umschlag. Der Notar
teilte mit, daß er auf Wunsch seiner Klientin, Frau Melanie
Ingwart geb. Höveking, ihrer Tochter Frau Skörsen, geb.
Ingwart, am Tage ihrer Volljährigkeit heiligenden Brief
nebst beiliegenden Papieren überreiche. Die Empfängerin
wolle recht bald Bescheid geben, wie sie über das
deponierte Geld verfügen möchte.
»Großer Gott, was soll ich bloß mit dem vielen Geld
anfangen?« Lenore zeigte erschrocken auf die hohe
sechsstellige Zahl, und da mußte Gertraude denn doch
lachen.
»Wird dir schon noch einfallen, du kleiner Krösus. Doch
nun mal hopp, zieh dich an! Deine Gratulanten warten mit
Schmerzen auf dich.«
Eilig entfernte sie sich, um dem Gatten rasch mitteilen zu
können, was ihr fast den Atem verschlagen hatte. Und da
sich auch die beiden Kinder des Hauses im Raum
befanden, wurde Gertrude die Neigkeit in Bausch und
Bogen los.
»Und was sagst du nun?« fragte sie am Ende des Berichts
herausfordernd.
»Ich sage, daß jetzt für Skörsen die Chancen schlechter
stehen denn je«, entgegnete der Gatte sehr ernst. »Nun
Lenore so viel Geld hat, wird er sich ihr kaum zu nähern
wagen.«
»Da kannst du recht haben«, nickte Traude.
Doch ihr Filius war anderer Ansicht, die er auch in seiner
drastischen Art kundtat:
»Ein übergeschnappter Kerl, der vor dem Geld seiner Frau
davonläuft! Ich täte es jedenfalls nicht.«
»Darüber sprechen wir mal zehn Jahre später«, tat der Vater
schmunzelnd ab. »Und was sagt unser Marjellchen dazu?«
»Vorläufig bin ich noch ganz benommen, Paps. So viel
Geld – nein, das möchte ich nicht haben. Dann die Rosen,
die roten – und deren Spender – Muttilein, gibt das nicht
zu denken? Kombiniere mal…«
»Um Himmels willen!« hob der Vater lachend die Hände.
»Du willst wohl heute ohne Frühstück bleiben? Denn bis
die Mutti auskombiniert hat, ist es bestimmt Mittagszeit.«
»Ich brauche erst gar nicht zu kombinieren«, tat Traudchen
großartig. »Ich bin schon längst im Bilde. Jetzt auch über
das, woran ich bis vor einer Stunde noch herumrätselte.«
»Und das wäre?«
»Wo wohl das viele Geld geblieben sein mochte, das
Melanies Eltern ihr als Mitgift aussetzten – außerdem soll
auch ihr Mann noch vermögend gewesen sein. Wohl lebten
die Ingwarts bis zum Tod des Dozenten auf recht großem
Fuß, wie ich den Erzählungen Lenores entnehmen konnte.
Aber selbst wenn man die Tausende hinzurechnet, die
Ingwart diesem gewissenlosen Skörsen lieh, konnte dieses
Geld das große Portemonnaie noch lange nicht geleert
haben. Mir kam es gleich sonderbar vor, als Lenore mir den
Bankauszug zeigte, auf dem nicht viel mehr als
zweitausend Mark standen, die hauptsächlich von den
Raten, welche ihr die Schwiegermutter zahlen mußte,
zusammengekommen waren.«
Sie konnte nicht weitersprechen, weil Lenore eintrat,
wieder einmal anzuschauen wie ein bezauberndes Bild.
Nichts mehr war ihr anzumerken, daß sie vor einer halben
Stunde noch so bitterlich geweint hatte, sie strahlte wie eh
und je.
Beglückt nahm sie die Gaben entgegen, die man ihr
überreichte. Alles Kleinigkeiten, doch mit Liebe gewählt.
Vor Freude fiel sie jedem einzelnen um den Hals, selbst
Günther, der sich das zwar gefallen ließ, aber dann
verlegen brummte:
»Tu man nicht so, wo du jetzt so reich bist und dir alles
leisten kannst! Aber ich weiß jetzt wenigstens, wen ich
anpumpen kann, wenn ich mal in der Klemme bin.«
»Wage es!« drohte die Mutter. »Und du wagst es, Nore,
seinem Leichtsinn womöglich noch Vorschub zu leisten!«
»Wir haben auch gerade Angst«, lachte diese sie aus. »Und
jetzt habe ich Hunger.«
Den hatten die anderen auch, weil es bereits eine Stunde
über die gewohnte Frühstückszeit war. Daher ließ man sich
das Mahl besonders gut munden, und als die Mutter den
Sohn mahnte, den Schulweg anzutreten, lachte er sie
schadenfroh aus:
»Geliebte Mutz, wir haben heute den ersten Mai.«
»Da hast du wieder einmal Glück gehabt, du Schlingel.
Rücksichtsvoll von Lenore, gerade heute Geburtstag zu
haben. Und was machen wir nun?«
»Wir feiern«, schmunzelte der Hausherr. »Denn heute ist
doppelter Feiertag.«
Dabei sollte man sogar einen Gast haben. Denn wer sich
um die Kaffeezeit einstellte, war kein anderer als Dr.
Wilmar Hörse.
»Da bin ich«, erklärte er einfach. »Ich gehöre zu den
Menschen, die jede Einladung wahrnehmen. Und Sie
haben mich doch eingeladen, gnädige Frau?«
»Selbstverständlich«, begrüßte diese ihn herzlich. »Sie
kommen gerade zurecht, um mit uns Geburtstag zu feiern.«
»Wer ist denn da so leichtsinnig, ein Jahr älter zu werden?«
»Ihre Süße.«
»Na, die kann’s noch vertragen«, entgegnete er schlagfertig.
»Meinen herzlichsten Glückwunsch, gnädige Frau.«
»Wie formell!« lachte Lenore ihn aus. »Das ist man gar
nicht an Ihnen gewohnt.«
»Na ja, so ab und zu muß man sich mal wieder auf seine
gute Kinderstube besinnen.«
Er begrüßte nun auch die anderen, die ihm ja allesamt
bekannt waren durch die Besuche im Krankenhaus, die
Gertraude oft von ihren Angehörigen bekam. Nur als
Lenore in ihr Zimmer gelegt wurde, blieben Gatte und
Sohn aus Taktgefühl fern.
Also war der junge Arzt kein Fremdling in der Familie
Hollgart und war bei ihr beliebt – außer bei Ilga.
Die fand »diesen Menschen« nämlich bodenlos frech- und
Frechheit siegt nicht immer. Hauptsächlich bei einer
Siebzehnjährigen nicht, die sich als Dame fühlt und
dementsprechend behandelt sein will – was dieser lange
»Schlacks« leider außer acht ließ.
Daher sah sie ihn als Luft an – er übrigens sie auch – was
Ilga immer mehr gegen ihn aufbrachte.
Die anderen hingegen amüsierten sich köstlich über den
trockenen Humor des Gastes, der außerdem noch ein guter
Gesellschafter war mit seinen Schnurren und Späßchen.
Daß er jedoch auch ernst sein konnte, bewies er, als Lenore
und Ilga sich entfernten, um Riekchen zur Hand zu gehen,
die sich nicht wohl fühlte, während Günther seine
Schulaufgaben zu erledigen hatte. Da sprach Gertraude zu
dem jungen Arzt über das, was sich heute ereignet hatte.
»Auch das noch!« sagte Wilmar darauf so ernst wie selten.
»Das reiche Erbe seiner Frau wird bei Skörsen die
Hemmungen noch verstärken, die er ohnehin schon ihr
gegenüber hat.«
»Der Ansicht bin ich auch«, nickte der Tierarzt,
gedankenvoll seine Pfeife rauchend. »Zwar kenne ich Dr.
Skörsen nur vom Hörensagen. Doch was ich von ihm
hörte, demnach scheint er ein Mann zu sein, der nicht um
Geld freien würde.«
»Das kann ich sogar bestätigen«, meinte Gertraude eifrig.
»Denn wie Lenore mir erzählte, hat die Schwiegermutter
ihr mehr als einmal erbost entgegengeschrien, daß Ralf
eine reiche Partie ausschlug, weil er zu den Trotteln
gehörte, die leider nie alle würden. Und diese Trottelei
müßten leider ihre Tochter und sie nun büßen. Ja, wenn
man wenigstens die monatlichen Raten nicht mehr zu
zahlen brauchte.«
»Aha, die Raten«, nickte der Hausherr verständnisinnig.
»Die müssen die impertinente Dame wohl sehr wurmen.
Da der Sohn darauf bestand, daß diese über das Bankkonto
seiner Frau gingen, ist deutlich zu erkennen, daß er in der
Ehe getrennte Kasse wünschte.«
»Die er auch weiter wünschen wird – falls diese
angeknackste Ehe überhaupt noch geleimt werden kann.«
»Um Himmels willen, Wilmar, unken Sie da bloß nicht!«
hob Gertraude beschwörend die Hände. »Die Ehe muß
wieder in Ordnung kommen – was soll sonst wohl aus
Lenore werden?«
»Sie läßt sich scheiden und nimmt mich«, kam es pomadig
zurück. »Ich laufe vor ihrem Geld bestimmt nicht davon.«
»Genau das behauptet mein Sohn Günther«, schmunzelte
der Tierarzt. »Aber ich glaube, er nimmt den Mund genauso
voll wie Sie, mein lieber Hörse. Er aus kindlichem
Unverstand. Sie aus jugendlicher Prahlerei.«
»Wie wollen Sie das denn so genau wissen?«
»Mein junger Freund, wer so viel mit Tieren zu tun hat wie
ich, erwirbt sich eine untrügliche Menschenkenntnis.«
»Da kann man nur mit Schiller sagen: Herr, dunkel ist der
Rede Sinn«, schüttelte Wilmarchen sein strohblondes
Haupt. »Na, mag der Ralf in seiner Ehe auch gefehlt haben,
er tut mir dennoch mehr leid, als seine Frau, die darin
gewiß Schweres erdulden mußte. Doch während sie alles
gut überstanden hat, plagt er sich mit Gewissensbissen
herum, soweit ich ihn kenne. Nanu, wer klagt denn da die
Männer so jammervoll an?« horchte er gleich den anderen
auf den Gesang, der da so herzzerreißend zu ihnen drang.
»Soll das etwa meine Süße sein?«
»O nein, Ihre Süße stimmt ganz andere Töne an, wenn es
um die Männer geht«, lachte Gertraude. »Etwa so: Die
Männer sind alle Verbrecher! Wer da so rührend über die
Treulosigkeit der Herren der Schöpfung klagt, ist unser
Hausmädchen, das wohl schon eine trübe Erfahrung hinter
sich hat…«
»Ich such die Blum der Männertreu, kann sie aber nirgends
finden«, klang es jetzt jammervoll zu den Lauschenden hin,
und dann weiter:
»Stelle nur dein Suchen ein,
daraus kann nichts werden,
denn die Blume Männertreu
blühet nicht auf dieser Erden…«
Und nun fielen zwei andere Stimmen ein, welche man als
die Lenores und Ilgas erkannte:
»Mädchen, traut den Männern nicht,
wenn sie mit euch scherzen!
Keiner hält, was er verspricht,
spielen nur mit Mädchenherzen…«
»Nein, vor so viel Männerfeindlichkeit reiße ich aus!«
sprang Wilmar lachend auf. Und da er ja seine Schnurren
nicht lassen konnte, formte er die Hände zum Sprachrohr
um den Mund und sang mehr laut als schön:
»Oh, wie so trügerisch sind Weiberherzen,
mögen sie klagen, mögen sie scherzen!
Oft spielt ein Lächeln um ihre Züge,
oft fließen Tränen – alles ist Lüge…«
»Nun sehen Sie aber zu, daß Sie Land gewinnen und so
den Prügeln entgehen!« lachte der Hausherr nebst der
Gattin herzlich. »Am besten, Sie verkriechen sich hinter
meinen breiten Rücken.«
»Ich sage ja, daß er ein bodenlos frecher Mensch ist!« hörte
man jetzt deutlich Ilgas empörte Stimme. »Der müßte eine
Frau kriegen…«
Was für eine, das erfuhren die Lauschenden nicht mehr,
weil die Stimme sich mehr und mehr entfernte.
»Ei weh, jetzt türme ich aber wirklich!« kratzte Wilmar sich
den Kopf, während in seinen sehr hellen blauen Augen der
Übermut nur so blitzte.
»So bleiben Sie nicht zum Abendessen?«
»Leider unmöglich, gnädige Frau, meine Freizeit ist
abgelaufen. Halte ich sie nicht ein, singt mir der Herr
Professor zwar nicht das Lied von der holden Blume
Männertreu, auch nicht von trügerischen Weiberherzen,
sondern das von dem unseligen Knaben, der immer zu spät
kam.«
So nahm er denn Abschied.
Doch bevor Wilmar in seinem kleinen Wagen davonfuhr,
sang er noch den Gastgebern, die ihm das Geleit gaben,
verschmitzt zu:
»Grüßt mir euer herziges Kind, sagt ihm, ich kehre wieder!«
Der Frühling verging, der Sommer kam und brachte Mitte
August als Gast Schwester Agathe, die sich in dem
harmonischen Kreis äußerst wohl fühlte.
»Das kann Ihnen hier so passen«, brummte ihr
Vorgesetzter, als er wieder einmal die Verwandten
besuchte. »Leben hier herrlich und in Freuden, während ich
schwer schuften muß.«
»Auch im Urlaub, Herr Professor?«
»Natürlich nicht. Den pflegt ein Arbeitstier wie ich
geruhsam zu verleben.«
»Sehen Sie, das tue ich mit meinem hier auch.«
»Na, geruhsam?« lachte der Hausherr. »Dafür dürfte es bei
uns wohl zu munter zugehen. Hauptsächlich unsere beiden
Marjellchen haben Sie straff am Bändel, Frau Oberin. Die
gönnen Ihnen kaum eine Stunde Ruhe, wenn sie nicht
gerade in Wald und Flur umherschweifen, wie zum Beispiel
jetzt.«
»Mir sehr recht, daß sie nicht da sind«, sagte der Professor.
»Da kann ich wenigstens ungeniert über das sprechen,
weswegen ich eigentlich hier bin. Dr. Skörsen war heute bei
mir.«
»Was?« war Hermann Hollgart gleich den beiden Damen
so überrascht, daß er die geliebte Pfeife anzuzünden
vergaß, was er gerade vorhatte. »Seit wann ist er denn
wieder im Lande?«
»Seit ungefähr einer Woche.«
»Will er denn wieder zu uns zurück?« fragte die
Oberschwester interessiert.
»Leider nicht. Er will die Praxis des kürzlich verstorbenen
Arztes Blonky übernehmen.«
»Wovon will er die denn bezahlen, etwa vom Geld seiner
Frau?«
»Er wußte bisher noch gar nichts von diesem reichen
Segen, Traude. Wer hätte es ihm auch mitteilen sollen?«
»Seine Mutter zum Beispiel.«
»Weiß sie denn von Lenores Erbschaft?«
»Und ob! So was spricht sich schnell herum. Jedenfalls
erhielt Nore von ihrer Schwiegermutter kürzlich einen
Brief, in dem diese sie ganz unverblümt anbettelte. Erst
einmal um fünftausend Mark, die sie zur Aussteuer der
Tochter benötigte, die in nächster Zeit zu heiraten
gedächte.«
»Alle Wetter!« sagte der Professor verblüfft. »Die Frau ist
bestimmt nicht schüchtern. Und wie hat Lenore darauf
reagiert?«
»Sie riß den Wisch mittendurch, tat ihn in einen Umschlag
und ließ ihn an den Absender zurückgehen.«
»Bravo! Anders hätte sie mich auch enttäuscht. Jedenfalls
erwähnte Skörsen von der Erbschaft seiner Frau nichts, auf
die er übrigens gar nicht angewiesen ist. Denn wie er mir
kurz erklärte, kehrt er nicht mit leeren Händen zurück. Es
ist ihm nämlich gelungen, das einzige Kind eines sehr
reichen Australiers von einer Krankheit zu heilen, an der
bisher Jahrelang vergebens herumgedoktert worden war.
Da hat der überglückliche Vater den Retter seines Kindes
natürlich fürstlich belohnt. Nun will er sich von dem Geld
eine Praxis erwerben und seine Frau wiederhaben, das ist
sein fester Entschluß, den er wahrscheinlich in die Tat
umsetzen wird, auf Biegen oder Brechen. Der Mann hat
sich in dem halben Jahr nämlich sehr verändert, äußerlich
wie charakterlich. Er ist irgendwie hart geworden, hart und
unnachgiebig.«
»Mein Gott, da kann man ja Angst kriegen!« sagte
Gertraude unbehaglich. »Will er etwa hierherkommen?«
»Ja, morgen, vielleicht auch heute schon, um sich mit
seiner Frau auszusprechen.«
Wie auf ein Stichwort trat Lenore, gefolgt von Ilga, hinzu,
sprühend vor Lebensfreude und Gesundheit. Sie trug einen
bunten Waldblumenstrauß, den sie lustig schwenkte.
»Hier, Tante Traudeleinchen, für dich, weil du diese
Sträuße so liebst. – Nanu, wer kommt denn da?«
Sie zeigte durch das Fenster auf den Wagen, der soeben
durch das Tor fuhr.
Nun wurden auch die anderen aufmerksam, und Günther,
der sich wie alle Jungen seines Alters für Autos brennend
interessierte, brummte anerkennend:
»Schicke Karre. Wer sich so eine leisten kann, muß ganz
nett in der Wolle sitzen. Will doch mal nachsehen.«
An der Tür stieß er mit dem Hausmädchen zusammen, das
wichtig meldete:
»Herr Dr. Skörsen wünscht seine Aufwartung zu machen.«
Und schon wurde dieser sichtbar, ging unbeirrt auf die
Hausherrin zu und verharrte vor ihr in tadelloser
Verbeugung.
»Verzeihung, gnädige Frau, daß ich hier so unformell
eindringe…«
»Von Eindringen kann gar keine Rede sein«, entgegnete sie
rasch gefaßt. »Seien Sie uns willkommen, Herr Dr. Skörsen.
Das ist mein Mann, das meine Tochter Ilga, das mein Sohn
Günther. Alle anderen sind Ihnen ja bekannt.«
Nachdem die Begrüßung erfolgt war, stand der Mann vor
Lenore, die ihn anstarrte wie etwas Grausiges. Erst als er
nach ihrer Hand faßte, kam Leben in sie. Ganz fremd klang
ihre Stimme, die nun schroff fragte:
»Was willst du hier?«
»Lenore!« mahnte Gertraude. »Du bist ja ungezogen. So
begegnet man doch nicht seinem Mann.«
Da schluchzte sie hart auf, eine rasche Wendung, und ehe
noch jemand sie zurückhalten konnte, war sie auch schon
hinausgestürmt.
»Na, so ein kleiner Feigling«, sagte der Tierarzt genauso
perplex wie die anderen alle. »Geh ihr nach, Traudchen,
und bring sie mal ein bißchen zur Raison!«
»Wird nicht einfach sein«, setzte sie sich seufzend in
Bewegung. Ilga folgte, und der Professor lachte.
»Echt weiblich, sein Heil in der Flucht zu suchen.«
»Es soll auch solche Männer geben«, bemerkte die
Oberschwester trocken. »Die bleiben auch nicht stehen,
wenn ihnen ein Schreck eingejagt wird.«
»Soll das ein Vorwurf für mich sein, Schwester Agathe?«
»Gewiß, Herr Dr. Skörsen. Ehe Sie Ihre Gattin so – na ja…«
»Überfielen«, half er gelassen aus, als sie unter seinem
ironischen Blick stockte. »Das wollten Sie doch wohl sagen,
Frau Oberin, nicht wahr?«
»Ja«, gab sie ehrlich zu. »Wir anderen wußten von dem
Herrn Professor, daß Sie wieder im Lande sind, nur Lenore
wußte es nicht. Wenn Sie uns Zeit gelassen hätten, Ihre
Frau vorzubereiten…«
»Dann wäre sie erst recht vor mir davongelaufen.«
»Lassen Sie sich nur nicht beirren«, griff jetzt der Professor
ein. »Sie handelten schon ganz richtig, mein lieber Ralf.«
In dem Moment trat Gertraude hinzu, hochrot im Gesicht.
»Na, das ist vielleicht ein kleiner Trotzteufel«, blies sie die
Backen auf. »Bei allem, was ich auch sagen mochte, erfolgte
ein glattes Nein! – Nun gehen Sie ins Nebenzimmer, Herr
Doktor, und plagen Sie sich weiter mit ihr ab! Bis zu Ihrem
Erscheinen hält meine Tochter sie energisch fest.«
Als Ralf das Zimmer betrat, sagte Ilga gerade aufgebracht:
»Wie kann man bloß so feige sein. Schäm dich! Hör doch
erst einmal an, was dein Mann dir zu sagen hat.«
»Sehr richtig«, sprach eine sonore Stimme dazwischen, und
nun war es die couragierte Ilga, die ihr Heil in der Flucht
suchte.
Doch als Lenore ihr nacheilen wollte, hielt Ralf sie zurück.
»Du bleibst hier!« gebot er herrisch, während er sie
kurzerhand in einen Sessel drückte und in dem
gegenüberstehenden Platz nahm.
»Sag mal, was erlaubst du dir eigentlich?« fragte sie empört.
»Du maßt dir Rechte an…«
»Die mir als Gatten zukommen.«
»Ich lehne dich als solchen ab.«
»Meinst du, daß das so einfach ist?«
»Nichts einfacher als das«, flog ihr Kopf in den Nacken.
»Ich lasse mich von dir scheiden.«
»Aus welchem Grund?«
»Ralf, so kommen wir doch nicht weiter«, preßte sie nervös
die Finger gegen die Schläfen. »Laß uns doch in aller
Sachlichkeit die Ehe lösen, in die man uns gezwungen hat.«
»Gezwungen, Lenore?«
»Na, was denn sonst? Du sagtest doch selbst, daß meine
Mutter dich zur Heirat allerdings nicht gezwungen, aber
überredet hat.«
Da stieg dem Mann dunkle Röte ins Gesicht, ganz langsam,
bis zum Blondhaar hinauf. Leise wie ein Hauch wehte es zu
ihr hin:
»Verzeih, Lenore, so war das nicht gemeint.«
»Na schön«, zog sie unbehaglich die Schultern hoch.
»Unsere Ehe war eben ein Irrtum.«
»Ein Irrtum, Lenore? Ich habe dich aus Liebe gefreit und
liebe dich heute noch.«
»Liebe – du?« fuhr sie nun auf in leidenschaftlichem
Zürnen. »Lüg doch nicht, Ralf!«
»Lenore, ich warne dich!«
»Ach was, laß mich doch in Ruhe! Es war so schön ohne
dich.«
Er zuckte zusammen wie unter einem Hieb, erblaßte bis in
die Lippen. Doch sie sah es nicht, schrie ihm in höchster
Erregung entgegen:
»Ein Leben mit deiner Mutter zusammen halte ich ein
zweites Mal nicht mehr aus. Und wenn du mich dazu
zwingen willst, bringe ich mich um.«
»Du wirst mich jetzt endlich reden lassen!« wurde seine
Stimme so scharf und schneidend, daß sie zusammenfuhr.
»Ich habe damals, als ich aus Berlin zurückkehrte,
sozusagen das Tischtuch zwischen mir und meiner Mutter
zerschnitten. Ich wäre noch nicht aus Australien
zurückgekehrt, wenn ich nicht durch einen Glücksfall so
viel Geld verdient hätte, um mir eine Praxis erwerben zu
können. Auch zu einer Wohnung reicht es noch. Du wirst
also deinen eigenen Hausstand haben. Und sollte meine
Mutter es wagen, dich zu belästigen, so steht dir das Recht
zu, ihr dein Haus zu verbieten. Aber zu mir zurückkehren
mußt du, Lenore, das kämpfe ich durch auf Biegen oder
Brechen.«
So hart, so fest und unerschütterlich war es gesagt, daß sie
nicht zu widersprechen wagte.
Scheuen Blickes sah sie zu dem Mann hinüber, der ihr so
fremd vorkam, als hätte sie ihn nie zuvor gesehen. Hart war
das Gesicht, hart und blaß, die Augen blitzten darin wie
blanke Kiesel. Seine Kleidung war von ausgesuchter
Eleganz, an der Linken steckte ein schwergoldener
Siegelring.
Nein, das war ja gar nicht der Mann, den sie geheiratet
hatte. Das war ja ein ganz anderer, ein viel bedeutenderer,
im Aussehen wie in der ganzen Art. Auch die Stimme kam
ihr ganz anders vor, sonor und herrisch.
»Hast du dich beruhigt, Lenore? Kann ich jetzt vernünftig
mit dir reden?«
»Laß mir doch wenigstens Bedenkzeit!«
»Na schön. Ich gehe, aber ich komme wieder, Tag für Tag.«
»Was haben Sie erreicht?« fragte der Professor, als der junge
Arzt wieder erschien.
»Immerhin so viel, daß Lenore mich zum Schluß
wenigstens anhörte. Fürs erste bin ich zufrieden. Gnädige
Frau, darf ich mich verabschieden und morgen
wiederkommen?«
»So oft Sie wollen, Herr Doktor.«
»Verbindlichen Dank.«
Tief neigte er sich über die Hand, die sich ihm
entgegenstreckte, verabschiedete sich auch von den
anderen und ging, vom Hausherrn begleitet.
»Na, der gibt vielleicht an!« brummte Günther. »Soll der
bloß die Nore in Ruhe lassen, sonst kriegt er es mit mir zu
tun!«
»Das ist ja eine ganz fürchterliche Drohung«, schmunzelte
der Onkel. »Nun, Agathchen, habe ich übertrieben, als ich
sagte, daß der Mann sich sehr verändert hat?«
»Und wie er sich verändert hat. Früher war er, wenn auch
nicht gerade liebenswürdig, so doch verbindlich, aber jetzt
ist er geradezu herrisch.«
»Wird ja auch genug durchgemacht haben«, gab der
Hausherr zu bedenken, der zurückkam und die Bemerkung
der Oberschwester gehört hatte. »Auf mich hat der Mann
jedenfalls den allerbesten Eindruck gemacht. Der weiß, was
er will, und das allein ist bei einem Menschen schon viel
wert.«
»Und wenn Lenore an seinem starren Willen zerbricht?«
»Trudchen, fang um Himmels willen nicht an zu
kombinieren!« hob er lachend die Hände. »Wir wollen
lieber auf den Schreck einen Kognak trinken.«
»Aber ohne mich.« Gertraude stand auf. »Ich gehe zu
Lenore. Das Kind wird ja ganz durcheinander sein.«
Damit hatte sie recht. Denn was da auf dem Bett lag, war
ein schluchzendes, erbarmungswürdiges Elendsbündel.
»Tante Traude, ich gehe nicht zu ihm zurück!« rief sie der
Eintretenden entgegen. »Ich gehe nicht, eher bringe ich
mich um!«
»Na, na, na«, beschwichtige Gertraude, sich auf den
Bettrand setzend und das verzweifelte junge Menschenkind
in die Arme ziehend. »Du bist viel zu verstört, um eine
Entscheidung treffen zu können. Erhole dich erst mal von
dem Schreck, den dir das plötzliche Erscheinen deines
Mannes eingejagt hat, dann erst wirst du prüfen und
erwägen können.«
»Tante Traude, ich will doch nicht von hier fort«,
schluchzte sie jammervoll. »Ich habe euch alle doch so
lieb, fühle mich bei euch glücklich und zufrieden. Warum
mußte Ralf wiederkommen?«
Ja, was sollte Gertraude wohl darauf erwidern? Jetzt mit
Ermahnungen zu kommen, wäre zwecklos. Zärtlich
streichelte sie das zuckende Köpfchen und sagte gütig:
»Komm, mein Herzchen, ich bringe dich zu Bett. Dann
bekommst du eine Tablette und schläfst erst mal über
deinen Kummer hinweg. Wenn du dann erwachst, wird er
gar nicht mehr so groß sein, wie er dir jetzt erscheint.«
Als Gertraude später zu den anderen zurückkehrte, sagte sie
befriedigt:
»Sie schläft jetzt. Wißt ihr, was ich nun mache? Ich gehe zu
Reinhard hinauf und hole mir bei ihm Rat, wie wir uns
Lenore gegenüber verhalten sollen.«
»Seine Antwort darauf kann ich dir jetzt schon sagen.«
»Und die wäre, Hermann?«
»Es Skörsen allein zu überlassen, seine Frau zur Vernunft zu
bringen.«
»Ganz meine Meinung«, nickte der Professor. »Doch jetzt
muß ich mich wieder so ein bißchen um meine Patienten
kümmern.«
»Und ich um die meinen«, erhob sich der Tierarzt gleich
dem Bruder. »Ich habe nämlich auch welche.«
»Die sich bedeutend leichter behandeln lassen.«
Dr. Skörsen saß im Hotelzimmer und sah die Bedingungen
durch, zu denen die Witwe des Arztes Blonky die Praxis
abgeben wollte. Was sie verlangte, konnte man schon mit
unverschämt bezeichnen, so daß Skörsen die Lust verging,
sich weiter mit der Sache zu befassen.
Und da er ein Mensch von kurzen Entschlüssen war, tippte
er auf der kleinen Schreibmaschine eine zwar höfliche, aber
nicht mißzuverstehende Absage.
Er war gerade damit fertig, als der Fernsprecher anschlug
und der Portier durchsagte, daß ein Herr Hollgart den
Herrn Dr. Skörsen zu sprechen wünsche.
»Schicken Sie den Herrn sofort zu mir herauf«, gebot Ralf
kurz, da er annahm, daß der Besucher ihn Lenores wegen
sprechen wollte.
Unruhig sah er ihm entgegen und war dann nicht wenig
erstaunt, als statt des kraftstrotzenden Hünen ein kleiner
verwachsener Mann eintrat.
»Dr. Hollgart?« fragte er gedehnt.
»Jawohl, Dr. Hollgart der Dritte«, kam es lächelnd zurück.
»Der jüngste der Brüder. Hat mein Bruder Rudolf Ihnen nie
von meiner Existenz erzählt?«
»Nein. So vertraut war ich mit dem Herrn Professor nicht,
daß er über seine Familienangehörigen mit mir sprach.
Nehmen Sie bitte Platz, Herr Doktor! Darf ich Ihnen etwas
anbieten?«
»Danke, jetzt nicht, vielleicht später. Ich hege nämlich die
Hoffnung, mit Ihnen dann in bestem Einvernehmen
anstoßen zu dürfen.«
»Da bin ich aber neugierig«, gab Ralf unumwunden zu,
während er sich dem Gast gegenüber setzte, der ihn
prüfend ansah und dann sagte:
»So will ich versuchen, mich möglichst kurz zu fassen. Ich
bin der Besitzer des Sanatoriums Friedberg, das in der Nähe
des Hollgarthofes liegt. Schon davon gehört?«
»O ja, es ist bekannt genug.«
»Also, wie ich hörte, haben Sie die Absicht, die Praxis des
verstorbenen Dr. Blonky zu erwerben?«
»Die Absicht habe ich jetzt nicht mehr, da die Bedingungen
denn doch zu übersteigert sind. Ich werde die Absage heute
noch abschicken.«
»Und was gedenken Sie jetzt zu tun?«
»Mich nach etwas anderem umzusehen.«
»Ins Krankenhaus wollen Sie nicht mehr zurück?«
»Nein.«
»Auch nicht als Oberarzt?«
»Nein. Ich möchte selbständig werden.«
»Schade.«
»Warum?«
»Weil Sie dann auf meinen Vorschlag nicht eingehen
werden.«
»Aber anhören könnte ich ihn trotzdem.«
»Ja? Na, denn man zu. Also, Herr Dr. Skörsen, ich habe in
den letzten Jahren mit meinen Mitarbeitern Pech gehabt. Es
war nicht einer unter denen, die da kamen und gingen, auf
den ich mich ganz und voll verlassen konnte. Nun wollte
ich Ihnen vorschlagen, zu mir zu kommen.«
»Um Sie auch noch zu enttäuschen«, warf Ralf trocken ein,
und der andere lachte.
»Sie scheinen wirklich kurz angebunden zu sein, wie man
Ihnen nachsagt. Ich glaube nicht, daß Sie mich enttäuschen
werden – und wenn, dann sagen wir uns hübsch säuberlich
Adieu.«
»Ihr Angebot könnte mich schon reizen, wenn ich dort
meinen eigenen Hausstand haben dürfte.«
»Das kommt nicht in Frage, mich werden Sie schon als
Anhängsel dulden müssen.«
»Wie soll ich das verstehen?«
»Ganz einfach, mein lieber Freund. Ich bewohne nämlich
ein großes Haus, in dem ich mir so einsam vorkomme, so
verlassen und verloren. Denn ich bin unverheiratet, was Sie
ja nicht wundern wird. Ich habe es bisher noch nicht
bedauert, aber wenn man älter wird, sehnt man sich nach
Wärme und Herzlichkeit, munterem Geplauder,
herzfrohem Lachen. Und das alles könnte ich bei Ihrer
Lenore finden.«
»Lenore wohl, Herr Doktor, aber das ›Ihre‹ ist ein kühnes
Wort.«
»Dazu würde mein Bruder, der Viehdoktor, sagen: Man
immer sachte mit den jungen Pferdchen! Die junge Frau
wird sich schon wieder darauf besinnen, daß sie aus Liebe
geheiratet hat.«
»Ein Irrtum, wie sie mir gestern sagte.«
»Den ihr das eigenwillige Köpfchen eingibt. Aber das Herz
irrt sich nicht, das bleibt nach wie vor unbestechlich. Das
sage ich Ihnen als Psychologe, der sich ein
Vierteljahrhundert mit Seelenkunde befaßt hat.«
»Dann brauche ich Ihnen ja nicht zu beteuern, daß ich
Lenore aus Liebe freite, daß ich sie imitier liebte, auch als
ich sie in meiner Verblendung für ein launenhaftes,
unverträgliches, verlogenes Geschöpf hielt – und daß diese
Liebe in meinem Herzen klebt so zäh wie…«
Jäh hielt er inne, seine Zähne bissen sich zusammen wie in
rasendem Schmerz.
»Nein, das brauchen Sie mir nicht zu erklären«, sprach
Hollgart in die bedrückende Stille hinein. »Sie haben wohl
gefehlt, aber auch dafür gebüßt.«
»Weiß Gott, das habe ich. Aber für Lenores Rachedurst
wahrscheinlich immer noch nicht genug.«
»Skörsen, ich will Ihnen mal was sagen, ganz offen und
ehrlich: Lenore hat in den ersten Monaten ihrer Ehe so
entsetzlich viel leiden müssen, daß sie bestimmt daran
zerbrochen wäre, hätten sich nicht warmherzige Menschen
gefunden, die sich ihrer annahmen. Von Herzlichkeit
umgeben lernte sie wieder das Leben lieben, fand sie
Frohsinn und Lachen wieder, was ihr alles so ganz
abhanden gekommen war. Sie lernte aber auch, Sie zu
vergessen, Ralf – was für ihre seelische sowie körperliche
Genesung sogar gut war. Als Sie nun gestern so ganz
unerwartet vor ihr standen, brach alles wieder auf, was
noch nicht ganz vernarbt war. Die so plötzlich aufgerissene
Wunde wird sich jedoch wieder langsam schließen, wenn
man die richtige Salbe anwendet. Und die heißt nicht
unnachgiebige Härte, sondern Nachsicht und Geduld. Also
reißen Sie dieses sensible Geschöpf nicht von heute auf
morgen aus seiner Umgebung, an der es hängt. Reißen Sie
es nicht von Menschen, die es von ganzem Herzen liebt.
Zwar ist es Ihr Recht, die Gattin an Ihre Seite zu zwingen,
aber lassen Sie nicht das Recht sprechen, sondern Ihr Herz,
dann werden Sie schon das Richtige treffen. Erst einmal
damit, daß Sie meinen Vorschlag annehmen. Der
Hollgarthof und der Friedberg liegen so nahe zusammen,
daß man, wenn man den Pfad durch die Wiesen wählt, in
zehn Minuten hüben wie drüben sein kann. Wenn Sie ein
Fernglas nehmen, können Sie von der Höhe beobachten,
was unten vor sich geht. Und diese Nähe braucht Lenore
zuerst einmal, damit sie in kurzer Zeit dahin eilen kann,
wohin das Herzchen sie gerade treibt. Und das wird sie
allmählich mehr und mehr zum Herzen des Gatten ziehen.
Wetten, daß es geschieht?«
»Herr Doktor, wissen Sie, was Sie sind? Ein ganz listiger
Verführer.«
»Meinetwegen auch das«, lachte er herzlich. »Wenn wir
dabei nur zum Ziel kommen. Hier haben Sie meine Hand,
schlagen Sie ein, es wird Sie bestimmt nicht gereuen.«
Noch ein kurzes Zögern Ralfs, dann fanden sich zwei
Männerhände zu festem Druck.
Es war ein Eldorado, das Dr. Skörsen nach einer guten
Stunde zu sehen bekam. Alte Bäume mit mächtigen
Kronen, blühende Straucher, gepflegte Rasen, herrliche
Blumenrabatten, Springbrunnen, ein großer See, auf dem
Boote schaukelten; schmucke Badehäuschen reihten sich
am Ufer. Ferner gab es Liegewiesen, Tennisplätze, eine
kleine Reithalle, Wandelgänge, saubere Kieswege. Und
inmitten von all dem herrlichen Grün und der
Blumenpracht standen die schneeweißen Gebäude mit
ihren großen Fenstern, Baikonen und Terrassen.
Erklärend schritt der Besitzer all der Herrlichkeit neben
dem jungen Arzt dahin, der schon ganz benommen war
vom Schauen.
Jetzt hob Hollgart die Hand und zeigte auf ein abgelegenes
Gebäude, das ganz aus Glas zu bestehen schien.
»Sehen Sie mal dort hin, Ralf! In dem Haus befindet sich
der Operationssaal, der eigentlich nur als Staffage dient.
Denn die größeren Operationen, die ja auch mal bei den
Patienten notwendig werden, wimmele ich mir ab, weil ich
ja kein Chirurg bin. Nur kleinere führe ich in dringenden
Fällen aus.«
»Aber der Herr Professor ist doch ein vorzüglicher Chirurg.
Da wundere ich mich, daß er sich mit Ihnen nicht
zusammen tut, Herr Doktor.«
»Den Vorschlag machte ich ihm selbstverständlich, er wies
ihn jedoch entrüstet zurück. Ob er sich in diesem Klub
wohl zuschanden faulenzen sollte? Jedes halbe Jahr
vielleicht eine Operation, das hätte er gern. Und dann und
überhaupt, was sollte er wohl bei solchen Menschen, die
sich den Luxus leisten könnten, hier zu sein, wohl
wegoperieren? Doch nur bei den unverstandenen Frauen
ihre Extravaganzen und bei seitenspringenden Ehemännern
ihre Amouren.«
»Das sieht dem Professor ähnlich!« lachte Ralf so herzlich,
daß sein Begleiter überrascht aufhorchte. Wohlgefällig hing
sein Blick an der prachtvollen Erscheinung.
So hätte ich auch aussehen mögen, dachte er wehmütig.
Aber nur einige Herzschläge lang, dann war es vorbei.
»Beherbergt das Sanatorium denn nur Menschen von der
eben geschilderten Art?« fragte der junge Arzt jetzt
interessiert.
»Natürlich nicht. Es sind wirklich Leidende darunter, sogar
in der Mehrzahl.«
»Na, Gott sei Dank, sonst würde ich ausreißen.«
»Etwa vor den unverstandenen Frauen?«
»Allerdings.«
»Na, hören Sie mal, ein Kerl wie Sie! Wetten, daß die
Damen sich samt und sonders in Sie verlieben?«
»Da sei Gott vor!« hob Ralf so entsetzt die Hände, daß der
andere amüsiert lachte.
»Tja, mein Lieber, man muß seinem Beruf auch Opfer
bringen.« Er hakte sich bei dem Jüngeren ein. »Meine Füße
sind müde, und mein Magen hängt schief. Also habe ich
Sehnsucht nach einem weichen Lehnstuhl und einem
guten, reichlichen Mahl.«
Beides sollte ihm in dem Haus werden, das sie bald darauf
betraten und das auf Ralf einen fast beklemmenden
Eindruck machte in seiner beinahe unnahbaren
Vornehmheit.
Das Mahl servierte ein Diener, der in diese Pracht
wunderbar hineinpaßte.
Er war seinem Herrn ebenso treu ergeben wie die Dame,
die sich an der Tafel einfand und dem Gast als »betuliches
Haushuhn« vorgestellt wurde. Sie lachte dazu, die
Fünfzigerin mit leicht ergrautem Haar, dem frischen
Gesicht und den guten Augen.
Nach dem vorzüglichen Mahl zog die Dame sich zurück,
und die Herren gingen in ein lauschiges Gemach, das ganz
mit dicken Teppichen ausgelegt war. Die Wände bedeckten
Gobelins, um einen Marmorkamin standen tiefe, weiche
Sessel, inmitten ein niedriger Tisch mit herrlichen
Intarsien, und an der einen Schmalwand prunkte eine Bar.
Die Kaffeemaschine summte, Mokkatassen standen bereit,
und aus dem Kühler ragte ein Flaschenhals.
»So, mein Lieber, jetzt möchte ich das tun, was ich bereits
andeutete«, schmunzelte der Hausherr. »Nämlich, mit
Ihnen im besten Einvernehmen anstoßen.«
Was denn auch geschah. Dabei bot der sonst so reservierte
ältere Arzt dem jüngeren das trauliche Du an, was diesen
geradezu verwirrte.
»Herr Doktor, womit habe ich das verdient?« fragte er, und
lachend kam es zurück:
»Das weiß ich selbst nicht. Aber was macht man schon
gegen die Liebe auf den ersten Blick? Man kapituliert.
Zuerst tat ich es bei Lenore, dann bei ihrem Ehgespons.«
Da mußte Ralf lachen, und sein Gastgeber nickte befriedigt.
»Das habe ich gern, Lachen und Frohsinn zu Hause, nach
all dem Jammer und den Klagen im Beruf. So was wünsche
ich mir schon lange. Und wenn unser Täubchen erst hier
sein wird, dann zieht es andere nach. Denn wo Tauben
sind, da fliegen Tauben zu. Ja, ja, ich weiß, dein Gesicht ist
nämlich ein einziges Fragezeichen«, besah der Mann sich
schmunzelnd seinen Gast.
»Ist das vielleicht ein Wunder?«
»Bei deinem sonstigen Scharfsinn schon. Somit gebe ich
denn den Kommentar: wenn erst Lenore zwischen hier und
dort pendelt, schließt sich Ilga ihr bestimmt an. Und unser
Traudchen flattert hinterher, von wegen des Kombinierens.
Und dann habe ich endlich das frohe Leben im Haus, nach
dem ich mich immer sehnte. Kapiert?«
»Das schon. Aber deine Verwandten sind doch schon
immer hier aus und eingegangen?«
»Eben nicht. Sie erschienen selten, weil es ihnen hier zu
ungemütlich war.«
»Ist Günther dein einziger Neffe?«
»Ja, und Ilga meine einzige Nichte.«
»Vielleicht bringt sie dir durch Heirat den erwünschten
Nachfolger.«
»Kann schon sein, daß sie sich langsam mit Dr. Hörse
zusammenzankt«, war die lachende Erwiderung. »Aber
darüber können noch Jahre vergehen. Also, mein lieber
Ralf, du kannst dich drehen und winden, wie du willst, ich
habe dich mir als Nachfolger in den Kopf gesetzt, und der
kann manchmal hart sein wie Granit. Ich weiß, du hast
Hemmungen, die jedoch Unsinn sind. Durch Lenores
Erbschaft bist du sehr wohl in der Lage…«
»Lenore? Erbschaft?« horchte Ralf auf. »Davon weiß ich ja
gar nichts.«
»Na, nun schlägt’s dreizehn! Hat sie dir denn nichts davon
gesagt?«
»Nein, das hat sie in ihrer Erregung wohl vergessen. Wen
hat sie denn beerbt?«
»Ihre Mutter.«
Kurz gab er wieder, was er über die Angelegenheit wußte.
Und je länger er sprach, desto mehr verfinsterte sich Ralfs
Gesicht.
»Wieviel ist es denn?« fragte er, als der andere schwieg.
»So um eine dreiviertel Million herum.«
»Das hat mir gerade noch gefehlt!« lachte Ralf hart auf. »Da
dachte ich, mit meinem bißchen Geld… Weißt du übrigens
davon?«
»Ja.«
»Da dachte ich, mit meinem bißchen Geld mir meine Frau
zurückzuerobern, indem ich ihr eine eigene Wohnung
einrichte, und nun dies. Es ist, um auf die Akazien zu
klettern.«
»Tu’s nicht, mein Sohn«, entgegnete der andere ungerührt.
»Die Dinger sollen nämlich erbärmlich stechen. Freu dich
lieber über den reichen Segen, den du als mein Nachfolger
mal nötig brauchen wirst. Oder glaubst du etwa, daß ich
dir das alles hier ringsum mal schenken werde?«
»Ich würde so ein Riesengeschenk gar nicht annehmen.«
»Vorläufig ist es ja noch nicht soweit«, meinte Reinhard
pomadig. »Ich gedenke noch so einige Jährchen zu leben
mit meinen jetzt fünfundvierzig Jahren. Bis dahin zahle ich
dir Gehalt, von dem ich dir allerdings die Verpflegung für
dich und deine Familie, die sich hoffentlich bald und viel
vergrößern wird, abziehen muß.«
»Dann wird von dem Gehalt wohl nicht viel übrigbleiben«,
warf Ralf trocken ein, und der andere lachte.
»Na, du, ich zahle anständig, Junge, was habe ich bloß für
eine Mordsfreude, daß ich nun auch eine Familie haben
darf. Denn zusehen, und immer nur zusehen, das macht
bitter.«
Ganz leise war das letzte gesagt. Und was der junge Arzt
darauf erwiderte, klang wie ein Schwur:
»Du sollst nie mehr allein sein, Reinhard, das verspreche
ich dir.«
»Danke, das war ein gutes Wort. Sag mal, hat mein Bruder
nichts von Lenores Erbschaft erzählt, als du ihn im
Krankenhaus aufsuchtest?«
»Nein.«
»Merkwürdig. Und auch deine Mutter schwieg sich darüber
aus?«
»Meine Mutter? Woher soll die denn das wissen? Reinhard,
du wirst ja ganz verlegen. Verschweigst du mir etwas?«
»Junge, sei doch nicht so gründlich!«
»Doch, ich muß es sein. Also?«
So blieb dem anderen nichts anderes übrig, als über Frau
Rosahas Brief zu sprechen.
»Und was hat Lenore getan?«
»Den Brief mittendurch gerissen und zurückgesandt.«
»Gott sei Dank!« atmete Ralf auf. »Sag mal, Reinhard, graut
dir eigentlich nicht vor dem Sohn so einer Mutter?«
»Keine Spur! So weiß deine Mutter noch gar nicht, daß du
wieder im Lande bist?«
»Doch, irgendwo muß sie es erfahren haben. Sie war
nämlich im Hotel und wollte mich sprechen, was ich aber
ablehnte.«
»Ist das nicht zu hart, Ralf?«
»Nein, nur gerecht. Es ging ihr ja nicht um meine Person,
sondern um mein Geld. Nun, ich habe ihr schriftlich
mitgeteilt, daß ihr die Raten für Lenore erlassen sind.
Fortan werde ich dafür aufkommen.«
»Es paßt gut, daß heute Sonntag ist«, sagte Reinhard, als er
an Ralfs Seite den Wiesenpfad entlangschritt. »Da haben
wir wenigstens Aussicht, die gesamte Familie anzutreffen,
wenn wir so treulich vereint auf der Bildfläche erscheinen.
Für meinen Bruder gibt es allerdings keinen Sonntag, wie
für uns ja auch nicht. Wir Ärzte müssen ständig in
Bereitschaft stehen. Da heißt es eben: werde nicht Arzt,
wenn du nicht aus dem Beruf die Konsequenzen ziehen
willst! – Doch, Hermann ist da. Ich erspähe ihn bereits auf
der Terrasse im trauten Kreis seiner Lieben. Auch die
Oberschwester ist dabei, hat also immer noch Urlaub.«
Fünf Minuten später standen sie dann vor den sechs
Menschen, die nicht gerade geistreiche Gesichter machten,
was dem kleinen Arzt ein amüsiertes Lächeln entlockte.
»Kinderchen, klappert nicht mit den Augen, ihr seht richtig,
Ralf und ich – ich und Ralf. Ist denn das so
verwunderlich?«
»Also, Onkel Reinhard, wenn du nicht deine Späße machen
kannst, ist dir einfach nicht wohl«, sagte Ilga als erste
mobil. »Steckst ganz so voller Ulk wie Wilmar.«
Erschrocken hielt sie inne, rot lief ihr Gesichtchen an. Doch
die anderen waren taktvoll genug, ganz harmlos zu tun.
»Spaß muß sein, sagte die Katze und fraß den Spatz«,
meinte Günther pomadig und half so der Schwester über
ihre Verlegenheit hinweg.
Inzwischen hatten die beiden Besucher Platz genommen,
und nun bequemte Reinhard sich endlich zu einer
Erklärung, die dann gewissermaßen wie eine Bombe
einschlug.
Alles rief und fragte durcheinander, nur Lenore saß mit
erschrockenen Augen da. Niemand kümmerte sich um sie,
alle sprachen auf die beiden Herren ein, bis sie restlos alles
wußten.
»Wo wird denn Dr. Skörsen wohnen?« fragte Ilga, zappelnd
vor Aufregung.
»Bei mir, natürlich. Der Kasten ist ja groß genug.«
»Fein, da werde ich dich oft besuchen.«
»So, so«, sagte der Onkel. »Aber warum auch nicht, wo ich
jetzt einen so schmucken jungen Mann bei mir habe. Doch
den wirst du wenig zu sehen kriegen, weil die weiblichen
Patienten ihn mit Beschlag belegen werden. Sie reckten sich
schon heute ihre reizenden und minder reizenden
Hälschen nach ihm aus.«
»Hört, hört!« schmunzelte der Hausherr. »Da wird es aber
bald Palastrevolution um den schönen Ralf geben.«
Dabei schielte er zu Lenore hin, die noch immer
unbeweglich dasaß. Man zog sie absichtlich nicht ins
Gespräch, nahm auch keine Notiz davon, als sie sich
entfernte.
Doch als sie außer Hörweite war, sagte Reinhard befriedigt:
»Den ersten Schock hat sie weg, weitere werden folgen.«
»Und du willst ein Seelenarzt sein?« empörte Gertraude
sich. »Ein ganz gefühlloser Mensch bist du. Los, Dr.
Skörsen, gehen Sie ihr nach!«
»Um mich beleidigen zu lassen? Nein, gnädige Frau, ich
habe von der ersten Aussprache genug und werde mich
Lenore fortan nicht mehr nähern. Wenn sie mir etwas zu
sagen hat, wird sie wohl das erste Wort sprechen müssen,
denn jetzt ist sie es, die sich an mir schuldig macht.«
»Na, das kann ja gut werden!« seufzte Traude. »Hoffentlich
sind Lenores Nerven stark genug, um dem allen, was auf sie
einstürmen wird, ohne Schaden standzuhalten. Was meinst
du dazu, Reinhard?«
»Ihre Nerven sind durchaus intakt.«
»Und wenn ihr das Herz bricht?«
»Das soll es ja gerade«, blieb er ungerührt. »Ruhig brechen
lassen. Dann wird sie schon den Weg zu dem finden, der es
mit behutsamen Händen leimen kann.«
»Onkel Reinhard, du bist abscheulich!«
»Aber warum denn, Ilgalein?« tat er scheinheilig. »Ich bin
doch an dem allen nicht schuld.«
»Das nicht, aber du hetzt Dr. Skörsen auf.«
»Ilga, werde nicht ungezogen!« tadelte der Vater sie scharf.
Da weinte sie auf und lief davon.
»Na, so ein dummes Ding!« brauste der Vater auf, kam
jedoch nicht weiter, weil der Sohn mit Pathos die Hände
hob und zitierte:
»Ach, man fühlt mit siebzehn Jahren leicht der Liebe Lust
und Schmerz.«
Da mußten alle lachen, und die patzige Ilga kam um ein
Strafgericht herum.
»So, mein lieber Ralf, nun wir alles so hübsch
durcheinander gebracht haben, können wir ja wieder
gehen«, schmunzelte der kleine Arzt. »Aber wir kommen
wieder.«
»Soll das ein Trost sein?«
»Na, was denn sonst, Traudchen? Hauptsächlich für die
Nore. Grüß mir ihr Herz!«
»Warum das?«
»Weil es den Gruß besser verstehen wird als das
eigenwillige Köpfchen. Denn die beiden stehen jetzt in ach
so hartem Streit.«
»Nun geh doch bloß schon!« schob Gertraude ihn lachend
ab. »Sonst verwirrst du uns noch immer mehr mit deinen
rätselhaften Worten. Soll ich Lenore auch von Ihnen etwas
bestellen, Herr Doktor?«
»Nein, gnädige Frau.«
»Aber von mir kannst du ihr noch was bestellen und zwar:
aber das Herz irrte nicht!«
»Wie soll ich das nun wieder verstehen?«
»Du brauchst es nicht, Traudchen. Hauptsache, daß Lenore
es versteht.«
Damit ging er endgültig in Ralfs Begleitung davon, und der
Bruder sprach ihm warm nach:
»Ist doch ein prächtiger Kerl, unser Reinhard. Weißt du
auch, daß wir uns ihm gegenüber schämen müssen,
Fraule?«
»Warum denn?«
»Weil wir uns viel zu wenig um ihn gekümmert haben. Wie
schmerzlich er das entbehrt hat, konnte man heraushören,
als er sagte, wie glücklich er doch wäre, daß das Alleinsein
für ihn nun endlich ein Ende hätte.«
»Er hat doch nie gesagt, daß er sich einsam fühlt«,
entgegnete Traude kläglich.
»Er gehört eben nicht zu den Menschen, die um Liebe
betteln. – Aber was ist mit Ihnen los, Schwester Agathe? Sie
sind ja völlig verstummt.«
»Das kann einem schon die Sprache verschlagen«, seufzte
sie. »Ich bin nur neugierig, was der Herr Professor zu dem
Entschluß Skörsens sagen wird. Wie gern hätte er den
vorzüglichen Arzt wieder im Krankenhaus gehabt.«
»Wenn er vernünftig ist, muß er einsehen, daß Skörsen im
Krankenhaus nicht annähernd das geboten werden kann,
was ihm mein Bruder bietet. Außerdem hat Rudolf Dr.
Hörse zur Seite, den er sich als tüchtige Kraft heranbilden
kann, während Reinhard in den letzten Jahren mit seinen
Ärzten nur Pech hatte.«
»Sie haben schon recht, Herr Doktor, aber schade ist es
doch.«
»Auch für Sie?« Er kniff ein Auge zu, und da mußte sie
lachen.
»Auch für mich. Ich mag den Ralf nun mal gern. Außerdem
möchte ich betonen, daß ich an der Grenze der Fünfzig
stehe.«
»Das sagt noch gar nichts.«
»Schwester Agathe, nehmen Sie diesen gräßlichen
Menschen doch mal bei den Ohren!« entrüstete sich
Gertraude, doch der Sohn warnte:
»Ei, Mutti, lieber nicht, der Paps befindet sich im
gefährlichen Alter.«
»Na, warte bloß, du Schlingel!« fiel Hermann in das
hellklingende Lachen der Damen ein. »Ich weiß ja nun
nicht, wer von uns beiden sich im gefährlicheren Alter
befindet.«
»Worüber lacht ihr denn so?« stürmte Ilga herbei, während
Lenore langsamer folgte. »Wo sind denn die beiden
Herren?«
»Zutiefst gekränkt davongegangen.«
»Etwa meinetwegen?« fragte Ilga erschrocken.
»Na, weshalb denn sonst?«
»Ach, Paps, du willst mich bloß ärgern. Du bist genauso
wie…«
»Ahmmmmm?«
»Mit dir ist ja heute nicht zu reden. Komm, Nore, wir
gehen baden.«
»Aber kühlt euch nicht zu sehr die Herzchen ab. Apropos
Herz – Onkel Reinhard läßt das deine grüßen, Lenore.«
»Wie soll ich das verstehen, Onkel Hermann? Was sagte er
denn?«
»Aber das Herz irrte nicht.«
Zuerst sah sie ihn verblüfft an, doch dann flog der Kopf in
ihren Nacken.
»Wenn sich da der Herr Doktor nur nicht irrt. Komm, Ilga!«
Als sie gegangen war, zwinkerte der Tierarzt der Gattin zu.
»Siehst du, Traudchen, wie rasch die Kleine den Sinn
erfaßte! Wetten, daß sie sich von dem guten Psychiater
durchschaut fühlt?«
»Auch noch wetten. Nein, lieber Mann, dafür ist die ganze
Sache denn doch zu verworren. Ich muß mal so richtig
kombinieren.«
Für Lenore begann nun eine Zeit, wo sie sich selbst nicht
begriff. Von Ralf wollte sie nichts wissen – und sehnte ihn
dennoch herbei. War sie mit ihm zusammen, verhielt sie
sich ablehnend, war er wieder fort, tat es ihr leid.
Und sie traf fast täglich mit ihm zusammen, und zwar in
Friedberg, wohin sie eigentlich gar nicht gehen wollte.
Doch ging Ilga hinauf, folgte sie ihr wie einem Magneten.
Nur gut, daß Lenore keine Ahnung davon hatte, daß man
im Tal wie auf der Höh ein abgekartetes Spiel mit ihr trieb.
Dann hätte sich ihr Trotz, von dem sie nicht wenig besaß,
gehörig aufgelehnt und ihr die Zukunft verpfuscht.
Nun ging sie schon seit zwei Wochen im Friedberger
Herrenhaus aus und ein, aber stets war Ilga dabei.
Langsam begannen die blendende Persönlichkeit Ralfs und
die feudale Umgebung Friedbergs auf das empfängliche
Herz zu wirken. Seine prachtvolle Geltung. Die ausgesucht
elegante Kleidung, sein selbstsicheres Auftreten, seine
tadellosen Manieren, überhaupt das ganze Drum und
Dran. Wer ließ sich davon nicht bestechen?
Und dann kam bei Lenore noch die Eifersucht hinzu.
Wenn sie nämlich sah, wie die weiblichen Patienten sich
um »ihren« Doktor scharten, ihn anhimmelten, stieg
jedesmal Zorn in ihr auf, den sie jedoch unterdrückte –
vorläufig noch.
Doch eines Tages ging ihr sozusagen der Hut hoch, als sie
beobachtete, wie Ralf von den »unverstandenen Frauen«
umschwärmt wurde. Sie stand neben Dr. Hollgart, der sie
mit den Augen des Psychiaters scharf beobachtete.
»Sag mal, Onkel Reinhard, muß das sein, daß Ralf sich von
den Damen so anhimmeln läßt?« fragte sie unmutig.
»Es muß sein«, kam die Antwort scheinheilig. »Und ich
glaube, daß Ralf sich das gern gefallen läßt. Welch ein
Mann ließe das schließlich nicht? Ich wünschte, man täte
es auch bei mir.«
»Um das zu wünschen, dafür bist du ja viel zu klug«,
entgegnete Lenore warm, dabei die Schulter des
verwachsenen Mannes liebevoll umfassend. »Schwärmerei
verfliegt, nur die Liebe bleibt.«
»Wirklich, Nore?«
»Ganz wirklich, Onkel Reinhard. Wir haben dich lieb –
nicht wahr, Ilga?«
»Ehrensache!« warf diese sich in die Brust. »Laß doch die
dummen Gän…«
»Ei, Ilga!«
»Na ja, Onkelchen, ich halte schon den Mund«, murmelte
sie beschämt. »Aber sag doch selbst, wie sie um Ralf
herumscharwenzeln, das ist denn doch zu arg. Es ist gar
nicht gut, wenn ein Mann so blendend aussieht. Ich
jedenfalls möchte einen solchen gar nicht haben. Aha, jetzt
hat Ralf uns erspäht und schwenkt ab von den ihn
verhimmelnden Damen.«
»Apartes Wort«, schmunzelte der kleine Arzt und sah dann
dem hochgewachsenen Mann entgegen, der rasch näher
trat – frisch und froh, braungebrannt, ein Bild sieghafter
Männlichkeit.
»Ihr seid hier?« tat er scheinheilig. »Wenn ich das früher
bemerkt hätte…«
»Tu bloß nicht so«, zog Ilga ein Mäulchen. »Wirklich, Ralf,
du wächst dich zu einem Schwerenöter schlimmster Sorte
aus. Nie hätte ich das von dir jemals gedacht.«
»Also enttäuscht von mir?«
»Nicht mehr, wenn du uns in deinem aufregend feudalen
Wagen zur Stadt fährst, Mutti hat mir nämlich einen
ellenlangen Besorgungszettel in die Hand gedrückt. Paps ist
mit dem Auto natürlich wieder unterwegs. Deshalb sollten
wir das Gespann nehmen.«
»Und das ist dir Irrwisch natürlich zu langsam«, zwinkerte
Ralf ihr zu, der bereits merkte, wo sie hinauswollte.
»Bekomme ich Urlaub von meinem gestrengen Chef?«
»Nun zieh schon ab, du Schlingel!« schmunzelte sein Chef.
»Ich werde dich indes bei deinen Anbeterinnen würdig
vertreten.«
Bei dem lustigen Geplänkel hatte Lenore schweigend
dagestanden und blieb auch schweigsam, als sie dann an
Ralfs Seite dahinschritt, während Ilga sich zutraulich an
seinen Arm hängte. Lächelnd hörte er auf ihr munteres
Geplauder, hatte für die Gattin weder Worte noch Blick.
Und dabei sah sie doch so reizend aus in dem duftigen
Sommerkleid, mit dem leichten Seidenmantel darüber. Das
Haar, unbedeckt, funkelte und gleißte im Sonnenlicht. Die
blauen Augen leuchteten aus dem gebräunten Gesichtchen
– alles in allem ein junges Menschenkind von
bezaubernder Schönheit.
Aber auch die dunkellockige Ilga konnte sich sehen lassen,
und einem Mann, der zwischen beiden hätte wählen
sollen, wäre die Wahl wohl schwergefallen.
Geschickt steuerte Ralf seinen eleganten Wagen aus der
Garage, und bevor Lenore noch so recht zur Besinnung
kam, hatte Ilga sich auf dem hinteren Sitz placiert.
»Ich spiele Herrschaft!« sagte sie großartig, sich so richtig
ausbreitend. Also blieb Lenore nichts übrig, als sich neben
den »Chauffeur« zu setzen, der so ganz respektwidrig vor
sich hin pfiff. Ruhig hielten die Hände das Steuerrad, an
deren linker der kostbare Stein funkelte und blitzte.
Woher mag er den Ring haben? dachte Lenore versonnen.
Gekauft hat er ihn bestimmt nicht. Also ein Geschenk. Aber
von wem?
Scheu tastete sich ihr Blick zu seinem Gesicht hinauf, das
man in seiner gesunden Bräune mit kühn bezeichnen
konnte, hauptsächlich dann, wenn durch den Mund die
blendendweißen Zähne blitzten. Das blonde Haar, sonst
sorgfältig geordnet, zauste der Wind, der in den offenen
Wagen ungehindert Zugang fand.
Es ist nicht gut, wenn Männer so blendend aussehen,
kamen ihr Ilgas Worte in den Sinn.
Nein, es ist wirklich nicht gut, sann Lenore weiter. Sie
können unmöglich treu sein, weil sie zu vielen Gefahren
ausgesetzt sind durch die Frauen, die sie umschwärmen wie
die Falter das Licht.
Es war wohl ein Zufall, daß gerade jetzt Ralf das Lied aus
dem »Paganini« pfiff und Ilga munter dazu sang:
»Gern hab’ ich die Frau’n geküßt, hab’ nie gefragt, ob es
gestattet ist. Dachte mir: Nimm sie dir, küß sie nur, dazu
sind sie ja hier.«
»Ich sage ja, daß aus dir ein ganz schlimmer Schwerenöter
geworden ist«, lachte Ilga nach dem frischfröhlichen Duett.
»Wenn ich deine Frau wäre, dann würde ich dich
einsperren!«
»Wie grausig!«
»Könnte gar nicht grausig genug sein. Und nun denk mal
nicht an andere schöne Frauen, sondern an die, welche du
mit dir führst als kostbare Fracht. Steuere sie nicht in das
Gewimmel, in das wir gleich geraten werden.«
Und tatsächlich mußte er jetzt scharf aufpassen, weil sie in
die Hauptstraße der Stadt fuhren, wo der Verkehr nur so
brandete.
»Wo mußt du überall hin, Ilga?«
»Ein Dutzend Geschäfte langen kaum. Halte bitte auf dem
Parkplatz am Markt, von dem aus ich meine Fühler
ausstrecken werde. Wir treffen uns im Lindencafe wieder.«
Kaum daß der Wagen hielt, hüpfte das Mädchen hinaus
und war verschwunden, ehe Lenore so recht zur Besinnung
kam.
»Das nennt man sitzenlassen«, bemerkte Ralf trocken. »Na,
laß ihn laufen, den kleinen Irrwisch. Wir tun uns indes im
Cafe gütlich.«
Obwohl es bald Mitte September war, herrschte immer
noch eine sommerliche Wärme. Also nahm das junge Paar
auf der Terrasse Platz, die zum See hinausführte, auf dem
Segelboote kreuzten und Ruderboote glitten. Abseits lag die
Badeanstalt, in der reger Betrieb war.
»Ich bin zum erstenmal hier«, begann der Mann die
Unterhaltung. »Aber ich muß schon sagen, daß es ein
idyllisches Plätzchen ist.«
»Das finde ich auch«, kam die Antwort einsilbig.
»Dann warst du schon oft hier?«
»Oft gerade nicht, aber einige Male schon.«
»Worauf hast du Appetit?«
»Auf Eis, bitte.«
Das war rasch zur Stelle. Während Lenore es langsam
löffelte, dachte sie daran, daß sie nach der Aussprache mit
Ralf zum erstenmal wieder mit ihm allein war, obwohl sie
ihm fast täglich begenete. Aber nie allein, immer war Ilga
dabei und meist auch Onkel Reinhard, wie sie ihn jetzt
nennen durfte.
Würde Ralf jetzt die Gelegenheit benutzen und erneut eine
Aussprache herbeiführen?
Nein, er tat es nicht. Er unterhielt sie zwar, aber so
oberflächlich, wie er es mit einer Dame seiner
Bekanntschaft getan haben würde. Jedenfalls war von
Annäherung keine Spur.
Sehr günstig für Lenore, die immer noch nicht soweit war,
um sich zu ergeben. Sie hätte auch jetzt den Gatten schroff
zurückgewiesen, und ihre Ehe endgültig zerbrochen. Denn
ein Mann wie Ralf Skörsen ließ sich wohl einmal
beleidigen, doch beim zweiten Mal hätte er daraus die
Konsequenzen gezogen.
Das Laub auf den Bäumen verfärbte sich, leuchtete so
prächtig in allen Farben, wie sie nur die Natur zu mischen
versteht. Die Herbstblumen blühten in buntem
Durcheinander, überall, wohin das Auge auch schaute,
prangende, glühende Pracht.
Schade, daß nicht immer die Sonne schien, daß es
zwischendurch auch Regen gab, aber schließlich war es ja
Herbst. An solchen Tagen blieb Lenore auf dem
Hollgarthof. Denn es machte wirklich keinen Spaß, bei
Regenwetter den Wiesenpfad entlangzugehen, und der
Umweg nach Friedberg betrug vier Kilometer.
Aber blieb Lenore nicht gern in ihrem trauten Zuhause?
Ach, sie wußte jetzt überhaupt nicht mehr, wohin sie
eigentlich gehörte. Hier war es schön, dort war es schön.
Hier liebe Menschen, dort liebe Menschen. Auf dem
Hollgarthof war es die Familie Hollgart, in Friedberg der
gute Onkel Reinhard, an dem sie mit töchterlicher Liebe
hing.
Und wer noch?
Nein, der natürlich nicht.
Und dabei klopfte ihr Herz immer sehnsuchtsvoller, immer
lauter und fordernder.
Es war an einem sonnigen Tag im Oktober, als Lenore
ohne ihre treue Begleiterin den Wiesenpfad hinauf zum
Friedberg stieg. Denn llga fühlte sich nicht wohl, klagte
über Kopf- und Halsschmerzen.
»Ausgerechnet heute muß das sein«, sagte Lenore
enttäuscht. »Wo Ralf doch Geburtstag hat und ich ihm
anstandshalber gratulieren muß.«
»Anstandshalber ist gut«, lachte Gertraude, dabei mit der
Tochter einen verschmitzten Blick wechselnd. »Also, sei
anständig und bemühe dich zum Friedberg hinauf.«
»Muß das wirklich sein, Tante Gertraude?«
»Und wie das sein muß, mein Herzchen. Geh schon vor, in
einer Stunde komme ich nach.«
»Warum kommst du nicht mit mir?«
»Weil ich noch etwas Dringendes zu erledigen habe. Nun
hopp, ab mit dir, sonst werde ich böse!«
So blieb denn Lenore nichts anderes übrig, als sich allein
auf den Weg zu machen. Im Friedberger Herrenhaus fand
sie bereits eine fidele Gesellschaft vor, bestehend aus dem
Hausherrn, der Hausdame und Ralf. Man schien schon
ganz nett auf das Geburtstagskind angestoßen zu haben,
wie die geleerten Champagnerflaschen bewiesen.
»Spät kommt sie, doch sie kommt!« sang der Besitzer all
der Herrlichkeit ringsum mehr laut als schön, den
Sektkelch der Eintretenden entgegenschwenkend. »Sei mir
gegrüßt in diesen heiligen Hallen!«
»Onkelchen, du hast ja einen Schwips«, lachte Lenore,
doch dieser sang stimmkräftig weiter:
»Schier dreißig Jahre bist du alt, hast manchen Sturm
erlebt.«
»Aber ich doch nicht!« lachte Lenore immer hellklingender.
Es hörte sich an, als ob Frühlingsglöckchen den Lenz
einläuten, und dabei war es doch Herbst.
»Wer spricht denn von dir, du herziges Kind? So sonnig du
auch sein magst, aber mein Gesang gilt einem
dreißigjährigen sonnigen Sohn.«
»Ein sonniger Mann? Gräßlich!«
»Geschmackssache. Nun komm und sag dein Sprüchlein
auf!«
Lenore tat es. Wünschte dem Gatten viel Glück zu seinem
dreißigsten Geburtstag und überreichte ihm einen Strauß
leuchtender Georginen. Dann nahm sie in der Runde Platz
und hatte gerade mit dem Gatten auf sein Wohl
angestoßen, als der würdige Diener erschien und meldete:
»Frau Rosalia Skörsen und Fräulein Tochter.«
Danach war es erst einmal bedrückend still. Doch dann
sprach eine sonore Stimme gelassen:
»Ich lasse bitten.«
Und schon sauste Rosalia herein, und hinter ihr stöckelte
Anka. Beide sehr elegant, sehr selbstbewußt. Beide gerührt
bis zu Tränen.
»Ralf, mein lieber Junge!« breitete die Frau Mama die Arme
aus.
Allein der »liebe Junge« sank nicht hinein, sondern sagte
gelassen:
»Darf ich vorstellen?«
Nachdem das geschehen war, ließ er die Glückwünsche
geduldig über sich ergehen.
Und nun war es der Hausherr, der die Gäste Platz zu
nehmen bat. Sie taten es mit dem größten Vergnügen,
ließen die Blicke neugierig umherschweifen. Und was sie
erfaßten, ließ ihre Augen kugelrund werden vor
ehrfürchtigem Staunen.
Das war mal eine Pracht. Dieser Hollgart mußte ja Geld
haben wie Heu. Da mußten sie zusehen, daß sie so viel wie
möglich aus dieser fetten Pfründe profitierten. Also flötete
Rosalia süß:
»Wie wunderbar schön Sie es hier haben, Herr Professor!«
»Der Titel kommt mir nicht zu, gnädige Frau.«
»Na, wem sonst? So ein berühmter Mann wie Sie? Na ja,
der Titel kommt schon noch, muß ja kommen, bei so einer
Kapazität. Meine Tochter und ich haben uns bereits ein
wenig auf Ihrem Besitz umgesehen. Das reinste Paradies für
leidende Menschen. Eine Kur hier würde bei mir und
meiner Tochter direkt Wunder wirken, denn unsere Nerven
befinden sich in einem schauderhaften Zustand.«
»Eine Kur hier ist aber sehr teuer, gnädige Frau.«
»Kann ich mir denken. Aber da mein Sohn hier Mitbesitzer
ist…«
»Du irrst, Mama«, fiel der Sohn mit einer Stimme ein, die
so klang, als wenn Eisschollen aneinanderklirrten. »Ich bin
hier weiter nichts als ein Angestellter und beziehe nur
Gehalt.«
Ach, wie wurde da Frau Rosalias Gesicht lang und immer
länger. Konsterniert fragte sie:
»Wirklich, nur ein Angestellter? Aber mein Sohn, du hast
doch Geld, deine Frau hat Geld. Da verstehe ich nicht…«
»Das können Sie auch gar nicht, gnädige Frau«, schaltete
sich nun Reinhard ein. »Das Geld liegt hier als Kaution
fest.«
»Aber so etwas gibt es ja gar nicht!«
»Und wie es das gibt! Schließlich sind es ja nur lumpige
paar tausend Mark.«
»Wie – was? Ich hörte doch aber…«
»Man hört so viel, gnädige Frau.«
»So ist es etwa auch nicht wahr, daß meine
Schwiegertochter geerbt hat?«
»Eine Lappalie, gnädige Frau. Aber wie ist es nun mit der
Kur? Allerdings müßte ich um eine größere Vorauszahlung
bitten.«
»Nein, danke. Wir müssen nun leider gehen. Komm, mein
Kind.«
Ein gnädiges Kopfnicken, begleitet von einem sauren
Lächeln. Und Frau Rosalia rauschte hinaus, zutiefst
enttäuscht. Hinterher trippelte Anka wie ein begossenes
Pudelchen.
Dunkel stieg Ralf das Blut ins Gesicht. Er schämte sich
seiner Mutter.
»Mach dir nichts draus, mein Junge!« legte Reinhard ihm
die Hand auf die Schulter. »Sei froh, daß du diese Gäste auf
so leichte Art losgeworden bist. Die werden nicht
wiederkommen. Und nun kümmere dich um deine Frau!«
flüsterte er ihm zu. »Der Schreck wird sie endlich in deine
Arme treiben. Nutze ihre Verstörtheit aus!«
Er ging in Begleitung der Hausdame hinaus, und Ralf sah
erschrocken auf Lenore, die reglos im Sessel lehnte –
todblaß, mit schreckgeweiteten Augen.
Als Ralf sich zu ihr neigte, kam Bewegung in sie. Die
zitternden Hände krallten sich in seinen Ärmel, die Lippen
bebten so sehr, daß sie kaum die Worte formen konnten:
»Bitte, Ralf, bring mich nach dem Hollgarthof.«
»Aber warum denn, Lenore?«
»Weil sie wiederkommen werden, immer wieder. Ich kenne
sie doch. Und ich habe vor ihnen doch so große Angst.«
»Aber Kind, so werde doch endlich ruhig! Du zitterst ja an
allen Gliedern.«
»Ist das vielleicht ein Wunder? Du kennst sie nicht.«
»Doch, Nore, ich kenne sie und werde nicht dulden, daß
sie noch einmal herkommen.«
»Wie willst du das wohl anfangen? Die kleben zäh wie
Pech, wenn sie etwas erreichen wollen. Du wirst dich schon
wieder von ihnen einwickeln lassen.«
»Niemals, Lenore, das schwöre ich dir!«
»Ach, Ralf, du bist ihnen gegenüber ja viel zu schwach.«
»Gewesen – das gebe ich offen zu, weil ich sie eben nicht
kannte. Aber jetzt kenne ich sie und will nichts mehr mit
ihnen zu tun haben. Außerdem werden sie sich nie mehr
hierher wagen, weil sie Reinhard fürchten. Wenn du mir
nicht vertrauen willst, so vertraue ihm. Er sorgt schon
dafür, daß seinem Liebling kein Härchen gekrümmt wird. –
Und nun komm mal her, du kleiner Feigling!« Er hob sie
lachend hoch, setzte sich in den Sessel und zog sie auf
seine Knie.
»Halt, hiergeblieben!« Er hielt sie fest, als sie aufspringen
wollte. »Du kommst nicht früher von diesem Platz, bis du
mir den Kuß gegeben hast, den ich an meinem Geburtstag
zu beanspruchen habe. Ach, du willst nicht?«
Schon hatte er sie beim Nacken gepackt, zog ihren Kopf zu
sich heran – und Mund brannte auf Mund. Das wurde
solange wiederholt, bis das eine Lippenpaar nicht mehr
widerstrebte.
»So, mein Kind«, ließ der draufgängerische Mann endlich
von seinem Opfer ab. »Hast du eine Ahnung, wie ich nach
diesen Küssen geschmachtet habe?«
»Nein.«
»Sieht dir ähnlich, du grausame kleine Person. Ist schön
wie eine junge Göttin, verführerisch wie eine Circe…«
»Und dumm wie ein Gänschen.«
»Warum das?«
»Weil ich dir listigem Fuchs so brav in die Falle tappte. Und
wie denkst du dir das weiter?« Nun trat wieder der
ängstliche Ausdruck in ihre Augen. »Deine Mutter…«
»Lenore, ich möchte davon nichts mehr hören.«
»Doch, du mußt es«, beharrte sie hartnäckig. »Es gibt da
noch manches zu klären. Zum Beispiel mit den Raten. Ob
wir sie ihr nicht erlassen?«
»Ach, was bist du doch für ein dummes kleines Ding!« Er
nahm sie lachend beim Schopf und küßte sie herzhaft ab.
»Hat sie das um dich verdient?«
»Das wohl nicht. Aber schau mal, Ralf, ich bin doch jetzt so
glücklich, und wenn man glücklich ist, soll man großmütig
sein.«
»Und wenn ich es bereits gewesen bin, hm?«
»Inwiefern?«
»Sie zahlt diese Raten schon seit meiner Rückkehr nicht
mehr, sondern ich.«
»Ralf, das darfst du nicht.«
»Ruhig, jetzt spreche ich! Also hat die Dame ein ganz nettes
Einkommen, von dem sie und ihre Tochter schon leben
können.«
»Und wenn deine Mutter stirbt und somit die Pension
wegfällt, was wird dann aus Anka?«
»Ach, du gutmütiges, kleines Schaf!« Er mußte sie nun
wieder küssen. »Müßte dir das nicht egal sein, was aus
dieser Schmarotzerin wird, die gerade von dir wahrlich
kein Mitleid verdient?«
»Ja, aber dann käme sie vielleicht hierher.«
»Aha, das ist es also. Beruhige dich, sie wird wahrscheinlich
bald heiraten, denn sie und ihre Mutter angeln bereits jetzt
fleißig nach einem Dummen, der auf den Nichtsnutz
hereinfällt.«
Womit er recht behalten sollte. Denn schon nach einem
halben Jahr heiratete Anka einen reichen Ausländer – und
war dann mit ihrer Mutter wie vom Erdboden
verschwunden.
Jetzt war es noch nicht soweit. Jetzt gab es zwischen den
jungen Gatten, deren Herzen in Liebe zueinander
brannten, noch verschiedenes zu klären.
Zuerst einmal war es der kostbare Ring an der
Männerhand, auf den Lenore zaghaft deutete.
»Woher hast du den, Ralf?«
»Von einer jungen Dame«, zuckte es ihm verdächtig um
Augen und Lippen. »Sie kommt sogar nächstens zu einer
Kur hierher, und dann werden wir herzliches Wiedersehen
feiern.«
»Ist sie schön?«
»Sehr schön.«
»Ralf, muß ich da Angst haben?«
»Wenn du diese Schönheit nicht ausstechen kannst, wirst
du es wohl müssen. Also, sieh zu, daß du mich immer
wieder bezauberst, mich so einwickelst mit deinem
Charme, daß ich nur dich sehe, immer nur dich.«
»Wie alt ist die Dame denn?«
»Sieben Jahre.«
»Pfui, Ralf!« sagte sie jetzt aufgebracht. »Ist es etwa nett von
dir, dich über mich lustig zu machen?«
»Es ist doch zu schön, wenn du eifersüchtig bist.«
»Na, du, das kann man bei dir schon sein. Nun sei aber
mal ernsthaft, ja? Von wem hast du den Ring?«
»Von der kleinen Australierin, die ich von einer schweren
Krankheit heilen durfte. Sie kommt mit ihren Eltern zu
einer Kur hierher. So, und nun habe ich für meine
Lammsgeduld wohl einen Kuß verdient, will ich meinen.«
Nachdem er den vervielfältigt hatte, hob er die süße Last
von seinem Knie, sprang auf und dehnte lachend die Arme.
»So, jetzt fangen wir unsere Ehe einfach von vorn an, in der
es keine böse Schwiegermutter gibt, keine impertinente
Schwägerin, sondern nur gute, wertvolle Menschen wie die
vom Hollgarthof, Onkel Reinhard, sein betuliches
Haushuhn, den Professor, die Oberschwester und Dr.
Hörse – von wegen Ilgalein. Die müssen sich aber erst noch
zusammenzanken, wie Reinhard schmunzelnd behauptet.
Hast du überhaupt eine Ahnung, wie glücklich ich bin?«
»Doch, ich bin es ja auch.«
»Na, dann sind wir uns ja beide einig. Und nun komm,
meine Süße. Oder steht diese Bezeichnung nur dem langen
Wilmar zu?«
»Auch eifersüchtig?« blitzte sie ihn an.
»Mein liebes Kind, Vorsicht ist hier vonnöten.«
Lachend faßte er ihre Hand und zog sie mit sich fort, durch
die weite Halle, die teppichbelegte Treppe hinauf, öffnete
oben eine Tür und schob Lenore über die Schwelle.
»Oh!« war zuerst alles, was sie sagen konnte. Denn was sie
da erblickte, war die Wohnzimmereinrichtung aus ihrem
Elternhaus, durch manches ergänzt und verschönt.
Genauso wie in dem Schlafzimmer, das in diesem Raum
natürlich ganz anders wirkte als in der primitiven
Vorstadtwohnung.
»Sogar Gardinen sind diesmal an den Fenstern«, erklärte
der Gatte lachend. »Gefallen sie dir?«
»Ach, Ralf, ich bin vor Überraschung wie benommen. Kneif
mich mal, damit ich merke, daß ich nicht womöglich
träume.«
»Na, ein herzhafter Kuß wird wohl dieselbe Wirkung
haben«, ließ er den Worten die Tat folgen.
»Nun, bist du jetzt wach?«
»So halbwegs. Eigentlich bist du doch sehr kühn, mein
Herr Gemahl.«
»Inwiefern?«
»Daß du die Möbel so mir nichts dir nichts herkommen
ließest. Wenn ich nun nicht mehr zu dir zurückgekehrt
wäre?«
»Nore, fang doch nicht wieder an!«
»Aber Ralf, sei doch nicht so empfindlich! Na, laß gut sein,
ich werde heikle Themen nicht mehr berühren. Aber was
sagt Onkel Reinhard zu dem allen hier?«
»Er hat mich sogar auf den guten Gedanken gebracht. Wie
wir ihm überhaupt zu großem Dank verpflichtet sind,
Herzliebste. Den können wir nun abtragen, indem wir sein
Haus als unser Heim betrachten und ihn nie mehr
verlassen.«
»Was mir durchaus nicht schwerfallen wird. Und nun muß
ich noch einen Punkt berühren, der dir nicht genehm sein
wird, und zwar mein Geld. Oder weißt du nichts davon?«
»Doch, Nore. Aber vorläufig ist das unwichtig. Ich beziehe
ein so hohes Gehalt, daß wir gut davon leben können.
Aber nach Jahrzehnten, wenn Reinhard… Ach, nicht daran
denken! Immer den Herrgott bitten, daß dieser gütige
Mann ein sehr hohes Alter erreichen möge. Gehen wir zu
ihm.«
Hand in Hand betraten sie das Wohngemach. Der kleine
Arzt sah ihnen schmunzelnd entgegen.
»Na also! Eigentlich müßten wir der Frau Rosalia dankbar
sein, daß sie dem schwierigen Persönchen da einen
gehörigen Schock versetzte. Sonst hättest du auf diesen Tag
noch lange warten können, mein Sohn! – Aha, da naht ja
die gesamte Familie Hollgart.« Er zeigte lachend auf die
Tür, durch die die erwähnte Familie trat. »Ihr kommt
gerade recht, um einem glückseligen Paar zur Hochzeit zu
gratulieren.«
»Zur Hochzeit?« wiederholte Gertraude verständnislos.
»Na, was denn sonst? Die erste Hochzeit, so mit Kranz und
Schleier war nicht die richtige. Denn wie sagt Schiller: Mit
dem Gürtel, mit dem Schleier, reißt der schöne Wahn
entzwei.«
Nun hatten sie alle begriffen, und jubelnde Freude brach
durch. Man setzte sich zusammen, und als kurz darauf
noch der Professor erschien, konnte man sagen: Der
Familienkreis ist geschlossen.
Oder doch nicht? Denn wer sich da so vergnügt durch die
Tür schob, war kein anderer als Wilmarchen.
»Nur auf einen Sprung«, sprach er mit Stentorstimme in
das jubelnde Lachen hinein. »Nur mich so ein bißchen von
den Brosamen nähren, die von des Reichen Tische fallen.«
Man wußte sehr wohl, was er damit meinte. Außer Ilga, die
kopfschüttelnd sagte:
»Das verstehe ich nicht.«
»Kindchen, dann wären Sie ja auch viel zu schlau.«
»Also, Herr Dr. Hörse, ich verbitte mir diese Bezeichnung!«
»Aber wenn sie doch stimmt?« tat er scheinheilig. »Werden
Sie bloß ganz schnell älter, so wenigstens zwanzig, dann
finde ich für Sie bestimmt eine andere Bezeichnung.«
Jetzt platzten die anderen denn doch mit dem
zurückgehaltenen Lachen heraus. Und was blieb Ilga da
wohl anderes übrig, als mitzuhalten?
Indes hatte die Hausdame für ein exquisites Gabelfrühstück
gesorgt, bei dem der Sekt nicht fehlen durfte.
Und als der Hausherr sein Glas an das Lenores klingen ließ,
sagte er schmunzelnd:
»Nun, mein Kleines, wie ist es nun mit dem Irrtum, hm?
Was hat sich denn da so fürchterlich geirrt?«
»Der Kopf!« Sie blitzte ihn an.
»Und weiter?«
»Muß das sein, Onkelchen?«
»Es muß sein, du kleiner Trotzteufel.«
Da hob sie das Glas dem Gatten entgegen, lächelte ihn
lieblich an und sagte:
»Aber das Herz irrte sich nicht.«