Behrendt, Leni Kelter Grosse Ausgabe 0286 Wo du nicht bist, kann ich nicht sein

background image

WO DU NICHT BIST, KANN ICH

NICHT SEIN

Roman von Leni Behrendt

Nach dem Tode des innig geliebten Stiefvaters geht es der jungen

Silje sehr schlecht, denn sie hat gedarbt und gearbeitet, um dem

Kranken die letzte Lebenszeit erträglicher zu machen. Nun ist sie

verarmt und wird zu allem Unglück noch arbeitslos und krank.

In diesem Zustand findet sie ihr Vormund, der gekommen ist,

sich um sie zu kümmern. Nur mit Mühe kann er das stolze

background image

Mädchen bewegen, in sein Haus zu ziehen. Im Hadebrecht-Haus

wird Silje mit recht gemischten Gefühlen aufgenommen.

Während einige Familienmitglieder sie voll ehrlicher Sympathie

begrüßen, betrachten andere das schöne Geschöpf voll

Mißtrauen und Eifersucht. Durch ihr freundliches, bescheidenes

Wesen erobert sich Silje bald ihren Platz im Haus. Dann aber

kommt es ohne ihr Verschulden zu schwerwiegenden Konflikten,

die ihr manche trübe Stunde bringen und viel seelische Kraft und

Selbstbeherrschung von ihr fordern.

background image

Wir verwenden Papier, das bis zu 70% aus Altpapier besteht. Das ist unser Beitrag zum Umweltschutz.

Diese Ausgabe erscheint alle 4 Wochen im Martin Kelter Verlag (GmbH & Co.),

Mühlenstieg 16-22, 2000 Hamburg 70, Postfach 70 10 09,

Telefon: Sa.-Nr. (040) 68 28 95-0, Telefax (040) 68 28 95 50, Fernschreiber: 213.126 Verantwortlich:
Verleger Otto Melchert. Im Verkaufspreis ist die gesetzliche Mehrwertsteuer enthalten.

Gesamtherstellung: Norhaven Rotation A/S

Für unaufgefordert eingesandte Manuskripte übernimmt der Verlag keine Gewähr.

Abgebildete Personen auf dem Umschlag stehen in keinem Zusammenhang mit dem Roman.

Diese Ausgabe darf weder in Leihbüchereien verliehen noch in Lesezirkeln geführt oder zum

gewerbsmäßigen

Umtausch bzw. Wiederverkauf verwendet werden.

Printed in Denmark.

background image

Vor sich hin brummend, stieg der Mann die langen
Treppen des großen Mietshauses empor. Du lieber

Himmel, wo bekamen die Menschen, die hier im vierten
Stock wohnten, bloß die Puste her, um diese unbequemen,
ausgetretenen Stiegen tagtäglich erklimmen zu können!
Die mußten ja Lungen wie die Rennpferde und Herzen wie
die Büffel haben.
Endlich war das schwere Werk geschafft, und der Mann
stand erst einmal still, um zu verschnaufen. Indes ließ er
seine Augen, die blauleuchtend unter buschigen weißen
Brauen lagen, über die vier Türen schweifen, die diese Etage
aufwies – zwei geradeaus, eine rechts, eine links. Namen
waren daran vermerkt, fast ein Dutzend an der Zahl.
Größtenteils Visitenkarten, bescheiden mit Reißzwecken an

das braune Holz geheftet. Und auf solch einer Karte stand
auch der Name, den er suchte.
»Na, denn man zu!« brummte er verdrießlich, drückte den
Finger auf den Klingelknopf und zuckte zusammen bei
dem durchdringenden Ton, der die Stille zerriß. Wie ein
Alarmzeichen schrillte er auf, wie ein SOS-Ruf. Er fiel dem
Mann auf die Nerven, obwohl diese gewiß nicht
zartbesaitet waren. Irgendwie empfand er diesen Ton wie
den Hilferuf eines Menschen.
Unbehaglich starrte er auf die braune Tür, die sich bald
darauf öffnete. Vor ihm stand eine hagere, grobknochige
Person mit einem verkniffenen Mund. Neugierig musterten

ihn die Augen hinter scharfen Brillengläsern.
Gott, in deine Hände! – schoß es dem Mann durch den
Sinn. Mit dieser Dame da ist bestimmt nicht gut Kirschen
essen. Wehe den Armen, die von ihr abhängig sind!
»Sie wünschen?« fragte eine unangenehm krächzende
Stimme kurzangebunden. Und ebenso erfolgte die
Antwort:
»Fräulein Berledes zu sprechen.«
»In welcher Angelegenheit?«
»Das geht Sie nichts an, verehrte Dame.«
»Mein Herr, ich muß doch sehr bitten.«

background image

»Und ich auch«, unterbrach er sie schroff. »Ich bin es
nämlich nicht gewohnt, meine Angelegenheiten auf

neugierige Nasen zu binden. Ist Fräulein Berledes nun
anwesend oder nicht?«
Dieser Ton schüchterte die impertinente Laura Pfefferkorn
denn doch ein. Es klang beinahe höflich, als sie jetzt sagte:
»Das Fräulein ist eben aus dem Krankenhaus gekommen
und daher sehr elend. Ich weiß nicht, ob ich Sie vorlassen
darf, mein Herr.«
»Bei mir als Vormund der jungen Dame können Sie es
ruhig tun.«
Nun war Laura Pfefferkorn doch überrascht. In ihren Augen
brannte die Neugierde, die sie jedoch wohlweislich
unterdrückte, weil sie nun ihrerseits der Ansicht war, daß

mit diesem Herrenmenschen nicht gut Kirschen essen wäre.
Sie bat ihn, näher zu treten und öffnete dann eine Tür,
steckte den Kopf durch den Spalt und krächzte:
»Fräulein, ein Herr föchte Sie sprechen. Er gibt an, Ihr
Vormund zu sein. Kann das stimmen?«
»Und wie das stimmt!« schob der Mann sie energisch zur
Seite und betrat einen dürftig möblierten Raum, in dem ein
junges Mädchen angekleidet auf dem Bett lag, nun hastig
aufsprang und vor dem Eindringling stand. Doch ehe sie
etwas sagen konnte, sprach er bereits, während er der vor
Neugierde fast platzenden Laura Pfefferkorn die Tür vor der
spitzen Nase zuschlug.

»Ich bitte um Entschuldigung, daß ich so formlos hier
eindringe. Aber anders wäre ich bei dem Zerberus da
draußen nicht vorangekommen!
Aber setz dich ja rasch hin, mein Kind. Du siehst mir
nämlich so aus, als ob du gleich vor Schwäche
zusammensinken müßtest.«
Damit drückte er sie in den alten Sessel aus
Weidengeflecht, der wie unwillig ächzte, und nahm dann
selbst auf einem Stuhl so vorsichtig Platz, als hieße es, sich
in Nesseln zu setzen. Denn der Hüne mit dem robusten
Knochenbau wog immerhin seine guten zwei Zentner bei

background image

einer Größe von 1,85. Und in dieser dürftigen Bude war
alles wackelig und morsch.

Doch der Stuhl hielt, und der Mann sah zu dem Mädchen
hin, das ihn unfreundlich musterte.
»Wie kommen Sie überhaupt dazu, mich so ohne weiteres
zu duzen?« fragte es ungehalten, was den Mann jedoch
nicht zu beeindrucken schien.
»Na, man immer hübsch friedlich, Kindchen!« meinte er
nachsichtig. »Mit falschem Stolz, Trotz oder anderen
Mätzchen imponierst du mir gar nicht. Ich vertrete als dein
jetziger Vormund Vaterstelle an dir, und da wäre es ja
lächerlich, wollte ich dich siezen. Zu deiner Orientierung:
Ich heiße Onkel Philipp, merke dir das bitte. Warum hast
du auf meinen Brief nicht geantwortet?«

»Weil ich im Krankenhaus lag, als er hier eintraf«,
entgegnete sie immer noch abweisend. »Ich fand ihn heute
bei meiner Rückkehr erst vor.«
»Nun, dann hast du ja darin lesen können, daß man mich
zu deinem Vormund bestimmte. Ist es dir bekannt, daß
man mir kurz nach dem Tod meines Sohnes einen Brief
von ihm zustellte?«
»Ja. Ich fand ihn in seinem Nachlaß und schickte ihn ab.
Hat mein Stiefvater Sie etwa in dem Schreiben gebeten,
mein Vormund zu werden?«
»Ganz recht. Es war ein langer, sehr ausführlicher Brief, der
mich genau über alles orientierte – auch darüber, daß mein

Sohn deine Mutter und somit auch dich durch seinen
Leichtsinn an den Bettelstab brachte – und daß du zuletzt
gar deinen Stiefvater mit deinem kleinen
Stenotypistinnengehalt mit unterhieltest…«
»Bitte, Herr Hadebrecht.«
»Onkel Philipp, wenn ich bitten darf.«
»Aber ich kann doch einen Menschen, den ich zum
erstenmal sehe, nicht gleich duzen!« begehrte sie auf, doch
er winkte gemütlich ab.
»Warum denn nicht? Ich kann’s ja auch.«
Da gab sie es auf. War ja viel zu müde und matt, um sich

background image

gegen den Willen dieses Hünen aufzulehnen, der starr wie
ein Fels zu sein schien.

»Na schön – dann Onkel Philipp«, resignierte sie. »Es ist ja
auch alles egal. Was ich für meinen Stiefvater tat, geht
niemand etwas an, will ich meinen.«
»Oho, mein Kind, und wie mich das etwas angeht!« grollte
sein Baß jetzt auf. »Alles geht mich an, was dich betrifft.
Auch daß du noch das letzte für deinen leichtsinnigen
Stiefvater hingabst – nämlich die kleine Wohnung, die dir
noch geblieben war. Die verkauftest du einem jungen
Ehepaar, um dem Toten ein anständiges Begräbnis geben
zu können. Du selbst krochst dann in dieser scheußlichen
Bude unter und aßest dich nicht satt, weil du schon seit
zwei Monaten arbeitslos bist und weil die

Arbeitslosenunterstützung zum Sterben zu viel und zum
Leben zu wenig ist, wie man so sagt. Kein Wunder, daß du
nach alledem zusammenbrachst und ins Krankenhaus
gebracht werden mußtest.«
»Woher weißt du das denn alles?« lachte sie nervös
dazwischen. »Das kann dir dein Sohn doch unmöglich
auch noch geschrieben haben.«
»Natürlich nicht. Denn bei den letzten Geschehnissen war
er ja bereits tot. Aber man kann ja Erkundigungen
einziehen, nicht wahr? Und nachdem das nun alles bestens
geklärt ist, werde ich als Vormund mit meiner ersten
Amtshandlung beginnen. Also: Du packst sofort deine

Koffer und kommst mit mir in mein Haus, das fortan deine
Heimat sein soll.«
Nach diesen energischen Worten war es zuerst einmal still.
Dann fragte das Mädchen spöttisch:
»Und was soll ich da – etwa das Gnadenbrot essen?«
»Mein liebes Kind, den Ton wollen wir erst gar nicht
zwischen uns aufkommen lassen!« entgegnete der Mann
zwar ruhig, doch es blitzte in seinen Augen gefährlich auf.
»Vergiß bitte nicht, daß ich als dein Vormund eine gewisse
Erziehungsberechtigung über dich habe und
Verantwortung zugleich. Also kann ich nicht dulden, daß

background image

du nach dem Nervenfieber – ja, sieh mich nur so groß an,
ich weiß auch davon – in dieser scheußlichen Bude bleibst

und so elend, wie du bist, womöglich die Jagd nach einer
Arbeitsstelle beginnst. Um überhaupt arbeiten zu können,
brauchst du zuerst einmal Pflege, die dir in meinem Hause
zuteil werden wird. Wenn du dann wieder auf der Höhe
bist, werde ich dir zu einem Posten verhelfen, und zwar in
meinem Betrieb, wo kein windiger Abteilungsleiter dich an
die frische Luft setzen wird, weil du ihn bei seinen
Belästigungen gehörig in die Schranken wiesest.«
Jetzt mußte er über ihr verblüfftes Gesicht lachen.
»Ja, ja, Kleine! Wie du siehst, bin ich über dich
vollkommen im Bilde. Ich mußte mich doch schließlich
vergewissern, über welch ein Persönchen ich die

Vormundschaft übernehmen sollte.
Und nun Schluß der Debatte! Und keine Widerrede, bitte
ich mir aus. Pack deine Sachen, damit wir abfahren und
noch vor Dunkelwerden nach Hause kommen können.«
Silje Berledes hätte sonst wohl nicht so ohne weiteres über
sich bestimmen lassen – denn sie besaß eine ziemliche
Portion Eigenwillen und vor allem einen stark
ausgeprägten Stolz. Aber jetzt war sie durch die schwere
Krankheit so sehr geschwächt, daß sie einfach nicht die
Kraft hatte, sich einem so starken Willen widersetzen zu
können.
»So sei es«, fügte sie sich gottergeben. »Ich komm ja jetzt

doch nicht gegen dich auf. Dafür fühle ich mich zu elend.«
»Nur gut, daß du das endlich einsiehst, mein Kind! Am
besten ist, du packst jetzt einen Koffer mit dem
Notwendigsten, alles andere kann deine Wirtin dir
nachschicken. Oder traust du ihr nicht?«
»Nein. Ich besitze zwar nicht viel, aber darunter doch
einiges, woran ich hänge. Und das möchte ich nicht auch
noch verlieren.«
Müde erhob sie sich und trat an den Schrank, der so
wurmstichig war, daß er in nächster Zeit wohl
zusammenbrechen würde. Zwar besaß er ein Schloß, sogar

background image

einen Schlüssel, doch es gehörte eine Fertigkeit dazu, ihn
zu handhaben.

Endlich war es geschafft. Die beiden schon tief in den
Angeln hängenden Türen öffneten sich, und der Mann, der
dem allen mit Interesse zuschaute, konnte nun den Inhalt
des Veteranen bequem übersehen. Auf der Holzstange
hingen fein säuberlich über Bügel getan einige Kleider, und
oben auf dem Brett lag ein Hut.
Aber danach griff Silje jetzt nicht. Sie holte vom Boden ein
unförmiges Etwas hervor, legte es auf den Tisch und mußte
nun doch über das verdutzte Gesicht des Mannes lachen.
»Hierin befindet sich eben das, woran mein Herz noch
hängt«, erklärte sie. »Ich habe es in eine Decke genäht, um
es vor neugierigen Augen – und Habgier zu schützen.«

»Raffiniert getarnt«, schmunzelte er. »Darf man fragen, was
in dem Monstrum steckt?«
»Die Geige von meinem – Paps – «
Weiter ging es nicht, die Stimme brach.
Hastig wandte Silje sich ab, zog zwei Koffer unterm Bett
hervor und begann zu packen. Das fiel ihr nicht leicht. Sie
mußte immer wieder einhalten, um sich auszuruhen.
»Bitte, Onkel Philipp«, sagte sie zuletzt schon ganz nervös.
»Fahr heute allein, ich komme morgen nach.«
»Darauf werde ich mich nun nicht verlassen«, versetzte er
trocken. »Da fasse ich mich lieber in Geduld, bis du fertig
bist.«

»Du traust mir also nicht?«
»Nein.«
Da wandte sie sich brüsk ab und packte weiter. Zwei Bilder
legte sie vorläufig zur Seite, auf die jetzt Hadebrechts Blick
fiel. Das eine Bild zeigte ein klares, reines Frauenantlitz mit
Madonnenaugen, das zweite ein Männerantlitz von
bildhafter Schönheit. Was kostet die Welt? – schien der
lachende Mund zu fragen. Ich kaufe sie und lege sie der
Schönsten zu Füßen!
»Deine Mutter?« fragte der Mann, auf das erste Bild
zeigend.

background image

»Ja«, kam es knapp zurück. Sie schloß die beiden Koffer
und fühlte sich so matt, daß sie sich in den Korbsessel

fallen lassen mußte, bevor sie noch umsank. Das Gesicht
war todblaß, die geschlossenen Lider zuckten, der Atem
ging rasch und schwer.
»Mach um Himmels willen jetzt nicht schlapp!« drang eine
grollende Männerstimme an ihr Ohr. »Hast du heute
überhaupt schon was gegessen?«
»Doch, morgens im Krankenhaus«, kam die Antwort müde,
und er brummte:
»Wird schon was Rechtes gewesen sein! Mit dir in ein Lokal
zu gehen, wage ich deiner miserablen Verfassung wegen
nicht. Also werde ich für einen Imbiß sorgen.«
»Bitte nicht!« unterbrach sie ihn hastig. »Ich habe wirklich

keinen Hunger.«
»Natürlich nicht, wenn man die Absicht hat, sich als
Hungerkünstlerin auszubilden. Mädchen, Mädchen, ich
komm mir beinahe so vor, wie von unserem Herrgott
persönlich zu dir geschickt. Rühre dich ja nicht von der
Stelle, bis ich zurückkehre!«
Damit ging er, und Silje duselte erschöpft vor sich hin.
Erschrocken fuhr sie auf, als Laura Pfefferkorn vor ihr
stand.
»Ach, Sie haben bereits gepackt, Fräulein«, bemerkte sie
hämisch. »Da ist es ja gut, daß ich die Rechnung schon
geschrieben habe. Sie bezahlen natürlich die Miete nicht

nur für den angebrochenen Monat, sondern auch für den
nächsten.«
»Und möglichst für das ganze Jahrzehnt«, ironisierte eine
Stimme hinter ihr, die sie wie gestochen herumfahren ließ.
Da sie mit dem Rücken nach der geöffneten Tür stand,
hatte sie nicht gemerkt, daß Hadebrecht eingetreten war.
Nun sah sie ihn fassungslos an, und er lachte.
»Ja, ja, meine geehrte Pfefferkörnin, es wird einem leicht
ein Strich durch die Rechnung gemacht. Die Miete für den
angebrochenen Monat November sei Ihnen zugebilligt,
aber zum nächsten müssen Sie sich schon einen neuen

background image

Mieter für dieses konfortable Gemach suchen. Wieviel Zins
erheben Sie denn monatlich dafür?«

»Fünfundzwanzig Mark«, entgegnete Silje statt der
verdatterten Laura, während sie das Geld hastig auf den
Tisch zählte. Und siehe da, die ehrsame Jungfrau
Pfefferkorn raffte die Scheine zusammen und entfloh.
»Na also«, schmunzelte der Mann hinter ihr her. »Man
muß mit solchen Leuten nur patent reden, dann weicht
ihre Unverschämtheit der Feigheit. Hättest du kleines Schaf
ohne mein Dazwischenkommen wirklich den Wucherzins
gezahlt?«
»Wahrscheinlich. Können wir jetzt aufbrechen?«
»Noch nicht, erst wirst du etwas essen. Der Chauffeur wird
gleich mit einem Imbiß erscheinen.«

Und tatsächlich trat der Mann schon wenig später ein,
gefolgt von Laura Pfefferkorn, die zuerst nach Luft
schnappte und dann giftig loslegte:
»Dieser Mann ist einfach ein Flegel.«
»Ungefähr so wie ich, nicht wahr?« warf Hadebrecht
augenzwinkernd dazwischen. »Aber es kann ja nicht jeder
den Anstand mit Löffeln gegessen haben. Und nun
verfügen Sie sich, das Zimmer ist nämlich bis Ultimo
bezahlt.«
Wutentbrannt zog Laurachen ab, und der Chauffeur lachte
über das ganze Gesicht.
»Solche Kreuzspinnen hab’ ich gern. Sie wollte mir nämlich

den Eintritt verwehren. Und ich mußte schon Gewalt
anwenden – wenn auch immerhin noch sanfte.«
Damit stellte er ein papierumhülltes Etwas auf den Tisch,
zog aus einer Tasche eine Flasche Wein, aus der anderen
ein Glas und nahm dann Haltung an.
»Befehl ausgeführt, Herr Hadebrecht.«
»Danke, Schorlep. Nehmen Sie die beiden Koffer und
verstauen Sie sie im Wagen. Dann warten Sie unten.«
»Und dieses Monstrum auf dem Tisch?«
»Das bringe ich.«
Spielend hob der untersetzte Mann in der schlichten

background image

Chauffeurlivree die bestimmt nicht leichten Koffer hoch,
entfernte sich, und sein Herr nahm vorsichtig das Papier

von dem Gegenstand, der sich dann als ein Pappteller mit
Gabelbissen entpuppte. Dann nahm er die Flasche, in
welcher der Pfropfen nur lose steckte, füllte das Glas mit
dem schweren, süßen Wein, schob es Silje hin, die wie
teilnahmslos dasaß, und ermunterte:
»So, mein Kind, wohl bekomm’s! Du sollst mal sehen, wie
dir dieser Trank auf die Beinchen hilft.«
Schweigend gehorchte Silje. Wie Feuer brannte es hinterher
in ihrem leeren Magen. Das erschreckend bleiche Gesicht
bekam langsam Farbe, ein zaghaftes Lächeln stahl sich um
den Mund. Und als sie erst von den delikaten Bissen
geschmeckt hatte, kam der Appetit. Es blieb kaum etwas

auf dem Pappteller zurück.
»Besser?« forschte ihr Gegenüber.
»Ja, danke.«
»Das habe ich mir so ungefähr gedacht. Nun leere noch
einmal das Glas, dann wirst du sehen, wie rosig dir
plötzlich die Welt erscheint.«
Silja tat’s, und siehe da, sie fühlte sich wie von leichten
Wolken getragen. Halb berauscht tat sie alles, was ihr
Vormund von ihr verlangte. Ließ sich ohne Widerrede
unten in den Fond des Autos betten, fürsorglich zudecken
– und schlief gleich darauf vor Erschöpfung ein.
Silje Berledes schlief noch immer tief und fest, als der

schwere Wagen hielt. Wenn sie nicht so elend und schwach
gewesen wäre, hätte sie sich selbst die Sorglosigkeit, mit der
sie sich sozusagen entführen ließ, nicht verziehen. Aber
jetzt war ihr alles gleichgültig, völlig gleichgültig. Nur
schlafen dürfen, auslöschen all das, was ihr noch nicht
einmal ganz neunzehnjähriges Dasein bedrückte!
Und das war gewiß nicht wenig. Früher, ja, da war alles
licht und hell in ihrem Leben gewesen. Als einziges Kind
ihrer Eltern wuchs sie sorglos auf. Wohnte in einer
schmucken Villa, bekam alles das, was ihr kleines Herz nur
begehrte. Vermißte nur ab und zu den Vater, der als

background image

Inhaber eines großen, gutgehenden Geschäftes viel
unterwegs war. Und kam er nach Hause, hatte er kaum Zeit

für Weib und Kind. Sie spielten in seinem Leben eine
Nebenrolle, zuerst kam für ihn sein Unternehmen. Dafür
hetzte und jagte er, gönnte sich kaum eine Stunde Ruhe,
bis dann kam, was bei so einem gehetzten Leben kommen
mußte: Der noch nicht Fünfzigjährige erlag einem
Herzschlag.
Dieser plötzliche Tod berührte die Gattin nicht allzusehr.
Denn erstens hatte sie ihren Mann, der zwanzig Jahre mehr
zählte als sie, nicht aus Liebe geheiratet – und dann war er
ihr durch seine fast dauernde Abwesenheit beinahe fremd
geworden.
In den ersten Jahren ihrer Ehe hatte sie sehr darunter

gelitten, doch langsam resignierte sie. Ihr ganzes Glück war
ihr Kind, die bildhübsche, sonnige Silje.
Bis Frau Rena zwei Jahre nach dem Tod des Gatten den
Geiger Thomas Brecht kennenlernte – da gab es noch ein
anderes Glück für sie. Der leichtentflammte Künstler
verliebte sich sozusagen Hals über Kopf in die Witwe, war
von ihrer Madonnenschönheit wie berauscht. Und da auch
ihr Herz dem Mann gleich beim ersten Sehen zuflog, wurde
schon wenige Wochen später aus beiden ein seliges Paar.
Und nun begann für Frau Rena ein glückvolles Leben.
Alles, was sie in ihrer ersten Ehe so schmerzlich vermißt
hatte, wurde ihr in der zweiten in verschwenderischem

Maß zuteil. Stets begleitete sie den Gatten auf seinen
Konzertreisen, und daß Silje, die damals elf Jahre zählte,
auch mitkam, war eine Selbstverständlichkeit. Denn der
Stiefvater liebte die Kleine zärtlich, und auch sie hing sehr
an ihrem Paps.
Die Schulbildung des Kindes machte den Eltern keinen
Kummer. Es bekam eine Hauslehrerin, und damit gut! Ein
Glück, daß Silje leicht begriff, sonst hätte sie bei dem
unruhigen Leben von Stadt zu Stadt, von Land zu Land
nicht viel gelernt. So jedoch bewältigte sie das
vorgeschriebene Pensum spielend und erlernte die

background image

verschiedenen Sprachen überall im Lande selbst.
So ging es drei Jahre, dann war die Zeit des Ruhmes für den

Geiger vorbei. So steil sein Anstieg erfolgt war, so rapide
ging es jetzt bergab. Er war eben zu sorglos gewesen. Hatte
geglaubt, daß er immer der beliebte und umschwärmte
Künstler bleiben müßte, ohne daß er sein Können
vervollständigte.
Zuerst ärgerte und empörte ihn sein Abstieg, doch dann
wurde er gleichgültig. Ach was, mochten andere dem Ruhm
nachjagen! Ihn ekelte das plötzlich an. Geld hatte er ja
genug, also was konnte ihm schon passieren?
Allein, bei dem verschwenderischen Leben, das er mit
seiner kleinen Familie nach wie vor führte, schmolz sein
Reichtum rasch dahin. Und als er eines Tages

gewissermaßen pleite war, tröstete seine Frau ihn damit,
daß ja auch sie über einen ganz netten Batzen verfügte. Sie
hatte nach dem Tod ihres ersten Mannes das Geschäft
verkauft und war auch sonst noch vermögend.
Bedingungslos gab sie dem leichtsinnigen Gatten das Geld
in die Hände, das er dann auch in gar nicht langer Zeit
durchbrachte, wie er seine hohen Gagen und sein Erbe, das
ihm der Vater schon längst auszahlte, bereits durchgebracht
hatte. Es kam schließlich so weit, daß er nur noch einige
tausend Mark besaß.
Und da griff Silje ein, die mittlerweile sechzehn Jahre alt
geworden war. Sie bewog die ratlosen Eltern, in ihre

Heimatstadt zurückzukehren, was dann auch geschah. Dort
verkaufte man die Villa und bezog eine kleine Wohnung,
die man behaglich ausstattete. Alles andere aus der reichen
Einrichtung des komfortablen Hauses wurde mit verkauft.
Nun hatte man Geld und konnte wieder einmal herrlich
und in Freuden leben. Die Warnung Siljes, die trotz ihrer
Jugend und Verwöhnung viel vernünftiger war als die
Eltern, doch mit dem Geld hauszuhalten, wurde lachend in
den Wind geschlagen. Ach was, eine Weile konnte man von
dem Geld schon leben. Außerdem würde der Geiger
Stunden geben und damit schon den Lebensunterhalt für

background image

sich und die Seinen verdienen.
Darauf jedoch wollte die skeptische Silje sich denn doch

nicht hundertprozentig verlassen. Also setzte sie bei den
Eltern durch, daß sie eine Handelsschule besuchen durfte.
Und kaum, daß sie diese absolviert hatte, stand man in der
kleinen komfortablen Wohnung vor dem Nichts – und
diesmal endgültig.
Denn Thomas Brecht hatte nach einer bösen
Blutvergiftung, die ihn fast das Leben kostete, zwei Finger
seiner linken Hand eingebüßt – und als gar noch bald
darauf die heißgeliebte Gattin nach einer schweren
Operation starb, war der Lebensmut des einst so
strahlenden Mannes gebrochen. Er vegetierte nur noch
dahin. Ließ sich von seiner Stieftochter, die eine Stellung

gefunden hatte, von dem kleinen Gehalt mit unterhalten.
Lebte nur noch auf, wenn Silje auf seiner kostbaren Geige,
die sie wie ein Heiligtum hütete, musizierte. Dann gab er
sich dem Wahn hin, daß seine sehr begabte Schülerin den
Ruhm erlangen könnte, der einst ihm beschieden war.
Aber dafür reichte das Können Siljes doch nicht aus. Zumal
ihr die Zeit dazu fehlte, genügend zu üben und sich
vollständig auf die Musik zu konzentrieren.
Denn sie mußte ja tagsüber im Büro arbeiten und, wenn sie
nach Hause kam, noch den kleinen Haushalt versehen.
Hinterher war sie so müde, daß ihr wahrlich die Lust fehlte,
noch stundenlang auf der Geige zu üben.

So kam ihr Spiel zwar erheblich über den Dilettantismus
heraus, genügte aber dennoch nicht, um von Kunstexperten
anerkannt zu werden.
Und da das Schicksal es nun einmal darauf abgesehen
hatte, die kleine Familie, die einst vom Glück so sehr
begünstigt war, niederzuzwingen, verlor Silje auch noch
ihren Posten als Stenotypistin in der Fabrik.
Nicht durch Unfähigkeit oder Pflichtverletzung, sondern
weil der Juniorchef und Abteilungsleiter sich eine
»handgreifliche« Abfuhr bei der empörten Angestellten
holte, als er sie mit einer Liebesbezeugung belästigte.

background image

Denn Silje Berledes war das, was man ein bildschönes
Mädchen nennt, dazu voll Grazie und Charme. Es ging

etwas ungemein Stolzes, strahlend Reines von ihr aus –
und das reizte den skrupellosen Verführer unbeschreiblich.
Doch nachdem er die Ohrfeige weg hatte – und zwar in
Gegenwart der anderen Stenotypistinnen im Saal – kannte
seine Wut keine Grenzen.
Und wie sagt ein volkstümliches Sprichwort: Wenn man
den Hund schlagen will, findet sich auch der Stock.
Nun, der Stock fand sich – und die Stenotypistin Silje
Berledes wurde fristlos entlassen.
Jetzt hieß es für sie, mit der kargen
Arbeitslosenunterstützung nicht nur sich, sondern auch
ihren Stiefvater durchzubringen. Das tapfere Mädchen tat’s

– und war schier verzweifelt, als er ernstlich zu kränkeln
begann. Da zählte sie nicht mehr die Pfennig ab, machte
Schulden, um ihren geliebten Kranken nur ja päppeln zu
können. Und als er dann doch einer schweren
Lungenentzündung, die plötzlich hinzukam, erlag, wußte
die verzweifelte Silje nicht, wie sie dem Toten ein würdiges
Begräbnis geben sollte.
Also verkaufte sie kurz entschlossen die kleine Wohnung
an ein junges Ehepaar, begrub den Stiefvater, bezahlte die
Schulden und bezog dann das erste beste möblierte
Zimmer, das sich ihr bot. Zwar war es erbärmlich, kostete
aber dafür auch nicht viel – und das war für Silje

ausschlaggebend. Denn sie mußte mit dem wenigen Geld,
das ihr noch geblieben war, haushalten auf lange Sicht.
Eine Woche später brach sie dann zusammen und kam ins
Krankenhaus.
Erschrocken fuhr Silje aus tiefem Schlaf auf und starrte
verständnislos um sich. Was war geschehen – wie kam sie
hierher – auf den Sitz dieses komfortablen Autos?
»Nun, Kleine, starr mich nicht so entsetzt an!« hörte sie
nun eine lachende Männerstimme. »Wir sind angelangt.«
»Wo angelangt?«
»Zu Hause.«

background image

»Zu Hause -?« lauschte sie den Worten nach. »Ach, so was
gibt’s ja gar nicht mehr für mich. Lassen Sie mich doch

schlafen – ich bin ja so müde.«
Damit legte sie sich mit einem tiefen Seufzer zurück und
ließ den lieben Gott einen guten Mann sein, wie man so
sagt. Doch gleich darauf schreckte sie wieder auf, denn ein
starker Arm hob sie aus dem Wagen und stellte sie
behutsam auf die Füße.
»Na, nun mal hoppla!« sprach dieselbe Stimme jetzt
ermunternd, und da war Silje endlich wach.
»Entschuldige, Onkel Philipp«, sagte sie hastig. »Ich war
wirklich noch schlaftrunken.«
»Hab’ ich gemerkt. Und nun mal rein in die gute Stube!
Vertrau dich unserm Philchen an, dann bist du bestens

aufgehoben.«
Wer dieses Philchen war, sollte Silje erst zum Bewußtsein
kommen, als sie sich in einem traulichen Gemach befand,
in das sie durch die Halle und über die Treppe hinweg
gelangte. Nun stand sie vor einem zierlichen weiblichen
Wesen, das freundlich zu ihr sprach:
»Kipp nur ja nicht aus den Schlorrchen, du kleines elendes
Wurm! Setz dich hier auf den Diwan, für alles andere sorge
ich dann schon.«
Und Philchen tat’s. Ehe Silje sich recht versah, lag sie
ausgekleidet in einem Bett, das weich und mollig war. Und
ehe sie noch einen klaren Gedanken fassen konnte, schlief

sie schon wieder tief und fest, während der Herr des Hauses
seine Familie aufsuchte, die sich, außer der dazugehörigen
Philine, im Wohnzimmer befand.
Da war zuerst einmal die Gattin des Hünen, eine stille,
feine Frau mit gütigem Gesicht unter weißem Haar, dann
die Tochter Thea, eine üppige Blondine von vierunddreißig
Jahren, die vor Jahresfrist verwitwet war und nun mit ihrem
achtjährigen Töchterchen wieder im Elternhaus lebte, weil
sie nach dem Tod des Gatten vor dem Nichts stand.
Denn auch sie hatte dem geliebten Mann ihre reiche
Mitgift bedingungslos in die Hände gegeben, die dieser

background image

jedoch erst angriff, als das Rauschgift ihn erbarmunglos in
seinen Krallen hielt. Außerdem mußte man in den letzten

Jahren von dem Geld noch leben, weil der Privatdozent
seinen eigentlichen Beruf aufgeben mußte. Und was er
dann mit kleinen schriftstellerischen Arbeiten verdiente,
war gewiß nicht viel. Er siechte langsam dahin, und als er
starb, mußten Frau und Kind im Hadebrecht-Haus
Zuflucht suchen.
Thea war eine phlegmatische Natur und gefiel sich darin, in
»höheren Regionen zu schweben«. Konnte aber auch
wiederum recht erdgebunden sein, wenn es um Geld ging.
Sie hatte immer Angst, irgendwie zu kurz zu kommen.
Also hatte das Ehepaar Hadebrecht an dieser Tochter nicht
viel Freude. Nur ihr Jüngster, der jetzt dreißigjährige Eike,

war so geworden, wie die Eltern es erhofften – bis auf seine
Ehe, damit machte auch er ihnen Kummer.
Sie paßte aber auch gar nicht zu dem ernsten, zielbewußten
Mann, die brünette, kapriziöse Ilona, die sich den
»schönen Eike« nun mal in ihr eigenwilliges Köpfchen
gesetzt hatte und ihn dann auch nach vielen geschickten
Bemühungen einfing. Denn der damals
Sechsundzwanzigjährige, der gerade seinen Dr. jur.
gemacht hatte, war noch zu wenig Frauenkenner, um die
listige Ilona zu durchschauen. Ihm gingen erst die Augen
nach der Hochzeit auf – und zwar schon bald.
Ilona jedoch war zuerst so richtig glücklich, bis sie dann

merkte, daß der Gatte sich nicht von ihr beherrschen ließ,
wie sie es erwartet hatte. Da begann sie, ihm Szenen zu
machen, die aber an seiner Gelassenheit abprallten wie an
einem Felsen.
Außerdem behagte der launenhaften, sehr verwöhnten
Ilona das Leben in dem Hadebrecht-Haus nicht, das so
ganz von dem Willen ihres Schwiegervaters beherrscht
wurde. Sie konnte diesen »Despoten« nicht ausstehen und
setzte ihm immer Widerstand entgegen, wobei sie jedoch
stets den kürzeren zog. Und wenn sie dann vor Wut zu
platzen glaubte, packte sie ihre Koffer und reiste zu ihren

background image

Eltern, die ständig unterwegs waren, schloß sich ihnen an –
um schon nach einigen Wochen wieder plötzlich im

Hadebrecht-Haus aufzutauchen.
Für eine Weile fand sie es dann ganz erträglich in dem
»Eulennest«, wie sie das komfortable Haus oft in ihrer Wut
nannte – bis sie ihm wieder entfloh. Also ein ewiges Auf
und Ab, das von dem Gatten nebst seiner Familie schon
längst nicht mehr tragisch genommen wurde.
Nicht einmal von dem jetzt zweieinhalbjährigen
Töchterchen, das die Mutter durchaus nicht vermißte, weil
es im Schoß der Familie so viel Liebe fand, wie sie ein Kind
nun einmal haben muß, um recht gedeihen zu können.
Heute jedoch war Ilona anwesend und hörte mit an, was
der Herr des Hauses seiner Familie zu sagen hatte. Daß er

die Stieftochter seines verstorbenen Sohnes ins Haus holen
wollte, hatte er kurz vor seiner Abfahrt bereits erklärt. Jetzt
erzählte er knapp, wie er das Mädchen vorgefunden hatte
und daß es nach dem schweren Nervenfieber erst mal guter
Pflege und gründlicher Erholung bedürfte.
»Also, nun wißt ihr Bescheid«, schloß er seinen Bericht.
»Ich bitte mir aus, daß ihr der Kleinen freundlich
entgegenkommt, die jetzt hier ihr Zuhause haben soll.
Habt ihr mich verstanden?«
Wie bei einem grimmen Feldherrn schossen seine Blicke
unter den buschigen Brauen hervor, so daß man nicht
aufzumucken wagte. Nur Ilona, die schien sich dieser

»Despotie« wieder einmal nicht beugen zu wollen. Die
dunkelgrauen Augen funkelten vor Aufsässigkeit, über die
rotlackierten Lippen kam es entrüstet:
»Du kannst doch unmöglich von uns verlangen, Papa, daß
wir diesem hergelaufenen Mädchen-«
»Halt den Mund!« fuhr der Mann hart dazwischen. »Hier
geschieht, was ich anordne. Wenn dir das nicht paßt,
kannst du ja wieder mal deine Koffer packen!«
»Philipp«, mahnte die Gattin leise, und da wandte er unter
ihrem bittenden Blick den seinen ab.
»Ist doch auch wahr!« brummte er. »Es ist einfach eine

background image

Infamie, das Mädchen als hergelaufen zu bezeichnen, das
die Stieftochter meines verstorbenen Sohnes ist und einem

untadeligen Hause entstammt. Die Kleine hat sich doch
wirklich vornehm genug benommen, indem sie diesen
Stiefvater, den sie hätte eigentlich verachten müssen, weil
er sie durch seine Verschwendungssucht an den Bettelstab
brachte, mit ihrer Hände Arbeit unterhielt. Die gar noch
die Wohnung verkaufte, um ihm ein anständiges Begräbnis
geben zu können, und selbst in einer Elendsbude
unterkroch. Ich glaube nicht, daß sie mir so widerstandslos
hierher gefolgt, wenn sie nicht so erbärmlich schwach und
elend wäre. Denn Thomas hat ja in seinem
Abschiedsschreiben ausdrücklich bemerkt, daß seine
Stieftochter sehr stolz und eigenwillig ist. Die wird sich

bestimmt nichts von uns schenken lassen, darauf könnt ihr
euch verlassen!«
Nach diesen scharfen Worten wagte selbst Ilona nichts
mehr zu sagen. Die Kinder saßen eingeschüchtert da, weil
sie ihren sonst so guten Opapa jetzt fürchteten; selbst die
altkluge, von ihrer Mutter sehr verzogene Anka. Sie folgte
ihrem Fräulein gern, das eben eintrat, um ihre beiden
Schutzbefohlenen zum Abendessen zu holen und hinterher
ins Bett zu bringen. Artig sagten sie Gute Nacht, wobei sie
sich nur zögernd dem Großvater näherten. Als dieser sie
jedoch freundlich anlachte, trollten sie zufrieden an der
Hand ihres Fräuleins ab.

Es wurde nun nicht mehr von Silje Berledes gesprochen.
Jeder scheute sich, in Anwesenheit des Hausherrn das
heikle Thema zu berühren. Erst als der Gestrenge nach dem
Abendessen zum Stammtisch, der jeden Sonnabend
stattfand, in die Stadt fuhr, wagte man wieder über den
Zuwachs im Hause zu sprechen.
»Ich glaube, mit dieser Silje werden wir noch viel Ärger
haben«, seufzte Thea. »Ich weiß gar nicht, warum Papa sich
so sehr für das fremde Mädchen einsetzt! Ja, wenn es noch
die leibliche Tochter von Thomas wäre – aber so geht sie
uns doch wirklich nichts an. Laß diesen spöttischen Blick,

background image

Eike, du machst mich damit nervös. Du hättest besser
getan, Papa auszureden, das Fräulein ins Haus zu holen,

statt ihn noch darin zu bestärken.«
»Aber Thea!« mahnte die Mutter leise. »Vergißt du denn
ganz, daß Thomas kurz vor seinem Tode den Vater
flehentlich bat, sich seines verlassenen Stiefkindes
anzunehmen?«
»Ach was, Thomas hatte gar nichts mehr zu verlangen!«
ereiferte Thea sich immer mehr. »Er hatte doch schon
längst sein Erbe weg. Und da ist es eine Zumutung von
ihm, uns seine Stieftochter aufzuhalsen, die nun Papa auch
noch auf der Tasche liegt.«
»Eben«, lächelte der Bruder ironisch. »Das ist nämlich bei
dir der springende Punkt. Aber darf ich dich daran

erinnern, daß auch du schon längst dein Erbe erhieltest,
und du nun auch deinem Vater auf der Tasche liegst, sogar
noch mit deiner Tochter?«
Zuerst starrte sie ihn verblüfft an, dann fuhr sie empört auf.
»Ich verbitte mir deine Anzüglichkeiten, hast du mich
verstanden? Ich bin schließlich hier die Tochter des
Hauses.«
»Köstlich!« lachte Ilona amüsiert dazwischen. »Der Streit
um das fremde Mädchen ist bereits entbrannt. Schade, daß
der gestrenge Herr und Gebieter dieses Hauses ihn nicht
mit anhören kann, der würde genauso wettern wie er es
vorhin bei mir tat. Nur daß ich den Mut hatte, ihm ins

Gesicht zu sagen, was ihr jetzt feige hinter seinem Rücken
tut.«
»Kinder, so gebt doch Ruhe!« bat die Mutter kläglich. »Ihr
wißt genau, daß Vater trotz eures Protestes doch tut, was er
will. Und er tat recht, daß er Fräulein Berledes herholte. Sie
ist doch das Vermächtnis von Thomas an uns.«
Bitterlich weinend drückte sie das Gesicht in die Hände,
und da schwiegen die anderen betreten still.
Drei Tage waren vergangen, nachdem Silje Berledes ins
Hadebrecht-Haus kam. Sie hatte diese Zeit mit Essen und
Schlafen verbracht und dabei Körper und Nerven

background image

wunderbar gestärkt. Doch nun wurde der Schlaf bei Tag
immer kürzer, und sie begann sich zu langweilen.

»Das ist gut«, behauptete Philchen, die ihre
Schutzbefohlene immer noch liebevoll betreute.
»Langeweile ist der beste Heilfaktor.«
»Aber schwer zu ertragen.«
»Nun, so wollen wir für Abwechslung sorgen. Sag mal, was
befindet sich eigentlich in diesem unförmigen Paket? Ich
bin sonst gewiß nicht neugieriger, als es einem weiblichen
Wesen zukommt, aber dieses Monstrum da habe ich direkt
zu suggerieren versucht.«
»Wenn du Mut hast, öffne die mysteriöse Angelegenheit –
aber mach dich auf alles gefaßt«, blitzte Silje sie mutwillig
an.

»Mädchen, mir wird ganz gruselig. Nichtsdestotrotz, die
Neugierde ist stärker.«
Dann griff sie zur Schere und war eifrig bemüht, die feinen
Stiche zu durchschneiden. Wie ein Geduldspiel empfand
sie es – und sah dann fast andächtig auf den Geigenkasten,
den die Hülle endlich entblößte.
»Die Geige von Paps«, kam eine tränenerstickte Stimme
vom Bett her. »Ich habe sie auch noch als Heiligtum
gehütet, als schon längst bei uns Schmalhans
Küchenmeister war. Die Geige ist mein kostbarster Besitz.«
Verstohlen wischte Philchen die Tränen fort, die ihr über
die Wangen liefen, und versuchte, ihrer Stimme Festigkeit

zu geben. Fast burschikos klang es, als sie fragte:
»Und was befindet sich in diesem schäbigen Kasten?«
»Darin liegen die wenigen Schmuckstücke, die meine
Mutter bis zu ihrem Tod trug. Alles andere wurde verkauft.«
»Soso«, tat Philchen gleichmütig, hob den Deckel von der
wirklich schäbigen Pappschachtel und erblickte darin ein
kostbares Medaillon an einer Platinkette, ein
schwergoldenes Armband und einen Ring mit einem
Kleeblatt aus Smaragden, eingefaßt von Brillanten. Eine
wundervolle Arbeit, die schon allein dem aparten
Schmuckstück großen Wert verlieh.

background image

»Mehr nicht«, fragte Philchen trocken, und da mußte das
Mädchen trotz seines Kummers lachen.

»Tante Philchen, du verlangst aber auch gar zu viel von
meiner Armseligkeit! Die Geige mit dem Schmuck
zusammen bedeutet immerhin ein Vermögen.«
»Hm -- na ja. Kannst du nun wenigstens auf der Geige
spielen, die du wie ein Zerberus zu hüten scheinst?«
»Und ob!« strahlte es jetzt in den blauen Mädchenaugen
auf. »Mein Paps hat mir doch Unterricht erteilt. Und er war
ein großer Künstler, wenn das in diesem Hause auch nicht
anerkannt wird.«
»Das mußt du Grünschnäbelchen ja wissen«, brummte
Philchen. »Schwing hier nicht so große Töne, spiel mir
lieber etwas vor. Aber nicht so was Hochgeschraubtes, das

kann mein einfältiges Gemüt nicht fassen.«
Behutsam, als ob sie ein Heiligtum berührte, hob sie die
Geige aus dem weichen Samt und reichte sie dem Mädchen
hin, das dieses Kleinod ebenso behutsam entgegennahm.
Um den Mund zuckte es wie verhaltenes Weinen, als Silje
das Kinn an das glatte Holz legte, den Bogen ergriff und
ihn leicht und federnd über die Saiten führte. Zuerst klang
das Spiel noch unsicher und verworren, doch allmählich
kristallisierte es sich zu klaren, weichen Tönen.
»Leise flehen meine Lieder – «, klang die unvergessene
Weise Schuberts süß durch das Gemach, und Philchen
lauschte wie gebannt. Sie hinderte die Tränen nicht, die ihr

über die Wangen liefen, in großen, glitzernden Tropfen.
Die Erinnerung kam. Greifbar nahe sah Philchen den
strahlend schönen Jüngling Thomas vor sich, der diese
Weise so oft und gern spielte, diese Weise, die auch
Philchen in ihrer Jugendblütezeit erklungen war, von
Meisterhand hervorgezaubert. Denn auch er war ein Geiger
gewesen, den sie mit achtzehn Jahren so schwärmerisch
liebte und der diese Liebe lachend abtat, um in die Welt
hinauszustürmen und dort Ruhm zu erringen.
Wie lange war das her? Vierundzwanzig Jahre. Doch dem
erschüttert lauschenden Philchen kam es vor, als wäre es

background image

gestern gewesen.
Und dann hatte der Neffe Thomas wieder diese Weise

gespielt und damit das Herz der Tante gewonnen. Sie war
ihrem Zwillingsbruder Philipp bitter gram, daß er das
Talent seines ältesten Sohnes nicht anerkennen, ihn
durchaus zwischen Ziegel und Zement zwingen wollte.
Aber Thomas ließ sich nicht halten. Genausowenig, wie der
andere sich von der Liebe des Jungfräuleins Philchen
halten ließ.
Und auch Thomas war in die Welt hinausgestürmt, um
auch, wie der andere, zu verderben und zu sterben? Wohl
nicht ganz. Denn Thomas Brecht war immerhin
sechsunddreißig Jahre alt geworden, hatte Ruhm errungen,
hatte Liebe gegeben und genommen, ehe die Götter ihn

abriefen in ihr Reich. Denn wen die Götter lieben, der
stirbt jung, so überliefert uns der Grieche Plutarch.
Philchen schreckte aus ihrer schmerzlichen Versunkenheit
auf, als das herrliche Spiel verklang. Wie hilflos stand es da,
das zweiundsechzigjährige Fräulein, das in seiner Jugend
alle anderen Männer, die sich ihm werbend nahten,
ausschlug um des einen willen.
Ganz langsam, Schritt für Schritt, näherte sie sich dem Bett,
von dem aus die junge Silje ihr mit bangen Augen
entgegensah. Zart legten sich die weichen Männerarme um
den Hals der Alternden, und eine tränenerstickte Stimme
fragte:

»Habe ich dir mit meinem Spiel weh getan, du liebes
Tantchen?«
»Ach was, wohlgetan hast du mir!« polterte das resolute
Philchen noch den letzten Rest von Wehmut fort. »Du
kannst was, Mädelchen. Schule von deinem Paps?«
»Ja. Er wollte eine Künstlerin aus mir machen, aber leider
reichte mein Können dafür nicht aus.«
»Wohl dir, Silje! Schwer ist die Kunst, vergänglich ist ihr
Preis, sagt Schiller im ›Wallenstein‹. Ein Glück also, daß die
Kunst dich nicht unterjochen konnte. Es lebt sich ohne
diesen Wahnwitz entschieden ruhiger und besser, mein

background image

Kind. Laß dich womöglich nicht doch noch in diese Klauen
kriegen!«

»Keine Angst!« lachte Silje. »So kunstbesessen bin ich nicht.
Mir genügt schon das, was ich kann.«
»Und das ist gewiß nicht wenig, Herzchen. Wenn das Eike
wüßte, wie wunderbar du Geige spielen kannst, er würde
vor Neid erblassen.«
»Wer ist denn Eike?« fragte Silje neugierig, und Philchen
lachte.
»Ach so, den kennst du ja noch nicht. Eike ist der jüngere
Bruder deines Paps, der auch wie dieser von Euterpe geküßt
ist, wie es so schön heißt. Doch nur fürs Klavier, zur Geige
langt der Kuß nicht. Aber das treibt er nur so nebenbei.
Seine Hauptbeschäftigung gilt den Ziegeln und dem

Zement.«
»Komische Zusammensetzung!« lachte Silje fröhlich, und
Philchen sah sie erstaunt an.
»Wieso? Ziegel und Zement vertragen sich doch gut.«
»Aber nur als Bausteine, nicht als Anhänger der Muse.«
»Mädchen, du bist mir zu spitzfindig. Laß ab von den
Musen, sag mir lieber, was du essen willst.«
»Schon wieder mal? Ich komm mir ohnehin schon wie
genudelt vor.«
»Wenn übertreiben – dann richtig. Vorläufig kann von
Nudeln noch gar keine Rede sein.«
»Sag mal, Tante Philchen, wie lange gedenkst du mich

eigentlich noch im Bett zu halten?«
»Bis du kräftig genug bist, um fest auf deinen jetzt noch
zitternden Beinchen zu stehen. So lange bleibst du in
diesem Gewahrsam.«
»Och, so übel ist das auch nicht«, streckte Silje sich wohlig
im Bett. »Tante Phileleinchen, wie schön ist es doch, daß es
dich gibt!«
»Darüber freu ich mich auch immer«, kam die Antwort so
trocken, daß Silje sich vor Lachen ausschütten wollte. Mit
versteckter Rührung sah Philchen in das jetzt so strahlende
Gesicht des jungen Menschenkindes, das der Bruder ihr erst

background image

vor einigen Tagen so warm ans Herz gelegt hatte.
Nun, er konnte mit ihr zufrieden sein, denn ihre Betreuung

hatte Wunder gewirkt.
Eine Woche insgesamt dauerte die »Haft« Siljes, doch dann
ließ sie sich nicht mehr länger darin halten. Sie drängte
hinaus voll Ungeduld.
»Na schön, steh auf«, gab Philchen nach. »Aber wehe, wenn
du schlapp machst, dann kennt mein Zorn keine
Grenzen!«
Allein Silje machte durchaus nicht schlapp. Sie fühlte sich
im Gegenteil so gekräftigt, daß Philchen sich entschloß,
ihren Schützling jetzt endlich mit nach unten zu nehmen.
Wohlweislich verschwieg sie dem Mädchen, was es
erwartete. Ganz ohne Vorurteil sollte es in den Kreis derer

treten, zu denen es fortan gehören sollte.
Also trat Silje Berledes am Sonntagvormittag in das
Wohngemach, in dem die Familie Hadebrecht versammelt
war.
Es herrschte an diesem Novembertag ein fahles Licht in
dem weiten Raum. Aber schien es nicht plötzlich heller zu
werden, als das fremde Mädchen auftauchte? Woran
mochte das liegen? An dem zartfarbenen Kleid, den
leuchtendblauen Augen, dem lichtbraunen Haar, über das
Goldfunken gestreut zu sein schienen? Es mußte wohl so
sein. Denn die Miene Siljes war gewiß nicht strahlend. Es
lag im Gegenteil etwas stolz Abweisendes auf dem jungen

Antlitz, das noch immer ein wenig blaß war.
»Hier bringe ich euch meinen bisher so streng behüteten
Schatz«, sprach Philchen munter in die beklemmende Stille
hinein. Die Herren erhoben sich von ihrem Sitz und
schauten ebenso gespannt wie die anderen auf Silje, die
zögernd auf die Frau des Hauses zuging.
»Willkommen bei uns!« bemühte sich die Dame, einen
herzlichen Ton anzuschlagen, was jedoch nicht ganz
gelang. Denn sie war durch die Erscheinung des Mädchens
so überrascht, ja geradezu befremdet. Sie hatte ein
kümmerliches, hilfloses Wesen erwartet – und nicht eine

background image

solche Schönheit mit dem selbstsicheren Auftreten und der
stolzen Abwehr.

»Danke«, entgegnete Silje leise, während sie sich artig über
die feine Frauenhand neigte. Die Bewegung hatte etwas
Zwangloses und Natürliches, wie es nur junge Mädchen
haben können, die sich von Kindheit an in der besten
Gesellschaft bewegten.
»Der Anfang wäre ja nun mit der Frau des Hauses
gemacht«, bemerkte Philchen trocken. »Nun weiter, mein
Herz. Das ist meine Nichte, Frau Grotner, dies die Frau
meines Neffen, hier er selbst – na, und den Herrn vom
Ganzen kennst du ja schon. Und nachdem nun alles
geklärt ist, wollen wir uns gemütlich hinsetzen.«
Damit drückte sie Silje in einen der tiefen Sessel, setzte sich

in den danebenstehenden, und nun nahmen auch die
beiden Herren ihre Plätze wieder ein.
»Potztausend, Marjellchen, du hast dich in der einen
Woche ganz wunderbar herausgemacht!« blinzelte der
Senior sein Mündel vergnügt an. »Da hat dich unser
Philchen ja ganz nett aufgepäppelt.«
»Ja, und deshalb bitte ich dich um Arbeit, Onkel Philipp«,
warf sie hastig ein. »Du versprachst mir doch…«
»Man immer sachte mit den jungen Pferdchen!« unterbrach
er sie nun seinerseits. »So weit bist du wohl noch lange
nicht – oder?«
»Doch, frag nur Tante Philchen!« ging der Blick der

wunderschönen Blauaugen flehend zu der Genannten hin,
die ihr ermunternd zunickte.
»Also, Philipp, tu ihr den Gefallen. Anders gibt sie ja doch
keine Ruhe.«
»Hm – wollen mal sehen. Was meinst du dazu, Eike?«
»Das überlasse ich ganz dir, Vater«, klang nun eine sonore
Männerstimme auf, der Silje nachlauschte wie einem Ton
in Moll.
Ihr Blick streifte den Mann, der zwanglos im Sessel lehnte
und die Fingerspitzen gegeneinander tippte.
Er hat Ähnlichkeit mit Paps – stellte sie rasch fest. Nur

background image

seine Gestalt ist höher und sportgestählt, das Gesicht härter
geschnitten, hauptsächlich der Mund, die Augen sind

blauer und kühler, das Haar blonder. Es haftet ihm etwas
von einem Herrenmenschen an, während der Paps ein
wenig sensibel wirkte.
Weiter kam sie nicht in ihren verstohlenen Betrachtungen;
denn die beiden Kinder traten ein. Doch ehe einer von den
Erwachsenen noch zu Wort kommen konnte, sprach schon
das altkluge Töchterlein Theas:
»Sie sitzen mit hier, Fräulein? Aber wir wollen Sie doch gar
nicht haben.«
»Anka!« rief der Großvater streng dazwischen. »Was redest
du denn da für einen Unsinn zusammen?!«
»Aber Mami sagt das doch, und auch Tante Ilona«, wurde

das vorher so kecke Stimmchen ganz kläglich. Sie eilte zur
Mutter und schmiegte sich ängstlich an sie, die sie wie
schützend umfaßte.
»So ist’s richtig«, grollte der Senior. »Hätschle das vorlaute
Gör nur noch, anstatt ihm den Schnabel zu beklopfen!«
»Aber Papa, Anka ist doch ein Kind!«
»Eben – und daher muß es erzogen werden.«
»Ute is aber atig«, bemerkte jetzt die noch nicht ganz
Dreijährige. »Nis, Opa?«
»Na, hoffentlich!« zwinkerte er dem reizenden Mägdlein
zu, das sich zutraulich zwischen seine Knie schob. »Dein
Schnäbelchen kann manchmal auch recht fürwitzig sein.«

»Dann tieg ich eins dauf, sagt Papi.«
Über diese trockene Bemerkung mußten die Erwachsenen
lachen. Und sie taten es gern, um die Peinlichkeit zu
überbrücken, welche die Bemerkung der vorlauten Anka
hervorgerufen hatte.
Man quälte sich noch ungefähr eine Viertelstunde mit
einem nichtssagenden Gespräch ab, dann sagte Philchen:
»Hopp, mein Mädchen, nach oben mit dir! Dein
Antrittsbesuch ist beendet. Mehr kann man deinen immer
noch angegriffenen Nerven nicht zumuten.«
Gehorsam erhob sich Silje. Eine leichte, zwanglose

background image

Verneigung, dann verließ sie mit Philchen das Zimmer.
Und kaum, daß sie außer Hörweite waren, lachte Thea

verärgert auf.
»Lieber Himmel, die tut ja so, als wäre sie Majestät in
Person!«
»Was deine ungezogene Tochter sehr interessieren wird«,
fuhr der Senior unwirsch dazwischen. »Raus mit euch, ihr
Kleinzeug!«
Eingeschüchtert trollten die Kinder ab und nun wandte
sich der gereizte Mann an Tochter und Schwiegertochter.
»Ihr sollt euch mal was schämen! Wenn ihr eure spitzen
Zungen durchaus wetzen wollt, dann tut es wenigstens
nicht in Gegenwart der Kinder. Was hat euch denn das
Mädchen getan, daß ihr es so anfeinden müßt?«

»Wir feinden es ja gar nicht an«, antwortete Ilona
schnippisch, während Thea die gekränkte Miene aufsetzte,
die man so gut an ihr kannte. »Wir sind nur der Ansicht,
daß es hier nichts zu suchen hat.«
»Ach, sieh mal an!« kniff der Mann die Augen zu und
betrachtete das kapriziöse Persönchen ironisch. »Dann
werdet ihr euch wohl zu einer anderen Ansicht bekehren
müssen. Vorläufig bin nämlich ich immer noch der Herr
im Hause und kann darin aufnehmen, wen ich will. Und
wenn ihr da noch so sehr Gift und Galle speit – das
Mädchen bleibt! Es hat nämlich ganz genau dasselbe
Recht, hier zu sein, wie ihr beiden Mißgünstigen.«

»Na, hör mal, Papa, das ist doch nun wohl ein Irrtum!«
widersprach Ilona aufgebracht. »Ich bin die junge Herrin
hier und Thea die Tochter des Hauses.«
»Und Silje Berledes ist die Stieftochter meines ältesten
Sohnes«, klang es hart dazwischen. »Also rechtlich gesehen
meine Stiefenkelin. Noch etwas?«
»Ach, es hat ja gar keinen Zweck, mit dir darüber zu reden«,
trotzte Ilona, und ihr Schwiegervater lachte grimmig.
»Eben darum laß es gefälligst bleiben. Schweigen soll ja
Gold sein, wie ein Sprichwort sagt. Also beherzigt es in
allem, was Silje Berledes betrifft.«

background image

Damit wandte er sich dem Sohn zu, der dem allen
schweigend gefolgt war.

»Hör zu, Eike. Ich habe mich entschlossen, die junge Dame
in unserem Betrieb zu beschäftigen. Und zwar zuerst
einmal als Hilfe meiner Sekretärin, die eine solche gut
gebrauchen kann, weil ihr die Arbeit oft zu viel wird.«
»Mir schon recht, Vater«, entgegnete der Sohn ruhig. »Da
kann die junge Dame wenigstens nichts verpatzen.«
»Wie meinst du das?«
»Nun, sie ist immerhin Anfängerin – und soviel ich weiß,
aus ihrer Arbeitsstelle fristlos entlassen.«
»Jetzt fängst du auch schon an!« brauste der ohnehin schon
tiefgereizte Mann auf. »Warum wurde sie wohl entlassen,
he? Da zuckst du natürlich die Schultern.«

»Was sollte ich denn wohl sonst tun, Vater?«
»Erst einer Sache auf den Grund gehen und dann urteilen.
Fräulein Berledes wurde deshalb fristlos entlassen, weil sie
die Belästigung des Juniorchefs mit einer Ohrfeige
beantwortete.«
»Woher weißt du das denn?«
»Aus dem Abschiedsschreiben von Thomas. Und angesichts
des Todes pflegt man nicht zu lügen.«
»Dann allerdings – «
»Na also. Und nun Schluß mit den Anfeindungen gegen
das Mädchen! Tut es alle im geheimen, wenn ihr nicht
anders könnt, aber wagt euch damit ja nicht an die

Oberfläche! Dann sollt ihr was erleben, ihr mißgünstige
Bande!«
Damit ging er hinaus, und Ilona lachte hämisch hinter ihm
her.
»Das Interesse an diesem Mädchen – na, ich will nichts
gesagt haben.«
Doch jetzt fuhr die Hausherrin, die vieles still und
sanftmütig über sich ergehen ließ, denn doch empört auf.
»Pfui, Ilona, schäm dich! Du hast einen ganz
minderwertigen Charakter.«
»Na, das ist denn doch die Höhe!« zeterte die junge Frau in

background image

den höchsten Tönen. »Und du sitzt da und läßt deine Frau
beleidigen, mein Herr Gemahl?«

»Verteidige dich doch, du hast ja sonst so ein gutes
Mundwerk«, gab er achselzuckend zurück.
Zuerst starrte sie ihn an, dann sprang sie auf und schrie:
»Jetzt hab’ ich aber genug! Ich fahr zu meinen Eltern!«
»Glückliche Reise«, wünschte der Gatte mit
unerschütterlichem Gleichmut.
Da raufte sie sich die Haare, drehte sich wie ein Wirbel um
ihre eigene Achse und rannte davon.
»Oh, mein Gott, das ist ja einfach nicht mehr zu ertragen!«
jammerte Thea jetzt los. »Mit diesem Mädchen ist das
Unheil unter unser Dach gekommen. Auch ich gehe – gehe
mit meinem Kind hinaus in die Fremde.«

Auch sie entschwand, aber nicht wutentbrannt wie vorhin
die Schwägerin, sondern langsam, sehr wehleidig, wie
gebrochen. Schmunzelnd wandte Eike sich an die Mutter,
die verstört dasaß.
»Na, Muttchen, willst du nicht auch diese Stätte der Tragik
verlassen?«
»Ach, Junge«, klagte sie. »Ich komme mir so vor, als wäre
ich unter lauter Irre geraten. Hätte Vater das Mädchen doch
nie hierhergebracht! Seinetwegen muß meine eigene
Tochter nun das Elternhaus verlassen.«
»Aber Muttchen, wie kannst du dich nur so einschüchtern
lassen! Thea wird sich hüten, ihr Drohnendasein

aufzugeben. Du kennst sie doch. Wenn sie nicht
theatralisch werden kann, ist ihr nicht wohl.«
»Leider ist es so«, seufzte die Mutter. »Und Ilona?«
»Auch sie wird sich besinnen. Wenn nicht, mag sie gehen,
daran sind wir nun wahrlich schon gewöhnt. Einige
Wochen später ist sie ja doch wieder hier.«
Nun verließ auch er das Zimmer, die Mutter folgte, und so
hätte man sagen können: Die Tragikomödie ist aus, der
Vorhang fällt.
Indes saß Silje in ihrem Zimmer und hatte keine Ahnung
davon, welch einen Streit ihr bloßes Erscheinen unten

background image

entfacht hatte.
Müde saß sie da, hatte den Arm aufs Knie gestützt, die

Hand im Haar vergraben, und sann wehmütig vor sich hin.
Bis Philchen eintrat, die sich in ihrem Schlafzimmer, das
neben dem Siljes lag, zu schaffen gemacht hatte. Da war es
aus mit der Grübelei.
»Na, nun mal nicht so trübsinnig, mein Mädchen!« sagte
sie munter. »Du wirst doch nicht so töricht sein und etwas
aufgeben wollen, das noch gar nicht richtig begonnen hat!
Komm, wir ziehen uns an und gehen in ein Lokal, um dort
Mittag zu essen. Denn auch ich habe keine Lust, mich
unten an den Tisch zu setzen. Laß sie sich in die Haare
kriegen, das machen wir nicht mit.«
»Ach, Tante Philchen, es geschieht doch nur meinetwegen!«

»Na, wenn schon. Die Gemüter werden sich schon langsam
beruhigen.«
»Es paßt mir aber nicht, hier als Eindringling betrachtet zu
werden. Am liebsten ginge ich gleich auf und davon.«
»Ei du, das wage nicht! Dein Vormund holt dich unter
Garantie zurück. Der gehört nämlich nicht zu den
Menschen, welche die letzte Bitte eines schon vom Tode
Gezeichneten einfach ignorieren. Zumal dann nicht, wenn
dieser Mensch noch sein Sohn ist, dem gegenüber er so
etwas wie ein böses Gewissen hat. Also wirst du dich schon
den Anordnungen deines Vormunds gutwillig fügen
müssen. Wie alt bist du überhaupt?«

»Silvester werde ich neunzehn.«
»Ach, sieh mal an, da haben dir deine Eltern nicht den
richtigen Namen gegeben. Eigentlich müßtest du Silvesta
heißen.«
Da mußte Silje denn doch lachen, so wenig ihr auch
danach zumute war.
»Ach, Tante Philchen, wenn ich dich nicht hätte!«
»So freu dich darüber, und höre auf mich. Ich weiß
nämlich in unserer lieben Familie gut Bescheid und kann
dir somit ratend und helfend zur Seite stehen. Im großen
und ganzen sind sie gar nicht so, die Leutchen. Sie wollen

background image

sich nur nicht unter den Willen des ›Despoten‹, wie Ilona
ihren Schwiegervater zu bezeichnen beliebt, zwingen lassen

und mucken auf, sofern er etwas über ihren Kopf hinweg
bestimmt. Aber dann haut er mit der Faust auf den Tisch
und sagt: ›Ich bin der Herr im Haus! ‹ – und schon ducken
sich alle wieder, weil sie viel zu feige sind, um seinem Zorn
standzuhalten. Was willst du überhaupt, du dummes Ding?
Geht es dir hier nicht gut?«
»Das schon – aber ich möchte kein Gnadenbrot essen.«
»Gnadenbrot, wenn ich das schon höre! Das ist doch eine
abgedroschene Phrase. Du wirst schon hier kein
Gnadenbrot essen, sondern dir dein Brot regelrecht
verdienen, indem du im Betrieb deines Vormundes
arbeitest. Und daß Angestellte im Hause des Chefs wohnen

und auch dort verpflegt werden, der Fall ist doch gar nicht
mal so selten.«
»Meinst du, Tante Philchen, daß mein Vormund damit
einverstanden sein wird, wenn ich Kost und Logis hier
bezahle?«
»Das wird er bestimmt sein. Denn er pflegt den
berechtigten Stolz eines Menschen stets anzuerkennen.«
»Hoffentlich verdiene ich so viel, um diese Unterkunft
überhaupt bezahlen zu können«, wurde Silje nun wieder
zaghaft. »Denn ich gab ja schon für das Zimmer bei der
Pfefferkorn fünfundzwanzig Mark im Monat. Und das war
an diesem hier gemessen einfach eine Hundebude.

Und die Verpflegung in diesem feudalen Haus wird
bestimmt erstklassig sein.«
»Deine Sorgen möcht ich haben!« bemerkte Philchen
trocken. »Mein liebes Kind, zerbrich dir dein törichtes
Köpfchen nicht. Zieh dich lieber an und komm. Mich
hungert nämlich ganz beträchtlich.«
Wenig später verließen sie das Haus, wobei es erst eine
kleine Unterbrechung gab. Als sie nämlich aus der Portaltür
treten wollten, gedachte Eike Hadebrecht, der Juniorchef
der stolzen Hadebrechtwerke, dasselbe zu tun. Höflich zog
er den Hut und fragte erstaunt:

background image

»Wo willst du denn hin, Tante Philchen? In zehn Minuten
ist bereits Mittag.«

»Eben, mein Sohn, daher wollen wir auch unseren Hunger
stillen. Aber nicht im trauten Kreise der Familie, sondern
außerhalb, damit uns nicht womöglich der Bissen im Hals
stecken bleibt. Denn dieses arme Kind hier hat ja noch
nicht das Geld, um die Bissen an eurem feudalen Tisch
bezahlen zu können. Das bestelle hauptsächlich deiner
Schwester Thea.«
Sprach’s, nahm Silje unter den Arm und ließ den
Verdutzten stehen, der dann auch Auskunft geben konnte,
als der Hausherr bei Tisch fragte, wo denn seine Schwester
und sein Mündel blieben. Eike wiederholte wörtlich, was
Philchen gesagt hatte, und da lachte der Hüne grimmig auf.

»Das habe ich kommen sehen!«
Es wurde für alle ein recht ungemütliches Mahl, während
sich das von Philchen und Silje urgemütlich gestaltete. Das
Essen war vorzüglich, der Wein nicht minder, den die Tante
bestellte. Schmunzelnd nahm sie wahr, wie die Wangen
ihrer Schutzbefohlenen nach dem dritten Glas glühten, wie
die Augen glänzten. Mit dem Herzchen zugleich floß auch
der Mund über, und als Philchen mit ihrer
leichtbedudelten Begleiterin das Lokal verließ, wußte sie
genau Bescheid über das neunzehnjährige Leben der Silje
Berledes.
Jetzt lag diese wieder im weichen Pfühl und schlief tief und

fest über alle Kümmernisse hinweg.
Philchen ließ das junge Menschenkind, dem ihre Liebe und
Sorgfalt gehörte, ruhig schlafen, als der Gong zum
Abendessen rief. »Du kommst allein?« fragte der Bruder
kurz. »Wo ist Silje?«
»Sie schläft. Und der Schlaf ist ihr dienlicher als Speise und
Trank.« Als man nach dem Essen, das wieder ungemütlich
verlief, im Wohnzimmer saß, sprach Philchen über das,
was ihren Schützling bedrückte.
Aufmerksam hörten der Bruder und die anderen zu, und
der Hausherr sagte dann zufrieden:

background image

»Genau so habe ich die Kleine eingeschätzt. Es freut mich
wirklich, daß sie sich nichts schenken lassen will, das zeugt

nämlich von Charakter. Nun, ihrem Stolz kann Genüge
getan werden, sie soll Kost und Logis redlich bezahlen. Was
dann von ihrem Gehalt übrigbleibt, ist gewiß nicht viel.
Aber bei der Sparsamkeit, die sie ja schon bewiesen hat,
wird sie auskommen. Was meinst du, Philchen, ob sie am
ersten Dezember, also in vier Tagen, kräftig genug ist, um
ihren Dienst versehen zu können?«
»Das glaube ich schon. Was ihr vielleicht an Kraft fehlt,
wird der feste Wille ausgleichen.«
»Hier, Fräulein Luischen, bringe ich Ihnen Ihren Famulus«,
schob Philipp Hadebrecht die errötende Silje seiner
Sekretärin zu, die er seit zwanzig Jahren als tüchtige

Mitarbeiterin achtete und schätzte. »Nehmen Sie ihn nur
tüchtig heran, und betrachten Sie ihn nicht womöglich als
Protektionskind!«
»Sollte mir einfallen!« lachte die vierzigjährige Dicke, der
die Gemütlichkeit sozusagen aus allen Nähten lugte. »So
was gibt’s bei mir nicht. Sinekure ist und bleibt für mich
ein Fremdwort.«
Lachend verschwand der Seniorchef im Nebenzimmer, und
Silje sah ihm so ängstlich nach wie ein Kind, das von der
Mutter in einer fremden Umgebung allein gelassen worden
ist.
Das rundliche Fräulein Luischen mit dem gutmütigen

Vollmondgesicht bemerkte es und lachte.
»Nun, nun, Kindchen, man nicht so furchtsam! Ihnen
geschieht hier nichts. Ich weiß ja, wie Sie unserm verehrten
Senior als Vermächtnis des ältesten, tiefbetrauerten Sohnes
ans Herz gewachsen sind – aber geschenkt soll Ihnen
dennoch nichts werden.«
Da lachte Silje ihr betörendes, goldiges Lachen, das sich
dem Luischen sofort in das gute Herz stahl.
»Das will ich ja auch gar nicht. Wie darf ich Sie nennen?«
»Fräulein Luischen«, kam es schlicht zurück. »Das ist
nämlich hier mein Ehrentitel. Und nun erzählen Sie mir

background image

mal, Kindchen, was Sie alles können.«
»Das ist gewiß nicht viel«, bekannte Silje kläglich. »Zwei

Jahre Handelsschule, ein halbes Jahr Praxis, drei Monate
Arbeitslosigkeit – aus.«
»Warum Arbeitslosigkeit?«
»Weil der Juniorchef und Abteilungsleiter frech wurde.«
»Wunderbar erklärt!« lachte Luischen gemütlich. »Hat’s
geknallt?«
»Und ob!«
»Hach, das freut mich! Mir erging es nämlich einmal
ebenso, denn auch ich war einmal jung und schön.«
»Fräulein Luischen, ich glaube, ich habe doch noch ein
bißchen Glück«, seufzte Silje, worauf die blauen, in Fett
gepolsterten Äuglein sie verständnislos ansahen.

»Wieso das?«
»Weil ich Sie als direkte Vorgesetzte bekommen habe.«
»Ach so – na ja, das ist allerdings immer Glückssache. Und
nun wollen wir arbeiten.«
Dazu war Silje gern bereit. Es waren in der ersten Zeit nur
leichte Sachen, die sie zugeteilt bekam und die sie spielend
erledigte.
Und als der Senior sich bei Fräulein Luischen erkundigte,
wie die Helferin sich mache, lachte die Sekretärin über das
ganze gute Gesicht.
»Unser Kind hat Köpfchen, Herr Hadebrecht. Dabei ist es
bescheiden, willig und arbeitsam. Wenn das so bleibt,

dann können wir lachen.«
»Und warum sollte es nicht so bleiben?«
»Weil neue Besen immer gut zu kehren pflegen.«
»Vortrefflicher Vergleich«, schmunzelte er. »Na, werden wir
leben, werden wir sehen.«
Und sie lebten und sahen. Silje arbeitete nun bereits drei
Wochen im Betrieb, und noch immer hatte ihr Eifer nicht
nachgelassen. Es war ja auch kinderleicht, was Luischen
ihrem Famulus zuteilte, aber gerade diese Kleinarbeit half
der manchmal überbürdeten Sekretärin viel Zeit sparen.
Silje machte ihre Arbeit Freude, und wenn sie nach Hause

background image

kam, wurde sie von Philchen mit Herzlichkeit erwartet. Sie
hockten dann zusammen, lachten und schwatzten, waren

so ein richtiges Treugespann, wenn auch ein ungleiches.
Um die anderen im Hause kümmerten sie sich nicht,
kamen nur zu den beiden Hauptmahlzeiten mit ihnen
zusammen. Das Frühstück nahmen sie in Philchens
Wohnzimmer ein, und der Nachmittagskaffee fiel für Silje
aus, weil sie um die Zeit im Dienst war. Nur am
Sonnabend und Sonntag nahmen sie unten daran teil,
wenn auch höchst ungern, obwohl man sie jetzt
vollkommen ungeschoren ließ. Auch Thea und Ilona, die
damals ihre Drohung nicht wahrgemacht hatten, sondern
im Hause geblieben waren. Erstere, weil sie nicht das Geld
hatte, um sich eine andere Bleibe zu suchen, letztere, weil

alles, was mit Silje Berledes zusammenhing, viel zu
interessant war, um sich das entgehen zu lassen. Aber sie
sowie Thea hatten sich das hinter die Ohren geschrieben,
was der Senior ihnen sagte, und feindeten das Mädchen
nicht mehr öffentlich an.
Aber der Schmuck der Mutter, den Silje jetzt täglich trug,
stach Thea doch gar zu sehr in die Augen, obwohl sie selbst
ganz nett behängt war. Sollte womöglich der Papa dem
Mädchen, in das er ja so vernarrt war…?
Nun, der Sache mußte sie unbedingt auf den Grund gehen.
Doch den Vater zu fragen, wagte sie nicht. Aber Philchen
wußte da ja auch gut Bescheid. Also legte sie dieser die

Frage vor, natürlich nicht im Beisein des Hausherrn und
seines Mündels.
»Darauf habe ich schon lange gewartet«, versetzte Philchen
trocken. »Nur keine Angst, aus der Hadebrechtschen
Schatulle stammen die Kleinodien nicht.«
»Aber sie scheinen doch sehr kostbar zu sein.«
»Scheinen nicht nur, sie sind es wirklich. Vielleicht hat die
Kleine sie gestohlen – man kann ja nie wissen. Denn die
Seelen der Menschen sind unergründlich, das müßte dir als
Poetin doch wohl eingehen. – Warum lachst du denn so
niederträchtig, Eike, mein Sohn?«

background image

»Über dein Zünglein, Philchen, das manchmal doch
verflixt spitz sein kann.«

»Immer da, wo es angebracht ist, Jungchen! Wie die Frage,
so die Antwort.«
»Erlaube mal, Tante Philchen, meine Frage war doch wohl
berechtigt!« ereiferte Thea sich jetzt. »Wie Papa erzählt, hat
er doch das fremde Mädchen in sehr dürftigen
Verhältnissen vorgefunden – und dann der kostbare
Schmuck.«
»Und erst die Geige, die dieses fremde Mädchen besitzt!«
warf Philchen ironisch ein. »Ich sage dir, die ist ein
Vermögen wert!«
»Aber mein Himmel, warum verkauft das arme Mädchen
die denn nicht?«

»Vielleicht weil es poetisch ist – noch mehr als andere,
dafür abgestempelte Leute.«
»Pfui, Tante Philchen, du bist abscheulich!«
»Stimmt, mein Kind, ein böser Erbfehler. Und wer kommt
gegen so etwas an? Bei einem ist’s die Niedertracht, beim
andern die Mißgunst.«

*


Heute war nun Sonnabend, und Silje kam eben erst von
ihrem Arbeitsplatz nach Hause, obwohl die Kaffeezeit
bereits nahte.

»Jetzt erst kommst du?« empfing Philchen ihren Liebling
vorwurfsvoll. »Ich fürchtete schon, du könntest
ausgekniffen sein.«
»Keine Angst!« lachte das Mädchen fröhlich. »Das geschieht
nicht – jetzt nicht mehr, wo ich doch einen so
wunderbaren Posten habe. Es ging heute ein bißchen heiß
her. Und da Fräulein Luischen das Dringendste noch
erledigen wollte, machte sie nicht pünktlich Schluß, und
ich auch nicht. Zwar war es nicht viel, was ich ihr helfen
konnte, aber immerhin. Hat Onkel Philipp denn nicht
gesagt, daß ich nicht zum Mittagessen kommen würde?«

background image

»Nein, weil er auch nicht dabei war. Er mußte kurz vorher
wegfahren. Und ich werde dafür sorgen, daß dir das

ausgefallene Essen hier oben nachserviert wird.«
»Bitte nicht! Solch eine Vermessenheit kommt mir in
diesem Hause nicht zu.«
»Schaf«, war alles, was Philchen darauf erwiderte. Doch als
sie auf den Klingelknopf drücken wollte, hielt Silje ihre
Hand fest.
»Einen Moment, ich habe einen anderen Vorschlag.«
»Und der wäre?«
»Wir gehen in die Konditorei und schlemmen. Ich halte
dich sogar frei, Philchen. So viel Geld habe ich noch, und
am Ersten kommt Nachschub.«
»Das könnte mich sogar reizen«, schmunzelte Philchen.

»Aber wir müssen zu Fuß gehen. Denn den großen Wagen
hat der Senior, den kleinen der Junior.«
»So gehen wir doch. Das ist bei dem herrlichen
Winterwetter doch wahrlich ein Vergnügen.«
So gingen sie denn wenig später der Stadt zu, die zu Fuß in
einer Viertelstunde zu erreichen war. Es dunkelte bereits;
denn man zählte heute den einundzwanzigsten Dezember.
Also Winterszeit und darum Eis und Schnee, wie es sich
gehört. Er knirschte unter den Füßen der rasch
Dahinschreitenden, über ihnen leuchteten hell und
geheimnisvoll die Sterne.
Es war so kalt, daß der Atem fast am Mund gefror. Philchen

machte das nicht viel aus in ihrem warmen Pelz, doch Silje
in ihrem Mäntelchen schauerte immer wieder vor Kälte
zusammen. Philchen merkte das sehr wohl, sagte jedoch
nichts.
Endlich war die Konditorei erreicht. Wärme strömte den
Eintretenden entgegen, die hauptsächlich Silje wohlig
empfand.
Der große Raum war fast besetzt. An einem Tisch jedoch
saß ein Herr allein – und dieser Herr war Eike Hadebrecht.
Philchen bemerkte ihn zuerst und steuerte auf ihn zu.
»Ah, der Herr Neffe!« spottete sie. »Warum befindest du

background image

dich nicht im Kreise deiner Lieben, um mit ihnen den
Sonnabendnachmittagkaffee zu trinken?«

»Und warum tust du es nicht?« fragte er schlagfertig zurück,
und da mußte sie lachen.
»Weil mir das zu ungemütlich ist, mein Sohn.«
»Also!«
Weiter sagte er nichts, doch dieses »Also« sprach Bände.
Galant half er den Damen aus den Mänteln und nahm
nach ihnen wieder an dem Tisch Platz, der ziemlich isoliert
in einer Nische stand.
»Was wollen die Damen essen?« erkundigte er sich höflich,
worauf die Tante Antwort gab:
»Zuerst einmal Glühwein, damit das verklammte Mädchen
hier warm wird. Hinterher Kaffee nebst Torte und

Schlagsahne. Dafür sind wir ja schließlich in der
Konditrei.«
Eike lachte, daß die kräftigen Zähne hinter den harten,
schmalen Lippen nur so blitzten. Das stand ihm gut,
machte sein strenggeschnittenes Gesicht um vieles
freundlicher. Er rief den Ober herbei, gab die Bestellung
auf, und nicht lange danach stand der Glühwein da, den
auch Eike sich nicht entgehen ließ.
Der Trank war sehr heiß, was der durchgefrorenen Silje nur
guttun konnte. Hände und Füße wurden warm, das Gesicht
rötete sich lieblich. Und als sie hinterher noch Kaffee trank,
wurde es ihr fast zu warm in dem flauschigen Pullover. Sie

fühlte sich so wohl, daß sie augenblicklich mit keinem
Menschen der Welt hätte tauschen mögen. Leise summte
sie die Melodie mit, die soeben die kleine Kapelle spielte.
Es war ein Weihnachtslied. Auch der Raum war
weihnachtlich geschmückt, was die Vorfreude der
Menschen noch erhöhte.
Entzückend sah sie aus, die junge Silje Berledes. Obwohl
sie einfach gekleidet war, wirkte alles an ihr ungemein
apart und elegant. Wie ein Prinzeßlein saß sie da, so zart
und fein, so eine rechte Augenweide für Schönheitskenner.
»Wie wär’s, wenn wir eine Flasche Sekt trinken wollten?«

background image

wurde Philchen leichtsinnig, doch der Neffe wehrte
lachend ab.

»Erbarm dich, Tantchen, ich bin mit dem Auto hier und
möchte gern noch das Weihnachtsfest erleben! Aber wir
nehmen eine oder auch zwei Flaschen mit, die wir heute
abend in deiner gemütlichen Klause trinken werden.
Einverstanden?«
»Nein, mein Sohn. Hörst du, was die Geige jubiliert? –
Friede auf Erden! Und den möchte ich halten, wenigstens
in meinen eigenen vier Wänden.«
»Na, hör mal, Philchen, bin ich denn so unverträglich, daß
ich deinen Frieden verscheuchen würde?«
»Du nicht«, sagte sie betont, ihn fest dabei ansehend, und
schon hatte er verstanden. Es flammte rot auf seiner Stirn

auf, die Lippen preßten sich zusammen zu einem schmalen
Strich.
»Nun, hab’ ich recht, mein Junge?«
»Wie immer, Tante Philchen.«
»Also. Friedland ist immer noch das beste Land. Und nun
zahl!«
Ohne Widerrede kam er ihrem Wunsch nach. Wenig später
saß man im Zweisitzer, der bequem Platz für die drei
schlanken Personen bot. Silje, die das Gespräch zwischen
Tante und Neffen nicht verstanden hatte, dachte darüber
nach, was wohl mit dem Frieden gemeint sein könnte.
Jedoch sie kam nicht dahinter, und das war gut. Sonst hätte

sie gewußt, daß sie zu allen übrigen Unerquicklichkeiten
im Hause nun auch noch Ilonas Eifersucht fürchten müßte.
Einige Minuten brauchte nur der Wagen zu fahren, dann
hielt er vor dem Portal des Hauses, in dem die beiden
Damen rasch verschwanden.
Oben angelangt, sagte Philchen schmunzelnd:
»Und dennoch trinken wir unsern Sekt. Ich habe nämlich
noch welchen, wovon niemand etwas weiß.«
»Oh, du Heimtückerin!« lachte Silje lustig. »Her damit und
temperiert! Ich bin neugierig, wie du das zuwege bringen
wirst.«

background image

Philchen brachte das sehr gut zuwege, indem sie die
Flasche in den Schnee stellte, der draußen auf dem

Fensterbrett lag. Dann zauberte sie noch delikate
Gabelbissen hervor – und unten wartete man wieder
einmal vergeblich auf das Erscheinen der beiden
Verschworenen an der Abendtafel.
Als Philchen am nächsten Morgen an den Frühstückstisch
trat, fand sie Bruder und Neffen bereits dort vor. Sie
pflegten auch am Sonntag zur gewohnten Zeit zu
frühstücken, während die anderen Familienmitglieder
später erschienen.
»Nanu, Philchen, du willst uns heute Gesellschaft leisten?«
empfing Eike sie lachend. »Ist nach dem gestern
unterschlagenen Abendessen dein Hunger so groß, daß die

Riesenportionen nicht nach oben geschafft werden
können?«
»Du hast den Sinn erfaßt, mein Sohn«, entgegnete sie
pomadig, nahm am Tisch Platz, trank zuerst mal eine Tasse
Kaffee und fühlte sich nun gestärkt für das, was sie dem
Bruder zu eröffnen hatte.
»Alsdann, Bruderherz, so wollen wir mal patent
miteinander reden«, meinte sie gemütlich. »Ich will dir
nämlich kund und zu wissen tun, daß ich am Heiligabend
früh mit Silje eine Gesellschaftsfahrt ins Blaue – oder
winterlicher ausgedrückt: ins Weiße – antreten werde. Sieh
mich nicht so wild an, mein Lieber, mein Entschluß steht

fest. Die Karten sind bereits gelöst und die Fahrt soll eine
Weihnachtsüberraschung für Silje werden.«
»So – und wenn ich nicht damit einverstanden bin, meine
liebe Philine?«
»Dann bist du töricht, mein lieber Philipp.«
»Inwiefern?«
»Indem du dir selbst den Weihnachtsabend verderben
würdest. Sei lieber froh, daß ich das Streitobjekt der lieben
Familie gerade an so einem Abend fernhalte, dir selbst und
auch mir zu Nutz und Frommen. Denn wir beide könnten
ja doch nicht den Mund halten, wenn das Mädchen

background image

hämisch angegriffen würde, und der unheilige Streit am
heiligen Abend wäre da.«

»Leider hast du recht«, brummte der Bruder verdrossen.
»Selbst meine gute Alte haben die mißgünstigen Weibsen
schon aufgewiegelt. Hast du eine Ahnung, wie gern ich
dem allen hier entfliehen und mit dir und Silje irgendwo
Weihnacht feiern würde?«
Das klang ungemein bitter und erbarmte die Schwester, die
sehr an ihrem Zwillingsbruder hing. Sie legte ihre Hand auf
die seine und sagte tröstend:
»Laß gut sein, Philipp. Du bist ja hier der Herr im Hause,
dem sich alle fügen müssen.«
»Und das ist ein Glück, sonst würde man bald mit mir
Schlitten fahren, wie man so sagt. Wohin soll denn die

Weihnachtsreise gehen?«
»Das weiß ich nicht. Man will die Teilnehmer
überraschen.«
»Wann kommt ihr wieder?«
»Am zweiten Feiertag in der Abendstunde.«
»Und wie steht es mit dem Weihnachtsgeschenk für Silje?«
»Gib ihr die Weihnachtsgratifikation, die du deinen
anderen Angestellten zukommen läßt. Das wird Silje nicht
bedrücken, sondern freuen. Für alles andere sorge ich.
Wozu habe ich denn mein Geld, wenn ich es nicht diesem
liebenswerten Menschenkind, an dem mein ganzes Herz
hängt, zukommen lassen soll?«

»Hast recht, Schwesterherz. Ich bin froh, daß du die Kleine
so spontan in dein Herz geschlossen hast, sonst wäre es
schlecht um sie bestellt.
Übrigens macht sie sich im Betrieb tadellos. Luischen ist
des Lobes voll, und das will nun wirklich was sagen.«
Weiter wurde über Silje nicht mehr gesprochen. Man
beendete das Frühstück und ging dann seiner Wege.
Doch bevor die Reise losging, hatte Philchen noch einen
Kampf mit Silje zu bestehen. Diese wollte das großzügige
Geschenk durchaus nicht annehmen, sträubte sich
sozusagen mit Händen und Füßen dagegen. Bis Philchen

background image

ernstlich böse wurde; da gab sie kleinlaut nach.
Schmeichelnd legte sie ihre Arme um den Hals des alten

Fräuleins und bettelte:
»Philelinchen, sei wieder gut, ja? Kränken will ich dich
natürlich nicht.«
»Schaf«, sagte Philchen, aber es klang sehr zärtlich. »Gewiß
kränkst du mich, sehr sogar. Du behauptest doch immer,
mich liebzuhaben.«
»Und wie!«
»Also. Dann rede nicht nur, sondern beweise es auch.
Nimm alles unbekümmert hin, was ich dir biete, denn es
kommt von ganzem Herzen. Und so etwas kann niemals
bedrücken noch beschämen.«
»Wollen wir mal gleich versuchen«, blitzte in den

Mädchenaugen der Schelm auf, und Philchen sah
mißtrauisch in sie hinein.
»Na, was kommt nun?«
»Mit deinen eigenen Waffen werde ich dich schlagen, mein
Philelinchen. Ich lade dich hiermit feierlichst zu der
Weihnachtsfahrt ein, dann habe ich wenigstens ein
Geschenk für dich. Denn dir mit anderen Dingen kommen,
hieße ja Eulen nach Athen tragen, wie ein altes Sprichwort
sagt.«
»Na, so ein kleiner Racker!« lachte Philchen herzlich.
»Mädchen, vor dir muß man sich ja in acht nehmen. Doch
willst du mir nicht sagen, womit du die Fahrt zu

finanzieren gedenkst?«
»Freilich will ich das. Ich habe doch meine Gratifikation
bekommen, und ganz leer war mein Portemonnaie
sowieso noch nicht. Und ein Geschenk, das von ganzem
Herzen kommt, darf man nicht zurückweisen.«
»Und wenn ich es nicht tue?«
»Das wäre herrlich!«
»So laß es herrlich sein – ich bin dein Weihnachtsgast.«
Zuerst machte Silje einen Luftsprung, dann umhalste sie
die Tante, bis diese um Gnade bat – und dann war die
echte, rechte Weihnachtsfreude da.

background image

Ein kleines lustiges Intermezzo gab es noch, als das
ungleiche Treugespann am Weihnachtsmorgen zur Fahrt

aufbrechen wollte. Da hielt Philchen nämlich dem
verdutzten Mädchen einen wundervollen Pelzmantel hin.
»Tante Philchen, ich bitte dich…«
»Ruhe! Wenn man dir gibt, nimm – wenn man dir nimmt,
schrei.«
Und da schrie Silje, aber vor Freude. Schlüpfte in die
mollige Pracht, trat an den Spiegel, versank vor ihm in
einem tiefen Knicks und sagte feierlich:
»Mein Kompliment, verehrte Dame. Sie tragen das schönste
Fell, das…«
»… je ein Äffchen trug«, kam ein lachender Baß von der Tür
her. Herumfahrend bemerkte Silje den Vormund, der

zwischen Tür und Angel stand. Hinter ihm sein Sohn, der
genauso amüsiert lachte wie sein Vater.
»Meine Herren, ist das nun hübsch von Ihnen?!«
»Sehr hübsch«, schmunzelte Philipp. »Viel hübscher, als
wir vermuteten. Denn als wir an dieser Tür vorübergingen,
da hörten wir einen Schrei – na – und da drangen wir ein,
um das entzückendste Bild zu schauen.«
»Nun mach mir das Kind nicht verlegen!« erbarmte sich
jetzt Philchen des heißerrötenden Mädchens.
»Was ist der Grund eures so frühen Erscheinens?«
»Wir konnten nicht umhin, euch Lebewohl zu sagen und
glückliche Fahrt zu wünschen.«

»Das hört sich schon besser an. Habt schönen Dank und
laßt uns nun gehen, damit wir nicht den Omnibus
versäumen.«
Es erfolgte nun ein rascher Abschied. Und als Philchen sich
noch einmal umwandte, bemerkte sie die sehnsüchtigen
Blicke, die ihnen nachschauten.
»Ein Jammer!« seufzte das alte Fräulein. »Wenn ich nur so
könnte, wie ich wollte, würde ich auch die beiden da noch
mitnehmen. Aber leider – leider…«

*

background image


»Ist es wahr, Papa, daß Tante Philchen mit dem fremden

Mädchen eine Weihnachtsfahrt macht?« fragte Thea am
Mittagstisch, und er sah sie verwundert an.
»Gewiß ist das wahr. Ich verstehe nur nicht, was dich dabei
so aufregt.«
»Weil so eine Reise doch Geld kostet.«
»Beruhige dich, die Kosten trägt mein Mündel.«
»Ah so, das ist allerdings etwas anderes. Ich glaubte schon,
daß Tante Philchen die kostspielige Angelegenheit bezahlt.
Weißt du, Mama, wenn das Fräulein nicht hier ist,
brauchen wir es ja auch nicht zu beschenken. Da kannst du
mir den entzückenden Pullover geben, den du für es
gekauft hast.«

»Aber Kind, der ist dir doch zu kurz und zu eng.«
»Ach, woher denn! Ich bin doch bestimmt nicht dicker als
dieses Fräulein. Warum lachst du denn so albern, Ilona?«
»Weil du nicht weißt, wie du aussiehst. Stell dich doch
einmal vor den Spiegel.«
»Der wirft dann bestimmt ein schöneres Bild zurück als bei
dir!«
»Ruhe!« gebot der Senior energisch. »Die Sachen, die
Mutter für Fräulein Berledes bestimmt hat, kriegt diese,
wenn sie von ihrer Reise zurück ist.«
Da schmollte Thea, was allen nur recht war. Dann gab sie
wenigstens Ruhe.

Der Heiligabend verlief in der Familie Hadebrecht ganz
vorschriftsmäßig. Man sang im Schein der Kerzen
Weihnachtslieder, beschenkte sich gegenseitig gut und
reichlich, aß hinterher den delikat zubereiteten
Weihnachtskarpfen, trank danach die Weihnachtsbowle
und gab sich alle Mühe, recht friedlich zu sein.
Die einzigen im Familienkreis, die sich wirklich von
Herzen freuten, waren die beiden Kinder. Sie jubelten beim
Anblick der Dinge, die sie sich gewünscht hatten und die
nun so verlockend dalagen. Selbst die altkluge, naseweise
Anka war heute ganz Kind.

background image

Doch viele Kilometer entfernt, oben in den bayrischen
Bergen, da gab es echte Weihnacht. Da hatte sich das

zusammengefunden, was irgendwie einsam auf der Welt
stand. Da verschmolz ein Zusammengehörigkeitsgefühl die
Menschen, die sich noch nie gesehen hatten und sich in
Zukunft auch nie wieder sehen würden. Man sang an der
glitzernd geschmückten Tanne die alten, schönen
Weihnachtslieder, nahm dann an den gedeckten Tischen
Platz und erfreute Zunge und Magen mit den lukullischen
Genüssen. Jeder fand unter der aufgestellten Serviette eine
kleine Weihnachtsgabe.
Der Weihnachtssekt, allerdings nur eine halbe Flasche pro
Person, genügte den meisten, um in eine leicht
beschwingte Stimmung zu geraten. Wer mehr dazu

brauchte, konnte auf eigene Rechnung nachbestellen.
Das taten Philchen sowie Silje nun nicht, ihnen genügten
drei Glas des prickelnden Getränks vollkommen.
Nach schönen, harmonischen Stunden bezogen sie
vergnügt das Doppelzimmer und schliefen in den
bequemen Betten tief und friedlich bis zum Morgen.
Während der beiden Feiertage konnte jeder seinem eigenen
Vergnügen nachgehen. Silje verbrachte diese Zeit beim
Skilaufen, und Philchen tat es in Gesellschaft
»gleichgesinnter Seelen«.
Ehe man sich so recht versah, schlug die Scheidestunde.
Man war allgemein restlos befriedigt von dem

Weihnachtsfest, an das man sich immer wieder gern
erinnern wollte.
Am Spätabend trafen Philchen und Silje wieder im
Hadebrecht-Haus ein.
Wie Diebe wollten sie sich nach oben stehlen, doch da
hatten sie ihre Rechnung ohne den Hausherrn gemacht.
Denn als sie gerade den Fuß auf die Treppe setzten, öffnete
sich die Wohnzimmertür, und der Gestrenge rief lachend:
»Heda, ihr beiden Verschwörer, so was gibt’s nicht! Herein
mit euch, und Rede und Antwort gestanden!«
»Uns bleibt aber auch nichts erspart«, seufzte Philchen so

background image

komisch, daß Silje sich wieder einmal vor Lachen
ausschütten wollte.

Es drang bis ins Wohngemach, dieses unbekümmerte,
goldige Lachen, das bei den darin Weilenden
verschiedenartige Gefühle erweckte. Bei Frau Ottilie rief es
ein liebes Lächeln hervor, Thea fand es aufdringlich, Ilona
albern, und in den Augen des Juniors leuchtete es blitzartig
auf.
»Na, das ist wieder einmal Musik für meine Ohren!«
schmunzelte der Senior, während er mit den beiden
Damen näher trat. »Was meinst du wohl, du kleiner Zeisig,
wie ich das in den drei Tagen vermißt habe!«
Die Heimgekehrten hatten die Mäntel in der Halle
abgelegt, und nun stand es im Skianzug da, das junge

bezaubernde Menschenkind. Braungebrannt von der Sonne
in den Bergen, mit strahlenden Augen und lachendem
Mund. Wie angegossen saß der Dreß auf dem grazilen
Körper, der auch diesem manchmal recht plump
wirkenden Anzug eine elegante und vornehme Note gab.
»Wie ist es nun mit euch?« fragte der Senior. »Habt ihr
Hunger, habt ihr Durst?«
»Woher denn!« lachte Philchen, die auch recht frisch
aussah und deren ganze vitale Art ihrer zweiundsechzig
Jahre spottete. »Man hat uns ja direkt genudelt und mit
guten Tropfen die Kehle genetzt.«
»Dann setzt euch hin und erzählt, wie es sich für

weitgereiste Leute gehört.«
»Na schön, erzählen wir. Der Heiligabend verlief recht
feierlich. Leichtbedudelt begaben wir uns zur Ruhe,
schliefen, daß ein Auge das andere nicht sah, und aßen
dann und tranken.«
»Ganz Philchen«, lachte Eike amüsiert. »Mehr geschah
nicht?«
»Natürlich, mein Sohn. Dieser kleine Strolch hier machte
beim Skilaufen und ähnlichen Winterfreuden Eroberungen
noch und noch. Wie eine Sonne strahlte er, um die sich die
Trabanten scharten. Wie ist es, mein Schatz, hast du nicht

background image

sogar einen Heiratsantrag bekommen?«
»Philchen, du schwindelst ja!« lachte Silje lustig. »Bleib

lieber bei der Wahrheit und verrate, daß du beinahe einen
bekamst.«
»Ach, den Opapa meinst du, mit seinen sieben Kindern
und zwei Dutzend Enkeln? Daran konnte ich doch
unmöglich meine blühende Jugend binden!«
So trocken brachte sie es hervor, daß die anderen herzlich
lachen mußten, und die Hausherrin sagte warm:
»Philchen, wie gut, daß du wieder da bist! Ohne dich ist es
hier so gar kein Leben.«
»Da bin ich aber froh, daß es mich gibt. Denn: Geben ist
seliger als Nehmen. Stammt aus der Apostelgeschichte,
Theachen, brauchst erst gar nicht deine sämtlichen Dichter

in Gedanken durchzukramen.«
Damit sprang sie lachend auf, Silje tat es gleichfalls, und
mit einem fröhlichen› Gutenacht‹ gingen sie davon.
Am nächsten Morgen stand Silje dann wieder vor Fräulein
Luischen, die ihren Famulus schmunzelnd betrachtete.
»Na, Kindchen, Ihnen scheinen ja die Feiertage glänzend
bekommen zu sein. War sie schön, die Fahrt durch den
Weihnachtswinter?«
»Sehr schön! So ein richtiger Jungquell.«
»Den haben’ Sie auch gerade nötig, Sie kleine Christrose.
Und nun wollen wir mit frischem Mut an die Arbeit
gehen.«

Dazu war Silje gern bereit. Flott ging ihr die Arbeit von der
Hand, und sie schaute erstaunt auf, als die Sirene
aufheulte.
»Schon Mittag?« fragte sie fast enttäuscht, und Fräulein
Luischen lachte.
»Haben Sie denn noch gar keinen Hunger?«
»Eigentlich nicht. Mein Frühstück war so gut, daß ich
tagsüber damit auskommen könnte.«
»Natürlich, wegen der schlanken Linie«, kam es von der Tür
her, in welcher der Senior stand. »Aber nichts da,
Marjellchen, gegessen wird! Denn essen und trinken hält

background image

Leib und Seele zusammen. Stimmt’s, Fräulein Luischen?«
»Allemal«, verzog sich das Vollmondgesicht zu einem

gemütlichen Lachen. »Doch zu der Erkenntnis kommt der
Mensch erst, wenn das Herz still wird und die Haare grau
werden.«
»Letzteres will ich gelten lassen, aber ersteres kann hundert
Jahre dauern«, blinzelte er ihr vergnügt zu. »Und nun
komm, mein kleiner Zeisig, begeben wir uns gemeinsam
an die Futterkrippe.«
Silje zog den schicken Pelzmantel an, drückte das kecke
Mützchen auf die schimmernden Locken und schritt dann
an der Seite des Seniors über das weite Fabrikgelände dem
Herrenhaus zu, das, abgegrenzt von einem Park, sehr
vornehm und feudal dalag. Er hatte sein Elternhaus

umbauen und vergrößern lassen, der Herr vom Ganzen.
Genauso wie die beiden Fabriken, die zusammen ein
stolzes Werk bildeten, das so gut fundiert war wie kaum ein
zweites.
Neben dem Hünen wirkte Silje Berledes wie ein Püppchen,
obgleich sie mit ihren 1,68 über eine ganz gute Mittelgröße
verfügte. Sie mußte ihre schlanken, feingefesselten Beine
hurtig regen, um mit den langen des Vormunds Schritt
halten zu können.
Das ungleiche Paar ging flott dahin und wurde von Thea,
die im Speisezimmer am Fenster stand, bemerkt. Nicht,
daß der Vater mit dem ihr unsympathischen Mädchen Seite

an Seite schritt, regte sie auf, sondern der kostbare
Pelzmantel, den dieses Mädchen trug.
»Kommt doch mal rasch her!« rief sie hastig ins Zimmer,
wo auch Mutter, Schwägerin und Bruder sich bereits
eingefunden hatten.
Neugierig trat man näher, und Eike fragte verwundert:
»Na und, was ist da wohl Aufregendes zu sehen? Etwa, daß
zwei Menschen aus einer Familie so einträchtig
nebeneinander hergehen?«
»Das meine ich doch nicht«, winkte sie ungeduldig ab.
»Was mir auffällt, das ist der schicke Pelz. Den hat Papa

background image

diesem fremden Mädchen sicherlich zu Weihnachten
geschenkt. Und wo ich doch so nötig einen Mantel

brauche!«
»Oh, du Arme!« spottete Ilona. »Schade, daß deine
naseweise Tochter nicht hier ist und alles mit angehört hat.
Die würde das Fräulein bestimmt nach dem Spender der
kostspieligen Angelegenheit fragen.«
»Du bist abscheulich!« fuhr die Schwägerin empört auf,
und die Mutter hob flehend beide Hände.
»Kinder, ich bitte euch, laßt doch den Streit, der ja gar nicht
mehr abbricht, seitdem Fräulein Berledes im Hause ist!
Vater hat ihr den Mantel bestimmt nicht geschenkt, das
nehme ich eher von Philchen an.«
»Stimmt«, bemerkte der Hausherr ironisch, der soeben

eintrat und die letzten Worte gehört hatte. »Ich gehe wohl
nicht fehl, wenn ich annehme, daß der Pelz deine
Mißgunst erweckt hat, meine Tochter Thea…«
Weiter kam er nicht, da jetzt Philchen und Silje eintraten.
Außerdem noch eine junge Lehrerin, die jeden Tag ins
Haus kam, um Anka zu unterrichten. Sie nahm nur am
Mittagsmahl teil, dann fuhr sie auf dem Rad ins nächste
Dorf, wo ihr Vater Lehrer war, dem sie am Nachmittag
beim Unterrichten seiner Schüler half.
Das Mahl verlief ungemütlich wie gewöhnlich. Das ging
nun mal nicht anders in dieser Familie, wo es ebenso viele
Köpfe wie Sinne gab. Es fehlte die Harmonie, die ein

Familienleben traut und behaglich macht.
Silje ließ man jetzt ganz unbehelligt. Selbst die altkluge
Anka, nachdem ihr der Großvater einmal das vorlaute
Schnäbelchen beklopft hatte.
Silje waren diese Mahlzeiten gräßlich. Viel lieber hätte sie
mit den anderen Angestellten zusammen in der
Werkkantine gegessen, aber das hätte ihr Vormund nie
zugegeben und Philchen auch nicht. Also durfte sie ihnen
damit erst gar nicht kommen. Sie gehörte hier zur Familie,
und damit holla!
Die Hausherrin fürchtete Silje auch gar nicht, die war stets

background image

freundlich zu ihr, und der Junior schien sie kaum zu
bemerken. Aber Thea mit ihren scheelen Blicken und Ilona

mit ihrer Nichtachtung, die waren ihr höchst unangenehm.
Sollte das etwa immer so weitergehen, monatelang,
womöglich gar jahrelang? Ach, darüber wollte sie sich nicht
den Kopf zerbrechen. Sie hatte ja den Vormund, der stets
für sie eintrat, und dann vor allen Dingen ihr vielgeliebtes
Philchen, das ihr wie ein Fels in der Brandung erschien.
Und dieser Fels war hart genug, um auch die giftigsten
Pfeile an sich abprallen zu lassen.
Grau lag der Morgen über dem traulichen Gemach, in dem
Philchen, deren zierliche Figur ein flauschiger Morgenrock
umbauschte, geschäftig hin- und herhuschte. Mit
spitzbübischem Lächeln gab sie sich einer Tätigkeit hin, die

ihr viel Freude machte.
Dann ging sie auf leisen Sohlen durch die weitgeöffnete
Flügeltür in das Nebenzimmer, zog dort die Jalousien an
den Fenstern hoch und trat an das Bett der holden
Schläferin.
»Heraus aus den Federn, der Hahn hat gekräht!« sang sie
lustig und sah dabei lachend zu, wie das junge
Menschenkind unter den langen, seidigen Wimpern
hervorblinzte, den ranken Körper dehnte und streckte.
»Ach, Philchen, ist es schon wieder soweit? Ich bin ja noch
soooo müde!«
»Sieht dir ähnlich, du kleine Schlafmütze. Aber nichts da!

Ermuntere deinen schwachen Geist, der vor neunzehn
Jahren noch von Düsternis empfangen ward. Erst Stunden
später wurde es Licht.«
»Um meine kleine Wenigkeit«, lachte Silje, nun vollständig
munter, in die salbungsvolle Rede hinein. »Und was soll
geschehen?«
»Aufstehen sollst du, eine Stunde früher als sonst an
deinem Ehrentag.«
Silje tat’s. Und als sie später frisch gewaschen dastand, zog
Philchen sie in ihr behagliches Wohnzimmer, wo auf dem
Tisch neunzehn Kerzen lustig flackerten und das große

background image

Lebenslicht verheißungsvoll leuchtete. Und was außerdem
noch auf dem Tisch vorhanden war, ließ die Augen des

Geburtstagskindes strahlen.
Und mit Recht. Denn diese Festtoilette mit allem Drum
und Dran konnte schon ein Jungmädchenherz höher
schlagen lassen!
»Oh, Philchen, soll das etwa für mich sein?«
»Na, für mich doch nicht, du kleines Schaf! Damit sollst du
dich schmücken und die weiblichen Wesen ausstechen, die
sich in diesem gastlichen Hause heute zur Silvesterfeier
zusammenfinden werden. Da wird sich mein Bruder
freuen, und die anderen sollen vor Neid platzen!«
»Netter Wunsch!« lachte Silje hellauf, umarmte das gute
Philchen und stattete stürmischen Dank ab.

»Na also«, schmunzelte das Altjüngferlein, als es wieder frei
atmen konnte. »Und nun wollen wir in aller Ruhe unser
Frühstück einnehmen. Darum habe ich dich so früh aus
den Federn geholt.
Doch halt, zuerst muß ich dir ja wohl gratulieren. Komm
her, du wonniges kleines Stückchen Mensch, alles Glück sei
dir beschieden. Mehr weiß ich nicht.«
Damit wandte sie sich hastig ab, weil ihr die Augen feucht
wurden. Und so was war dem couragierten Philchen immer
sehr unangenehm.
Wenig später frühstückte man an dem runden Tisch in
Philchens Wohnzimmer, wie man es täglich zu tun pflegte.

Doch heute tat man es geruhsamer, und der Strauß
herrlicher Nelken gab dem Tisch ein festliches Aussehen.
Außerdem stand ein Napfkuchen da, den Silje so gern aß.
»Lang nur tüchtig zu«, ermunterte Philchen. »So gut
bekommst du ihn unten nicht.«
»So wissen sie, daß ich heute Geburtstag habe?«
»Keine Angst, es ist ihnen unbekannt. Aber heute steigt der
gemeinsame Nachmittagskaffee, weil am Silvestertag im
Werk mittags Schluß gemacht wird.«
»Gräßlich!« seufzte das Mädchen. »Und am Abend, was
steigt da?«

background image

»Die Silvesterfeier im Kreise von Gästen, die aus Tradition
geladen werden.«

»Und wer sind die? Orientiere mich bitte ein wenig, damit
ich nachher nicht zu dumm dastehe.«
»Na schön. Da ist erst mal das Ehepaar Seifling, das seinen
Namen zu recht trägt; denn er ist Seifenfabrikant. Der Sohn
Manfred, zärtlich von den vernarrten Eltern Mannerchen
genannt, ist bestimmt kein Adonis, glaubt diesen jedoch
noch zu übertrumpfen.
Dann kommt das Ehepaar Balduin mit Tochter Bärbel,
einem süßen Mädchen, da die Eltern eine Konfitürenfabrik
ihr eigen nennen. Ein nettes Marjellchen, nicht mehr ganz
jung, aber hübsch und gescheit. Augenblicklich ist sie
Mannerchens Schwarm, aber wenn er dich sieht, wird er

mit fliegenden Fahnen zu dir abschwenken. Lach nicht,
dummes Ding, sei lieber auf diese rasche Eroberung gefaßt.
Gleichfalls auf die des anderen Junggesellen und auf die
des Witwers mit Kind. Aber bei dem sei vorsichtig, sonst
kratzt dir Thea vor Eifersucht die Augen aus. Bist du jetzt
im Bilde?«
»Noch nicht ganz, Philchen. Du sprachst von drei ledigen
Herren.«
»Oha, der dritte ist ein Mann von Welt«, die zierliche
Gestalt setzte sich ordentlich in Positur. »Er ist als Besitzer
eines Textilbetriebes schon über die Grenzen seines
Vaterlandes hinausgekommen und hat bei der Frauenwelt

Erfahrungen gesammelt. Er liebt das Mondäne, das in
seinen Augen die pikante Ilona verkörpert. Er umschwärmt
sie, allerdings nur bis zu einer bestimmten Grenze, versteht
sich, damit er dem Gemahl seines Schwarms nicht auf die
eheherrlichen Zehen tritt.«
»Philchen, hör auf, ich kann nicht mehr!« Silje wollte sich
über den todernst vorgebrachten Bericht halbtot lachen.
Und dieses herzfrohe Lachen lockte die beiden Herren des
Hauses an, die gerade den Korridor entlanggingen. Philipp
klopfte und steckte den Kopf durch den Türspalt.
»Schon wieder mal hört man am frühen Morgen dieses

background image

goldige Lachen«, schmunzelte er. »Darf man daran
teilnehmen?«

»Bitte sehr, tritt näher«, lud Philchen mit einer großartigen
Geste ein. »Ah, da ist ja auch der Herr Neffe. Man immer
rein in die gute Stube! Wir feiern hier nämlich Geburtstag.«
Überrascht schaute man auf den Geburtstagstisch, und der
Senior kratzte sich verlegen den Kopf.
»Ja, aber Philchen, ist es denn mit unserm Geburtstag
schon wieder so weit?«
»Oh, über so einen Kaufmann!« lachte die Schwester ihn
aus. »Der hat weiter nichts als seine Geschäftszahlen im
Kopf, so daß für private Dinge kein Platz mehr darin bleibt.
Zähl mal bitte die Kerzen nach und wirf einen Blick auf
den Feststaat – na, dämmert’s endlich?«

»Sieh an, die Silje!« schmunzelte er jetzt. »Entschuldige
schon, aber für Geburtstage habe ich nun mal kein
Gedächtnis. Komm her, laß dir gratulieren und dir alles
Gute wünschen, du Mordsmarjellchen. Hast du einen
Wunsch?«
»Ja – immer in deinem Betrieb arbeiten zu dürfen«, kam
die Antwort spontan, und er betrachtete sie kopfschüttelnd.
»Bescheidenes Gemüt! Meinetwegen magst du darin alt
und grau werden. Doch ich hoffe, daß das Schicksal
Erfreulicheres für dich in Bereitschaft hält. Wie spät ist es?
Zwanzig Minuten vor acht. Die reichen aus, um uns hier an
Kaffee und Kuchen laben zu können. Säble nur ein

tüchtiges Stück davon ab, Schwesterherz!«
Während er sich mit einem behaglichen Schnaufer an den
Tisch setzte, brachte der Sohn seinen Glückwunsch beim
Geburtstagskind an. Dann nahm auch er Platz, Philchen
holte zwei Tassen herbei, und das Schmausen konnte
beginnen.
»Weiß der Kuckuck, Philchen, in deinem kleinen Reich hier
lugt die Behaglichkeit aus allen Zipfeln«, stellte der Bruder
seufzend fest. »Wenn ich dagegen an mein ›trautes Heim‹
denke – na, Schwamm drüber! Gib mir noch ein Stück
Kuchen und dem Jungen da auch. Dem hat das liebe

background image

Schicksal auch nicht gerade Rosen auf seinen Weg
gestreut.«

Man wußte genau, daß er damit die Ehe des Sohnes
meinte. Doch dieser stellte sich gleich den anderen dumm
und sagte lachend:
»Na, Vater, auf Rosen zu wandeln ist auch gerade kein
Vergnügen. Denk an die Dornen!«
»Hast recht, es ist eben nichts vollkommen auf der Welt.
Und nun, ran an die Arbeit! Stürzen wir uns noch am
letzten Tag des Jahres hinein – und dann feiern wir wieder
ein bißchen. Unter uns wäre mir das zwar lieber, aber
Gäste müssen ja auch einmal sein.
Was lachst du so spitzbübisch?« sah er die Schwester
mißtrauisch an. »Willst du etwa mit deinem Liebling auch

heute auskneifen, wie du es Weihnachten so feige tatest?«
»I bewahre«, winkte sie vergnügt ab. »Diesmal will ich mit
meinem Liebling prunken. Dazu habe ich ihm ja die
reizende Verpackung auf dem Tisch da geschenkt.«
»Pfui, Philchen, jetzt wirst du boshaft!« war Silje entrüstet.
»Als Paradestück werde ich dich bestimmt enttäuschen.«
»Na, ich weiß nicht«, betrachtete der Vormund sein
bezauberndes Mündel augenzwinkernd. »Und wie steht es
mit dem Schmuck?«
»Na, Onkelchen, mehr behängen kann ich mich doch wohl
noch kaum«, sie zeigte lachend auf Ring, Armband und
Kette. »Höchstens noch ein Ring durch die Nase.«

»Du bist mir schon ein Rackerchen!« drohte er
schmunzelnd. »Aber wie wär’s, wenn der gestrenge Senior
der niedlichen kleinen Tippmamsell für heute Urlaub
geben würde, hm?«
»Nein, Onkel Philipp, daraus wird nichts! Fräulein
Luischen hat heute noch so viel zu erledigen. Und wenn
ich ihr auch nicht viel helfen kann, so ist es immerhin
etwas.«
Damit schlüpfte sie in den Mantel, drückte einen Kuß auf
Philchens Wangen und ging in Begleitung der beiden Chefs
zum Dienst.

background image

Und das bemerkte Thea, die gerade aus ihrem Zimmer auf
den Gang trat. Zuerst starrte sie den drei

Davonschreitenden perplex nach, dann eilte sie in das
Schlafzimmer der Schwägerin, die wie gewöhnlich um
diese Zeit noch schlief und nun sehr ungehalten über die
frühe Störung war.
»Was plagt dich eigentlich, mich hier so rücksichtslos aus
dem Schlaf zu reißen! Ich weiß sowieso schon nicht, wie
ich den Tag herumkriegen soll.«
»Halt hier keine langen Reden«, unterbrach Thea sie heftig.
»Eben sind Papa und Eike mit diesem fremden Mädchen
aus Tante Philchens Wohnzimmer gekommen. Wir müssen
herauskriegen, was die beiden Herren schon am frühen
Morgen da wollten.«

Dazu war Ilona mit Freuden bereit. Denn alles, was in
diesem »Eulennest« irgendwie aus dem Rahmen fiel, nahm
sie mit Begeisterung auf.
Schnell schlüpfte sie in die Pantöffelchen, zog ein
Morgenkleid über und folgte der Schwägerin.
Thea klopfte und betrat nun, von Ilona gefolgt, das
Wohnzimmer der Tante, die zuerst verwundert guckte und
dann gleich ironisch sagte:
»Ach so, ihr kommt, um die Lage zu peilen. Beruhigt euch,
es geht hier alles mit rechten Dingen zu – auch wenn ich
schon am frühen Morgen den Besuch von Bruder und
Neffen empfange. Und damit euch vor Neugierde nicht

womöglich noch die Augen aus dem Kopf fallen, meine
Lieben, so will ich euch erklären, was dieses hier zu
bedeuten hat. Es ist der Geburtstagstisch, den ich für
Fräulein Berledes herrichtete. Seid ihr nun zufrieden?«
»Ja – aber das muß doch viel Geld gekostet haben«, zeigte
Thea konsterniert auf den Tisch, und Philchen lächelte so
recht niederträchtig.
»Das hat es allerdings. Aber es ist ja schließlich mein Geld,
nicht wahr?«
»Das schon«, mußte Thea zugeben, wenn auch widerwillig.
»Ja – und was haben Papa und Eike dem fremden Mädchen

background image

geschenkt?«
»Nichts – absolut nichts.«

»Und was wollten sie denn hier?«
»Das Lachen eines frischfröhlichen Menschenkindes lockte
sie an, als sie an dieser Tür vorübergingen. Es gibt Gott sei
Dank noch Menschen auf der Welt, die schon am frühen
Morgen so herzfroh und unbekümmert lachen können.
Tut’s auch, und es wird in diesem muffigen Haus bald ein
frischer Wind wehen.«
»Tante Philine, ich habe doch wohl das Recht, zu erfahren,
was mein Mann bei diesem Mädchen-«, setzte Ilona empört
an, kam jedoch nicht weiter, weil die Tante ihr mit einer
herrischen Gebärde das Wort abschnitt.
Die zierliche Gestalt schien förmlich zu wachsen, in den

blauen Augen lag ein kaltes Drohen- und so drohend klang
es auch, als sie sprach:
»Behalte die weiteren Worte lieber für dich – sonst müßte
ich dich nämlich aus meiner Wohnung weisen. Ich glaube,
wir haben uns verstanden, nicht wahr?«
Ihr einen giftigen Blick zuwerfend, wandte sich Ilona brüsk
ab, ging hinaus, und Thea folgte wie ein begossener Pudel.
Das Hadebrecht-Haus öffnete nicht oft seine gastliche
Pforte, doch wenn es geschah, wurde in den weiten
Räumen die Pracht entfaltet, wie sie dem reichen Hause
zukam. Einmal im Jahr gab es eine »lukullische
Abfütterung«, wie der Fabrikherr sich spöttisch

auszudrücken pflegte. Dann wurden alle die Menschen
eingeladen, denen man in geschäftlicher sowie privater
Hinsicht irgendwie verpflichtet war. Einige davon fanden
sich auch öfter ein, und zu denen gehörten auch
diejenigen, die heute erwartet wurden und die Silje aus
Philchens launigem Bericht bereits dem Namen nach
kannte.
Und nun lernte sie diese auch persönlich kennen.
Man war ordentlich betroffen, als man das Mündel des
Hausherrn, von dem man natürlich schon gehört hatte, in
Augenschein nehmen konnte. Wie denn – es sollte doch so

background image

ein armes, geducktes Wesen sein, dem man in diesem Haus
aus Gnade und Barmherzigkeit ein Asyl gewährte? – Und

nun dieses entzückende Menschenkind, das die Natur mit
allen Reizen ausgestattet hatte? Die elegante Kleidung tat
noch ein übriges dazu – kurz und gut, die Menschen waren
wie verzaubert.
Hauptsächlich Siljes Tischherr, Seifling junior, machte kein
Hehl daraus, wie gut ihm seine Dame gefiel. Wäre es nach
ihm gegangen, hätte er sie gewissermaßen vom Fleck weg
geheiratet, und seine Eltern hätten noch nicht einmal was
dagegen gehabt. Allerdings, die Mitgift. Aber der reiche
Hadebrecht würde sein Mündel, das außerdem noch die
Stieftochter seines verstorbenen Sohnes war, bestimmt
nicht als Kirchenmäuslein in die Ehe gehen lassen.

Und Silje selbst? – Die amüsierte sich köstlich über die
Bemühungen ihres Tischherrn, dessen Augen sie an die
eines Schellfisches erinnerten. Sein rundes Haupt zeigte
schon jetzt recht schütteres Haar, und die untersetzte
Gestalt stand auf strammen O-Beinen. Aber Mannerchen
kam sich unwiderstehlich schön vor, was die vernarrten
Eltern ganz in Ordnung fanden.
Außerdem gab es in dem heutigen Kreis noch zwei ledige
Herren, von denen Silje auch recht wohlgefällig betrachtet
wurde. Und diese hatten mit ihrer Hand zusammen auch
noch allerlei zu vergeben, was geldlich gesehen nicht so
ohne war. Der stattliche Witwer, Mitte Dreißig, besaß eine

große Eisengießerei, und der andere, auch ein Mann in den
besten Jahren, betrieb einen schwungvollen Textilhandel.
Er sah wie aus dem Ei gepellt aus und legte viel Wert
darauf, als ein Mann von Welt betrachtet zu werden.
Eigentlich liebte er nur mondäne Frauen, aber dieses kleine
süße Mädchen in seiner natürlichen, taufrischen Schönheit
schien ihm dennoch sehr zu gefallen.
Das merkte Ilona und ärgerte sich. Was fiel dem Bergau
denn plötzlich ein? Er starrte dieses »Schneegänschen« ja
wie verzaubert an! So was konnte sie absolut nicht
vertragen. Wo sie mit ihrer berückenden Schönheit

background image

auftauchte, hatte die sämtliche übrige Weiblichkeit zu
verblassen.

Sie sah auch tatächlich gut aus, die kapriziöse Elona. Sehr
mondän gekleidet, sehr raffiniert zurechtgemacht; denn in
dieser Hinsicht war ihre Zofe Meisterin. Und dennoch – ihr
fehlte das gewisse Etwas, das die junge Silje Berledes so
unwiderstehlich machte.
Thea fand sich natürlich auch sehr schön, hatte ihre
kostbare Gewandung auch wirklich gut gewählt.
Trotzdem schien die Kleidung irgendwie nicht zu ihr zu
passen. Man hatte das Gefühl, als ob die üppige Gestalt aus
allen Nähten platzen müßte. Dazu trugen wahrscheinlich
ihre unbeholfenen, phlegmatischen Bewegungen bei, die
den Anschein erweckten, als wäre die Frau sich selbst im

Wege.
Zu dem sehr stattlichen Eisengießer hätte sie figürlich gut
gepaßt, das wäre ein respektables Paar geworden. Diesem
Traum gab sich Thea denn auch hin, obwohl sie eigentlich
keine Veranlassung dazu hatte. Aber komme einer gegen
sein Herz an, das ein zweites Eheglück ersehnt!
Und dieses schien das »fremde Mädchen« ernstlich zu
gefährden. Da war es wahrlich kein Wunder, daß Thea ihm
immer mehr gram wurde.
Und was sagte die nette, hübsche Bärbel zu dem reizenden
Zuwachs des Hauses Hadebrecht, der heute hier im
Mittelpunkt stand? Sie lächelte – denn sie war gescheit. Sie

sagte sich, daß es den Menschen zukommt, etwas
Wunderschönes entzückt zu betrachten. Sie tat es ja auch.
Nachdem die Tafel aufgehoben war, vergnügte man sich
mit den üblichen Silvesterscherzen. Und dabei tat sich
Ilona groß hervor und erreichte es auch wirklich,
Hauptperson zu sein, wie sie es unbedingt verlangte. Sie
arrangierte die belustigenden Spiele, wobei sie Spitzen
verteilte, die ausgerechnet auf Silje Berledes zielten. Doch
diese war schlagfertig genug, um immer gleich contra zu
geben.
Und Philchen freute sich. Recht so, Marjellchen! – dachte

background image

sie schadenfroh. Laß dir nichts gefallen, zeig deinen beiden
Widersacherinnen die Zähnchen! Sie sind dir ja doch nicht

gewachsen, weder was deine Schönheit noch deinen
beweglichen Geist anbetrifft.
Ilona, die beim Pfandauslösen selbstverständlich als
Richter fungierte, schielte unter dem Tuch, das ihre Augen
verdeckte, natürlich hervor. Eben hielt Mannerchen, der ihr
assistierte, ein entzückendes Abendtäschchen empor. Und
kaum, daß er seine Formel hergesagt hatte, schmetterte ihre
Stimme hell und laut wie eine Fanfare, es mutete an wie
eine Aufforderung zum Kampf:
»Der oder die soll singen!«
Zuerst fast betroffene Stille, in die dann Siljes Stimme
lachend klang:

»Ach, du liebes bißchen, ich soll singen? Ei, und wenn ich
es nicht kann?«
»Na, singen kann doch wohl jeder«, bemerkte Ilona
hämisch, die soeben die Binde von den Augen nahm, da
das letzte Pfand ausgerufen war. »Wie, ist allerdings eine
andere Frage. Aber wir werden milde Kritiker sein, nicht
wahr, meine Herrschaften?«
Lachende Zustimmung wurde laut, und Ilona versteckte
ihre Schadenfreude hinter Gutmütigkeit.
»Nun, wenn Sie sich genieren, dann will ich für Sie
eintreten«, erbot sie sich gönnerhaft.
Ohne Silje überhaupt erst zu einem Entscheid kommen zu

lassen, setzte sie sich an den Stutzflügel, der in dem Saal
stand, wo man sich trotz der verhältnismäßig wenigen
Personen aufhielt, weil hier der Weihnachtsbaum
aufgestellt war.
Der große Flügel behauptete im Wohngemach seinen Platz,
damit man ihn zu jeder Zeit benutzen konnte, was
hauptsächlich der Sohn des Hauses tat, der wohl nicht so
ein Genie war wie sein berühmter Bruder, aber immerhin
über den Durchschnitt musikalisch.
Aber Ilona hielt sich unbedingt für ein Genie und hatte
auch tatsächlich einen gutgeschulten Sopran, mit dem sie

background image

gern brillierte, ob man nun einverstanden war oder nicht.
Sie begleitete sich auch stets selbst, worauf sie sich noch

etwas einbildete.
Man lauschte Spiel und Gesang auch wirklich gern, wurde
jedoch unruhig, als Lied auf Lied folgte, woran die Sängerin
sich förmlich berauschte. Nebenan fuhr schon der Diener
den Servierwagen mit den Sektflaschen auf.
Doch Ilona sah und hörte nichts. Sie sang, als müßte sie
damit einen Preis erringen.
»Mach bitte Schluß!« grollte da der Baß des Hausherrn in
ein Liebeslied hinein. »Es ist gleich zwölf Uhr.«
Und dann ging alles ganz rasch. Die Sektpfropfen knallten,
die Kelche wurden gefüllt und verteilt. Man gruppierte sich
um den Weihnachtsbaum, an dem die Kerzen strahlten. Es

war genau zwei Minuten vor zwölf.
Philchen, die etwas abseits neben Silje stand, hob dieser
verstohlen das Glas entgegen und flüsterte ihr zu:
»Vor neunzehn Jahren um diese Zeit schriest du dich
gerade in die Welt. Mädchen, was bin ich doch froh, daß
du es tatest! Prosit, auf dein Glück, das auch immer das
meine sein wird!«
Leise klangen die Gläser zusammen, man tat einen langen
Zug.
»Was macht ihr denn da?« fragte Ilona laut und
vernehmlich in die feierliche Stille hinein. »Könnt ihr denn
nicht warten?«

»Prosit Neujahr!« rief der Hausherr mit Stentorstimme
dazwischen. Und während man fröhlich anstieß, läuteten
die Glocken von den Türmen der Stadt, und von den
beiden Fabriken gellten die Sirenen. Dann knatterte es,
heulte und pfiff von Feuerwerkskörpern aller Art, die man
auf dem weiten Gelände übermütig losließ.
Aus dem Saal traten alle auf den Balkon, ergötzten sich ein
Weilchen an dem sprühenden Schauspiel, nahmen dann
wieder im Zimmer Platz und ließen sich nun die
lukullischen Happen gut schmecken, die wie hingezaubert
plötzlich dastanden.

background image

»Nun, Herr Seifling, haben Sie Fräulein Berledes ihr
Täschchen wiedergegeben?« fragte Ilona spitz das eifrig

kauende Mannerchen, das erst den guten Bissen
hinunterschluckte und dann eigensinnig den Kopf
schüttelte.
»Nein, ich tu es erst, wenn das Pfand richtig eingelöst ist.
Anders ist es Schiebung, und das lehnt ein fairer Kaufmann
ab.«
»Bravo!« schmunzelte der Hausherr, die giftigen Blicke
seiner Schwiegertochter ignorierend. Sie war sowieso schon
wütend auf den »Despoten«, weil er ihr herrliches Spiel
vorhin so »banausisch« unterbrochen hatte. Und nun sagte
dieses lächerliche Mannerchen auch noch treuherzig:
»Das geht bestimmt nicht gegen Ihren Gesang, gnädige

Frau. Sie wissen ja, daß ich ihn gern höre. Aber sein Pfand
muß schon jeder selbst einlösen, einspringen gibt’s da
nicht. Man kann ja auch nicht zum Zahnarzt gehen und
sich für einen andern einen Zahn ziehen lassen.«
Weiter kam er nicht, weil stürmische Heiterkeit losbrach,
die Ilona natürlich übel vermerkte. Denn ihren Gesang mit
Zahnziehen zu vergleichen – das war denn doch wirklich
die Höhe!
»Herr Seifling, ich muß doch sehr bitten!« legte sie empört
los, doch der Schwiegervater winkte ab, während er sich die
Lachtränen aus den Augen wischte.
»Ach was, Ilona, sei kein Frosch! Mannerchen hat sich im

Eifer unglücklich ausgedrückt. Stimmt’s?«
»Na, was denn sonst?« fragte er verwundert dagegen. »Und
nun singen Sie endlich, gnädiges Fräulein, sonst behalte ich
Ihr Pfand ein.«
»Sind Sie hartnäckig!« seufzte das Mädchen, und Muttchen
Seifling strahlte.
»Das war er schon immer, unser Mannerchen. Nun tun Sie
ihm schon den Gefallen, Fräulein Suchen, den zu erfüllen,
ist doch wahrlich nicht schwer! Wenn Sie steckenbleiben,
kommt Mannerchen Ihnen helfen. Er hat einen so
wunderbaren Tenor.«

background image

»Na schön«, resignierte Silje. »Was soll ich singen?«
»Was jetzt so richtig paßt, gnädiges Fräulein«, strahlte

Mannerchen. »Seit ich ihn gesehen, glaub ich blind zu
sein.«
Silje ging’s nicht so gut wie dem Hausherrn, Philchen und
Eike, die blitzschnell zum Taschentuch griffen und es an
Nase und Mund drückten. Sie mußte ohne diese Tarnung
antworten. Doch während sie es tat, zuckte es ihr
verdächtig um Augen und Lippen.
»Das Lied kenne ich leider nicht, Herr Seifling.«
»Schade! Aber etwas von Liebe muß es unbedingt sein.«
»Darf ich einen Vorschlag machen?« meldete sich die
Hausherrin, die bisher kaum etwas gesprochen hatte, wie es
so ihre stille Art war. »Ich kenne da so ein altes Liedchen,

das ich in meiner Jugend sang- und das mir später mein
Sohn Thomas vorsingen mußte…«
Die letzten Worte klangen schon tränenerstickt. Es trat eine
peinliche Stille ein, in die Philchen dann mit gemachter
Munterkeit hineinsprach, der Schwägerin dabei herzlich
zunickend:
»Silje kennt das Liedchen und wird es dir gern vorsingen.
Nicht wahr, mein Kleines?«
»Gewiß«, zeigte das Mädchen sich bereitwillig, obwohl es
ihm nicht leichtfallen würde, in der fremden Gesellschaft
gerade dieses Lied zu singen.
Sie setzte sich an den Flügel, und schon trat

erwartungsvolle Stille ein.
Jetzt wird sie sich endlich blamieren – dachte Ilona
schadenfroh. Eine Frechheit überhaupt, sich nach meinem
wunderbaren Gesang hören zu lassen! Aber mir schon
recht – hinterher singe ich dann wieder.
Mit hämischem Lächeln schmiegte sie sich in den Sessel,
dabei nicht ahnend, daß vier Augen sie beobachteten. Wie
Unwillen huschte es über das rassige Antlitz des Mannes,
doch seine Tante lachte in sich hinein.
Und dann klang eine Stimme auf, süß und verhalten, voll
jugendlichem Schmelz und zarter Innigkeit:

background image


»Wenn sich zwei Herzen finden,

so muß es für immer sein,
sie soll’n sich einander verbinden,
eins soll das andre betreu’n.
Beim ersten Kuß am Morgen,
beim letzten beim Schlafengeh’n.
soll ohne Bang und Sorgen
eines dem andern gestehn:
Ich liebe dich – und du liebst mich,
so bleiben die Herzen minniglich,
bis daß der Tod sie scheide…«

So innig wie ein Gebet verklangen Spiel und Gesang. Müde

sanken die schlanken Mädchenhände von den Tasten, der
umflorte Blick der wundersamen Mädchenaugen schien in
unermessene Ferne zu tauchen – in die Ferne der
Erinnerung.
Denn dieses kleine alte Lied, von den Menschen der
Jetztzeit nachsichtig belächelt, war wie ein Treueschwur
gewesen zwischen der geliebten Mutti und dem nicht
weniger geliebten Paps. Es wurde ihnen zum Morgen- und
Nachtgebet.
»Sentimentaler Kitsch!« höhnte es da laut und vernehmlich
in die andächtige Stille hinein.
Man zuckte richtig zusammen und sah Ilona unfreundlich

an. Am liebsten hätte man sie empört zurechtgewiesen.
Doch das konnten die Gäste nicht, und die Angehörigen
wollten es in Gegenwart eben dieser Gäste zu keinem
peinlichen Auftritt kommen lassen.
So taten sie denn alle, als hätten sie die taktlose Bemerkung
nicht gehört, und spendeten der holden Sängerin ganz
besonders herzlichen Beifall.
Man schien auch nicht zu sehen, daß der Hausherrin die
hellen Tränen übers Gesicht liefen, griff rasch zum Glas,
prostete der verlegenen Silje zu und lachte belustigt, als
Mannerchen in theatralischer Pose der Besitzerin das

background image

Täschchen überreichte. Er beugte dabei sogar ein Knie, was
bei seiner O-Beinigkeit drollig genug anmutete.

»Und nun bitte ich um den ersten Tanz, Sie kleine
Nachtigall!« tat er forsch. »Stellt das Radio an, das wird
bestimmt flotte Musik liefern.«
O ja, die Musik war flott, sehr sogar. Denn man war auf der
Sendestation der Ansicht, daß die ersten Stunden im neuen
Jahr der Jugend gehörten. Es quäkte und schepperte, heulte
und pfiff, als wären alle Teufel losgelassen. Mannerchens
O-Beine flogen nur so in grotesken Verrenkungen. Und da
seine Tanzpartnerin sich vor Lachen bog, wirkte sie ganz
zünftig bei der Hopserei.
Als dann ein Tango aufklang, verneigte sich Bergau vor
Ilona, Mannerchen vor Bärbel, der Eisengießer Tarknitt vor

Thea und Hadebrecht junior vor Silje. Auch die beiden
Ehepaare machten vergnügt mit, bis auf die Gastgeber und
Philchen. Eine Dame war sowieso zuviel, und so trat
letztere gern zurück. Lachend lehnte sie ab, als der Bruder
sie aufforderte.
»Laß nur, alter Kampf- und Streitgenosse, zu diesem Tanz
gehört Grazie, und die habe ich nicht.«
»Und wie ist es mit dir, Muttchen?«
»Ich sehe lieber zu.«
»Na, Gott sei Dank, daß ihr so vernünftig seid!« lachte er in
seinem dröhnenden Baß. »Aber seht euch mal das
Mannerchen an, der tanzt bestimmt jeden Tanz nach der

gleichen Schablone. – Aber Silje und Eike, potztausend, das
ist ja die reinste Augenweide! Jetzt seh ich erst, welch eine
wunderbare Gestalt der Junge hat, und wie er den Frack
trägt, das ist tatsächlich Noblesse! Noch nie ist mir das so
aufgefallen wie jetzt.«
»Du hast ihn ja auch noch nie mit einer so bezaubernden
Partnerin tanzen sehen«, bemerkte Philchen trocken. »Gut,
daß Ilona dieses Paar nicht genau beobachten kann, weil
sie selbst tanzt.«
»Was befürchtest du?« warf der Bruder kurz ein.
»Eifersucht, mein Lieber.«

background image

»Da sei Gott vor!« sagte Ottilie leise. »Sonst könnten wir
bei Ilonas Unbeherrschtheit noch was erleben. Die macht

unserm Jungen und dem schuldlosen Mädchen das Leben
zur Hölle.«
»Na, mehr als sie es bei ihrem Mann jetzt schon tut, geht es
wohl kaum noch«, grollte Philipp. »Paß mir gut auf die
Kleine auf, Philchen, damit ihr ja kein Leid geschieht! Sie
ist mir nämlich sehr ans Herz gewachsen.«
»Worauf du dich verlassen kannst, Bruderherz.«
»Nun, dann bin ich beruhigt.«
Weiter konnte man nicht sprechen, da der Tango beendet
war. Man legte nun eine Tanzpause ein. Selbst
Mannerchen, obwohl es jetzt aus dem Kasten wieder
quäkte und schepperte. Er hatte für heute genug. Und da

auch die anderen müde waren, trennte man sich bald mit
herzlichem Dank an die Gastgeber.
Wenig später lagen dann die unteren Räume im Dunkel, da
sich jeder in sein Schlafzimmer zurückgezogen hatte.
Der junge Herr des Hauses war gerade zu Bett gegangen, als
die Gattin, die holde, mit Vehemenz hereinplatzte. Sie
machte ohnehin schon keinen erfreulichen Eindruck in
ihrem nächtlichen Make-up, aber wie sie nun dastand, die
Hände in die Hüften gestemmt, das Gesicht vor Wut
verzerrt, konnte man geradezu einen Abscheu vor ihr
bekommen. Was sie dem Gatten hauptsächlich vorwarf,
waren seine »Altmännermanieren«, sein Mangel an Elan

und Vitalität.
Ungerührt hörte er sich diesen Sermon mit an, zuckte nur
die Schultern und meinte ironisch:
»Sei froh, daß du dir noch immer wie ein Backfisch
vorkommen kannst, obwohl die Dreißig bedenklich naht!«
Damit knipste er die Nachttischlampe aus, legte sich auf
die Seite – und krachend schlug die Tür zwischen den
ehelichen Gemächern zu.
Verblüfft schaute Philchen, die auch schon in ihrem
weichen Pfühl ruhte, auf die lichte Gestalt, die wie ein
Elflein durch die breite Tür ins Zimmer schwebte. Hurtig

background image

wippten die Füße, die in niedlichen Pantöffelchen steckten,
im Walzerschritt über den Teppich. Das Nachtkleid in

Kniehöhe zierlich gerafft, den Kopf zurückgeworfen, um
den weichen Mund ein Schelmenlächeln, so tanzte es
leichtbeschwingt heran, das strahlend schöne Geschöpf,
eine Melodie vor sich hin summend.
»Schade, daß Mannerchen dich nicht so sehen kann!«
bemerkte Philchen schmunzelnd, und schon riß der
Solotanz ab, und die grazile Tänzerin ließ sich auf dem
Bettrand nieder.
»Lieber nicht!« lachte sie übermütig. »Dann würden seine
Schellfischaugen noch mehr herausquellen und ihm am
Ende gar aus dem Kopf fallen.«
»Na, beängstigend sah es sowieso schon aus«, bemerkte

Philchen trocken. »Hauptsächlich, als du sangst. Du hast
aber auch ein Stimmchen, Kleine, daß einem das Herz
aufgehen kann!«
»Ihr wart aber auch alle milde Kritiker.«
»Hm – und Ilona?«
»Deren Urteil war von vornherein befangen, weil sie mich
nicht leiden kann«, tat Silje gleichmütig ab. »Warum, das
ist mir allerdings nicht klar, denn ich bin ihr doch
keinesfalls im Wege. Bei Frau Thea ist die Abneigung, die
sie gegen mich hat, noch zu verstehen, weil sie fürchtet,
daß sie durch mich in der Versorgung irgendwie zu kurz
kommt, aber Frau Ilona hat doch ihren Mann.«

»Eben«, warf Philchen unbedacht ein, tat jedoch harmlos,
als das Mädchen sie erstaunt ansah. Zärtlich streichelte sie
über die gleißende Lockenpracht, die zur Nacht von einem
Seidenband umwunden war, das auf dem Scheitel in einer
lustigen Schleife endete. Duftig umbauschte das
Nachtgewand den jungendschönen Körper.
»Geh schlafen, mein Kind«, sagte die Tante weich. »Schlaf
gut ins neue Lebensjahr hinein, und laß dir durch niemand
und nichts dein goldiges Lachen und deinen Frohsinn
rauben.«
Es war eine Woche später, als der Senior der Familie

background image

Hadebrecht in das Wohnzimmer trat, wo man sich um den
Kamin geschart hatte, dem eine mollige Wärme entströmte.

Mit der Zentralheizung zusammen schaffte er es, dem
hohen, weiten Gemach die behagliche Temperatur zu
geben, die die Kälte draußen vergessen ließ. Nur die dicken
Eisblumen an den Fenstern erinnerten daran, die jetzt von
der langsam sinkenden Wintersonne goldigrot überstrahlt
wurden.
Es war Sonnabendnachmittag, den auch die beiden Herren
des Hauses geruhsam genießen konnten, da dann die
Arbeit in den Fabriken ruhte. Stillvergnügt rauchten sie ihre
Pfeifen, während Frau Ottilie an einem Kleidchen für Ute
und Philchen an einem Pullover für Silje strickten.
Ilona jedoch musizierte und tat es noch nicht einmal

schlecht. Man hörte geduldig zu und fuhr erschrocken
zusammen, als Thea ins Zimmer stürzte, vor Erregung
zitternd und tränenüberströmt. Achtlos zerrte sie den
Mantel vom Körper, warf ihn auf die Erde, schleuderte
Handschuhe nebst Mütze in die Gegend und sank in den
nächsten Sessel. Ein Weinen klang auf, das man schon mit
wütend bezeichnen konnte.
»Ja, was ist dir denn passiert?« fand der Vater endlich die
Sprache, der gleich den anderen wie erstarrt dem
Temperamentsausbruch gefolgt war. »Was kann wohl
imstande sein, dich aus deinem sonst so
bewundernswerten Phlegma zu reißen. Hat dir etwa einer

etwas weggenommen?«
»Ja, ja, ja – das ist’s! Dieses fremde Mädchen hat mir
meinen geliebten Herbert Tarknitt weggenommen! Oh, ich
Arme!«
Zuerst sahen sich alle verblüfft an, dann war es wieder der
Vater, der sprach, und zwar scharf:
»Werde hier nicht theatralisch, sondern erkläre klipp und
klar, was dich zu dieser Anschuldigung berechtigt!«
»Philipp«, mahnte die Gattin leise. »Unser Kind.«
»Ist überschwenglich, das weiß ich schon längst«, schnitt er
ihr kurz das Wort ab. »Wie kann man überhaupt einem

background image

Menschen etwas wegnehmen, was er gar nicht besitzt?«
»Er war aber auf dem besten Wege, mein zu werden«, klagte

Thea, und die beiden Herren sowie Philchen machten bei
dem überschwenglichen »Mein zu werden – « ein Gesicht,
als hätten sie mit einem hohlen Zahn auf Zucker gebissen.
Frau Ottilie sah bekümmert vor sich hin, und Ilona fand es
höchst interessant, was ihrer Schwägerin Kummer bereitete.
Endlich war in diesem »Eulennest« mal etwas los.
»Wäre mein geworden«, schwelgte Thea weiter in Tragik,
»wenn diese Circe ihn nicht betört hätte.«
»Schaf«, bemerkte Philchen trocken, während die langen
Nadeln in ihren flinken Fingern lustig klirrten. »Wenn du
dich schon in so hochtrabenden Beziehungen ergehst,
dann wende sie wenigstens richtig an. Ich jedenfalls stelle

mir eine Circe anders vor als so ein neunzehnjähriges,
frischfröhliches Menschenkind, wie Silje Berledes es ist.
Und nun sag endlich, was du dieser Circe vorzuwerfen
hast.«
»Ich sah sie mit meinem Herbert auf der Eisbahn. Sie
tanzten gerade einen Walzer zusammen. Ach, mir ist bei
dem Anblick fast das Herz gebrochen!«
»Ist nur gut, daß du ›fast‹ sagst«, blieb Philchen ungerührt.
»Aber hab nur Geduld, es wird bald ›ganz‹ brechen, wenn
ein Ereignis eintritt, das mir so schwant.«
»Mir auch«, brummte der Vater, dem der Jammer seiner
Tochter gar nicht zu Herzen ging, weil es eben kein Jammer

war, sondern die Einbildung eines überspannten Gemüts.
Denn Liebe konnte es doch unmöglich sein, in die Thea
sich zu Tarknitt verrannt hatte. Zu diesem Geschäftsmann,
der mit beiden Beinen auf der Erde stand und nicht in
höheren Regionen schwebte, wie die junge Frau selbst es
tat und wie es auch ihr männliches Ideal war, das sie in
dem verstorbenen Gatten gefunden hatte – oder gefunden
zu haben glaubte. Dem es trotz aller »Feingeistigkeit«
gelungen war, die beträchtliche Mitgift seiner Gattin in acht
Ehejahren durchzubringen, bei seinen noblen Passionen
und seiner Rauschgiftsucht, aus der Thea stets ein

background image

Geheimnis gemacht hatte, bis – ja, bis ein Gehirnschlag
den immerhin noch jungen Mann dahinraffte. Da mußte

sie dann den Angehörigen gegenüber das Geheimnis
lüften.
Daran dachten jetzt die Menschen, die hier
zusammensaßen – außer Ilona. Die kannte das Geheimnis
nämlich nicht, und das war gut. Sonst wäre es bestimmt
nicht lange ein Geheimnis geblieben.
»Waren noch mehr Bekannte auf der Eisbahn?« erkundigte
sie sich jetzt neugierig bei der Schwägerin, und diese
antwortete mürrisch:
»Ich sah nur noch Fräulein Balduin und den jungen
Seifling, die auch zusammen tanzten. Dieses Paar lachte
dabei harmlos, doch das andere sah sich selbstvergessen in

die Augen.«
»Mitten in dem Trubel!« warf Philchen trocken ein. »Mein
liebes Kind, wenn sich ein junges Paar selbstvergessen in
die Augen sehen will, dann sucht es sich ein stilles
Plätzchen dafür aus und nicht die Eisbahn, wo es von
Schlittschuhläufern nur so wimmelt.
Das erstens. Und zweitens hätte Silje sich zu diesem
süßseligen Stelldichein heimlich weggeschlichen und nicht
ohne jede Spur von Verlegenheit gesagt, daß sie sich mit
Fräulein Balduin zum Schlittschuhlauf verabredet hätte.
Und mit spitzbübischem Lächeln setzte sie noch hinzu,
daß sich da auch bestimmt Herr Tarknitt einfinden würde.«

»Eben, weil sie sich mit ihm verabredet hat! Oh, ich
Arme!«
Da sprang Philchen auf.
»Ich entfleuche! Auf Wiedersehen beim Abendessen!«
Dazu erschien sie dann auch mit Silje, die wie stets, wenn
sie in diesen Kreis trat, von einer Zurückhaltung war, die
man fast mit Unnahbarkeit bezeichnen konnte. Selbst
Philchen und ihrem Bruder gegenüber ging sie nicht aus
sich heraus. Sprach sie nie an, sondern gab artig Antwort,
wenn diese sie etwas fragten. Das tat von den anderen nur
noch Ilona, und zwar nur dann, wenn es mit irgendeiner

background image

Bosheit verbunden war, die Silje aber einfach ignorierte.
Daher war sie erstaunt, als Thea in hochfahrendem Ton

fragte:
»Wie kommen Sie denn dazu, Fräulein, sich an Herrn
Tarknitt heranzumachen?«
Zuerst sah Silje sie verdutzt an, doch dann umzuckte ein
spöttisches Lächeln ihren Mund. Es war ein mitleidiger
Blick, der die Fragerin streifte, die sich unter diesem immer
mehr erregte. Doch ehe sie das junge Mädchen weiter
angreifen oder der Vater seine aggressive Tochter
zurechtweisen konnte, sprach Philchen schon pomadig:
»Theachen, schaff dir den ›Knigge‹ an und lies lieber den
als die Ergüsse überspannter Poeten. Darin steht nämlich
alles, was dir an gutem Benehmen fehlt. Im übrigen

möchte ich dir kund und zu wissen tun, daß Herr Tarknitt
sich mit Fräulein Balduin verlobt hat, und zwar heute auf
der Eisbahn. Und was sagst du nun?«
Thea sagte nichts, weil diese ungeheuerliche Nachricht ihr
den Mund verschloß. Nicht mal die beliebte Klage: Oh, ich
Arme! – brachte sie heraus, sondern stand »leidverstummt«
auf und wankte aus dem Zimmer.
Das wirkte alles so theatralisch, daß sie nicht einmal der
Mutter richtig leid tun konnte.
»Sag mal, Mutterchen, wo haben wir bloß diese Tochter
her?« sagte Philipp kopfschüttelnd. »Wir beide sind doch
ganz vernünftige Leute und unser Jüngster auch. Selbst

Thomas war nicht so exaltiert, obwohl ihm das als Künstler
eher noch zugekommen wäre.«
»Ja, ich weiß auch nicht«, seufzte die Gattin. »Mir ist Theas
Art schon immer etwas fremd gewesen. Hoffentlich
nehmen wir ihren Kummer nicht zu leicht.«
»Da mach dir keine Sorge«, tat Philchen ungerührt ab. »Die
leidet mit Genuß!«
»Aber Philchen!«
»Doch, Ottichen, glaube es mir. Die ist ganz glücklich
dabei. Die kann auf Kommando lieben und leiden. Sollst
einmal sehen, wenn ein anderer ›Herzensschwarm‹ für sie

background image

auftaucht, dann ist das alte Leid vergessen und die neue
Liebe da.«

»Gott geb’s«, wünschte die Mutter bedrückt. »Ach, daß sich
wieder ein Mann für sie findet. Dann hätte sie wenigstens
Pflichten. Denn: Etwas fürchten, hoffen und sorgen muß
der Mensch für den kommenden Morgen, und das fehlt
Thea eben.«
»Nanu, Frauchen, du kannst ja poetisch sein!« schmunzelte
der Gatte. »Ob unsere Tochter das nicht doch von dir hat?«
»Ach, Philipp, mir ist gar nicht zum Scherzen zumute. Was
mag Thea oben treiben?«
»Sie liest Gedichte von der Liebe Leid«, brachte Philchen so
trocken heraus, daß die anderen herzlich lachen mußten.
Auch Frau Ottilie. Und das war es, was Philchen bezweckt

hatte.
Und es war tatsächlich so. Thea suchte Trost in der Poesie.
Sie schwelgte darin und hatte somit gar keine Zeit, in »Leid
zu versinken«. Sie war wohl noch etwas wehleidiger als
sonst, klagte noch ein wenig mehr, benahm sich jedoch im
großen und ganzen ziemlich vernünftig.
Außerdem geschah etwas, das der Familie Hadebrecht
wirklich Anlaß zur Besorgnis gab. Die Hausherrin
erkrankte, was man zuerst nicht weiter tragisch nahm, weil
man es für eine Erkältung hielt. Doch als das Fieber nicht
weichen wollte und die Kranke zusehends verfiel, begann
man sich ernstlich um sie zu sorgen.

Man berief hintereinander zwei Ärzte, die nach einer
gründlichen Untersuchung die Überzeugung äußerten, die
Kranke habe kein organisches Leiden, das Herz sei sogar
ganz gut intakt. Also müßte es mit den Nerven
zusammenhängen, und ein entsprechender Kuraufenthalt
wäre nur zu empfehlen.
Doch davon wollte die Kranke nichts wissen. Sie sträubte
sich dagegen mit einem Eigensinn, der an der sonst so
sanften, nachgiebigen Frau fremd war. Sie wollte nichts
weiter als im Bett liegen, die nötige Betreuung und
Unterhaltung haben – und ausgerechnet durch Silje

background image

Berledes, die erst zu der Kranken kam, als diese ihr
Erscheinen ausdrücklich wünschte.

Keinen von ihren Angehörigen mochte Frau Ottilie so gern
um sich haben wie dieses junge Menschenkind, von dem
sie auch die bitterste Medizin willig nahm. Silje verstand es
aber auch ganz besonders gut, mit der Kranken
umzugehen, und niemand wußte so lieb von Thomas zu
plaudern wie dessen Stieftochter.
Nicht genug konnte die Mutter über das Leben ihres so
schmerzlich betrauerten Ältesten hören, jede kleinste
Begebenheit war ihr wichtig. Und als Silje gar erzählte, daß
sie die Schülerin des Künstlers gewesen war, mußte sie die
Geige holen – und diese herzinnige, zärtliche Musik wurde
der Kranken jedesmal zur Feierstunde.

Und Silje gelang es sogar, Frau Ottilie zu dem
Kuraufenthalt zu überreden. Darüber waren die
Angehörigen froh, und Thea erbot sich sofort, die Mutter
zu begleiten.
Doch da hatte sie die Rechnung ohne die eigensinnige
Rekonvaleszentin gemacht. Gegen eine Begleitung war sie
durchaus nicht, sie wünschte diese sogar. Aber dafür käme
nur Silje in Frage – basta!
»Lassen wir ihr den Willen«, entschied der Gatte. »Seien wir
froh, daß sie überhaupt noch einen hat – und daß wir sie
noch haben.«
So fuhr denn Frau Ottilie ganz zufrieden mit der

gewünschten Begleitung ab, bejammert von Thea, die sich
in dieser argen Welt nicht mehr zurechtfinden konnte. Wo
gab’s denn so was, daß eine Mutter ihr Kind zugunsten
eines fremden Mädchens zurücksetzte, es lieber um sich
haben wollte als ihr eigen Fleisch und Blut!
Geduldig hörten Vater, Bruder und Tante diese eigentlich
berechtigten Klagen mit an; doch die Schwägerin Ilona
packte ihre Koffer. Dieses ewige Geplärre fiel ihr einfach
auf die Nerven, sie hielt es nicht mehr länger in dem
»Eulennest« aus. Da fuhr sie doch lieber zu ihren Eltern, die
unbeschwert von allen Kümmernissen ihr Leben genossen!

background image

Doch schon drei Wochen später mußte sie aus dieser
unbekümmerten Atmosphäre in das geschmähte Haus

zurückkehren, weil sie den Eltern im Wege war. Ilona war
nämlich bei einer Bobfahrt so unglücklich gestürzt, daß das
Rückgrat verletzt zu sein schien. Genaues stand noch nicht
fest, aber man konnte nie wissen. Jedenfalls konnte sie das
eine Bein nur mühsam bewegen und auch dann nur unter
Schmerzen.
Ratlos standen die Eltern vor ihrer jammernden Tochter,
wußten absolut nichts mit ihr anzufangen. Aber wozu hatte
sie denn einen Gatten, dem sie vertrauensvoll ihr »Kleinod«
in die Hände gegeben hatten? Also telegraphiert und den
Mann herbeigerufen an die Stätte seiner Pflicht.
Und da dieser Mann seine Pflichten ernst nahm, erschien

er auch umgehend, sehr zur Erleichterung seiner
Schwiegereltern. Sie legten es ihm nahe, daß die Frau nun
einmal zu ihrem Mann gehöre, und so blieb ihm nichts
anderes übrig, als mit ihr die Heimreise anzutreten,
wogegen sie sich gar nicht sträubte.
Und nun hatte man wieder eine Kranke im Hause, und was
für eine! Da man sie nicht aufregen wollte, mußte man
sich ihren unbeherrschten Launen fügen. Hauptsächlich
der Gatte. Die anderen ließen es bei einem täglichen
Pflichtbesuch bewenden, der jedoch jedesmal eine
Nervenprobe für sie wurde. Aber sie muckten nie auf, weil
Ilona ihnen leid tat. Denn mit neunundzwanzig Jahren

sich nur mühsam vorwärtsbewegen können, vielleicht gar
bis zum Lebensende, das war schon etwas, das tiefe Tragik
in sich barg.
Es verging kaum ein Tag, an dem Ilonas Eltern nicht an
ihren Schwiegersohn schrieben, ihn beschworen,
Kapazitäten mit der Behandlung der »heißgeliebten
Tochter« zu betrauen. Dazu schickten sie Geld, viel Geld,
doch sie selbst ließen sich nicht im Hadebrecht-Haus
blicken.
»Schofles Pack!« schimpfte Philipp, während sich beim
Anblick des Sohnes sein Herz schmerzend zusammenzog.

background image

Müde und blaß sah Eike aus, wie um Jahre gealtert. Der
hatte schon sein Päckchen zu tragen, der arme Kerl! Das

Schlimmste war, daß man es ihm nicht erleichtern konnte.
Von alledem ahnten Frau Ottilie und Silje nichts. Sie lebten
in dem Badeort wie in einem Paradies dahin. Fragten nicht
nach heute und morgen. Ließen sich treiben wie
Menschen, denen jede Sorge fernlag. Wie Kletten hingen sie
aneinander, die alternde Frau und das bezaubernde junge
Menschenkind, dem so mancher Männerblick
aufleuchtend folgte.
Doch das bemerkte Silje Berledes nicht. Sie widmete sich
ganz ihrer Schutzbefohlenen, die mit jedem Tag wohler
und vergnügter wurde. Und als der sie betreuende Arzt
verkündete, daß sie nun wieder ganz auf der Höhe wäre,

sah sie ihn ungläubig an.
»Wirklich, Herr Doktor, fehlt mir bestimmt nichts mehr?«
forschte sie mißtrauisch, und er lachte.
»Wirklich, gnädige Frau. Sie haben sich in den fünf
Wochen hier ganz prächtig erholt und könnten, wenn Sie
wollten, Bäume aus der Erde reißen. Aber lassen Sie das
gnädige Fräulein nicht mehr von Ihrer Seite, das in seiner
herzbezwingenden Fröhlichkeit wie ein Jungquell auf Sie
wirkt.«
Nun, das hatte Frau Ottilie auch gar nicht vor. So trafen sie
im Hadebrecht-Haus ein, wo sie erst jetzt von dem Unfall
Ilonas erfuhren. Man hatte ihn absichtlich verschwiegen,

um die Erholung der Genesenden nicht zu beeinträchtigen.
»Schade«, meinte Ottilie bedauernd. »Ich habe mir das
Nachhausekommen glückhafter vorgestellt. Ist es denn
wirklich so arg mit Ilona?«
»Sieh sie dir an, Mutter«, entgegnete Eike bedrückt, was sie
denn auch tat.
Ihr Herz zog sich beim Anblick der Verletzten zusammen,
aber nicht Ilonas wegen allein, sondern auch um des
Sohnes willen, der nun vielleicht sein Leben lang an eine
leidende Frau gebunden war. Denn daß er diese nicht
aufgeben würde, wußte die Mutter genau. Das vertrug sich

background image

nicht mit seinen unerschütterlichen Ehrbegriffen.
Mit Frau Ottilie war eine Wandlung vorgegangen, die ihre

Angehörigen zuerst kaum fassen konnten. Zwar war sie
auch jetzt noch nicht lebhaft, aber doch nicht mehr so still
und gottergeben wie früher.
»Muttchen, wie du jetzt bist, könntest du mir wieder so gut
gefallen wie einst im Mai«, gestand der Gatte schmunzelnd,
als man an einem Abend beisammensaß. »Ordentlich jung
bist du geworden.«
»Jetzt bin ich auch wieder gesund«, entgegnete sie froh.
»Der Arzt meint, die Krankheit hätte schon lange in mir
gesteckt. Es ist ein Segen für mich, daß sie endlich ausbrach
und mit dem hohen Fieber der Körper alles Krankhafte
ausstieß. Die Kur hat noch ein übriges getan – na, und

dann wollen wir meinen ›Jungquell‹ nicht vergessen!«
nickte sie Silje herzlich zu, die auf ihre Bitte jetzt auch
außer den Mahlzeiten im Familienkreis weilte.
Ottilie war sogar mit Philchen in Streit geraten, als diese
dagegen protestierte, daß die Schwägerin »ihre Silje« jetzt
so ausgiebig mit Beschlag belegte.
Darüber amüsierten sich die beiden Herren. Thea war
erbittert, daß jetzt auch die Mama so ein Aufhebens von
dem »fremden Mädchen« machte, und Ilona hielt sich
nervös die Ohren zu. »Laßt doch den Streit um dieses
dumme Ding!« verlangte sie ungehalten. »Nehmt gefälligst
Rücksicht auf mich, ihr wißt doch, daß ich mich nicht

aufregen darf!«
Man unterließ die Frage, warum sie sich eigentlich aufrege,
eben weil man Rücksicht auf sie nahm. Viel zu sehr sogar.
Und als Ilona erst merkte, wie geduldig man ihr gegenüber
war, kam sie sich als Hauptperson vor und maßte sich auch
die Rechte einer solchen an. Verlangte, daß sich in diesem
Haus alles um sie drehte. Sofern ihr etwas nicht paßte,
verfiel sie in Weinkrämpfe, bei denen man leider niemals
feststellen konnte, ob sie echt waren oder nicht.
Man atmete jedesmal befreit auf, wenn Eike sie nach oben
trug und sie dort der Pflegerin übergab, die sehr gut mit

background image

ihrem Pflegling fertig wurde, weil an ihrer
unerschütterlichen Ruhe jede Hysterie wirkungslos

abprallte.
Die geplagten Menschen fragten sich immer wieder, wie
das einmal enden sollte. Lange, das wußten sie, würden sie
diese Tyrannei der Kranken nicht mehr aushalten.
Hauptsächlich Eike nicht, der immer müder und blasser
wurde. Er hatte ja auch am ärgsten unter der Herrschsucht
und Niedertracht seiner Frau zu leiden. Den Rat des Arztes
zu befolgen und sie in eine Klinik zu geben, wagte er nicht.
Vielleicht war sie doch kränker, als man annahm, und es
könnte ihren Tod bedeuten, wenn sie trotz ihres heftigen
Sträubens aus dem Hause gebracht wurde; und dann
müßte er sich sein Leben lang mit Vorwürfen plagen. Und

da seine Angehörigen die gleiche Befürchtung hegten, blieb
alles so, wie es war.
So herrschte Ilona denn auch wieder einmal an einem
Sonnabendnachmittag wie ein böser Geist in der geplagten
Familie. Draußen lachte die Sonne; denn es war
mittlerweile Frühling geworden. Gern hätte man die Tür,
die zur Terrasse führte, geöffnet, doch damit war Ilona
nicht einverstanden. Sie führte gehässige Reden, daß es
dem Herrn Gemahl wohl so passen würde, wenn sie sich in
der Zugluft den Tod holte – dann wäre er endlich frei für
eine andere, die schon lange die Angel nach ihm auswürfe.
Dabei sah sie Silje so höhnisch an, daß diese bis in die

Lippen erblaßte, und genauso blaß wurde das rassige
Männerantlitz.
Doch damit brachte Ilona das Maß ihrer Niedertracht zum
Überlaufen. Das Gesicht des Seniors lief rot an, die Adern
lagen dick auf der Stirn, die Augen blitzten unter den
buschigen Brauen hervor.
Doch ehe das Gewitter noch losbrechen konnte, hatte Ilona
schon ein neues Opfer gefunden, an dem sie ihre Wut
auslassen konnte. Und zwar Anka, die neben Ute auf dem
Teppich saß, unglückseligerweise in Reichweite von Ilona.
Es war gewiß nicht böse gemeint, als die Kleine dem

background image

Bäschen das Bilderbuch aus den Händen nahm; im
Gegenteil, sie wollte Ute etwas erklären. Doch ehe sie dazu

kommen konnte, hatte Ilona sie bei den Haaren gefaßt, zu
sich herangezogen und schlug mit der Faust in das zarte
Gesicht.
»Ich werde es dir schon abgewöhnen, mein Kind zu
tyrannisieren, du unleidliches Gör!« kreischte sie dabei wie
eine Furie.
Sekundenlang saßen alle wie erstarrt da, selbst Anka vergaß
vor Schreck zu schreien. Sie flüchtete zur Mutter, während
Ute, der Silje am nächsten saß, bei dieser Schutz suchte. Sie
kletterte flink auf ihren Schoß, umklammerte ihren Hals
und sah aus schreckgeweiteten Augen zur Mutter hin, die
jetzt außer sich vor Wut schrie:

»Sofort lassen Sie mein Kind los – Sie – Sie – «
Weiter kam sie nicht, weil sich eine feste Männerhand auf
ihren Mund legte. Eike ließ auch nicht los, als die wie
rasend gewordene Frau hineinbiß und mit den Armen um
sich schlug.
Doch das half ihr alles nichts. Ehe sie sich versah, hatte der
Gatte sie schon gepackt und hielt sie dabei so fest, daß sie
sich nicht rühren konnte. Allerdings hatte sie jetzt den
Mund wieder frei, den sie aufriß, um ihren Mann zu
beschimpfen, während er sie hinaustrug.
Blaß bis in die Lippen, starrten die Zurückbleibenden
ihnen nach. Selbst Philchen, die doch nicht so leicht zu

erschüttern war, zitterte an allen Gliedern. Sie war die erste,
die sprechen konnte; allerdings wollte ihr die Stimme
dabei kaum gehorchen.
»Das mach ich nicht mehr länger mit, und Silje auch nicht.
Die Frau wird ja direkt gemeingefährlich! Am besten ist,
Eike bringt sie ins Irrenhaus.«
»Wohin sie auch gehört«, knurrte ihr Bruder verbissen. »Ich
muß dem Jungen beispringen, der mit der Furie allein
bestimmt nicht fertig wird.«
Damit eilte er davon, und Thea weinte auf. Und diesmal
mit Recht, denn das Gesichtchen ihrer Tochter sah böse

background image

aus. Das eine Auge war dick angeschwollen.
»Mein armes Kind, wie siehst du nur aus! Man müßte die

tobsüchtige Person wegen Kindesmißhandlung anzeigen.
Aber das sage ich, wenn sie nicht bald aus dem Haus
kommt, dann gehe ich! Man ist ja hier seines Lebens nicht
mehr sicher.«
Das jammerte sie auch Vater und Bruder vor, als diese bald
darauf wieder eintraten. Sie sahen beide blaß aus, und quer
auf der Wange Eikes klebte ein Leukoplaststreifen. Seine
Haltung hatte etwas Müdes, Verzweiflungsvolles, als er sich
in den Sessel sinken ließ. Seine Hand, mit der er das
Feuerzeug gegen die Zigarette hielt, zitterte heftig.
»Junge, deine Hand blutet ja!« bemerkte die Mutter leise,
doch er winkte müde ab.

»Das ist nicht so schlimm, das passiert mir nicht zum
ersten Mal«, entgegnete er bitter. »Hör auf zu jammern,
Thea, ich kann das jetzt nicht ertragen.«
»Ach so, aber ich soll es ertragen können, wenn man mein
Kind halbtot schlägt.«
»Laß das jetzt!« fuhr der Vater sie an, was sie denn auch
tiefgekränkt tat. »Ich habe Dr. Tolk angerufen und ihn
gebeten, noch heute herzukommen, was er auch versprach.
Ich fürchte nur, daß der Nervenarzt mit Ilona nichts wird
anfangen können, weil diese Art von Krankheit nicht in
sein Ressort fällt. Er kann wohl Nerven heilen, aber keine
chronische Niedertracht.«

Und tatsächlich bestätigte der Arzt, der schon wenige
Stunden später eingetroffen war und Ilona gründlich
untersucht hatte, für diesen Fall nicht kompetent zu sein.
Er würde den Angehörigen den guten Rat geben, diese
unbeherrschte und launenhafte Dame nicht im Hause zu
behalten, sondern sie von einer Kapazität an Ort und Stelle
behandeln zu lassen. Ob sie schon etwas von Professor
Lutz gehört hätten?
»Selbstverständlich«, entgegnete Eike. »Es ist mir jedoch
trotz aller Bemühungen nicht gelungen, den berühmten
Arzt zu konsultieren.«

background image

»Nun, das ist bei dem Vielbeschäftigten auch nicht so
einfach«, gab Tolk zu bedenken. »Aber da er ein Freund

von mir ist, wird er mir wohl den Gefallen tun und sich die
Kranke hier ansehen. Und wenn er sie in seiner Klinik
aufnehmen will, können wir froh sein, denn dann ist die
Garantie für eine Heilung gegeben.«
»Ich fürchte nur, daß meine Frau nicht zu bewegen sein
wird, von Hause fortzugehen«, meinte Eike.
Aber der andere lachte.
»Wenn das Ihre ganze Sorge ist, kann ich Sie davon
befreien. Professor Lutz wird auch mit den widerspenstigen
Patienten fertig, er behandelt sie ganz individuell. Zwar
könnte ich Ihnen jetzt schon sagen, Herr Hadebrecht, wozu
er Ihnen nach der Heilung Ihrer Gattin raten wird, aber ich

will ihm nicht vorgreifen«, setzte er schmunzelnd hinzu.
Dann verabschiedete er sich eilig, weil seine Zeit knapp
bemessen war.
Und tatsächlich erschien am nächsten Tag Professor Lutz
im Hadebrecht-Haus und flößte den bangenden Menschen
dort schon durch sein bloßes Erscheinen Vertrauen ein. Er
war von unscheinbarer Gestalt, hatte jedoch ein kluges
Gesicht und gütige Augen, die aber zu gegebener Zeit scharf
und streng blicken konnten.
Er ließ sich von Eike den Hergang und Verlauf der
Krankheit schildern, hörte auch die letzte Begebenheit mit
an und sagte dann ruhig:

»Das scheint hier ein Fall von ganz besonderer
Unbeherrschtheit und Launenhaftigkeit zu sein. Sie und
Ihre Angehörigen sind wahrscheinlich zu ängstlich, um
dem energisch entgegenzutreten. Sie lassen sich lieber
tyrannisieren und peinigen bis aufs Blut. Nun, ich will mir
diese verwöhnte Dame einmal ansehen, und wenn es
lohnt, nehme ich sie mit. Das heißt, wenn Sie damit
einverstanden sind.«
»Ich schon, Herr Professor. Aber meine Frau wird bestimmt
nicht mit Ihnen kommen.«
»Da haben wir’s!« lachte Lutz. »Mein lieber Freund, wer viel

background image

fragt, kriegt viel Antwort. Sie sollen mal sehen, wie
vergnügt Ihre Gattin mit mir losgondeln wird! Oder haben

Sie Bedenken, daß ich da Mittel anwenden könnte.«
»Aber keineswegs!« unterbrach Eike ihn rasch. »Ich habe
sogar das größte Vertrauen zu Ihnen, Herr Professor.
Übernehmen Sie bitte die Behandlung meiner Frau.«
Wenig später betraten sie dann das Zimmer, wo Ilona
ihnen mit vor Mißtrauen funkelnden Augen entgegensah.
»Sind Sie etwa ein Arzt?« fragte sie böse.
»Ich bin so frei, meine Gnädigste. Mein Name ist Lutz.«
»Na, wenn schon. Gehen Sie, ich lasse mich nicht wieder
untersuchen.«
»Wer sagt Ihnen denn, daß ich das will?« lachte der Arzt sie
freundlich an. »Ich sehe auch so, was Ihnen fehlt.«

»Und das wäre?«
»Eine kleine Salonkur in meiner Klinik. Denn ein Mensch,
der so lustig in dem Sessel herumhampeln kann, bei dem
ist das Rückgrat allenfalls geschwächt, aber bestimmt nicht
beschädigt. Wollen wir wetten, daß wir beide nach gar
nicht mal so langer Zeit einen flotten Boogie-Woogie
zusammen tanzen?«
»Oh, mein Gott, das werde ich nicht mehr können – nie
mehr!« schrie sie hysterisch auf. »Ich bin ein
erbarmungswürdiges Opfer des Schicksals. Geben Sie mir
lieber Gift!«
»Das könnte Ihnen so passen!« lachte er gemütlich. »Und

nun geben Sie hier nicht so an, meine Gnädigste, damit
machen Sie sich nur lächerlich und fallen Ihren
Mitmenschen auf die Nerven. Seien Sie hübsch friedlich,
und kommen Sie mit mir. Sie sollen mal sehen, wie
glänzend wir beide uns vertragen werden!«
»Nein, ich geh nicht mit Ihnen. Lassen Sie mich in Ruhe!«
»Bitte sehr, ganz wie Sie wünschen«, entgegnete er.
»Meinetwegen bleiben Sie hier sitzen. Nur, daß Sie bald
den Sessel mit dem Rollstuhl vertauschen müssen.«
Damit schien der erfahrene Arzt sozusagen den Nagel auf
den Kopf getroffen zu haben. Denn Ilona wurde zugänglich

background image

– und er frohlockte. Er ließ davon jedoch nichts merken
und erreichte dann auch mit allerlei Schlichen und Listen,

daß die zuerst so mißtrauische Frau langsam Vertrauen zu
ihm faßte. Schließlich erklärte sie sich gnädigst damit
einverstanden, mit ihm in seine Klinik zu fahren.
Am Abend dieses ereignisreichen Tages saß man im
Hadebrecht-Haus seit langer Zeit wieder einmal geruhsam
zusammen. Man konnte es noch gar nicht fassen, daß man
vor dem »kleinen Satan«, wie Philipp seine
Schwiegertochter grimmig benannte, nun endlich Ruhe
haben sollte.
Mitleidig betrachtete man Eike, der wie ein alter Mann
wirkte mit der müden Haltung, dem verhärmten Gesicht
und den umflorten Augen. Wahrlich kein Wunder, da er

bisher keine Nacht ruhig hatte schlafen können, weil eben
dieser kleine Satan ihn auch dann mit Befehlen hin und
her gehetzt hatte.
»Spann für einige Zeit aus, mein Junge«, riet der Vater gütig.
»Reise dahin, wo du dich von deinem Martyrium so richtig
erholen kannst. Es ist kaum zu glauben, daß ein einziger
Mensch es zuwege bringt, seine ganze Umgebung
schachmatt zu kriegen. Aber ich sage euch, wenn Ilona
zurückkommt, lassen wir uns nicht mehr von ihr
tyrannisieren, ob sie gesund ist oder nicht. Dann werden
wir ihr mal ganz gehörig die Zähne zeigen. Erst aber mal ab
mit dir, mein Sohn! Damit du wieder der alte schneidige

Kerl wirst.«
»Dazu fehlt mir nur einige Nächte lang fester, ungestörter
Schlaf, Vater. Trotzdem will ich deinen Rat befolgen und
verreisen. Schon allein deshalb, damit ich den Besuchen
bei meiner Frau, zu denen ich ja wohl verpflichtet bin,
entgehen kann. Also, wenn sie Sehnsucht nach mir haben
sollte«, setzte er mit ironischem Lächeln hinzu, »so laßt ihr
den Bescheid zugehen, daß ich mich mal eine Weile von
ihrer holden Gegenwart erholen möchte.«
So reiste Eike denn am nächsten Tag ab. Und kaum, daß er
weg war, kam auch schon ein Anruf von der Klinik.

background image

Tatsächlich sagte eine Schwester, daß Frau Hadebrecht
große Sehnsucht nach dem Gatten hätte und ihn voll

Ungeduld erwartete.
Philipp, der das Gespräch entgegennahm, schmunzelte, als
er Bescheid gab.
»Dann sagen Sie nur meiner Schwiegertochter, sie möchte
ihre Sehnsucht bezähmen; denn mein Sohn ist auf
unabsehbare Zeit verreist. Ihm sind die Sehnsüchte seiner
Frau nämlich so auf die Nerven gefallen, daß sie
dringender Erholung bedürfen.«
An dem Lachen am anderen Ende der Leitung merkte er,
daß die Schwester ihn sehr gut verstanden hatte.
Als er den Seinen von diesem Gespräch erzählte, gab es
wieder einmal seit langer Zeit unbeschwertes Lachen. Wie

froh war man doch, die Tyrannin nicht mehr im Hause zu
haben! Daß sie sich um ihr Ergehen nicht allzusehr
sorgten, war ihnen gewiß nicht zu verdenken.
Und dann tauchte auch wieder Mannerchen auf, um sich
nach dem Ergehen der lieben Familie Hadebrecht zu
erkundigen. Er hatte nämlich gehört, daß Ilona in der
Klinik und somit nicht mehr dicke Luft im Hause wäre.
Wem der Besuch hauptsächlich galt, darüber war man sich
natürlich klar. Das verrieten schon die strahlenden Augen
Mannerchens, mit denen er seines Herzens Schwarm
anhimmelte. Er hatte ja auch gar zu lange auf den holden
Anblick verzichten müssen, da Silje erst wochenlang Frau

Ottilie gepflegt hatte, dann mit ihr im Bad war und auch
nach ihrer Rückkehr für ihn unsichtbar blieb, weil sie seine
Gesellschaft gewiß nicht suchte. Und die ihre zu suchen,
wagte Mannerchen so lange nicht, weil im Hadebrecht-
Haus der Teufel los wäre, wie man sich unter den
Bekannten erzählte.
Zuerst hatte er immer noch gehofft, Silje bei der Hochzeit
Bärbels zu sehen, die Anfang März im Hause Balduin
stattfand. Aber niemand von den Hadebrechts war dazu
erschienen; man hatte wegen Ilonas Erkrankung abgesagt.
Aber jetzt war die Luft rein, und es verging kaum ein Tag,

background image

an dem Mannerchen nicht erschien. Immer unter
irgendeinem Vorwand, der die Familie Hadebrecht

schmunzeln ließ.
Aber als er gar begann, Silje sogar vom Dienst abzuholen,
wurde es dieser denn doch zu bunt.
»Was mach ich bloß mit diesem aufdringlichen
Menschen?« sagte sie eines Abends im Familienkreis
ungehalten. »Ich kann ihn so schlecht behandeln, wie ich
will, er wankt und weicht einfach nicht mehr von meiner
Seite. Fräulein Luischen neckt mich bereits mit meinem
hartnäckigen Verehrer, und das junge Ehepaar Tarknitt, das
ich heute traf, fragte mich lachend, wann sie zur Verlobung
erscheinen dürften. Und nun lacht ihr mich auch noch aus!
Ist das etwa nett von euch?«

»Aber Kindchen, so viel treue Anhänglichkeit müßte dich
doch rühren statt empören!« zwinkerte der Vormund ihr
verschmitzt zu, und da wurde sie böse.
»Nun gut, man immer weiter so! Mach mir aber bitte keine
Vorwürfe, wenn du dich meinetwegen mit Familie Seifling
entzweien wirst. Und das geschieht unter Garantie, sofern
ich dem lieben Söhnchen einen Korb geben werde.«
»Ei verflixt«, kratzte der Senior sich jetzt den Kopf. »Das
bekämst du wirklich fertig, Marjellchen?«
»Und wie! Daher versuche diese Ungeheuerlichkeit
abzubiegen, indem du ein ernstes Wort mit dem jungen
Seifling sprichst. Ihm klarmachst, daß er erst gar nicht um

mich anhalten soll, weil ich ihn dann abweisen müßte.
Dann bleibt ihm eine Beschämung erspart, und seine
Eltern brauchen erst gar nicht zu erfahren, daß er sich um
mich bewarb.«
»Ja, Kind, wie denkst du dir das eigentlich?« wurde der
Vormund jetzt ernst. »Einem Verliebten Vernunft predigen,
hieße Wasser mit Sieben schöpfen.«
»Ach was, verliebt!« tat sie verächtlich ab. »Du sollst mal
sehen, wie seine Verliebtheit mit einem Schlag geheilt ist,
wenn du ihm sagst, daß ich arm wie eine Kirchenmaus bin.
Er bildet sich nämlich ein, daß du mich aussteuern wirst –

background image

und zwar gut und reichlich. Er will von meiner Mitgift
sogar ein Haus bauen.«

»Hat er das gesagt?« fragte Philipp kurz dazwischen.
»O ja, er genierte sich durchaus nicht.«
»Demnach hat er dir bereits einen Heiratsantrag gemacht?«
»Nein, das nicht. Nur angedeutet, daß es demnächst
geschehen würde. Er müßte sich dazu erst die Erlaubnis
seiner Eltern einholen.«
»Na, da soll doch dieser und jener!« schalt der Mann jetzt
aufgebracht. »Na, warte, Bürschchen, dich knöpfe ich mir
vor! Werde ihm zu verstehen geben, daß ich gar nicht
abgeneigt wäre, meinem Mündel ein Haus zu bauen, das er
jedoch nie beziehen wird.«
So geschah es denn auch. Ganz gehörig machte der

empörte Mann dem o-beinigen Seifling seinen Standpunkt
klar. Kläglich bekannte dieser, daß er Silje Berledes wirklich
liebte und sie bestimmt auch ohne Mitgift heiraten würde.
Aber seine Eltern wären doch nun mal auf eine reiche
Schwiegertochter aus.
»Dann bringen Sie ihnen diese in Gottes Namen, aber
mein Mündel lassen Sie fortan ungeschoren, verstanden?
Das hat der liebe Gott für einen ganz anderen Mann
erschaffen, nicht für so einen armseligen Mitgiftjäger!«
Er war immer noch empört, als er den Seinen diese
Unterredung wortgetreu wiedergab, fiel dann jedoch in ihr
herzliches Lachen ein.

»Ach, was bin ich bloß froh, daß ich diesen Hampelmann
endlich los bin!« sagte Silje inbrünstig. »Ich danke dir auch
für deine energische Mithilfe von ganzem Herzen, Onkel
Philipp!«
»Bitte sehr«, schmunzelte er. »Wenn du wieder mal Bedarf
hast stehe ich gern zur Verfügung.«
Fortan ließ Mannerchen sich nicht mehr blicken, was
bestimmt keinem weh tat. Dafür erschien jedoch ein
anderer Mann im Hadebrecht-Haus, um eine alte
Freundschaft zu erneuern – und zwar mit Thea. Er war ein
Freund ihres verstorbenen Mannes gewesen und hatte in

background image

seinem Haus viel verkehrt. Bis die große Buchhandlung,
der er als Geschäftsführer vorstand, pleite machte und Herr

Reinhold Nargitt sich einen neuen Wirkungskreis suchen
und dazu in eine andere Stadt übersiedeln mußte. Seitdem
hatte Thea nichts mehr von ihm gehört.
Und nun stand er plötzlich da und erzählte
freudestrahlend, daß er die guteingeführte Buchhandlung
in dieser Stadt gekauft hätte, wozu ihm eine Erbschaft
verhalf.
»Na, das ist mal eine köstliche Überraschung!« Thea war
vor Freude ganz aus dem Häuschen. »Lassen Sie sich mit
den Meinen bekannt machen, lieber Reinhold.«
Zufällig waren alle Familienmitglieder, außer Ilona und
Eike natürlich, versammelt und lernten nun den Mann

kennen, von dem Thea schon so viel geschwärmt hatte.
Demnach mußten alle guten Eigenschaften in ihm vereint
sein; und er machte auch wirklich einen sympathischen
Eindruck.
Er gefiel den Hadebrechts, und Frau Ottilie lud ihn gleich
zum Abendessen ein, was er erfreut annahm. Man merkte
ihm an, wie wohl er sich hier fühlte.
Und Theachen – nun, die schwebte sozusagen im siebenten
Himmel.
Als er sich verabschiedete, wurde er zum Wiederkommen
gebeten, was er auch eifrig versprach.
»Na, Thea«, schmunzelte der Vater, »du hast ja richtige

Weihnachtsaugen!«
»Sie strahlen mir aus dem Herzen heraus«, entgegnete sie
theatralisch, weil sie das nun einmal nicht lassen konnte.
»Denn Reinhold hat mir einmal gesagt, daß ich für ihn das
Ideal einer Frau wäre. Er ist ja so ein feiner Mensch, ein
Idealist und Ästhet.«
»Na, na, mein Kind, man immer hübsch auf dem Erdboden
bleiben«, unterbrach der Vater sie, ein wenig peinlich
berührt. »Mach dir nicht zu viele Hoffnungen, sonst ist die
Enttäuschung hinterher wieder groß.«
»Woran du auch immer gleich denkst, Papa!« tat sie

background image

verschämt. »Ich freue mich doch nur, in Reinhold einen
alten lieben Bekannten wiedergefunden zu haben.«

»Na, dann ist ja alles in schönster Ordnung«, brummte er,
gleich den anderen daran denkend, was Philchen damals
sagte: Thea kann auf Kommando lieben und leiden.
»Werden wir leben, werden wir sehen«, sagte er aus diesem
Gedankengang heraus. »Aber jetzt gehen wir erst mal
schlafen, ich bin verflixt müde. Der Junge fehlt mir im
Betrieb an allen Ecken und Enden. Seit er fort ist, merke ich
erst, was er geleistet hat. Einesteils gönne ich ihm die
Ausspannung von ganzem Herzen, andererseits wünschte
ich, er wäre erst wieder hier.«
In dem Moment schlug der Fernsprecher an.
Philchen, die am nächsten saß, nahm den Hörer ab und

meldete sich.
»Ach, du bist es, Ilona?« tat sie gleich darauf erstaunt. »Eike
– nein, der ist noch nicht von seiner Reise zurück. Stimmt,
drei Wochen ist er fort, aber er wird es bestimmt noch
dreimal solange bleiben müssen, weil der Nervenarzt es für
seine Kur notwendig hält. Männer dürfen keine Nerven
haben? Mein liebes Kind, sie sind doch schließlich keine
Büffel. Und wie geht es dir? Miserabel? Das tut mir aber
leid. Schon’ dich nur, und komm’ um Himmels willen
nicht zu früh nach Hause! Was ich damit meine?
Selbstverständlich meine ich es nur gut mit dir… Sie hat
den Hörer aufgeknallt«, legte Philchen nun den ihren in die

Gabel und lachte dabei mit den anderen.
»Na, Philchen, du kannst aber fein schwindeln!« meinte
der Bruder anerkennend. »Aber gut so, behalten wir die
dreimal drei Wochen bei – auch wenn Eike dann
wahrscheinlich schon längst hier ist. Verleugnen wir ihn
einfach.«
»Und wenn Ilona nach Hause kommt und Eike vorfindet?«
gab Frau Ottilie zu bedenken. »Dann können wir uns auf
etwas gefaßt machen. Mir graut schon jetzt davor.«
»Oder sie wird das Grauen kriegen, weil wir ihr allesamt
gehörig die Zähne zeigen werden«, entgegnete Philipp

background image

verbissen. »Und wenn ihr das nicht paßt, dann mag sie sich
zum roten Kuckuck scheren!«

Ruhe und Friede atmete der herrliche Maiabend, und Ruhe
und Friede herrschten auch unter den Menschen, die im
Hadebrecht-Haus auf der Terrasse saßen und andächtig
dem Spiel lauschten, das aus dem Zimmer zart und süß zu
ihnen herüberklang.
Denn dort spielte Silje Berledes auf der kostbaren Geige des
Meisters Thomas Brecht, und Philchen gab auf dem Flügel
die Begleitung dazu. Das war ein Genuß, auf den man
nicht mehr verzichten wollte, seitdem man wußte, welch
eine begabte Schülerin des Meisters die junge Silje gewesen
war, und wie gut Philchen sich dem fast künstlerischen
Spiel anzupassen vermochte. Abends verlangte man

stürmisch ein kleines Konzert.
Selbst Thea machte da mit, was sie noch vor drei Wochen
gewiß nicht getan hätte. Da hätte sie dem »fremden
Mädchen« das Talent bestimmt mißgönnt. Doch seitdem
Reinhold Nargitt erneut in ihr Leben getreten war, befand
sie sich in einer Stimmung, in der sie selbst ihrem ärgsten
Feind alles Gute gegönnt hätte. Und warum auch nicht? Sie
war glücklich.
Erst einmal, weil der Mann, den sie liebte, ihr Gefühl zu
erwidern schien. Gesagt hatte er es ihr allerdings noch
nicht. Dazu war ein Junggeselle von vierzig Jahren, der dem
Leben außerdem noch so unbeholfen gegenüberstand wie

dieser Mann, nicht so schnell bereit. In dem mußte ein so
schwerwiegender Entschluß erst langsam ausreifen.
In den drei Wochen, seitdem er Thea wiedergesehen hatte,
war kaum ein Tag vergangen, an dem er nicht als
gerngesehener Gast ins Hadebrecht-Haus kam. Es war ihm
sogar gelungen, das Mißtrauen, das ihm die aufgeweckte
Anka zuerst entgegenbrachte, zu bekämpfen, was deren
Mutter sehr beglückte.
Aber wer weiß, wie lange der unbeholfene Mann noch
gezögert hätte, wenn ihn nicht die weiche, zärtliche
Stimmung, die über diesem Abend lag, wie unter einem

background image

Zwang hätte handeln lassen.
Langsam versank der rote Sonnenball hinter dem Horizont,

den Himmel ringsum in Farben tauchend, wie sie keine
Meisterhand hätte auf die Leinwand bannen können. Süß
dufteten die Frühlingsblumen von den Beeten, die
Vogelstimmen klangen schon müde und verträumt, und
aus dem Zimmer tönte zart und feierlich das Largo von
Händel, das die Menschen wie ein Zauber einspann. Ihre
Herzen öffneten sich weit.
Und aus diesem Gefühl heraus griff Reinhold Nargitt
behutsam nach der Hand Theas, die neben ihm saß.
Langsam wandte sie den Kopf, sah in die guten
Männeraugen hinein, und zwei Herzen strebten einander
zu.

Die anderen lächelten und ließen sich dann weiter von der
traumhaften Musik einspinnen. Sie konnten von der
Terrasse aus den Mann nicht bemerken, der langsam über
die dicken Teppiche schritt, sich dann gegen den Rahmen
der breiten Flügeltür lehnte und unverwandt auf die
Geigerin schaute.
Aus Siljes feinem Antlitz sahen die Augen träumend ins
Weite, um den Mund lag ein Lächeln von sinnverwirrender
Süße, die lichtbraunen Locken gleißten, als wären
Sonnenfunken darübergestreut.
Mit schönheitsdurstigen Augen nahm der Mann das
zauberhafte Bild in sich auf, sein Ohr erlauschte entzückt

die wundersamen Klänge. Das war ein glückhaftes
Nachhausekommen – und wie ein glückhaftes Symbol für
sein ferneres Leben.
Jetzt schien der verträumte Blicke der Blauaugen etwas zu
erfassen, was das holde Lächeln spitzbübisch werden ließ.
Silje wandte sich Philchen zu, zeigte mit einer
Kopfbewegung zu dem geöffneten Fenster hin – und nun
schmunzelte auch Philchen beim Anblick des Paares, das
mit glückstrahlenden Gesichtern Hand in Hand wie
versunken dasaß. Ein kleines Zwischenspiel als Überleitung
auf dem Klavier – eine innige Weise klang auf, die Geige

background image

setzte gleich darauf ein und als Krönung des Ganzen noch
eine zärtliche Stimme:


»Wenn sich zwei Herzen finden,
so muß es für immer sein…«

Auch sie bemerkten den Mann an der Tür nicht, da sie ihm
den Rücken zuwandten. Erst als die herzinnige Weise
verklang und er applaudierte, fuhren sie herum, starrten die
hohe Männergestalt an – und dann schrie Philchen freudig
auf:
»Eike – Junge, welche wunderbare Überraschung!«
Nun wurden auch die auf der Terrasse mobil. Im Nu war
der Heimgekehrte umringt, bis auf Silje und Reinhold, die

sich abseits hielten. Die konnte Eike erst begrüßen,
nachdem sich der Freudensturm gelegt hatte.
Als ihm Reinhold vorgestellt wurde, lachte er verschmitzt.
»Ich glaube, da kann ich gleich meinen Schwager
begrüßen. Habe ich recht?«
»Und wie!« jubelte Thea. »Ach, Eike, ich bin ja so
glücklich!«
»Na also, Schwesterchen. Nur wissen möchte ich, wie du in
den sechs Wochen, da ich fort war, zu einem Mann
kommen konntest.«
Man erzählte es ihm, nachdem man sich im Zimmer
gemütlich niedergelassen hatte.

Indes stieg der Hausherr in den Keller und griff nach dem
Wein, den er sonst wie ein Zerberus hütete. Aber heute
mußten schon einige Flaschen daran glauben, weil es ein
doppeltes Fest zu feiern gab: Die Verlobung der Tochter
und die Heimkehr des Sohnes.
Fröhlich stieß man an, wobei die Damen bald einen
kleinen Schwips bekamen; denn der Wein hatte es in sich.
Frau Ottilie beteuerte immer wieder, wie glücklich sie wäre,
ihren Jungen so frisch und wohl vor sich zu sehen.
»Ganz wunderbar hast du dich erholt, mein Jungchen. Ach,
wie sehr freue ich mich doch!«

background image

Dabei liefen ihr die hellen Tränen über die Wangen, aber es
waren Freudentränen.

Mit keinem Wort wurde Ilona erwähnt, weil man
überhaupt nicht an sie dachte.
Es war spät, als man sich trennte. Man hatte so richtig
fröhlich gefeiert und begab sich jetzt zufrieden zur Ruhe.
»Na, das hat mit Thea ja wunderbar geklappt!« meinte
Philchen vergnügt, als sie oben mit Silje allein war. »Nun
hat sie glücklich den zweiten Mann gefunden, mit dem sie
in höheren Regionen schweben kann. Nur daß dieser
nebenbei noch ein guter, anständiger Kerl ist, während der
andere im Grunde genommen ein Lump war.«
»Aber Philchen, du hast ja einen Schwips!« lachte Silje
hellauf. »Sonst würdest du nicht solchen Unsinn reden.«

»Einen Schwips habe ich wohl, aber Unsinn rede ich
dennoch nicht. Na, lassen wir es, Thea ist jetzt
wohlverwahrt und aufgehoben. Mir liegt Eike viel mehr am
Herzen, weil ich um den Jungen bangen muß. Er ist jetzt so
frisch, so vergnügt und ausgeruht. Doch sobald Ilona hier
ist, geht wieder das alte Leiden los. Was meinst du wohl,
wieviel Gift sie jetzt ansammelt, um es später mit frischer
Kraft verspritzen zu können! Wenn er sein Kreuz nur
loswerden könnte – aber das wird nicht so einfach sein.«
»Meinst du des Kindes wegen, Philchen?«
»Ach, woher denn!« winkte sie verächtlich ab. »Aus dem
macht Ilona sich bestimmt nichts. Na, wir werden ja sehen.

Um mit Thea zu sprechen: Jetzt lege ich mich erst einmal
zum sanften Schlummer nieder.«
»Ich auch«, lachte Silje fröhlich. »Gut, daß morgen Sonntag
ist! Da kann ich mich gründlich ausschlafen.«
Da hatte sie jedoch die Rechnung ohne Philchen gemacht.
Denn am nächsten Morgen war es gerade erst acht Uhr, als
das Mädchen aus süßen Träumen gerissen wurde.
»Verschlafe hier gefälligst nicht den herrlichen Maimorgen,
du Murmeltierchen! Das wäre ja direkt Sünde. Raus aus
den Federn, auf der Terrasse frühstücken sie bereits.«
»Ach, Philchen, laß mich doch schlafen!«

background image

»Nichts da! Das kannst du machen, wenn es draußen
regnet. Und wenn du nicht in einer halben Stunde unten

bist, gieße ich dir einen Eimer kaltes Wasser übern Kopf,
das ermuntert unter Garantie.«
Lachend verschwand sie, und schon zwanzig Minuten
später erschien Silje auf der Terrasse – lachend, strahlend,
wie der liebliche Maimorgen selbst.
»Guten Morgen allerseits!« grüßte sie fröhlich, und der
Senior schmunzelte.
»Potztausend, Marjellchen, du siehst ja wie blankgeputzt
aus! Und da erzählt uns Philchen, daß sie dich unter
Androhung eines Eimer Wassers aus den Federn holen
mußte. Demnach müßtest du doch jetzt verdrießlich sein.«
»Sollte mir einfallen!« schnitt sie eine Grimasse und steckte

dann das Naschen schnuppernd in die Rosen, die neben
der Tochter des Hauses lagen.
»Von ihm?«
»Ja«, nickte die Gefragte stolz. »Es war für mich ein seliges
Erwachen, als ich diese Boten der Liebe auf meiner Decke
vorfand.«
»Nanu, hat er sie Ihnen denn da hingelegt?« fragte Silje
verdutzt und mußte sich von den anderen auslachen
lassen.
»Soweit kommt es noch!« schmunzelte der Senior.
»Siehst du, mein munterer Zeisig, hättest du Mannerchens
Flehen erhört, würdest du jetzt auch so rosenumnebelt

erwachen.«
»Warum ist es denn nicht so?« wollte Eike wissen. Als man
es ihm erzählte, schmunzelte auch er.
»Schau mal einer das Mannerchen an! Er ist bestimmt nicht
ängstlich, das kann man wohl sagen.«
Dabei lachte er, daß die kräftigen Zähne in dem
braungebrannten Gesicht nur so blitzten. So froh wie jetzt
hatte Silje den Mann noch nicht gesehen. Die Reise schien
tatsächlich Wunder gewirkt zu haben.
Nun traten auch die Kinder an der Hand Fräulein Hertas
auf die Terrasse. Freudestrahlend kletterte Ute auf das Knie

background image

des Vaters, die molligen Händchen fuhren zärtlich über
sein Gesicht. Dann machte sie es sich bequem und sagte

zufrieden:
»So is sön, so sitz is gut, und ihr andern könnt streiten.«
»Das ist ja eine nette Aufforderung!« lachte der Großvater
gleich den anderen herzlich. »Aber weißt du, Marjellchen,
uns ist nach Streiten gar nicht zumute, wir mögen lieber
friedlich sein.«
»Das kann man aber nur, wenn Tante Ilona nicht dabei
ist«, bemerkte Anka, die indes am Tisch Platz genommen
hatte, in ihrer altklugen, bedächtigen Art. »Sonst ist
nämlich hier der Teufel los.«
»Anka!« rief die Mutter entsetzt, und die anderen schauten
peinlich berührt drein.

Rasch lenkte Philchen das Kind von dem gefährlichen
Thema ab, indem sie fragte:
»Du weißt doch sicherlich schon, daß du einen neuen Vater
bekommst?«
»Natürlich, das war das erste, was Mami mir heute früh
erzählte. Ich bin auch ganz froh darüber. Denn ohne einen
Mann, der zu einem gehört, ist doch das ganze Leben
nichts.«
Da mußte man denn doch über die kleine Philosophin
lachen, zumal Ute das Däumchen aus dem Mund nahm
und ernsthaft bestätigte:
»Nein – is auch nix.«

»Na, ihr seid vielleicht Gören!« schmunzelte der Großvater.
»Noch nicht einmal richtig aus den Windeln, fangen sie
schon an zu philosophieren.«
»Ach ja«, seufzte Thea. »Reinhold findet Anka auch zu
altklug. Er meint, es kommt daher, weil sie zuwenig mit
Kindern zusammenkommt.«
»Da hat er recht«, bestätigte der Vater. »Laß sie nicht privat
unterrichten, sondern gib sie in die Schule.«
»Ja, wenn Reinhold das auch meint…«
Das wurde bei ihr fortan zur ständigen Redensart. Was
Reinhold meinte, wurde getan, und was er nicht meinte,

background image

wurde unterlassen.
Thea hatte sich überhaupt, seitdem das Glück sie

heimgesucht, wie sie sich schwärmerisch ausdrückte, zu
ihrem Vorteil verändert. Nur wachte sie nach wie vor
mißtrauisch darüber, daß Silje, diesem »fremden Mädchen«
nicht womöglich geldliche Zugeständnisse gemacht
wurden, die auf ihre Kosten gingen.
Aber da konnte sie beruhigt sein – was Silje verzehrte, das
bezahlte sie nach wie vor. Und was Philchen ihrem
Liebling zusteckte, konnte der Nichte egal sein, was die
Tante dieser auch am nächsten Tag ausdrücklich
klarmachte.
»Aber, Tante Philchen, das entgeht mir doch alles!«
beklagte sie sich bitter. »Ich kann doch nicht nackt in die

Ehe gehen.«
»Damit würdest du bestimmt öffentliches Ärgernis
erregen«, bemerkte Philchen trocken, während Eike
amüsiert lachte und die Mutter mißbilligend den Kopf
schüttelte. »Setz dich da mit deinem Vater auseinander.
Wenn er dir was geben will, ist es sein freier Wille. Denn
deine Mitgift ist längst vertan, wie du ja wohl wissen wirst.«
»Aber ich bin doch sein Kind! Wenn das fremde Mädchen
schon verlangt, daß Papa ihm ein Haus baut…«
»Wer verlangt das?« unterbrach Philchen sie jetzt
ungehalten. »Silje womöglich? Ich denk, du hast ’nen
Klaps. Der würde hier schon der Bissen im Hals stecken

bleiben, wenn sie ihn nicht bezahlte. Jedenfalls verbitte ich
mir ein für allemal, daß man mir hier Vorschriften macht!
Ich kann mit meinem Geld machen, was ich will – Gott sei
Dank!«
»Oh, ich arme!«
»Na eben, das haben wir schon lange nicht mehr gehört.
Hoffentlich wirst du dich in deiner Ehe so benehmen, daß
dein Reinhold nicht sagen muß: Oh, ich Armer!«
Da stand Thea auf und wankte hinaus. Ganz wie zu jenen
Zeiten, da das »Glück sie noch nicht heimgesucht hatte«.
»Nun, Ottilie, willst du der gramgebeugten Tochter nicht

background image

nachwanken und mit ihr um die Wette über die
unmögliche Philine jammern?« fragte diese lachend, doch

die Schwägerin winkte ab.
»O nein, denn ich bin mit Thea durchaus nicht eines
Sinnes. Ich weiß gar nicht, woher das Kind diese – diese…«
»Habgier«, half Philchen freundlich aus.
»Nun, so kraß wollen wir es nicht bezeichnen. Es wird sich
noch ein anderer Ausdruck dafür finden lassen.«
»Kommt aber auf dasselbe heraus.«
Sie mußten das Thema fallen lassen, weil der Hausherr zu
ihnen trat, die es sich auf der Terrasse in den Liegestühlen
Wohlsein ließen. Und nachdem auch er sich so einen
bequemen Platz gewählt hatte, steckte er zuerst einmal sein
Pfeifchen in Brand, legte sich behaglich zurück und sagte:

»Diese Silje ist doch ein Mordsmarjellchen, bei dem man
sich auf allerlei Überraschungen gefaßt machen muß. So
auch heute. Ich stand am Fenster meines Arbeitszimmers,
um das Pferd zu beäugen, das wir aus der Konkursmasse
eines Gestüts übernehmen müssen. Zwar verstehe ich
nichts von Pferden, aber daß dieses ein Rassetier war,
konnte selbst ich feststellen.
Und was soll ich euch sagen, kommt doch da unsere Silje
des Weges, stutzt – und tritt dann an den Mann heran, der
das Pferd brachte. Was sie miteinander sprachen, konnte
ich nicht verstehen, aber ich konnte sehen, was
anschließend geschah. Silje mit Eleganz in den Sattel – und

schon preschte sie davon, daß einem Hören und Sehen
verging. Ich nichts wie nach unten und mir diesen
tollkühnen kleinen Racker vorgeknöpft. Er war schon
ziemlich kleinlaut, als er aus dem Sattel rutschte, doch bei
meiner Standpauke füllten sich die Augen mit Tränen. Ich
möchte ihr um Himmels willen nicht böse sein, bettelte
sie. Aber sie hätte beim Anblick des wunderbaren Pferdes
nicht widerstehen können.
Als ich sie fragte, ob sie denn überhaupt reiten könnte, da
strahlten ihre Augen schon wieder. Natürlich, sie hätte ja
schon als kleines Mädchen im Sattel gesessen. Und später,

background image

als mein Sohn ihr Paps wurde, erst recht. Er brauchte diese
frischfröhlichen Ritte als Ausgleich für sein Künstlertum

und war froh, in ihr eine Begleiterin zu finden.
›Mein Paps‹ – dieses scheint bei ihr ganz groß geschrieben
zu werden. Also mag der Junge auch noch so ein Leichtsinn
gewesen sein, seine Frau jedenfalls scheint er vergöttert zu
haben und seine Stieftochter nicht minder. Sonst würde sie
nicht so voller Liebe von ihm sprechen.«
Verstohlen wischte er sich die Tränen aus den Augen, die
Frau Ottilie ungehindert über die Wangen laufen ließ.
Sekundenlang war es sehr still, bis Eike fragte:
»Also wirst du das Pferd behalten, Vater?«
»Ja. Ich möchte Silje damit eine Freude machen, bei der ich
wegen Thomas schon tief genug in Schuld stecke. Warum

lachst du denn so niederträchtig, Philine?«
»Weil du dir mit dem Geschenk den Zorn deiner Tochter
zuziehen würdest. Sie wacht ohnehin schon mit
Argusaugen darüber, daß diesem ›fremden Mädchen‹ um
Himmels willen nur keine Zugeständnisse gemacht
werden, die auf ihre Kosten gehen könnten. Ich hatte
nämlich, bevor du kamst, deswegen gerade eine kleine
Debatte mit ihr. Sie meint, daß mein Geld ihr eher zukäme
als eben diesem ›fremden Mädchen‹ weil sie verbrieft und
versiegelt meine Nichte ist. Und wenn du als ihr leiblicher
Vater diesem bemißgünstigten Mädchen ein Pferd schenkst,
dann sehe ich schwarz.«

»Da soll doch dieser und jener!« brauste der Bruder auf.
»Soweit kommt das noch, daß man vor seinen eigenen
Kindern Angst haben und ihnen über jeden Pfennig, den
man besitzt, Rechenschaft ablegen muß! Thea hat das Erbe,
das ihr zusteht, längst erhalten und von dem süchtigen
Herrn Gemahl vergeuden lassen.«
»Philipp«, mahnte die Gattin leise dazwischen, »das ist ja
nun alles schon längst vorbei. Aber ich habe doch das
kleine Vermögen, das ich aus dem Nachlaß meines Vaters
erhielt. Damit werde ich schon sorgen, daß unsere Tochter
nicht mit leeren Händen in die zweite Ehe geht. Und

background image

soweit ich dich kenne, wirst auch du dein Scherflein dazu
beitragen.«

»Scherflein ist gut!« brummte der Mann verdrossen. »Als ob
unserer habgierigen Tochter damit gedient wäre! Bei der
muß es immer gleich in die x-Tausende gehen, sonst ist es
eine Lappalie. Und wenn sie da noch so Zetermordio
schreit – das Pferd bekommt Silje doch!«
»Hugh, ich habe gesprochen«, hätte man daruntersetzen
können. Was man auch tat, weil des Herrn Wille nun mal
Gottes Wille ist.
Dieser Wille ward nun von Philchen kundgetan, als sie am
Abend ihren Liebling für sich allein hatte.
»Um Himmels willen!« hob Silje erschrocken die Hände.
»Das würde ja einen Klamauk geben!«

»Von wem denn, wenn ich fragen darf?«
»Von deiner Nichte Thea. Die zählt mir sowieso schon
jeden Bissen in den Mund, damit es ja nicht mehr werden,
als ich bezahle. Und nun soll ich gar noch ein Pferd haben,
das nicht nur gekauft werden muß, sondern darüber hinaus
noch Kosten verursacht für Verpflegung und Betreuung.
Und – dann überhaupt – wo gibt’s denn so was, daß eine
Angestellte mit zweihundertvierzig Mark netto
Monatsgehalt sich ein Reitpferd leisten kann? Da muß ich
schon den beliebten Ausdruck zitieren, den Paps’
Reitknecht bei jeder brenzlichen Sache anzuwenden
pflegte: Bliew mie vom Wocke!«

»Schaf«, wandte Philichen ihren beliebten Ausdruck an.
»Was schert es dich, wenn die mißgünstige Thea den Stift
zur Hand nimmt und auf den Pfennig ausrechnet, was die
Anschaffung und Unterhaltung deines Reitpferdes kostet?
Die Kosten trage ich.«
»Nein, Philchen, das darfst du nicht!«
»Warum nicht? Soll ich denn gar keine Freude an meinem
Geld haben, das ohne mein Zutun in die Kasse fließt, nur
weil ich das Glück habe, als Tochter wohlhabender Eltern
geboren zu sein? Bin ich nun dein vielgeliebtes Philchen
oder nicht?«

background image

»Doch, sehr sogar – aber – «
»Laß das Aber fort. Noch etwas?«

»Philchen, ich besitze ja gar keinen Reitdreß«, wehrte das
Mädchen sich jetzt mit dem Mut der Verzweiflung. »Den
habe ich damals verkauft.«
»Nun, warum sprichst du nicht weiter? Sag doch ruhig: Den
habe ich verkauft, als mein Paps Pflege brauchte und ich
doch so wenig Geld hatte.«
»Und wenn schon. Was ich für meinen Paps tat, geht
niemand etwas an. Es hätte viel mehr sein müssen, um die
Liebe und Güte vergelten zu können, die er für seine
Stieftochter hatte.«
»So – und daß er durch seinen Leichtsinn das Erbe deiner
Mutter und somit auch das deine verbrauchte? Blitz mich

nicht so empört an, es ist nur eine Tatsache, die ich
feststelle. Und Tatsachen soll man weder bemänteln noch
verschweigen, wenn man Gerechtigkeitssinn besitzt. Und
den besitzen wir Hadebrechts in vollem Maße. Allerdings
lassen wir da auch immer noch das Herz mitsprechen,
wenn es uns angebracht erscheint.
Und nun komm her, mein stolzes Mädchen. Gib dich
deiner alten Tante geschlagen, die so viel mehr
Lebenserfahrung besitzt als du Grünschnäbelchen. Ach, du
willst nicht? Du, ich enterbe dich, und was fängst du dann
an?«
Da war Silje wieder einmal besiegt. Lachend umhalste sie

die Tante, die sie an sich drückte. Und das »Schaf-«, das sie
dabei sagte, klang sehr, sehr zärtlich.
Am nächsten Vormittag, als die Schwägerinnen auf der
Terrasse saßen und handarbeiteten, platzte Thea in ihre
Geruhsamkeit, hochrot im Gesicht.
»Sag mal, Mama, ist es wahr, daß dieses fremde Mädchen
von Papa ein Reitpferd geschenkt bekommen hat? Anka hat
so etwas erlauscht.«
»Aha«, warf Philchen trocken ein. »Daher weht der Wind!
Hoffentlich wird dein Reinhold seiner Stieftochter die
vorwitzigen Ohren stutzen. Aber sprich nur weiter.«

background image

»Tante Philine, daß du deine Spitzfindigkeiten doch nicht
lassen kannst!«

»Genausowenig wie du deine Mißgunst gegen das ›fremde
Mädchen‹«, kam die Antwort prompt. »Aber damit du nicht
länger um das herumzurätseln brauchst, was dir deine
neunmalkluge Tochter zutrug, will ich dir verraten, daß
›das fremde Mädchen‹ wirklich seit gestern glückliche
Besitzerin eines Reitpferdes ist.«
»Aber mein Gott, das kostet doch Geld!« jammerte Thea
dazwischen. »Das kann das Mädchen von seinem Gehalt
doch unmöglich bezahlen. Stell dir mal vor, was ein
Reitpferd selbst schon kostet, und dann die Unterhaltung
noch dazu. Damit kann man ja ein Kind ernähren und
kleiden. Anka hat so manches nötig, aber man kann doch

nicht verlangen, daß ihr Stiefvater – «
»Jetzt hör aber auf, Thea!« wurde das Gejammer nun selbst
der nachsichtigen Mutter zuviel. »Für Anka zahle ich
monatlich hundert Mark aus meiner Tasche, obwohl ich
das gar nicht nötig habe. Denn ein Mann, der eine Witwe
mit Kind heiratet, wird sich wohl denken können, daß er
dieses Kind mit ernähren muß. Und soweit ich Reinhold
beurteile, wird er das als selbstverständlich erachten. Nur
deine Habgier, leider muß ich den krassen Ausdruck jetzt
auch gebrauchen, sucht nach Gründen, um möglichst viel
aus dem Portemonnaie deiner Eltern ziehen zu können.«
»Aber Mama, welch eine vulgäre Bezeichnung!«

»Ach was, vulgär oder nicht! Jedem Menschen reißt einmal
die Geduld, und meine war doch wahrlich langmütig
genug. Vater hat sich mit Reinhold schon längst geeinigt,
der von seiner Großzügigkeit wirklich beschämt war. Und
wenn ich dir einen guten Rat geben darf, dann zeige
diesem wahrhaft anständigen Menschen nie deine
Mißgunst. Das könnte ihn nämlich abstoßen und dein
erwartetes Eheglück beeinträchtigen.«
Man sagt den Menschen nach, daß sie manchmal vor
Verblüffung den Mund zu schließen vergessen – und das
war jetzt bei Thea tatsächlich der Fall. Was war denn

background image

plötzlich mit ihrer sanften, stillen Mutter los? In so
geharnischter Stimmung hatte sie diese noch nie gesehen.

»Mama, was ist dir denn geschehen?« fragte sie ängstlich.
»So spricht eine Mutter doch nicht mit ihrem Kind! Und
ich war dir immer eine gute Tochter.«
»Ja, solange ich dir den Willen tat – und zwar aus
Bequemlichkeit und Schwäche«, bemerkte Ottilie bitter.
»Aber wenn jemand dem Tod so nahe war wie ich, und
dieser gewährt einem denn doch noch eine Frist, dann lernt
man das Leben mit anderen Augen ansehen. Vor allen
Dingen lernt man Gericht halten über sein Tun und Lassen
– auch Unterlassen. Das möchte ich nun nachholen,
solange mir noch Zeit dazu bleibt. Und so möchte ich es
nicht unterlassen, dir zu sagen, daß deine Mißgunst

abstoßend wirkt. Kämpfe also gegen sie an.«
Da ging Thea tiefgekränkt davon, und Philchen
schmunzelte.
»Ottichen, du fängst an, mir direkt zu imponieren. Man
sagt wohl: Ein Mensch von sanftem Charakter macht sich
selbst und andere glücklich – aber ich bin vielmehr der
Ansicht, daß zuviel Sanftmut den Charakter der anderen
verdirbt.«
’ »Ach, weißt du, Philchen, so forsch wie ich tat, war mir
gar nicht zumute«, seufzte Ottilie. »Es will nämlich gelernt
sein, den Menschen seine Meinung zu sagen, was ich bisher
unterließ, um sie nicht zu kränken. Mir hat das vorhin

weher getan als Thea, mit der ich bestimmt nicht immer
einverstanden bin. Aber wie sagt Goethe in ›Hermann und
Dorothea‹
›Denn wir können die Kinder in unserem Sinne nicht
formen; wie der Herr sie uns gab, muß man sie haben und
lieben‹ – und danach habe ich mich immer gerichtet. Nun,
wenigstens Eike ist ganz nach meinem Sinn geworden. Es
ist nur ein Jammer, daß er sich mit der Ehe sein Leben so
verpfuscht hat.«
»Er kann es ja ändern, indem er einen dicken Strich
darunter macht«, tröstete Philchen die betrübte

background image

Schwägerin. »Zwar wird es einen harten Kampf geben, aber
er ist ja Manns genug, um ihn auszufechten.«

»Du denkst an Scheidung, Philchen?«
»Ja, Otti. Das heißt, wenn Ilona ganz gesund werden sollte.
Im anderen Fall würde Eike ihr nie den Laufpaß geben. Das
verträgt sich nicht mit seinen Ehrbegriffen.«
»Und das Kind, Philchen? Kinder sind immer die
Leidtragenden, wenn sich die Eltern scheiden lassen.«
»Das trifft in diesem Fall gewiß nicht zu. Ute hat von ihrer
Mutter so oder so nichts. Allerdings müßte sie dem Vater
zugesprochen werden. Na, warten wir ab. Kommt Zeit,
kommt Rat.«
Während die beiden Damen sich über ungelegte Eier den
Kopf zerbrachen, wie der Bauer zu sagen pflegt, saß Eike

dem Professor Lutz gegenüber, der ihn schmunzelnd
betrachtete.
»Sie sehen gut aus, mein lieber Dr. Hadebrecht, so richtig
erholt und ausgeruht. Ja, ja, solche Eheferien haben es in
sich. Ich pflege sie oft geplagten Ehemännern zu
verschreiben.«
»Ein menschenfreundliches Rezept«, zeigte sich nun auch
auf dem rassigen Männerantlitz ein Schmunzeln. »Und wie
lange werden die für mich noch dauern?«
»Einige Wochen bestimmt noch. Zwar geht es der holden
Gattin erfreulich gut, aber ich möchte sie noch einige Zeit
unter Beobachtung behalten. Sie fühlt sich ja auch recht

wohl hier, seitdem sie mit einer Dame das Zimmer teilt,
die genauso wie sie über die Rücksichtslosigkeit ihres
Eheherrn empört ist. Da können sie sich gegenseitig ihr
Leid klagen, und darüber vergeht die Zeit recht angenehm.
Na, gleich und gleich gesellt sich eben gern.«
»Sie meinen also, Herr Professor, daß meine Frau gesund
wird?«
»Unbedingt. Sie sollen mal sehen, wie wunderbar sie schon
wieder auf den schlanken Beinchen steht. Nur die
Sehnsucht nach dem ›Heißgeliebten‹ ist bisher ungestillt
geblieben. Wollen Sie diese nun stillen?«

background image

»Mir schon recht«, lachte Eike da sein warmes, sonores
Lachen, das dem Arzt, der in seiner Praxis selten so etwas

zu hören bekam, wie Musik klang. »Und ich verspreche
Ihnen, Ihre Patientin nicht aufzuregen.«
»Das tut sie schon selber«, kam die Antwort so trocken, daß
Eike wieder lachen mußte.
Wenig später betrat er an der Seite des Professors ein
Zimmer – und schon prasselte eine Schimpfkanonade los,
die man ihrer Ausdauer wegen bewundern mußte. Die
ganze Wut, die sich während der Wochen in der
temperamentvollen Dame angesammelt hatte, kam über
das Haupt des »mit Sehnsucht Erwarteten«, so daß es selbst
Ilonas Zimmernachbarin zu viel wurde.
»Na, hören Sie mal, das dürfte ich meinem Mann nun

wahrlich nicht bieten!« bemerkte sie bei einer Atempause
der Scheltenden mißbilligend. »Ich glaube, da würde es
Ohrfeigen nur so hageln.«
Darüber lachte der Professor wie über einen Witz, indem er
Eike rasch aus dem Zimmer zog, der nun ganz benommen
neben ihm den langen Korridor entlangschritt.
»Stürmischer Empfang, nicht wahr?« zwinkerte Lutz ihm
zu. »Hoffentlich hat der Herr Dr. jur. die Beweise notiert.
Könnte ein nettes Aktenstück für Beleidigung geben.«
»Ppffff«, stieß Eike den Atem durch die Lippen. »Wenn der
übrige Gesundheitszustand meiner Frau so auf der Höhe ist
wie ihr Mundwerk, dann kann sie wohl zufrieden sein.«

»Kann sie auch, sehr sogar. Aber Zufriedenheit ist nun mal
ein zartes Pflänzchen, das nur spärlich gedeiht. Kommen
Sie mit in mein Zimmer, und trinken Sie einen Kognak,
den haben Sie bestimmt nötig.«
Als er getrunken war, sagte der Arzt sehr ernst:
»Mein lieber Dr. Hadebrecht, nehmen Sie es mir nicht übel,
aber Sie sind zu schade für diese Frau. Nehmen Sie den Rat
eines erfahrenen Mannes und Psychologen an – trennen
Sie sich von ihr. Sonst werden Sie, und Ihre Familie mit
Ihnen, nie zur Ruhe kommen. Und wenn Sie bei der
Scheidung Ihres Kindes wegen Schwierigkeiten haben

background image

sollten, werde ich mich für Sie einsetzen.«
Die Männerhände fanden sich zu einem festen, warmen

Druck, und dann brach bei dem berühmten Mann wieder
der trockene Humor hervor, hinter dem sich so viel warme
Menschlichkeit verbarg.
»Und nun lassen Sie sich Ihre Eheferien weiter gut
bekommen. Lassen Sie sich nicht früher hier blicken, bis
Sie Ihr ›Eheglück‹ ins traute Heim zurückholen können. Ich
hüte es Ihnen indes hier noch einige Wochen lang.«
Lachend trennte man sich, und Eike Hadebrecht fühlte sich
so frei und leicht, wie schon lange nicht mehr.
»Ich habe heute Ilona besucht«, verkündete er den Seinen,
als er mit ihnen nach Tisch beim Mokka saß. »Ihr Leiden
hat sich so erfreulich gebessert, daß sie nach einigen

Wochen als völlig geheilt entlassen werden kann.«
»Und wie war sie sonst, mein Junge?« fragte die Mutter
bang.
»Schlechter Laune.«
»Das sagst du in aller Gelassenheit?«
»Gewiß. Weil ich ihren Launen jetzt anders entgegentreten
kann als während ihrer Krankheit. Und ich bitte euch,
dasselbe zu tun.«
»Das habe ich gottlob nicht nötig«, frohlockte Thea.
»Reinhold hat bereits das Aufgebot bestellt, wir heiraten in
zwei Wochen. Ganz klein natürlich. Reinhold meint…«
»Ist bloß gut, daß dein Reinhold das meint, was auch wir

meinen«, brummte der Vater dazwischen. »Und gut
obendrein, daß du beliebst, uns wenigstens vor die
vollendete Tatsache zu stellen.«
»Aber Papa, wozu sollen wir denn warten?«
»Ganz meine Meinung. Also, richten wir uns zum
Hochzeitsschmaus – und zur Wiederkehr unserer lieben
Ilona. Hoffentlich fällt nicht beides auf einen Tag.«
Allein davor sollte das Schicksal die im Hadebrecht-Haus
bewahren. Die Hochzeit, nur klein gehalten – man hatte ja
eine gute Ausrede wegen Ilonas Krankheit –, verlief ohne
Disharmonie. Hochbeglückt siedelte die junge Frau mit

background image

ihrem Töchterchen in das Haus des Gatten über.
Mittlerweile war es Juni geworden, und der Sommer nahte.

Das merkte hauptsächlich Silje bei ihren täglichen
Morgenritten. Sie sah dabei, wie sie lachend behauptete,
langsam das Gras wachsen.
War es nun Zufall oder Absicht, daß Eike Hadebrecht ihr
auf diesen Ritten fast immer begegnete? Silje wußte es nicht
– und wollte es auch nicht wissen. Sie fand es
wunderschön, einen Begleiter bei ihren Ritten zu haben.
Man unterhielt sich dabei, wie es guten Kameraden
geziemt, lachte, scherzte und freute sich des Lebens.
Hinterher ging es dann mit frischem Mut an die Arbeit.
Als Eike eines Tages durch Zufall erfuhr, daß Silje eine
passionierte Tennisspielerin wäre, ließ er den Platz im Park

instandsetzen und focht fortan nur noch da seine Spiele
aus. Und zwar mit einer Partnerin, die ihm nicht nur
gewachsen war, sondern ihn manchmal sogar übertraf.
Das kostete immerhin mehr Schweiß, als wenn die Partner
sich zu einem anderen Spiel zusammentaten – und zwar in
der Musik. Da gab es keine Konkurrenz, weil einer den
Flügel, der andere die Geige spielte.
Und die Zuhörer hatten ihre helle Freude daran. Mit
Genuß lauschten sie dem wundervollen Spiel, das so
harmonisch zusammenklang. Genau so harmonisch wie
die Herzen der Menschen, die so froh und glücklich
dahinlebten, seitdem auch Thea das Haus verlassen hatte.

Man war jetzt im Hadebrecht-Haus gewissermaßen ein
Herz und eine Seele. Und jeder der fünf Menschen
wünschte insgeheim: Wenn es doch immer so bliebe!
Aber auch, nur noch einige Wochen war ihnen der Friede
beschert. Dann erschien der böse Geist Ilona, die äußerlich
von einem solchen bestimmt nichts an sich hatte, sondern
wie das sprühende Leben selber anzuschauen war in ihrer
pikanten Schönheit. Sie erschien nicht unverhofft, dafür
hatte Professor Lutz wohlweislich durch einen Telefonanruf
gesorgt. Also holte Eike Hadebrecht die Gattin ganz
vorschriftsmäßig von der Klinik ab – und sich einen

background image

Störenfried ins Haus.
Eigentlich hätte man sich in der Familie über die völlige

Gesundung der jungen Frau freuen müssen und machte
sich heimlich Vorwürfe, daß man es nicht konnte. Aber es
ging nicht, trotz aller Beschämung nicht. Die Gesundung
selbst, die gönnte man Ilona allerdings von ganzem
Herzen, wünschte ihr eine kernige Gesundheit bis über
hundert Jahr – nur nicht in ihrem Kreis. Und nur deshalb
nicht, weil sie Unfrieden und Zwietracht in ihn brachte.
Aber man war nicht mehr gewillt, diese Hölle geduldig zu
tragen, nachdem sich die kleine Teufelin wieder im besten
Gesundheitszustand befand. Man wappnete sich
gewissermaßen mit allen Stacheln des Igels, der eine Gefahr
wittert.

Also war der Empfang, den man der Genesenen im
Hadebrecht-Haus bereitete, weder herzlich noch
unfreundlich – man wartete zuerst einmal ab. Schien es
sich zur Devise gemacht zu haben: Wie du mir, so ich dir!
Und schon in der ersten Stunde nach ihrer Rückkehr sollte
Ilona das zu spüren bekommen. Denn als sie ausfällig zu
werden begann, gab der »Despot« ihr gleich contra. Dazu
noch das »infame« Lächeln der anderen.
»Was ist eigentlich in euch gefahren?« fragte sie
aufgebracht. »Anstatt daß ihr alle Rücksicht walten laßt, wie
sie einer Rekonvaleszentin zukommt, ärgert ihr sie. Und
mein Herr Gemahl sitzt natürlich dabei, ohne seiner Frau

den gebührenden Beistand zu leisten. Wenn du immer so
weitermachst, dann – dann – «
»Nun, was dann?«
»Dann laß ich mich scheiden!«
»Bitte sehr.«
Auf diese Antwort war Ilona denn doch nicht gefaßt.
Ordentlich verblufft sah sie ihn an, ließ ihre Blicke weiter
schweifen und sah in lauter verschlossene Gesichter.
Da sprang sie auf, die Tür knallte hinter ihr zu, und der
Herr des Hauses lachte.
Ilona dachte gar nicht daran, sich zu ändern. Warum auch,

background image

sie war doch ein ganz wunderbarer Mensch – nur die
anderen taugten alle nichts!

Anstatt darüber glücklich zu sein, daß sie jetzt wieder
gesund war, machte sie durch ihre Verdrießlichkeit sich
und den anderen das Leben schwer. Sie fieberte förmlich
danach, wieder in die große Welt hinauszukommen, um
dort alles nachzuholen, was sie während ihrer halbjährigen
Krankheit versäumt hatte.
Aber diesmal wollte sie nicht ohne Eike reisen. Und wenn
sie da gleich Himmel und Hölle in Bewegung setzen sollte
– er mußte mit!
Wozu hatte sie denn einen so blendend aussehenden
Mann, wenn sie nicht mit ihm in der großen Welt glänzen
sollte? Es war doch so prickelnd interessant, sich von den

Damen um ihn beneiden zu lassen.
Allein Eike Hadebrecht fand das gar nicht interessant. Er
lehnte daher kurz ab, als sie noch am Abend ihrer
Rückkehr aus der Klinik zu ihm ins Schlafzimmer trat und
ihm kurz und bündig klarmachte, daß er sie auf ihrer Reise
zu begleiten hätte.
»Du glaubst doch nicht etwa, daß ich deinen Leichtsinn da
mitmache«, entgegnete er mit der Ruhe, die sie immer so
unsagbar an ihm reizte. »Zwar bist du jetzt gesund, aber
noch lange nicht so, daß du nach dem monatelangen
Klinikaufenthalt gleich von einem Vergnügen zum anderen
hetzen kannst.«

»So besorgt mit einemmal?« höhnte sie. »Möchtest du das
nicht mir überlassen, was ich mir zumuten darf oder
nicht?«
»Bitte sehr«, versetzte er kalt. »Ich hielt es nur für meine
Pflicht, dich zu warnen, wie es Professor Lutz schon vor
mir tat.«
»Ach, der, was weiß der schon!«
»So viel jedenfalls, um dich von deinem Leiden zu heilen,
wobei die anderen Ärzte versagten. Und noch einmal,
Ilona: Schone dich, geh mit dir behutsam um, wenigstens
noch ein halbes Jahr.«

background image

»Hör auf!« schrie sie dazwischen, dabei mit den Füßen den
Boden stampfend, wie ein ungezogenes Kind.

»Ich soll wohl in diesem Eulennest hier verkommen.«
Weiter kam sie nicht, weil er sie einfach über die Schwelle
schob und die breite Glastür nachdrücklich abschloß.
Augenblicklang war die Überrumpelte verblüfft, doch dann
tobte sie ganz nett.
Aber nicht lange, weil ja keiner da war, an dem sie ihre Wut
auslassen konnte. So warf sie sich denn aufs Bett, beweinte
wehleidig ihr »trostloses Geschick«, schmiedete
Rachepläne, gegen den »brutalen« Gatten und seine
»spießige« Familie. Die sollten sie schon noch
kennenlernen – jawohl!
Das verkündete sie denn auch, als man am nächsten Tag

beim Mokka saß. Aber man schien von dieser Drohung
durchaus nicht beeindruckt zu sein, selbst der
Schwiegervater wies sie nicht einmal zurecht. Er lachte sie
sogar freundlich an.
»Mein liebes Kind, wir kennen dich bereits zu gut, als daß
du uns noch etwas Neues bieten könntest. Es sei denn, du
versuchtest einmal, lieb und nett zu sein. Dann solltest du
mal sehen, wie gut es sich in unserem Kreis leben läßt.
Doch andernfalls beißt du bei uns auf lauter kleine
Kieselsteinchen.«
Am liebsten hätte sie ja dem »Despoten« in das lächelnde
Gesicht geschlagen, aber das wagte sie denn doch nicht. Er

war immer noch derjenige, vor dem sie einen gewissen
Respekt hat. Also hielt sie es für ratsam, das Gespräch zu
wechseln, und fragte daher: »Wo ist eigentlich Thea? Ich
vermißte sie gestern bereits.«
»Die hat vor einigen Wochen geheiratet«, gab der
Schwiegervater Antwort und mußte nun doch über ihr
verblüfftes Gesicht lachen. »Ist dir das denn nicht
bekannt?«
»Nein«, wurde sie nun wieder spitz. »Es hat ja niemand von
euch für nötig befunden, mich in der Klinik von dieser
Neuigkeit in Kenntnis zu setzen.«

background image

»Wie hätte das wohl möglich sein können, da der Professor
für seine angegriffene Patientin keinerlei Besuch von

zärtlichen Verwandten wünschte«, gab er ironisch zurück.
»Und als er deinem Mann ausnahmsweise einen Besuch
gestattete, hattest du so reichlich damit zu tun, den
Besucher zu beschimpfen, daß keine Zeit für Frage und
Antwort blieb.«
Gern wäre Ilona jetzt nach altbeliebter Art wutentbrannt
aufgesprungen und davongelaufen, aber die Neugierde war
dennoch stärker. So fragte sie denn brüsk:
»Was hat sie geheiratet?«
»Einen Mann – müßte eigentlich die Antwort auf deine
Frage lauten.
Doch da ich mir einbilde, mehr Lebensart zu besitzen als

du, will ich dir erklären, daß Thea einen Freund ihres
verstorbenen Mannes heiratete. Er tauchte plötzlich hier
auf und erzählte, daß er die guteingeführte Buchhandlung
in der Stadt käuflich erworben hätte. Und da er Thea schon
immer verehrt hatte und sie nun frei war, begehrte er sie zu
seiner Frau.«
»Das ist ja hochinteressant!« griff Ilona die Neuigkeit fast
gierig auf; denn für Neuigkeiten war sie immer zu haben.
»Befindet sich das junge Paar noch auf der Hochzeitsreise?«
»Nein – weil sie nämlich keine machten.«
»Himmel, wie spießig! Das ›Glück im Winkel‹ muß ich mir
doch gleich mal ansehen!«

Lachend wirbelte sie davon- und die Zurückbleibenden
atmeten auf.
»Na ja, man muß sie eben so nehmen, wie sie ist«, sprach
der Senior in die Stille hinein. »Wenn sie anfängt,
unverschämt zu werden, dann ihr immer gleich die Zähne
zeigen.
Was war übrigens gestern abend los, Eike? Bis in unser
Schlafzimmer hörten Mutter und ich deine Holde toben.«
»Nun, ich habe ihr mal so ein wenig die Zähne gezeigt.«
Ein ironisches Lächeln umzuckte den harten Männermund.
»Das Reisefieber hat sie nämlich wieder gepackt, und ich

background image

wurde hochfahrend als Begleiter befohlen, mit dem sie in
›ihrer Welt‹, wie sie sich ausdrückte, prunken und ihn als

Paradestück herumreichen wollte. Als ich mich entschieden
weigerte, fing sie an zu toben.«
»Mein Gott, du armer Junge, was mußt du wieder
ausgestanden haben!« bemerkte die Mutter leise, doch er
winkte beruhigend ab.
»Beruhige dich, Muttchen, ich bin ja an derartige Szenen
gewöhnt und nehme sie längst nicht mehr tragisch.«
»Aber das ist doch keine Ehe! Ich würde dabei zugrunde
gehen.«
»Dafür bist du ja auch eine zarte, sensible Frau«, nickte er
ihr herzlich zu. »Laß nur, ich beiße mich schon durch.«
Er sah nach der Uhr, die geschäftig auf dem Kaminsims

tickte, und wandte sich dann dem jungen Mädchen zu, das
gleich Philchen schweigend im Sessel verharrte.

*


»Fräulein Silje, ich möchte Sie bitten, in den nächsten
Tagen meine Sekretärin zu vertreten, die wegen einer bösen
Zahngeschichte Krankenurlaub bekommen mußte. Gerade
jetzt sind schwierige Sachen zu bearbeiten.«
»Und dazu wollen Sie ausgerechnet mich haben?« warf das
Mädchen erschrocken ein. »Ich bin doch noch immer
Anfängerin und könnte manches verpatzen.«

»Das glaube ich nicht, bei Ihrer Gewissenhaftigkeit.«
»Bitte, Onkel Philipp, rede ihm das aus!« wandte sie sich
hilfesuchend an ihn, der schmunzelnd abwinkte.
»Fällt mir gar nicht ein, Marjellchen. Es ist ganz gut, wenn
du einmal unter Fräulein Luischens betulichen
Gluckenflügeln hervorkriechst und auf dich allein gestellt
bist. Um welchen Schreibkram geht es denn, Eike?«
»Um das Projekt von Schüringer. Du weißt, daß wir das
noch immer vertraulich behandeln müssen.«
»Oh, den Mund halten kann ich schon«, bemerkte Silje,
was Philipp gleich den anderen herzlich lachen ließ.

background image

»Na also, darauf kommt es in diesem Fall hauptsächlich an.
Im übrigen wird der gestrenge Juniorchef Gnade walten

lassen und Luischens Küken nicht so hart die Flaumfedern
zupfen.«
Das tat er denn auch wirklich nicht. Silje kam beim
Stenogramm so gut mit, daß sie den Chef bat, ruhig
schneller zu diktieren.
Mit vollem Eifer war sie dabei. Die Wangen glühten, der
Stift flitzte nur so über den Block und die Zunge über die
Lippen. Die mußte unbedingt mithelfen bei den
schwierigen Fachausdrücken, von denen es eine Menge
gab.
Man arbeitete zusammen, daß sozusagen der Kopf rauchte,
und fuhr erschrocken hoch, als die Tür aufgerissen wurde

und Ilona auf der Schwelle stand.
Und dieses Erschrecken legte die junge Frau sich in ihrem
Sinne aus.
»Oh, wie nett!« lachte sie – aber es war kein gutes Lachen.
Doch ehe sie noch ihr Gift verspritzen konnte, wandte sich
Eike rasch dem Mädchen zu.
»Das wäre jetzt alles, Fräulein Silje. Ich bitte Sie später noch
einmal zu mir.«
»Wie höflich!« höhnte Ilona, nachdem die Tür sich hinter
der Davoneilenden geschlossen hatte. »Fü

r

gewöhnlich

pflegt man mit seinen Liebchen nicht so konventionell
umzugehen.«

»Kanaille!« stieß der Mann zwischen den Zähnen hervor.
»Ich schäme mich für deine schmutzige Phantasie. Hüte
dich, deine böse Zunge an Fräulein Berledes zu wetzen, das
würde dir übel bekommen! Denn die junge Dame steht
unter dem Schutz des Hauses Hadebrecht, dessen Senior
mein Vater ist. Und du weißt, daß der keine Gemeinheit
ungestraft läßt. Das dir als Warnung. Und nun mach, daß
du mir aus den Augen kommst!«
Eiskalt war das gesagt. Mit einer unheimlichen Ruhe, was
beängstigender wirken kann als ein Wutausbruch. Hinter
seinen kalt glitzernden Augen schien es heiß zu lohen. Der

background image

Mund hatte sich zusammengepreßt zu einem schmalen,
harten Strich. Und Ilona, die ihren Mann so noch nicht

kannte, nahm feige Reißaus.
Zehn Minuten später betrat Silje Berledes wieder das
Zimmer des Juniorchefs, der genau so ruhig und freundlich
war wie vorher. Emsig arbeiteten sie weiter, bis der Mann
lächelnd fragte:
»Raucht’s Köpfchen sehr, kleine Silje?«
»Und wie!« gestand sie lachend, während sie die
Handflächen an die heißen Wangen legte. »Aber ich hoffe,
daß ich mich mit den niegehörten, schwierigen Wörtern,
von denen der Block nur so wimmelt, tapfer
herumgeschlagen habe. Darf ich die Briefe in Fräulein
Luischens Büro schreiben? Da fühle ich mich sicherer und

kann fragen, wenn ich meiner Sache nicht so recht gewiß
bin. Jedenfalls habe ich seit heute Hochachtung vor Ihrer
Sekretärin, die ihre schwierige Arbeit so nonchalant aus
dem Gelenk schüttelt.«
»Dafür arbeitet sie ja auch bereits sechs Jahre mit mir
zusammen«, lachte er amüsiert. »Und Übung macht
bekanntlich den Meister. Nun schreiben Sie diese beiden
Briefe noch unter Obhut Fräulein Luischens, dann machen
Sie Feierabend, den Sie sich heute redlich verdient haben.«
Nachdem Silje gegangen war, machte der Chef Schluß und
suchte im Herrenhaus nach Philchen, die er denn auch in
ihrem Wohnzimmer fand. Geruhsam saß sie da, legte

Patience und lugte über die Brille hinweg dem Neffen
entgegen.
»Nanu, mein Sohn, seit wann platzt du denn formlos in
meine Kemenate – und noch dazu zu einer Zeit, wo du
sonst hinterm Schreibtisch zu sitzen pflegst? Es ist doch
nichts Unangenehmes passiert?«
»Wie man’s nimmt, Philchen.«
»Junge, jage mir keinen Schreck ein! Nimm Platz und
erzähle.« Nachdem er über den Vorfall mit Ilona berichtet
hatte, meinte die Tante seufzend:
»Das habe ich kommen sehen. Und was nun? Wir können

background image

doch unmöglich zulassen, daß der Schmutzfink nun auch
noch seine Zunge an dem sauberen Mädchen wetzt!«

»Eben deshalb bin ich hier, Tante Philchen. Ich möchte
dich nämlich bitten, dafür zu sorgen, daß Ilona nie allein
mit Silje zusammenkommt.«
»Ja, wie denkst du dir das eigentlich, mein Sohn? Ich bin
doch schließlich kein junger, springlebendiger Detektiv,
der hinter den beiden herjagt! Wenn Ilona das Mädchen
beleidigen will, findet sie auch trotz Bewachung
Gelegenheit dazu. Kapiert?«
»Leider. Weißt du, was ich befürchte, Philchen?«
»Nun?«
»Daß Silje Berledes nach einer Beleidigung durch Ilona
dieses Haus verlassen würde.«

»Wahrscheinlich. Und was ich befürchte, ist: daß dein Vater
danach deine Holde aus dem Hause jagen würde, wobei
ich ihm bestimmt helfen wollte – und vielleicht gar noch
deine sanfte, liebe Mutter, die sonst keiner Fliege was
zuleide tun kann. Denn Silje ist uns sehr ans Herz
gewachsen, das will ich dir nur sagen. Ich möchte dir also
raten, deine Eltern ins Vertrauen zu ziehen. Drei
Kerkermeister sind immer besser als einer.«
»Das kann ich nicht, Philchen. Mir ist es schon peinlich
genug, dich mit dieser unerquicklichen Angelegenheit zu
belästigen.«
»Nun, so überlaß es mir. Da Vorbeugen immer besser als

Heilen ist, werde ich deinem Vater dieses Vorbeugen
wärmstens empfehlen. Du sollst mal sehen, wie das hilft.«
Und es half. Denn das Donnerwetter, das sich noch an
demselben Abend über dem schuldigen Haupt Ilonas
entlud – und zwar unter vier Augen – hätte auch mutigeren
Menschen das blanke Entsetzen eingejagt.
Mißmutig rekelte Ilona sich in ihrem luxuriösen Bett.
Sie befand sich in einer Stimmung, wo sie am liebsten die
ganze Welt vergiftet hätte. Vor allen Dingen diese Silje mit
ihrem gleißenden Lärvchen und ihrem scheinheiligen
Getue, mit dem sie alle hier im Hause verhext zu haben

background image

schien. Auch Eike – da ließ sie sich nichts sagen! Aber sie
würde schon aufpassen und das heimliche Liebespaar an

den Pranger stellen!
Sie sollte sich zum Kuckuck scheren, hatte der ergrimmte
Schwiegervater ihr empfohlen.
Aber noch konnte man ihr das Haus hier nicht verbieten,
noch hatte sie sich gesetzlich nichts zuschulden kommen
lassen. Denn daß sie ihnen allen das Leben schwer machte,
das verbot kein Gesetz. Und das wollte sie jetzt mehr denn
je.
Mit diesem löblichen Vorsatz klingelte sie nach der Zofe,
die leider nicht mehr ihre Pia war. Die hatte Ilona
beurlaubt, bevor sie in die Klinik mußte, und indes hatte
das treulose Mädchen geheiratet.

Verdrossen sah sie dem Mädchen entgegen, das nun eintrat
und den Servierwagen vor sich herschob. Flink zog sie die
Jalousien hoch, so daß die Sonnenstrahlen ungehindert in
das luxuriöse Gemach fluten konnten.
»Wir haben wieder herrliches Wetter«, plauderte sie dabei
munter. »Ich habe schon mit der kleinen Ute im Park Ball
gespielt. Ist das ein reizendes kleines Ding!«
»Schwatzen Sie nicht so viel!« wurde sie vom Bett her
ungnädig unterbrochen. »Servieren Sie lieber das
Frühstück. Wie spät haben wir es?«
»Gleich elf Uhr. Haben gnädige Frau gut geschlafen?«
»Nein, ich schlafe nie gut. Was ist heute wieder mit dem

Kaffee los, der schmeckt ja wie Patschwasser! Und auf dem
Toast ist zu viel Gelee. Ich werde ja dick wie ein Büffel.«
So ging die Nörgelei weiter, und Ella war dem Weinen
nahe. Es war hier nämlich ihre erste Stelle und ihr Pech,
daß sie gleich in eine so harte Schule kommen mußte.
»Was gibt’s Neues?« fragte Ilona neugierig und wäre
entzückt gewesen, wenn die Zofe ihr mit Klatsch und
Tratsch gekommen wäre, wie Pia es so glänzend verstanden
hatte. Aber Ella war, wie schon gesagt, eine Anfängerin und
außerdem noch ein kindliches Gemüt.
»Es gibt nichts Neues, gnädige Frau«, entgegnete sie

background image

harmlos. »Wenigstens nicht im Küchenbereich, und an die
Herrschaft komme ich ja nicht heran.«

»Was haben wir heute für einen Tag?«
»Sonntag, gnädige Frau.«
»Haben Sie Fräulein Berledes heute schon gesehen?«
»Sehr wohl, gnädige Frau.«
»Wann?«
»Als das gnädige Fräulein von ihrem Morgenritt
zurückkehrte.«
»Allein?«
»Sehr wohl.«
»Und wo war da mein Mann?«
»Das weiß ich nicht, gnädige Frau.«
»Ja, was wissen Sie denn überhaupt, Sie dumme Gans?« fiel

die Gnädige jetzt aus der Rolle. »Sie haben alles zu wissen,
verstanden? Total unfähig sind Sie! Hätten lieber Kuhmagd
als Zofe werden sollen!«
Nun, jeder Wurm krümmt sich, wenn er getreten wird –
und Ella gehörte ja schließlich zu den höheren Wesen der
Schöpfung.
»Gnädige Frau, ich muß doch sehr bitten!« empörte sich
Ella – und schon flogen Teller und Tasse als Geschosse zu
der Vermessenen hin, die entsetzt die Flucht ergriff.
Die Kaffeekanne, die ihr durch die geöffnete Tür
nachsauste, erreichte auch ihr Ziel – allerdings nicht das
gewünschte. Sie prallte gegen die Brust des Gemahls der

Scharfschützin, häßliche braune Flecke auf dem eleganten
hellen Sommeranzug hinterlassend.
»Na, das ist denn doch die Höhe!« schalt er aufgebracht,
war aber sofort besänftigt, als er die schreckensbleiche,
zitternde Zofe ins Auge faßte.
Dann schweifte sein Blick weiter durch die geöffnete Tür
und blieb an Ilona hängen, die im Bett saß und sich vor
Lachen schüttelte. Und da er vor dem Mädchen nicht eine
Szene heraufbeschwören wollte, schloß er rasch die Tür
und fragte kurz:
»Was hat es gegeben, Ella?«

background image

»Die gnädige Frau hat wieder einen Tobsuchtsanfall«,
weinte sie laut auf. »Schon den dritten während der Woche,

die ich hier bin. Aber das mach ich nicht länger mit! Denn
ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen, wirklich
nicht, Herr Doktor…«
»Das glaube ich Ihnen«, fiel er beschwichtigend ein.
»Nehmen Sie das nicht so tragisch, Ella. Sie werden sich an
die Art meiner Frau schon noch gewöhnen.«
»Nein, das werde ich nie! Ich will fort, und zwar gleich.
Eine dumme Gans hat sie mich gescholten, und Kuhmagd
soll ich werden, wo ich doch eine erstklassige Ausbildung
als Zofe hinter mir habe!«
Das Weinen wurde heftiger. Ehe der Mann noch etwas
erwidern konnte, öffnete sich die Tür, und Ilona stand im

verführerischen Nachtgewand auf der Schwelle.
»Wie rührend!« höhnte sie. »Das Zöfchen beklagt sich beim
Herrn des Hauses, wo es sicherlich auch Verständnis
findet.«
»Worauf du dich verlassen kannst«, unterbrach er sie kalt.
»Kommen Sie, Ella!«
»Sie bleibt hier! Du hast dich in meine Angelegenheiten
nicht zu mischen. Und die Zofe ist meine Angelegenheit.
Sie kommen sofort hierher, Ella!«
»Nein, ich geh heute noch fort«, trumpfte das Mädchen auf,
das sich in dem Schutz des Mannes sehr sicher fühlte. »Das
ist ja bei Ihnen direkt lebensgefährlich.«

Rasch zog Eike die Empörte mit sich fort und lohnte sie in
seinem Arbeitszimmer so gut und reichlich ab, wie es
seinem Gerechtigkeitssinn entsprach. Dann zog er sich um,
weil sein Anzug von oben bis unten mit Kaffee befleckt
war. Kaum war er damit fertig, als Ilona zu ihm ins
Ankleidezimmer platzte, immer noch mit dem
Nachtgewand angetan.
»Wie kommst du dazu, Ella zu entlohnen?!« schrie sie
wütend. »Du hast mich damit bloßgestellt!«
»Nun, mehr als du selbst es tust, kann es wohl kaum noch
geschehen«, bemerkte er mit einem vielsagenden Blick auf

background image

ihr mehr als »offenherziges« Neglige. »Zieh dich zuerst
einmal an, dann können wir weiter reden.«

Damit schob er sie aus der Tür, schloß ab und steckte in
aller Gelassenheit eine Zigarette in Brand, während
draußen die Fäuste der Erbosten wie rasend gegen das Holz
trommelten. Doch da das zarte Händchen mitzunehmen
pflegt, hielt sie bald inne. Türen krachten, und dann
herrschte Ruhe nach dem Sturm.
Mit einem Gefühl des Ekels drückte Eike Hadebrecht die
halbgerauchte Zigarette in die Aschenschale. Dann verließ
er das Ankleidezimmer und ging nach unten, wo man von
dem Toben seiner Frau nichts gemerkt zu haben schien.
Man lachte gerade über eine drollige Bemerkung der
kleinen Ute, die zwischen den Knien des Großvaters stand;

dieser warf über das Kinderköpfchen hinweg einen
forschenden Blick auf den Sohn, dessen Gesicht hart und
blaß war.
Doch bevor es zu einer Frage kommen konnte, trat das
Ehepaar Nargitt ein.
»Natürlich ist Anka wieder bei euch!« klagte Thea.
»Obwohl sie es wirklich gut bei uns hat, zieht es sie doch
immer wieder zum alten Nest zurück.«
»Hier ist es auch viel schöner als bei euch«, maulte die
Kleine. »Ihr seht mich ja gar nicht, immer nur euch.«
»Was bei einem Flitterwochenpaar wohl so üblich ist«,
schmunzelte der Großvater gleich den anderen. »Aber jetzt

scheint ihr ja eurer Mitwelt wiedergegeben zu sein. Und
wie es euch geht, brauche ich erst gar nicht zu fragen. Ihr
seht beide so recht zufrieden aus.«
»Sind wir ja auch, Papa«, bestätigte Thea, während sie nebst
dem Gatten in der Runde Platz nahm. »Wir sind sehr
glücklich, nicht wahr, Herzensmännchen?«
»Sehr, Thealieb.«
»Kinder, hört auf!« sagte Philipp lachend. »Mir scheint, ihr
habt euch doch noch zu früh unter uns nüchterne
Menschen gewagt.«
»Aber Papa, wie kannst du nur so reden!« war die junge

background image

Frau nun gekränkt. »Ist es nicht schöner, wenn ein Ehepaar
sich liebreich begegnet, als wenn es sich ewig zankt, wie

zum Beispiel Ilona und Eike? Die war übrigens vor einigen
Tagen bei uns und klagte Stein und Bein über die
Lieblosigkeit ihres Mannes.«
»Laß das unerquickliche Thema«, winkte der Vater kurz ab.
»Erzähle uns lieber, wie du es fertiggebracht hast, in den
drei Wochen deinem Mann so dicke Backen anzunudeln.«
»Ich koche auch mit Liebe«, erklärte die junge Frau stolz.
»Jeder Bissen, den mein Feinschmeckerlein in den Mund
steckt, ist mit Liebe gewürzt. Wir haben eben einen
herrlichen Spaziergang gemacht und kamen nur her, um
euch kurz guten Tag zu sagen. Jetzt müssen wir aber gehen,
weil ich noch die letzte Hand ans Mittagsmahl zu legen

habe. Es gibt junge Hähnchen mit Gurkensalat, danach
eine ganz delikate Speise. Die wird auch unserm Ankalein
munden, nicht wahr, mein Süßes?«
»Nein«, kam die Antwort kurz und bündig. »Ich esse hier
zu Mittag.«
»Aber Liebes, wie undankbar von dir! Was machen wir da
nur, Reinischatz?«
»Wir lassen sie hier, mein Häschen.«
»Ja, wenn du meinst…«
Damit verabschiedeten sie sich. Und kaum, daß sie
gegangen waren, blies der Senior die Backen auf und
verdrehte die Augen.

»Eike, gib mir einen Kognak, mir ist ganz schwiemelig im
Magen. O Gott, Quark mit Himbeersaft ist ja gar nichts
gegen das süßliche Gesäusel!«
Es klang so verzweifelt, daß die anderen hellauf lachten.
Doch nachdem er zwei Gläschen von dem belebenden
Getränk intus hatte, wurde ihm wieder wohl. Schmunzelnd
meinte er:
»Da hat ein gütiges Geschick wenigstens einmal ein Paar
zusammengebracht, das sich gegenseitig beturtäubelt. Stell
dir mal vor, Muttchen, wenn ich dich jetzt mit
Schweineschwänzchen betiteln wollte!«

background image

»Na, du, das möchte ich mir wohl ernstlich verbitten«,
entrüstete sie sich, fiel dann aber in das Gelächter der

anderen ein, das noch zunahm, als Anka ernsthaft sagte:
»Mäuseschwänzchen hat der Papi zur Mami auch schon
gesagt.«
»Na, siehst du, Muttchen, da ist Schweineschwänzchen
doch appetitlicher. Und nun verschwindet mal, ihr
Görchen. Ihr sperrt mir zu sehr die kleinen Ohren auf.«
»Das tu ich doch so gern«, bekannte Anka eifrig, mußte
jedoch abtrollen

;

weil der Großvater nicht mit sich

verhandeln ließ.
Und das war gut so. Denn kaum, daß die Kinder gegangen
waren, trat Ilona ein – und schon war die Gemütlichkeit
futsch.

Als sie sich an Silje vorbeizwängte, um zum nächsten Sessel
zu gelangen, trat sie ihr empfindlich auf die Füße. Dachte
aber nicht daran, sich zu entschuldigen, ließ sich ins
Polster fallen, griff nach einer Zigarette und kommandierte:
»Feuer!«
»Nanu, aus welcher Kanone denn?« fragte Philipp so
verdutzt, daß die anderen Tränen lachten.
Das gefiel der ungnädigen Dame nun ganz und gar nicht.
Sie warf die Zigarette in die Gegend und wurde aggressiv:
»Na ja, dieses alberne Lachen kenne ich nun schon an euch
– ihr – ihr…
Aber ich glaube, es ist wohl besser, wenn ich gehe, bevor

ich mich noch zu etwas hinreißen lasse!«
»Ich glaube wirklich, daß es besser ist«, grollte die Stimme
des Schwiegervaters gefährlich dazwischen. »Laß dich hier
erst wieder blicken, wenn du dich in Gesellschaft
wohlerzogener Menschen benehmen kannst. Und nun
befreie uns bitte von deiner Gegenwart.«
Das war in aller Ruhe gesagt. Doch wer den Mann kannte,
der wußte, daß er sich nur noch mit Aufbietung aller
Energie beherrschte. Die Augen drohten unter den
buschigen Brauen hervor, das Gesicht lief rot an, das Kinn
schob sich vor.

background image

Da sprang Ilona auf und hastete davon, um sich erst
einmal in Sicherheit zu bringen. An der Tür aber blieb sie

stehen und schrie wütend:
»Spießer seid ihr – jawohl, Spießer! Ich verabscheue euch!«
Dann erst verschwand sie endgültig.
Unter den Zurückbleibenden herrschte peinliches
Schweigen, das der Senior nun unterbrach:
»Jetzt ist es Zeit, daß du die Scheidungsklage einreichst,
mein Sohn.«
»Ganz meine Ansicht, Vater. Ich warte nur noch ab, bis
Ilona wieder auf Reisen geht, um mich und euch
Widerwärtigkeiten zu ersparen. Daher noch ein wenig
Geduld. Denn ohne ›ihre große Welt‹ hält sie es bestimmt
nicht mehr lange aus. Dann werde ich handeln und ihr

gleichzeitig unser Haus verbieten.«

*


Es war nach dem Mittagessen, bei dem kaum etwas
genossen wurde, weil allen fast der Bissen im Halse stecken
blieb.
Silje lag in ihrem Zimmer auf dem Diwan und las, weil es
draußen in Strömen regnete. Es kam gerade zur Zeit, dieses
kostbare Naß, um der Natur Erquickung zu bringen, die
förmlich nach ihm lechzte.
Silje gab sich alle Mühe, um das, was im Buch geschrieben

stand, zu erfassen, aber immer wieder schweiften die
Gedanken ab. Und dann kam Philchen, setzte sich zu ihr
auf den Diwan und seufzte:
»Daß du es nur weißt, ich mache Feierabend. Denn was
sich jetzt im Hause zuträgt, ist selbst für meine Nerven zu
viel, die eigentlich ganz gut intakt sind. Ich verreise.
Kommst du mit?«
»Dazu müßte ich erst einmal wissen, wohin die Reise
gehen soll, geliebtes Philchen.«
»Dorthin, wo es schön ist, wo es keinen Streit und Hader
gibt.«

background image

»Dann müßtest du schon in die Gefilde der Seligen
überwechseln«, bemerkte das Mädchen trocken. »Denn wo

sich unsere liebe Erde dreht, gibt es auch Hader und Streit.«
»Das mußt du Grünschnäbelchen ja wissen. Aber wirklich,
Silje, es ist nicht mehr schön im Hadebrecht-Haus, in dem
ich ja nun schon über sechzig Jahre lebe. Meine Eltern
führten eine harmonische Ehe, und die meines Bruders ist
auch gut, bis auf den Kummer – na, du weißt ja Bescheid.
Aber Eikes Ehe spottet jeder Beschreibung. Anstatt daß er
nun seine Blindheit, mit der er da hineintappte, allein
büßt, müssen wir anderen es mittun. Jedenfalls – ich
kneife!«
»Das kriegst du ja doch nicht fertig, Philchen. Du bist mit
deiner Familie so verwachsen, daß du mit ihr lachst und

weinst. Hättest ja doch keine Ruhe, wärest du fern von hier.
Würdest hangen und bangen um das, was dir so unlöslich
ans Herz gewachsen ist. Also, bleib schon hier und hange
und bange an Ort und Stelle, dann bist du wenigstens
immer genau im Bilde.«
»Ja, sag mal, du Fratz, haben wir jetzt plötzlich die Rollen
getauscht? Anstatt daß ich dir gute Lehren erteile, tust du
es. Da soll doch gleich dieser und jener!«
»Oh, Philchen, jetzt gleichst du ganz deinem
Zwillingsbruder, wenn er grimmig ist!« wollte der Schelm
sich halbtot lachen. »Sei friedlich und gib mir recht.«
»Balg«, brummte sie. »Du machst ja mit mir, was du willst.

Schön, sehe ich mir den Jammer an Ort und Stelle an.
Ich fürchte nur, daß Onkel Philipp seine aggressive
Schwiegertochter mal gehörig verprügelt. Heute vormittag
sah es beinahe schon so aus. Ich habe vor Angst gezittert.«
»Und ich nicht minder. Man sitzt hier wie auf einem
Pulverfaß. Wenn ich du wäre, würde ich mir eine
friedlichere Stätte suchen.«
»Das kann ich nicht«, gestand das Mädchen leise. »Ich liebe
euch alle – wo ihr nicht seid, kann ich nicht sein.«
»Herzenskind, das war ein gutes Wort!« lächelte Philchen
gerührt. »Auch uns würde es schwer ankommen, dich zu

background image

missen. Also bleiben wir weiter zusammen, und bilden wir
ein Bollwerk gegen den bösen Geist des Hauses.«

Aber Ilona kam sich gar nicht so vor – im Gegenteil, alle
anderen waren böse Geister, die so ein armes,
bedauernswertes Wesen wie sie knebelten und knechteten.
Alles nahmen ihr diese abscheulichen Menschen, aber auch
alles, woran sie noch ihre Freude hatte!
Denn sie konnte dem Gatten jetzt keine Szenen mehr
machen, weil er in das Turmgemach übergesiedelt war, das
er vor seiner Verheiratung bewohnt hatte. Und die Tür, die
zu dem lauschigen Gelaß führte, war aus hartem, festem
Holz.
So bekam sie Eike nur noch während der Mahlzeiten zu
sehen, wo sie es jetzt vorzog, sich manierlich zu benehmen.

Denn die eisigen Mienen, mit denen man ihr begegnete,
schüchterten sie denn doch ein. Jeden Abend nahm sie sich
vor, morgen die Koffer zu packen – und unterließ es immer
wieder.
Und warum? – Weil sie rasend eifersüchtig war. Sonst hätte
sie sehen müssen, daß die beiden von ihr Bespitzelten sich
durchaus korrekt benahmen – auch wenn ihre Herzen
zueinander strebten. Allein, um diesem Gefühl skrupellos
nachzugeben, waren sie beide nicht leichtfertig genug.
Dafür hielt Eike Hadebrecht die Ehe immer noch zu heilig,
und Silje Berledes wäre es nie eingefallen, in eine Ehe
einzubrechen.

Und dennoch, das Mißtrauen Ilonas war hellwach.
Deshalb konnte sie sich nicht dazu entschließen, ihre Reise
anzutreten, obwohl es sie mit tausend Banden aus dem
»Eulennest« in die glänzende Welt zog. Sie konnte nicht
fort, sie mußte da sein, um die »Scheinheiligen« mit
»hundert Augen« zu bewachen.
Doch nichts, aber auch gar nichts kam dabei heraus. Silje
und Eike trafen nie unter vier Augen zusammen, selbst im
Betrieb nicht mehr. Denn die Sekretärin des Juniorchefs
versah schon wieder pflichtgetreu ihren Dienst, und Silje
befand sich nach wie vor unter der betulichen Obhut

background image

Fräulein Luischens.
Die Ritte unternahmen die beiden Menschen stets getrennt,

beim Tennisspiel war immer Philchen dabei, und beim
Konzert hörte die gesamte Familie zu.
Und doch – Ilona hielt wacker stand, mit der Devise:
Ausdauer siegt. Sie hatte es sich sogar in den Kopf gesetzt,
den Gatten zurückzugewinnen. Doch nie konnte sie seiner
habhaft werden, der die Tür vor ihr verschloß.
Aber der Mensch denkt, und Gott lenkt. Für ihn schien Eike
Hadebrecht doch nicht so ganz Stiefkind zu sein, wie dieser
resigniert annahm. Und da dem Höchsten die Wege ganz
einfach sind, die den Menschen oft wunderlich erscheinen,
so wählte er auch einen ganz einfachen Weg, um das Böse
zu vernichten und das Gute triumphieren zu lassen. Und es

bewahrheitete sich wieder einmal das Sprichwort: Der Krug
geht so lange zum Wasser, bis er bricht.
Nun, Ilonas Krug schöpfte giftiges Wasser, das auch eines
Tages überlief. Doch dann beschüttete es sie selbst und
nicht die Menschen, über deren Herzen es fließen sollte.
Ilona ging an einem sonnigen Nachmittag mit der kleinen
Ute in den Park. Sie hatte das Kind jetzt immer einige
Stunden täglich um sich. Aber nicht aus einem zärtlichen
Muttergefühl heraus, sondern weil Fräulein Herta, die
Betreuerin der Kleinen, nun bei Ilona Zofendienste
verrichten mußte, seitdem Ella fort war.
Nun, lange würde dieser Zustand wohl nicht anhalten.

Denn Ilona hatte an Pia geschrieben und sie angefleht, ihr
eine würdige Nachfolgerin zu besorgen, was die frühere
Zofe denn auch brieflich versprach. Nur noch zwei Wochen
Geduld, dann wäre das »Phänomen« für sie frei.
Daraus schöpfte Ilona nun eine frohe Zuversicht und nahm
es wohl oder übel auf sich, ihr Töchterchen einige Stunden
am Tage zu betreuen. Warum dies geschah, davon hatten
ihre Angehörigen allerdings keine Ahnung. Sie wunderten
sich nur, daß die Mutter sich plötzlich um ihr Kind
kümmerte, das sie vorher nur wenig beachtet hatte.
Nun hatte Ilona heute von ihrer Mutter einen dicken Brief

background image

erhalten, der schon einem kleinen Roman glich. Um den
zu lesen, dazu gehörte natürlich Zeit und Ruhe. Aber

ausgerechnet jetzt mußte sie auf Ute achten, weil Fräulein
Herta am Plättbrett stand!
Nun, die Kleine hatte ja den neuen bunten Ball, mit dem
sie sich beschäftigen konnte. Also galt es nur noch für
Ilona, sich ein stilles Plätzchen zu suchen, wo sie diesen
Erguß ungestört lesen konnte.
Da fiel ihr die Laube am Weiher ein. Freilich, der Weiher
war tief und mit Algen verwachsen.
»Spiel schön«, sprach sie dem Dummchen zu. »Aber wag
dich nicht zu weit ans Wasser, da sind Nixen drin!«
»Nixen – was ist das, Mami?« fragte die kleine Unschuld
neugierig. »Sind die gut oder ßlecht?«

»Frag nicht so viel!« wurde die Mutter bereits ungeduldig.
»Spiel mit dem Ball, die Mami hat jetzt keine Zeit.«
Schon verschwand Ilona in der Laube, um den Brief zu
lesen, der sie brennend interessierte – mehr als das
Töchterchen, das sich mit dem bunten Ball vergnügte. Er
war so groß, daß die molligen Patschchen ihn nicht
umschließen konnten, sondern das Bäuchlein dabei noch
Hilfestellung leisten mußte.
Und schön war es, wunderschön, wenn die lustig-bunte
Kugel davonrollte. Jauchzend holte Klein-Ute sie immer
wieder ein- bis sie ins Wasser rollte und sich in einer gelben
Mummelgruppe verfing.

»Hol mich doch!« schien der bunte Ball neckisch zu
fordern. »Hol mich doch, bevor die Nixen es tun!«
»Mami, die Nixen wollen meinen Ball!« rief das Mägdlein
kläglich.
Aber die Mami hörte nicht, weil es gar zu interessant war,
was die Mutter da über einen Inder schrieb, der,
unermeßlich schön und unermeßlich reich, augenblicklich
die Gemüter der Globetrotter an der Riviera erregte.
Das wäre ein Mann, für Dich! – schrieb die Mutter
begeistert. Der würde Deine Schönheit und Deinen
Charme so recht zu würdigen wissen. Schade, daß Du

background image

schon gebunden bist, aber vielleicht…
Bei diesem Vielleicht sollte es vorläufig bleiben. Denn ein

gurgelnder Laut ließ die vertiefte Leserin aufschrecken, riß
sie aus ihrer Phantasterei plötzlich in die Gegenwart
zurück. Verstört sah Ilona von dem Brief auf, spähte
angstvoll nach ihrer Tochter – doch weder sie noch der
bunte Ball waren zu entdecken. Nur auf dem
schwarzgrünen Wasser gurgelte es.
»Hilfe!!!« schrie Ilona da, sinnlos vor Angst- und siehe da,
die Hilfe nahte bereits. Und zwar in Gestalt Siljes, die in
rasender Eile vorschnellte und mit einem kühnen Sprung
in dem unheimlichen Wasser versank.
Wenig später tauchte sie dann wieder auf, von Algen
umschlungen.

Fest an die Brust gedrückt hielt sie Ute, das kleine
Dummchen, das den Nixen den Ball wegholen wollte.
Doch die entsetzte Ilona schrie immer weiter – anhaltend,
gellend, daß jedem, der es hörte, das Grausen über den
Rücken jagte.
Von allen Seiten rannten sie herbei, die diese entsetzlichen
Schreie vernahmen. Allen voran Eike Hadebrecht, blaß wie
der Tod.
Mit flatternden Händen löste er das kleine algenumstrickte
Wesen aus dem Arm des großen und legte beide behutsam
auf den Rasen nieder.
Und während er mit den Wiederbelebungsversuchen bei

der Tochter begann, tat es sein Vater bei Silje, die nun auch
ohnmächtig geworden war. Sie hatten auch bald Erfolg und
schämten sich der Tränen nicht, die ihnen übers Gesicht
liefen.
Und schon fanden sich Hände, die das kleine und das
große Mädchen behutsam hochhoben und ins Haus
trugen. Denn nicht nur das Ehepaar Hadebrecht nebst
Sohn und Philine hatten die gellenden Schreie Ilonas
hergejagt, sondern auch die gesamte Dienerschaft.
Jetzt schrie die kleine Ute wie am Spieß, doch dieses
Schreien klang den Menschen wie Musik. Wie gut, daß das

background image

beherzte Mädchen Silje noch zur Zeit gekommen war –
sonst…

Ach, man wagte an dieses Sonst gar nicht zu denken! Es
hätte unendliches Leid über vier Menschen gebracht!
Und der fünfte Mensch, der dieses Unheil durch
Unachtsamkeit heraufbeschwor? – Der saß in seinem
Zimmer und weinte aus Angst vor dem Strafgericht, das
unweigerlich kommen würde. Und da Ilona feige war,
konnte und wollte sie diesem Strafgericht nicht
standhalten.
Also packte sie mit fliegenden Händen einen Koffer, warf
Schmuck, Geld, die nötigsten Kleidungsstücke hinein und
schlich sich aus dem Haus wie ein Dieb.
Und sie hatte Glück. Denn ein Auto nahm sie an der

Chaussee auf, beförderte sie zum Bahnhof – und so konnte
Ilona aufatmend sagen: Nach mir die Sintflut!
Indes wurden Silje und Ute, die wohlgeborgen in ihren
Betten lagen, gehätschelt und gepflegt. Das Kind von dem
Großvater und dem Papi, Silje von Philchen, die ihrem
Liebling einen Trank einflößte, der aus Kräutersäften und
einem schweren Wein gemixt war. Und kaum, daß Silje ihn
geschluckt hatte, schlief sie vor Erschöpfung ein.
Und es würde einen langen Schlaf geben, wie Philchen aus
Erfahrung wußte. Also konnte sie die Schläferin ruhig
allein lassen und nachsehen, wie es Ute ging.
Auch sie schlief sanft und süß, bewacht von Fräulein Herta,

die dickverweinte Augen hatte.
»Wo sind die anderen?« fragte Philchen leise, um das Kind
nicht zu wecken, und ebenso leise kam es zurück:
»Die Herrschaften sind nach unten gegangen. Oh, mein
Gott, gnädiges Fräulein, ich kann doch wirklich nichts
dafür!« schluchzte das Mädchen heiß auf. »Die junge
gnädige Frau holte Ute, um auf sie achtzugeben, während
ich ihre Sachen plättete. Ich mußte doch Zofendienste
leisten, seit Ella fort ist.«
»Das ist ja interessant. Haben Sie das meinen Angehörigen
gesagt?«

background image

»Ja – «
»Nun, dann ist ja alles in Ordnung«, nickte Philchen dem

Mädchen freundlich zu und ging dann ins Wohnzimmer,
wo Eike ruhelos auf und ab wanderte.
Beim Eintritt der Tante blieb er stehen und fragte bang:
»Wie geht es Silje?«
»Die schläft friedlich. Wo sind die anderen?«
»Vater ist bei Mutter, deren Nerven nachgaben. Sie bekam
einen Weinkrampf.«
»Auch das noch. Ist der Arzt verständigt?«
»Nein, das war nicht nötig. Die Mamsell flößte ihr einen
Trank ein, nach dem sie bald einschlief. Vater will solange
bei Mutter bleiben, bis die Mamsell Zeit hat, ihn
abzulösen.«

»Das ist übertriebene Vorsicht«, meinte Philchen. »Denn
nach dem Trank, den ich übrigens auch Silje gab, werden
beide fest und lange schlafen. Es ist ein altes Hausrezept,
das schon von unserer Großmutter angewandt wurde. Und
was wirst du mit Ilona machen?«
»Gar nichts – sie ist fort.«
»Tatsächlich?« Philchen war gar nicht so überrascht, wie sie
es nach dieser Eröffnung eigentlich hätte sein müssen. »Das
sieht ihr ähnlich, sich durch die Flucht feige dem
Strafgericht zu entziehen! Aber recht so! Seien wir froh, sie
auf so eine gute Art losgeworden zu sein.«
Zwar war Silje am nächsten Tag noch blaß, aber sonst

munter. Ebenso Ute, die sich mit ihren drei Jahren noch
gar nicht bewußt sein konnte, welch tödlicher Gefahr sie
entronnen war. Aber vor den Nixen, die ihr auf so böse Art
den Ball nahmen, hatte sie fortan Angst. Und das war allen
recht so; so würde sich das grausige Spiel wenigstens nicht
wiederholen.
Den Dank, den man Silje abstattete, tat diese verlegen ab.
Sie hatte ja nur das getan, was andere an ihrer Stelle
bestimmt auch tun würden, meinte sie kurz.
Natürlich wollte man wissen, wie sie um diese Zeit, da sie
sonst noch zu arbeiten pflegte, in den Park gekommen war.

background image

Nun, eigentlich war das ein Zufall gewesen. Fräulein
Luischen machte früher als sonst Schluß, weil sie

Geburtstag hatte, was Silje jedoch erst im Laufe des
Nachmittags erfuhr. So ging sie denn in den Park, um von
dem Gärtner einen Rosenstrauß zu erbitten, mit dem sie zu
Luischen ins Haus gehen und ihr nachträglich gratulieren
wollte.
Aber dazu sollte es nicht kommen. Denn im Park sah das
Mädchen Ute, die lachend und jubelnd hinter ihrem Ball
herlief und ihm dann nachjammerte, als er ins Wasser
rollte. Leider war Silje noch zu weit entfernt, um das Kind
vor dem grausigen Bad bewahren zu können, obwohl sie
wie gehetzt hinjagte.
»Na ja – das war alles«, schloß sie ihren sachlichen Bericht.

»Zufall, nichts weiter.«
»O nein, mein Kind, das war Vorsehung«, bemerkte Frau
Ottilie erschüttert – und niemand widersprach ihr.
Im Hadebrecht-Haus herrschte nun die Harmonie, nach
der man sich immer so schmerzlich gesehnt hatte.
An Ilona dachte man kaum noch, und diese tat auch nichts
dazu, um sich in Erinnerung zu bringen. Man nahm an,
daß sie zu ihren Eltern geflüchtet wäre, was auch
tatsächlich stimmte. Angstgeschüttelt traf die Tochter bei
ihnen ein, erzählte, was vorgefallen war, und schwor, wie
schon oft, mit tausend Eiden, diesmal wirklich, aber auch
wirklich nicht mehr ins »Gefängnis« zurückkehren zu

wollen.
Die Eltern lächelten nachsichtig, wie sie es schon oftmals
bei derartigen Schwüren getan hatten. Machten aber der
Tochter keine Vorwürfe, sondern ließen sie gewähren.
Sie lebten seit einigen Wochen am Gardasee, wo
augenblicklich »viel los war«, ganz so, wie die nach
Vergnügen förmlich ausgehungerte Ilona es sich wünschte.
Wie in einem Taumel gab sie sich all den Vergnügungen
hin mit der Devise: Was schert mich Mann, was schert
mich Kind – ich will jetzt ich sein und nichts weiter!
Sie konnte gar nicht genug bekommen von alledem, was

background image

sie seit länger als einem halben Jahr so schmerzlich
vermissen mußte. Sie warf sich »ihrer Welt«

leidenschaftlich in die Arme, gönnte sich weder Rast noch
Ruhe, hetzte und jagte umher in krankhaftem Eifer. Dachte
nicht einen Augenblick daran, daß sie sich schonen sollte,
wie Professor Lutz und auch der Gatte es ihr mahnend
geraten hatten.
Ach was, die waren ja nichts weiter als engstirnige Philister,
über die man nur höhnisch lächeln konnte. Sie war doch
gesund, so herrlich gesund!
Und so kam es denn, wie es bei der unvernünftigen
Lebensweise der kaum Genesenen kommen mußte.
Als Ilona an einem Abend von einem temperamentvollen
Südländer im feurigen Tanz herumgewirbelt wurde,

versagten ihr plötzlich die Beine. Und da ein Unglück ja
selten allein zu kommen pflegt, stürzte sie gegen einen
Pflanzenkübel und zog sich dabei einen bösen Bluterguß
an der schon einmal beschädigten Hüfte zu.
Ihre Eltern, die sich in ihrer Angst und Ratlosigkeit nicht
anders zu helfen wußten, riefen telegraphisch den
Schwiegersohn herbei, der trotz des Protestes seiner
Angehörigen dem Hilferuf sofort Folge leistete.
Doch als er bei seinen verstörten Schwiegereltern ankam,
war Ilona trotz der Betreuung bester Ärzte tot – denn gegen
eine plötzlich auftretende Thrombose waren auch sie
machtlos.

Wie zwei verschüchterte Kinder klammerte sich das sonst
so weltgewandte Ehepaar an den Schwiegersohn. Sie waren
einfach nicht dazu fähig, für all das Traurige zu sorgen, das
ein Todesfall mit sich bringt. Nur eine Feuerbestattung
wünschten sie und die Beisetzung der Urne’ an Ort und
Stelle, damit sie diese jederzeit zu sich holen konnten,
wenn sie sich einmal endgültig irgendwo zur Ruhe setzten.
Zwar hätte Eike Hadebrecht ihnen Vorwürfe machen
können, daß sie auf ihre kaum genesene Tochter nicht
besser achtgaben. Er tat es jedoch nicht, sondern richtete
sich streng nach ihren Wünschen. Ein Glück für sie, daß sie

background image

in ihrer Oberflächlichkeit nicht lange brauchten, um mit
dem »tiefen Seelenleid« fertig zu werden! Denn schon

wenige Wochen später waren sie so weit, um ihr gewohntes
Reiseleben fortsetzen zu können.
Zwar jammerte die Mutter, daß sie ihr »heißgeliebtes Kind«
zurücklassen mußte, tröstete sich jedoch damit, daß sie an
die heilige Stätte zurückkehren konnte, wenn die
»Sehnsucht« sie dahin trieb.
So wurde denn der Schwiegersohn, dem diese Wochen zur
Qual geworden waren, endlich entlassen und kehrte sofort
in die Heimat zurück.
Mittlerweile war es Herbst geworden, und es kam die Zeit,
wo man sich wieder gern um den brennenden Kamin
scharte. Hauptsächlich nach dem Abendessen, wenn alle

im Hause waren.
Manchmal fand sich das Ehepaar Nargitt dazu ein, und
dann schwelgte man in »höheren Regionen«.
Aber gar so hoch waren sie bei Thea nicht immer. Sie
konnte ganz nett auf die Erde purzeln, wenn es um – Geld
ging. Und so sagte sie denn auch zu dem Bruder, kurz
nachdem er von seiner traurigen Reise zurückgekehrt war:
»Wie gut für dich, Eike, daß du noch nicht von Ilona
geschieden warst, bevor sie starb! So kannst du jetzt ihre
Erbschaft antreten, die sicherlich enorm ist. Und wenn gar
noch deine reichen Schwiegereltern sterben…«
»So wirst du von ihrer Hinterlassenschaft bestimmt nichts

abbekommen«, fiel ihr der Bruder ironisch ins Wort.
»Willst du das nicht meine eigene Angelegenheit sein
lassen?«
»Aber, mein Himmel, sei doch nicht gleich so eklig!«
entrüstete sie sich. »Man kann doch wohl noch seine
Meinung äußern, ohne gleich angefahren zu werden!
Komm, Herzensmännchen, wir kehren in unser trautes
Heim zurück!«
»Na, na, Mutzilein, wer wird denn gleich so gekränkt sein!«
sprach er ihr begütigend zu. »Schau mal, du mußt deinem
Bruder jetzt noch nicht mit solchen Dingen kommen, die

background image

ja nun wirklich allein seine Angelegenheiten sind. Deshalb
wirst du doch nicht gleich im Groll dein Elternhaus

verlassen.«
»Ja, wenn du meinst, du Herzgeliebter – «
Also war dieses noch immer für Thea das erste Gebot, dem
sie sich demütig fügte.
Nur gut, daß dieser »Herzgeliebte« selbst so ein
schwärmerisch veranlagtes Gemüt war, sonst wäre ihm so
viel süßduselige Fügsamkeit allmählich auf die Nerven
gefallen. So jedoch gab es zwischen dem Paar nur Güte und
Liebe – und mehr konnte man von der Ehe nun wirklich
nicht verlangen.
Doch Thea hatte mit ihrer Vermutung recht. Es war ein
reiches Erbe, das Eike Hadebrecht gemeinsam mit seiner

Tochter antreten konnte, und das ihm kraft des Gesetzes
zukam. Deshalb sträubte er sich nicht, es anzuerkennen.
Klein-Ute merkte nichts davon, daß sie jetzt keine Mutter
mehr hatte. Sie wurde von so viel Liebe umgeben, daß sie
wie ein treubehütetes Pflänzchen wachsen und gedeihen
konnte.
An einer Spielgefährtin mangelte es Ute auch nicht, denn
Anka weilte nach wie vor mehr bei ihren Großeltern als zu
Hause. Sie besuchte jetzt die Schule und kam sich sehr
wichtig vor. Altklug war sie immer noch und vorwitzig
auch. Aber das würde sich schon mit der Zeit geben, wenn
sie nicht mehr so ausschließlich mit ihrer Mutter

zusammen war, die es auch jetzt noch nicht lassen konnte,
schwerwiegende Gespräche vor den spitzen Ohren ihrer
Tochter zu führen. Und es war gut, daß nur Ottilie und
Philchen allein es hörten, als Anka wichtig sagte:
»Weißt du, Omi, was die Mami befürchtet?«
»Da bin ich aber neugierig, mein Kind!«
»Daß Onkel Eike Fräulein Silje heiraten wird. Das könnte
dem fremden Mädchen noch so passen, sich hier ins
mollige Nest zu setzen! Meinst du das auch, Omi?«
Zuerst sahen die beiden Damen sich entsetzt an, doch
dann fragte Philchen, so harmlos sie konnte:

background image

»Wann hat die Mami darüber gesprochen, Anka?«
»Gestern – zum Papi.«

»Und was sagte er darauf?«
»Daß es ein großes Glück für Onkel Eike wäre, wenn er
Fräulein Silje zur Frau bekäme. Das wäre nämlich ein ganz
wunderbares Menschenkind. Und um Geld brauchte Onkel
Eike doch wahrlich nicht zu heiraten, nach dem Erbe von
Tante Ilona schon ganz und gar nicht.«
»Und was sagte die Mami darauf?«
»Sie sagte: Ja, wenn du meinst, Herzensschatz!«
Jetzt hatten die beiden Damen Mühe, ein amüsiertes
Lachen zurückzuhalten. Doch sie durften das Kind nicht
stutzig machen. Daher meinte Philchen harmlos:
»Weißt du, Anka, man darf nicht alles wiedererzählen, was

zwischen den Eltern gesprochen wird.«
»Das tu ich sonst auch nicht«, bekannte das Kind
treuherzig. »Onkel Eike würde ich es bestimmt nicht sagen
und Fräulein Silje auch nicht. Ich habe ein Gedicht in der
Schule gelernt, das mir sehr gefällt. Ein Vers lautet so:

Du hast zwei Ohren und einen Mund,
mach’s dir zu eigen,
gar manches sollst du hören -
und manches verschweigen.

Ist das nicht hübsch gesagt, Tante Philchen?«

»Ja, du kleine Philosophin«, zog sie das Kind an sich, es
herzlich küssend. »Wenn du diese Mahnung befolgst, wirst
du nie eine Plaudertasche werden.«
»Oh, das will ich gewiß nicht sein. Papi meint – «
Nun lachten die beiden Damen denn doch. Und Anka, die
ja nicht wußte, worum es ging, tat fröhlich mit.
»Dieser Reinhold in seiner menschlichen Güte scheint sich
nicht nur auf seine Frau, sondern auch auf seine
neunmalkluge Tochter segensreich auszuwirken«, sagte
Philine lachend zu ihrer Schwägerin, nachdem die beiden
Kinder gegangen waren.

background image

Der Herbst verging, der Winter kam und mit ihm Eis und
Schnee. Schwer lag er auf den Bäumen des Parkes, die ob

der schweren Last ächzten und sie dennoch geduldig
trugen. Die Wege waren freigeschaufelt, so weit sie um das
Hadebrecht-Haus führten. Alles andere jedoch lag
unberührt in seiner fleckenlosen Weiße.
Es war schön, sich draußen in der Kälte zu tummeln und
dann zurückzukehren ins traute Wohngemach, wo auf dem
Tisch die knusprigen Bratäpfel standen und Grog von
Rotwein oder Rum. Hie und da tauchte auch schon
Weihnachtsgebäck auf, die Kerzen am Adventskranz
knisterten leise.
Wie war es doch dann so lieb und traut, wenn Silje den
beiden Kindern die alten Weihnachtsmärchen erzählte,

denen aber auch die Erwachsenen gern lauschten! Die
weiche, herzwarme Stimme zu hören, war allein schon ein
Genuß.
Und wie reizend sie zu plaudern wußte von Knecht
Ruprecht und den Engelein, die seine Helfer waren! Von
den armen Kindern, die von ihm beschenkt wurden, von
dem Mädchen mit den Zündhölzern, von der
Schneekönigin und so weiter. Dabei wurde immer das Böse
bestraft, und das Gute triumphierte.
»Demnach müßte Tante Ilona jetzt in der Hölle sein«,
meinte Anka nach einer Erzählung in ihrer bedächtigen Art.
»Denn sie war nicht lieb und gut, sondern schlecht und

zänkisch, sagt meine Mami.«
Die Erwachsenen hielten vor Spannung den Atem an, was
Silje wohl auf diese berechtigte Feststellung antworten
würde.
Und schon kam es, was lieb und versöhnend klang:
»Da irrst du, Anka. Tante Ilona mußte so sein, weil der
liebe Gott es wünschte. Jetzt sitzt sie oben bei den Engelein
und berät mit ihnen, was wohl zu tun wäre, um deine
geheimen Weihnachtswünsche zu erfüllen.«
»Oh, dann weiß sie wohl auch, daß ich mir eine kleine
Kinokamera so sehnlich wünsche?« fragte Anka aufgeregt,

background image

und Silje nickte.
»Gewiß weiß sie das.«

»Und weiß sie auch, daß meine Puppe Dido ihr Bettchen
zerbrochen hat?« forschte die Kleine nicht weniger
aufgeregt.
»Auch das weiß sie, Utelein.«
»Na, dann kann die Dido zufrieden sein.«
Es klang so drollig, daß die anderen herzlich lachen
mußten. Selbst der Papi, von dem jetzt langsam der düstere
Ernst abzufallen schien.
Jedenfalls war es jetzt schön im Hadebrecht-Haus, wozu
der Frohsinn und das goldige Lachen Siljes viel beitrugen.
Man liebte sie mit tiefer Zärtlichkeit; auch Anka tat es jetzt.
Und dann kamen noch einige Menschen hinzu, denen das

frischfröhliche Mädchen ein Begriff wurde. Und zwar ein
Vetter Philipps mütterlicherseits, der in jungen Jahren nach
Amerika ausgewandert war und sich dort durch Tüchtigkeit
und eine reiche Heirat ein recht warmes Nest geschaffen
hatte.
Diesen packte nun plötzlich die Sehnsucht, wieder einmal
ein echt deutsches Weihnachtsfest zu verleben.
Und da er ein Mensch von raschen Entschlüssen war,
fackelte er nicht lange, sondern machte mit Gattin und
Sohn »einer kleiner Abstecher« nach Deutschland. Traf kurz
vor Weihnachten bei seinem Vetter Philipp ein, der ihm
von der ganzen Verwandtschaft immer am liebsten

gewesen war.
Und mit diesen drei Menschen kam frohes, lärmendes
Leben ins Haus. Dick Brown, in seinem Taufschein stand
Richard Braun, war ein smarter Geschäftsmann. Seine
Gattin zierlich und quicklebendig, sein Sohn das, was man
ein kreuzfideles Haus nennt.
Es gab nun einen Wirbel vor dem Fest, daß man kaum zur
Besinnung kam. Mabel, die Mutter, und Bob, der Sohn,
waren der Ansicht, daß Weihnachten feiern einen Waggon
voll Geschenke bedeutete. Nur mühsam konnte man es
ihnen ausreden und bereitete ihnen damit eine

background image

Enttäuschung.
Wie denn – man hatte doch Geld genug, um die Gastgeber

und deren Anhang gewissermaßen von oben bis unten
beschenken zu können! Aber leider schienen diese
Menschen selbst Geld genug zu besitzen, um sich jeden
vernünftigen Wunsch gegenseitig erfüllen zu können.
Das heißt, bei Thea hätten sie ihr Portemonnaie ganz weit
aufmachen können, sie wäre davon hochbeglückt gewesen.
Aber gerade bei ihr lag ihnen am wenigsten daran.
Ihnen gefiel sie nicht besonders, »dieses verdrehliche Frau«,
wie Mabel sie nannte, der die deutsche Sprache nicht so
geläufig war wie Gatten und Sohn.
Reinhold – na ja, mit dem ging’s, obwohl er ein zu
»behutsames Mann« war und Anka zu »weisernasen«.

Aber die anderen, die gefielen ihnen gut. Am besten das
»entzuckender Mädchen«, in das sich der junge Brown
gleich über Kopf und Kragen verliebte und das er möglichst
vom Fleck weg heiraten wollte, wie er sofort seinen Eltern
kategorisch erklärte.
Nun, die Eltern hatten nichts dagegen. Und sollte diese
überstürzte Ehe etwa schiefgehen, konnte sie ja geschieden
werden. Warum also dem Jungen den Spaß verderben?
Deshalb hätten sie Silje am Weihnachtsabend auch am
liebsten mit Geschenken überschüttet, mußten sich jedoch
dem ziemlich deutlichen Verbot des Hausherrn fügen.
So erhielten sie denn alle am Weihnachtsabend

»Aufmerksamkeiten«, mit denen sie nichts anzufangen
wußten. Traurig sah Thea auf ein Kochbuch, das sie schon
besaß, und Reinhold verblüfft auf Sockenhalter elegantester
Ausführung. Man war der Ansicht, daß der Mann so was
bestimmt noch trüge.
Ottilie und Philine bekamen Zigarettenspitzen, weil sie
überhaupt nicht rauchten, Philipp eine Krawatte, an der ein
Dandy seine helle Freude gehabt hätte, und Eike eine
Hundepeitsche, weil man momentan keinen Hund im
Hause hatte, da der alte eingegangen war.
Und Silje? Heißerrötend betrachtete sie den Witz von

background image

Nachtkleid, eine Gabe Mabels, mit einem Lachen
kämpfend, die reizende Puderdose, für die Dick

verantwortlich zeichnete, und mit Unbehagen den Strauß
roter Rosen nebst Riesenbonbonniere, zu denen sich Bob
strahlend bekannte.
Anka empörte sich heimlich über das Bilderbuch. »Für
unsere Kleinen«, und nur Ute war selig über die große
Puppe, die sie kaum fortschleppen konnte.
Doch die Aufmerksamkeiten, welche die Gäste erhielten,
waren tatsächlich sinnvoll gewählt und riefen bei den
verwöhnten Menschen kindliche Freude hervor. Jedenfalls
hatten alle ihr Bestes gewollt, und das allein war schon
anerkennenswert.
Was man mit Silje vorhatte, unterbreitete das Ehepaar

Brown den anderen – außer den beiden Hauptbeteiligten,
die eine Schlittenfahrt machten – als man am ersten
Feiertag geruhsam beisammensaß. Aber da machte der
Hausherr ihnen klar, daß es doch nicht ganz so einfach
wäre, wie sie annahmen. Denn er wäre als Vormund nicht
gewillt, sein Mündel in unsichere Verhältnisse gehen zu
lassen.
»Na, erlaube mal, was sollen das denn wohl für unsichere
Verhältnisse sein!« brauste der Vetter auf. »Unser Haus ist
ein gutes und reiches.«
»Das bezweifle ich ja auch gar nicht«, beschwichtigte
Philipp den Aufgebrachten. »Ich habe damit nicht euch

persönlich gemeint, sondern die Verhältnisse im fremden
Land. Außerdem weiß man ja gar nicht, ob Silje deinen
Bob überhaupt liebt.«
»Hach, dann sein das eine lachhafte Girl!« fühlte die
Mutter des jungen Mannes sich in ihrer Eitelkeit getroffen.
»Meiner Sohn können haben Frauen ohne Zahlen. Aber er
willen nicht, er willen das Silje. Und ich und meiner liebe
Mann wollen auch. Und ihr sein eine abgünstige Pack,
willen ich sagen.«
Das war zwar ernst gemeint, klang jedoch so drollig, daß
die anderen lachen mußten. Und da Frau Mabel kein

background image

Spielverderber war, tat sie lustig mit.
Jetzt traten auch die beiden jungen Menschen hinzu, lustig

und fidel, mit kältegeröteten Wangen und blitzenden
Augen.
»Wir sind Schlitten gefahren«, berichtete Bob strahlend. »So
richtig mit Pelzdecken und lustigen Schellen, wie du es uns
immer erzähltest, Daddy. Das war ein Spaß – und ich bin
glücklich!«
Man glaubte es ihm ohne weiteres, wenn man seine
leuchtenden Augen sah – und die Siljes leuchteten nicht
minder. Philines Herz zog sich schmerzend zusammen.
Was sollte werden, wenn Silje sich wirklich in den jungen
Mann verliebt hatte? Dann würde es bestimmt so kommen,
wie er und seine Eltern es als Selbstverständlichkeit

annahmen.
Das sagte sie auch zu Schwägerin und Bruder, als sie diese
am nächsten Morgen allein erwischen konnte. Und
während Ottilie bekümmert dreinschaute, sagte Philipp
unwirsch:
»Ich werde aus Eike überhaupt nicht mehr klug. Hat er
denn gar kein Blut in den Adern, daß er so gelassen mit
ansehen kann, wie ein anderer ihm das prächtige
Menschenkind gewissermaßen vor der Nase wegschnappt?
Der Kuckuck soll das alles holen!«
»Aber Mann, wie kann man gleich so ungehalten sein!«
beschwichtigte die Gattin den Erbosten. »Vielleicht liebt

Eike das Mädchen gar nicht so, wie wir immer annahmen.«
»Dann ist er ein Narr!«
Die Tür knallte hinter ihm zu, und Ottilie klagte:
»Ach, Philchen, daß wir aus dem Hadebrecht-Haus doch
nicht zur Ruhe kommen können! Wären sie doch nur zu
Hause geblieben, die uns jetzt unsere Silje nehmen
wollen!«
»Na, na, noch ist es ja nicht soweit«, tröstete die
Schwägerin – aber überzeugend klang das nicht. Und auch
Philine wünschte, gleich ihrem Bruder, diese überhebliche
Verwandtschaft zum roten Kuckuck.

background image

Die Hände in den Hosentaschen, einen schmissigen
Schlager vor sich hin pfeifend, so schob sich Bob ins

Zimmer, wo seine Eltern in Gesellschaft Ottilies und
Philines saßen.
»Morgen!« grüßte er nachlässig. »Schon gefrühstückt?«
»Schon ist gut«, lachte der Vater. »Es ist zehn Uhr.
Verschlafen, my boy?«
»No«, ließ er sich in einen Sessel fallen und gähnte
ungeniert. »Aber ich hatte keine Lust, früher aufzustehen,
weil ich nicht weiß, was ich anfangen soll. Ohne Silje
macht mir alles keinen Spaß.«
»Schläft sie noch?« fragte die Mutter verwundert.
»Nein, sie arbeitet. Als ob sie das jetzt noch nötig hätte, wo
sie ohnehin meine Frau wird!«

»Oh, dann sein sie schon dein liebes Braut?«
»Noch nicht, Ma, noch tut sie spröde. Aber das legt sich
bald.«
»Also noch kein Küßchen?« zwinkerte der Vater seinem
Filius verschmitzt zu, der unwillkürlich die Handflächen an
die Wangen legte.
»Lieber nicht!« schnitt er dabei eine Grimasse. »Ich glaube,
die haut.«
»Das glaube ich auch«, lachte Philchen schadenfroh. »Die
gehört nämlich nicht zu den Mädchen, die sich gleich
küssen lassen.«
»Aber ich kenne sie ja schon seit einer Wochen!« war Bob

verwundert. »Das ist doch eigentlich schon lange. Aber
wenn ich von Heiraten spreche, lacht sie mich aus – und
sie kann so wonderful lachen. Ich muß sie gleich mal
sehen, sonst komm ich vor Sehnsucht um.«
Weg war er, um jedoch schon nach einer halben Stunde
zurückzukehren, verärgert und verdrießlich.
»Na, gemütlich geht’s in dem Betrieb bestimmt nicht zu«,
maulte er. »Da sitzt alles wie hinter Gefängnismauern. Auf
meine Frage, in welchem Zimmer ich Fräulein Berledes
sprechen könnte, bedauerte das Ekel von Portier, daß die
Angestellten während der Dienstzeit überhaupt nicht zu

background image

sprechen wären.«
»Haben du ihm nicht dafür eins gelangt?« fragte die Mutter

empört. »Du sein doch hier Gast vom Boß!«
»Das sagte ich ihm auch, worauf er denn gnädig durch den
Apparat fragte, wo man das gnädige Fräulein momentan
finden könnte. Sie ist beim Juniorchef zum Diktat, sagte er
mir dann.
Na, was ich ihm darauf sagte, weiß ich nicht mehr, aber ein
Gentleman sagt so was sonst nicht«, schloß er verdrossen.
Philchen lachte ihn lieblich an.
»Jetzt weißt du wenigstens, wie das ist, wenn in euren
Betrieb ein junger Mann kommt, der eine Angestellte
während der Dienstzeit sprechen will. Denn ich glaube
nicht, daß die Geschäftsdisziplin bei euch anders ist als bei

uns.«
»Ach was, Silje ist ja gar nicht richtig eine Angestellte!«
maulte er weiter wie ein Kind, dem man ein begehrtes
Spielzeug vorenthielt.
Aber Philchen beharrte:
»Doch, sie ist’s – und wünscht selbst keine Ausnahme zu
machen.«
Das sagte ihm Silje auch persönlich, als sich Bob am
Mittagstisch über den mißglückten Besuch bei ihr beklagte.
»Mein lieber Herr Brown, bei uns heißt es: Dienst ist
Dienst, und Schnaps ist Schnaps.«
»Racker!« drohte Brown senior ihr schmunzelnd. »Aber ein

entzückender! Nun steck deine finstere Miene weg, boy –
deiner Sehnsucht Traum sitzt ja neben dir. Die Chefs
werden ihrer armen Angestellten einen Sonderurlaub bis
zum Ende des Jahres bewilligen, das ja nur noch vier Tage
währt. Nicht wahr, ihr Gestrengen?«
»Nein«, entgegnete Eike gelassen. »Wenigstens ich nicht, da
Fräulein Berledes zur Zeit als Nachfolgerin von meiner
Sekretärin eingearbeitet wird, die mit dem letzten Tag des
Jahres aus dem Betrieb ausscheidet, weil sie heiraten will.«
»Na, das wollen wir doch mal sehen!« brauste Bob auf. »Ich
gedenke nämlich auch zu heiraten, und zwar Silje.«

background image

Weiter kam er nicht unter den ironischen Blicken Eikes, der
mit einer Ruhe, die andere manchmal rasend machen

konnte, meinte:
»Das ändert allerdings die Sache. Da kann Fräulein
Berledes selbstverständlich zu jeder Zeit aus ihrem Dienst
ausscheiden.«
»Aber das will ich ja gar nicht!« schaltete sich jetzt Silje
ärgerlich ein. »Wie kommen Sie denn überhaupt dazu, so
ohne weiteres über mich zu verfügen, Herr Brown?«
»Aber Silje – du hast doch gesagt – du wolltest doch –
«,stotterte er unter ihrem zürnenden Blick.
»Nichts habe ich, und nichts wollte ich, verstanden? Was
fällt Ihnen ein, mich mir nichts, dir nichts zu duzen? Soviel
ich weiß, habe ich Ihnen die Erlaubnis dazu nicht erteilt.«

»Aber du tust es jetzt, nicht wahr?« schmeichelte Bob,
seinen Kopf dem ihren ganz nahe bringend. Sein Arm hob
sich, um die Zurückweichende, in deren Augen es
gefährlich aufblitzte, zu umfassen – und da hob die
Hausherrin geistesgegenwärtig die Tafel auf.
Ehe man so recht zur Besinnung kommen konnte, hatte
Silje das Zimmer verlassen.
»Na, das sein ja ein ganz ungeratener Mädchen!« sprach
Frau Mabel da in die beklemmende Stille hinein. »Du
haben es übel gezogen, deine Mündel, Phil. Bei uns wir
kennen solches nicht.«
»Dann seid froh!« lachte der Hausherr über das ganze

Gesicht. Am liebsten hätte er einen Jauchzer ausgestoßen,
so froh war ihm zumute.
Ottilie und Philchen strahlten – und Eike hatte ein ganz
eigenes Leuchten in den Augen.
Und das sollte Frau Mabel nun verstehen, die sich zutiefst
gekränkt fühlte! Nein, die Verwandten des Gatten gefielen
ihr plötzlich gar nicht mehr.
Und dieses Mädchen – anstatt himmelhoch dankbar zu
sein, daß »so ein reiches Mann« wie Bob es überhaupt
heiraten wollte, spielte es sich wie eine Erbtochter auf,
hinter der Milliarden standen!

background image

»Kommt, wir gehen raus aus dieser Haus, wo man lacht
über Weinen!« erklärte sie energisch. »Anstatt ungezogener

Mädchen blasen das Marsch, lassen man es frech gehen.
Packen wir Sachen und sagen bye-bye!«
Leider verfehlte diese zornerfüllte Rede, welche die
Hadebrechts samt und sonders in Grund und Boden
schmettern sollte, ihre Wirkung, weil sie gar zu drollig
klang. Selbst auf dem Gesicht des Gemahls der resoluten
Dame zeigte sich ein Schmunzeln. Denn er nahm diese
Angelegenheit durchaus nicht tragisch.
Du lieber Himmel, sein Junge war bestimmt nicht auf
dieses süße kleine Mädchen angewiesen – der bekam
Frauen noch und noch! War’s nicht diese, war’s eben eine
andere.

Aber er mußte dennoch so tun als ob, um die Gattin nicht
noch mehr zu erzürnen. Wenn Mamchen befahl, hatten
Papa und Sohnemann zu gehorchen, das war nun mal
erstes Gesetz im Hause Brown.
Und so kam es denn, daß die Gäste ebenso plötzlich
verschwanden, wie sie vor einer Woche aufgetaucht waren.
Silje, die wie gewöhnlich pünktlich zum Dienst gegangen
war, erfuhr diese Neuigkeit erst nach ihrer Rückkehr. Und
zwar von Philchen, die sie auf ihrem Zimmer bereits
ungeduldig erwartete.
»So bin ich es – wirklich ich – welche die Veranlassung zu
der überstürzten Abreise gab?« fragte sie erschrocken. »Das

habe ich bei Gott nicht gewollt! Ist man mir hier im Hause
bitter gram, daß ich die Gäste vertrieben habe?«
»Aber gar nicht!« beruhigte Philchen scheinheilig. »Da
brauchst du gar nicht so ängstliche Augen zu machen. Oder
tut es dir leid, daß du deinen Freier los bist?« setzte sie
lauernd hinzu.
Silje winkte fast verächtlich ab.
»Ach, woher denn? Froh bin ich, daß ich mich gegen den
stürmischen jungen Mann nicht mehr zu wehren brauch. O
Gott, hatte der ein Tempo! Verlobung, Hochzeit,
Scheidung – das möglichst an einem Tag. Warum lachst du

background image

denn so vergnügt, Philchen?«
»Über deine komische Entrüstung, Marjellchen. Aber du

hast recht, ein solches Tempo sind wir hier nicht gewohnt
– Gott sei Dank! Doch nun komm, der Gong ruft zum
Abendessen. Ich bin ordentlich froh, daß man es jetzt
wieder ohne die quecksilberige Gesellschaft einnehmen
kann. Es sind zwar liebe, gute Menschen, die Browns, aber
sie können einem mit ihrem schwindelerregenden Tempo
auf die Nerven fallen.«
»Philchen, ich habe Angst.«
»Wovor denn?«
»Daß man mir unten Vorwürfe machen könnte.«
»Schaf«, entgegnete Philchen, und es klang sehr, sehr
zärtlich. »Hast du eine Ahnung! In Gold möchten sie dich

am liebsten fassen.«
Das verstand Silje zwar nicht, war jedoch froh, als man sie
unten mit besonderer Herzlichkeit empfing. So gut Bob
Brown ihr in seiner frischen Jungenhaftigkeit auch gefallen,
so sehr hatte sie sich von seinen ehrlichen Heiratsabsichten
bedrückt gefühlt, weil sie seine Frau nun einmal nicht
werden konnte und auch nicht wollte. Denn ihr Herz lag
tief verankert im Hadebrecht-Haus. Es verlassen sollen,
hieße für sie, ihr Leben aufgeben müssen – auch wenn
ihres Herzens bangende Sehnsucht keine Erfüllung finden
sollte. Ihr blieb dann immer noch ein liebes, trautes
Zuhause.

Und wie traut dieses Zuhause war, kam dem Waisenkind
Silje Berledes erst jetzt so recht zum Bewußtsein. Es umfing
sie wie mit linden Armen, wenn sie vom Dienst kam, der
ihr selbst schon so viel Schönes bot.
Was tat’s, daß der Juniorchef sie stets korrekt als Sekretärin
behandelte? Er war ihr nahe, sprach mit ihr. Hatte sogar ein
Lächeln für sie – und wenn es gleich einem Lapsus galt, der
sich manchmal noch in ihre Arbeiten stahl.
Aber dieses Lächeln war so lieb und gut, daß die Sekretärin
es am liebsten immer wieder heraufbeschworen hätte –
wenn ihr Ehrgeiz nicht gewesen wäre.

background image

Also nahm sie sich zusammen. Sie wollte doch dem
gestrengen Chef beweisen, daß er keinen Fehlgriff tat, als er

gerade sie zur Nachfolgerin seiner tüchtigen Sekretärin
erwählte. Nicht der Protektion wollte sie diesen
bevorzugten Posten verdanken, sondern allein ihrem
Können.
So wurde im Dienst durchaus korrekt gearbeitet. Aber zu
Hause, ja, da war es anders. Da war Eike Hadebrecht nicht
mehr der Juniorchef und Silje Berledes nicht mehr die noch
unsichere Sekretärin, da war man Mensch zu Mensch.
Viel mehr noch. Silje war ein zärtlich geliebtes
Haustöchterchen, das man um alles in der Welt nicht mehr
missen wollte. Das war schon lange so gewesen, war aber
Silje nie so bewußt geworden wie in den Tagen zwischen

Weihnachten und Neujahr, als die »Holterdiepolters«, wie
Philipp seine amerikanischen Verwandten bezeichnete,
hier herumspektakelten und Silje gar mit sich wirbeln
wollten in ein ihr fremdes Land.
Da packte Silje bebende Angst, die erst schwand, als die
Gefahr vorüber war. Sie durfte sich jetzt wieder sicher
fühlen unter den Menschen, die sie von ganzer Seele liebte
und denen sie mit ganzem Herzen verfallen war.
Und am Tage vor Silvester kam auch wieder die Geige zu
Wort, die nach Ilonas Tod geschwiegen hatte. Man wollte
sie endlich wieder einmal hören, und gern gab Silje dem
Wunsch nach.

Wie etwas Heiliges hielt sie die Geige des einst so
strahlenden Künstlers Thomas Brecht im Arm, dessen Liebe
zu seiner Stieftochter noch über das Grab hinaus wirkte.
Denn hätte er diese kurz vor dem Tode seinem Vater nicht
so warm ans Herz gelegt, dann wäre es Silje Berledes
genauso ergangen wie anderen elternlosen, unbehüteten
Jungmädchen.
»Laß meine Silje, die mir genau so wert ist wie ein eigenes,
herzliebes Kind, eine traute Heimat im Hadebrecht-Haus
finden – «, schrieb der Mann flehentlich, der schon seinen
Tod nahen fühlte. »Laß sie zu euch gehören wie ein junges

background image

Reis am Baum – und es wird ein gutes Reis sein.«
An diese Worte dachte Philipp Hadebrecht, als das

Vermächtnis seines Sohnes an ihn jetzt holdselig dastand.
Gebe Gott, daß das Schicksal dieses zarte Reis nicht vom
Stamm der Hadebrecht abschlüge!
Fast wäre es schon soweit gewesen, daß man dieses zarte
Reis auf einen fremden Stamm gepfropft hätte. Aber noch
war dieses unerbittliche Schicksal an denen im Hadebrecht-
Haus vorübergegangen.
»Laß mich, Tante Philchen!« wehrte Eike, als diese an den
Flügel treten wollte, um das Geigenspiel zu begleiten. »Was
die Geige des Meisters zu sagen hat, werde auch ich
begreifen.«
»Na, wenn man«, betrachtete Philchen ihren schneidigen

Neffen skeptisch. »Dazu gehört viel Herz und viel Gefühl.«
»Wer sagt, daß ich beides nicht habe?«
»Deine Gelassenheit, mein Sohn.«
Da lachte Eike Hadebrecht so frei und froh, wie er schon
lange nicht mehr gelacht hatte. Er nahm am Flügel Platz
und präludierte so lange, bis eine bekannte Melodie hörbar
wurde, die Silje auf der Geige sofort aufgriff.
Es war ein Zusammenklang der Instrumente in seliger
Freude, in Lust und Schmerz, wie es der fremdländische
Prinz in Lehárs unsterblicher Operette »Das Land des
Lächelns« empfand:

Dein ist mein ganzes Herz –
wo du nicht bist, kann ich nicht sein –

Wie eine Offenbarung klang es, wie ein Bekenntnis voll
süßer Schwere, dieses flehende: Wo du nicht bist, kann ich
nicht sein.
Das war schon oft gesagt von Dichtern, schon oft
empfunden von Herz zu Herz. Aber es blieb immer neu,
das beschwörende: Wo du nicht bist, kann ich nicht sein.
Und wird es bleiben, solange die Welt atmet, solange
sehnsüchtige Menschen darauf leben.

background image

Dann wich das Klavierspiel von der Melodie ab, erging sich
in Variationen, bis eine andere Weise aufklang, die auch

der Geigerin wohlbekannt war. Sie erzählte von dem
schönen Spielmann, der am Waldessaum schlief und dem
sich im Traum drei wunderschöne Mädchen vorstellten:
»Der Glaube und die Liebe, die Hoffnung heißen wir, wen
du von uns erwählest, zieht in dein Haus mit dir.« Der
Spielmann ward verlegen und sagt’: »Ich hab’ kein Haus,
ihr alle drei sollt folgen, mir in die Welt hinaus.«
»Nur eine kann dir folgen, nur eine, die wird dein, nur eine
darfst du wählen, nur eine soll es sein.«
»Darf ich nur eine wählen, und soll es nur eine sein, dann
wähl ich mir die Liebe, die sei fortan die Mein’.«
Da sprachen die drei Mädchen: »Du trafst die rechte Wahl,

die Liebe ist im Leben das höchste Glück zumal. Wir
andern aber beide, wir wollen auch mit dir gehn, denn
ohne Glaube und Hoffnung, kann die Liebe nicht
bestehn.«
Schon längst hatte die herzinnige Stimme der Geigerin
eingesetzt, gleich zu Anfang des Liedes. Wie träumend
sprach der jungrote Mund, was ein Dichter einst empfand,
dessen Worte Ewigkeitswert behalten sollten. Denn Liebe
ist wohl zuerst allein schon beglückend genug, doch wenn
sie Bestand haben soll, dürfen Glaube und Hoffnung dabei
nicht fehlen.
Silje Berledes war noch nie so schön gewesen, wie jetzt in

ihrer Verträumtheit.
Der Mann am Flügel konnte keinen Blick lassen von der
zaubersüßen Gestalt. Um seinen Mund lag jetzt das
Lächeln, das Silje so sehr an ihm liebte, und in seinen
Augen stand ein glückhaftes Leuchten.
Die Zuhörer wagten kaum, sich zu rühren, fühlten sich wie
verzaubert durch eine fremde, heilige Macht.
Am Silvestermorgen geschah dasselbe wie vor einem Jahr.
Philchen weckte das Geburtstagskind eine Stunde früher als
gewöhnlich. Sah schmunzelnd mit an, wie die
verschlafenen Augen blinzelten, wie der Mund sich zu

background image

einem herzhaften Gähnen öffnete, wie der jugendschöne
Mädchenkörper sich dehnte und streckte.

»Das alles habe ich schon einmal erlebt«, meinte Philchen
trocken. »Nur daß du damals ein Jahr jünger warst, du
kleine Schlafmütze.«
»Hach, Geburtstag habe ich heute!« machte Silje einen
Freudensprung aus dem Bett. »Sag Philelinchen, was wird
er mir bringen?«
»Wahrscheinlich niedliche Fixfaxereien.«
»Und weiter?«
»Mädchen, ich bin keine Hellseherin.«
»Aber ein Scheusal – und zwar ein sehr geliebtes«, lachte
das frischfröhliche Menschenkind die Tonleiter auf und
nieder. Dann verschwand es im Badezimmer, rückte bald

darauf blankgeputzt in Philchens Wohngemach an – und
machte ein enttäuschtes Gesicht.
»Philinchen, es sieht ja hier aus wie immer!«
»Na, was denn sonst, du kleines Schaf? Meinst du etwa,
daß du immer noch mein alleiniges Eigentum bist wie vor
einem Jahr? Man macht mir dieses Besitzerrecht schon
längst streitig. Komm nach unten, da findest du heute
deinen Geburtstagstisch.«
Und er war reich, wie Silje bald darauf feststellen konnte.
Für die entzückenden »Fixfaxereien« zeichneten Ottilie und
Philine, doch für das Sparkassenbuch mußte der Vormund
geradestehen.

Die darin vermerkte Summe war so hoch, daß Silje sie
zuerst erschrocken anstarrte – und dann zu protestieren
versuchte.
»Onkel Philipp, das geht doch nicht…«
»Warum nicht? Ich werde meinem Mündel doch wohl
noch ein Geburtstagsgeschenk machen können!«
»Dann streich bitte zwei Nullen.«
»Fällt mir gar nicht ein. Noch etwas?«
»Nein, ich füge mich schon«, lachte Silje.
Und dann blieb ihr Blick an einem Strauß haften, der
gleich einem flammenden Liebesgruß alles andere

background image

überstrahlte. Rote Rosen waren es, zwanzig an der Zahl, die
in einer kostbaren Vase prunkten. Und ebenso leuchtend

rot waren die Wangen des Geburtstagskindes, das den Blick
nicht zu heben wagte. Es bot einen holden Anblick, der
den Menschen, die es umstanden, das Herz aufgehen ließ,
ganz groß und weit.
Und was kam da angetrippelt? – Ute Hadebrecht, in der
ganzen Allerliebstheit ihrer drei Jahre. Das mollige
Körperchen steckte in einem niedlichen Strickkleid, die
dicken Patschen hielten mehr liebevoll als vorsichtig einen
Strauß Christrosen, der nun dem Geburtstagskind
strahlend gereicht wurde.
»Da, nimm, Tante Sil!« plauderte das rote Mündchen, das
sich immer noch nicht zu schwierigen Worten formen

wollte und es daher nonchalant bei Abkürzungen ließ. »Da
nimm – mit Gottes Segen.«
»Aber Ute, das kommt doch erst in dem Gedicht vor, das
du der lieben Tante aufsagen sollst!« bemerkte der Vater
lachend, doch das Töchterlein winkte mit der Geste einer
Dame von Welt ab:
»Laß nur Papi, geht so besser.«
»Und kommt auf eins heraus«, lachte der Opapa in seinem
dröhnenden Baß. »Du hast den Sinn erfaßt, Marjellchen!
Aber was umspannt denn da dein molliges Ärmchen? Das
sieht ja ganz nach einer goldenen Fessel aus.«
»Das ßenk ich Tante Sil«, erklärte das Mägdlein strahlend.

»Das da unten, das ist meins.«
Damit tippte das rosige Fingerchen auf ein silbernes
Kettchen am Handgelenk, doch darüber gleißte es von
Gold und Edelsteinen. Als das tapsige Händchen dieses
Kleinod abstreifen wollte, verfing es sich in dem silbernen
Kettchen, und die Kleine lachte.
»S-treif über, Tante Sil, dann sind wir beide
ßzusammengebunden. Dann kannst du nis mehr weg, wie
Anka sagt und ihre Mami. Auch nis mal bis Amerika.«
Man konnte sich ungefähr denken, was das Kind da
aufgeschnappt hatte und nun in seiner Unschuld

background image

wiedergab.
Doch bevor noch ein Peinlichkeitsgefühl aufkommen

konnte, griff schon eine nervige Männerhand zu, löste
geschickt das Armband von dem silbernen Kettchen und
streifte es rasch auf einen weichen, warmen Mädchenarm.
»Is aber von mir!« bemerkte das Mägdlein stolz.
Bevor es noch mehr ausplaudern konnte, warf Philchen
eine trockene Bemerkung dazwischen, die sie alle herzlich
lachen machte.
»Leider müssen wir zwei Mannsleut noch eine dringende
Geschäftsreise machen«, erklärte der Hausherr, als man am
Frühstückstisch saß.
»Wir täten’s wahrhaftig nicht, wenn nicht so viel davon
abhinge. Aber am Abend sind wir bestimmt zurück, und

wenn es da gleich Eisklumpen hageln sollte.«
Nachdem man gefrühstückt hatte, sagte der Senior
schmunzelnd:
»Nun komm, mein Sohn. Begeben wir uns hinaus zur
Mutter Natur, die alles so herrlich vereist hat. Wagen wir
uns hinaus in die klirrende Kälte. Warum lacht ihr? Ich bin
ja schließlich nicht umsonst der Vater meiner poetischen
Tochter Thea.«
Und tatsächlich sagte diese, als sie gegen zehn Uhr mit dem
Gatten im Elternhaus eintraf:
»Daß wir uns in die klirrende Kälte hinausgewagt haben,
sei euch ein Beweis, wie sehr wir an euch Lieben hängen.

Viel lieber hätten wir den Eintritt des neuen Jahres im
trauten Heim verlebt, von dem wir so viel Köstliches
erwarten. Nicht wahr, Herzschätzelein?«
Der so zärtlich Benamste schwieg. Denn er war ein
Philosoph – und zwar ein lächelnder. Immer nur lächeln,
sagte er sich, das ist für mich bequem und tut anderen
nicht weh. Seine Welt waren die Bücher, aus denen er
Weisheit und Frieden schürfte. Alles andere lag in den
Händen der Gattin, die für sein leibliches Wohl vorbildlich
sorgte.
Und wenn sie überschwenglich wurde – nun, das nahm er

background image

mit lächelnder Nachsicht hin.
Von seiner Stieftochter Anka merkte er kaum etwas, da sich

diese fast ausschließlich im Hadebrecht-Haus aufhielt. Aber
was sollte werden, wenn nach sechs Monaten ein kleiner
Schreihals die jetzt so friedliche Wohnung durchbrüllte?
Das mußte man erst einmal abwarten.
Jetzt jedenfalls verhielt der Mann sich still, als die Gattin
von dem kommenden kleinen Wesen schwärmte. Es würde
bestimmt so sein, wie sie es sich wünschte. Das war die
Zuversicht, die alle werdenden Mütter gemeinsam haben.
»Na, laß man, es wird schon werden«, brummte Philipp,
dem die Überschwenglichkeit Theas allmählich auf die
Nerven ging. Er wünschte seiner einzigen Tochter natürlich
alles Glück auf Erden – aber im Augenblick lag ihm das des

Sohnes viel mehr am Herzen.
Würde er heute endlich das Wort sprechen, das längst fällig
war wie eine überreife Frucht? Worauf wartete der
schwerfällige Junge denn noch? Etwa bis das Trauerjahr um
Ilona vorüber war? Darauf brauchte er bestimmt keine
Rücksicht zu nehmen.
Gewiß, sie hatte ihm einmal ein karges Glück gegeben, das
jedoch schon endete, bevor es richtig begann. Was
hinterher kam, war für den Mann ein mühsames Einlösen
eines gegebenen Wortes.
Der Tod war barmherzig genug gewesen, ein Band zu
lösen, das schon längst vermorscht war. Das Grab lag fern

von hier. Wurde betreut von den Eltern, die damit an
ihrem toten Kind gutmachen wollten, was sie dem
lebenden stets schuldig geblieben waren.
Und das lebendige Vermächtnis der so wortreich
Betrauerten? Nun, das lag jetzt wohlverwahrt in seinem
Bettchen, neben dem noch ein zweites stand, in dem Anka
friedlich schlummerte. Sie fühlte sich geborgener darin als
in dem großen weißen Bett, das in ihrem neuen Elternhaus
stand. Es war alles so kahl und leer in dem Stübchen, so gar
nicht lieb und traut wie in dem, das der kleinen Base
gehörte. Wenn diese auch noch ein kleines Dummchen

background image

war, mit dem ein Schulmädchen nicht ernsthaft reden
konnte, aber sie war dennoch lieb, und das Bettchen, das

neben dem ihren stand, weich und warm.
Voll Behagen kuschelte Anka sich in die Daunen. Mochte
die Mami doch reden von Brüderlein oder Schwesterlein,
ihres war und blieb Ute, das süße Dummchen.
Mit dem zärtlichen Gedanken schlief Anka ein. Was unten
vor sich ging, kümmerte sie nicht. Sie war ein Kind, und
Kind sein, heißt froh sein. Das hatte Tante Silje einmal in
einem der Märchen, die sie so lieb erzählen konnte, gesagt.
Seitdem war die Tante Silje für die neunmalkluge Anka ein
Begriff, viel mehr noch als die Mami und der Papi, der ihr
sowieso noch immer etwas fremd war. Ihre kleine Welt war
und blieb das Hadebrecht-Haus, in dem sie auch heute aus

dem alten Jahr ins neue sorglos hinüberschlummerte.
Indes saß man unten geruhsam beisammen, diesmal ohne
die Gäste vom vorigen Jahr. Man hatte da ja eine gute
Ausrede wegen Ilonas Tod.
Die junge Frau Bärbel hätte sowieso nicht kommen
können, weil gerade heute der Storch ein kleines Mädchen
in die bereitgehaltene Wiege plumpsen ließ, was den
Gatten und auch die Eltern Bärbels beglückte. Da stand
ihnen wahrlich nicht der Sinn danach, im fremden Hause
das Neue Jahr zu erleben.
Und die Seiflings? Nun, die mußten zu ihrem Mannerchen
reisen, das sich augenblicklich auf der Hochzeitsreise

befand. Ob das junge Paar sehr entzückt von dem Besuch
der Eltern war, ließ sich allerdings nicht ergründen.
Und der Weltmann Bergau? Nun, der befand sich seit
einiger Zeit wieder einmal im Bannkreis einer
»Mondänen«.
Somit waren sie alle gut untergebracht, die vor einem Jahr
im Hadebrecht-Haus als Gäste Silvester feierten. Ohne sie
war es auch sehr schön – wenn nur nicht Thea gewesen
wäre, die in ihrer überschwenglichen Schwärmerei über das
»Kommende« und »Beglückende« langsam zur Nervenfolter
wurde. Bis der Vater schließlich eine Bemerkung machte,

background image

die seiner schwärmerischen Tochter gewissermaßen in die
falsche Kehle geriet. Da zog sie sich tiefgekränkt zurück,

setzte sich an den Flügel und spielte – Wiegenlieder.
Na schön, da war sie wenigstens gut untergebracht. Man
hörte einfach nicht zu, sondern unterhielt sich angeregt, bis
es draußen auf dem Fabrikgelände zu knallen begann. Da
zog man sich die Mäntel an, trat auf den Balkon und
ergötzte sich an dem sprühenden Schauspiel, das man
schon so oft gesehen hatte und das doch immer wieder neu
war.
Silje hielt sich hinter den anderen, weil sie die Tränen nicht
sehen lassen wollte, die ihr trotz aller Beherrschung über
die Wangen liefen. Sie mußte an ihre Mutti denken, an
ihren Paps – und dann gab es da noch etwas, das ihr das

Herz so bitter weh tun ließ. Es tat allerdings schon lange
weh, aber heute doch ganz besonders.
Erschrocken fuhr Silje zusammen, als zwei Hände rücklings
ihre Oberarme entspannten. Sie wußte wohl, wem diese
Hände gehörten, deren Wärme sie durch den Pelz zu
spüren glaubte.
Ihr Herz tat tiefe, bange Schläge, als müßte es gesprengt
werden von dem allmächtigen Gefühl, von dem es
ausgefüllt war bis zum Rande. Langsam legte sie den Kopf
zurück, bis er an einer Schulter Halt fand.
Und dann fühlte sie zwei zuckende Lippen, die ihr
unendlich zart die Tränen von den Wangen küßten. Es

waren Augenblicke für die beiden Menschen, wie das
Schicksal sie nur ihre Lieblingskinder erleben läßt.
Die anderen hatten schon bemerkt, daß sich hinter ihrem
Rücken zwei Herzen in tiefster, verschwiegener
Glückseligkeit fanden. Sie sprachen lebhaft, lachten und
scherzten – nur Thea nicht, obwohl man gerade von ihrem
»poetischen Gemüt« die größte Zartheit erwarten durfte. Sie
drehte sich neugierig um, doch bevor sie noch ihrem
Erstaunen Ausdruck geben konnte, hatte Reinhold sie
schon zu sich herangezogen.
»Still – kein Wort jetzt!« sagte er leise, aber scharf- und da

background image

blieb ihr vor Überraschung der Mund offen. Und das war
gut. Da ließ sie wenigstens das junge Paar in Ruhe, das

hinter ihnen wie selbstvergessen verharrte. Und gerade als
von den Türmen die Glocken läuteten, fanden sich die
Lippen der beiden Menschen, in deren Herzen sich die
hellen Glocken des Glücks mit den dunklen auf den
Türmen jubelnd vermischten.
Hinter ihnen im Zimmer ließ der Diener die Sektpfropfen
knallen – und schon brandete es von unten auf, das
vielstimmige: Prosit Neujahr!!!
»Also, denn man ’rein mit euch ins Neue Jahr, geliebtes
Brautpaar!« polterte Philipp, um seine Rührung zu
verbergen.
Hell klangen die Gläser zusammen, man wünschte sich

gegenseitig viel Glück, lachte und jubelte durcheinander
und war dann so schachmatt vor Freude, daß man sich erst
einmal setzte und die lechzende Kehle mit dem
prickelnden Naß ergiebig labte.
Ach, wie war man doch froh, so recht von Herzen glücklich
und zufrieden!
Nur Thea weinte.
»Ja, was ist denn mit dir los?« fragte der Vater verwundert.
»Hat dich die Verlobung etwa so sehr erschüttert?«
»Ach, das doch nicht«, tat sie wegwerfend ab. »Darum wird
schon gerade genug Trara gemacht, während man von
meiner Verlobung kaum Notiz nahm. Ich weine, weil mir

eine bittere Kränkung widerfuhr. Oh, ich Arme! Mein
Glück, mein Leben, mein Reinhold hat mich –
angeschnauzt!«
»Na, nu schlägt’s dreizehn!« lachte der Senior in seinem
dröhnenden Baß. »Das kannst du auch,
Reinimutziputzischätzle? Mann, du beginnst mir direkt zu
imponieren!«
»Na, so arg ist es auch wieder nicht«, winkte der Geneckte
stillvergnügt ab. »Ich mußte leider kurzangebunden
werden, weil zu einer längeren Erklärung keine Zeit blieb.
Thea wollte nämlich die beiden Menschen, die sich eben in

background image

stiller Glücksversunkenheit gefunden hatten, mit Ausrufen
der Verwunderung stören. Also, Theakind, es war nicht bös

gemeint. Sei wieder gut!«
»Ja, wenn du meinst, Herzensschätzelein – «
»Na also!« schmunzelte der Senior. »Somit wäre ja alles in
schönster Ordnung. Und nun zu euch, mein liebes Paar.
Sei froh, mein Sohn, daß du dein ›Mutzuputzischätzchen‹
im Arm halten darfst – und nicht der draufgängerische
Bob! Hast wahrlich nichts dazu getan, um ihm die
›zauberhafte Beute‹ abzujagen.«
»Hätte ich das gemußt, so hätte die ›Beute‹ an Köstlichkeit
für mich verloren«, kam die Antwort. »Es war mir ja so
sicher, mein Herzliebchen – und wenn da noch zehn
solcher Bobbies gekommen wären!«

»Na, eingebildet bist du gar nicht!« meinte Philchen
trocken, und die anderen lachten – fröhlich, lustig,
unbeschwert. Sie konnten es ja jetzt wieder, die aus dem
Hadebrecht-Haus, weil der Herrgott ihnen gnädig war.
Und dann entdeckte Thea den Ring, der an der zarten
Mädchenhand glänzte und gleißte. Die Augen der jungen
Frau wurden kugelrund, die üppige Gestalt setzte sich in
Positur.
»Oh, welch herrliches Kleinod! Das muß doch sehr viel – «
» – gekostet haben«, warf der Bruder lachend ein. »Hat es
auch. Soll ich dir die Rechnung zeigen, Schwesterchen?«
»Pfui, das war taktlos!« schmollte sie. »Ich gönne Silje alles

von ganzem Herzen.«
nur! – hätte man da sagen können. Die Miene Theas sah
gar nicht so »gönnerhaft« aus. Und dabei hatte sie gar keine
Ahnung von dem kostbaren Büchlein, das auf dem
Geburtstagstisch gelegen hatte – und das Silje mit
Einverständnis der anderen wegnahm, um nicht den Neid
der mißgünstigen jungen Frau zu erregen.
»Findest du nicht auch, Herzensmännchen, daß man dieses
fremde Mädchen unglaublich verwöhnt?« fragte Thea, als
sie später an der Seite des Gatten durch die schweigende
Winternacht schritt.

background image

Reinhold schwelgte gerade im Anblick des Sternenhimmels
und fuhr zusammen, als die immer ein wenig schrille

Stimme ihn aus der Träumerei riß.
»Ohne weiteres«, antwortete er, ohne die Frage überhaupt
erfaßt zu haben. »Man soll sich an den Sternen freuen –
aber sie nie begehren.«
»Aber Schatzimann!« mahnte Thea sanft. »Ich sprach doch
von Silje – und die ist doch bestimmt kein Stern!«
»Sag das nicht!« lachte er, nun schon wieder auf der Erde.
»Für Eike bedeutet sie den guten Stern.«
»Den glaubte er ja auch schon in Ilona gefunden zu
haben«, bemerkte Thea spitz. »Aber der verlosch ihm bald.«
»Mein liebes Kind, das war kein Stern, sondern eine
Windlaterne«, entgegnete Reinhold trocken. »Ich jedenfalls

gönne Eike sein Glück von ganzem Herzen, das er sich
nach dem Martyrium seiner Ehe auch redlich verdient hat.«
»Da wollen wir erst einmal abwarten, wie Silje sich
entpuppen wird. Aber wenn es um sie geht, seid ihr alle
mit Blindheit geschlagen – auch du – zu meinem großen
Seelenschmerz.«
»Na, hör mal, du wirst doch nicht eifersüchtig werden?«
fragte er erstaunt. »Das hast du wahrlich nicht nötig. Ich
betrachte Silje mit den Augen des Dichters, und da ist sie
nun einmal ideal. Sie ist schön, das wenigstens wirst du ihr
wohl zubilligen müssen.«
»Schöner als ich?« forschte sie mißtrauisch – und da mußte

er lachen.
»Ja – aber nicht für mich. Genügt dir das?«
»Noch mehr, glücklich macht es mich. Doch daß man Silje
so vergöttert, findest du das richtig?«
»Gewiß. Die Liebe übertreibt gern, da läßt sich schlecht ein
Maßstab anlegen.«
»Ja – wenn du meinst – «
Damit schloß die Debatte, wie ja jede bei ihnen zu
schließen pflegte.
Und während die beiden schweigend ihrem Heim
zuschritten, saß man im Hadebrecht-Haus noch gemütlich

background image

zusammen. Silje saß im Sessel, auf dessen Seitenpolster der
Liebste beharrlich thronte. Sein Arm umspannte die

Schulter des Mädchens, das den Kopf in seine Armbeuge
schmiegte. So lauschte sie auf das Geplauder der anderen,
warf nur ab und zu ein Wort dazwischen. Ihre Augen
strahlten wie zwei Sonnen, wenn die Stimme neben ihr
zärtlich raunte, was so aus tiefstem Herzensgrund kam.
Eben sprachen die anderen von Reinhold, und der Senior
meinte schmunzelnd:
»Dem scheint die Süßholzraspelei doch mal so langsam auf
die Nerven zu fallen!«
»Und noch mehr wird es später der kleine Schreihals tun«,
warf Philchen trocken ein. »Der liebe Reinhold gehört
nämlich zu den Menschen, die sich mit Güte und

Ergebenheit in alles schicken – nur ihre Ruhe darf dadurch
nicht beeinträchtigt werden. Von Anka hat er bisher noch
nichts gespürt und wird es auch kaum, weil sie sich bei uns
ganz einquartieren wird, wie sie mir neulich verriet. Sie
hängt sehr an Ute und auch an Silje. Also wirst du dich
damit abfinden müssen, mein Herz, nicht nur eine,
sondern zwei Töchter zu betreuen.«
»Ich wüßte nicht, was ich lieber täte!«
»Na, du, ich bin auch noch da!« meldete sich Eike
eifersüchtig. »Und ich werde dich ganz gehörig mit
Beschlag belegen. Denn du nimmst doch nicht etwa an,
daß ich meine neue Privatsekretärin so ohne weiteres

laufen lasse?«
»Will ich ja gar nicht!« lachte sie ihn so lieblich an, daß er
sie rasch einmal küssen mußte. »Dich einer anderen
Sekretärin zu überlassen, ist mir viel zu gefährlich!«
Man gab ihr lachend recht.
Dann setzte Eike sich an den Flügel und spielte eine Weise,
die Silje sofort aufgriff.
Süß und verträumt kam es über die jungroten Lippen:

»Wenn sich zwei Herzen finden,
so muß es für immer sein – «

background image


Ihre Augen hingen dabei an dem großen Bild, das den

geliebten Paps darstellte in all seiner strahlenden
Schönheit.
Und was die junge Silje dann anschließend sprach, klang
so inbrünstig wie ein Gebet:
»Lieber Paps, ich danke dir, daß du mich hierher schicktest
– und somit hinein in mein Glück!«
»Ja, dafür wollen wir ihm alle danken, mein Kind«, sprach
Philipp in die fast andächtige Stille hinein, sich dabei
verstohlen die Augen wischend. »Und dir danken wir, daß
du immer bei uns bleiben willst.«
»Wie könnte das wohl auch anders sein?« entgegnete sie
einfach. »Von euch gehen, hieße für mich, mir das Herz aus

der Brust reißen. Und was ich euch jetzt sage, gilt jedem
einzelnen: Wo du nicht bist, kann ich nicht sein.«

-ENDE-


Wyszukiwarka

Podobne podstrony:
Behrendt, Leni Kelter Grosse Ausgabe 0005 Die barmherzige Lüge
Behrendt, Leni Kelter Grosse Ausgabe 0030 Als die Rosen blühten am Rosenhaus
Behrendt, Leni Kelter Grosse Ausgabe 0398 Krafft von Broede
Behrendt, Leni Kelter Grosse Ausgabe 0005 Das Resultat war Liebe
Behrendt, Leni Kelter Grosse Ausgabe 0394 Die Ehe auf Abbruch
Behrendt, Leni Kelter Grosse Ausgabe 0387 Aber das Herz irrte nicht
Behrendt, Leni Kelter Grosse Ausgabe 0292 Weil es mein Herz verlangt
Behrendt, Leni Kelter Grosse Ausgabe 0285 Stranddistel
Behrendt, Leni Kelter Grosse Ausgabe 0001 Die Herrin von Schlehdorn
Behrendt, Leni Kelter Grosse Ausgabe 0390 Was wird stärker sein
Behrendt, Leni Kelter Grosse Ausgabe 0003 Nichts weiter als ein Herz
Behrendt, Leni Kelter Grosse Ausgabe 0009 Wohin soll das wohl führen
Behrendt, Leni Kelter Grosse Ausgabe 0032 Das Haus im grünen Grund
Behrendt, Leni Kelter Grosse Ausgabe 0287 Törichte Herzen
Behrendt, Leni Kelter Grosse Ausgabe 0270 Das häßliche Entlein
Behrendt, Leni Kelter Grosse Ausgabe 0395 Um das Erbe der Väter
Behrendt, Leni Kelter Grosse Ausgabe 0265 Die Menschen, sie nennen es Liebe
Behrendt, Leni Kelter Grosse Ausgabe 0031 Durch Gewitter und Sturm
Behrendt, Leni Kelter Grosse Ausgabe 0387 Dort unten im Mühlengrund

więcej podobnych podstron