Behrendt, Leni Kelter Grosse Ausgabe 0005 Die barmherzige Lüge

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Die barmherzige Lüge

Roman von Leni Behrendt

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Sengend heiß brütete die Sonne über dem weiten
ostpreußischen Land. Es war eine Schwüle, die den

Wunschtraum steigerte, ständig im Wasser zu liegen und
etwas Eiskaltes zu trinken. Für die Landbewohner jedoch
bedeutete dieser harmlose Traum Luxus, denn für sie gab es
trotz der Gluthitze harte, schwere Arbeit. Die Roggenernte
neigte sich ihrem Ende entgegen, und um diese köstliche
Gabe gut und trocken unter Dach und Fach zu bekommen,
mußten sich die Menschen tüchtig tummeln. Daher ging
der Blick des schlanken Reiters, der schon seit Tagen von
früh bis spät bei seinen Leuten auf dem Felde weilte,
immer wieder zum Himmel hin, dessen leuchtende Bläue
sich zu trüben begann. Hie und da ballten sich Wölkchen
zusammen, dick und bauschig wie schmutzige Watte, und

von der See her kam immer häufiger ein Luftzug, der die
emsig Schaffenden wohl aufatmen ließ, im allgemeinen
jedoch nichts Gutes verhieß. In kurzer Zeit mußte ein
Gewitter aufziehen, was Mensch und Tier erquickt hätte,
den knistertrockenen goldgelben Garben jedoch nicht
zuträglich sein konnte. Denn mit dem Gewitter pflegt auch
Hagelschlag einzusetzen, und der würde die Körner aus
den Ähren zu Boden peitschen. Also mußten die letzten
Fuhren unbedingt noch geborgen werden. Daher ritt Jobst
von Götterun unermüdlich von Wagen zu Wagen, sprach
hier einen Arbeiter an, gab da einen Rat.
Einmal sprang er ab, ließ den Gaul laufen und stakte die

Garben zu dem lachenden Mädchen hoch oben auf dem
goldenen Berg. Ruckzuck – ruckzuck ging es unermüdlich
fort und fort, und die Leute wurden zu noch emsigerer
Arbeit angespornt.
Wagen um Wagen schwankte schwerbeladen davon, leere
fuhren an ihre Stelle.
Es gab auf dem großen Gutshof wohl kein Pferd, kein
einigermaßen brauchbares Gefährt, das nicht eingespannt
war.
Auch der alte Oberinspektor, auf Uhlener Herrschaft
geboren und in ihren Diensten ergraut, legte Hand an, wo

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es nottat. Seine Augen schweiften immer wieder besorgt zu
der Stelle hin, wo sich die Wolken zusammenballten.

Eben schwankten wieder drei Wagen davon, acht weitere
harrten noch ihrer Fuhre. Wenn es noch gelang, sie trocken
unter Dach und Fach zu bekommen, dann konnte man
von Glück sprechen. Dann war für dieses Jahr der Roggen
trocken geborgen.
Am fernen Horizont blitzte es schon ab und zu auf. Eben
rollte die letzte Fuhre knarrend vom Feld. Das
aufmunternde »Hüh – hüh – hüh« der Wagenlenker klang
zu den Leuten zurück, die erschöpft bis zum letzten, aber
auch restlos zufrieden waren.
Götterun wischte sich mit dem Taschentuch über das
Gesicht, ordnete den blonden Scheitel, reichte dann sein

wohlgefülltes Zigarettenetui herum und versorgte die
Rauchlustigen mit Feuer.
»Nun aber schnell, Leute, nach Hause, bevor ihr pudelnaß
werdet«, ermunterte er die Menschen, die ihn umstanden.
»Heute abend kommt der Lohn für den Fleiß. Oder seid ihr
zu müde zum Feiern?«
»Nein, Herr Baron«, kam es lachend von allen Seiten.
»Dazu sind wir nie zu müde.«
»Aber auch zur Arbeit nicht, ihr Getreuen, das habt ihr
wieder einmal bewiesen.«
Als Götterun auf den Hof kam, sah er gerade die letzte
Fuhre auf der Tenne verschwinden. Das Scheunentor flog

zu.
Der Mann atmete tief auf. Das war gerade noch so geglückt.
Nicht viel später hätte es getan werden dürfen, dann wäre
soviel köstliche Frucht dahingewesen und mit ihr das Geld,
das das Gut Uhlen doch so nötig brauchte.
Der Oberinspektor kam ihm entgegen.
»Herr Baron, soviel ich weiß, muß Fräulein Jödeborg um
diese Zeit eintreffen.«
»Donnerwetter, ja, Herr Habermann, das hatte ich im Eifer
ganz vergessen.«
Einen Blick auf die Armbanduhr und einen zum Himmel.

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»Schöne Bescherung! Der Zug muß längst da sein, und
jeden Augenblick kann das Unwetter losbrechen. Dazu

ausgerechnet heute das Auto in Reparatur, die Gäule von
der schweren Arbeit ziemlich ausgepumpt.
Da hilft also nichts, Hussa muß heran. Sorgen Sie doch
bitte dafür, Habermann, daß er schleunigst in den Dogcart
gespannt wird.«
Damit eilte er dem Schlosse zu, sprang in langen Sätzen die
Freitreppe hinauf und wäre in der Halle beinahe mit der
Repräsentantin des Hauses zusammengeprallt.
»Hoppla, Frau Fröse, das war stürmisch!«
»Herr Baron, Fräulein Jödeborg muß längst auf dem
Bahnhof sein.«
»Ja, leider hatte ich die Kleine total vergessen.«

»Aber bald wird das Gewitter über uns sein, da können Sie
doch unmöglich fahren, Herr Baron!«
»Ich muß, Frau Fröse. Das kleine Mädchen graut sich ja zu
Tode. Denn mögen die jungen Damen auch noch so
couragiert tun, vor Gewitter fürchten sie sich mehr oder
weniger alle.«
Eiligst hatte er den Wettermantel angezogen und die Mütze
ins Gesicht gedrückt. Er eilte davon, den Ställen zu, wo
Hussa gerade eingespannt wurde.
Es kostete Mühe, ihn zwischen die Deichsel zu bekommen.
Denn erstens ging er höchst ungern im Gespann, und dann
hatte er sich auf die wohlgefüllte Futterkrippe gefreut. Er

schäumte im Gebiß, scharrte unwillig den Boden, und
kaum, daß sein Herr die Leine ergriff, preschte er auch
schon davon, daß die Hufe kaum noch den Boden
berührten.
Fast ununterbrochen raste er dahin, und so konnte es
geschehen, daß der Bahnhof in kurzer Zeit erreicht war.
An der Wetterseite standen die blauschwarzen Wolken
dicht wie eine Wand. Es grollte und blitzte unausgesetzt.
Götterun sprang vom Wagen, band den nervösen Gaul fest
und stürmte dem Bahnhofsgebäude zu.
Im Eingang bemerkte er eine weibliche Gestalt, die auf der

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Treppenstufe hockte und vor sich hin schluchzte. Sie war so
in ihrem Jammer versunken, daß sie den Mann erst

bemerkte, als er vor ihr stand. Erschrocken fuhr das
Mädchen zusammen und starrte ihn an. Der Wettermantel
verhüllte die hochgewachsene Gestalt, der Kragen war bis
zu den Ohren hochgeschlagen und die Mütze so tief
heruntergezogen, daß sie das Gesicht halb verdeckte.
»Onkel Jobst -?« kam es leise fragend.
»Der bin ich, kleine Sölve – «
Da sprang das Mädchen auf. Zwei zitternde Hände
umfaßten seinen Nacken, zwei heiße, zuckende Lippen
preßten sich auf die seinen.
»Onkel Jobst, wie gut, daß du da bist«, stammelte es außer
sich vor Erregung. »Ich dachte schon – ich glaubte schon

du wolltest mich nicht haben. Aber daß du nun doch
gekommen bist – daß du mich nicht im Stich gelassen hast
- das, das will ich dir danken!« schluchzte es an seinem
Halse.
»Aber, aber, Sölve, mein kleines Mädchen, wie kannst du
dich nur so erregen«, versuchte er zu beschwichtigen,
während er die bebende Gestalt umfaßte. »Ich dich im
Stich lassen? Wie kommst du auf die absurde Idee?«
»Jetzt ist ja alles gut – ich bin ja so froh – «, lachte und
weinte sie nun durcheinander.
»Na, siehst du. Aber jetzt müssen wir eilen, damit wir noch
trocken nach Hause kommen. Ist das dein ganzes Gepäck?«

»Nein, das habe ich aufgegeben. Viel ist es aber trotzdem
nicht.«
»Wir lassen es morgen holen.«
Er nahm ihr das Köfferchen aus der Hand, umfaßte mit der
freien Rechten ihre Schulter und zog sie fort, zum Wagen
hin. Besorgt prüfte sein Blick den Himmel.
Sie mußten es schaffen! Denn blieben sie hier, konnten sie
stundenlang warten, bis sich das Gewitter ausgetobt hatte.
»Rasch, Sölve, steig ein – «, ermunterte er. Dann nahm er
ebenfalls Platz, und Hussa, den heimatlichen Stall Witternd
und das aufziehende Wetter fürchtend, jagte davon.

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Als hätte das Gewitter nur auf diesen Augenblick gewartet,
brach es nun los. Und zwar mit einer Wucht, daß selbst

dem Manne angst und bange wurde.
Sinnlos vor Furcht raste Hussa dahin, daß die Insassen des
Wagens hin und her geschleudert wurden. Sölve schrie laut
auf.
»Halte dich an mir fest!« rief er ihr durch den Sturm
entgegen; denn er hatte beide Hände nötig, um den
rasenden Hussa zu zügeln.
Blitz auf Blitz durchzuckte den schwarzen Himmel, der
Donner knatterte und dröhnte fast ohne Pause, der Regen
prasselte hernieder, daß die beiden Menschen trotz ihrer
Wettermäntel in wenigen Minuten durchnäßt waren.
Sölve hielt den Onkel mit beiden Armen umklammert und

ihr Gesicht an seine Schulter gedrückt, um die grellen Blitze
nicht sehen zu müssen. Bei jedem Donnerschlag zuckte sie
zusammen, und die Blicke Götteruns gingen immer wieder
besorgt zu ihr hin. Er machte sich heftige Vorwürfe, daß er
das Gewitter nicht doch abgewartet hatte.
Kurz bevor sie von der Chaussee in die Allee einbogen, die
zum Schloß führte, ließ die feste Umklammerung des
Mädchens nach. Der Kopf rutschte von Götteruns Schulter
und schlug hart auf die Seitenlehne des Wagens.
»Sölve, Kind, was hast du denn?« rief er erschrocken, packte
die Zügel mit einer Hand und umfaßte das Mädchen, das
vom Sitz zu fallen drohte, mit dem freien Arm. So fuhren

sie vor das Portal, wo Frau Fröse sie schon erwartete.
Vom Hof her kam ein Stallbursche gelaufen, der das
Gefährt in Empfang nahm.
Das Unwetter hatte nachgelassen, war aber immer noch arg
genug, um die Menschen nicht eine Sekunde länger als
nötig im Freien verweilen zu lassen. Darum versuchte
Götterun erst gar nicht festzustellen, warum seine
Begleiterin so plötzlich in sich zusammengesunken war,
sondern hob die verhüllte Gestalt auf die Arme und trug sie
an der erschrockenen Hausdame vorbei in die Halle. Dort
schob er die Kapuze von Sölves Gesicht und sah in ein

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totenbleiches Antlitz.
»Großer Gott, sie ist ja ohnmächtig! Armes Ding. Ich

könnte mich ohrfeigen, daß ich sie dem rasenden Wetter
aussetzte. Bitte, Frau Fröse, Sie nehmen sich wohl ihrer an -

»Selbstverständlich. Herr Baron. Vielleicht bringen Sie die
junge Dame in das für sie bestimmte Zimmer.«
Schweigend stieg der Schloßherr mit seiner Last die breite
teppichbelegte Marmortreppe hinauf, durchquerte ein
Vorzimmer und öffnete die Tür zu einem Gemach, in dem
alles licht und traut war.
Auf das weiße flauschige Fell, das den Diwan bedeckte,
legte er die stille Gestalt, zog die Kapuze von Gesicht und
Kopf und erschrak von neuem über die Blässe des

verhärmten Antlitzes.
Er nahm schweigend die starkriechende Essenz, die Frau
Fröse ihm reichte, und rieb der Ohnmächtigen damit Stirn
und Schläfen.
Sein Bemühen wurde auch bald belohnt. Sie schlug die
Augen auf, ließ sie angstvoll umherschweifen und
erschauerte.
»Wo bin ich -?«
»Zu Hause, kleine Sölve!«
»Ach ja – zu Hause – bei dir – Onkel Jobst – wie schön«,
stammelte sie, schlang die Arme wieder um seinen Hals
und drückte ihre Lippen auf die seinen.

»Onkel Jobst, daß ich zu dir kommen durfte -«
Mit einem tiefen Seufzer ließ sie die Arme sinken und
kuschelte sich in das Kissen.
Behutsam griff Götterun nach ihrem Puls, richtete sich
dann auf und sah seiner Hausdame in das bekümmerte
Gesicht.
»Der Puls geht schwach, aber regelmäßig. Zuerst muß sie
aus den nassen Kleidern und ins Bett. In der Zeit werde
auch ich mich umziehen.«
Als er eine halbe Stunde später gebadet und frisch gekleidet
wieder erschien, schlief Sölve in ihrem Bett mit den

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duftigen Spitzen vorhängen in tiefster Erschöpfung.
In den schneeweißen Kissen und der zartgrünen

Daunendecke trat die Blässe ihres Antlitzes noch schärfer
hervor. Und hätte der leise Atem das Spitzengeriesel des
Nachtkleides über der Brust nicht erzittern lassen, so hätte
man diese bleiche, regungslose Gestalt für tot halten
müssen.
Lange sah Jobst von Götterun auf das Mädchen nieder.
»Hat sie etwas gegessen?« fragte er die danebenstehende
Hausdame flüsternd.
»Nein, Herr Baron, sie ist nicht wieder erwacht. Es ist wohl
auch am besten, wenn wir sie schlafen lassen. Ich habe
Anna schon Bescheid gesagt. Sie kann, während ich zu
Abend esse, bei ihr wachen. Zur Nacht schlage ich mein

Lager auf dem Diwan auf.«
»Wird das nicht Ihre Nachtruhe stören, Frau Fröse?«
»Durchaus nicht, Herr Baron. Und wenn schon – es
geschieht ja für Ihren Gast.«
Darauf erwiderte der Mann nichts. Er ergriff die feine
Frauenhand und drückte sie voll Verehrung an die Lippen.
Ein ‘ junges, adrettes Mädchen trat ein, dem die Hausdame
Verhaltensmaßregeln gab. Dann ging sie in Begleitung des
Schloßherrn ins Speisezimmer.
Der alte Diener Michael ebenso wie der Oberinspektor und
viele andere Angestellte auf Uhlen geboren und im Dienste
derer von Götterun ergraut, stand schon wartend an der

Anrichte.
Während des Mahles wurde nicht viel gesprochen. Doch als
man in dem Teezimmerchen saß, tief in die bequemen
Sessel geschmiegt, den Mokka trank, den niemand so
köstlich zuzubereiten verstand wie Frau Fröse, Zigaretten
rauchte, Obst und Konfekt naschte, wie der Baron es nach
den Hauptmahlzeiten liebte, da kam man auf Sölve
Jödeborg zu sprechen.
»Da scheint uns der Gewittersturm ja ein arg zerzaustes
Vöglein ins Haus geweht zu haben«, sagte die Hausdame
zu Götterun, der gedankenverloren seine Zigarette rauchte.

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»Ich muß schon sagen, daß ich in meinem Leben kaum
jemanden in einer so jammervollen Verfassung gesehen

habe wie dieses arme Menschenkind. Wie alt ist die junge
Dame eigentlich?«
»Sölve – wie alt? Warten Sie mal – achtzehn oder neunzehn
muß sie sein. Und jammervoll sagen Sie, Frau Fröse?«
»Mehr als das, Herr Baron. Man kann auch sagen: halb
verhungert. Was mag dem armen Kinde geschehen sein?«
Jobst von Götterun gehörte nicht zu den Menschen, die ihr
Herz sozusagen auf der Zunge tragen. Aber sprach er doch
einmal über das, was ihn quälte, dann geschah es zu der
schlanken weißhaarigen Frau, dem guten Geist seines
Hauses, wie er sie nannte.
Seit fast zehn Jahren im Hause, hatte sie sich immer wieder

bewährt und stets ihre Aufopferung und Treue bewiesen.
Aus diesem Grunde war sie dem Schloßherrn ans Herz
gewachsen wie etwas, das man nie mehr missen will. Sein
Vertrauen und seine Verehrung für die Frau waren groß,
sein Gefühl für sie so warm, daß man es schon mit
Sohnesliebe bezeichnen konnte.
»Ja – was mag dem armen Kinde geschehen sein – «,
wiederholte er ihren letzten Satz. »Ich weiß es nicht, Frau
Fröse. Sie ist die Tochter der Frau, der meine erste
schwärmerische Liebe galt.«
In den Augen der Frau blitzte es überrascht auf. Doch nur
augenblicklich, dann hatte sie sich wieder in der Gewalt.

Und doch war es von ihm bemerkt worden.
»Sie wissen darum, Frau Fröse?«
»Ja, Herr Baron. Allerdings nur vom Hörensagen. Als ich
nach Uhlen kam, waren Sie über die schmerzliche
Angelegenheit wohl gerade hinweg.«
»Hinweg? Nein, Frau Fröse, das war ich noch lange nicht –
ich bin es wohl überhaupt nie gewesen. Ich lernte Frau Elga
Jödeborg nebst Gatten und Töchterchen in Ägypten
kennen, wohin mich ein Bummel durch die Welt führte.
Ich hatte damals gerade mein Abitur hinter mir, und die
Reise war ein Geschenk meines Vaters. Neunzehnjährig,

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lebensfroh und voller himmelsstürmender Ideale nahm ich
schönheitstrunken in mir auf, was die Welt darbot.

In dieser Jugendseligkeit kam mir Frau Elga in den Weg
und nahm mein leicht entflammtes Herz sofort gefangen.
Ich liebte diese Frau mit der ganzen Stärke meines Gefühls.
Der Gatte, ein echter Friese, ließ sich meine Vergötterung
für seine Frau nachsichtig lächelnd gefallen. Er nahm den
jungen Fant wohl nicht ernst. Obgleich er sehr viel älter
war als sie, war die Ehe gut, und das damals sechsjährige
Töchterchen das Glück und die Freude der Eltern. Auch ich
liebte das Kind, weil es das der vergötterten Frau war, liebte
überhaupt alles, was zu diesem bezaubernden Geschöpf
gehörte.
Ich wich nicht mehr von ihrer Seite, und länger als ein Jahr

bummelten wir durch die Welt. Nur der ausbrechende
Krieg zwang uns, in die Heimat zurückzukehren.
Kurze Zeit darauf hörte ich, daß Herr Jödeborg einem
Herzschlag erlegen wäre. Er hatte wohl selbst nicht gewußt,
wie herzkrank er war. Ich habe mich während des
Trauerjahres fern von ihr gehalten. Doch als das vorüber
war und ich nach einer Verwundung in die Heimat
beurlaubt wurde, eilte ich zu ihr und begehrte sie stürmisch
zur Gattin. Was machten die sechs Jahre Altersunterschied
zwischen uns? Mir waren sie kein Hindernis, zumal die
Frau in ihrer Zartheit stets so rührend jung wirkte.
Ich werde nie den entsetzten Blick vergessen, mit dem sie

meine ungestüme Werbung, verbunden mit einer noch
stürmischeren Liebeserklärung, aufnahm. Sie besaß wohl
nicht den Mut, den törichten Burschen abzuweisen, der
ihre Güte und Herzlichkeit, die sie ihm entgegenbrachte,
für Liebe gehalten hatte. Sie bat sich Bedenkzeit aus – und
nahm wenige Tage später den anderen. Einen
Jugendfreund, der sie schon seit langen Jahren liebte.
Später heiratete ich die Frau, die meine Familie mir
aussuchte. Alles andere wissen Sie ja.«
Nach diesen Worten war es sekundenlang totenstill. Der
Mann schien ganz gelassen, doch an der zitternden Hand,

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mit der er eine Zigarette in Brand steckte, merkte die Frau,
daß er nicht so ruhig war, wie er vorgab. Dann legte er sich

tiefer in den Sessel zurück.
»Ich habe nichts mehr von Frau Elga gehört«, sprach er
dann sachlich weiter. »Um so mehr überraschte mich der
Brief, den ich vor ungefähr zwei Wochen erhielt. Ihre
Tochter schrieb mir, daß sie in Not sei und ich der einzige
Mensch wäre, der ihr helfen könnte.
Dem Schreiben lag ein Brief ihrer Mutter bei. Der sollte nur
dann in meine Hände gelangen, wenn Sölve in einer
Bedrängnis nicht mehr aus noch ein wüßte. Darauf
antwortete ich ihr, daß sie herkommen solle!«
»Ist Frau Elga denn tot?«
»Ja.«

»Und wie waren Ihre finanziellen Verhältnisse?«
»Die denkbar besten. Sie führte zu Lebzeiten ihres Mannes,
ein Leben im großen Stil. Frau Elga hat sich nie einen
Wunsch versagen brauchen, ihr Gatte war ein echter
Globetrotter, und das Kind wurde wie eine Prinzessin
erzogen.«
»Dann wundere ich mich, wie Fräulein Jödeborg so – ich
will es beim richtigen Namen nennen – so
herunterkommen konnte.«
»Ja, das ist merkwürdig. Darauf wird sie uns Antwort geben
können – sofern sie mag.« Er erhob sich und trat ans
Fenster. »Der Regen hat aufgehört, da will ich noch einen

kleinen Bummel durch die Wirtschaft machen. Also gute
Nacht, Frau Fröse!«

Was mir das Schicksal gab,
ich mußte zahlen
für jeden Tag voll Glück,
das mir beschert.
Nun hab’ ich nichts,
womit ich könnte prahlen,
nichts mehr, was mir gehört.

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Die Sonnenstrahlen, die am nächsten Morgen wieder das
Land überfluteten, drangen auch durch die Jalousien, die

an zwei Fenstern des Schlosses herabgelassen waren,
umtanzten die Schläferin, die nun schon Stunde um
Stunde in ihrem daunenweichen Bett fast regungslos ruhte.
Sie gab nicht eher Ruhe, bis ihr hellgoldener Schein den
tiefen Schlaf löste.
Blinzelnd öffnete Sölve die Augen, sah zuerst
verständnislos auf die fremde Umgebung, bis sie sich auf
die letzten Geschehnisse besann. Sie wußte nur noch, daß
sie halb sinnlos vor Angst an Onkel Jobsts Seite im Wagen
gesessen hatte, dann hatte sie irgendwo mollig und warm
gelegen, und ein Männerantlitz hatte sich über sie gebeugt.
Wie sie jedoch in dieses wundervoll weiche Bett gekommen

war, das wußte sie nicht. Wahrscheinlich war sie in Schloß
Uhlen, der Sehnsucht ihrer Träume.
Sie ließ die Augen umherschweifen, und was sie in dem
grünen Dämmerlicht sah, war wunderschön. Ein
entzückendes Gemach, so recht geschaffen für den
Geschmack verwöhnter Menschen.
Nun entdeckte sie auch die Dame, die in einem Sessel am
Fenster saß und an etwas leuchtend Buntem strickte. Wie
heimelig, wie traut das alles war! Ganz wie einst zu Hause.
Tief und schmerzlich seufzte sie auf, und da hob die Dame
den Kopf.
»Ich bin wach – «, sagte Sölve zögernd. »Na endlich, Sie

kleines Murmeltier«, sagte Frau Fröse lächelnd, indem sie
an das Bett trat. »Sie haben etwa eineinhalbmal um die Uhr
geschlafen. Und nun werden wir das Dämmerlicht
verscheuchen und die liebe Sonne hereinlassen. Oder stört
es Sie?«
»Nein.«
Gleich darauf flutete es golden ins Zimmer, und Sölve
mußte einen Augenblick die Augen schließen, so blendete
sie das Sonnenlicht. Aber dann ging es wie Erschrecken
über ihr Gesicht, und sie öffnete die Augen weit. »Ich bin
doch in Uhlen -?« stieß sie angstvoll hervor.

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»Ja, das sind Sie«, klang da eine weiche Stimme auf, die das
geängstigte Herz so wunderbar besänftigte. »Sie sind in

Uhlen – und damit in guter Hut. Und ich bin Frau Fröse
und werde Sie nach Herzenslust tyrannisieren.«
»Oh; wie schön – «, seufzte Sölve. Forschend sah sie in das
gütige vornehme Frauenantlitz unter dem weißen Haar. Ihr
Herz flog ihr sogleich entgegen.
»Freuen Sie sich nicht zu früh – «, lachte die Dame
amüsiert. Es war ein so herzfrohes Lachen, daß Sölve
immer mehr von dieser Frau entzückt war. »Ich kann
nämlich gräßlich hartnäckig sein. Eine Probe werden Sie
sofort erhalten. Ich gedenke Ihnen nämlich ein ausgiebiges
Frühstück aufzudrängen.«
»Ich habe gar keinen Hunger.«

»Dacht’ ich’s doch. Aber darauf kann ich keine Rücksicht
nehmen.«
Auf ihr Klingelzeichen erschien Anna mit einem leichten
Frühstück, wovon Sölve auch gehorsam eine Kleinigkeit aß.
Sie sah dabei jedoch Frau Fröse flehend an, daß diese sie
nicht weiter quälte.
»Für den Anfang bin ich zufrieden. Es wird schon noch
besser werden. Und nun erheben Sie sich aus Ihrem
weichen Pfühl, damit Sie den Onkel empfangen können. Er
wartet nämlich schon darauf, seinen Gast zu begrüßen.«
Obgleich Sölve noch sehr müde war, fügte sie sich
widerstandslos. Sie wehrte auch nicht ab, als Frau Fröse ihr

beim Ankleiden half; denn sie konnte sich kaum auf den
Füßen halten.
Die Dame sah sehr wohl, wie es um den jungen Gast stand.
Sie hatte Mühe, ihr Entsetzen über den
erbarmungswürdigen Körperzustand dieses armen
Menschenkindes zu unterdrücken – und über dessen
ärmliche Kleidung. Ihr Herz öffnete sich vor Erbarmen
weit.
»Jetzt kann ich aber wirklich nicht mehr – «, bat Sölve
gequält, als sie angekleidet dastand.
»Brauchen Sie auch nicht. Sie legen sich auf den Diwan.«

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Wohlig streckte sich das Mädchen auf das weiche Fell »Ach,
so schön. Ich bin doch noch immer verflixt schlapp.«

»Sind Sie denn krank gewesen, Fräulein Jödeborg?« fragte
Frau Fröse, sich zu ihr auf den Diwan setzend.
»Ja. Aber sagen Sie doch bitte Sölve zu mir.«
Es klopfte kurz, und Götterun trat ein.
»Ah, kleine Sölve, schon angekleidet? Das ist sehr brav. Ich
muß um Verzeihung bitten, daß ich dich gestern dem
schlimmen Wetter aussetzte.
Ja, was hast du denn, kleines Mädchen?« unterbrach er sich
erstaunt, als er ihren entsetzten Blick sah.
»Du – du bist Onkel Jobst?« fragte sie fassungslos, ihn
dabei furchtsam anstarrend. Sie sah die hohe Gestalt, das
harte, rassige Antlitz mit den blauen, blitzenden Augen

darin, das blonde Haar und die nervigen Hände, mit den
beiden schweren Ringen an der Linken – und stöhnte dann
auf, das Gesicht dabei in das Kissen drückend.
Götterun sah Frau Fröse an, die den Blick ebenso
verständnislos zurückgab.
»Verstehen Sie das -?« fragte er leise, und sie zuckte hilflos
die Schultern. Er setzte sich zu dem rätselhaften Mädchen
auf den Diwan und wollte dessen Gesicht behutsam
herumdrehen, doch sie streifte seine Hände ab, richtete
sich halb auf, ihn dabei ansehend, als müsse sie sich sein
Bild für alle Zeit einprägen!
»Sag, daß du nicht Onkel Jobst bist -!« verlangte sie fast

drohend.
»Aber, liebes Kind, ich kann mich doch nicht selbst
verleugnen.«
Da fiel sie wieder in die Kissen zurück, und ein hartes
Schluchzen erschütterte den elenden Körper.
»Wie kannst – du – mein Onkel sein -?« kam es mühsam
hervor. »Du bist ja noch – so – jung und ich habe dich
geküßt.«
»Ach das ist es?« atmete er auf, faßte die Hände, die
unruhig umhertasteten, und behielt sie in den seinen. Das
schien sie zu beruhigen; denn das stoßende Weinen ließ

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langsam nach.
»Ich schäme mich doch so sehr – «, schluchzte sie zuletzt

noch auf, das Gesicht wieder in die Kissen drückend.
»Sölve, nun höre mich bitte einmal an – «, sprach der
Mann behutsam. »Ich kenne dich schon seit deinem
sechsten Lebensjahr.«
Nun fuhr der Kopf herum.
»Aber wenn du – oder Sie – oder Herr Baron – Ach, ich
weiß ja gar nicht mehr, wie ich sagen soll«, seufzte sie
verzweifelt, und er lachte.
»Du törichtes kleines Mädchen! Natürlich bin und bleibe
ich der Onkel Jobst für dich – wer denn sonst? Wenn du
womöglich Herr Baron< sagst, dann muß ich dich mit
>gnädiges Fräulein< ansprechen. Wie scheußlich. Wie alt

bist du eigentlich?«
»Neunzehn – «
»Na, siehst du, dann bin ich ja dreizehn Jahre älter. Also,
bitte, Respekt vor meinem Alter! Auf den Onkeltitel
verzichte ich auf keinen Fall.«
Wieder ein herzbanger zitternder Seufzer. »Wie kommt es
eigentlich, Onkel, daß du – wo du jetzt noch so jung bist,
vor so vielen Jahren meine Mutter – geliebt hast? Sie muß
doch viel älter gewesen sein als du.«
Ein Zucken ging über das harte Männerantlitz, die Zähne
bissen sich zusammen wie im Schmerz »Sechs Jahre waren
es, Sölve-«

»Bleiben Sie doch bitte hier, Frau Fröse«, rief Sölve der
Hausdame flehend nach, die taktvoll das Zimmer verlassen
wollte. Sie wechselte mit dem Baron einen Blick, in dem
lächelnde Zustimmung lag. So setzte sie sich still auf den
nächsten Stuhl, und ihre Augen hingen an der
jammervollen Gestalt, die so unruhig auf dem Diwan lag.
Der Körper schien nur aus hautüberzogenen Knochen zu
bestehen, das Gesicht war mager und entsetzlich bleich.
Die glanzlosen Augen lagen tief in den Höhlen, und das
farblose Haar war so dünn, daß überall die Kopfhaut
hervorschimmerte.

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»Sechs Jahre also – «, wiederholte Sölve. Ihre Augen
blickten wie in weite Ferne, als spräche sie zu sich selbst.

»Nun ja, meine Mutti war ja immer so jung – bis zuletzt
noch – «
Als müsse nun alles ganz schnell herunter vom Herzen, was
sie so lange gepeinigt und gequält hatte, hasteten die Worte
über die blutleeren Lippen. Sie hatte den Oberkörper halb
erhoben, die Augen flackerten wie im Fieber, und die
Hände, die sie aus denen des Mannes befreite, fuchtelten
umher »Sie war so strahlend schön, meine Mutti, und so
jung, daß man sie immer auslachte, wenn sie mich als ihre
Tochter vorstellte. Sie war ja auch erst neunzehn Jahre alt,
als ich geboren wurde. So alt, wie ich jetzt bin. Mein
Stiefvater liebte sie sehr und mich auch. Wir hatten bei ihm

ein herrliches Leben. Kein Wunsch wurde uns versagt. Aber
er lebte ganz seinen Neigungen, und die waren so
kostspieliger Art, daß sie mit der Zeit auch das größte
Vermögen verschlingen mußten. Meine Mutter besaß ein
großes Vermögen, als sie zum zweiten Male heiratete, aber
bei dem verschwenderischen Leben, das wir alle führten,
schmolz es langsam dahin.
Ich habe meine schöne Mutti immer strahlend glücklich
gesehen, bis zu meinem sechzehnten Jahre – da sah ich sie
öfter weinen. Und immer dann, wenn mein Stiefvater
schroff zu ihr war, was mehr und mehr vorkam. Zuweilen
flüchtete sie mit mir an ein stilles Plätzchen und sprach

von dir, Onkel Jobst. Von dir, deiner schönen Heimat,
deiner verehrungsvollen Liebe zu ihr – und von dem
Schmerz, den sie dir angetan hatte. So voller Sehnsucht
sprach sie von dem allen, daß auch mich die Sehnsucht
packte und ich sie bestürmte, doch zu dir zu fahren. Aber
dann wurde sie ziemlich traurig und bekannte, daß du
nichts mehr von ihr wissen wolltest.
Ich will nicht sagen, daß die Ehe unglücklich war, aber es
kam immer öfter zu Streitigkeiten zwischen ihnen.
Vielleicht wäre sie nach und nach doch zur Tragödie
geworden, wenn mein Stiefvater nicht plötzlich aus dem

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Leben geschieden wäre. Herzschlag, hieß es. Allein, Mutti
schien nicht daran zu glauben. Sie war dem allen nicht

gewachsen und siechte langsam dahin. Zu ihrer Freude
erlebte sie noch, daß ich mich mit Gert Oven verlobte. Er
galt für reich, und das war wohl ausschlaggebend für Mutti.
Einige Monate danach starb sie. Ich war sinnlos vor
Schmerz. Und dann kam alles Schlag auf Schlag. Es war, als
wollte das Schicksal rasch nachholen, womit es mich so
lange verschont hatte.
Kaum war meine Mutter beigesetzt, da mußte ich erfahren,
daß unser Leben in den letzten zwei Jahren nur auf
Schulden aufgebaut gewesen war. Die Gläubiger fuhren wie
die Hyänen über mich her, und ich gab alles hin, um ihren
Beschimpfungen endlich zu entgehen. Unser Haus in Kiel,

unser Haus an der Ostsee, Autos, Pferde und Wagen,
meinen Schmuck, meine Pelze, meine Kleider – alles –
alles. Ich behielt nur so viel, um nicht unbekleidet zu sein.
Vom Geld blieben mir rund hundert Mark. Dabei war ich
froh, den Verpflichtungen restlos nachgekommen zu sein.
Und bei allem stand ich ganz allein. Es fand sich von all
unseren Freunden nicht ein Mensch, der mir zur Seite
gestanden hätte. Mein Vormund gab zu allem, was ich
vorschlug, seine Einwilligung. Er wollte mit der
unangenehmen Sache möglichst wenig zu tun haben – und
Gert Oven, der mich für reich gehalten hatte, gab mir mit
dürren Worten den Abschied.

Im Nachlaß meiner Mutter fand ich einen Brief mit der
Aufschrift: >Nur in großer Not zu öffnen.< Nun, so groß
wähnte ich meine Not noch lange nicht. Ich war ja jung,
gesund und konnte daher arbeiten, wie Millionen Mädchen
es müssen. Als ich jedoch damit begann, versagte ich
überall. Ich war Gesellschafterin, Kinderfräulein,
Haustochter und Verkäuferin. Doch überall mußte man
mich gleich wieder entlassen, da ich meinen
Verpflichtungen nicht nachkommen konnte.
So ging es länger als ein Jahr, dann brach ich zusammen.
Man brachte mich mit einem heftigen Nervenfieber ins

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Krankenhaus, wo ich sechs Monate blieb.
Und was nun? Da fiel mir Mutters Brief ein. War ich

berechtigt, ihn zu öffnen? Aber welcher Mensch befand
sich in noch größerer Not als ich? Noch immer nicht ganz
gesund und daher arbeitsunfähig, ohne Geld, ohne Bleibe.
Da öffnete ich den Brief, den meine Mutter kurz vor ihrem
Tode geschrieben hatte. Sie wies mich darauf hin, daß ich
mich an dich wenden sollte, wenn ich jemals der Hilfe
bedürftig wäre. Aber nicht etwa wegen eines Streites mit
dem Gatten, eines versagten Wunsches und kleinlicher
Dinge mehr. Den an dich adressierten Brief sollte ich dir
aushändigen.
So schrieb ich denn an dich. Du antwortetest sofort und
ließest mich zu dir kommen.

Ich wußte, daß du einsam wärest, daß viel Tragik dein
Leben umdüstert hatte. Wußte es durch Mutti, die deinen
Lebensweg verfolgt hatte. Glaubte dich alt und verbittert –
und wollte dich umsorgen und umhegen wie eine
liebevolle Tochter. Und nun bist du ein junger Mann – «
Ihre Stimme war immer leiser geworden, immer zerquälter
und mutloser, bis sie dann ganz schwieg. Auch schien das
Sprechen das Mädchen sehr angestrengt zu haben, denn es
lag nun total erschöpft da. Da beugte sich der Baron voll
Erbarmen nieder: »Sölve, kleines Mädchen, das letzte wäre
nicht nötig gewesen«, sprach er behutsam. »Schon als alles
über dir zusammenbrach, hättest du den Weg zu mir

finden müssen. Hörst du mich überhaupt, Sölve?«
Da schlug sie die Augen auf. Ihr Blick war jedoch
abwesend, als suche er etwas in weiter Ferne. – »Ja, Onkel
Jobst. Ich dürfte ja nicht bei dir bleiben – weil du mich –
nicht - brauchst. Aber wohin soll ich? Ich – habe ja keine
Heimat mehr.«
Ihr Kopf sank zur Seite. Sie war wieder ohnmächtig
geworden.

Mach dir das Leben nicht so schwer

mit Sorg und Plagen und eingebildetem Leid.

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Wenn du gebüßt hast, wirst du klagen
um fernes Glück und seine Blütenzeit.


Fünf Kilometer von Uhlen entfernt lag das stattliche Gut
Kaimucken, das dem Herrn Julius von Ragnitz gehörte.
Wenn es auch nicht so groß und feudal war wie das
herrliche Uhlen, so konnte sein Besitzer wohl damit
zufrieden sein.
Er hätte es auch von Herzen gern sein mögen, wenn nur
nicht die argen Sorgen gewesen wären; denn es gab weit
und breit wohl keinen so genügsamen und gemütlichen

Menschen wie den Herrn Julius. Wenn er auch noch so auf
Posten war, so kam er seit Jahren schon nicht mehr auf
einen grünen Zweig, denn die Einnahmen wollten sich mit
den Ausgaben kaum noch decken.
Zumal seine sieben Kinder, je größer sie wurden, auch
größere Kosten verursachten.
Auch seine Frau Franziska regierte so gut in Küche und
Keller wie kaum eine andere Hausfrau, und ihre Töchter
mußten ihr dabei tüchtig zur Hand gehen. Doch während
die achtzehnjährige Walburga dem gern nachkam, weil ihr
das Wirtschaften von der Mutter her im Blut lag, fügte sich
die siebzehnjährige Ricarda immer nur höchst widerwillig.

Es gab auch keinen größeren Gegensatz, als die beiden
Schwestern. Während Walburga die Walkürengestalt ihrer
Mutter geerbt hatte und ihr resolutes Wesen dazu war
Ricarda brünett und zierlich, weichmütig und verträumt.
Wenn es nach ihr gegangen wäre, dann hätte sie möglichen
Künste getrieben: Musik, Tanz, Malerei – nur die Kunst des
Wirtschaftens nicht.
Ehe sie sich in Haus und Garten betätigte, lag sie lieber an
einem verschwiegenen Plätzchen in der Hängematte lesend
oder vor sich hinträumend. Oder sie tummelte sich in
Wald und Feld, war einem frisch-fröhlichen Ritt nie
abgeneigt. Sie bedeutete ein Sorgenkind für die Mutter.

Nach Ricarda kamen die sechzehnjährigen Zwillinge
Monika und Veronika. Zwei ewig kichernde Backfische, mit

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molligen Gestalten, Gesichtlein wie Apfelblüten und
langen blonden Hängezöpfen. Sie waren sehr phlegmatisch

und huldigten dem Sprichwort: Wer Arbeit kennt und sich
nicht drückt, der…
Aber dafür fanden sie bei der resoluten Frau Mama absolut
kein Verständnis. Sie fackelte nicht viel, sondern teilte den
schmollenden oder gar laut protestierenden Faultierchen
seelenruhig ihre Arbeit zu.
Roderich hieß der Nächstgeborene. Er war dreizehn Jahre
alt, der einzige Sohn und Stolz der Familie. Nach den vier
Töchtern mit Ungeduld herbeigesehnt und mit Jubel
begrüßt, machte er vom ersten Atemzuge an seine
Daseinsberechtigung kräftig geltend, was man allgemein als
selbstverständlich fand.

So wuchs dieses Bürschchen heran, von sich und seiner
Bedeutung sehr durchdrungen. Und als er später noch als
Ahnerbe Uhlens galt, da sah man in diesem eingebildeten
kleinen Bengel fast einen Gott.
Dann waren da noch zwei Mädchen: Die siebenjährige
Elwira, ein rassiges kleines Teufelchen, und das
Nesthäkchen Hildegund, das lieb und artig war, solange
man ihm den Willen tat.
Julius von Ragnitz, ein kugelrundes Männchen mit einem
gutmütigen Gesicht und Glatze, besaß also eine große
Familie. Denn noch sahen seine verschmitzten Äuglein
vergnügt in die Welt, und seine kräftige rote Nase zeugte

davon, daß er einem guten Tropfen huldigte.
Er sagte selbst, daß in seinem Hause seine wackere
Ehehälfte die Hosen anhätte, und er machte nie den
Versuch, ihr dieselben auszuziehen. Er ließ sie schalten und
walten, zumal er wußte, daß alles bei ihr in den besten
Händen lag. Nur in seinen Angelegenheiten ließ er sich von
ihr nicht dreinreden. Dann konnte der wild werden. Und
da Frau Franziska das aus Erfahrung wußte, ließ sie es
bleiben.
Heute saß die ganze Familie beim einfachen Mittagsmahl.
Das Gespräch drehte sich ausschließlich um den Roggen,

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der auch hier noch kurz vor dem gestrigen Gewitter unter
Dach und Fach gebracht werden konnte.

Die kräftige Gemüsesuppe mit Hammelfleisch war fast
verzehrt, als die Hausfrau lebhaft auffuhr.
»Ach ja, fast hätte ich es vergessen, der Arzt soll heute in
Uhlen gewesen sein.«
»Na und -?« fragte der Hausherr, gleichmütig seine Suppe
löffelnd. »Ist das etwas Besonderes?«
»Natürlich. Jobst war doch gestern früh noch gesund.«
»Uhlen besteht ja nicht aus Jobst allein!«
»Das nicht. Aber ich bin unruhig und muß unbedingt
einmal nachsehen-«
Er sah sie an, kniff dabei ein Auge zu, was sie vor Ärger rot
anlaufen ließ.

»Ich meine, daß man sich um Jobst kümmern muß. Wir
sind seine einzigen Verwandten und sogar verpflichtet
dazu«, trumpfte sie auf.
»Natürlich, Fränze – «
»Ach, mit dir ist ja nicht zu reden. Du hast gleich
Hintergedanken, von Neugierde und so.«
Nun lachte er sein dröhnendes, fideles Lachen: »Kinder,
habe ich schon etwas von Neugierde gesagt?«
»Nein -!« klang es lachend zurück.
»Ihr haltet den Mund -!«
schnitt die Mutter weitere Erläuterungen ab. »Moni und
Vroni, ihr pflückt Bohnen – «

»Können wir nicht, Mama – «, protestierten die Zwillinge
wie aus einem Munde. »Wir haben zu lernen. Nicht wahr,
Fräulein Gluck?«
Das galt der Erzieherin der Töchter, hinter ihrem Rücken
von ihnen schlechtweg »Kluckchen« genannt. Und
tatsächlich zeigte das liebe ältliche Fräulein auch etwas
Gluckenhaftes in seiner mütterlichen Betulichkeit. Es lebte
schon seit zwölf Jahren im Hause.
Jetzt sah sie mit ihren verschmitzten Äuglein gemütlich zu
den Zwillingen hin, während sich ihr glattes, wie
gewichstes Vollmondgesicht zu breitem Lachen verzog.

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»Das ist nicht viel, was ihr aufhabt, Herzchen, das könnt
ihr nach dem Bohnenpflücken noch spielend bewältigen.«

»Ach, Fräulein Gluck, wie Sie manchmal sind – «,
schmollte Monika. »Wenn wir uns mit den Schularbeiten
überhasten, dann sind Sie morgen ungehalten.«
»Und mit Recht, Kindchen«, war die seelenruhige
Erwiderung.
»Also, ihr wißt Bescheid,« schnitt die Mutter jeden weiteren
Kommentar ab. »Und du, Ricarda, wirst die Bohnen
schnippeln.«
»Das gibt doch so schmutzige Hände, Mama – «
»Na, ist so was erhört -!« entrüstete sich diese.
»Bist du etwa eine Prinzessin, die Audienz geben muß? Ich
kann ja auch nicht danach fragen, ob ich meine Hände

beschmutze. Was sagst du bloß dazu, Julius?«
»Ach laß sie doch, Fränze – «
»Na, ich sage ja, immer wieder nimmst du diesen Kolibri in
Schutz. Es ist schon ein rechtes Kreuz mit euch beiden.
Und du, Ira«, wandte sie sich an ihre zweitjüngste Tochter,
»du kletterst nicht wieder auf die Bäume wie ein kleiner
Affe. Du wirst mit deinen Wuschelhaaren noch einmal
daran hängenbleiben. Warum hast du dein Haar wieder
nicht in Zöpfe geflochten?«
»Ach, Mama, die geh’n immer wieder auf.«
»Wenn du auch ständig herumwirbelst wie eine Wilde.
Julius, befiehl ihr, daß sie fortan Zöpfe zu tragen hat -!«

»Laß ihr doch die Haare, wie sie sind«, beschwichtigte er,
und sein Blick suchte zärtlich die schwarzbraunen
prächtigen Locken seines Kindes, die das süße Gesicht
umflirrten und über die Schultern in entzückender
Natürlichkeit fielen. Diese Pracht in Zöpfe zu zwängen,
wäre direkt ein Verbrechen an der Natur gewesen, die dem
Kinde die Schönheit gegeben.
»Hätte ich mir denken können – «, seufzte die bekümmerte
Ehehälfte. »Aber warte nur, deine ewige Nachsicht wird dir
noch einmal leid tun. Der Fratz geht dir einmal als
Zirkusreiterin auf und davon -!«

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»Herrlich -!« jubelte der kleine Unband, doch der
strengverweisende Blick der Mutter ließ ihn schweigen.

»Dir, mein Kind, brauche ich, Gott sei Dank, nicht zu
sagen, was du zu tun hast.«
Das galt der Ältesten, die wie das verkörperte blühende
Leben dasaß. Mit Stolz ruhten die Augen der Mutter auf
dieser Tochter, die so ganz nach ihrem Herzen war.
»Gewiß nicht, Muttchen. Ich werde nachmittag Bohnen
einwecken. Die Mädchen müssen den Zwillingen beim
Pflücken helfen und später Ricarda beim Schnippeln.«
»Recht so, mein Kind, auf dich ist doch noch Verlaß. An dir
wird dein zukünftiger Mann seine helle Freude haben,
während die von Ricarda und Ira noch ihr blaues Wunder
erleben werden. An den Bettelstab werden diese Firlefänze

sie bringen. Möchte bloß wissen, woher ich diese Töchter
habe.«
Nun wanderte ihr Blick zum Sohn des Hauses hin. »Hast
du schon deine Schulaufgaben gemacht, mein Junge?«
»Natürlich, Mama! Längst alles erledigt – «
»Dann kannst du mich nach Uhlen fahren.«
»Ich will auch mit -!« meldete sich nun das Nesthäkchen,
das daran gewöhnt war, seinen Willen durchzusetzen.
Doch heute stieß es bei der Mutter auf Widerstand.
»Nein, Gundel, du bleibst hier.«
Es war um die Kaffeestunde, als Frau Fränze in den schon
ein wenig altersschwachen Wagen stieg, vor den ein

ebensolcher Brauner gespannt war. Luxuspferde gab es auf
Kalmücken nicht.
Roderich kutschierte und kam sich dabei sehr wichtig vor.
Er sprach mit seiner Mutter wie ein erfahrener Landwirt,
was ihr Herz vor Stolz hochaufschwellen ließ.

Steh nicht zu fest auf hoher Warte,

denk nicht allein nur gut,
was je durch dich geschah.
Setz alles nicht auf eine Kaffe,
sonst stehst du bald mit

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leeren Händen da.


Der Diener Michael führte Frau von Ragnitz auf die
Terrasse, wo Frau Fröse saß und strickte.
»Frau von Ragnitz und Sohn Roderich«, meldete er
feierlich, worauf sich Frau Fröse erhob, um die Gäste zu
begrüßen.

»Ist mein Schwager nicht hier?« fragte Frau Fränze
enttäuscht.
»Nein, gnädige Frau. Der Herr Baron ist wie stets um diese
Zeit, auf dem Felde.«
»Sonst gewiß«, entgegnete sie mißmutig, während sie sich
in einen der bequemen Korbsessel fallen ließ. »Aber ist er
nicht krank?«
»Der Herr Baron? Nein – «, kam es verwundert zurück.
»Und weshalb war denn der Arzt heute vormittag hier?«
Ein Lächeln huschte blitzartig über das feine Antlitz der
Hausdame.
»Der Arzt kam zu unserem Gast, gnädige Frau – «

Diese richtete sich kerzengerade in ihrem Sessel auf, als
rüste sie sich zum Kampf.
»Einen Gast? Davon weiß ich ja noch gar nichts«, bemerkte
sie höchst ungnädig, als müßte sie von allem, was hier
passierte, sofort in Kenntnis gesetzt werden. »Seit wann ist
denn der Herr hier?«
»Es ist eine Dame, gnädige Frau.«
»Auch das noch! Und die kommt einfach hierher, legt sich
ins Bett, der Gastgeber muß den Arzt holen und
wahrscheinlich noch bezahlen. Das muß ja eine
merkwürdige Dame sein. Wo liegt sie?«

»Im grünen Fremdenzimmer. Aber sie darf nicht gestört
werden.«
»Machen Sie doch nicht so ein Theater, so schlimm wird es
bestimmt nicht sein«, winkte die resolute Dame ab, indem
sie nach dem bezeichneten Zimmer schritt, ohne sich von
Frau Fröse abhalten zu lassen.
Als sie jedoch vor dem Bett stand, in dem Sölve schlief, sah

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sie doch betroffen drein.
»Mein Gott, lebt die überhaupt noch?« flüsterte sie entsetzt.

»Die sieht ja erbärmlich aus.«
Fast fluchtartig verließ sie das Zimmer. Auf der Treppe kam
ihnen Götterun entgegen.
»Na, da hast du dir ja was Gutes auf den Hals geladen -!«
platzte Frau Fränze heraus, bevor sie den Schwager begrüßt
hatte. »Der kannst du bestimmt heute noch die Augen
zudrücken. Wo hast du die bloß aufgegabelt?«
»Zuerst komm einmal von hier fort, denn es ist nicht nötig,
daß das arme Ding deine taktlosen Bemerkungen hört«,
sagte er unwillig. »Wie kommst du überhaupt in das
Zimmer, Fränze? Der Arzt hat doch Weisung gegeben, daß
es außer Frau Fröse und mir niemand betreten darf.«

»Wie konnte ich ahnen, daß du da oben eine Halbtote
beherbergst«, entschuldigte sie sich, während sie mit den
anderen der Terrasse wieder zuschritt, wo schon der
Kaffeetisch gedeckt war.
»Sag bloß, Jobst, wer ist dieser arme Wurm?«
»Eine Bekannte von mir – «, entgegnete er kurz.
Frau Fröse füllte aus der Maschine den Kaffee in die
hauchdünnen Schalen, tat dem Hausherrn Sahne und
Zucker in die seine, strich ihm ein Brot mit der köstlichen,
frischen, goldgelben Butter und träufelte Honig darauf.
Frau Fränze sah das alles mit stillem Grimm. Sah das
kostbare Porzellan, die silberne Kaffeemaschine, Brot und

Butter, Honig und Marmelade, alles gefällig und appetitlich
angerichtet. In Kaimucken konnte man sich das alles nicht
leisten.
»Haben Sie denn keinen Kuchen?« erkundigte sie sich
ungnädig.
»Nur von dem, der Ihnen letztens nicht schmeckte.«
»Na, vielleicht ist er diesmal besser geraten. Probieren
könnte man ihn schon.«
Daraufhin brachte Michael einen Teller mit Kuchen, den
Frau Fränze mit der Miene einer Kennerin versuchte.
»Hm, es geht. Er könnte aber besser sein.«

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»Vielleicht hörst du mit deinen Taktlosigkeiten bald auf,
Fränze«, drohte die scharfe Stimme des Schloßherrn, und

die tiefe Falte zwischen den Augen mahnte selbst diese Frau
zur Vorsicht, die sich in diesem Hause Rechte anmaßte, die
weit über jede Höflichkeit gingen.
Roderich verdrückte Stücke davon, als müßte er den
reichbelegten Kuchenteller unbedingt leer kriegen. Und da
seine Mutter nun schwieg, ergriff er das Wort. Er sprach
langsam und bedächtig, schien immer erst jedes Wort zu
überlegen, das er dann wohlgefällig hervorbrachte. Man
glaubte bei seinen Ansichten und Beurteilungen einen
erfahrenen Menschen vor sich zu haben, keinen
dreizehnjährigen Knaben. Sein Wissen betreffs der
Landwirtschaft setzte wirklich in Erstaunen, und in der

Schule ging er stets als Primus durch die Klassen.
Also war Roderich der reinste Wunderknabe, und seine
Mutter wußte sich vor Stolz über diesen Sohn kaum noch
zu lassen. Stundenlang konnte sie über ihn reden und
Zukunftspläne schmieden.
Sie ging in ihrer Verblendung sogar soweit, überall eine
Ausnahmestellung für ihn zu verlangen. Hauptsächlich in
Uhlen, wo er später der Herr sein würde.
Und das verlangte Roderich auch. Er fühlte sich hier schon
ganz als Herr. Die Hausdame behandelte er mit
Herablassung, was diese jedoch nicht tragisch nahm und
nicht davon abhielt, diesen selbstherrlichen jungen Mann

genau so zu nehmen, wie es seinem Alter entsprach.
Schließlich fiel Frau Fränze wieder Uhlens Gast ein.
»Wer ist denn das eigentlich da oben?« zeigte sie mit dem
Finger zur Decke, wobei ihr die Neugierde förmlich aus
den Augen sprang.
»Eine Bekannte«, war seine knappe Antwort.
»Hast du sie eingeladen?«
»Natürlich – «
»Und dann wird sie hier gleich krank? Da mußt du doch
zusehen, daß du sie auf gute Art bald wieder los wirst.«
»Im Gegenteil, liebe Fränze. Ich gedenke, die junge Dame

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recht lange in Uhlen zu behalten.«
»Als was?«

»Vorläufig als Gast.«
Nun sah die Gute ihren Schwager an, als zweifele sie an
seinem Verstand. Man konnte nicht gerade sagen, daß sie
herzlos war, sie verfügte sogar über eine gewisse
Gutmütigkeit. Aber daß man sich so etwas wie dieses
Mädchen freiwillig auf den Hals lädt, das war ihr
unbegreiflich.
Als dann Roderich erschien, rüstete sie zum Aufbruch.
»Ich bleibe hier, Mama – «, entschied das Söhnchen kurz
und bündig, und die resolute Fränze wagte nicht zu
widersprechen.
»Wie kommst du dann aber nach Hause, mein Junge?« gab

sie besorgt zu bedenken, worauf er nachlässig abwinkte.
»Ich bleibe hier und fahre morgen früh von hier aus zur
Schule.«
Ratlos sah Fränze zu dem Schloßherrn hin, in dessen
Augen es amüsiert aufblitzte.
»Bist du damit einverstanden, Jobst?«
»Was habe ich da zu sagen – «, entgegnete er in einer Art,
die Frau Fränze immer auf die Nerven ging. »Roderich ist
doch mein Gast. Da wäre es ja ungastlich, wenn ich
Widerreden sollte.«
Nun war die Frau Mama hilflos wie ein kleines Kind.
»Rodichen, so komm doch mit – «, verlegte sie sich aufs

Bitten. Doch der kleine Despot ließ sie gar nicht ausreden.
»Gib dir keine Mühe, Mama. Ich bleibe hier. Was ich mir
vorgenommen habe, führe ich auch durch.«
»Richtig – «, warf Götterun mit einem Lächeln ein, das Frau
Fränze über alle Maßen niederträchtig fand.
»Du könntest lieber auf den Jungen einwirken, daß er nicht
so halsstarrig ist – «, verlangte sie ärgerlich. »Aber es sieht
fast so aus, als wolltest du seinen Dickkopf noch bestärken
und so meine Autorität untergraben.«
»Aber, liebe Fränze – wie könnte das wohl möglich sein.«
»Ach, mit dir ist ja nicht zu reden. Du kannst weiter nichts

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als ironisieren – und das aus dem Effeff. Roderich, kommst
du mit -?«

»Mama, ich bleibe hier! Mir ist nämlich in der Wirtschaft
manches aufgefallen, worauf ich Onkel Jobst aufmerksam
machen muß.«
»So, so – «, amüsierte sich der Baron köstlich. »Aber meinst
du nicht auch, daß ich auch ohne deine gütige Hilfe hinter
diese Unstimmigkeiten kommen werde?«
»Das glaube ich nicht, weil du dir von dem Oberinspektor
zu viel vormachen läßt.«
»Oha, mein Söhnchen, geht da deine Einmischung nicht
etwas zu weit? Und nun genug gescherzt. Fahre nur ruhig
mit deiner Mutter nach Hause. Uhlen wird deshalb nicht
koppheister gehen.«

Wenn der Onkel Jobst mit dieser kalten Ruhe sprach,
wobei es in seinen Augen so eigentümlich aufblitzte, dann
war es wohl am besten, sich seinen Wünschen zu fügen.
Maulend zwar, doch ohne Widerspruch, ging er mit der
Mutter.
Götterun gab ihnen bis zum Portal das Geleit und ging
dann seiner Beschäftigung nach, während sich Frau Fröse
zu ihrem Pflegling begab.

Seid nicht so gut zu mir,

ich kann es euch nicht lohnen,
was ihr an Lieb und Güte mir beschert.
Ich möchte hin, wo Ruh und Frieden wohnen,
wo Himmelslicht das Leid in Freude klärt.


Da sich Frau Fröse nicht ausschließlich mit Sölve
beschäftigen konnte, diese aber noch viel Aufsicht
brauchte, hatte man eine Frau aus dem Dorfe kommen
lassen, die viel von der Krankenpflege verstand und von
den Bewohnern der Umgebung gern dazu genommen
wurde.
Ohne viel zu fragen, hatte diese ihren Pflegling unter ihre
Obhut genommen, und da das »Hascherchen« sie dauerte,

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es sogleich in ihr Herz geschlossen.
Viel Arbeit gab es nicht bei der Rekonvaleszentin. Sie war

geduldig und gehorsam. Nur wenn man sie mit dem Essen
quälte, dann begehrte sie manchmal auf, was ihr jedoch
nicht viel half. In diesem Kampf trug die Pflegerin Minchen
stets den Sieg davon.
Eben betrat Frau Fröse mit einem Teller voll köstlicher
Pfirsiche das Zimmer. Sie setzte sich auf den Diwan, auf
dem das Mädchen angekleidet lag.
»Einen Gruß vom Herrn Baron, Sölvelein. Er hat die
Pfirsiche eigenhändig gepflückt und wünscht guten Appetit.
Also müssen Sie essen.«
»Wird sie schon«, nickte Minchen zuversichtlich, indem sie
eifrig an einem Strumpf strickte. Klein und verhutzelt saß

das Fräulein da, in dem doch so viel Energie steckt.
Es klopfte, und der Baron erschien. Minchen erhob sich
und versank in einen regelrechten Courknicks, wobei der
Herr lächelnd abwinkte. »Behalten Sie doch Platz,
Minchen. Wie oft soll ich Ihnen das noch sagen?«
Eilfertig schob sie einen Sessel an den Diwan, in den sich
Götterun setzte. Dann erst kehrte sie zu ihrem Strumpf
zurück.
Der Mann ergriff behutsam die durchsichtig zarte Hand
Sölves, die er jedoch gleich wieder losließ, weil sie in der
seinen flatterte und bebte. Es war kein Zweifel, das
Mädchen hatte eine unüberwindliche Scheu vor ihm.

Während sie allen anderen ruhig und klar in die Augen sah,
wich sie seinen beharrlich aus. Es hatte überhaupt den
Anschein, als wäre ihr seine Gegenwart quälend, so daß er
seine Besuche aufs äußerste einschränkte.
Natürlich war ihm ihr Verhalten unverständlich, aber um
sie deshalb zur Rede zu stellen, dazu war sie viel zu elend
und matt.
Sölve schloß wie in tödlicher Erschöpfung die Augen, und
über ihr elendes Antlitz huschte ein Ausdruck von Qual,
der die andern betroffen machte.
Bekümmert ruhte Frau Fröses Blick auf ihrem Pflegling,

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und wie schon so oft dachte sie auch jetzt, daß dieses
Mädchen wohl nie mehr gesund werden würde.

Vier Wochen hindurch wurde ihm schon die sorgsamste
Pflege zuteil, allein, es schien immer schlechter zu werden
statt besser. Wahrscheinlich fraß an dem armen Seelchen
ein unstillbares Leid, das es langsam zugrunde richtete.
Wieder klopfte es, und diesmal schob sich die kleine Elwira
von Ragnitz vorsichtig ins Zimmer. An ihre Brust gedrückt
hielt sie ein Körbchen von leuchtendbuntem Bast.
»Nun, Rosenrot, komm nur näher«, ermunterte der Baron
das Mädchen, das ängstlich an der Tür stehen blieb. »Was
trägst du denn da so zärtlich?«
»Darf ich näherkommen, schläft Fräulein Sölve nicht?«
»Nein, ich schlafe nicht«, ermunterte nun auch diese,

worauf die Kleine zu ihr trat und behutsam den Deckel des
Körbchens lüftete. Darin lag auf einem flauschigen
Deckchen ein schneeweißes Angorakätzlein friedlich
schlafend. Eine hellblaue Seidenschleife schmückte den
Hals des winzigen Tierchens.
»Nicht wahr, Fräulein Sölve, ich darf es Ihnen doch
schenken?« bettelten die wunderschönen Kinderaugen mit
dem roten Mündlein um die Wette, und Sölve hätte ein
Herz von Stein haben müssen, wenn sie dieses mit so viel
Liebe dargebrachte Geschenk zurückweisen wollte.
»Natürlich, Iralein, wie lieb von dir. Wie heißt es denn?«
»Schneeweißchen!«

»Ah, wohl als Gegenstück zu dir, du Schmeichelkätzchen
Rosenrot«, lachte Götterun erheitert, worauf ihn die Kleine
vorwurfsvoll ansah.
»Deswegen doch nicht, Onkel Jobst. Doch bloß, weil es so
schneeweiß ist. Es ist sogar ein Kater.«
Über diesen Trumpf mußten alle lachen, was die Kleine
außerordentlich entzückte. Nun erst wußte sie, daß ihr
Geschenk angebracht war, das Sölve nun aus dem
Körbchen nahm und zärtlich liebkoste.
»Es ist von meiner Muschi«, plauderte sie zutraulich. »Ganz
heimlich habe ich es hergebracht.«

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»Da bin ich nur neugierig, wie sich unsere Hunde,
hauptsächlich der schwarze Tintenwischer und der freche

Dackel Fink, zu diesem Zuwachs stellen werden«, gab der
Baron amüsiert zu bedenken. »Sie werden ihn
wahrscheinlich als Eindringling betrachten und danach
behandeln.«
»O nein«, widersprach Elwira eifrig. »Unsere Hunde
benahmen sich direkt ritterlich zu dem Kätzlein.«
»Dann bin ich überzeugt, daß sich unsere Hunderitter nicht
beschämen lassen werden«, lachte er herzlich mit den
andern. »Aber nun eine Gewissensfrage, Klein Rosenrot:
Auf welchem Wege bist du hierher gekommen?«
Nun überzog sich das Gesichtlein mit heißer Glut. Ein
Füßchen trat das andere in ratloser Verlegenheit.

»Zu Fuß, Onkel Jobst!«
»Heimlich?«
Ein beschämtes Nicken.
Entzückt ruhten die Augen aller auf dem reizenden Kinde,
auf das jede Mutter stolz sein mußte, wenn sie nicht die
Verbohrtheit Frau Fränzes besaß, die gerade ihre beiden
schönsten Kinder für entartet hielt, weil sie ihr
wesensfremd waren.
»Nun, da muß der gute Onkel Jobst denn doch wieder
einmal helfen, wie?« fragte er lächelnd. »Ich muß sowieso
über Kaimucken reiten, da werde ich so ein wenig Prinz
spielen und das Prinzeßlein Rosenrot auf mein Roß

nehmen.«
»O du lieber guter Onkel Jobst!«
Er wurde stürmisch umhalst und geküßt, bis er sie lachend
von sich schob.
»Höre einmal, du kleiner Unband, an deiner Stelle würde
ich die heimlichen Streifzüge doch lieber unterlassen.
Wenn die Mama nun dahinterkommt, dann möchte ich
nicht in deinem rosigen Fellchen stecken.«
»Ach, Onkel Jobst, artig bin ich ja sowieso nicht – «
»Schöne Selbsterkenntnis. Aber nun komm, damit der
Schleichpfad nicht doch noch entdeckt wird.«

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»Einen Augenblick noch, Herr Baron«, meldete sich nun
Minchen, die über die Brille hinweg die kleine Elwira

kritisch musterte. Die wußte genau, was das zu bedeuten
hatte und schlich beschämt zu ihr hin, die ihren Strumpf
weglegte, wortlos dem Kinde das rosenrote Röcklein auszog
und hurtig die Risse darin zu stopfen begann. Das tat sie
nicht zum ersten Male. Kaum einer kannte die Verhältnisse
in Kalmücken so gut wie Minchen und wußte daher, daß
sie mit diesem Liebesdienst der Kleinen die Prügel von der
Mutterhand ersparte.
Ira kauerte sich nun vor den Diwan und sah mit ihren
strahlenden Augen unentwegt zu Sölve hin. Alle aus
Kaimucken waren schon gekommen, um sich den Zuwachs
in Uhlen anzuschauen. Herr Julius hatte nur wenige

Minuten bei Sölve verbracht und draußen, bekümmert
über so viel Erbarmungswürdigkeit, den Kopf geschüttelt.
Walburga brachte eingekochte Früchte mit, fest davon
überzeugt, daß nur die von ihr behandelten essenswert
wären. Sie hatte mit Sölve wie mit einer Todkranken
gesprochen, der man noch am selben Tage die Augen
zudrücken würde.
»So, komm her, nun ist das Röcklein wieder ganz«, meinte
Minchen befriedigt, in dem sie dem Kinde das Kleid
überzog. »Nun werde ich dich noch kämmen.«
Tiefste Besorgnis in den Augen, verließen Frau Fröse und
Götterun, der das Kind an der Hand führte, leise das

Zimmer.

Du willst von hinnen ziehen

und läßt mich hier allein?
Dann geh ich auch – denn ohne dich
mag ich hier nimmer sein.

An einem regennassen Oktobertag saß Sölve in Frau Fröses
Gesellschaft in dem Teezimmerchen im Schaukelstuhl.

Dem brennenden Kamin entströmte mollige Wärme. Es
war so recht behaglich.

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Frau Fröse, die lesend am Kamin saß, sah immer wieder
verstohlen zu Sölve hin, die, wortkarg wie gewöhnlich, hin

und herschaukelte. Den Kopf hatte sie zurückgelegt, die
Augen geschlossen. Die Hände, die die Seitenlehnen des
Stuhles umklammert hielten, zuckten nervös.
Die Dame konnte nur schwer einen Seufzer unterdrücken.
Was gab sie sich mit diesem Mädchen für Mühe – aber alles
war umsonst. Da mußte man mutlos werden.
Ihre unerquicklichen Gedanken wurden durch den Eintritt
des Schloßherrn unterbrochen. Forschend ging sein Blick
zu Sölve hin, die wohl die Augen öffnete, in ihrer Stellung
jedoch verharrte. Er sprach sie nicht an, sondern ließ sich
Frau Fröse gegenüber in einen Sessel sinken und zündete
eine Zigarette an.

Er war gelassen wie immer. Doch die Hausdame, die diesen
Mann ja so genau kannte, merkte, daß ihn etwas stark
bewegte.
Dann drückte er den Rest seiner Zigarette in die
Aschenschale, strich sich einige Male ruckartig über Augen
und Stirn und lächelte.
»Ja, Frau Fröse, Sie haben recht, wenn Sie annehmen, daß
ich etwas auf dem Herzen habe. Aber Sie brauchen deshalb
nicht so angstvolle Augen zu machen, der Grund ist
erfreulicher Art. Ich habe nämlich geerbt.«
»Aber das ist ja wunderbar!« rief sie erfreut. »Ist es viel?«
»Ich glaube doch. Die Farm mit allem Drum und Dran

meines Onkels in Afrika, der vor einigen Wochen gestorben
ist, und der mich zum Universalerben eingesetzt hat.«
»Dann werden Sie am Ende auswandern, Herr Baron?«
»Kein Gedanke, meine Getreue. Ich habe ja Uhlen, an dem
ich mit ganzem Herzen hänge. Aber das Geld, das diese
Erbschaft einbringen wird, kann ich gut gebrauchen. Ich
werde die Farm verkaufen. Wie mir der
Testamentsvollstrecker mitteilt, hat er bereits einen Käufer
an der Hand.
Aber dazu muß ich dorthin. Und da die Ernte so gut wie
geborgen ist, bin ich abkömmlich und werde die Sache

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nicht auf die lange Bank schieben. Mit dem nächsten Schiff
reise ich.«

Nach diesen Worten war es zuerst eine Weile beklemmend
still. Dann fragte die Hausdame leise:
»Ist diese Reise nicht gefährlich, Herr Baron?«
»Ja, ganz einfach wird sie nicht sein, da ich ja ganz fremd
dorthin komme. Aber da mein Onkel jahrzehntelang dort
gelebt hat und eines natürlichen Todes gestorben ist, werde
ich auch nicht umkommen. Der Onkel war nämlich das
berühmte schwarze Schaf der Familie, das nach dem
Ausland abgeschoben wurde. Mein Vater hat ihm als
einziger der Sippe die Treue gehalten, ist auch stets mit ihm
in Verbindung geblieben. Ich ernte nun die Früchte dieser
Treue.

Und was sagt unsere Sölve dazu?« wandte er sich an das
Mädchen, die das Schaukeln eingestellt hatte und nun
regungslos im Stuhl lag.
Ein Erschrecken ging über Götteruns Gesicht. Hastig erhob
er sich und trat an den Schaukelstuhl.
»Sölve, dir ist doch bestimmt nicht gut – «
»Ganz wohl ist mir. So wohl, daß ich mir eine Stellung
suchen werde.«
»Rede doch nicht so einen blühenden Unsinn, mein
kleines Mädchen. Um das zu können, mußt du aus ganz
anderen Augen schauen.«
»Ich will euch aber nicht länger zur Last fallen!« begehrte

sie auf. »Ich bin doch nur ein Eindringling hier – ein – ein
– «
Laut aufweinend, warf sie sich in den Schaukelstuhl zurück,
der ob dieser Erschütterung auf und nieder wippte. Ein
stoßendes Schluchzen durchschüttelte den elenden Körper,
das Antlitz zuckte und bebte.
»Kind, in welchen Gedanken hast du dich da verfangen«,
entgegnete er kopfschüttelnd und fing die ruhelosen Hände
ein, die sie ihm wieder entziehen wollte, was ihr diesmal
jedoch nicht gelang.
»Nun mal ruhig, Sölve, hörst du -?« verlangte er in einem

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Ton, mit dem er sonst nicht zu ihr zu sprechen pflegte. »Du
hast absolut keinen Grund, dich so unerhört zu erregen.

Warum willst du fort? Hast du über irgend etwas Klage zu
führen?«
»Um Gottes willen!« wehrte sie erschrocken. »Mir geht es
so gut, wie es mir wohl nie gehen wird – wenn ich hier fort
bin – «
»Und warum willst du das?
Es ist doch ausgemacht, daß du in Uhlen eine Heimat
finden sollst.«
»Ja – aber – «
»Was aber? Nun sei mal ehrlich, Sölve, und sage endlich
was dich quält.«
»Ich bin hier so unnütz, lebe keinem zuliebe, nur allen zur

Last. Denke nur daran, was Frau Fröse schon allein mit mir
Plage hat. Ach, Onkel Jobst – ich möchte sterben!«
»Natürlich, das ist immer der Weisheit letzter Schluß.
Trägst du denn ein so großes unstillbares Leid, das diesen
Lebensüberdruß rechtfertigen könnte?«
»Ich bin krank – «
»Dann werde gesund! Das ist nämlich allein in deine Hand
gegeben.
Und nun Schluß mit dem Unsinn! Ich sage dir noch
einmal, daß Uhlen deine Heimat ist und du bleiben
kannst, so lange du magst.«
»Dann wirst du mich nie mehr los, Onkel Jobst.«

»Na also, das ist doch ein vernünftiges Wort. Nun mache
mir auch Freude und werde rasch gesund. Dann wirst du
alles mit anderen Augen ansehen.
So – nun werde ich alle Hebel in Bewegung setzen, damit
ich auf die Reise gehen kann. Je früher ich wegkomme,
desto früher bin ich wieder hier.«

Gütiges Herz, was quälst du dich,

Wann läßt eine Mutter ihr Kind im Stich?
Kannst du mich missen?
Ich dich nicht!

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Gütiges Herze, besinne dich.


Herbststürme über der Ostsee! Oft erlebt und oft erschaut –
und doch immer wieder neu. Der Mensch kommt sich
plötzlich so klein vor, spürt angesichts der Naturgewalten,
wie winzig klein doch sein Leben ist, das er so unendlich
wichtig nimmt. Er wird demütig und fromm und ist

seinem Herrgott so nahe wie in keiner anderen Stunde.
Das empfand auch Frau Fröse, die im Teezimmer saß und
auf das Toben draußen hörte. Wie liebte sie diesen Sturm!
Zehn Jahre hatte sie ihm lauschen dürfen – zehn lange
Jahre – und vielleicht – Zehn Jahre hatte sie hier gelebt und
gewirkt. Zehn Jahre hindurch Leid und Freud mit den
Schloßbewohnern geteilt.
Langsam ließ sie ihre Blicke über das vertraute und so sehr
geliebte Bild schweifen, und ihr Herz zog sich schmerzend
zusammen.
Liebes, vertrautes Bild, liebes, kleines Gemach, mit deiner
anheimelnden Traulichkeit. Prächtiges Uhlen, mit allem,

was darin lebt.
Liebe, vertraute Käuzchen, ihr Glücksvögel von Uhlen,
auch euch gehört mein Herz. Auch euer Rufen muß tönen
in dem Schlummerlied – von Wald – und Meer und Wind.
Liebes geliebtes Uhlen – liebe geliebte Heimat.
»Guten Abend, Frau Fröse – schlafen Sie?«
Sie schrak auf und sah den Baron verstört an.
»Habe ich Sie erschreckt, meine Getreue?«
»Ein wenig wohl«, raffte sie sich gewaltsam auf. »Sie sind
wohl hereingeschwebt wie eine Sylphide?«
»Na, ich danke – so mit Schuhgröße dreiundvierzig. Ist das

hier bei Ihnen ein wundervolles Nachhausekommen! Nach
diesen stillen Stunden zu zweit werde ich mich in Afrika
kranksehnen. Mich packt schon das Heimweh, bevor ich
fort bin.«
Michael brachte Speckeier und Röstkartoffeln. Ein Gericht,
das Götterun zu jeder Tages- und Nachtzeit essen konnte,
wie er immer behauptete. Dann eine Platte mit Aufschnitt,

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Butter und Brot.
»Also, Frau Fröse, in einer Woche geht die Reise los. Es hat

alles gut geklappt, und wenn es im heißen Afrika ebenso
sein sollte, dann kann ich im Frühjahr schon wieder zurück
sein. Wenn es mir nicht um das Geld zu tun wäre, dann
würde ich gar nicht fahren, sondern den Rechtsberater dort
beauftragen, die Farm zu verkaufen. Aber so muß ich Wert
auf jede Mark legen, die Uhlen so bitter nötig hat.
Und schließlich bekomme ich auf der Reise wieder ein
schönes Stück von der Welt zu sehen. Damit muß ich mich
trösten. Hier weiß ich alles in besten Händen, und so kann
ich meine Geschäfte in Ruhe abwickeln.«
»Darüber möchte ich noch mit ihnen sprechen, Herr
Baron«, entgegnete sie hastig und mußte all ihre

Selbstbeherrschung aufbieten, um unter seinem erstaunten
Blick ruhig zu bleiben.
»Es ist nämlich meine Überzeugung, Herr Baron, daß ich
während Ihrer Abwesenheit hier über bin. Der ganze
Zuschnitt des Hauses wird ja dann ein anderer werden. Da
gibt es also nichts mehr für mich zu tun. Und die
Wirtschaftsführung liegt sowieso in den bewährten Händen
der Mamsell – ich wüßte also nicht, was ich hier anfangen
sollte.«
»So – und haben Sie Sölve vergessen? Sind Sie Ihres
Samariterwerkes bereits überdrüssig? Oder wie soll ich
sonst Ihre sonderbare Eröffnung verstehen -?« fragte er so

eigentümlich, daß es ihr das Blut ins Gesicht trieb.
»Sölve nehme ich mit mir. Ich habe von meinem
verstorbenen Bruder eine Summe geerbt, die es mir
ermöglicht, eine Zeitlang ein angenehmes Leben zu führen.
Wenn Sie dann wieder zurück sind, Herr Baron, kann Sölve
wiederkehren und ich mit, falls es erwünscht sein sollte – «
»Wenn ich Sie nicht so genau kennen würde, Frau Fröse,
dann würde ich Ihre Worte als Kränkung auffassen.
Also, Frau Fröse, ich möchte den wahren Grund wissen.
Das Recht habe ich dazu, kraft unserer zehnjährigen
Zusammengehörigkeit. Ich habe zu vielen Malen von

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Ihnen gehört, daß Ihnen Uhlen eine wahre Heimat ist.
Warum wollen Sie die nun verlassen?«

»Herr Baron, es gibt Dinge, die lieber ungesagt bleiben.«
»Dacht’ ich mir’s doch – «, warf er aufatmend ein. »Nun
Farbe bekannt, anders kommen Sie nicht davon. Ist es
Sölve, die Sie in die Flucht schlägt?«
»Um Gottes willen, Herr Baron, dieses arme brave
Seelchen! Sie hörten doch, daß ich sie mit mir nehmen
will. Weshalb ich von hier fort möchte, ist, daß ich mich
dem allen, was auf mich einstürmen würde, nicht
gewachsen fühle.«
»Nanu, zehn Jahre lang ging es doch? Man hat uns
allgemein um die Repräsentantin unseres Hauses beneidet.
Und als meine Angehörigen noch lebten, war eine

Repräsentation doch weit schwieriger als jetzt. Aber ich
weiß nun den Grund: Frau Fränze – «
Sie zuckte erschrocken zusammen, und er lächelte.
»Ihrem Erschrecken sehe ich an, daß ich den Nagel auf den
Kopf getroffen habe.«
Er weidete sich an ihrer Verlegenheit, die immer größer
wurde.
»Herr Baron, Sie quälen mich -!«
»Schadet nichts, das haben Sie verdient, meine ungetreue
Getreue.«
»Es ist nicht meinetwegen allein – hier geht es auch noch
um Sölve. Frau von Ragnitz sowie ihr Sohn, der sich hier

schon als Herr fühlt, betrachten das Mädchen als
Eindringling und würden es danach behandeln. Und
Sölves Sensibilität ist Ihnen ja nicht unbekannt.
Kurz und gut: Um allen Kränkungen, Demütigungen und
allen Schikanen zu entgehen, räumen wir beide freiwillig
das Feld.«
»Also kneifen wollen Sie – ganz einfach kneifen«, schüttelte
er mißbilligend den Kopf.
»Ist das etwa fair?
Und nun werde ich Ihnen mal etwas sagen, meine Liebe:
Ehe ich Sie von Uhlen lasse, breche ich lieber mit der

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Verwandtschaft und verbiete ihnen das Haus.«
»Großer Gott, nur das nicht-!« wehrte sie entsetzt. »Das will

ich nicht auf mein Gewissen laden.«
»Können Sie ruhig! Mir würde das Herz dabei nicht
brechen. Denn ich weiß ganz genau, was ich von Frau
Fränze und ihrem Wunderknaben zu halten habe. Oder
nehmen Sie an, daß ich mit verbundenen Augen und
Ohren durch meine Tage gegangen bin?
Und nun werde ich Ihnen eine zwar derbe, aber
wirkungsvolle Vollmacht geben, der zufolge Sie die
Herrschaften an die frische Luft befördern können, wenn
sie zu unverschämt werden. Als Zugabe dürfen Sie dem
anmaßenden Wunderknaben noch eine herunterhauen.«
Nun mußte sie herzlich lachen. »Das würde wenig nützen –

sie würden trotzdem wiederkommen.«
»Recht haben Sie, denn deren Unverfrorenheit ist auch mir
nicht unbekannt. Aber wiederholen Sie diese Prozedur so
lange, bis sie endlich merken, was die Glocke geschlagen
hat.
Wie kommt der Bengel überhaupt darauf, sich hier schon
so als Herr zu fühlen? Mir hat die pedantische, altkluge Art
des Bürschchens immer großen Spaß gemacht, und ich
habe daher vieles durchgehen lassen, was ich hätte rügen
müssen. Aber daß er hier den Herrn herauskehrt, ist denn
doch die Höhe. Mit welchem Recht, möchte ich bloß
wissen -?«

»Haben Sie nicht testamentarisch festgelegt, daß Roderich
Uhlens Erbe ist?« fragte sie gespannt.
»Wie kommen Sie denn darauf, Frau Fröse?« fragte er
verwundert. »Ich habe wohl einmal bei meinen
Verwandten erwähnt, daß Roderich eventuell als mein Erbe
in Frage käme – das ist aber auch alles.«
»Und Heike, Herr Baron?«
Ein Zucken ging über sein Gesicht.
»Mein kleines Mädchen werde ich nach meiner Rückkehr
nicht mehr wiedersehen.«
Frau Fröse fühlte erbarmendes Mitleid mit dem Mann, dem

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das Schicksal so hart zusetzte. Was sollte sie sagen – wie
sollte sie trösten? Jedes Wort wäre eine Wunde, die jede

Berührung scheute.
»Ich habe heute schon von ihr Abschied genommen, da ich
nicht weiß, was die letzten Tage noch an Scherereien
bringen könnten, und mir noch Zeit bleibt, das Kind noch
einmal zu sehen.
Und wozu auch? Es ist ja doch immer dasselbe – immer
dasselbe! – Auf meine Frage ein bedauerndes Achselzucken
der Ärzte und das Phrasenhafte: Solange noch Leben ist, ist
Hoffnung. Worauf soll ich denn noch hoffen? Auf ein
Wunder vielleicht? Das darf ich doch nicht ausgerechnet
ich -!«
schloß er, und es klang unendlich bitter.

Die Frau konnte nicht anders, sie mußte sanft und lind
über die Augen streicheln, in denen soviel hoffnungslose
Resignation lag. Da stöhnte er auf – nur einmal – dann
hatte er sich wieder in der Gewalt.
»Schon um meines kleinen Mädchens willen dürfen Sie
nicht von hier gehen, Frau Fröse. Vielleicht lebt es doch
noch eine Zeit. Und wer sollte sich denn um es kümmern?
Doch nicht gar Frau Fränze. Die wartet ja nur auf des
Würmchens Tod.
Auch an Sölve müssen Sie Ihr Samariterwerk vollenden,
meine Getreue. Auch die werde ich wohl nicht
wiedersehen.«

»Also, sie bleiben – «
»Ja, Herr Baron – ich bleibe – «, entgegnete sie fest.
Da packte er die gütigen Frauenhände und sagte leise:
»Nicht mehr, Herr Baron - Sie Liebe, Sie Gute! Einfach nur
Jobst. Denn diese Stunde hat uns ganz nahegebracht.«

Und hüte deine Zunge wohl!
Ein Wort in Unbedacht gesagt,

kann stechen wie des Schwertes Spitze,
schafft Leid und Ungemach.

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Sölve lag in ihrem Zimmer auf dem Diwan. Spielerisch
glitten ihre Finger über das seidenweiche Fell des Kätzleins,

das zusammengerollt in ihrem Arm schlief und vor
Wohlbehagen schnurrte. Es wich kaum noch von ihrer
Seite, zumal es die Hunde fürchtete.
Auch jetzt lauerten sie wieder vor der Tür. Das vornehme
Windspiel Fasold, das immer so hochnäsig tat, Harras, der
Jagdhund, der das Privileg hatte, Herrchen immer begleiten
zu dürfen, der schwarze »Tintenwischer« Tiwi und der
freche Dackel Fink, der seinen Namen weghatte, weil er
dem Finken des Hauses, dem Liebling aller, mit Vorliebe
das Futter wegfraß.
Aber da nahte die Rettung in Gestalt Frau Fränzes, die sie
wohl nicht gern mochten, als Erlöserin jedoch gelten

ließen. Und als diese die Tür zu Sölves Zimmer öffnete,
schossen Tiwi und Fink ihr durch die Beine, daß sie um ein
Haar die Balance verloren hätte. Es gelang ihr noch mit
knapper Not, sich am Türpfosten festzuhalten. »Was ist das
hier bloß für eine verrückte Zucht!« schalt sie hochrot vor
Ärger. »Sich so viele Hunde zu halten, bekommt doch nur
mein Schwager fertig. Alles unnütze Fresser!
Wollt ihr wohl, ihr Gesindel!«
Nach rechts und links Schläge austeilend, wollte sie sich
zum Diwan hinpirschen, was ihr jedoch erst gelang, als
Sölve die Hunde zur Ordnung gerufen hatte.
»Ihr seid meine braven Hundchen«, begütigte das

Mädchen, die stürmischen Gesellen zärtlich streichelnd.
»Aber ihr müßt brav sein und euch legen, sonst müßt ihr
hinaus.«
Das Wort war ihnen sehr geläufig. Mit hängenden Ohren
und hängender Rute streckten sie sich seufzend nieder,
aufmerksam beobachtend, was um sie herum vorging.
»Na, endlich -!« schnappte Frau Fränze nach Luft. »Bei dem
Höllenspektakel kann man ja verrückt werden.
Guten Tag, Fräulein, was haben Sie denn da? Ist das etwa
ein Junges von unserer Angorakatze?«
»Ja, gnädige Frau, das hat mir Ihr Töchterchen geschenkt.«

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»Die Ira? Sieht diesem Firlefanz ähnlich! Die ist ja der
reinste Tiernarr. Möchte sich am liebsten eine ganze

Menagerie halten. Und mein Mann unterstützt sie noch bei
diesem Unfug.
Aber, was ich fragen wollte: Wo ist mein Schwager?«
»Ich weiß es nicht, gnädige Frau.«
»Auch Frau Fröse ist nirgends zu finden, man kann unten
alles in Ruhe wegtragen. Wie geht es Ihnen?«
»Danke, gnädige Frau, ganz gut.«
»Na, Kunststück, bei dem Theater, das man mit Ihnen
macht. Er kann nämlich auch sehr rücksichtsvoll sein, mein
Schwager, wenn meine arme Schwester auch nichts davon
zu spüren bekommen hat. Daher hat sie auch früh ins Grab
müssen. Aber zeigen Sie doch mal, was haben Sie da für

eine elegante Decke?« zeigte sie auf die zartgrüne Decke aus
Seidenflausch, die über Sölve gebreitet war. »Hat die nicht
meiner Schwester gehört? Ich will doch nicht annehmen,
Fräulein, daß Sie sich dieses elegante Stück angeeignet
haben?«
Bei dieser impertinenten Frage wich jeder Blutstropfen aus
dem Antlitz des Mädchens. Ihre Augen hasteten hilflos
umher und blieben dann an der Tür haften, in der Frau
Fröse sichtbar wurde.
Da sank sie aufatmend in die Kissen zurück. In dem
todblassen Gesicht zuckte und arbeitete es, der Körper
flatterte und bebte.

»Mein Gott, Sölve -!« stieß Frau Fröse angstvoll hervor.
»Kind, so erregen Sie sich doch nicht so -!«
Sie reichte ihr die Tropfen, die bei solchen Fällen immer
wirkten. Und schon Sekunden später wurde Sölve
tatsächlich ruhiger.
»Ja, was hat sie denn?« fragte Frau Fränze recht verblüfft,
und die Hausdame sah sie kalt an.
»Wenn Sie das nicht wissen, tun Sie mir leid.«
»Etwa wegen der Decke da?« dämmerte es bei ihr. »Mein
Himmel, ich habe doch wohl das Recht, danach zu fragen,
wie die Decke meiner Schwester hierher kommt.«

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»Der Ton macht die Musik, gnädige Frau – «
»Ach was, ich kann mir doch diesem Fräulein zuliebe

keinen anderen Ton angewöhnen. Meine Familie ist mit
dem sehr zufrieden, und ich auch. Ich möchte die Decke
mitnehmen. Denn Sie wissen, daß mir mein Schwager den
gesamten Nachlaß meiner Schwester abgetreten hat.«
»Die Decke gehörte nicht Ihrer verstorbenen Schwester –
sondern der Baroneß Konstanze.«
»Aber, meine liebe Frau Fröse, Sie wollen mir doch nicht
weismachen – «
Ihr Redestrom versiegte, als ihr die Dame die Decke
entgegenhielt, in deren Ecke ein Monogramm prangte.
»K. G. – Konstanze Götterun – «, entzifferte sie recht
mühelos. »Tatsächlich! Aber meine Schwester hat doch

genauso eine Decke gehabt.«
»Die der Frau Baronin war rosa – «
»Ach ja – nun besinne ich mich – «, war sie nun doch
verlegen. »Ich habe die Sachen gleich zu Walburgas
Aussteuer gepackt und daher nicht alles so genau in
Erinnerung.
Aber, wie kommt es, daß mein Schwager duldet, daß dieses
Fräulein die Sachen seiner vergötterten Schwester benutzt?
Meine Schwester hat oft von den Sachen haben wollen, die
ja nur vermotten und verkommen, aber er hat es ihr immer
wieder abgeschlagen. Ist ihm denn dieses Fräulein etwa
mehr als seine Frau ihm war -?«

»Was steht denn hier zur Debatte -?« kam es von der Tür
her, durch die der Baron schritt. Einen Blick auf die
verstörte Sölve -
»Was ist vorgefallen, Frau Fröse -?«
Sie wich seinen Blicken aus – und langsam ließ er die
seinen von einem zum andern wandern.
»Ich irre wohl nicht, Fränze, wenn ich annehme, daß du
wieder einmal eine deiner Taktlosigkeiten begangen hast -
?« fragte er drohend.
»Na, erlaube mal -!« wollte sie auffahren.
»Schweige –!« Das Wort durchschnitt wie ein Peitschenhieb

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das Zimmer, so daß selbst die Hunde erschrocken
zusammenfuhren. »Gehen wir.«

Wortlos folgte ihm Frau Fränze, was bei ihr schon allerlei
zu bedeuten hatte. Aber dieser Jobst hatte auch manchmal
eine Art, die einem das Blut gefrieren machen konnte.
»Du bist mir wohl eine Erklärung schuldig?« fragte er, als
sie sein Zimmer erreicht hatten.
»Mein Himmel, wie theatralisch -?« lachte sie gezwungen.
»Ich wollte dich sprechen, fand dich unten nicht vor und
ging nach oben, wo ich Frau Fröse zu finden hoffte, weil sie
ja ständig bei dieser Sölve sitzt. Zuerst hatte ich das übliche
Theater mit den Kötern, dann sprach ich das Fräulein und
glaubte in einer Decke die Bettinas zu erkennen – «
»Und hast dem Mädchen auf den Kopf gesagt, daß es die

Decke gestohlen hat – «, unterbrach er sie hart.
»Für was für einen Banausen hältst du mich denn
überhaupt – «, begehrte sie empört auf. »Es ist lächerlich,
aus dieser harmlosen Angelegenheit einen Staatsakt zu
machen, nur weil so ein dummes Mädchen
überempfindlich ist. Ich sage meinen Töchtern noch ganz
was anderes.«
»Was du mit deinen Töchtern machst, geht mich nichts
an«, erklärte er scharf. »Aber für dieses Mädchen bin ich
verantwortlich und kann daher nicht dulden, daß es an
seiner Gesundheit Schaden nimmt.«
»Ach, herrjeh, was ist das denn für eine Prinzeß, daß man

nicht wie mit Gewöhnlichen zu ihr sprechen darf -?« lief sie
rot vor Ärger an. »Die scheint ja hier das ganze Haus zu
beherrschen. Wenn du ihr sogar die Sachen deiner
Schwester Konstanze gibst, die du bisher wie ein Heiligtum
gehütet hast – «
»Das dürfte doch wohl allein meine Angelegenheit sein.«
»Ja, natürlich. Aber meine Schwester, die dich oft genug um
die Sachen angebettelt hat, der hast du sie stets versagt. Du
hast ihr überhaupt jeden Wunsch abgeschlagen – «
»Schweig jetzt, Fränze!«
Aber sie tat es nicht. Sie war heute wie blind und taub.

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»Du hast Bettina immer lieblos behandelt, so daß ihr das
Herz darüber brach und sie ins frühe Grab mußte – «,

beschuldigte sie ihn weiter, hörte dann aber auf, als sie sein
Gesicht sah, in dem die Wangenmuskeln spielten und die
Augen wie grünliches Eis glitzerten. Da wollte sie ihre
beleidigenden Worte abschwächen, aber er winkte ab.
»Beenden wir die Unterredung – «, sagte er in einem Ton,
der ihr eine Gänsehaut über den Rücken jagte. Tief
gekränkt entfernte sie sich und stieg draußen in den
altersschwachen Wagen. Das war wieder einmal ganz Jobst.
Machte ein Trara mit diesem verkümmerten Mädchen, so
daß sich dieses leisten konnte, das ganze Haus mit seiner
Krankheit zu tyrannisieren. Ihr waren kranke Menschen ein
Greuel. Wer nicht gesund werden konnte, der sollte eben

sterben. Dann war er am besten aufgehoben und fiel seinen
Mitmenschen nicht auf die Nerven.
Sie wäre auch kaum erschüttert gewesen, wenn sie gesehen
haben würde, was sie mit ihren unbedachten Worten
angerichtet hatte.
Sölve, von Natur schon äußerst sensibel veranlagt, war
durch ihre Krankheit und die Demütigungen der letzten
Jahre noch empfindlicher geworden. Sie bildete sich ein,
jedem eine Last zu sein, die er gern abschütteln wollte, und
zergrübelte und zerquälte sich ihren armen kranken Kopf
mit Hirngespinsten.
Die Unbedachtsamkeit Frau Fränzes hatte ihr nun den Rest

gegeben. Alles, was sie bisher ängstlich in sich verschlossen
hatte, schrie sie nun in wahnsinniger Erregung hinaus.
Frau Fröse und Götterun vernahmen mit Entsetzen, was
das arme Kind sich alles zusammengesponnen hatte.
»Ich muß fort-!« jammerte sie. »Ich darf ja nicht hier
bleiben, wenn Onkel Jobst fort ist. Seine Verwandten
neiden mir hier den Platz – und sie haben recht. Sie
werden mich hinausjagen, wenn er nicht hier ist. Da will
ich lieber freiwillig gehen, will hier nicht länger das
Gnadenbrot essen und allen mit meiner Krankheit zur Last
fallen -!«

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Ehe es Frau Fröse verhindern konnte, war sie von dem
Diwan geglitten, tat einige Schritte – und sank dann

zusammen.
Es gelang Götterun noch rasch, hinzuzuspringen und sie in
seinen Armen aufzufangen. Er legte sie auf den Diwan
zurück und sah voll tiefster Sorge in das kalkweiße Gesicht,
in dem die Augenlider und Lippen blau anliefen. Jetzt
wurde gar ein Röcheln hörbar.
»Großer Gott – sie stirbt -!« schrie Frau Fröse entsetzt auf.
»Sekt -!« stieß der Baron zwischen den Zähnen hervor, und
so schnell war die Frau wohl noch nie gelaufen, wie in den
Minuten heißer Herzensangst. In unwahrscheinlich kurzer
Zeit kehrte sie mit einem gefüllten Sektglas zurück. Ihre
Hände zitterten so, daß sie es kaum halten konnte.

Es war ein schweres Stück Arbeit, dem Mädchen den Sekt
einzuflößen. Aber es gelang, und die Wirkung stellte sich
ein. Der Sekt belebte das Herz, das schon seine Tätigkeit
einstellen wollte, und das Antlitz bekam langsam Farbe.
»Frau Fröse, ich werde versuchen, Doktor Fels
herzubekommen«, flüsterte er ihr zu. »Haben Sie gut acht,
und flößen Sie ihr, wenn es nötig sein sollte, wieder Sekt
ein. Ich bin so schnell wie möglich zurück.«
Er hatte Glück, denn er konnte den vielbeschäftigten Arzt
sprechen. Kurze Zeit darauf war er in Uhlen. Und wenn
jemand der Kranken noch helfen konnte, so war es dieser
Mann, der eine Kapazität auf seinem Gebiet war.

»Tja, mein lieber Baron, was soll ich Ihnen sagen«, meinte
er, als er an des Schloßherrn Seite zu seinem Auto schritt.
»Steht Ihnen die Kleine nahe?«
»Nahe genug, um ihren Tod zu fürchten.«
»Dann tun Sie mir leid. Das ganze Nervensystem ist in
einem schauderhaften Zustand, und das Herz scheint nicht
mehr mitmachen zu wollen. Dieses Leben können wir nur
noch dem lieben Gott überlassen.«
»Vielleicht wäre es gut, wenn wir sie in Ihre Klinik
brächten?«
»Reißen Sie das arme Ding nicht aus seiner gewohnten

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Umgebung, es könnte das Ende beschleunigen. Ich werde
mich aber um die Kleine kümmern, weil mich der Fall

interessiert.«

Nimm an dein Herze mich,
da ruh ich weich und warm.
Komm, küsse mich,
dann bin ich nicht mehr arm.


Am nächsten Vormittag betrat Götterun das Zimmer
Sölves, die, wie immer, angekleidet auf dem Diwan lag. Sie
sah ihm aus matten Augen entgegen und ließ es geschehen,
daß er ihre Hand nahm.
»Werden der Herr Baron länger bleiben?« erkundigte sich
Minchen.
»Ja, Minchen. Sie können ruhig einen kurzen Spaziergang
machen.«
Dann saß er bei Sölve, hielt ihre Hände und wußte nicht so
recht, was er sagen sollte, was ihm, dem weltgewandten

Mann, selten genug geschehen mochte. Es war aber auch
schwer, unter diesen großaufgeschlagenen Augen, in denen
sich schon ein Licht aus einer andern Welt zu spiegeln
schien, zu sprechen. Voll Erbarmen sah er auf sie nieder,
sah das leichenblasse, eingefallene Gesicht, die bläulichen
Lippen und das farblose Haar, das man auf dem Kopf
einzeln zählen konnte.
Ein heißer Wunsch stieg in ihm auf, diesem armen
Menschenkind etwas Liebes zu tun, seine letzte Lebenszeit
zu verschönen und es in guter, sicherer Hut
zurückzulassen. Nach seiner Rückkehr sah er es ja doch
nicht mehr.

»Sölve!« begann er behutsam. »Sölve, hörst du mich?«
»Ich schlafe nicht, Onkel Jobst.«
»Sölve, mein kleines Mädchen, möchtest du immer in
Uhlen bleiben?«
»O, wie gern-!«
»Dann werde meine Frau!«

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Die Wirkung seiner Worte war nicht so, wie er erwarten
konnte. Sie erschrak nicht, schrie auch nicht auf – sie sah

ihn nur groß an. Vielleicht hatte sie seine Worte gar nicht
gehört?
»Du hast mich doch verstanden -?« forschte er unruhig.
»Ich werde doch verstehen und begreifen, was für mich
höchste Seligkeit wäre«, flüsterte sie. »Immer in Uhlen
bleiben dürfen, von niemandem fortgejagt werden können
- auch von Frau Ragnitz nicht - oh, das wäre schön.«
Doch dann richtete sie ihren Blick auf ihn, sah ihn an, als
müsse sie ihm auf den Grund seiner Seele schauen.
»Und warum bietest du mir das an, Onkel Jobst? Weil ich
krank bin und bald sterben werde -?«
Er zuckte unter ihren Worten zusammen wie unter einem

Hieb. Nur jetzt ganz ruhig bleiben – diesen suchenden,
forschenden Blicken standhalten.
»Du Närrchen«, sagte er lächelnd. »Seit wann macht man
einer Todeskandidatin einen Heiratsantrag? Kannst du dir
gar nicht denken, warum ich dich zur Frau haben möchte?«
»Doch nicht etwa – weil du mich liebst?«
Götterun war es, als müsse ihm das Herz stillstehen vor
Schreck, als sie nun das aussprach, wovor er sich fürchtete.
Sollte er diesem armen Mädchen die Wahrheit sagen?
Sollte er sagen, daß diese Werbung nur einen Akt der
Barmherzigkeit darstellte? Damit würde er sie ja töten! Er
sah das schöne Antlitz Frau Elgas vor sich, sah ihre

bettelnden, flehenden Augen, hörte ihre beschwörende
Stimme:
»Jobst, sei barmherzig, laß meinem Kinde den Glauben an
deine Liebe, mache ihm das Sterben leicht. Es ist doch
mein Kind, Jobst – und du hast mich doch einmal geliebt.
Mache es nur für ein paar armselige Tage glücklich – scheue
diese barmherzige Lüge nicht!«
Da schloß er Sölve fest in seine Arme. Ganz leise fuhr sie
über sein Antlitz, in dem es nun zuckte und bebte. Die
Lippen streiften seine Hand.
»Onkel Jobst, ich danke dir«, seufzte sie wie befreit auf.

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»Jetzt will ich auch noch einmal gesund werden. Ich wollte
ja nur sterben, weil ich so verlassen war weil ich

niemanden hatte, der mich brauchte. Aber jetzt will ich
gesund werden, für dich – und schön – so schön, wie
meine Mutti war.«
»So gefällst du mir, Sölvelein«, lobte er mit einer Stimme,
die nicht ganz klar klang. »Und jetzt werde ich in die Stadt
fahren und unsere Hochzeit in die Wege leiten. Denn du
sollst ja noch mein Frauchen werden, bevor ich abreise.
Willst du das?«
»Alles, was du willst, Onkel Jobst.«
»Nun, den Onkel wollen wir ja nun streichen, meine kleine
Braut. Jobst allein ist ja auch viel schöner.
Und nun auf Wiedersehen! Versuche zu schlafen, und

träume etwas Schönes, bis ich wieder bei dir bin.«
Er drückte einen Kuß auf ihren Mund ganz behutsam und
leise – und da warf sie die Arme um seinen Hals.
»Ach, Jobst – ist es auch wahr, daß du mich liebst? Oder
liebst du in mir nur meine Mutti?«
»Nein, du mißtrauisches kleines Wesen«, log er tapfer. »Das
fällt mir gar nicht ein.«
»Weißt du, ich habe dich geliebt vom ersten Augenblick an,
da ich dich sah. Aber nie habe ich zu hoffen gewagt, daß
du mich wiederlieben könntest.«
Schmeichelnd kuschelte sie ihr Gesicht in seine Hand.
»Jetzt möchte ich schlafen – glücklich sein macht so

müde.«
Wenige Minuten später schlief sie fest.

Nimm mir die Myrte vom Kleide,

sieh in mein qualvolles Gesicht,
die Braut im Leide
begehrt sie nicht.

Einige Tage später fand in Uhlen eine Hochzeit statt, wie

diese jahrhundertealte Schloßkapelle nie eine geschaut
hatte.

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Die marmorblasse Braut und der tiefernste Mann an ihrer
Seite sahen gewiß nicht wie Hochzeiter aus. Und die

Menschen, die den Altar umstanden, glichen eher
Leidtragenden einer Begräbnisfeier. Selbst das gedämpfte
Orgelspiel, die Worte des Pfarrers – alles klang so unsagbar
traurig, so daß die kleine Gundel, die auf Geheiß der
Mutter Blumen streute, entfernt werden mußte, weil sie aus
Angst vor etwas Unbegreiflichem zu schreien begann. Und
als der Pfarrer die Worte sprach: »Bis daß der Tod euch
scheide«, da zuckten alle schmerzlich zusammen.
Beim Ringwechsel setzte von der Empore eine Stimme ein,
die allen die Tränen in die Augen trieb. Weich und süß
klang die Stimme der jungen Ricarda. Niemand hatte
gewußt, daß sie so singen konnte, sie selbst wohl auch

nicht. Es war auch keines der üblichen Trauungslieder, das
sie sang, aber es paßte zu dieser Stunde wie kein zweites
Lied.
Als die Trauung beendet war und sich das junge Paar zum
Gehen wandte, trat die kleine Elwira vor, heute ganz
besonders liebreizend anzuschauen in ihrem Festkleidchen.
Auch sie hatte Blumen streuen dürfen wie das
Schwesterchen Gundel. Nun nahm sie die
übriggebliebenen Rosen aus dem Körbchen und schüttete
sie über die Braut.
Einige der tiefroten Blüten blieben an dem Schleier haften
und hingen nun schwer herab wie Blutstropfen. Atemlos

betrachtete die Kleine ihr spontanes Werk, bis sie dann
aufweinte und zum Vater flüchtete.
Langsam führte der Baron seine junge Gattin aus der
Kapelle, immer wieder besorgt nach ihr schauend. Sie hatte
sich tapfer gehalten. Jetzt war sogar eine leichte Röte in
dem Antlitz. Die Augen leuchteten zum Gatten hin, der
auffallend blaß war.
Im Schloß stand schon eine Festtafel gedeckt, an der sich
die Gäste niederließen. Es waren nur wenige. Die Familie
Ragnitz – die allerdings vollzählig –, der Pfarrer, der
Oberinspektor mit seiner Gattin und der beste Freund des

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Schloßherrn, der Weltenbummler Dr. Jörn von Jührich.
Gerade heute war er wieder einmal aufgetaucht und hatte

es sich nicht nehmen lassen, bei des Intimus Hochzeit
dabei zu sein.
Frau Fränze benahm sich heute untadelig. Die Kunde von
der Hochzeit des Schwagers empörte sie natürlich bis in die
tiefsten Tiefen. Aber sie hatte ja einige Tage Zeit gehabt,
sich mit dem Unabänderlichen abzufinden. Sie waren dem
armen Herrn Julius nebst Kindern arg genug gewesen, aber
nun atmeten sie alle auf, daß sie hier wenigstens Ruhe
hatten.
Mächtig schien sie der überaus kostbare Ring an Sölves
Hand zu wurmen. Der glatte Goldreif an der Rechten
interessierte sie nicht, der gehörte ja dem Theater, das der

unberechenbare Jobst wieder einmal in Szene setzen
mußte. Aber der andere, der bestimmt ein Vermögen wert
war. So einen hatte ihre arme Schwester niemals besessen.
Nein, jetzt nur nicht nachdenken sonst - Die Hochzeit
hatte eigentlich schon am Tage vorher stattfinden sollen,
war dann aber ausgerechnet auf den Reisetag Götteruns
festgelegt worden. So zog er sich gleich nach dem Essen
zurück, um die letzte Stunde vor der Abreise seiner jungen
Frau zu widmen.
Sölve war sehr erschöpft. Sie schaffte es kaum, die Treppe
hinaufzugehen. So nahm er sie auf den Arm, trug sie nach
ihrem Zimmer und legte sie dort auf den Diwan. Wie in

einer Wolke aus Schnee, so lag sie in dem duftigen Schleier.
Unter der Myrtenkrone sah durchsichtig blaß das
Gesichtchen hervor, aber die Augen strahlten glückselig zu
ihm auf.
»Jobst, ist es auch wirklich wahr, daß ich nun die Herrin
hier bin? Ich kann es noch immer nicht fassen.«
»Natürlich, schönste Schloßherrin. Alles, was hier im
Schlosse lebt, muß deinem leisesten Wink gehorchen.«
»Und daß es so ist, das danke ich dir, du gütiger Mann.
Mein Mann – wie sich das anhört. Schön! Wirst du mir
auch oft schreiben?«

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»Sooft ich kann. Wenn jedoch eine Nachricht mal länger
ausbleiben sollte, dann beunruhige dich nicht, sondern

denke daran, daß der Postverkehr dort nicht so geregelt ist
wie hier.«
»Wirst du auch zurückkehren, sobald du kannst?«
»Ehrenwort, meine kleine Frau.«
»Nun setze dich zu mir und erzähle was Schönes. Ich bin
zu faul zum Sprechen.«
So erzählte er dann leise, wie es sein würde, wenn er
wiederkäme. Sie ließ sich von dieser verhaltenen Stimme
eindämmern, und die Augen fielen ihr zu.
Und das war gut; denn es war höchste Zeit, daß er sie
verließ. Wenn sie erwachte, war er längst fort – und ihr
blieb die bittere Abschiedsstunde erspart.

Er beugte sich zu ihr nieder – sah ihr lange ins Gesicht.
Dann schritt er schnell davon.
Als er sich im Ankleidezimmer zur Reise umzog, trat sein
Freund Jörn von Jührich ein.
»Nur herein, alter Junge. Leider kann ich mich dir nicht
widmen. In spätestens einer halben Stunde muß ich fort.
Nimm also hier Platz.«
Jührich ließ sich in einem Sessel nieder und streckte seine
langen Beine behaglich von sich. Er erzählte, daß er vor
einigen Tagen von einer Expedition zurückgekehrt sei. Als
er erst deutschen Boden betreten, da habe ihn das
Heimweh derart gepackt, daß er nicht schnell genug nach

Hause kommen konnte.
Mittlerweile war der Baron angekleidet.
»Begleite mich nach meinem Arbeitszimmer, Jörn, wo ich
auch noch eine Kleinigkeit zu ordnen habe. Für eine
Zigarettenlänge wird es noch reichen.«
Als sie dann bei der Zigarette saßen, kam Jührich darauf zu
sprechen, was ihm am Herzen lag.
»Sag mal, Jobst, was hast du dir eigentlich dabei gedacht,
als du – eine Halbtote heiratetest?« sprach der sonst so
ruhige Mann heftig. »Ist dein Leben noch nicht genug
verpfuscht, muß es immer noch mehr werden? Ich kann

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mir denken, daß du es aus Mitleid getan hast, um Elgas
Tochter eine Heimat zu geben. Aber das Gefühl, aus dem

heraus du dieses Elendsbündel zu deiner Frau machtest, ist
nicht Mitleid, sondern Dummheit. Konntest du ihr hier
nicht auf andere Weise Heimatrechte verschaffen?«
»Nein, das wäre doch nichts Ganzes geworden. Die kurze
Zeit, die sie noch zu leben hat, soll sie hier Herrin sein.
Eine richtige Ehe käme für mich sowieso nicht in Frage.«
»Wie hast du deine Werbung eigentlich motiviert. Glaubt
sie etwa, daß du sie liebst?«
»Was denn sonst?«
»Ach, du lieber Gott, du bleibst doch ein unveränderlicher
Idealist.«
Die Worte verklangen, denn die Herren hatten das Zimmer

schon verlassen. Sölve, die in der Tür stand und alles
mithören mußte, blieb ungesehen. Sie war erwacht und
nach dem Zimmer des Gatten geeilt, um Abschied von ihm
zu nehmen.
Nun stand sie da – die Hände in die Portiere gekrallt, in
den Augen ein qualvolles Grauen.
Mit einem dumpfen Stöhnen sank sie zusammen, während
sich ihr Gatte von den Gästen verabschiedete. Und als man
sie vermißte und voller Angst das Schloß durchsuchte, da
fand man sie. Und ebenso schneeweiß wie Hochzeitskleid
und Schleier war ihr qualverzerrtes Gesicht.

Nirvana, du Land der Versessenheit,

bring du mir Frieden, das Glück.
Mein Herz ist so müd’
es findet nicht mehr
zu den Freuden der Erde zurück.


Die Gäste waren fort. Nur Doktor Jührich blieb. Er trug die
leblose Gestalt nach ihrem Zimmer und legte sie dort auf
das Bett. Wie eine Tote lag sie da, die man mit
Brautgewand und Schleier geschmückt.
Als Sölve entkleidet dalag und er sie untersuchte, schüttelte

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er betroffen den Kopf. Er stellte dieselbe Diagnose wie
später Doktor Fels, den man herbeigerufen hatte:

Nervenfieber, das sich um so schlimmer auswirken würde,
da es ein Rückfall war und die Kranke völlig entkräftet
wäre. Sie warf sich in ihrem Bett herum und jammerte laut
heraus, was sich in ihrem kranken Hirn herumwälzte.
»Nein, laß mich los, ich will nicht!« wehrte sie sich
verzweifelt gegen etwas, von dem sie Grauen zu empfinden
schien. »Ich will nicht aus -Mitleid – geheiratet sein – ich
will nicht! Sag deinem Freund eine Halbtote – heiratet
man nicht! Pfui, seid ihr schlecht! Eine Halbtote heiratet
man doch nicht! Seid doch barmherzig und laß mich los!
Ich liebe dich doch so sehr – und du – hast mich belogen!«
plagte sie sich ab, den Kopf im Kissen hin und herwerfend.

Doktor Fels hatte sich tief zu ihr niedergebeugt und
lauschte fast atemlos den abgehackten Worten, die er gut
verstehen konnte. Er fuhr erschrocken herum, als sich
Jührich plötzlich in einen Sessel fallen ließ und
aufstöhnend sein Gesicht in den Händen barg.
»Was ist denn mit dir los?« fragte Fels den früheren
Korpsbruder, mit dem er so manche fidele Stunde verlebt
hatte und dem er auch den Durchzieher auf der Wange
verdankte. »Willst du dich etwa nebenbeilegen, alter
Freund? Das laß nur bleiben; denn die kleine Baronin hier
macht mir gerade genug zu schaffen!«
»Edgar, weißt du, was ein Kamel mit Hörnern ist?« fragte er

verzweifelt, und der andere sah ihn verblüfft an.
»Was ist denn das für eine Kuriosität?«
»Sieh mich an, dann hast du eins. Ich sprach mit Jobst kurz
vor seiner Abfahrt über seine Heirat, habe ihn sozusagen
zur Rede gestellt. Das arme Kind muß dazugekommen sein
und alles heimlich mitgehört haben.«
»Ach, du heiliger Bimbam!
Dann brauchst du mir nichts zu sagen. Jetzt hilf mir hier
retten, was noch zu retten ist!«
Die beiden Ärzte, Frau Fröse und Minchen – diese vier
Menschen kämpften um dieses entfliehende Leben mit

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allem, was ihnen nur zu Gebote stand.
Jührich war überhaupt noch nicht in seine Wohnung

gekommen und hatte sich im Uhlener Schloß einquartiert.
Die Kranke war ihm in den Wochen der Angst und Sorge so
recht ans Herz gewachsen, und auch Doktor Fels kam nicht
nur deshalb, weil ihn der Krankheitsfall interessierte.
Götterun wußte nicht, was sich in Uhlen abspielte; denn es
bestand ein Übereinkommen, ihm nichts davon
mitzuteilen. Er wäre dann sofort nach Hause zurückgekehrt
– und das wollte man vermeiden.
Als man nach einem halben Jahr die Kranke nach
unendlicher Mühe soweit hatte, daß auf Gesundung zu
hoffen war, da kam eine Mitteilung vom Konsulat, daß
man den Baron von Götterun, der sich bereits auf der

Heimreise befunden habe, ermordet aufgefunden hätte.
Das Motiv zur Tat wäre unbekannt. Um einen Raubmord
könnte es sich nicht handeln, da die Wertsachen und die
Brieftasche mit Geld, die man bei dem Toten gefunden
habe, unangetastet seien.

Oh, wähne dich nicht, du Menschenkind,

gefeit vor des Schicksals Macht.
Der Schlag, den es dir zugedacht,
kommt über Nacht


Der Mensch wird schnell vergessen. Das ist der Lauf der
Welt. So erging es auch Jobst von Götterun, dessen
tragischer Tod zuerst so viel Teilnahme erweckt hatte.
»Nun höre doch endlich damit auf, Julius! Es ist ja traurig,
daß Jobst tot ist, aber zu ändern gibt es doch daran nichts
mehr. Dem ist wohl, der möchte nicht mit uns tauschen.
Zu wünschen wäre, daß Heike ihm bald folgt, dann wäre
das verkrüppelte Würmchen gut aufgehoben. Denn von der
Stiefmutter hat es ja nichts zu erwarten, die hat ja selber
kaum das Leben. Auch für die wäre ein schneller,

friedlicher Tod die beste Lösung. Wie lange hält sie schon
mit dem Auf und Nieder dieser unheilbaren Krankheit ihre

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Umgebung in Atem. Und was kostet die Behandlung der
Ärzte. Ja, wenn es nicht hinausgeworfenes Geld wäre – «

»Das mir verloren geht – «, schaltete sich der Sohn
mißmutig ein. »Was könnte man dafür in Uhlen alles
verbessern! Der Onkel Jobst hätte auch mehr an mich
denken können und nicht diese Sölve heiraten sollen«,
schloß er mit einer Gehässigkeit, die selbst die verblendete
Mutter betroffen aufhorchen ließ. Den Vater packte jedoch
eine derartige Wut, daß er dem hoffnungsvollen
Früchtchen rechts und links eine Ohrfeige versetzte.
Nun wandte sich Herr Julius der Gattin zu.
»Sieh dir nur gründlich das Produkt deiner Erziehung an«,
höhnte er.
»Aber Julius, wie kannst du den Jungen nur so unerhört

behandeln?« fand Frau Fränze nun endlich die Sprache. »Er
hat uns bisher doch immer nur Freude bereitet. Was er da
sagte, geschah nur aus seinem kindlichen Unverstand
heraus.«
»Ach, sieh mal an, mit einem Male ist es kindlicher
Unverstand«, lachte er voll Hohn.
»Aber sonst verlangst du für deinen Wunderknaben eine
ehrfürchtige Behandlung wie für einen Übermenschen.
Siehst ruhig mit an, wie er das ganze Haus tyrannisiert,
seine Geschwister unterjocht, sich in Uhlen Herrenrechte
anmaßt, die zum Himmel schreien.
Aber vorläufig stehen noch Sölve und Heike zwischen eurer

Begierde, die so weit geht, den armen Menschenkindern
den Tod zu wünschen. Freut euch nicht zu früh. Noch steht
die Testamentseröffnung aus – und eine solche hat schon
manchem Menschen Überraschungen gebracht.«
»Davor habe ich gar keine Angst«, winkte sie geringschätzig
ab. »Wer soll Uhlen denn erben? Sölve etwa, die Jobst nur
aus Erbarmen geheiratet hat? Oder Heike, die, wenn sie
auch aufwachsen sollte, immer nur ein armer Krüppel
bleiben wird? Wenn jemand dazu berufen ist, Uhlen gut
bewirtschaften zu können, dann ist es unser Sohn – «,
schloß sie großartig.

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»Natürlich, setze diesem anmaßenden Burschen nur immer
weiter Raupen in den Kopf«, grollte der Gatte, den der

Grimm fast erstickte. »Du wirst die Quittung für deine
Affenliebe eines Tages schon erhalten.
Und sprich nur immer weiter so über das Kind deiner
Schwester und über ein so bedauernswertes Menschenkind
wie Sölve. Es gibt eine Nemesis, meine liebe Fränze, die
jeder Mensch achten sollte.«
Einige Wochen später mußte Frau Fränze die Erfahrung
machen, daß Menschenwille sehr klein ist gegen des
Schicksals Gewalt. Sie glaubte, ihr Leben auf festen Grund
aufgebaut zu haben, glaubte es gegen Unglück gefeit. Aber
ungeahnt schnell drang es in ihr festgefügtes Reich ein und
holte sich als Tribut die kleine Gundel.

Von heute auf morgen war sie tot – einfach tot. Gestern
noch vergnügt und guter Dinge, klagte sie am Abend über
Halsschmerzen, die niemand so recht beachtete – und nach
einer noch nicht einmal unruhigen Nacht war sie morgens
tot.
Man stand vor einem Rätsel und konnte nicht fassen, daß
dieses kleine blühende Leben dahin sein sollte, als wäre es
nie gewesen.
Frau Fränze benahm sich wie die meisten Menschen, die
das erste wirkliche Leid erfahren. Sie klagte Gott an, daß er
ihr blühendes Kind geholt hatte und nicht das Krüppelchen
Heike.

Drei Tage tobte sie, drei Tage jammerte sie – und ging dann
langsam zur Tagesordnung über.

Wach auf, Frau Sölve,
es ruft nach dir eine heilige Pflicht,
Raffe dich auf und verträume dein Leben nicht.


Nach langer Zeit lag Sölve wieder einmal in dem kleinen
Teezimmer im Schaukelstuhl. Das Feuer prasselte im
Kamin, und zuckend huschte der Flammen Schein durch
die Dämmerung. Es war so still, so traulich in dem kleinen

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Gemach, und diese Ruhe legte sich wie Balsam auf das
immer noch wunde Gemüt der jungen Frau.

Träumerisch glitt ihr Blick über den Ring an ihrer Linken,
in dessen Steinen sich der zuckende Flammenschein brach.
Wie Feuergarben sprühte es auf, so daß sie vor dem
funkelnden Glanz die müden Augen schloß.
Dieser Ring und der glatte Reif an ihrer rechten Hand
waren das einzige Andenken an Jobst – der sie aus
Erbarmen geheiratet hatte.
Frau Fröse kam ins Zimmer. »Frau Fränze und ihr Sohn
eignen sich immer wieder Dinge an, die Uhlen gehören«,
sagte sie empört.
»Mögen sie doch – was geht mich das an?« winkte Sölve
unendlich müde ab.

»Aber Kind, sei doch nicht so gleichgültig«, bemerkte sie
vorwurfsvoll. »Hier geht es doch nicht um dich allein,
sondern auch um deine kleine Tochter, um das
Vermächtnis deines Gatten!«
»Kleine Tochter – Vermächtnis meines Gatten – «,
wiederholte sie, als horche sie in sich hinein. »Wer ist das?«
»Sölve, was hast du?« fragte Frau Fröse erschrocken und
fühlte den Puls der jungen Frau. – »Redest du etwa irre?«
Sie streichelte zärtlich das Gesicht der besorgten Frau.
»Keine Angst, Tante Marga, ich bin ganz gesund. Ich weiß
wirklich nicht, wer meine kleine Tochter ist.«
Kopfschüttelnd rückte Frau Fröse einen Sessel an den

Schaukelstuhl.
»Hast du denn noch nie den Namen Heike gehört?«
forschte sie mißtrauisch.
»Heike? Ja. Aber du weißt ja, daß mich alles nicht
interessiert.«
»So hat dir dein Gatte bei seiner Werbung nichts von seiner
Vergangenheit erzählt?«
Sölve stöhnte leise auf und bedeckte die Augen mit der
Hand.
»Kind, ich will dir nicht wehe tun, denn du weißt, wie sehr
du mir ans Herz gewachsen bist. Und man tut nicht

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wissentlich weh«, begann sie behutsam, fest entschlossen,
heute zur Sprache zu bringen, was längst hätte geschehen

müssen.
»Es ist alles unendlich schwer für dich, mein Liebstes, ich
weiß es. Aber einmal mußt du dich aus deiner Lethargie
aufraffen und wie ein normaler Mensch zu leben beginnen.
Du kannst doch nicht immer ein Schattendasein führen.«
»Warum, Tante Marga? Es ist doch wunderschön, so
dahinzuduseln und nichts mehr vom Leben zu verlangen
noch zu erwarten.«
»Und das sagt man mit zwanzig Jahren? Willst du mir nicht
sagen, was damals war – an deinem Hochzeitstag, ehe du
zusammenbrachst? Hast du die Unterredung deines Gatten
mit seinem Freund mitangehört?«

»Ja – alles.«
»Das dachten wir uns; denn du hast in deinen
Fieberphantasien ja so viel ausgeplaudert. Willst du dir
nicht dein Leid vom Herzen sprechen, mein Kind? Glaube
mir, du wirst dich freier fühlen. Außerdem steht die
Beantwortung meiner Frage noch aus: Was weißt du von
der Vergangenheit deines Gatten?«
»Tante Marga, du quälst mich maßlos!« stöhnte sie
verzweifelt. »Wie soll ich darüber sprechen, was mir das
Herz gebrochen hat? Es tut alles noch so entsetzlich weh.«
»Nur ein einziges Mal sprich darüber, was dich quält –
dann will ich nie mehr daran rühren.«

»Es ist so schwer – «
»Schadet nichts. Ich werde fragen, und du wirst antworten.
Was weißt du von Jobsts Vergangenheit?«
»Was Mutti mir erzählte. Daß er von seiner Frau geschieden
war, die dann mit dem Söhnchen verunglückte – und daß
er dann eine zweite Frau nahm. Und da er mich heiraten
konnte, so muß er wieder geschieden oder verwitwet
gewesen sein. Das ist alles.«
»So hat er dir bei seiner Werbung nichts davon gesagt?«
»Nein, Tante Marga, er warb ja mit einer barmherzigen
Lüge um eine Halbtote!«

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»Sölve!« rief Frau Fröse erschrocken: »Was hast du dir da
alles zusammengereimt! Diese >Halbtote< hat in deinen

Fieberphantasien schon eine ungeheure Rolle gespielt. Was
hat das zu bedeuten?«
»Herr von Jührich machte Jobst ziemliche Vorhaltungen,
daß er eine >Halbtote< geheiratet hat!«
»Sprich nicht weiter, Kind. Jetzt höre mich bitte an:
Wenn du über alles nachdenkst und gerecht bleibst, dann
mußt du dir selbst sagen, daß du damals tatsächlich eine
Todgeweihte warst. Du hast in deinen Fieberphantasien
immer so verzweifelt herausgeschrien: Er liebt mich nicht,
er hat mich belogen!
Ja, Sölve, sollte er dir sagen, daß er dich nur darum
heiratete, um dir eine Heimat zu geben, damit du

wenigstens in Ruhe sterben könntest? Da mußte er schon
auf deine Frage, ob er dich liebt, zu der barmherzigen Lüge
greifen und dich in dem Glauben lassen. Er wußte genau,
was dir blühen würde, wenn er wegging und dir nicht
unantastbare Rechte hier verschaffte. Diesem Mann
müßtest du dankbar sein, mein Kind, und nicht in Groll an
ihn denken. Was wäre, wenn er dich nicht geheiratet hätte?
Dann würdest du hier nicht so weich und warm sitzen,
würdest hier nicht die Herrin sein. Verrenne dich nicht in
ein Leid, das keines ist. Ich will dir erzählen, was richtiges
Leid bedeutet und wie aufrecht die Menschen es getragen
haben:

Nachdem Jobst durch deine Mutter so bitteres Herzeleid
erfahren, war er gleichgültig geworden und nahm die Frau,
die ihm seine Eltern aussuchten. Da sein ältester Bruder
gefallen war, wurde er Uhlens Erbherr und dadurch zur
Heirat verpflichtet. Die Frau war eine junge Gräfin –
blutjung, kultiviert, verzogen und launenhaft,
unberechenbar und kapriziös wie eine Primadonna. So ein
rechtes Sprühteufelchen, reizend und gutherzig wie ein
Kind, sofern man ihr den Willen tat. Stieß sie jedoch auf
Widerstand, dann konnte sie toben wie eine kleine
Wildkatze.

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Nach einem Ehejahr wurde der kleine Erbherr geboren,
und die Zeit bis zu seiner Geburt war arg genug für uns

alle. Aber wir sahen dem unbeherrschten Geschöpf alles
nach, weil es wirklich zu leiden hatte. Und als der kleine
Erbe dann endlich geboren wurde – war es ein Krüppel,
mit verkümmerten Beinchen.
Das kleine Kerlchen war ein liebes Kind, herzfroh wie ein
Vögelein, daß es bald der Liebling aller wurde. Und
sonderbarerweise hing die junge Mutter sehr an ihm, wie
man es bei dieser flatterhaften, verspielten Frau nicht hätte
vermuten dürfen.
Doch der Leidenskelch der schicksalsgeschlagenen Familie
war noch immer nicht geleert. Sie mußte erleben, wie die
junge Baronin auf Abwege geriet, wie es zur Scheidung kam

– und wie sie den damals dreijährigen Jungen, der vom
Gericht dem Vater zugesprochen worden war, heimlich
fortholte und ihn und sich bei der halsbrecherischen Flucht
mit dem Auto in den Tod fuhr.
Obgleich man sich sagen mußte, daß es für den kleinen
Krüppel so am besten war, gab es viel Trauer um ihn, und
in Uhlen verstummte das Lachen, das überhaupt schon
eine Seltenheit geworden war.
Nach einem Jahr heiratete der junge Baron wieder. Diesmal
hatte er das ganze Gegenteil erwählt: Ein Mädchen,
wirtschaftlich erzogen und von robuster-, blühender
Gesundheit. Nach menschlichem Ermessen mußte man

mit einem solchen Menschenkind eine gute Ehe führen
können -
Allein, sie wurde noch schlechter als die erste. Nun, sie war
ja nicht umsonst die Schwester Frau Fränzes und die Tante
Walburgas, die ihr getreues Ebenbild ist.
Nach eineinhalb Jahren wurde ein Töchterchen geboren,
noch elender und hilfloser, als der kleine Knabe es gewesen
war. Der konnte wenigstens die Glieder, außer den
Beinchen bewegen. Doch dieses Würmchen ist vollständig
hilflos, weil das Rückgrat nicht in Ordnung sein soll. Daß
die junge Mutter gleich nach der Geburt starb, ging keinem

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nahe.
Das kleine Geschöpf rief wieder unsagbaren Jammer

hervor. Man stand vor einem Rätsel, wie eine so blühende,
gesunde Frau so ein armseliges Kind gebären konnte. Also
mußte die Schuld bei dem Vater zu suchen sein. Denn es
kann schon vorkommen, daß ein verkrüppeltes Kind von
erbgesunden Eltern zur Welt kommt – Aber zwei derartige
Kinder von zwei verschiedenen Frauen?
Dieser Gedanke nahm von Jobst immer mehr Besitz, so
daß er sich fest entschloß, nicht noch einmal zu heiraten.
Mochte das jahrhundertealte Geschlecht lieber aussterben,
als solch kümmerliche Blüten treiben. Mochte Uhlen also
an einen gesunden und Intelligenten Erben kommen,
damit ein neues, erbgesundes Geschlecht heranwüchse. So

verfiel er wohl auf den Sohn seines Vetters Ragnitz. Aber
daß er alle Hoffnungen, die Jobst auf ihn gesetzt hat,
erfüllen wird, ist eigentlich ausgeschlossen. Und wenn er
wirklich der Erbe Uhlens sein sollte, dann gnade uns allen
Gott. Mit Schrecken denke ich an die Testamentseröffnung,
die ein Jahr nach dem Tode Jobsts, also in sechs Monaten,
stattfinden soll.«
Nach dieser Erzählung war es minutenlang totenstill. Sölve
lag regungslos. Nur die Augen schienen in diesem
marmorweißen Antlitz zu leben.
Dann warf sie sich plötzlich herum und weinte auf – heiß,
leidenschaftlich, hemmungslos, als müßten diese Tränen

alles hinwegspülen, was ihr das Leben so lange zur Qual
gemacht hatte.

Du treues Vermächtnis, wie
liebe ich dich,
wie will ich dich hegen und pflegen.
Und erbitte für dich und auch für mich
dazu des Himmels Segen.

Von dem Tage an machte die Genesung Sölves rapide

Fortschritte. Es war, als hätten die heißen Tränen wirklich
alles hinweggespült, was ihrer Gesundung bisher

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hemmend im Wege gestanden hatte. Nach einigen Wochen
hatte sie sich schon so gut erholt, daß alle, die kamen, um

sich von dem Wunder zu überzeugen, wie vor einem Rätsel
standen.
Und doch war das Rätsel so leicht zu lösen: Sölve wollte
jetzt leben.
Auch die beiden Ärzte, die sich mit der Kranken so große
Mühe gegeben hatten, sahen die so wunderbar veränderte
junge Frau mit fachmännischer Neugier an. Und als Frau
Fräse erzählte, was diese Veränderung bewirkt habe,
schüttelte Doktor Fels verblüfft den Kopf.
»Gnädige Frau, Sie können mehr als ich!«
In Kaimucken hatte die Veränderung Sölves gemischte
Gefühle hervorgerufen. Der Hausherr freute sich ehrlich,

Ricarda und Elwira jubelten, Walburga war es gleichgültig,
die Zwillinge hatten Grund, eine Stunde lang darüber
aufgeregt zu schwatzen – und Frau Fränze und ihr
Wunderknabe hatten ihre eignen Gedanken.
Sölve hatte, als sie von Heikes Existenz hörte, sofort zu ihr
eilen wollen. Allein die Ärzte, sowie auch Frau Fröse,
hielten es für ratsam, ihr das auszureden. Da mußte sie erst
soweit gekräftigt sein, um der Erschütterung, die ihr der
Anblick des kleinen Wesens bringen mußte, tapfer
standhalten zu können.
Es kam aber auch der Tag, an dem Sölve neben Frau Fröse
im Auto saß und der Kinderklinik zufuhr, wo Heike seit

länger als zwei Jahren weilte. Sölve war so erregt, daß Frau
Marga wieder einmal tiefe Sorge empfand.
»Sölve, wenn du dich so unerhört aufregst, dann lasse ich
sofort wenden – «
»Aber Tante Marga, du siehst wieder einmal Gespenster«,
zwang sie sich zu einem Lachen. »Ich bin ja ganz ruhig – «
Sie riß sich nun tapfer zusammen, während die Gedanken
in ihrem Hirn wie flatternde Vögel kreisten. Sollte sie doch
nun endlich das Kind sehen, das Vermächtnis des Gatten,
das zu lieben sie verpflichtet war.
Als sie vor dem Bettchen des Kindes stand, flog diesem ihr

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Herz sofort zu. Es war aber auch so ganz anders, als sie
erwartet hatte. Aus einem durchsichtig zarten Gesichtlein

schauten sie zwei tiefblaue Augen mit dem Ernst eines
Erwachsenen an, der viel Leid erfahren hatte. Auf dem
Köpfchen ringelten sich goldige Löcklein. Von einer
geradezu überirdischen Schönheit war dieses engelgleiche
kleine Geschöpf.
»Heike-«, stammelte Sölve, erschüttert bis ins tiefste Herz.
»Heike – du Süßes du -!«
War es nicht, als wollte sich das Gesichtlein bei der
zärtlichen Stimme zu einem Lächeln verziehn? Doch wohl
nicht. Denn dieses Dinglein konnte ja nicht einmal
lächeln, auch nicht die puppenkleinen Händchen bewegen.
Es lag schon zwei Jahre regungslos da. Schon so lange, wie

sein Leben währte.
Sölve sah sich in dem Zimmer um, das vor Sauberkeit
blitzte. Sah das Kind in seinem peinlich reinen Bettchen –
und sah auch die Schwester, die gewiß die beste
Kinderpflegerin der Klinik war.
Sah aber auch deren kühle Augen.
Da griff sie wie hilfesuchend nach der Hand Frau Fröses,
die neben ihr stand und sie mit fast atemloser Spannung
betrachtete.
»Tante Marga – «, flehte Sölve. »Tante Marga, du bist doch
ihr Vormund. Bitte, wir nehmen sie mit -!«
Letzteres klang wie ein Schluchzen, und beruhigend

streichelten die Hände der Frau über das heiße Gesicht des
erregten Menschenkindes. Ein Aufatmen dehnte ihre Brust
Gott sei Dank, nun war es geschafft.
»Ich habe es von dir nicht anders erwartet, mein liebes
Kind – «, entgegnete sie tief bewegt und wandte sich dann
dem leitenden Arzt der Anstalt zu, der soeben eintrat.
»Herr Doktor, wir nehmen das Kind mit. Das hat die
Mutter des Kindes soeben bestimmt. Und daß es mein
Wunsch ist, das wissen Sie ja.«
Sie machte ihn mit Sölve bekannt, die ihn erwartungsvoll
ansah.

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»Wie Sie wollen, meine Damen. Aber ich weiß nicht, ob es
im Sinne des Herrn Barons wäre, das Kind aus den

gewohnten Verhältnissen zu reißen. Wenn Sie jedoch die
Verantwortung übernehmen wollen – «, schloß er
achselzuckend.
»Die übernehmen wir – «, bemerkte Sölve kühl. »Das Kind
kann doch hier nicht sein ganzes Leben verbringen.«
»Das Leben wird nicht mehr lange währen – «, lächelte der
Mann nachsichtig.
»Gut, so mag das Kind in seinem Elternhaus dahingehen«,
entschied sie fest, und Frau Marga sah sie wie gebannt an.
War das ihre Sölve, ihre vor einigen Wochen noch so
hilflose teilnahmslose Sölve, die hier sprach? Ein
Glücksgefühl ohnegleichen erfüllte ihr Herz.

Du reitest noch auf hohem Roß,

führst Habgier, Mißgunst, Streit in deinem Troß.
Gib acht, das Schicksal reitet dir zur Seit,
in des’ Gefolg gibt’s Gram und Herzeleid.


Der Einzug des kleinen Schloßfräuleins brachte alles in
Aufruhr. Helle Freude stand auf allen Gesichtern, und man
war sofort bereit, das kleine Mädchen ins Herz zu schließen

und ihm alles zuliebe zu tun.
Zuerst mußte das Problem der Unterbringung gelöst und
für eine Kinderpflegerin gesorgt werden. Wie gewöhnlich
fand Tante Marga auch hier guten Rat.
»Die ehelichen Gemächer stehen leer, Sölve. Dahin siedelst
du nun endlich über. Neben dem Wohnzimmer liegt das
Zimmer des kleinen Adalbert, das Heike mit Beschlag
belegen kann. Ein schöner Raum für die Kinderschwester
ist nebenan.«
»Soll ich etwa die Räume meiner Vorgängerin bewohnen?«
fragte Sölve ablehnend.
Frau Fröse schüttelte den Kopf. »Wo denkst du hin, mein

Herz! Die Möbel ihrer verstorbenen Schwester besitzt Frau
Fränze längst. Hat sie für Walburgas Aussteuer bestimmt.

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Gleich, nachdem sie entfernt waren, ließ Jobst die seiner
Schwester Konstanze hineinstellen.«

»Er soll sie doch aber gehütet haben wie ein Heiligtum.«
»Das schon. Aber dir würde er sie gern überlassen«, tat sie
zuversichtlich ab. »Und nun zur Schwesternfrage.
Ich habe eine Schwester in der Klinik kennengelernt, die
Heike eine kurze Zeit betreute. Die andere brachte sie
durch allerlei Intrigen hinaus, weil sie den leichten und
gutbezahlten Posten für sich haben wollte. In ihrer
Empörung deckte erstere so allerlei Mißstände auf, worauf
sie fristlos entlassen wurde. Nun kann sie keine Stellung
finden, weil die Auskunft, die von der Klinik eingeholt
wird, fragwürdig ist. Die holen wir uns, Sölve, die ist gut.«
Nach einigen Tagen war alles geregelt, und Heike lag in

dem Bettchen des Brüderchens, betreut von der jungen,
frohen Schwester, die lange Zeit in einer Kinderklinik
gearbeitet hatte und daher die nötige Erfahrung besaß.
Sölve hatte die ehelichen Gemächer bezogen. Nebenan
lagen die Zimmer des Gatten, die sie zuerst voller Scheu
mied. Und als sie sich dazu zwang, sie eines Tages zu
betreten, glaubte sie, das Herz müsse ihr brechen. – Hier
hatte er gelebt, hier gewohnt – und nun – und nun –
Bitterlich weinend, ließ sie sich am Schreibtisch nieder. So
fand sie Frau Fröse.
»Ich sage ja, man kann dich nicht eine Stunde allein
lassen«, schalt sie zärtlich.

»Komm, ich mache dir einen Vorschlag: Wir lassen den
Kamin heizen und nehmen hier gemütlich unsern Kaffee.
Die Tür zum Schlafzimmer lassen wir offen – und langsam
wirst du dich an die Zimmer gewöhnen.«
Sölve trocknete die Tränen.
»Ach, Tante Marga, wenn ich dich nicht hätte! Ich müßte ja
versinken in Kummer und Not-!«
Die beiden Frauen hatten es sich am Kamin gemütlich
gemacht. Über den runden Tisch mit der wertvollen
Einlegearbeit, ein Geschenk Jührichs an den Freund,
mitgebracht aus fernen Landen, war eine Kaffeedecke

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gebreitet. Kuchen, Brot, Butter, Honig und Marmelade
standen darauf und ein Schälchen mit Schlagsahne, die

Sölve so gern aß. In der Kaffeemaschine brodelte es.
Frau Fröse plauderte munter und humorvoll, um nur nicht
die Traurigkeit gar zu sehr in Sölve aufkommen zu lassen.
»Weißt du, Sölvelein, worüber ich mich wundere?« fragte
sie jetzt. »Daß Frau Fränze noch keinen Wind von der
Anwesenheit unseres Prinzeßleins bekommen hat, sonst
wäre sie doch längst hier – «
»Sie naht bereits«, unterbrach Sölve sie trocken. »Ich höre
sie mit unserm Erzengel Michael die Einlaßformel
wechseln.«
So kam es, daß Frau Fränze, die sich über die würdige Art
des Dieners wie gewöhnlich hochrot geärgert hatte, nun

noch über die lachenden Damen wüten mußte.
»Ihr sitzt hier und lacht – «, schalt sie verdrießlich,
»während ich mich mit diesem bornierten Kerl von Diener
herumschlagen muß. Ob der Mensch denn nie begreifen
wird, daß ich zur Familie gehöre?
Und wie kommt es, daß Ihr in Jobsts Zimmer sitzt? Sind
diese Räume schon mit Beschlag belegt? Ich meine, man
müßte erst die Testamentseröffnung abwarten. Meiner
Ansicht nach gehören die Zimmer des Schloßherrn stets
dem Erben.«
»Und ich meine, daß es die Gemächer meines Gatten sind«,
gab Sölve so freundlich zurück, daß Frau Fröse nur mit

Mühe ein Lachen unterdrücken konnte. »Ihr trinkt doch
eine Tasse Kaffee mit uns? Tante Marga, sei so lieb und
klingle nach Michael.«
Der Diener trat sofort ein und brachte zwei Gedecke und
von den Eßwaren, die auf dem Tisch standen, eine
beträchtliche Menge dazu. Er kannte ja den Riesenappetit
dieser Gäste.
Während sie aßen und tranken, waren sie verhältnismäßig
ruhig. Doch nachdem sich Frau Fränze gesättigt hatte, war
ihre Zunge wieder klar zum Gefecht. Hurtig ließ sie ihre
scharfen Augen im Zimmer umherschweifen und kuschelte

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sich dann behaglich in den bequemen Klubsessel.
»Ja, um noch einmal darauf zurückzukommen, liebe Sölve.

Du meinst also im Recht zu sein, wenn du diese Zimmer
hier bewohnst?« eröffnete sie kampfbereit. »Und wenn sie
Jobst in seinem Testament dem Erben zugesprochen hat?«
»Dann soll er sie haben«, kam es gelassen zurück. »Aber
vorläufig hat sie mir Tante Marga zugesprochen, die das
Zwischentestament ja zur Verwalterin bestimmt hat.
Das heißt, ich halte mich hier nur gern auf. Meine Zimmer
sind nebenan, in dem die Möbel meiner Schwägerin
Konstanzestehen.«
»Was, sogar diese kostbare Einrichtung hast du dir
angeeignet -?« rang Frau Fränze nach Luft.
»Halt, keine Beleidigungen, liebe Fränze – «, unterbrach

Sölve sie hochmütig. »Sonst wüßte ich als Herrin von
meinem Recht Gebrauch zu machen. Damit du weißt,
woran du bist, wollen wir den Verkehrston zwischen uns
gleich festlegen: Wirst du unverschämt, so bin ich es auch –
«, Sie schloß mit einer Harmlosigkeit, die Frau Fröse rasch
das Taschentuch gebrauchen ließ.
»Ach ja, was ich noch fragen wollte«, sagte Frau Fränze
dann: »Stimmte es, daß du Heike aus der Klinik
hierhergeholt hast?«
»Ja, es stimmt. Ich gedenke sie auch hier zu behalten,
wohin sie als Tochter des Hauses gehört.«
»Das würde Jobst gewiß nicht billigen. Und ich auch nicht,

da es sich um das Kind meiner Schwester handelt.«
»Und ich bin die Mutter, Fränze – und für das Wohl
meines Kindes verantwortlich.«
»Deines Kindes? Mach dich nicht lächerlich, Sölve, das sind
Phrasen, weiter nichts. Mich verbinden mit dem Kinde die
Bande des Blutes.«
»Mit einem Mal? Sonst erklärst du doch immer, daß es das
kranke Blut seines Vaters hat.«
Frau Fränze mußte sich geschlagen geben, was ihr wohl
nicht oft geschah. Mit dem Gesicht einer gekränkten
Königin erhob sie sich.

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»Ich möchte das Kind meiner Schwester sehen.«
Als sie vor dem Bettchen stand, schüttelte sie mißbilligend

den Kopf.
»Lieber Himmel, so ein kümmerlicher Wurm. Das könnte
der liebe Gott doch endlich zu sich nehmen. Aber das läßt
er natürlich leben, während er mein blühendes Kind,
meine Gundel – «
Ein paar Tränchen wurden zerdrückt, dann ging es weiter.
»Und das ist nun das Kind meiner kerngesunden
Schwester. Von uns hat es keinen Tropfen Blut in den
Adern.«
»Gott sei Dank – «, hätte Sölve fast erwidert, verschluckte es
jedoch noch zur rechten Zeit. Und da Frau Fränze nun die
Neugierde gestillt und festgestellt hatte, daß Heike wirklich

in Uhlen war, rüstete sie zum Aufbruch.
Roderich, der sich langweilte weil er sich bei den
»Weibern« nicht wichtig machen konnte, zog maulend
hintendrein.
Als Sölve, die den Gästen das Geleit gegeben hatte,
zurückkehrte, trat ihr Frau Fröse mit ausgestreckten Armen
entgegen.
»Komm, Mädel, ich muß dir einen Kuß geben! Du
entwickelst dich ja fabelhaft. In dir findet die liebe Frau
Fränze bestimmt noch ihren Meister«, schloß sie mit
herzlichem Lachen.

Freund, deine Schuld, die kenne ich kaum,
gib ihr nicht Platz in des Herzens Raum.
Nimm meine Hand, sieh mein Gesicht
ich zürne dir nicht.

Doktor von Jührich bewohnte ein entzückendes
Schlößchen hoch über den Dünen.
Er gehörte zu den beneidenswerten Menschen, die das
Schicksal in eine goldene Wiege gelegt hat. Er verfügte dazu
noch über hervorragende Geistesgaben, so daß er spielend
leicht lernte und schon mit achtzehn Jahren die Universität

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bezog. Er wurde Schiffsarzt und war an fremdländischen
Hospitälern tätig, schloß sich Expeditionen an und lebte

nach Lust und Neigung. Wenn das Heimweh zu arg wurde,
kehrte er in die Heimat zurück, um einige Monate später
seine Fernsehnsucht wieder zu stillen.
Bei der letzten Heimkehr wäre es wohl wieder so
gekommen, wenn ihm nicht Sölves Krankheit Fesseln
auferlegt hätte, die Freundestreue, Barmherzigkeit, und
Schuldgefühl geschmiedet hatten. Von diesem kam er nicht
los, weil es seine feste Überzeugung war, daß die
Unterredung mit dem Freund, die er heraufbeschworen,
diese hartnäckige Krankheit verursacht hatte.
Unermüdlich war er um die Kranke tätig, machte im Verein
mit seinem Paukbruder Fels fast Unmögliches möglich.

Wich nicht von Sölves Seite und zog sich erst zurück, als sie
emporzublühen begann. Da erst war er restlos zufrieden
aber das Schuldgefühl blieb. Er hatte nicht den Mut, der
gesunden Sölve unter die Augen zu treten.
An einem Dezembertage, als die helle Wintersonne den
Schnee überfunkelte und jedes Schneesternchen einzeln in
glitzernde Diamanten zu verwandeln schien, saß Jörn von
Jührich in seinem Arbeitszimmer am Schreibtisch, wo er
mit einer Reiseschilderung beschäftigt war.
Sein Diener trat ein, den er sich von der Reise mitgebracht
hatte und der in ergebener Treue an ihm hing. Ein junger
Deutschamerikaner, klug und taktvoll.

»Nun, Dick, was gibt’s?«
»Frau Baronin von Götterun möchte Herrn Doktor
sprechen.«
Jührich blieb wie festgewurzelt stehen »Dick, du täuschst
dich auch nicht?«
»Wo wird er – «, meldete sich Sölve, die dem Diener gefolgt
war. Augen lachten ihm entgegen, in denen sich des
Himmels Bläue verfangen zu haben schien. Jührich stand
mitten im Zimmer und rührte sich nicht.
»Frau Sölve, Sie kommen zu mir wirklich zu mir-?« rang er
sich endlich von seinen Lippen.

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»Natürlich – «, lachte sie fröhlich. »Wenn Sie es nicht tun,
dann muß ich doch damit anfangen. Wollen Sie mir nicht

die Hand geben?«
Jetzt bemerkte er erst die ausgestreckte Rechte, über die er
sich nun voll Verehrung beugte. Er nahm ihr den eleganten
Pelz ab, unter dem sie einen Pullover aus flauschiger
Angorawolle trug und der so blau war wie ihre Augen. Sie
zog das dazu passende Mützchen vom Kopf, auf dem sich
ein Haar bauschte und wellte, hell und klar wie köstlicher
Bernstein.
Der Mann schaute sie wie gebannt an. »Frau Sölve – Sie
sind ja schön – wunderschön – «
»Ach, Sie meinen diesen Schopf hier?« schnitt sie eine
Grimasse. »Der hat mir schon Kummer genug bereitet.

Bernsteinhexe nannte man mich deshalb. Galantere sagten
Möwe – «
Möwe, ja – das konnte stimmen. So köstlich rein und frisch
wehte es von ihr aus, wie der Atem des Meeres.
Und Bernsteinhexe auch – weil ihre Augen so zauberschön
waren und sie mit diesem sinnverwirrenden Lächeln die
Menschen in ihren Bann zog.
»Nehmen Sie bitte, Platz, Frau Sölve«, raffte er sich endlich
auf. »Darf ich Ihnen eine Erfrischung anbieten?«
»Natürlich! Kaffee mit allem Drum und Dran – und
hinterher eine Zigarette.«
Sie ließ sich in einen Sessel am Kamin nieder, und stumm

nahm er ihr gegenüber Platz. Wie ein Kätzchen schmiegte
sie ihren gertenschlanken, geschmeidigen Körper in das
Polster, die schönen Beine bequem übereinanderschlagend.
Da er selbstvergessen vor sich hinsah, konnte sie ihn in
Muße betrachten. Auf dem hohen schlanken Körper, der
nicht ein Lot zuviel hatte, saß ein rassiger Kopf mit einem
klugen, vornehmen Gesicht. Die Augen waren blau und ein
wenig schwermütig und verträumt, das Haar
strahlendblond. Und Hände hatte der Mann, wunderbare
Hände.
Jetzt war sein Antlitz überschattet von Trauer.

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»Warum sind Sie so traurig?« fragte sie leise.
Er fuhr zusammen und strich sich über Augen und Stirn.

»Das wissen Sie doch, Frau Sölve. Die eine unbedachte
Stunde macht mir das Leben schwer.«
»Unsinn – «, winkte sie ab. »Damals hatte ich die
Sensibilität einer Kranken heute gebe ich Ihnen recht. Hier
haben Sie meine Hand, schlagen Sie ein, Freund Jörn. Ich
weiß von keiner Schuld nur noch von Freundesrecht.«
Überwältigt ergriff er ihre Hand und drückte seine Lippen
darauf - »Was sind Sie doch für ein tapferes, warmherziges
Menschenkind«, sagte er leise, und sie lachte hellauf.
»Haben Sie eine Ahnung!«
Dick trat ein und zauberte in seiner gewandten,
geräuschlosen Art einen Kaffeetisch herbei und verließ

dann ebenso geräuschlos das trauliche Gemach.
Sölve aß mit dem Appetit eines gesunden Menschen, und
er konnte seinen Blick nicht von ihr wenden.
»Frau Sölve, ich kann Ihre wunderbare Veränderung kaum
fassen.«
Sie griff nach einer Zigarette, er reichte ihr sein Feuerzeug
herüber, und sie kuschelte sich wieder in ihren Sessel
zurück.
»Verändert habe ich mich gar nicht«, entgegnete sie lebhaft.
»Ich habe nur wieder zu mir zurückgefunden. Ich verdanke
es allen, die mir dazu verholfen haben. Und das gibt mir
Mut zu meiner Bitte. Sie wissen, daß ich Heike in Uhlen

habe?«
»Ja. Und Ihre tapfere Entschiedenheit hat Bewunderung in
mir erregt.«
»Keine Bewunderung für eine Selbstverständlichkeit«,
wehrte sie errötend ab. »Ich bin einfach dazu verpflichtet,
Jobsts Kind an mein Herz zu nehmen.
Nun hat Heike in der jungen Kinderschwester wohl eine
vorzügliche Betreuerin, aber ohne ärztliche Aufsicht kann
sie nicht bleiben. Der Doktor der Klinik, den ich bat, das
Kind in Uhlen weiter zu behandeln, hat mir meine Bitte
schroff abgelehnt. Da sind Sie nun der einzige, der helfen

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kann. Wollen Sie, Jörn?«
»Das können Sie noch fragen, Frau Sölve? Ich bin mit

tausend Freuden der Ihre.«
»O wie schön -!« lachte sie befreit auf. »Nun weiß ich unser
Kleinchen in guter Flut. Kommen Sie gleich mit, damit ich
Sie mit meinem Tausendschönchen bekannt machen
kann?«
»Tausendschönchen -? Wie reizend«, lächelte er weich.
Und:
»Tausendschönchen – «, sagte er auch, als er sich über das
Kind beugte, ergriffen bis ins tiefste Herz hinein.
Was in Menschenkräften stand, das wurde nun für das Kind
getan. Doktor Fels und der tüchtige Landarzt Schlimm
mußten heran mit ihrem Rat, Kapazitäten wurden an das

Spitzenbettchen der kleinen Heike gerufen. Jeden Hinweis,
jeden Rat nahm Doktor Jührich eifrig in sich auf. Studierte
alle in Frage kommenden Bücher und war auch sonst
unermüdlich um das Kind bemüht.
Und es war, als ob seine fast übermenschliche Mühe nicht
unbelohnt bleiben sollte. Denn eines Morgens, als er das
Kinderzimmer betrat, kam ihm Sölve freudestrahlend
entgegen.
»Sie hat gelacht, Jörn – sie hat gelacht -!« jubelte sie
zwischen Lachen und Weinen.
Skeptisch trat er an das Bettchen, und schaute mit
atemloser Spannung auf das Kind, dessen übergroße,

unergründliche Augen zu Sölve emporstrahlten, die einen
ulkigen Hampelmann tanzen ließ, der bei jeder Bewegung
ein fideles Quietschen von sich gab.
»Heikelein, schau mal, was die Mami hat«, kam es in
unendlicher Zärtlichkeit von den roten Lippen. »Hin und
her, auf und ab, zappelt unser Hannepapp«, sang sie lustig
dazu.
Und tatsächlich, das Kind verzog das Gesichtlein.
»Haben Sie gesehen, wie sie gelacht hat?« fragte sie atemlos
vor Freude.
»Gelacht?« mußte er ihre herzzitternde Freude dämpfen.

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»Gelacht ist zuviel gesagt. Aber es war immerhin ein
schattenhaftes Lächeln.«

»O Sie Wortklauber!« schalt Sölve entrüstet. »Heikelein,
strafe seine Worte Lügen. Lach einmal – lach einmal
richtig.«
Als wolle das Geschöpfchen ihr zu ihrem Recht verhelfen,
lächelte es diesmal stärker – und da war selbst der
skeptische Onkel Doktor zufrieden.
Nun ging es langsam bergauf. Unendlich mühsam war
dieser Aufstieg, der oft genug einen Stillstand brachte. Aber
ein Rückgang war nie zu verzeichnen.
Es kam auch der Tag, an dem das kleine Wesen das winzige
Händlein hob. Ein wenig nur, aber es rief unbeschreibliche
Freude hervor. Die Händchen faßten zu, die Beinchen

lagen nicht mehr so starr und steif auf dem Kissen, und das
Köpflein bewegte sich hin und her.
Jetzt galt es, das kleine Kreuz zu kräftigen. Das war nun die
Aufgabe, die der unermüdliche Jörn sich gestellt hatte.
Und auch das gelang. Immer größere Fortschritte waren zu
verzeichnen. Bald schrie das kleine Mädchen durch das
Schloß und verlangte energisch seinen Willen, den es auch
immer bekam.
»Jetzt pflegen wir sie – später erziehen wir sie – «, lachte der
Arzt, der ja so froh war – fast so froh wie Sölve.

Du trotziges Kind, du jung wildes Blut,

du kannst dir dein Glück nicht erzwingen,
halte fein still, dann tust du gut,
dein Fatum weiß schon, was er tut,
überlaß ihm ein
gutes Gelingen.


Ricarda kam ebenso gern nach Uhlen wie ihr
Schwesterchen Elwira. Wenn sie nur von zu Hause
fortkommen konnte, dann scheute sie kein Wetter, machte
sich freudig auf den Weg, um einige frohe Stunden bei
ihrer geliebten Sölve zu verbringen.
Doch seit einiger Zeit kam sie so oft, daß Sölve sie lachend

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fragte, welche List sie denn immer anwende, um dem
mütterlichen Gewahrsam zu entfliehen.

Da senkte Ricarda das reizende Köpfchen und schwieg.
Verschwieg der Freundin die Auftritte, die es wegen ihrer
Heimlichkeiten zu Hause gab. Doch sie war taub und blind
dagegen, ging sogar zum offenen Widerstand über, so daß
die Mutter ganz ratlos war.
An einem Sonntag war Ricarda schon am frühen
Nachmittag nach Uhlen gekommen und weit über die
übliche Zeit geblieben, so daß Sölve sie nach dem
Abendessen nach Hause fahren ließ.
Ungefähr zwei Stunden später war sie wieder da –
blaugefroren, zitternd vor Kälte und mit einer
dickgeschwollenen Nase.

Die drei Menschen, die recht gemütlich zusammensaßen,
sprangen erschrocken auf und starrten auf das Mädchen,
das mit hängendem Kopf und hängenden Armen mitten
im Zimmer stand.
Frau Fröse erholte sich zuerst von ihrem Schreck.
»Ricarda, was ist Ihnen geschehen? Sind Sie gefallen?«
»Nein – «, kam es über die zusammengepreßten Lippen.
»Meine Mutter hat mich geschlagen.«
»Ricarda!« rief Sölve erschrocken und umfaßte die Schulter
des Mädchens, das noch immer steif dastand, den
trotzfunkelnden Blick ins Weite gerichtet. »Komm, setz
dich, und erzähle, was es zu Hause gegeben hat.«

»Ich darf bei dir bleiben, Sölve?«
»Wenn es deine Eltern gestatten – «
»Das glaube ich nicht – «, winkte sie gleichmütig ab und
setzte sich in die Runde der anderen.
Sölve klingelte Michael und bestellte Glühwein, der bald in
den Gläsern dampfte.
»Trink, Ricarda, damit du warm wirst«, redete sie gütlich
zu. »Du bist doch sicherlich durch die klirrende Kälte
gelaufen, ohne genügend bekleidet zu sein?«
»Ja – das bin ich. Zum Ankleiden war keine Zeit. Dann
hätte mich meine Mutter vielleicht totgeschlagen«, kam es

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verbissen von den zuckenden Lippen.
Sie kamen zu keiner Antwort, denn der Fernsprecher schlug

an.
Sölve nahm das Gespräch entgegen.
»Ja, Julius, sie ist hier – «, hörte man sie sagen. »Natürlich
kann sie hier bleiben. Du kommst her? Gut, ich erwarte
dich.«
Damit hängte sie ab und ging zu ihrem Platz zurück. »Dein
Vater kommt her, Ricarda. War er dabei, als dich deine
Mutter schlug?«
»Nein, sonst wäre es nicht zu dieser Brutalität gekommen.
Es ist ja nicht das erste Mal, daß sie mich schlug, sofern sie
mein heimliches Fortgehen nach hier entdeckte. Aber heute
hatte sie einen Kochlöffel in der Hand – «

Die Lippen preßten sich wieder in Trotz und Grimm
zusammen. Man fragte nicht weiter, ließ sie gewähren, die
regungslos in ihrem Sessel saß und verbissen vor sich
hinstarrte. Schneller als erwartet erschien dann Herr von
Ragnitz. Von seiner Hand löste sich Elwira.
»Sölve, ich bleibe bei dir!« erzählte sie aufgeregt, die junge
Frau stürmisch umhalsend.
»Wenn Sölve dich haben will«, setzte der Vater hinzu.
Dann ging sein Blick zu Ricarda hin.
»Siehst ja lieblich aus«, brummte er. »Von Rechts wegen
müßte ich dir auch noch eine herunterhauen, du freches
Gör. Du mußt dich ja nett betragen haben, daß die Mama

so außer sich geraten konnte. Was du dir so eigentlich
denkst, das möchte ich gern wissen. Läufst einfach von der
Arbeit fort – «
»Das ist nicht wahr!« unterbrach Ricarda mit
trotzfunkelnden Augen. »Ich hatte, bevor ich fortging,
meine Arbeiten alle erledigt, die reichlich genug bemessen
waren.«
»Na schön, da hilft alles Reden nichts, die Sache ist sowieso
verfahren. Aber daß du die Hand gegen Mama erhoben
hast – «
»Das ist gelogen!« fuhr sie nun auf. Doch eine gebieterische

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Handbewegung des Vaters ließ sie schweigen.
»Hüte deine Zunge, Ricarda, und mach die vertrackte

Geschichte nicht noch schlimmer, als sie ohnehin ist.
Jedenfalls darfst du der Mama nicht mehr unter die Augen
treten. Ihr Widerwillen gegen dich ist so groß, daß sie ihn
sogar auf Elwira übertragen hat, die ja dein verjüngtes
Ebenbild ist.«
»Dann bleibe ich halt hier – «
»Du glaubst wohl, daß Sölve ein Asyl für ungeratene
Töchter hat?« brauste der Vater aber nun auf. »Nein, mein
Kind, ich werde dich in eine Pension stecken!«
»Nein!« schrie Ricarda auf. Ihre abwehrende Rechte stieß
an die mißhandelte Nase, aus der das Blut zu rinnen
begann.

Jührich sprang auf, eilte in sein Zimmer und kam sehr bald
mit einem blutstillenden Mittel zurück.
Mit behutsamen Händen löste er das Taschentuch, das
Ricarda gegen die Nase hielt, und behandelte das
geschundene Ohr mit seinen geübten Arzthänden. Und
Ricarda, die die Mißhandlung durch die Mutter, die Flucht
durch den eiskalten Winterabend, die Vorwürfe des Vaters
ohne Tränen hingenommen hatte, brach bei der zärtlichen
Berührung des Mannes in bitterliches Weinen aus. Das
zerschundene Gesichtchen auf seine Hände pressend,
schluchzte sie so jammervoll, daß die andern davon
ergriffen wurden.

Und ihnen kam eine Ahnung, warum das junge Kind jede
Stunde abgestohlen hatte, um hier sein zu können. Warum
es Vorwürfe, Schelte und gar Schläge von Mutterhand auf
sich genommen hatte wie eine kleine Heldin.
Nur der, den es anging, schien nichts zu merken. Wie es ja
in den meisten Fällen so ist. Er war jetzt ganz Arzt. Legte
das Köpfchen rückwärts auf die Sessellehne, damit das
fließende Blut zum Stillstand käme und hielt einen
beruhigenden Trank an die Lippen.
Sölve jedoch trat herbei und beugte sich voll Erbarmen
über das Mädchen, das ihr ans Herz gewachsen war.

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»Weine nicht, Ricalein«, beruhigte sie. »Ich behalte beide
hier, die große und die kleine Rosenrot, da mag der Papa

noch so viel reden.«
Da ging ein Auftatmen durch den jungen Körper. Das
Schluchzen ließ nach, und ein dankbarer Blick traf die
liebste Freundin.
»Na ja, ich sehe schon, da kann ich nichts mehr machen«,
polterte der Vater, um seine Rührung zu verbergen. »Halst
dir was Gutes auf, Sölve.«
»Wenn ich die beiden lieben Menschen hier behalte?«
lachte sie froh. »Damit tue ich mir den größten Gefallen.«
Nun begann für die beiden Schwestern, die sich so sehr
ähnlich waren, eine wonnevolle Zeit. Von herzlicher Liebe
umhegt, konnten sie ihre Zeit herumbringen, wie sie

immer ersehnt hatten. Elwira jubelte wie eine kleine Lerche
durch das Haus. Am liebsten war sie bei der kleinen Heike
und war glückselig, wenn das Kind ihr lachend die
Ärmchen entgegenstreckte.
Allein Ricarda blieb still und bedrückt. Sie schien das
Lachen verlernt zu haben. Nur wenn sie mit Sölve
musizierte, dann wurde sie froher. Süß und klar klang ihre
Stimme auf und schlug die Zuhörer in ihren Bann.
»Ich weiß nicht, welche schöner ist«, sprach Jörn von
Jührich eines Tages zu Frau Fröse, mit der er sich dem
musikalischen Genuß hingab. »Die bezaubernde
Bernsteinhexe oder die süße Rosenrot. Beide sind so

wunderbare Rassegeschöpfe. Man weiß wirklich nicht,
welcher man den Vorzug geben soll.«
Da klang die volle Stimme Sölves auf. Sie sang selten, ließ
lieber die Freundin singen, deren Stimme sie so gern hörte.
»Sie war doch sonst ein wildes Blut, jetzt geht sie tief in
Sinnen«, klang es herzbetörend auf. »Hält in der Hand den
Sommerhut und duldet still der Sonne Glut und weiß
nicht, was beginnen – «
Frau Fröse sah besorgt auf den Mann, der selbstvergessen
auf die Sängerin schaute.
Armer Freund – dachte sie traurig. Und arme Rosenrot.

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Muß es erst immer Kämpfe geben, bevor alles wird, wie es
gut ist?

Sie sah auch, wie Ricarda das Köpfchen senkte und still das
Zimmer verließ.
Der Mann bemerkte es nicht. Er schrak erst aus seinen
schmerzlichen Sinnen auf, als Sölve den Gesang abbrach
und Ricarda nachging. Diese hatte sich über das Bett
geworfen und weinte, als müsse sie sich das Herz aus dem
Leibe schluchzen.
»Rosenrot, was ist das für ein Unsinn, einfach
davonzulaufen und hier zu weinen!« schalt Sölve zärtlich.
Da richtete sich das Mädchen auf und warf in
leidenschaftlicher Heftigkeit ihre Arme um die junge Frau.
»Sölve, du liebst ihn ja nicht - Sölve, nimm ihn mir doch

nicht fort!« jammerte und flehte sie, nicht mehr aus noch
ein wissend in ihrer Not. »Dir ist er nicht mehr als ein
Freund - und ich – ich liebe ihn doch so sehr!«
»Ricarda, nun höre mal auf zu weinen«, gebot Sölve
energisch. »Das sind doch alles nur Hirngespinste, mit
denen du dir das Leben schwer machst.«
»Er liebt dich doch«, wehrte Ricarda verzweifelt.
»Wer sagt dir das? Unser Jörn ist viel zu klug, um nicht zu
wissen, daß er mir nur ein guter Freund sein kann. Und
nun trockne die Tränen, die dich nur häßlich machen. Und
du willst ihn doch mit deiner Schönheit bezaubern.«
»Sölve, du lachst – und mir will – Herz brechen – «

»So leicht bricht kein Herz, du süßes Schaf! Und nun
komm! Bezaubere ihn mit deinem Sirenengesang, dem er
so gern lauscht. Der liebt dich schon mehr, als er ahnt. Du
mußt nur Geduld haben.«

Wenn du auf etwas fest gehofft,

und es wird dir zerschlagen,
dann hast du Grund zu klagen.


Im April hatte Frau Fränze große Sorgen: die
Testamentseröffnung stand bevor.

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Ein Jahr nach dem Tode des Herrn von Uhlen sollten seine
Bestimmungen zur Kenntnis gebracht werden. So hatte

Jobst von Götterun bestimmt.
Und dieser Tag war der fünfte April.
Sie wäre fast zusammengebrochen, als der große Tag
vorüber war. Enttäuscht, verbittert, neid- und haßerfüllt
mußte sie ihn, um den sich jahrelang ihr Sinnen und
Trachten gewoben hatte, beschließen.
»Was wir geerbt haben, ist ein Dreck!« schrie sie dem
Gatten verbissen entgegen, der sie trösten wollte.
»Nimm doch ein wenig Rücksicht auf die Kinder«, mahnte
er, auf die kleine Schar deutend, die verschüchtert im
Wohnzimmer saß. Und Elwira und Ricarda waren wieder
dabei.

»Wer nimmt denn auf mich Rücksicht?« schrie sie
unbeherrscht. »Wenn ich daran denke, daß diese
hergelaufene Sölve – Ach, es ist zum Wahnsinnigwerden«,
weinte sie nun laut und warf sich in den nächsten Sessel.
Wie ein verwöhntes Kind, dem einmal nicht der Wille
getan wurde, heulte sie.
Der Gatte ließ sie gewähren. Vielleicht überwand sie ihre
Enttäuschung so schneller. Als sie jedoch Verwünschungen
ausstieß, die Sölve, Heike – und vor allem das dem toten
Jobst galten, da wurde es ihm zuviel.
»Nun hör endlich auf!« herrschte er sie an. »Was willst du
eigentlich? Ich finde, daß Jobst großherzig genug gewesen

ist. Fünfzigtausend Mark für Kaimucken, je zehntausend
Mark als Aussteuer für die Mädchen – Frau, ist das noch
nicht genug? Weißt du, was ersteres für uns bedeutet?
Endlich ein sorgloses Wirtschaften nach der Mühsal
vergangener Jahre. Nicht mehr fürchten zu müssen,
nächstes Jahr zu Ende zu sein und von der Heimat
vertrieben zu werden. Auch einmal eine Mark ausgeben
dürfen, die nicht genau abgezählt ist. Den Mädchen kannst
du eine Aussteuer mitgeben!«
»Mein armer, armer Roderich – mein armer betrogener
Sohn!« heulte sie dazwischen, so daß ihm die Geduld

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vollends riß und er mit der Faust auf den Tisch schlug, daß
Frau Fränze nun doch für ratsam hielt, sich endlich zu

beherrschen.
»Hör mit dem fürchterlichen Geheule auf – oder, bei Gott,
ich werfe dich zum Hause hinaus!« donnerte er.
»Benimmst dich wie ein ungezogenes Gör, nicht wie eine
Frau von fast fünfzig Jahren und Mutter von sieben
Kindern. Ich finde, daß Roderich glänzend bedacht ist.
Erziehungsgeld, freies Studium, später das schöne Gut – «
»Was ist das alles gegen Uhlen!« jammerte sie nun wieder.
»Das besitzt nun diese Sölve und später der kleine Idiot,
den der liebe Gott mir zum Possen bestimmt hat und leben
läßt. Auch diese Sölve, die doch schon halbtot war – so was
bleibt natürlich leben, während meine arme Gundel -

Verrückt kann man werden, wenn man über alles
nachdenkt! Wenn die beiden in Uhlen doch bald der – «
»Fränze!« schrie Herr von Ragnitz auf und umklammerte
das Handgelenk seiner Frau, die sich unter diesem harten
Griff wimmernd wand. Sein Antlitz war aschfahl.
»Weib, kennt deine Habgier denn keine Grenzen?« stieß er
zwischen den Zähnen hervor. »Zwei unschuldigen
Menschen den Tod zu wünschen, damit du und dein
Abgott eure Herrschsucht in Uhlen befriedigen könnt. Und
dabei ist einer davon das Kind deiner Schwester und das
Kind des Mannes, der uns mit seinem Vermächtnis ein
ruhiges, sorgenfreies Leben verschaffte. Ich habe dir schon

einmal mit der Nemesis gedroht – und tue es heute wieder.
Sieh in die entsetzten Augen deiner Kinder und schäme
dich!« Die Tür knallte hinter ihm zu.
Und so endete der Tag, von dem Frau Fränze alle sieben
Seligkeiten erwartet hatte.

Greif nicht nach den Sternen,
das hat noch niemals Glück gebracht.
Such dein Glück im Erdenrund,
dann kommt es über Nacht.

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Hatte das Testament Jobst von Götteruns in Kaimucken so
höllischen Aufruhr entfacht, so brachte es nach Uhlen

Frieden und Freude. Es war bis ins kleinste durchdacht und
jede Möglichkeit in Erwägung gezogen worden.
Sölve und Heike waren zu gleichen Teilen die
Haupterbinnen. Sollte sich jedoch Sölve wieder
verheiraten, so wäre Heike die Alleinerbin Uhlens, und
Sölve erhielt eine Abfindung von hunderttausend Mark
und das größte der Nebengüter.
Sollte eine der Haupterbinnen bei der Testamentseröffnung
jedoch nicht mehr am Leben sein, so falle das Erbe
ungeteilt an den Überlebenden.
Falls jedoch beide Erbinnen tot sein sollten, dann erbe
Roderich von Ragnitz die Herrschaft Uhlen, wenn er von

der Kommission, bestehend aus Julius von Ragnitz, Jörn
von Jührich, Franz Habermann oder deren von ihnen
bestimmten Stellvertretern für würdig befunden sei. Sonst
würde Uhlen Fideikommiß.
Frau Marga Fröse blieb bis zu ihrem Tode
Schloßverwalterin, wozu das Zwischentestament sie bereits
bestimmt hatte. Zu Lebzeiten der Erbinnen hätten diese sie
als Mutter zu ehren und ihr den Platz einer solchen in
Uhlen zu belassen. Ihr stehe ein Nadelgeld von jährlich
sechstausend Mark zu.
Oberinspektor Franz Habermann bleibe der
uneingeschränkte Verwalter Uhlens bis zu seinem Tode. Er

hätte auch seinen Nachfolger zu bestimmen. Die Treue
dieses aufrechten Mannes wäre immer wieder erprobt; es
bestünde daher kein Zweifel, daß er eine gute Wahl treffen
würde, die außerdem von schon genannter Kommission zu
begutachten wäre. Das Gehalt des Herrn Habermann sei
auf das Doppelte zu erhöhen.
Ferner sei er zum Vormund Roderich von Ragnitz
bestimmt, falls ihm Uhlen zufallen sollte.
Bestimmungsberechtigt sei er erst nach dem Tode des
Verwalters.
Seinem Vetter Julius von Ragnitz fielen fünfzigtausend

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Mark zu, und seinen Töchtern je zehntausend Mark
Aussteuergeld. Seinem Sohn Erziehungsgeld, freies

Studium und bis zu seiner Volljährigkeit das kleinste
Nebengut, das auch sein Eigentum bliebe, falls sich die
andere Erbschaft zerschlagen sollte.
Dann folgten noch Legate für treue Gutsbeamte und
Arbeiter, und damit war das Testament abgeschlossen.
Über das sprachen nun Sölve und Jörn von Jührich.
»Ich habe nicht gewußt, daß die Erbschaft so groß war, die
Jobst gemacht hatten.« sagte er traurig. »Armer, lieber
Freund, daß du nichts mehr davon haben durftest. Ich
kann seinen Tod einfach nicht überwinden.«
»Nein, das kann man nicht«, entgegnete Sölve mit einer
Stimme, in der die Tränen saßen. »Darum sind Sie mir ja so

lieb, Jörn, weil Sie auch Schmerz um Jobst tragen.«
»Nur deshalb, Frau Sölve?« fragte er mit so trauriger
Stimme, daß ihr das Herz weh tat.
»Natürlich nicht nur deshalb allein, Jörn«, zwang sie sich
zu einem harmlosen Ton. »Oder soll ich Ihnen all Ihre
Vorzüge aufzählen?«
»Um Gottes willen – nicht«, wehrte er müde ab. »Wollen
Sie mich denn gar nicht verstehen?«
»Nein«, erwiderte sie klar und fest. »Ich will nicht – und ich
darf nicht. Jeder Mensch hat nur ein Herz, Freund Jörn und
das meine nahm Jobst mit ins Grab. Und was der Mensch
nicht mehr besitzt, das kann er nicht geben.«

»Frau Sölve, wissen Sie, daß Sie mir soeben jede Hoffnung
genommen haben?« sagte er bitter, und sie gab sich Mühe,
seinem schwermütigen Blick standzuhalten.
»Freund Jörn, lassen Sie uns einmal offen reden«, sagte sie
weich. »Was würde es Ihnen nützen, wenn ich Ihren
Hoffnungen Gehör schenkte? Ich sagte Ihnen doch eben,
wer mein Herz besitzt. Wollen Sie sich mit Almosen
zufriedengeben?«
»Nur das nicht!« stieß er hervor. »Wenn es so ist, dann
lieber – verzichten.«
Er erhob sich so brüsk, daß Sölve erschrak. Mit einem

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Schmerzgefühl ohnegleichen sah sie ihm nach, wie er rasch
das Zimmer verließ.


Frau Fränze, schließe die Tore zu,
es naht ein unheimlicher Gast
Schließ die Pforten fein
und laß ihn nicht ein,
wenn du es nicht tust,
wirst du traurig sein,
wirst du klagen ohn’ Ruh und Rast.


Die verlorene Erbschaft hatte Frau Fränze so schwer
getroffen, daß sie sich nicht mehr zurechtfinden konnte.
Sie jammerte und weinte, härmte und sorgte sich, nörgelte
und schalt und machte ihren Angehörigen daß Leben bitter
schwer.
Dies alles nahm Frau Fränze so gefangen, daß ihr für die
Töchter wenig Zeit blieb. Sie war zufrieden, daß Ricarda
willig ihre Arbeit tat. Sah nicht, wie das Mädchen mit
jedem Tag elender wurde.

Doch der Vater sah es – und das Herz tat ihm weh. Er
wußte wohl, woran sein Kind krankte, aber er vermochte
ihm ja nicht zu helfen. Er zerbrach sich den Kopf, wie er
seinem Liebling eine kleine Freude bereiten könnte.
Endlich schien er etwas gefunden zu haben.
»Ich muß heute noch nach Uhlen, wo ich mir einen Rat
Habermanns einholen möchte«, erklärte er eines Tages bei
Tisch, und da fuhr Frau Fränze auf.
»Nach Uhlen willst du? Schämst du dich gar nicht?«
»Nun schlägt’s dreizehn!« lachte er amüsiert. »Warum soll
ich mich schämen, wenn ich die Absicht habe, nach Uhlen
zu fahren?«

»Weil das dort unsere Feinde sind. Ich habe den Kindern
verboten, das Haus zu betreten.«
»Schlimm genug«, unterbrach er sie in dem energischen
Ton, den er jetzt oft für sie hatte. »Ich wünsche aber, daß
die Kinder den Verkehr mit den mir lieben Menschen

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aufrechthalten. Sie werden jeden Sonntag hinfahren. Und
wenn es irgend geht, auch einmal in der Woche. Du

brauchst die Mädchen jetzt nicht mehr so einspannen, hast
nun Geld, um dir noch eine Hilfe zu halten.«
Für diese energische Bestimmung waren ihm seine Kinder
von Herzen dankbar.
Hauptsächlich Ricarda. Jede Woche wenigstens einmal den
Mann sehen zu dürfen, den sie doch so schmerzlich liebte,
war schon ein Glück für sie.
Am Tage nach der Unterredung mit Sölve hatte Jörn so
ganz nebenbei erklärt, daß er nun wieder reisen werde.
Heike sei gottlob so weit, daß sie auch ohne ihn
vorankommen würde. Er begann seine Pläne kundzutun
und schwieg dann plötzlich, als er dem schmerzzitternden

Blick Sölves begegnete. Beschämt senkte er das Haupt. Frau
Fröse war stumm hinausgegangen.
»Frau Sölve – ich kann Ihren Blick nicht ertragen, bitte,
nicht so – «
»Jörn, ist es eines Mannes würdig, so feige zu kneifen?«
hatte sie traurig gefragt. »Denken Sie denn gar nicht daran,
wie mir zumute sein muß, wenn ich Sie von hier verjage?
Jörn, seien Sie doch nicht so entsetzlich blind! Wollen Sie
denn gar nicht sehen, ein wie heißes Herz hier für Sie
schlägt, wie es sich in Gram und Leid fast verzehrt und – «
»Aha, das berühmte Pflaster – «, war er unwillig
dazwischengefahren. »Ich hätte anderes von Ihnen erwartet

– «
»Und ich von Ihnen. Sie könnten unerhört glücklich
werden, wenn Sie nur wollten. Machen Sie die Augen auf,
schauen Sie hellen Blickes um sich – mehr will ich Ihnen
nicht sagen – «
Damit war sie hinausgegangen, weil ihr jämmerlich
zumute war.
Aber ihre eindringlichen Worte verhallten nicht ungehört.
Zu ihrer Freude konnte sie feststellen, daß er nun wirklich
um sich schaute. Wie seine Augen immer mehr
aufleuchteten, wenn er Ricarda sah, mit welchem Genuß er

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ihrem Gesang lauschte…
Ricarda kam wieder oft nach Uhlen. Auch die Zwillinge

stellten sich regelmäßig ein. Nur Burga und Roderich
ließen sich selten sehen. Erstere, weil sie keinen Kontakt
mit den Uhlenern finden konnte, letzterer, weil es ihm zu
langweilig war.
Mit Frau Fränze wurde es immer ärger. Sie stachelte den
Ehrgeiz des Jungen mehr und mehr auf und beugte sich
demütig vor ihrem Wunderknaben wie vor einem
Heiligtum. Man fragte sich in Kalmücken wie in Uhlen“,
was daraus noch werden sollte.
Das Schicksal gab die Antwort darauf.
Eines Tages brachte man Frau Fränze ihren Abgott – tot.
Er war bei einer halsbrecherischen Turnübung gestürzt und

hatte sich das Genick gebrochen. War ein Opfer seines
fanatischen Ehrgeizes geworden. Von dem Lehrer war ihm
immer wieder untersagt worden, diese schwere Übung
auszuführen, und da hatte er sich heimlich in die Turnhalle
geschlichen. Er wollte doch mal sehen, ob er unmöglich
Scheinendes nicht möglich machen könnte.
Und das war sein Ende gewesen.
Es gab kaum einen, der den tragischen Tod des
hochbegabten Knaben nicht tief bedauert hätte.
Der Vater trug Schmerz genug um seinen einzigen Sohn –
doch am meisten war natürlich Frau Fränze getroffen.
Zuerst stand sie diesem Furchtbaren fassungslos gegenüber,

aber dann setzte ein Toben ein, daß man für ihren Verstand
fürchten mußte.
Es war unheimlich still im Zimmer. Bis Ricarda laut
aufschluchzte. Sie eilte zur Mutter, sank vor ihr in die Knie
und umfaßte sie mit beiden Armen.
»Mama, liebe, liebe Mama - sei doch nicht so traurig -!«
flehte sie in heißer Herzensangst. »Du hast ja noch uns –
wir haben dich alle so lieb -!«
Der Blick der Frau sah auf sie nieder, wanderte dann weiter
über die anderen Kinder hinweg – bis er an Elwira haften
blieb - »Ihr beide – ihr lebt natürlich – «, stieß sie in

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unheimlicher Ruhe zwischen den Zähnen hervor.
Da barg Herr Ragnitz mit dumpfem Stöhnen sein Haupt in

beide Hände, während Ricarda mit einem Wehlaut die
Arme sinken ließ. Ihr Kopf schlug vorwärts auf den Boden.
Jörn von Jührich eilte zu Hilfe, und Sölve folgte ihm. Auf
sie heftete sich nun Frau Fränzes stierer Blick. »Hinaus -!«
schrie sie, daß ihr die Stimme überschlug. »Du bist schuld
an seinem Tode – du hast ihm sein Erbe gestohlen -! Das
hat er nie überwinden können…«
Damit sank sie ohnmächtig zusammen.

Ich nehme dich auf voll Barmherzigkeit,

bei mir kühlst du all dein brennendes Leid,
du verirrtes Herze du.
Meine Welle, die wieget fein sacht dich ein,
wie ein banges, schlafmüdes Kindelein,
zur süßen, seligen Ruh.

Man mußte wohl sagen, daß Frau Fränze nicht nur starke
Nerven, sondern auch ein starkes Herz hatte. Schon zwei

Wochen nach dem Tode ihres Sohnes war sie wieder in
Haus und Küche tätig und führte ein strenges Regiment.
Nach den vier abwesenden Töchtern fragte sie nie, schien
nur noch ein Kind zu besitzen, mit dem sie fast die gleiche
Abgötterei trieb, wie es bei Roderich der Fall gewesen war.
Ihr ganzes Sinnen und Trachten ging darauf hinaus,
Walburga mit dem jungen Eutel zu verheiraten.
Wohl sah sie, daß das früher so blühende Mädchengesicht
unheimlich blaß aussah, daß um Augen und Mund ein
herber Schmerzenszug lag. Sie machte sich jedoch keine
Gedanken darüber, sondern schob es auf Blutarmut, die
bald behoben sein würde.

An einem Nachmittag saß sie mit Burga im Wohnzimmer.
Stolz hielt sie den gestickten Überzug eines Sofakissens in
die Höhe.
»Schau mal, Burgalein, ist mir die Arbeit nicht gut
gelungen?« fragte sie eifrig. »Dieser Überzug kommt auf das

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Kissen, das das kleine Sofa zieren soll. Ist doch gut, daß ich
Tante Bettinas Nachlaß verlangte, nun wird er dir gute

Dienste leisten.
Übrigens hat Papa mit Sölve des Gutes wegen gesprochen,
das unserm armen Roderich gehörte. Nun sollst du es
haben. Da kann der Eutel lachen, der macht eine gute
Partie.«
Walburga, die an einer feinen Handarbeit stichelte, hob
den Kopf.
»Muß es Eutel sein, Mama – kann es nicht auch ein anderer
sein?« fragte sie leise, und Frau Fränze fiel aus allen
Wolken.
»Aber Kind, was ist das für eine Frage! Du warst doch für
eine Verbindung mit Eutel Feuer und Flamme.«

»Zuerst wohl, Mama – aber später nicht mehr. Ich liebe ihn
nicht. Ich liebe einen andern.«
Bei dieser unerwarteten Eröffnung war Frau Fränze zuerst
fassungslos, doch dann stieg tiefe Empörung in ihr auf.
»Na, das ist ja noch schöner! Wer ist es überhaupt?«
»Achim Garzer.«
»Was -?« schrie Frau Fränze so schrill auf, daß die Tochter
schmerzlich zusammenzuckte. »Diesen Fixfax, diesen
Bettelmatz -!« Sie schien keine weiteren Worte der
Verleumdung zu finden. Mußte erst verschnaufen, ehe sie
weiter schalt.
»Dieser Luftikus! Und du, meine Burga, mein schönstes

und stolzestes Kind, für das ich meine Hand ins Feuer
gelegt hätte, fällst auf diesen Kerl herein! Na, Gott sei
Dank, daß man diese geschmacklose Verirrung noch im
Keime ersticken kann. Mein Gott, mein Gott, was habe ich
bloß verbrochen, daß ich solche Kinder haben muß.«
»Mama, ist es denn so schlimm, daß ich den Achim liebe?«
fragte Burga bang. »Er ist doch aus guter Familie, und ganz
arm ist er auch nicht. Wenn wir das Gut bekommen, dann
sitzen wir doch gleich im warmen Nest.«
Diese Erwähnung ließ Frau Fränze auffahren, als habe sie
durch und durch ein Stich getroffen.

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»Natürlich, damit es diesem Hungerleider ja recht bequem
gemacht wird -!« schrie sie krebsrot vor Wut. »Sich ins

warme Nest setzen, mit einer Ragnitztochter, das könnte
ihm so passen. Und das zu erreichen, hat er dir wohl
blauen Dunst vorgemacht -?!«
»Mama, nicht so -!« flehte das Mädchen verzweifelt. »Bitte,
liebe Mama nicht so -!«
Aber sie hörte nicht die Herzensnot ihres Kindes, war taub
und blind.
»Ich will dir mal was sagen, Burga: Ehe ich zugebe, daß du
diesen Garzer heiratest, eher werfe ich dich eigenhändig ins
Meer-!«
»Mama, ich muß ihn doch heiraten ich muß -!« schrie sie
in Qual und Not und da sauste ihr auch schon die Hand

der Mutter ins Gesicht. Wie Wahnsinn flackerte es in den
Augen der tiefgereizten Frau.
»Ich werde dich lehren, was du mußt! Hinaus – und tritt
mir nicht mehr unter die Augen – nie mehr! Oder, bei
Gott, ich schlage dich tot – «, brüllte sie in höchster Not.
Und da stürzte das von Grauen geschüttelte Mädchen
hinaus.
Vollkommen erledigt fiel Frau Fränze in den nächsten
Sessel. Stierte mit glasigen Augen vor sich hin.
Und ging fünf Minuten später mit verbissenem Eifer an die
Arbeit.
Zum Abendessen saß sie dann allein mit dem Gatten an

dem langen Tisch, wo einst soviel lachendes Leben mit
Appetit geschmaust hatte. Es war so unheimlich still, daß
der Mann nervös wurde.
»Wo ist Burga?« fragte er gereizt.
»Die bockt, weil ich ihr eine gelangt habe.«
»Nanu, kommt das bei unserm ehrbaren Fräulein auch mal
vor?« spottete er gutmütig.
»Ehrbar, von wegen – «, lachte sie verärgert. »Solche Kinder
haben andere Leute. Wir haben nur solche, über die wir
uns grün und blau ärgern müssen.«
»Nanu, hat sie die Suppe anbrennen lassen, Milch zuwenig

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angeschrieben oder einen Teller vom Staatsgeschirr
zerschlagen -?«

»Höhne nur, es wird dir schon vergehen, wenn du hören
wirst, daß sich ausgerechnet Burga in den Garzer vergafft
hat. Man kann sich tatsächlich die Galle ins Blut ärgern.«
Der Hausherr sah überrascht auf.
»Was du nicht sagst«, schmunzelte er. »Schau dir einmal
unsere Burga an. Ausgerechnet den flotten Garzer sucht sie
sich aus. Na ja, Gegensätze ziehen sich bekanntlich an.
Sind sie denn schon einig?«
»Einig? Meine Tochter Burga hinter meinem Rücken mit
einem Mann einig?« fragte sie aufgebracht. »Daran ist zu
sehen, wie wenig du das Mädchen kennst. Sie faselte wohl,
daß sie heiraten muß, aber die Ohrfeige wird ihr schon

beibringen, wer hier zu müssen hat.«
Herr Julius ließ Messer und Gabel sinken und sah der
Gattin in das verärgerte Gesicht.
»Wo ist sie?« fragte er kurz.
»Weiß ich’s? Wahrscheinlich in ihrem Zimmer.« Er stand
auf, ging hinaus.
Kam schon einige Minuten später wieder – schleppenden
Schrittes, wie gebrochen. Das Gesicht war aschfahl, die
Augen flackerten wie im Fieber »Lies – «, würgte er hervor,
ihr einen kleinen Zettel hinhaltend. »Weib – lies, lies laut
und dann brülle deine Schandtat hinaus -!«
Nun bekam Frau Fränze doch Angst vor dem

merkwürdigen Gatten. Zitternd ergriff sie das weiße Blatt.
»Ich weiß nicht mehr ein noch aus. Ich weiß nur, daß
Mama mich totschlägt, wenn sie erst alles weiß. Ich bin
auch so sehr müde – die See wird barmherzig sein –
Burga.«
Er hörte nicht ihr jammerndes Schreien, stürzte hinaus und
kam nach Stunden wieder, einen Schal Burgas in der Hand.
– »Weib, du bringst mir meine Kinder um – Stück für Stück
– «, lallte er wie ein Trunkener und stierte auf die Frau, die
voll zitternder Angst bis in die äußerste Ecke zurückwich.
Er ging ihr nach taumelnd – schwankend – mit

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blutunterlaufenen Augen – die Fäuste nach ihr geballt.
»Hilfe -!« schrie sie gellend auf. Da brach er mit einem

dumpfen Stöhnen zusammen.

Vom Schicksal bleibt dir nichts geschenkt,
es legt einem jeden sein Schuldbuch vor.
Und wenn du glaubtest, du bliebest verschont,
dann bist du ein eitler, verblendeter Tor.

Entsetzt starrten die Menschen, die in Uhlen beim
Frühstück saßen, auf den Mann, der taumelnd das Zimmer

betrat. Mit einem ächzenden Laut sank er auf den nächsten
Stuhl, stierte seine Kinder der Reihe nach an: »Eins – zwei –
drei vier – «, zählte er dumpf. »Vier von sieben. Ihr kennt
doch wohl den Vers: Es ist eine alte Geschichte, und ist doch
ewig neu. Und wem sie just passieret, dem bricht das Herz
entzwei -?

So eine alte neue Geschichte will ich euch jetzt erzählen – «
Und zwischen zusammengebissenen Zähnen stieß er sein
gestriges Erlebnis hervor.

»Ja, so war es«, sprach er dann mit unendlich müder
Stimme weiter. »Und als ich heute zum Garzer ging, um
ihn windelweich zu prügeln, sank meine Faust herab, als
ich sein verständnisloses Gesicht sah. Was ich denn von
ihm wolle? Er könnte doch wirklich nichts dafür, daß
Burga die Nerven verloren hätte. Als er hörte, daß ihr
unerlaubter Verkehr nicht ohne Folgen geblieben sei, habe
er Burga anheimgestellt, die Sache mit ihren Eltern zu
regeln, wonach er sie heiraten würde. Mehr könne man
nicht von ihm verlangen, zumal Burga ihm nachgelaufen
sei und keine Ruhe gab. Schon in Kaimucken wäre sie zu
ihm ins Zimmer gekommen. Bis hierher sei er verfolgt

worden…
Das alles sagte er mir in seiner freimütigen Art – und was
sollte ich darauf antworten? Die Sache würde normal
verlaufen sein, hätte Burga bei ihrer Mutter Verständnis
gefunden – nicht Drohung und Ohrfeigen. Diese Ehe wäre

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nicht schlechter geworden als viele andere. Und nun – nun
ist alles aus – «

Er barg sein vergrämtes Antlitz in den Händen.
Laut schluchzend umringten ihn seine Kinder, und auch
Frau Fröse, Fräulein Gluck, Sölve und Jührich liefen die
Tränen übers Gesicht.
Der Vater weinte bitterlich um sein verirrtes Kind. Ricarda
sank vor ihm in die Knie und umfaßte ihn mit beiden
Armen. Ihr Körper zitterte und bebte vor Schluchzen.
»Warum müssen die andern sterben die Gundel – der
Roderich – und nun auch die Burga -?« klagte sie
jammervoll. »Und ich bin doch auch so müde – ich
möchte auch so gerne sterben.«
Das riß den Vater endlich aus seiner Verzweiflung. Er

umfaßte sein Kind in heißer Herzensangst.
»Wir beide reisen irgendwohin, mein Kind. Wir beide ganz
allein. Hörst du?«
So geschah es auch. Sie fuhren nach Berlin, um sich im
Trubel der Großstadt abzulenken.
Nach zwei Wochen trafen sie wieder ein. Genauso müde
und zerquält, wie sie gegangen waren. Der Vater lieferte
sein Kind in Uhlen ab und kehrte nach Hause zurück.
Am nächsten Tage kam er wieder, um seine Kinder zu
holen.
»Jammert nicht, das hat keinen Zweck«, sagte er energisch,
als ein großes Wehklagen begann. »Ich halte es zu Hause

ohne euch nicht aus. Das ist ja, als ob ich gezwungen wäre,
in einer Totengruft zu kampieren. Ich muß jetzt zur Stadt.
In einer Stunde hole ich euch.«
Diesem Befehl wagten sie sich nicht zu widersetzen.
Bedrückt zogen sie von dannen, um ihre Habseligkeiten
zusammenzusuchen.
Alles das lag vereint in dem Blick, den sie zu dem Mann
hinübersandte. Ein stummes qualvolles Abschiednehmen!
Den Kopf tief gesenkt, die Schultern vornübergebeugt, als
trüge sie eine Last, die ihr viel zu schwer war, ging sie mit
schleppenden Schritten davon. Es war ein Jammer, was die

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Zeit voll Herzweh aus diesem Sprühteufelchen gemacht
hatte. Unter den Zurückbleibenden herrschte eine fast

atemlose Stille. Die Augen der beiden Frauen hingen an
dem Mann, der mit einem Entschluß zu kämpfen schien
und sich dann erhob.
Und nun war es sein Blick, der mit schmerzlichem
Abschiednehmen auf Sölve ruhte. Dann ging er rasch
davon, als könnte er seinen Entschluß bereuen.
»Es ist Zeit, daß die arme Rosenrot nun endlich aus ihrer
Qual erlöst wird«, sagte Frau Fröse leise. »Gebe Gott dem
Mann die Kraft, sie so glücklich zu machen, wie sie es
verdient-«

Frau Norne,
rühre die Spindel geschwind,
tu frischen Flachs auf den Rocken.
Was du dann spinnst, soll ein Hochzeitskleid sein,
für ein Kind so rein wie Schnee auf dem Firn,

drück du ihm voll Liebe den Kranz auf die Stirn,
auf die dunklen, seidigen Locken.

Ricarda suchte ihr Zimmer auf, wo sie sich in den
Lehnstuhl am Fenster setzte und müde in den Park
hinunterstarrte. Eigentlich hätte sie jetzt weinen müssen,
heiß und heftig, wie sie schon so oft an diesem Platz getan.
Aber auch diese Erleichterung war ihr heute versagt. Sie
hatte keine Tränen mehr.
Aufstöhnend barg sie das Antlitz in den Händen und
überhörte so das Klopfen an der Tür. Erst als sie sich
angerufen hörte, schrak sie auf und sah entsetzt auf den
Mann, der vor ihr stand. Sie hatte keinen Tropfen Blut in
dem zuckenden Gesicht, als sie nun aufsprang und die
bebenden Finger in die Lehne des Sessels krallte. So stand

sie Jörn von Jührich gegenüber, der langsam die Arme nach
ihr hob.
»Komm – «, sagte er leise und erschüttert. Doch sie rührte
sich nicht. Sah ihn mit feindseligen Blicken an.
»Willst du nicht mehr, mein kleines Mädchen?« fragte er

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mit der zärtlichen Stimme, die ihr Herz von Anfang an
gefangen hatte.

»Nein – «, entgegnete sie trotzig. »Gehen Sie doch zu Sölve,
die Sie so sehr lieben.«
»Sie will mich nicht, kleine Rosenrot-.«
»So – und da bin ich als Lückenbüßerin gerade gut genug -

»Nein, dazu wärest du mir zu schade«, erwiderte er
tiefernst. »Du bist mir lieb und wert. Und wenn ich nicht
die Kraft in mir fühlte, dich glücklich zu machen, stünde
ich nicht hier. Und es wird an dir liegen, ob sich mein Herz
restlos von der andern löst, daß es dir allein gehört. Wenn
dir das gelingt, dann sollst du ein Leben haben, wie kaum
eine Frau im weiten Erdenrund. Wenn nicht – ja, dann

werden wir wohl beide unglücklich…«
Da flüchtete sie in seine Arme und legte ihren Kopf an
seine Schulter wie ein müde-geweintes Kind.
Als sie unten ankamen, sah ihm Sölve bang entgegen. Da
beugte er sich tief über ihre Hand. – »Nicht so traurige
Augen haben, Frau Sölve«, sagte er gütig. »Ich weiß, daß
nun alles gut werden kann.«
Sie atmete befreit auf.
Als der Vater kam, um seine Kinder zu holen, stand er einer
Tatsache gegenüber, mit der er nicht mehr gerechnet hatte.
Aber zufrieden war er, im tiefsten Herzen zufrieden. Er
nahm die Hand des Mannes mit warmem Druck. Bei dem

wußte er sein Kind gut aufgehoben.
Voll Kummer dachte er an Walburga, die jetzt ebenso
glücklich sein könnte wie Ricarda, wenn die Mutter mehr
Verständnis für ihr Kind gehabt hätte. Der Gedanke ließ
ihn zu keinem wahren Frieden kommen – noch lange,
lange nicht.
Was war mit den Zwillingen los? »Was habt ihr denn?«
erkundigte er sich besorgt. »Warum schaut ihr drein wie
verregnete Puttehühnchen?«
Da flossen die Tränen aus beider Augen. Und daß es keine
Freudentränen über das Glück der Schwester waren, ließ

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sich leicht feststellen.
»Hört auf!« gebot der Vater energisch. »Was ist geschehen?«

»Wir lieben auch – «, kam das Geständnis gar kläglich,
eifrig bekräftigt vom andern Zwilling.
Der Vater war nun doch verblüfft, während die anderen
Mühe hatten, ein Lachen zu unterdrücken, das angesichts
so großen Jammers taktlos genug gewesen wäre.
»Das ist ja eine schöne Bescherung!« polterte der Vater los,
während ein Lachen in seinen Augen glimmte. »Ihr Küken
tragt ja noch die Eierschalen hinter den Ohren. Wer sind
denn die beiden Unbegreiflichen, die sich in euch
Grünzeug vergafft haben? Gehen sie etwa noch zur
Schule?«
»Pfui, Papa -!« klang es entrüstet aus beider Mund.

»Oder ist die Liebe gar einseitig?« examinierte er ungerührt
weiter.
»Nein, gar nicht – wir sind uns längst einig – «, wurde
empört bestritten.
Da sah sie der Vater voll Angst an. Einig war auch Burga
mit ihrem Liebsten hinter dem Rücken der Eltern gewesen
und hatte diese Einigkeit mit dem Leben bezahlt. Aber da
sah er in die unschuldigen Gesichter seiner Kinder – und
atmete befreit auf.
»So, so – also einig seid ihr. Da habt ihr euch wohl freiweg
hinter dem Rücken der Eltern getroffen?«
»Nein, Papa – so doch nicht.«

Und: »Nein, Papa – so doch nicht – «, echote es.
»Nicht einmal einen Kuß haben sie uns gegeben. Sie
wollten dich erst sprechen.«
»Vernünftige Jungen. Wenn ich nun noch ihre Namen
erfahren dürfte?«
Die Unzertrennlichen glühten wie die Pfingstrosen, zogen
an den Fingern, daß die Gelenke knackten, knüllten ihre
Taschentücher -
»Nun mal raus mit der Sprache -!«
»Herbert Holdereit – «
Und: »Helmut Holdereit – «, echote das Zweigespann.

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»Nicht wahr, Papa, du tust ihnen nichts? Wir haben wahr
und wahrhaftig nichts Böses getan.«

Nun konnten die anderen das Lachen kaum zurückhalten.
»Also die Kadetten sind es«, schmunzelte Herr Julius. »Ihr
habt keinen schlechten Geschmack! Wenn es mir auch
unbegreiflich ist, wie diese ruhigen, zielbewußten Männer
auf euch Gänschen verfallen konnten. Aber wo die Liebe
hinfällt – «
»Wir dürfen, Papa – «
»Nichts dürft ihr vorläufig«, dämpfte er ihren
Freudenschrei. »Wie alt seid ihr eigentlich? Siebzehn?«
»Bald achtzehn, Papa.«
»Und die Herrlichkeiten?«
»Herbert siebenundzwanzig.«

»Helmut neunundzwanzig.«
»Schön. Aber wie ist das, ihr wolltet doch nur Zwillinge
heiraten, die in einem Topf kochen und aus einem Teller
essen? Nun sind es nur Vettern, mit Altersunterschied,
deren Güter nur aneinandergrenzen.«
»Es ist wohl nicht alles so im Leben, wie man es sich
wünscht – «, sprach Monika kleinlaut ein wahres Wort –
und da mußte der Vater sich geschlagen geben.
»Nun paßt mal auf – «, sprach er gütig. »Ich werde morgen
die Vettern besuchen. Und wenn sich alles so verhält, wie
ihr sagtet – «
»Ganz wahrhaftig, Papa -!«

»Gut. Dann werde ich meine Bedingungen stellen: Ihr
kommt auf ein Jahr in ein Pensionat, wo ihr weder Briefe
an die Vettern schreiben noch von ihnen empfangen
werdet. Das Ehrenwort werde ich ihnen abverlangen.
Kommt ihr dann zurück, und seid ihr vier noch derselben
Ansicht, dann mag in Gottes Namen Verlobung und
hinterher gleich Hochzeit sein.«
Wohl senkten die Zwillinge enttäuscht die Köpfe – doch
nur einen Augenblick, dann hatte der Vater sie rechts und
links am Halse.
»Das tun wir, Papa – ganz bestimmt, das tun wir – «, kam

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es wie ein Gelöbnis aus beider Mund.
»Recht so. Nun bleibt mir nur noch übrig, festzustellen,

daß ich meine Töchter wie die warmen Semmeln los werde
– «
»Euer Gezwitscher wird mir allerdings sehr fehlen, ihr
muntern Vögel – «
Da fühlte er seinen Hals rückwärts umfaßt, und sich
umwendend, sah er in die strahlenden Augen seiner
Jüngsten.
»Du hast doch mich, Papa. Ich bleibe bei dir.«
»Richtig, Klein Rosenrot, wie konnte ich dich vergessen«,
sagte er gerührt. »Und die andere Rosenrot?«
»Die möchte ich Ihnen bald entführen, lieber
Schwiegerpapa«, entgegnete Jörn an ihrer Stelle. »Wir

wollen so schnell wie möglich heiraten, um noch vor
Weihnachten von der Hochzeitsreise zurückzukehren. Es
braucht ja keine geräuschvolle Hochzeit sein. Nur ein
stilles Zusammengehen. Das heißt, wenn es der Frau Mama
recht ist – «
Ein harter, verbissener Ausdruck trat nun in Herrn von
Ragnitz’ Gesicht. Und hart war auch seine Stimme, als er
sagte:
»Die wird erst gar nicht gefragt. Jetzt werde ich das Glück
meiner Kinder, die mir noch geblieben sind, überwachen.«
Frau Fränze schien auch keinen Wert darauf zu legen,
gefragt zu werden. Ihr starrer Blick streifte über die

Mädchen und deren Vater hin, als gingen sie alle sie nichts
an.
Auch als Ricarda vier Wochen später vor den Altar schritt,
starrten der Mutter Augen über sie hinweg. Sie nahm auch
keine Notiz davon, als die Zwillinge kurz nach Ricardas
Hochzeit in die Pension kamen. Sie schien für nichts
anderes mehr Interesse zu haben als für ihre Wirtschaft.
Natürlich war das Leben in Kaimucken alles andere als
harmonisch. Die kleine Rosenrot tat dem Vater von Herzen
leid, und er redete ihr zu, wieder nach Uhlen
überzusiedeln.

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Doch das lehnte die Kleine entschieden ab. Sie hatte von
Jührich ein entzückendes Ponygespann als Geschenk

erhalten, mit dem sie nun täglich nach Uhlen kutschierte.
Das »Kluckchen« ihr zur Seite, an das sich das Kind innig
angeschlossen hatte, worüber das alte Fräulein sehr
beglückt war.
Wenn jedoch die Zeit kam, wo der Vater von seiner Arbeit
ins Haus zurückkehrte, dann ließ sich Ira nicht in Uhlen
halten.
So wurde das Kind sein Abgott. Wenn es auf seinem Schoß
saß und mit zärtlicher Stimme plauderte, dann konnte er
seine drei verlorenen Kinder auf kurze Zeit vergessen.
Das Kind war sein Alles; denn mit seiner Frau verband ihn
nichts mehr. Sie gingen sich aus dem Wege wie Fremde.

Manchmal nahm er schon an, daß ihre Sinne verwirrt
wären. Wenn er sie dann jedoch im Hause schalten sah,
dann kam er von dem Gedanken ab.
Was sie dachte und fühlte? Ja, das konnte kein Mensch
ergründen. Es war fraglich, ob sie überhaupt Schmerz um
ihre toten Kinder litt, ob sie sich Schuld an Burgas jähem
Ende gab? Sie schien jetzt so wortkarg und verschlossen,
wie sie früher redselig und offenherzig gewesen war.

Wer bist du, Kind?
Ich kenne dich nicht

mit Locken so golden wie Sonnenlicht,
mit Augen so blau wie des Meeres Well’,
mit Gliedern so schlank wie die scheue Gazell.


Der Herbststurm durchbrauste wieder einmal das Land und
hatte strömenden, peitschenden Regen im Gefolge. Es war
die Zeit, wo man am knisternden Kamin dem tosenden
Lied mit Behagen lauschte, wo man die schöne Heimat an
Wald und See lieber und lieber gewann.
Sölve saß im Zimmer des Gatten, tief in den weichen Sessel
geschmiegt.
Frau Fröse hatte sich schon zur Ruhe begeben, und so war

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Sölve allein. Den Kopf in die aufgestützte Rechte gelegt,
sann sie vor sich hin und lauschte dem Sturmgesang da

draußen.
Traurig waren ihre Gedanken, die hinter der weißen Stirn
hasteten und bohrten – sehr, sehr traurig.
Jetzt war sie allein, konnte die Maske fallen lassen, die sie
stets im Beisein der Menschen trug. Wenn sie auch liebe
Menschen um sich hatte, was bedeutete das alles, wenn der
Eine fehlte – der Einzige, von dem ihr Herz bis zum Rande
erfüllt war? Sie war einsam.
Wer Sölve nicht näher kannte, der glaubte sie frei von
Trauer um den toten Gatten, was ja auch ganz natürlich
erschien. Sie hatte ihn nur kurz gekannt, war seine Frau im
wahren Sinne ja nie gewesen. Aber wer sie liebte, wie Frau

Marga, der wußte, wie es in ihr aussah.
So phantastisch Sölves Hoffen und Sehnen auch war, wie
sehr sich der Verstand auch dagegen sträubte, ihr Herz
glaubte nicht an Jobsts Tod. Es wartete und wartete.
Ungemein traulich war es in dem Gemach. Das gedämpfte
Licht der Ständerlampe durchflutete es mit warmem
Leuchten. Mollig warm war es, anheimelnd und traut.
Das Empfinden hatte auch der Mann, der nun schon
minutenlang dastand und auf die regungslose Gestalt im
Sessel schaute.
Wer war dieses wundervolle Geschöpf? Dieses Haar, hell
und goldig, wie aus Sonnenstrahlen gewoben, klar und

glitzernd wie köstlicher Bernstein im Meeresgrund – hatte
er ähnliches überhaupt je gesehen? Klein und schmal die
Hand, in die der Kopf gestützt war, mit rosig verlaufenden
Fingerspitzen, die Gestalt gazellenhaft weich und biegsam,
hochbeinig, mit zierlichen Fesseln – alles so rassig, so
ungemein vornehm. Was wollte dieses Menschenkind in
seinem Zimmer war Uhlen etwa verkauft -?
Das gab einen Stich ins Herz, bei dem er aufstöhnen
mußte. Da hob Sölve den Kopf, sprang auf -
»Elga -!« stammelte der Mann überwältigt, der in diesem
Augenblick vergessen hatte, daß die einst so schmerzlich

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Geliebte ja längst tot war. Wie gebannt sah er in die großen
Augen hinein, in denen zuerst helles Entsetzen stand, das

dann langsam einem Glücksleuchten Platz machte.
»Jobst-!« jubelte es dann durch das Gemach. »Jobst – du
lebst – mein Herz hat mich nicht – betrogen!«
Lachend und weinend zugleich hing sie an dem Manne,
der stocksteif dastand und sich streicheln und küssen ließ.
Er konnte das alles nicht fassen. Das konnte doch
unmöglich Sölve sein, die armselige, reizlose Sölve.
»Nun seht einer bloß diesen Mann an! Läßt sich küssen wie
ein gutgelaunter Pascha von seiner Lieblingsfrau.«
»Du bist – Sölve?« rang es sich da endlich von seinen
Lippen.
»Na, wer denn sonst -!« lachte sie hellauf. »Aber nun gib

erst mal deinen Hut her, der trieft ja vor Nässe. Bist du etwa
durch den strömenden Regen gekommen?«
Er strich sich mit hastiger Bewegung über Augen und Stirn.
»Ja, das bin ich – «, antwortete er, noch immer abwesend
mit seinen Gedanken. »Es war schön, dieses
Nachhausekommen durch Regen und Sturm. Und daß ich
dich hier vorfinden würde – Sölve, das habe ich nicht
erwartet.«
»Das scheint dir gar leid zu tun? Ich will dich nun nicht mit
Fragen aufhalten, du mußt zuerst aus den triefenden
Kleidern. Du findest alles vor, wie du es verlassen hast.«
»Ja, du hast recht – «, raffte er sich nun gewaltsam auf.

»Aber dann mußt du mir erzählen, wie du dich so
wundersam verändern konntest.«
»Aber mit dem größten Vergnügen«, lachte sie glücklich.
»Weiß jemand, daß du hier bist?«
»Nein, nur der Nachtwächter, dem ich Schweigen gebot!«
»Das wird ja dann morgen ein Jubel ohnegleichen sein.
Aber nun geh, damit du ein Bad nimmst und in trockene
Kleider kommst. Soll ich Michael wecken, damit er dir
behilflich ist?«
»Nein, laß – «, wehrte er ab. »Ich finde mich allein
zurecht.«

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Während er das nebenanliegende Schlafzimmer aufsuchte,
huschte Sölve in das großmächtige Reich der Mamsell. Wie

gut, daß sie da oft hineingeschaut hatte. Nun fand sie sich
gut zurecht und konnte dem Heimgekehrten ein Mahl
bereiten. In stillen, weihevollen Stunden hatte ihr Tante
Marga seine Gewohnheiten verraten müssen. Bis ins
kleinste waren sie ihr bekannt.
Hurtig huschte sie umher. Hatte jetzt keine Zeit, sich über
die Heimkehr des Totgeglaubten Gedanken zu machen.
Nur ihr Herz war selig.
Als der müde, hungrige Heimkehrer wieder sein Zimmer
betrat, gebadet, erfrischt, da fand er ein reichhaltiges Mahl.
Auf dem Tischchen nebenan brodelte die Kaffeemaschine.
Konfekt stand darauf.

Obst, Zigaretten – ganz so, wie er es liebte.
Und im Sessel saß Sölve, die so wunderbar veränderte
Sölve – und lachte ihm entgegen!
»Sag mal, Kind, wie hast du das alles nur so schnell zuwege
gebracht?« fragte er überwältigt.
»Das war keine Hexerei«, lachte sie fröhlich. »Du hast zu
deiner Toilette Zeit genug gebraucht. Aber nun stecke die
Beine unter deinen Tisch!« gebot sie übermütig, und er
konnte den Blick nicht wenden von ihr, die er längst tot
geglaubt hatte.
Während er aß, tat sie keine Frage, bediente ihn
aufmerksam, füllte immer wieder das Glas mit dem Wein,

vom dem sie wußte, daß er ihn gern trank. Doch als sie die
Speisereste ins Nebenzimmer getragen, ihn mit Kaffee und
Zigaretten versorgt und sich selbst eine in Brand gesteckt
hatte, da fragte sie leise, wie er zu der Narbe gekommen sei.
»Ja, Kind, das ist nicht mit einigen Worten gesagt«,
entgegnete er, sich in seinem Sessel bequem zurücklegend.
»Dazu muß ich vorgreifen, um dir alles verständlich zu
machen.
Nach mehr als sechswöchiger Reise erreichte ich ohne
nennenswerte Schwierigkeiten die Farm. Wie mir der
Rechtsvertreter geschrieben hatte, war bereits ein Käufer für

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den Riesenbesitz vorhanden. In diesem Fall eine Käuferin,
ein Mischblut, die fast alle Farmen ringsum aufgekauft

hatte und wie eine Königin in ihrem Reich herrschte. Wir
wurden bald handelseinig, wobei ich glänzend abschnitt,
wie mir der Rechtsberater verriet. Obgleich es mich
förmlich nach Hause zog, entschloß ich mich, noch einige
Wochen zu bleiben und in ortskundiger Gesellschaft die
Gegend zu durchstreifen; denn diese Gelegenheit kam ja
gewiß nie wieder.
So geschah es denn auch. Die schöne Carmen wurde meine
Führerin. Obgleich wir von einem ganzen Troß begleitet
wurden, gelang es ihr stets, uns beide zu isolieren.
Vier Wochen streiften wir so umher, und ich muß zugeben,
daß es wundervolle Wochen waren. Zur Farm

zurückgekehrt, wollte ich dann zur Heimreise rüsten. Da
erklärte sie mir in ihrer bestimmten, herrischen Art, daß sie
mich zu heiraten wünsche.
Erst war ich verblüfft, dann lachte ich sie aus – und das
hätte ich nicht tun dürfen. Es flammte gefährlich in ihren
nachtschwarzen Augen auf; denn ich hatte sie aufs
tödlichste beleidigt. Sie sprach weiter kein Wort, sondern
handelte. Ehe ich so recht zur Besinnung kam, war ich ihr
Gefangener. Durch ihren Sekretär ließ sie mir sagen, daß
ich in dem Augenblick von der Haft frei sein, in dem ich
mich bereit erklärte, ihr Gatte zu werden.
Dieser Sekretär war ein Deutscher und sah mir ähnlich. Wie

ich später erfuhr, soll er, bevor ich kam, der Geliebte der
Herrin gewesen sein. Er kam zu mir als guter Freund und
machte mir allerlei Vorschläge betreffs der Flucht. Doch ich
traute ihm nicht, etwas in mir mahnte zur Vorsicht.
Nun, so leicht ergab ich mich nicht, obgleich ich von vielen
glühend beneidet wurde. Denn der Mann der wirklich
schönen, unermeßlich reichen Carmen zu werden, galt für
Hunderte Männer als Märchenglück.
Meine Gefangenschaft war gar nicht übel. Alle Wünsche
wurden erfüllt, bevor sie noch richtig ausgesprochen waren.
Auch wurde mir die Zeit nicht lang, da mich Carmen mehr

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besuchte, als mir lieb war. Nur, daß die Freiheit fehlte;
denn ich wurde streng bewacht. Und zwar von Kreaturen,

die der gestrengen Herrin teils aus Angst, teils aus Hörigkeit
dienten.
Ich machte immer wieder der temperamentvollen Donna
klar, daß ich verheirate sei und sie daher gar nicht
ehelichen könnte. Das tat sie jedoch mit verächtlichem
Lächeln ab. Sie würde schon Mittel und Wege finden, um
mich von dieser Ehe zu befreien.
Vergeblich zermarterte ich mein Hirn, wie ich entfliehen
könnte, aber das war für mich, der ich ja vollkommen
landfremd war, ein Ding der Unmöglichkeit.
Da erhielt ich eines Tages auf abenteuerliche Art einen
Brief. Er war auf geschickte Weise unter dem breiten

Halsband des Hundes verborgen, der sich fest an mich
angeschlossen hatte und mit kurzen Unterbrechungen
meine Haft freiwillig teilte. Das kluge Tier kratzte und
schüttelte sich so lange, bis der Zettel auf die Erde fiel. Er
stammte von Pedro, einen intelligenten, bildschönen
Burschen, der als treuer Diener meines Onkels seine
Ergebenheit nun auf mich übertrug. Er beschwor mich, der
Herrin den leidenschaftlichen Liebhaber vorzumimen,
sonst fürchte er für mein Leben. Sie habe ihren abgebauten
Liebsten mit einer fürstlichen Abfindung nach Deutschland
zurückgeschickt, ein Zeichen, daß sie sich immer mehr in
Liebe zu mir verrenne. Und daß sie dann jedes Hindernis

rücksichtslos beseitigen würde, das wisse er aus Erfahrung.
Ich solle nur seinem Rat folgen, dann könne alles gut
werden.
In dem Sinne war das Schreiben in zwar schlechtem, aber
verständlichem Deutsch abgefaßt. Es blieb mir nun keine
andere Wahl, als dem Rat Pedros zu folgen und mich
scheinbar zu ergeben. Das fiel mir auch gar nicht schwer,
denn diese dämonisch schöne Frau konnte einem Mann
schon die Sinne verwirren. Ich muß wohl meine Rolle
glänzend gespielt haben, denn ihr anfängliches Mißtrauen
schlief langsam ein. In ihrer Selbstherrlichkeit nahm sie

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auch gar nicht an, daß es auf dem Erdenrund einen Mann
gäbe, der ihren Reizen widerstehen könnte.

Obgleich ich von allen Ecken und Enden bespitzelt wurde,
gelang es Pedro immer wieder, mir auf raffinierteste Art
Nachricht zukommen zu lassen – und so kam es eines
Nachts zur Flucht. Pedro, seine Frau, einige ergebene Leute,
die Abenteuer geradezu suchten und nicht Tod noch Teufel
fürchteten, und ich machten uns bei günstiger Gelegenheit
auf und davon.
Nun wäre diese Flucht glänzend gelungen, wenn sich uns
nicht ein Hindernis in den Weg gestellt hätte, mit der selbst
der schlaue Pedro nicht rechnete. Denn der um
meinetwillen fortgeschickte Liebhaber Carmens, den
glühende Rachsucht erfüllte, hatte sich nur scheinbar zur

nächsten Hafenstadt begeben. Er war jedoch, als er sich vor
Spähern sicher fühlte, wieder zurückgekehrt, umlauerte

1

die

Farm, um bei passender Gelegenheit seinen glühend
gehaßten und beneideten Nebenbuhler heimlich zu
erledigen.
Diesem Spürhund fiel ich dann auch tatsächlich in die
Hände. Wir waren erst eine kurze Strecke von der Farm
entfernt, als ich rücklings niedergeschlagen wurde und vom
Pferd sank.
Mehr weiß ich nicht. Wußte überhaupt lange Monate
hindurch nichts mehr von mir. Als ich dann nach schwerer
Krankheit und noch längerem halbbewußtlosen

Dahindämmern endlich zu voller Klarheit erwachte,
befand ich mich in einer kleinen Hütte, von Pedro und
seiner Frau aufs aufopfernde betreut. Da erfuhr ich
folgendes:
Nachdem mich mein vor Eifersucht blindwütiger
Landsmann niedergeschlagen hatte, mußte er diese
unselige Tat mit seinem Leben büßen. Einer meiner
Begleiter versetzte ihm einen schweren Schlag, der sein
Gesicht zerschmetterte und diese traurige Tatsache nutzte
der schlaue Pedro zu meinen Gunsten aus. Er zog dem
Toten meine Kleider an, tat Uhr und Brieftasche dazu,

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steckte ihm meine Ringe an die Finger, und da der
Unglückliche meine Statur besaß, sogar die Farbe meines

Haares, so konnte er ohne weiteres für meine Person
angesehen werden, zumal ja das Gesicht bis zur
Unkenntlichkeit zerschlagen war.
Und so war es auch. Carmen, die sich an der Verfolgung
beteiligte, zweifelte keinen Augenblick daran, mich in dem
Toten vor sich zu sehen. Sie meldete den Mord der
Behörde, die dann alles Weitere veranlaßte. Daß der Tote
ihr ehemaliger Liebhaber sein könnte, darauf kam sie nicht,
da sie ihn längst auf der Fahrt nach Deutschland glaubte.
Mich jedoch, der ich durch die gefährliche Kopfwunde
natürlich besinnungslos war, brachten meine Getreuen an
einen versteckten Ort, der selbst ortskundigen Leuten

unbekannt war, schlugen dort eine kleine Hütte auf,
tarnten sie meisterhaft und pflegten mich unter größter
Mühsal gesund. Es muß jedesmal ein gefährliches Spiel mit
dem Leben gewesen sein, wenn sich mein treuer Pedro
aufmachte, um Lebensmittel und Medikamente aus dem
nächsten Ort zu holen, der immerhin eine Tagesreise
entfernt lag.
Es würde zu weit führen, wollte ich jede Einzelheit genau
schildern. Kurz und gut: Ich genas zur hellen Freude
meiner Betreuer, die ja nur aus Pedro und seiner Frau
bestanden, da die andern sich verkrümelt hatten. Als ich
mich kräftig genug fühlte, begann der beschwerliche und

gefahrvolle Weg zum nächsten Ort und von da aus zur
nächsten Hafenstadt. Dort schiffte ich mich ein und
gelangte ohne Hindernisse hierher. – Das ist alles.«
Mit immer größerem Entsetzen war Sölve seinem Bericht
gefolgt. Nun saß sie da, blaß bis in die Lippen.
»Mein Gott – Jobst!« stieß sie endlich hervor. »Wie
schrecklich ist das alles! Wie Furchtbares hast du hinter dir
– und wir haben dich hier als tot beweint, weil ja die
Todeserklärung von maßgebender Seite kam. Das heißt, ich
und – mein Herz – ich habe nie daran glauben können – «,
schloß sie leise.

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»Ja, Sölve, recht war es nicht, was Pedro getan hatte.«
»Das meine ich nicht«, warf sie heftig ein. »Deinem Pedro

bin ich von Herzen dankbar. Was ist aus ihm und seiner
Frau geworden?«
»Die sind nach ihrem Heimatort in Argentinien
zurückgekehrt, wo sie ein behaglicheres Leben führen
können. Mein Onkel hat in seinem Testament Pedro ganz
nett bedacht, und ich habe ein übriges dazugetan.«
»Hattest du denn Geld?«
»Natürlich. Das hatte Pedro bis auf einen ganz kleinen Rest
meiner Brieftasche entnommen, bevor er sie zu dem Toten
steckte. Die Hauptsumme hatte ich mit Carmens Hilfe über
das Konsulat hierhergehen lassen. Hast du es nicht
erhalten?«

»Ja, es traf in mehreren Raten ein.«
»Dann hat ja alles geklappt. Und nun die bange Frage: Was
ist aus – Heike geworden?«
»Die lebt, Jobst!«
»Gott sei Dank«, atmete er erlöst auf. »Und nun erzähle
du.«
Das tat Sölve denn auch, und er bekam alles zu hören, was
sich in den zwei Jahren seiner Abwesenheit hier zugetragen
hatte. Von ihrer schweren Krankheit, von dem Tode der
drei Ragnitzschen Kinder – alles erzählte sie bis ins
kleinste.
»Das sind ja trostlose Nachrichten«, sagte er erschüttert, als

Sölve geendet hatte. »Ich glaubte Roderich als Herrn von
Uhlen; denn mit dir und Heike habe ich ja nicht mehr
gerechnet. Ich glaubte euch beide – tot. Wie ist es nur
möglich, daß du so gesunden konntest? An dir hat sich ein
wahres Wunder vollzogen.«
»Ganz und gar nicht, Jobst. Ich bin nur wieder die
geworden, die ich vor Muttis Tode war. Die Sölve, die du
kennenlerntest, war nur ein kümmerliches Scheinwesen.
Aber ich hätte auch nicht mehr zum Leben
zurückgefunden, wenn nicht ein Etwas gewesen wäre, das
mich dazu zwang. Komm, ich werde es dir zeigen.«

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»Da bin ich aber neugierig!«
»Kannst du auch«, lachte sie fröhlich.

Sie führte ihn durch sein Schlafzimmer in ihr Reich, dann
weiter, bis sie vor dem spitzenverhangenen Babybettchen
standen. Mit ungläubigem Staunen schaute der Mann auf
das süße kleine Menschenwunder, das so friedlich
schlummerte.
»Das ist doch nicht etwa - Heike?« fragte er atemlos.
»Wer denn sonst?« lachte sie leise. »Du bist ein guter Gatte
und Vater. Zuerst erkennst du nicht deine Frau – und dann
nicht dein Kind.«
»Ja – aber Sölve, die Ärzte hatten sie doch längst
aufgegeben?«
»Mich auch, Jobst – mich auch. Aber wie du siehst, leben

wir ihnen zum Trotz. Und wie wir leben!«
Das Kind regte sich, öffnete die verträumten Augen.
»Ma – mi – «, lallte es noch unbeholfen, steckte dann das
Däumchen in den Mund und schlief weiter.
Eine ganze Weile sah der Vater noch auf sein so verändertes
Kind, wobei es in seinem Antlitz zuckte und bebte. Dann
kehrte er an Sölves Seite in sein Zimmer zurück.
»Sölve, wie soll ich dir danken, daß ich mein Kind
wiedersehen darf?«
»Ach, Jobst, mir gebührt der wenigste Dank«, wehrte sie
verlegen. »Sicherlich würde Heike auch noch leben, wenn
sie in der Klinik geblieben wäre. Dank gebührt in erster

Linie unserer prachtvollen Tante Marga. Würde sie mich
nicht zur Zeit aufgerüttelt haben, dann wäre ich wohl
hinübergeduselt ins Schattenreich. Aber ein rechtes Wort
zur rechten Zeit hat bei mir Wunder gewirkt. Sie gab mir zu
bedenken, daß ich Pflichten hätte gegen dein Kind, das ein
heiliges Anrecht auf meine Liebe haben dürfte. Stellte mir
vor, daß ich noch lange nicht so bedauernswert sei, wie ich
annähme, und erzählte mir das Schicksal deiner Familie.
Rüttelte mich damit so auf, daß ich wieder Lust zum Leben
bekam. Kurz entschlossen holte ich Heike aus der Klinik
hierher, machte Jörn mobil, der sich den schneidigen

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Doktor Fels und unseren braven Doktor Schlimm zur Hilfe
holte. Eine tüchtige Kinderschwester war die Vierte im

Bunde. – So gelang es mit vieler Mühe, unser Kleinchen so
weit zu bringen, wie es jetzt ist. Wohl ist es noch längst
nicht so, wie es seinem Alter entspricht – aber das wird
bestimmt auch noch werden.«
»Also der gute Jörn hat sich auch an dem Wettstreit
beteiligt?« lächelte er.
»Und wie, Jobst! Er in erster Linie. Er hat seine Meinung
über mich, als ich erst ich selbst geworden war, sehr ändern
müssen.«
»Wie soll ich das verstehen?«
»Ganz einfach. Ich hatte nämlich sein vernichtendes Urteil,
das er kurz vor deiner Abreise über mich fällte, mitgehört.«

»Sölve, du unglückseliges Kind! Dann hast du -?«
»Jawohl – ich habe – «, nickte sie mutwillig. »Ich wollte
mich von dir verabschieden, der du mich schnöde im Stich
ließest, als ich eingeschlafen war. Ihr wart so vertieft, daß
ihr mich gar nicht bemerktet, als ich an der Tür stand.
Umkehren konnte ich nicht, da mir einfach die Kraft dazu
fehlte – und so habe ich jedes Wort mitgehört. Na, das hat
mich dann umgeschmissen.«
»Das ist ja entsetzlich. Weiß Jörn davon?«
»Selbstverständlich. Ich habe in meinen Fieberphantasien
ja alles deutlich genug verraten. Der arme Mensch war so
zerknirscht, daß er mich zu meiden begann, als ich meiner

Sinne wieder mächtig war. Da ging ich einfach zu ihm und
legte ihm Heikes Wohl in die Hände.«
»Und nun?« fragte er gespannt.
»Nun sind wir die besten Freunde«, entgegnete sie, so
harmlos sie konnte. Es ließ sich jedoch nicht verhindern,
daß ihr das Blut heiß ins Gesicht schoß, daß sie unter
seinem forschenden Blick die Augen senkte.
»So, so«, meinte er, indem er mit einer Sorgfalt die
Zigarettenasche in die Schale strich, als hinge wer weiß was
davon ab. »Und nun hat er die große Rosenrot geheiratet?«
»Ja«, atmete sie auf. »Sie sind sehr glücklich. Ricarda ist

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aber auch ein ganz entzückendes Menschenkind
geworden.«

»Das war sie schon immer. Und nun wollen wir uns zur
Ruhe begeben, ich bin wirklich müde.«
Vor ihrer Schlafzimmertür zog er ihre Hände an die Lippen.
»Hab’ Dank, Sölve – heißen, ewigen Dank!«
Dann fiel die Glastür hinter seinem Schlafzimmer zu.

Nimm fest dein Herz in beide Hände,

halt tapfer aus.
Es fand manch Leid ein glücklich Ende,
manch Herz, es fand nach Haus.


Es gab einen Jubel ohne Ende, als man am anderen Morgen
den Totgeglaubten gesund und munter vorfand. Das
erschütternde Wiedersehen zwischen Frau Fröse und Jobst
riß die letzte Schranke nieder.
»Nun bist du auch meine Tante Marga?« fragte er bewegt,
und sie lachte glücklich dazu.
»Jobst, ich habe nie an deinen Tod geglaubt!«
»Ich auch nicht, Tante Marga. Ich habe meine Hoffnung nie
laut werden lassen, weil ich deine mitleidigen Blicke
fürchtete.«

»Und ich nicht, weil ich keine Hoffnungen in dir erwecken
wollte, die verstandesgemäß töricht waren.«
Dann wurde dem Vater sein Kind gebracht.
Mit dem süßen Lächeln, das diesem Geschöpfchen eigen
war, musterte es mit den immer noch übernatürlich großen
Augen den fremden Mann.
Erschüttert sah er auf das kleine Wesen, das in seiner
Engelhaftigkeit überirdisch wirkte. Es hatte sich in den zwei
Jahren, da er es nicht gesehen hatte, fabelhaft
herausgemacht.
Und doch! Es konnte mit seinen drei Jahren noch nicht
einmal allein sitzen. Es konnte wohl die Gliederchen

bewegen und schon einige Worte stammeln, schien auch
geistig normal zu sein. Aber was nützte das alles? Es würde

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immer ein Treibhauspflänzchen bleiben, das überängstlich
gehütet werden mußte und dem die Kinderfreuden versagt

wären. An Heiraten war schon gar nicht zu denken. Wenn
es sich nun später verlieben würde…
Das Herz tat ihm weh. Er war lange nicht so beglückt, wie
man erwartet hatte. Es kostete Mühe, die Enttäuschung
darüber hinunterzuwürgen. Und das mußte Sölve noch oft;
denn das Verhalten des Gatten legte sich wie ein Reif auf
ihre Glückseligkeit. Sie mußte erkennen, daß er ihr heißes
Herz, das sie ihm in schrankenloser Liebe entgegenbrachte,
gar nicht wollte.
Diesem Ungeahnten stand Sölve zuerst fassungslos
gegenüber, bis sie dann langsam begriff.
Was wollte sie überhaupt? Er hatte sie doch aus einer

barmherzigen Lüge heraus zu seiner Frau gemacht, die er
nun bereute. Sie mußte ihr Herz immer wieder fest in beide
Hände nehmen, um das Leid, das nun neu in ihr Leben
getreten war, ertragen zu können.
Die wundersame Heimkehr des Totgeglaubten wurde
überall im Fluge bekannt.
Wie groß war die Freude des Herrn Julius! Er konnte sich
gar nicht genug tun, dem Heimkehrer zu bekunden, wie
glücklich er sei.
Von Jörn und Ricarda kamen herzliche
Glückwunschtelegramme, von den Zwillingen jubelnde
Briefe.

Klein Rosenrot konnte sich kaum lassen vor Freude.
>Kluckchen< weinte, als wäre ihr ein Leid geschehen.
Nur Frau Fränze schwieg.
Und als Jobst sie besuchte, verharrte sie in derselben
starren Ruhe, die ihr nun zur Natur geworden war.
Es gibt welche, die behaupten, daß Leid den Menschen
veredelt. Das sind wohl die, die wirkliches Leid nie
erfahren haben, die gedankenlos nachreden, was sie hörten
oder lasen!
In Wirklichkeit macht Leid schlecht. Es verbittert und
zerquält, schafft Neid und Mißgunst auf die Menschen, die

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das besitzen, was man hat hergeben müssen.
So konnte man auch von Frau Fränze nicht verlangen, daß

ihr Leid sie veredelt hätte, und Jobst von Götterun packte
tiefstes Mitgefühl, als er diese so sehr veränderte Frau
wiedersah.
Wenn die Frau doch weinen könnte, so recht von Herzen
weinen, dachte er erschüttert. Aber diese Wohltat war ihr
wohl versagt.
An einem Tage, als er mit Tante Marga und Sölve
beisammen saß, sprach er mit ihnen über Frau Fränze. Bat
sie, sich um diese bedauernswerte Frau mehr zu kümmern,
worauf sie seinem Wunsch nachkamen.
Schon am nächsten Tag fuhren sie zu ihr und kehrten
niedergeschlagen zurück. Die Lust zu weiteren Besuchen

war ihnen vergangen.
Sölve hatte auch mit sich genug zu tun, denn ihr Kummer
über die Unzugänglichkeit des Gatten wurde immer größer.
Nicht, daß er sie etwa vernachlässigt hätte. Im Gegenteil, er
war aufmerksam und ritterlich zu ihr, verwöhnte sie mit
Geschenken, tat alles, was er ihr nur an den Augen ablesen
konnte – nur seine Person umgab er mit einem Wall, der
nichts an sie heranließ.
Sölve, die wahnsinnig darunter litt, wollte so manches Mal
mutlos werden. Und da war es die erfahrene Tante, die sie
immer wieder aufrichtete.
Die kluge Frau wußte längst, warum er sich so verschloß,

und litt mit den ihr liebsten Menschen. Die Angelegenheit
war so überaus zart, daß man sie nicht in Worte fassen
durfte, wollte man nicht alles noch schlimmer machen, als
es ohnehin schon war.
An einem sonnigen Wintertag stand Götterun in seinem
Arbeitszimmer am Fenster und schaute auf die Anlagen
hinunter, die das Schloß von dem riesengroßen
Wirtschaftshof trennten. Da sah er Sölve kommen. Sie war
im Reitdreß. Wie das lachende sprühende Leben, so kam
sie daher – rassig, gertenschlank, die Hände in den
Hosentaschen und das Mützchen verwegen auf dem

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schönen Haar.
Rechts und links trabten die beiden großen Hunde,

während die beiden kleinen Bösewichter laut kläffend
voranjagten. Sölves frisches Lachen, mit dem sie ihnen
wehrte, klang bis zu ihm herauf.
Es war ein erfreuliches Bild, das sich seinen Augen bot –
und doch stöhnte der Mann auf und drückte seine Augen
in die Hände, die den Fensterknauf umspannten.
Am Abend saß Sölve wie so oft am Flügel, spielte und sang.
Sie war stets dazu bereit, weil sie wußte, wie sehr Jobst ihre
musikalischen Darbietungen liebte. Sie waren beide allein;
denn Frau Fröse hatte sich bereits zurückgezogen.
Der Mann lauschte regungslos.
Es entging Sölve nicht, daß er immer wieder die Zähne wie

in jähem Schmerz zusammenbiß. Schließlich brach sie ab
und trat zu ihm, seine Schulter umfassend.
»Jobst, quält dich etwas?« fragte sie leise.
Er streifte ihre Hand ab – und da straffte sie sich hoch. All
der Stolz, den sie immer wieder tapfer niedergezwungen
hatte, ließ sich bei dieser schroffen Abweisung nicht mehr
beschwichtigen. Heiß flammte er zu voller Größe auf. Er
sprühte in ihren Augen, machte das Antlitz eisig und starr.
»Jobst, was habe ich dir getan, daß du mich stets
zurückweist? Weißt du denn gar nicht, wie mich deine
ganze Art demütigen muß? Ich möchte nun endlich einmal
klarsehen, möchte wissen, was du gegen mich hast.«

»Setz dich, Sölve.«
»Nein!«
Betroffen sah er in ihre blitzenden Augen hinein – dann
winkte er müde ab.
»Sölve, seit wann bist du trotzig? So kenne ich dich ja gar
nicht.«
»Nein, leider! Du bist gewohnt, mich nach jedem Fußtritt
gleich wieder wie einen treuen Hund zu deinen Füßen zu
sehen.«
Er sprang auf, wollte ihre Schulter umfassen und sie in den
hinter ihr stehenden Sessel drücken, doch sie wehrte ab.

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»Laß mich – du -! Wenn ich dich nicht berühren darf, dann
darfst du es auch nicht.«

Er ließ sich in seinen Sessel zurücksinken, und sie nahm
nun doch ihm gegenüber Platz.
»Sölve, laß es uns kurz machen: denn was ich dir sagen
muß, wird mir zur Qual. Weißt du, warum ich nicht mehr
heiraten wollte?«
»Ja.«
»Du weißt auch, warum du meine Frau wurdest?«
»Ja.«
»Sölve, muß ich wirklich weiter sprechen?«
»Ja«, verlangte sie kalt. »Ich habe mir ja schon so vieles
anhören müssen, warum nicht das noch?«
»Es wäre ein Unglück. Für mich und auch für – dich.«

Todblaß saß sie vor ihm. Die blauen Augen erschienen fast
schwarz vor Erregung.
»Du willst, – daß – ich – gehe?« rang es sich mühsam von
den zuckenden Lippen.
»Sölve, du darfst mich doch nicht mißverstehen«,
entgegnete er gequält. »Sieh, Kind, du bist ein so
wundervolles Geschöpf, das dazu geschaffen ist, glücklich
zu machen und glücklich zu sein. All diese Gaben hat dir
die Natur in verschwenderischem Maße mitgegeben. Und
ich – Sölve – ich habe dir nichts zu bieten. Ich habe daher
kein Recht, dich zu halten. Das wäre ein sträflicher
Egoismus.

Ja, die andere Sölve, die elende, kranke, die hätte ich bei
mir behalten dürfen. Mit gutem Recht. Aber diese Sölve
nein -!«
Es war, als hätte sie gar nicht auf seine Erklärungen gehört.
Nur ein Gedanke schien in ihrem Hirn zu kreisen, den sie
nun aussprach:
»Du liebst – mich – nicht -?«
»Nein!« sagte er hart, und sie zuckte wie unter einem Hieb
zusammen. Sekundenlang saß sie unbeweglich, den Kopf
gesenkt, die Hände in die Seitenlehnen des Sessels gekrallt.
»So«, sagte sie endlich ganz tief und rauh. »So! Du willst

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mir also die Heimat nehmen, nur weil ich gesund bin? Bin
ich dir nicht von Anfang an nachgelaufen wie ein Hund?

Lasse ich mich nicht von dir quälen und demütigen, ohne
mich zu beklagen? Habe ich meinen Stolz nicht immer
wieder niedergerungen, so sehr, daß es meiner schon
unwürdig ist? Und alles, damit ich nur bei dir bleiben
darf.«
»Mein Gott, Sölve – so ist es doch nicht – so doch nicht -!«
Er war ebenso blaß wie sie. Saß in seinem Sessel wie
sprungbereit und wagte doch nicht, sich ihr zu nähern.
»Wenn du bleiben willst – ich wäre ja so froh! Aber glaube
mir, es wird die Zeit kommen, wo du von selbst von mir
gehen willst.«
»Ach, laß – ich verstehe dich ja – «, wehrte sie mit einem

Lächeln, das weh genug ausfiel. »Aber mich wegschicken,
nein, das darfst du nicht. Das wäre mein Tod.«
Langsam erhob sie sich und ging davon. Warf sich in ihrem
Schlafzimmer über das Bett und weinte, weinte – wie nur
ein Mensch weinen kann, der maßlos gedemütigt wurde –
und dem das Herz so bitter weh tut.

Frau Sölve, rufe die Ross’ herbei,

es gibt ein fröhliches Reiten.
Und das Herz wird dein,
das Herz allein,
um das es sich lohnet zu streiten.

Sölve stand in ihrem Ankleidezimmer vor dem Spiegel.
Entzückend sah sie aus in dem Jagddreß. Wie angegossen
saßen der rote Frack, die schwarze Hose, die glänzenden
Lackstiefelchen. Keck saß die schwarze Samtmütze auf den
bernsteinhellen Locken, die hie und da neugierig
hervorlugten. Diesen Anzug hatte sie am Morgen nach der
qualvollen Aussprache in ihrem Wohnzimmer gefunden.
An den Aufschlag des Fracks geheftet, prangte ein
funkelnder Armreif, durch den eine rote Rose gesteckt war.
Auch ein Brief lag dabei, dessen Inhalt sich ihrem Herzen

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eingegraben hatte.

»Vergib mir, süße kleine Sölve, ich bitte Dich! Ich gebe Dir mit
diesem Geschenk etwas Köstliches, das einst Konstanze gehörte.
Trage es zu Deinem Fest, das in vier Tagen stattfinden soll, Du,
die Herrin von Uhlen – die Du sein sollst, solange Du willst,
Jobst.«


Da hatte ihr müdes, zerrissenes Herz wieder aufgejubelt.
Und nun stand sie hier und trug das wertvolle Geschenk,
das nach kleinen Änderungen so wunderbar paßte. Ihre
Augen lachten und blitzten.

»Frau Sölve, rufe die Ross’ herbei,
es gibt ein fröhliches Reiten«,


sang sie übermütig.

»Und das Herz wird dein,
das Herz allein,
um das es sich lohnet zu streiten.«

Jawohl, ein Streiten mit allen Waffen. War sie nicht eine
echte Eva, ausgestattet mit allen Reizen, die einen Mann
betören können? Sollte sie diese Waffen brach liegen lassen
und sich damit um das Köstliche bringen: um den
heißgeliebten Mann?

Warte nur, du sollst schon noch in den Apfel beißen, den
dir deine Eva reicht.
Es klopfte, und der Gatte trat ein. Genauso gekleidet wie
sie.
»Donnerwetter!« entfuhr es ihm.
»Gefalle ich dir?«
»Gefallen ist gar kein Ausdruck. Ich fürchte nur – «
»Was denn?«
»Die Antwort würde dich zu klug machen, mein kecker
Page. Aber schau einmal zum Fenster hinaus. Vielleicht

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gefällt dir, was du da erblicken wirst.«
Unten stand ein Pferd, ein Goldfuchs.

»Für mich -?« fragte sie atemlos.
»Für dich. Und weißt du auch, wie es heißt?«
Sie sah ihn fragend an.
»Bernsteinhexe.«
»Meinen Namen!« jubelte sie hinaus. »Ist gut, daß du mich
an den erinnerst.«
»Nun ist es an mir, neugierig zu sein – «
»Und an mir, mit derselben Antwort aufzuwarten wie du
vorhin.«
»Du scheinst deinen Namen nicht umsonst zu tragen – «
»Das walte Gott – «, war die mysteriöse Antwort. Unten
klang das Jagdhorn auf, da reichte er ihr den Arm:

»Auf, auf, Herrin – frischauf zum fröhlichen Jagen!«
In der Halle trafen sie Frau Fröse, die auch im Jagddreß
war. Als Gattin eines Offiziers hatte sie früher viel Jagden
mitgeritten und nun nach langer Zeit den Dreß wieder
hervorgeholt. Nur trug sie statt der Hose einen Reitrock.
»Tante Marga!« jubelte Sölve. »Du bist ja so schön – und so
jung!«
»Danke, du Ungestüm«, lachte sie, dem Anprall auf ihre
Person tapfer standhaltend. »Das Kompliment kann ich dir
zurückgeben. Ihr Jäger, nehmt euer Herz in acht.«
Die ersten Gäste erschienen, und es gab ein frohes
Begrüßen. Immer mehr kamen herbei, so daß zuletzt eine

stattliche Anzahl beisammen war. War es doch das erste
größere Fest, das man nach der Heimkehr des Herrn in
Uhlen gab, da wollte keiner der Geladenen fehlen.
Die Jagd begann, und Sölve, die ihr neues Roß bald gut
und sicher unter der Faust hatte, jagte wie ein kleiner
Kobold umher. Man fand sie bezaubernd, berückend und
beglückwünschte den Jagdherrn zu dieser Frau.
Nur er schien das nicht zu sehen. Seine düstere Miene
wollte nicht zu diesem Fest passen.
Natürlich fanden sich Herren genug, die dieser Herrin auf
Leben und Tod den Hof machten. Und siehe da, es stellte

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sich heraus, daß diese ihre ohnehin gefährlichen Augen
recht gut zu gebrauchen verstand. Das schien tatsächlich

eine Bernsteinhexe zu sein.
Nach der Jagd kam das »Kesseltreiben«, das Einnehmen der
obligaten Erbsensuppe, und abends folgte der Ball.
Als Sölve ihr Ankleidezimmer betrat, um sich für den Ball
umzukleiden, wartete ihrer eine Überraschung. Eine
märchenhafte Toilette mit passendem Schmuck lag bereit.
Mit so großer Freude schlüpfte sie hinein, wie
Aschenbrödel es getan haben mochte.
Wieder stand sie vor dem Spiegel und betrachtete kritisch
ihr Bild. Schön wollte sie sein – schön und noch schöner!
Schön wie Aschenbrödel. Als der Gatte sie holen kam, hob
sie schüttelnd die Arme.

»Bäumchen, rüttle dich und schüttle dich, wirf Gold und
Silber über mich – «, sang sie übermütig und versank dann
vor ihm in einem Knicks.
»Dein Aschenbrödel wartet, mein Prinz.«
Voll heimlichen Entzückens ruhte ihr Blick auf seiner
distinguierten Gestalt in Jagduniform, die er zu Ehren des
Festes trug. Nur seine Augen blickten so finster, daß sich ihr
eben noch so freuderfülltes Herz schmerzend
zusammenzog.
»Mißfalle ich dir?« fragte sie beklommen.
»Mißfallen tut mir dein gefährliches Flirten.«
»Aber, Jobst, das ist doch so harmlos.«

»Von dir aus, ja. Aber die Männer fassen das anders auf. Du
verstehst deine Augen nämlich zu gebrauchen, daß ihnen
angst und bange werden muß. Und dann und überhaupt –
ein solches Kokettieren paßt nicht zu einer Baronin
Götterun.«
Das hätte er nicht sagen sollen, denn es verletzte sie tief.
Und wenn sie verletzt war, dann wurde sie trotzig, ganz
unvernünftig trotzig. So war es bei ihr von Kindheit an
gewesen.
Ja, wenn er sie würde gebeten haben so ganz klein wenig
nur. Aber dieser unverdiente Vorwurf, der wie ein Schlag

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ins Gesicht war – nein, der hätte nicht kommen dürfen.
Sie sah ihn mit einem Blick an, in dem Trotz, Schmerz und

tief verletztes Empfinden zu lesen stand – drehte sich um
und verließ das Zimmer. Alle Freude war dahin, und doch
war sie die Lustigste auf dem Ball. Sie benahm sich
tadellos, das mußte auch der kritischste Beobachter
feststellen.
Und doch wurde die Miene des Gatten immer finsterer. Er
kümmerte sich überhaupt nicht um sie. Noch nicht einmal
getanzt hatte er mit ihr, was in dem Trubel allerdings nicht
auffiel. Sie konnte das alles kaum noch ertragen. Ihr Mund
lachte, während das Herz weinte.
Als die Feststimmung ihren Höhepunkt erreichte, wählte
man den Jagdherrn und seine Gattin zu Jagdkönig und

Jagdkönigin. Seines Sträubens nicht achtend, wurde ihm
die Krone aufs Haupt gedrückt, was sich Sölve lachend
gefallen ließ. Unter den Klängen des Jägermarsches stellte
man sich zur Polonaise auf, die Gekrönten vorweg. Dazu
sang man eifrig den Text mit:
»Ich schieß den Hirsch im wilden Forst, im tiefen Tal das
Reh – «
Wie eine Elfe schwebte Sölve am Arm des ernsten, stillen
Mannes dahin. Es fiel ihm gar nicht ein, ihre Hand, deren
Fingerspitzen kaum fühlbar auf dem Ärmel seiner grünen
Joppe lagen, fester an sich zu ziehen. Korrekt, wie ein
Fremder, schritt er neben ihr her.

Und korrekt tat er auch den anschließenden Tanz ab. Seine
heute so hartglitzernden Augen schweiften über ihr Haupt
hinweg. Sölve hätte aufschreien mögen, so tat ihr das Herz
weh.
Aber gottlob geht ja alles einmal vorüber. So auch dieses
Fest, das für Sölve zur Qual wurde. Endlich war sie im Bett,
löschte das Licht und weinte sich müde und matt. Die
brennenden Augen in die Kissen gedrückt, schlief sie
endlich ein. Und Frau Nornes Spinnrad sang lind und
tröstend in diesen Schlaf…
Das Herz wird dein, das Herz allein, um das es sich lohnet

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zu streiten.
Da stahl sich ein zaghaftes Lächeln um die Lippen des

zerquälten jungen Weibes.

Prinz Karneval, rühre die Trommel zum Tanz,
es gilt heute
mehr als ein Mummenschanz,
es gilt,
zwei Herzen, die bitter weinen,
noch heut zu vereinen.

Am nächsten Morgen war alles wieder wie immer. Man
fand sich, wenn auch verspätet, zum Frühstück zusammen,
plauderte froh und angeregt.
Und doch herrschte eine Spannung, wenn auch kaum
fühlbar. Es schien zwischen den Gatten eine Mauer
emporzuwachsen, die zur unüberwindlichen Höhe steigen

mußte, wenn man sie nicht rechtzeitig niederriß. Ein Satz
nur hatte den Grundstein zu dieser Mauer gelegt, im
warnenden Ton gesagt, im stolzverletzenden Sinne
aufgefaßt. Ein erklärendes Wort wurde hier nicht
gesprochen, dort nicht verlangt – und es hätte doch so viel
Kummer verhüten können.
Sölve litt unsagbar unter dem allen. Ob er es auch tat? Ja,
das war nicht zu ergründen. Ruhig und ernst ging er durch
seine Tage, verändert. Vielleicht war sein Gesicht noch
härter geworden, seine Art noch ein wenig schroffer, aber
das war auch alles. Er verwöhnte seine Frau noch mehr als
sonst, überschüttete sie mit Geschenken. Sorgte für Theater-

und Kinokarten, nahm Einladungen an, arrangierte
Schlittenfahrten mit anschließendem Tanz, sorgte
jedenfalls für Abwechslung aller Art.
Und das alles hätte Sölve hingegeben für ein herzliches,
liebevolles Wort von ihm.
Als Jörn und Ricarda endlich von ihrer Hochzeitsreise
zurückkehrten, da wurde es für Sölve noch schlimmer. Das
Glück strahlte den beiden nur so aus den Augen. Es war
eine Freude, mit anzusehen, wie eins im anderen aufging.
Das war Glück, reines, volles Glück. So glücklich würde sie,

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Sölve, niemals sein.
Und warum? Weil der Mann, den sie so unsagbar liebte,

Hirngespinsten nachjagte und einer Einbildung lebte, die
ihm jede Lebensfreude nehmen mußte. Wenn er sie geliebt
hätte, dann wäre dieser starre Grundsatz vielleicht zunichte
geworden. Aber ihre ganze Art sagte ihm wohl nicht zu. Sie
war ja nicht einmal wert, Baronin Götterun zu sein, die
Trägerin seines alten, untadeligen Namens. Ins Schlößchen
mochte sie gar nicht gehen. Sie konnte das Glück der
Gatten dort nicht sehen.
»Was fehlt Ihnen, Frau Sölve?« fragte Jührich, als er sie
einmal allein antraf. »Sie sind jetzt immer so blaß und
still.«
»Ach, das haben Ihre Augen bemerkt?« spottete sie bitter.

»Nicht so, Frau Sölve«, bat er leise. »So liebesselige Augen
haben Ricarda und ich nicht, um Ihre Veränderung nicht
zu sehen.«
»Sind Sie glücklich, lieber Freund?« wich sie hastig vom
Thema ab.
»Ja, Freundin Sölve, ich bin es – aber Sie nicht«, beharrte er
hartnäckig. »Ich liebe meine süße Rosenrot aus tiefstem
Herzengrund. Sie macht mich unsagbar glücklich. Daher
möchte ich auch Sie glücklich sehen.«
»Nicht – «, wehrte sie gequält ab. »Ich weiß, Sie meinen es
gut – aber lassen Sie mich nur.«
Damit mußte er sich zufriedengeben.

Am Tage nach dem Rosenmontag sollte in der
naheliegenden Stadt ein Maskenball steigen, zu dem alles,
was einen Namen hatte, geladen war.
Sölve wollte nicht mitmachen, doch Ricarda ließ nicht eher
nach, bis sie sie dazu überredet hatte.
»Das ist recht, mein Kind«, lobte Frau Fröse, als sie von
Sölves Entschluß hörte. »Es wird eine gute Aufheiterung für
dich sein.«
»Eigentlich tut es mir jetzt schon wieder leid, Ricardas
Drängen nachgegeben zu haben«, seufzte sie. »Was soll ich
unter fröhlichen Menschen?«

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»Sag mal, wie alt bist du eigentlich, du leidverklärte
Greisin? Da sollte man doch wirklich die Hände über dem

Kopf zusammenschlagen bei solch einem Getue!«
»Schilt nicht, Tante Marga. Wenn ich nun schon
mitmachen muß, so laß uns beraten, welche Kostüme wir
wählen sollen.«
»Wir -?« kam es befremdet zurück.
»Natürlich. Oder willst du etwa nicht mitkommen?«
»Sölve, sei doch vernünftig. Was soll ich alte Frau auf
einem Maskenball? Da möchten ja die Möwen lachen.«
»Du und alt? Darüber lachen höchstens die Möwen. Du
mit deiner jugendlichen Gestalt – «
»Und dem Runzelgesicht – «, warf sie lachend ein.
»Hast du ja gar nicht. Komm mit, Tante Marga – mir

zuliebe.«
»Aber, herzliebstes Kind, brauchst du denn eine
Kinderfrau?«
»Pfui, Tante Marga! Ohne dich macht mir das Fest
überhaupt keine Freude.«
»Na schön, du Quälgeist. Ich bitte mir aber aus, daß du
dann lustig und vergnügt bist. Deine Trauermiene in den
letzten Wochen war schon gar nicht mehr mitanzusehen.«
»Du weißt ja warum, Tante Marga.«
»Nein, das weiß ich nicht. Du bist doch sonst so tapfer,
mein Kind. Und hier, wo es um dein Lebensglück geht und
das des geliebten Mannes, da versagst du.

Ja, sieh mich nur groß an, es ist schon so, wie ich sage. Mit
Trotz und verletztem Stolz erreichst du bei diesem Mann
gar nichts. Höchstens, daß er sein Herz immer mehr
verschließt. Seinen starren Grundsatz kann nur Liebe,
immer nur Liebe erschüttern. Die Liebe ist die stärkste
Waffe der Frau, das solltest du dir merken.«
»Da soll die Liebe standhalten, wenn man hören muß, daß
man nicht würdig ist, eine Baronin Götterun zu sein?«
»Ach, du süßes, kleines Schaf -!« lachte Frau Fröse und
küßte sie herzlich. »Fang womöglich noch zu heulen an
über deine Unvernunft. Hast recht, laß uns beraten, mit

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welchem Mummenschanz wir Prinz Karneval imponieren
wollen.«

Das rüttelte Sölve auf. In ihrem Eifer wurde sie fast so
fröhlich wie früher. Der Gatte sah das alles lächelnd mit an
und öffnete seine Börse weit.
Endlich war der ersehnte Abend da.
Das Auto brachte die drei Uhlener rasch und sicher an die
Stätte, wo der Narrenprinz sein Zepter schwang.
Jobst kannte die Kostüme seiner Damen nicht. Er trug
einen seidenglänzenden Domino über dem Frack, dessen
Aufschlag eine Riesenchrysantheme schmückte. Ein rundes
Seidenmützchen mit einer ellenlangen, schillernden Feder
zierte den rassigen Kopf. Er sah so elegant und apart aus,
daß er gleich bei seinem Eintritt in dem Festsaal von

Masken aller Art umringt wurde. Längst verschüttete
Lebensfreude wagte sich langsam hervor, und bald war er
von der jauchzenden Lust, die ihn umbrauste, so
eingesponnen, daß er sich zuerst mitreißen ließ und dann
allmählich fröhlich mitmachte.
Als die umringenden Masken ihn ein wenig freigaben,
spähte er nach den Seinen aus. Tante Marga glaubte er bald
in der pompösen Tracht der Madame Pompadour erkannt
zu haben. Schmunzelnd sah er ihre Erfolge.
Aber wo war Sölve? Das herauszufinden, war nicht so
einfach. Dieses entzückende rotseidene Teufelchen war
Ricarda, und der Freund verkörperte das Gegenstück.

Lachend tollten sie durch die Menge.
»Kleine Möwe, flieg nach Helgoland – «, klang es da auf.
Sich umwendend, bemerkte er eine Maske, die
unverkennbar eine Möwe darstellte. Weißschimmernd wie
frisch gefallener Schnee gleißte das Gewand, das einem
Möwengefieder gar ähnlich war. Die Möwenflügel streckten
sich auf dem weißhaarigen Köpfchen, und lachend blau
blitzten die Augen durch die Löcher der weißen
Seidenmaske.
Mein stolzer Vogel, dich werde ich schon fangen, dachte er
übermütig. Und wirklich gelang es ihm, sich nach vielen

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Hindernissen zu ihr durchzuschlängeln, die sehr umringt
war. Unzählige weiße Arme mußte er von seinem Nacken

lösen, bis er endlich frei war.
Dann stand er vor ihr und nahm sie ganz einfach einem
Raben aus dem Arm, der zwar wundervoll zu ihr paßte,
nun aber traurig davonflattern mußte. Denn mit diesem
großen Domino anzubändeln, das schien dem Männlein
nicht ratsam.
»Nun, meine weiße Möwe, amüsierst du dich?« fragte er
lachend und merkte, wie sie in seinem Arm
zusammenfuhr.
»Ja, mein Kind, da hättest du schon eine andere Maske
wählen müssen, wenn du unerkannt bleiben willst. Dein
Wahrzeichen zu verkörpern, ist leichtsinnig.

Komm, mein Schatz, und küsse mich, küß mich auf den
Mund. Schaden kann’s gewisse nicht, denn küssen ist
gesund – «, sang er den Text des Schlagers mit und drückte
zur Bekräftigung seine Lippen auf den Mund, der blutrot zu
ihm emporleuchtete.
»Jobst, was ist dir?« fragte sie zaghaft. »Bist du etwa
berauscht?«
»Jawohl, von der Freude ringsum. Laß sie uns bis zur Neige
auskosten, mein stolzer, schneeweißer Vogel. Denn heut ist
heut, der Abglanz des Rosenmontags und morgen ist
Aschermittwoch. Doch der liegt so fern, so weltfern. Heut
sind noch die Stunden der Rosen!«

Eben klang die Barkarole aus »Hoffmanns Erzählungen«
auf. Leise und betörend sang er ihr die Worte ins Ohr, sie
so fest an sich pressend, daß sie sein Herz fühlte. Wie im
Traum schwebte sie in seinem Arm dahin, der sie so
elegant und sicher durch die schwankende Menge führte,
ganz der vornehme Weltmann, der sich auf dem
spiegelblanken Parkett zu Hause fühlt.
Und wenn das Herz der silberweißen Möwe diesem halb
ritterlichen, halb arroganten Domino nicht längst gehört
hätte, so wäre es ihm heute restlos verfallen.
Unermüdlich tanzten sie. Hatten wohl beide den gleichen

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Wunsch, für alle Zeit so dahinzuschweben. Sich die Sinne
verwirren zu lassen von der Narrenwelt ringsum,

dahinzuträumen bei der zärtlichen Tanzweise, ohne an ein
Morgen zu denken, dem Heute wie verzaubert.
Jung fühlte er sich heute, köstlich jung. Wie damals, da er,
die entzückende Elga im Arm, dahingeschwebt war. Was
dazwischenlag, war ausgelöscht.
Dann wurde die Möwe vom Teufel geholt, der höhnisch
lachend mit seiner Beute davonflitzte. Dafür schmiegte sich
die grazile Teufelin in seinen Arm.
Auch gut, dachte er und drückte sie fest an das heute so
närrische Herz.
»Komm, mein Teufel, kleiner Teufel, süßer rosenroter
Teufel«, sang er seinen eigenen Text nach der

einschmeichelnden Melodie. Schwenkte die
Höllenbewohnerin voll Grazie und Schneid umher. Und
warum leuchteten die jungroten Lippen so verführerisch zu
ihm empor? Da mußte er sie eben küssen.
»Baron von Götterun – ich glaube, Sie benehmen sich – «
»Hol ihn, Teufel, kleiner Teufel, süßer rosenroter Teufel,
hol das arg verrückte Huhn, hol den Jobst von Götterun –
«, sang er unentwegt weiter.
Und: »Laß ihn sausen, laß ihn brausen, ihn in seiner Klause
hausen, dich hole ich am Ultimo, mein eleganter Domino
– «, kam die lachende Antwort.
»Nun sehen Sie sich bloß die beiden an«, sagte die Möwe

zum Teufel, mit dem sie sich lustig drehte. »Sie singen und
lachen wie die Kinder. Jetzt tanzen sie sogar einen Galopp
zur Walzermelodie, durchfegen den Saal von einer Ecke zur
andern. Was ist bloß in Jobst gefahren? Bei dem
plötzlichen Umschwung kann einem ja angst und bange
werden.«
»Er ist zu köstlich in seinem Faschingstaumel«, lachte der
Teufel. »So war er einst immer, kleine Möwe, bevor ihn das
Schicksal duckte und trat. Aber Sie wollen zu diesem
Schwerenöter im Domino gar nicht passen, wenn Ihre
Gewandung in ihrer unantastbaren Weiße auch

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bezaubernd ist.«
»Da haben Sie recht. Aber wie konnte ich auch ahnen, daß

der schwerfällige Jobst sich so bedingungslos dem Zepter
des Narrenprinzen unterwerfen würde? Das hat jedoch
unsere hellseherische Tante Marga gewußt und wieder
einmal vorgesorgt.
Sehen Sie, jetzt hat er unsere Madame Pompadour
erwischt. Wie er sich vor ihr verneigt im höfischen
Zeremoniell. Und was hat er nun vor -?«
»Kapelle, ein Menuett -!« forderte seine herrische Stimme.
Schon klang eine galante Weise auf und der Domino tanzte
mit Madame ein graziöses Menuett.
»Wer schließt sich dem Ehrenreigen der Pompadour an?«
wurde man höflich aufgefordert – und schon traten die

Paare zierlich und kokett in die Reihe.
Sölve wollte sich ausschütten vor Lachen, was sich da alles
zusammenfand und ernst und feierlich dahinschritt. Selbst
ein Storch stolzierte umher, ein Kakadu, eine Maus, ein
Schornsteinfeger, Don Quichotte, Landsknecht und Teufel,
Bacchantin und Nonne, alles machte todernst mit. Die
rotseidene Teufelin wurde vom Götterknaben Amor geführt
– und vorweg in vorbildlicher Grazie Madame Pompadour
und der galante Domino.
»O du goldige Tante Marga!« jubelte Sölve. »Ist sie nicht
köstlich?«
»Das ist sie – «, wurde inbrünstig bestätigt.

Nun gab es eine neue Sensation, und das Menuett versank
wie ein Schemen. Der Domino ging auf weitere Abenteuer
aus, während Sölve aus dem Saal schlüpfte.
Bald darauf ertönte wieder ein Hallo, die Musik spielte
einen Tusch – und durch den Saal fegte auf
silberglänzendem Besen mit langem Stiel eine glitzernde,
gleißende Maske.
»Bernsteinhexe – «, jubelte es ringsum. Und tatsächlich war
diese in berückender Weise verkörpert. Bernsteinübersät
war das Kleidchen aus meerblauer bauschiger Gaze.
Bernsteinfunkelnd die Schuhe, die Strümpfe.

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Bernsteinketten klirrten an den Gelenken, schlangen sich
um den Nacken, selbst die Atlasmaske zeigte die Farbe des

Meergoldes. Und die Haare.
»O du mein kleines, süßes, raffiniertes Hexlein«,
schmunzelte Götterun vergnügt. Rücksichtslos bahnte er
sich den Weg durch die Menschenmenge, ergriff sein
lachendes Hexchen und tanzte mit ihm davon, bis sie
beide außer Atem waren. Sekt wollte es trinken, was gern
gewährt wurde.
»Es lebe Prinz Karneval und die Maskenfreiheit -!« ließ er
sein Glas behutsam an das ihre klingen, holte sich den
Champagnersold von ihren süßen Lippen.
»Domino, nimm dich in acht, das Hexengold verbrennt
dein Herz -!« drohte sie unheimlich, doch er lachte

leichtsinnig und tanzte mit ihr aufs neue davon.
»Hexlein, o wie irrst du dich, dies Panzerherz verbrennst du
nicht – «, sang er seine alte Tour. Tanzte weiter, immer
weiter, als hätte er die Tanzschuhe des Mädchens aus dem
Märchen an den Füßen. Wenn sich Sölve verschnaufen
mußte, holte er sich andere Masken. Wahllos.
Viel zu schnell gingen die schönsten Stunden vorüber, und
als sich der Zeiger der Uhr der Mitternacht näherte, dachten
die drei Uhlener an die Vereinbarung, vor der
Demaskierung zu verschwinden. Und als ein Fanfarenstoß
diese verkündete, fuhr das Auto von Uhlen unten an.
Aber noch war für sie der Mummenschanz nicht zu Ende.

Starr vor Staunen stand Götterun in dem kleinen Festsaal
des Schlosses, der ein närrisches Aussehen hatte. Jubelnd
eilten die Gäste, die außer den Jührichschen Gatten noch
aus fünf weiteren Ehepaaren bestanden, dem Gastgeber
entgegen. Für die Madame war sogar der Ludwig gefunden.
»Madame, Sie haben sich heute wieder einmal selbst
übertroffen«, verbeugte sich der Domino galant. »Das Amt
einer Hofmarschallin im Hexenreich versehen Sie mit
Grazie. Ich lege Ihnen mein Herz zu Füßen.«
»Das begehre ich nicht, o Domino«, tat sie hoheitsvoll ab.
»Wenn ich all die Rendezvous besuchen wollte, zu denen

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man mich heute bestellt, dann könnte ich für die nächste
Zeit meinen Sitz an der Normaluhr des Marktplatzes

aufschlagen.«
Jubelnd wurde sie umringt. Doch mit majestätischer
Bewegung scheuchte Ludwig die Aufdringlichen zurück.
»Ihr Pöbel, belästigt meine Geliebte nicht. Sie hat euch
etwas zu verkünden.«
»Das Hexenreich beherbergt seine Gäste bis zum grauen
Aschermittwoch. Und dann – husch, husch ins Körbchen!«
Das gab dann noch eine jubelnde Fröhlichkeit bis in den
frühen Morgen. Dann lag der Saal plötzlich schwarz und
totenstill da. Wie mit Zauberschlag war aller
Mummenschanz dahin.
Frau Marga schlich leise davon, und die Gatten standen

sich allein gegenüber. Da zog er sie wieder in seine Arme,
tanzte mit ihr davon, in die anstoßenden Räume hinein.
Im Vorübergleiten löste er den Knopf des Rundfunks, und
von irgendwo tönte ihnen Tanzmusik entgegen. Zärtlich
klangen die Weisen, in ihrem Takt wiegte sich das
Tänzerpaar, Auge in Auge, Herz an Herz. Die blutroten
Lippen halb geöffnet, um Augen und Mund ein
verheißungsvolles Lächeln, so schwebte es, von seinem
Arm fest umschlungen, dahin, das bernsteinfunkelnde
Hexlein, das in der dämmernden Beleuchtung überirdisch
schön aussah.
»Laßt uns heute glücklich sein, heut ist heut, zum

Trübsalblasen, liebe Leut, ist morgen Zeit, morgen Zeit – «,
sang sie leise den Text des Schlagers mit. Sie befand sich
wie in einem Traum, aus dem sie nie mehr erwachen
wollte.
»Heut ist heut – «, lockte es zu dem Mann empor, in dessen
Augen es heiß flimmerte.
»Hexlein, ich warne dich – «, raunte er. »Mach deine Augen
zu. Sie brennen mir ins Herz wie eine blaue Flamme. Deine
Haare schimmern wie Hexengold, deine Zähne schimmern
wie Perlen auf dem Meeresgrund. Deine Arme wie die der
Nixen, die den Wanderer hinunter ins Verderben ziehen.

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Nixlein, ich warne dich -!«
»Wer das Glück nicht halten mag, der klage nicht und

jammere nicht danach, wer den rechten Augenblick
versäumt, hat ausgeträumt – «, lockte es im Rundfunk
weiter.
Da preßte er seine Lippen heiß auf ihren Mund.

Herz, weine nicht, sei still, wir sind jetzt beide müd,
was wir erleiden müssen, das ist das alte Lied.
Ein altes Lied, von Lieb und Leid,

ein altes Lied, voll Traurigkeit.
Wenn manches Herz dabei auch bricht,
du darfst es nicht.

Am Vormittag durchflutete strahlende Wintersonne das
Gemach, in dem Sölve sanft schlummerte. Die Strahlen
umtanzten die Schläferin, bis sie blinzelnd die Lider hob,
hellwach wurde und den großen Rosenstrauß entdeckte,
der auf der meerfarbenen Daunendecke lag.
»Jobst – «, lächelte sie glücklich, indem sie nach dem Brief

griff, der in den Blumen steckte.
Doch kaum hatte sie die wenigen Zeilen gelesen, da verlor
das heißerglühte Gesicht alle Farbe. Es war ja auch
erschreckend genug, was da stand: »Aschermittwoch ist’s,
meine weiße Möwe, Aschermittwoch für mich. Dir laß die
Rosen ihn durchduften wie einen Rosenmontag, ich büße
für uns beide. Ich komme wieder, wenn ich kann.
Jobst.«
Fort ist er, fort – das war alles, was Sölve zuerst denken
konnte. Er ist weggegangen von mir – nach dieser Stunde.
Nun sei still, du armes Herz, und weine nicht, sei ganz still.
Denn Tränen dürfen wir nicht haben für diesen Mann,

hörst du? Aber wann hört das Herz danach, was man ihm
sagt? Vorläufig tat es wieder einmal so erbärmlich weh, daß
sich die Tränen ungewollt einstellten.
Aufstöhnend drückte sie das Gesicht in die Kissen und
merkte daher nicht, wie Frau Fröse das Zimmer betrat. Erst

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als diese sie anrief, hob sie den Kopf.
»Tante Marga – «, schluchzte sie so verzweifelt, daß sich

diese zu ihr auf das Bett setzte und den zuckenden Körper
in ihre Arme nahm.
»Weine nicht, mein Liebstes, es wird bestimmt noch alles
gut«, versuchte sie zu trösten.
»Nichts – wird – gut – «, kam es unter heftigen Herzstößen.
»Du weißt ja nicht, was geschehen ist. Lies den Brief – «
Frau Marga überflog die Zeilen.
»Er wird wiederkommen, Sölve – «
»Und was wird dann? Ich habe schuld, Tante Marga – ich
allein.«
»Rede dir das doch nicht ein, mein Kind. Es mußte einmal
so kommen, das habe ich längst vorausgesehen.«

»Und jetzt – jetzt schenkt er mir Rosen – wie einer
verabschiedeten Geliebten – «
»Pfui, Sölve, das war häßlich. Was meinst du wohl, mit
welchen Gewissensbissen sich nun der arme Mann
herumplagt? Die machen ihm bestimmt das Leben zur
Hölle. Deine Not ist winzig klein, gemessen an der seinen.«
»Tante Marga – ich muß fort – «
Nun nahm Frau Marga das heißgeweinte Gesicht in ihre
Hände und hob es zu sich empor.
»Sölve, du willst dich feige den Konsequenzen entziehen?«
fragte sie tiefernst. »Hast du nicht selbst gesagt, daß du die
Hauptschuld trägst?«

»Das ja – «, gab sie niedergeschlagen zu. »Er wird aber
erwarten, daß ich gehe.«
»Den Unsinn mußt du dir nicht einreden. Soweit ich ihn
kenne, wird er es als seine einfachste Pflicht ansehen, dich
unter allen Umständen zu halten. Außerdem hat er dich
viel zu lieb, um dich noch von sich lassen zu können. Wir
wollen daher gar nichts unternehmen, sondern geduldig
warten, bis er wiederkommt. Er hat stets einen Ausweg
gefunden, und es wird ihm jetzt wieder gelingen. Und du
vergräme dir nicht deine Tage, sondern laß sie dir von den
Rosen durchduften, wie er es im Brief verlangt. Bist du nun

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wieder mein liebes, tapferes Kind?«
»Wie gern möchte ich das sein. Wenn ich dich nicht hätte,

du Gute, dann würde manche Dummheit gemacht
werden.«
»Ist nur gut, daß du das einsiehst. Und nun hopp, aus den
Federn. Unsere kleine Heike schaut sich schon nach ihrer
Mami die Gucker aus. Außerdem hat Ricarda angerufen
und erwartet uns im Schlößchen zur Nachfeier.«
»Ich gehe nicht hin.«
»Du gehst doch hin.«
»Tante Marga, du hast überhaupt keine Ehrfurcht vor
meinem Leid.«
»Vor deinem nicht, mein Herzchen, weil es gar keines ist«,
tat sie trocken ab.

So hatte die kluge, erfahrene Frau wieder einmal ein
verfahrenes Schifflein flottgemacht. Das heißt, so einfach,
wie sie es Sölve hingestellt, würde die Zukunft der ihr
lieben Menschen nicht werden. Wer weiß, was ihnen noch
alles bevorstand.
Und es kam tatsächlich noch mehr Kummer für Sölve.
Frau Fröse stürzte eines Tages so unglücklich eine Treppe
hinab, daß sie sich den Oberschenkel brach.
Fassungslos vor Jammer stand Sölve diesem neuen Schlag
gegenüber.
Jörn von Jührich, der herbeigerufen wurde, setzte sich mit
einem Spezialarzt in Verbindung, und der verlangte

Überführung der Verletzten in seine Klinik, wenn er für
gute und schnelle Heilung garantieren sollte.
Sölve sträubte sich zuerst dagegen, die liebe Frau aus dem
Hause zu geben, mußte sich dann aber fügen.
Stundenlang saß sie in der Klinik an dem Bett der Kranken,
die ganz vergnügt war, weil sie verhältnismäßig wenig
Schmerzen hatte. Sölve wußte kaum, was sie ihr zuliebe
alles tun sollte. Sie schleppte immer wieder Leckereien
herbei, so daß Tante Marga eines Tages lachend behauptet,
nun ein Delikatessengeschäft eröffnen zu können.
Wenn Sölve dann nach Hause zurückkehrte, kam es ihr öde

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und traurig darin vor. Nun merkte man, daß die gütige,
vornehme Frau wirklich der gute Geist des Hauses gewesen

war.
Öfter als sonst fuhr Sölve nach Kaimucken, saß still bei
Frau Fränze, die langsam zum Leben zurückzufinden
schien. Es schien, als sähe sie die junge Frau gern.
Nur daß sich Jobst noch immer nicht gemeldet hatte,
machte sie traurig.
»Wird schon wieder werden«, tröstete sie der Hausherr, als
seine Frau mit ihm über Jobst beängstigendes Schweigen
sprach. »So was überwindet sich nicht von heute auf
morgen. Das braucht seine Zeit.«
Was jedoch Sölves trübe Tage erhellte, das waren die
Fortschritte, die Heike machte. Als müsse die Natur auf

schnellstem Wege nachholen, was sie so lange versäumt, so
rasch ging sie nun vor. Es gab fast keinen Tag, der nicht
etwas Neues brachte.
So verging ein Vierteljahr, da kam die erste Nachricht von
Jobst. Und zwar zeigte er seine Ankunft in den nächsten
Tagen telegraphisch an.
»Ich muß fort – sobald als möglich fort – «, begann Sölve
wieder ihr altes Lied, und da niemand da war, der sie
zurückhielt, nahm ihr Plan feste Formen an. Tante Marga
konnte sie jetzt mit ihrer Not nicht kommen, die durfte
nicht erregt werden, also vertraute sie sich der
Kinderschwester an.

»Ich bin Ihrer Meinung, Frau Baronin«, sagte das kluge
ernste Mädchen einfach. »Ich würde an Ihrer Stelle genauso
handeln.«
Da atmete Sölve auf. An diesem Mädchen würde sie eine
starke Stütze haben.
Nun mußte ein neuer Wohnort gesucht werden, und Sölve
fiel ein kleiner romantisch gelegener Badeort ein, den sie
einmal mit ihren Eltern besucht hatte. Sicherlich würden
sie da leicht eine Wohnung finden, vielleicht ein kleines
Haus mieten können.
Während sie eifrig mit der Schwester sprach, legten sich

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zwei Hundeköpfe rechts und links auf ihre Knie, und zwei
Paar Hundeaugen sahen sie traurig an.

»Natürlich, ihr Kerle, ihr kommt mit«, lachte Sölve.
»Erstens mal seid ihr ein Stück Heimat, und außerdem
noch ein zuverlässiger Schutz. Die kleinen Strolche nebst
Schneeweißchen werden ja unglücklich sein, daß sie
hierbleiben müssen, aber die würden doch zu viel Unruhe
bringen.«
So kam es denn, daß schon einige Stunden später das
große vollgepackte Auto Uhlen verließ.
Sölve hätte aufschreien mögen vor Schmerz, als ihr
tränenumflorter Blick die Fassade des Schlosses streifte. Da
legte sich eine Hand leise auf die ihre, zwei treue Augen
sahen sie tröstend an.

»Nicht traurig sein, Frau Baronin. So weh der Abschied jetzt
tut, so groß wird die Freude des Wiederkehrens sein.«

Wo bist du geblieben, du Kind mit den Locken,

hellsonnig wie Flachs auf Freyas Rocken?
Du hältst mein Herz auf Wacht, Tag und Nacht.
Komm, küsse mich wieder und sing deine Lieder,
die mich so unsagbar glücklich gemacht.


Starr blickten die Augen Jobst von Götteruns auf das
Briefblatt in seiner Hand: »Jobst! Zürne mir nicht, ich kann
nicht anders handeln. Heike, die Schwester und die beiden
großen Hunde nehme ich mit mir. Tu mir die Liebe und

forsche mir nicht nach. Wenn es Zeit ist, melde ich mich.
Sölve.«
Ja, hatte er denn etwas anderes erwartet? Etwa, daß sie ihm
freudig um den Hals fallen würde? Das konnte er nach
dem, was er ihr angetan hatte, wohl schwerlich verlangen.
Eine heiße Sehnsucht nach Tante Marga packte ihn. Eine
Aussprache mit ihr würde die quälende Unruhe in seinem
Herzen sicherlich besänftigen.
Doch da mußte er erfahren, daß diese schon seit acht
Wochen in der Klinik lag und eine Stunde später trat er zu

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ihr, die ihm vom Lehnstuhl entgegenlachte »Tante Marga,
so weit bist du schon? Wie schön!«

»Gottlob, mein Junge. Komm, nimm Platz«, begrüßte sie
ihn herzlich. Und wieder einmal war er dem Schicksal von
Herzen dankbar, daß es ihm diese prächtige Frau zur Seite
gestellt hatte. Wenn man in ihre gütigen Augen sah, dann
wurde man sofort ruhiger.
»Weißt du, daß Sölve fort ist, Tante Marga?«
»Ja, sie hat es mir brieflich mitgeteilt. Auch daß du in
diesen Tagen heimkehren würdest.«
»Hat sie auch dir nicht gesagt, wohin sie sich wenden
wollte?«
»Nein. Und wir müssen ihren Wunsch berücksichtigen und
ihr nicht nachforschen.«

»Ob sie Geld genug hat?«
»Ganz bestimmt. Mit dem, was sie auf ihrem Konto hat,
kann sie jahrelang leben.
Und wie ist es mit dir, mein Junge? Ich fürchte fast, daß du
genauso zerquält wiedergekommen bist?«
»Da hast du recht, Tante Marga.«
»Dann ist es ja ein wahrer Segen, daß Sölve fort ist. Sonst
würde die Quälerei da wieder anfangen, wo sie aufgehört
hat. Und nun werde ich mit dir nach Hause kommen.«
»Tante Marga, das wäre sträflicher Leichtsinn.«
»Laß nur«, winkte sie ab. »Ich habe mit dem Professor
gesprochen. Er hat nichts dagegen, wenn ich mit dir

komme. Jörn soll mich dann weiter behandeln.«
So fuhr sie denn mit ihm, und die beiden Menschen lebten
wieder so, wie sie vor seiner Verheiratung gelebt hatten. Es
war alles so wie sonst.
Und doch so anders. Die Weite des Schlosses hatte sie
sonst nicht gestört, doch jetzt schien es ihnen so unendlich
groß zu sein – und leer. Unmöglich konnte es der eine
Mensch sein, der diese gähnende Leere gefüllt hatte; denn
die kleine Heike hatte ja noch nicht gezählt.
Also war es tatsächlich so, dieser eine, einzige Mensch
fehlte. Es fehlte das goldige, klingende Lachen, die zärtliche

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Stimme, die auch dem schlichtesten Lied Innigkeit zu
geben verstand, es fehlte das Spiel – kurz, es fehlte die

ganze Sölve an allen Ecken und Enden.
Wohl kamen die große und die kleine Rosenrot fast täglich
und brachten lachendes Leben mit. Es kam Herr Julius,
kamen liebe Bekannte – aber niemand konnte Sölve
ersetzen.
Wenigstens Frau Marga nicht, die sich, auf einen Stock
gestützt, nur mühsam fortbewegen konnte. Jeden Abend,
wenn sie zu Bett ging, dachte sie voll Inbrunst:
Wird der morgige Tag eine Nachricht bringen? Aber Tag um
Tag, Woche um Woche, Monat um Monat verging, ohne
ein Lebenszeichen von Sölve gebracht zu haben. Längst
durchschritt Frau Marga wieder mit ihrem raschen, leichten

Schritt das Schloß. Frühling und Sommer waren vergangen,
der Herbst war da – und immer noch schwieg Sölve.
Der November brachte die Doppelhochzeit von Monika
und Veronika, und dieser stand Frau Fränze nicht mehr so
starr gegenüber, wie damals der Ricardas.
Es wurde eine Feier mit allem Drum und Dran, wie es auf
dem Lande üblich ist.
Es leuchtete wie Mutterstolz in den Augen Frau Fränzes auf,
als ihr Blick über die Bräute und ihre stattlichen Männer
ging.
Und noch heller wurde der Blick, wenn er auf der
reizenden Ricarda ruhte. Es war rührend mit anzusehen,

wie sie ihren Mann vergötterte, und auch er gewann diesen
prächtigen Lebenskameraden mit jedem Tag lieber.
Die Ehe der Zwillinge mußte nach menschlichem Ermessen
gut werden. Und wenn die jungen Ehemänner auch keine
Mitgiftjäger waren, sondern ihre Frauen aus Liebe erwählt
hatten, so war ihnen der Scheck nicht unangenehm, den
Götterun den Zwillingen bei der Hochzeit überreichte. Der
machte die beiden Paare noch zufriedener.
Dann kamen wieder stille. Wochen. Draußen lag der
Dezemberschnee dick und flauschig wie Watte. Die Zeit
war da, wo die brutzelnden Bratäpfel sehr begehrt waren,

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ebenso der dampfende Grog, der in keinem Landhaus
fehlen durfte. Für die Damen der aus Rotwein, für die

Herren der aus Rum.
Es gab auch Fälle, wo es andersherum ging, aber in Uhlen
war es vorschriftsmäßig. Mitten auf dem runden Tisch
stand ein Knabberteller, ein Vorgeschmack der
Weihnachtsgenüsse. Die kleinen Hunde schnarchten zu
Frauchens und Herrchens Füßen, Schneeweißchen lag
zusammengerollt in einem Sessel und schnurrte wie ein
Spinnrad.
Michael näherte sich in seiner lautlosen Art und stellte zu
dem Knabberteller einen andern, auf dem die Bratäpfel
goldgelb und knusperig brutzelten. Zischend lief der
dickflüssige Saft aus den Rissen und vermischte sich mit

dem des Zuckers, der auf den Äpfeln glitzerte.
Ein lieblicher Duft durchzog das Gemach, der sogar bis in
die Träume der Hunde drang. Schnuppernd hoben sie die
Nasen, ließen sie jedoch gleich wieder sinken, weil das da
oben für sie doch nicht das Richtige war.
Es schien ungemein traulich in dem Gemach – und doch
waren die Menschen darin nicht so froh, wie sie es hätten
sein müssen. Immer wieder gingen Frau Margas Augen
bekümmert zu dem Mann hin, der heute auffallend blaß
aussah. Sie hatte Angst vor Weihnachten, das in einer
Woche gefeiert wurde. Wenn sich Sölve bis dahin nicht
gemeldet hatte, dann wußte sie nicht, was werden sollte.

Sieben Monate war sie nun schon fort – und noch immer
hatten sie kein Lebenszeichen von ihr erhalten.
Man wußte wirklich nicht mehr, was man denken sollte.
Wenn sich der Mann doch nur ein einziges Mal seine Not
vom Herzen reden wollte! Aber kein Wort kam über seine
Lippen. Sie fürchtete, Sölve überhaupt zu erwähnen, um
nicht an die tiefe Herzenswunde zu rühren.
Plötzlich hob er den Kopf und lauschte wie gebannt.
»Wer das Glück nicht halten mag, der klage nicht und
jammere danach. Wer den Augenblick versäumt, hat
ausgeträumt, ausgeträumt – «, klang aus dem Rundfunk

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eine Männerstimme – und aufstöhnend barg Jobst von
Götterun das Gesicht in den Händen.

»Jobst, was hast du?« rief Frau Marga erschrocken.
»Ausgeträumt – ich habe ausgeträumt – «, klang es
höhnisch durch den Raum.
»Tante Marga, stelle, bitte, den Rundfunk ab – «
Nun war es still, ganz still. Und doch war es dem Mann, als
höhnte die Stimme immer weiter. Er packte ihre Hände
und drückte seine Augen darauf.
»Tante Marga, dieses Lied hat sie gesungen, am letzten
Abend noch – so glücklich, so voll süßseliger Schelmerei.
Und nun – wo mag sie sein? Warum meldet sie sich nicht?
Tante Marga, ich halte dieses entsetzliche Warten nicht
mehr aus.«

»Das sollst du auch nicht, mein Junge. Und daher werden
wir auch nicht länger warten, sondern handeln. Wenn sie
sich zwei Tage vor Weihnachten immer noch nicht
gemeldet hat, dann hole ich sie. Und dann wirst du nicht
mehr grübeln und klügeln, sondern wirst sie an dein Herz
nehmen und glücklich sein.«
»Und wenn sie nichts mehr von mir wissen will?«
»Da kennst du Sölve schlecht! Sicherlich wartet sie darauf,
daß du sie, trotz ihres Verbotes, holst. Zerquält sich ihr
Herz dort, wie du dir das deine hier.«
»Wir wissen ja gar nicht, wo sie sich aufhält.«
»Das kriege ich schon heraus. Du hast weiter nichts zu tun,

als vernünftig zu sein und dich und sie mit deinen
Hirngespinsten nicht so unerhört zu quälen. Sonst mache
ich nämlich nicht mit.«
Der Fernsprecher schlug an, hell und schmetternd wie eine
Fanfare.
Frau Marga nahm das Gespräch entgegen.
»Was, Fräulein«, hörte er sie ungläubig fragen.
»Wiederholen Sie, bitte – «
»Also wirklich«, lachte sie fröhlich.
»Jetzt wiederhole ich: Ein Telegramm an den Herrn Baron.
Aufgegeben in Seehausen. Inhalt: Komm, dein

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Weihnachtsgeschenk wartet. Sölve.«
Da war er schon bei ihr, nahm ihr den Hörer aus der Hand

»Fräulein, das muß ein Irrtum sein-!«
Aber sein Ohr vernahm genau dasselbe. Sie sahen sich
beide an. Ihre Augen lachten ebenso wie ihre Herzen.
»Wann fahren wir, Tante Marga?«
»Doch nicht womöglich jetzt, am späten Abend? Wenn du
sieben Monate warten konntest, dann schaffst du es auch
noch ein paar Stunden.«

Komm, bei mir wartet das Glück,

du sorgenkranker Gesell.
Komm, bei mir wartet die Liebe,
komm schnell
.

Leise summend glitt der schnittige Wagen über den
festgefahrenen Schnee. Wie ein Traumland erschien der
Wald in seiner Winterherrlichkeit. Der Rauhreif glitzerte
und blitzte, als hätte man die Tannen mit
Christbaumschnee bestreut. Aber so kunstvoll konnte das
keine Menschenhand. Das konnte nur der große Künstler
Winter zuwege bringen.
Entzückt schauten Frau Marga und Jobst in dieses
Märchenland hinaus. Sie konnten sich mit Behagen dem
Genuß hingeben; denn im Auto war es mollig warm, da
spürte man nichts von der klirrenden Kälte da draußen.
Aber in ihren Herzen war es noch wärmer. Ging es doch

nun endlich zu ihrer Bernsteinhexe, zu ihrer weißen Möwe.
Als man dem Chauffeur gesagt hatte, wohin er fahren
sollte, war ein Lachen über sein Gesicht gegangen.
»Zur Frau Baronin? Das wird aber eine frohe Fahrt.«
»Wissen Sie denn, wo sie sich aufhält, Walter?«
»Jawohl, Herr Baron. Ich habe die Frau Baronin doch vor
sieben Monaten nach Seehausen gefahren.«
War das die Möglichkeit! Da hatte man sich das Hirn
zergrübelt, wo Sölve wohl weilen könnte, während dieser
Mann, den man täglich sprach, es ganz genau wußte. Doch

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der treue Mensch hielt es für seine selbstverständliche
Ehrenpflicht, zu schweigen.

Nach einer guten Stunde hielt man vor einem kleinen
Haus, das wie in Watte versenkt stand. Zuerst kamen ihnen
die beiden Hunde entgegen, die vor Freude laut jaulten.
Und was tapste da durch die kleine, wohlig durchwärmte
Diele? Heike, das kleine Tausendschönchen, mit einem
Riesenstrauß in den dicken Patschen.
»Mädchen, du Süßes, du -!« rief der Mann überwältigt und
hob sein Kind an sein Herz.
»Papi – die Oma aber auch.«
Sie sprach, wenn auch noch etwas unbeholfen, aber sie
sprach. Mit dem dicken Ärmchen den Hals des Papis
umfassend, reichte sie den Strauß Frau Marga hin.

»Da, Oma – weil du so lieb bist – «, sagte sie einfach, und
das zweite Ärmchen umfaßte ihren Hals.
»Oh, bitte sehr, hier wohnen auch noch Leute – und was
für welche – «, klang eine zu bekannte Stimme hinter
ihnen. Die Köpfe fuhren herum. – Da stand Sölve lachend,
strahlend – schöner denn je.
»Sölve -!« schrie der Mann auf, doch sie winkte ab.
»Später, mein Lieber erst kommt dein
Weihnachtsgeschenk.«
Sie betraten ein Zimmer, das mit Möbeln ausgestattet war,
wie es in einem bewohnten Hause üblich ist. Aber davon
sahen sie nichts. Sie sahen nur das spitzenverhangene

Babybettchen. Und darin - »Dein Sohn – «, erklärte Sölve
mit dunkler Stimme – und der Mann starrte gebannt auf
das kleine rosige Wesen, das da so friedlich schlief.
Aber dann hatte er begriffen.
»Sölve, du gibst mir das Leben wieder«, stöhnte er, und
dann wurde es ganz still in dem Raum.
Sölve unterbrach dann das Schweigen nach einer Weile.
»Sieh dir den Bengel nur an, ein kleiner Staatskerl ist’s.«
Ja, das war er, und der beglückte Vater konnte sich nicht
sattsehen an dem kleinen Wunder. Sein Sohn – sein Erbe,
nicht anders, als ein gesundes, gutgepflegtes Kind von drei

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Wochen sein kann. Doch dem Mann, der schon vor zwei
anderen Kindern gestanden hatte, erschien dieses wie ein

kleines Wunderwesen. Dazu war es ein Götterun durch und
durch. Die Ähnlichkeit war bei dem winzigen
Geschöpfchen frappierend.
Und das kleine Mädchen war auch sein Kind, das er schon
aufgegeben oder durchs Leben vegetierend geglaubt hatte.
Nun stand es neben ihm, zart und rosig und hielt seine
Hand.
Nein, das alles mußte erst sehr langsam begriffen werden,
daß er plötzlich ein glücklicher Mensch sein sollte, wie
viele andere Menschen auch. Das faßte er nicht so schnell
in seiner schwerfälligen Art.
Während er noch immer dastand und weltvergessen auf

seine Kinder schaute, umfaßte Sölve die glückliche Frau
Marga.
»Nun, Oma, wie gefallen dir deine Enkelkinder?«
»O du Heimtückerin, so was Ähnliches habe ich geahnt.
Und wenn der Junge anders gewesen wäre?«
»Dann hätte ich ihn Jobst unterschlagen«, erklärte sie fest.
»Aber damit rechnete ich nur in trüben Stunden, die
anderen war ich zuversichtlich und voll froher Erwartung.
Ich bin stolz darauf, daß ich dem alten Stamm ein Reislein
schenken durfte. Und daß es mir beschieden ist, Heike so
munter vor mir zu sehen.«
Da wandte sich der Mann um

»Sölve, jedes Dankeswort wäre hier banal – «, sagte er ganz
tief und rauh. »Aber – «
»Laß nur«, winkte sie lachend ab. »Dank gebührt der
selbstlosen prächtigen Schwester, die mir in den Monaten
des Hangens und Bangens eine liebe Freundin geworden
ist. Und dann Freund Jörn, der sich aufopfernd um mich
bemüht hat.«
»Standest du denn mit ihm in Verbindung?«
»Natürlich. Einen mußte ich doch haben, der mich mit Rat
und Tat unterstützte, wobei ihm Ricarda wacker geholfen
hat.«

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»Na, diese Verschwörer. Laß sie nur kommen – «
»Da sind sie schon – «, kam es lachend von der Tür her, wo

Jörn und Ricarda standen. »Wie gefällt Ihnen denn Ihr
Sohn, Herr Baron von Götterun? Würdiger
Geschlechtsträger, was?«
Es gab eine Begrüßung voll großer Freude. Schon morgen
wollte man nach Uhlen übersiedeln, um dort das
Weihnachtsfest zu verleben. Und am zweiten Feiertag sollte
der Erbe getauft werden.

Nun habt ihr euch gebangt und gequält,
habt geweint und gelitten,
dabei war alles doch so verfehlt,

worum ihr gekämpft und gestritten.
Denn, während ihr gegrübelt, gesonnen,
hat Frau Norne an eurem Schicksal gesponnen

Das Tauffest des kleinen Götterun wurde ein richtiges
Freudenfest, bei dem auch nicht einer der geladenen Gäste
fehlte. Die Geburt des kleinen Knaben hatte überall größte
Überraschung hervorgerufen, und man kam herbei, um die
Eltern zu beglückwünschen.
»Wie soll denn der kleine Wicht mit der großen Bedeutung
heißen?« wurde vor der Tauffeierlichkeit hie und da gefragt.

Und es fand sich immer einer, der die Antwort darauf gab.
»Wie denn anders als Jobst? Sehen Sie sich doch die
verkleinerte Ausgabe unseres lieben Götterun genau an.«
Auch über das kleine Baroneßchen, das die meisten heute
erst zu Gesicht bekamen, hub großes Wundern an.
Wie denn, sollte es nicht ein kleiner Kretin sein? Und nun
dieses reizende Kind, wohl noch ein wenig zart, aber sonst
gesund!
Und da fand sich wieder jemand, der die Erklärung gab.
Wie es geschehen konnte, daß die kleine Heike hier so
quietschvergnügt zwischen den Gästen herumwirbelte.
Na, dann war diese entzückende Frau mit dem

sonnenhellen Haar ja ein Juwel. Man freute sich und

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gönnte diesem charmanten Elternpaar seine schönen
Kinder von Herzen.

Auch eine war unter den Gästen, die man zuerst voll
ehrfürchtiger Scheu betrachtete, ihr dann jedoch mit
besonderer Herzlichkeit entgegenkam. Frau Fränze hatte
sich zuerst energisch dagegen gewehrt, das Fest zu
besuchen. Aber da hatte sie Jobst als Patin bestimmt und
sie so zum Kommen gezwungen. Scheu wich sie zuerst den
Menschen aus, die ihr fremd geworden waren. Doch
langsam fand sie sich zurecht und fand den Trubel ganz
erträglich.
Mitfreuen konnte sie sich allerdings nicht – noch nicht.
Vielleicht würde ihr das Kind wieder zur Freude verhelfen,
das im Mai seinen Einzug im Schlößchen halten sollte.

Und vielleicht zappelte es auch bald in den
bereitgehaltenen Wiegen, die in den Herrenhäusern
standen, wo die Zwillinge ihr Zepter schwangen.
Zuerst hielt sie den Uhlener Erben mit fast
großmütterlichem Stolz. Das war allerdings ein
Prachtkerlchen. Und tapfer unterdrückte sie das bittere
Gefühl, das in ihr aufsteigen wollte, als sie an ihren Jungen
dachte. Aber es war ja der Sohn von Jobst, der soviel
Verständnis gehabt hatte für ihr Leid – das größte
Verständnis von allen. Jobst war es auch, der sich zu ihr
setzte und immer wieder ihren Champagnerkelch füllte,
auf seinen Jungen anzustoßen.

Mit heimlichem Vergnügen bemerkte er, daß ihre Blicke
freundlicher wurden, wie sich ein zaghaftes Lächeln um
ihre Lippen wagte.
»Nanu, ihr seid ja ganz heimliche Schwelger«, trat Jörn
hinzu, die lachende Ricarda im Arm. »Du siehst ja schon
ganz gemütlich aus, verehrte Schwiegermama. Dürfen wir
an dieser Tränke bleiben?«
»Man zu«, lachte Jobst und füllte zwei weitere Kelche. »Du
bekommst nicht so viel, Ricarda.«
»Warum denn nicht?« fragte sie erstaunt.
»Weil dein Junge dann eine rote Nase bekommt«, lachte er

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übermütig, und sie erglühte wie eine Pfingstrose.
»Jobst hat recht«, meldete sich Frau Fränze, und ein

Zipfelchen ihrer alten Energie lugte wieder hervor, was
allen ein Schmunzeln abnötigte. »Du darfst ihr nicht so
den Willen lassen, Jörn, wohin soll das führen.«
Als sich Herr Julius kreuzfidel näherte und sie ihn mit den
Worten empfing: »Du scheinst ja wieder kein Maß zu
kennen, Julius«, da konnten sie nicht mehr das Lachen
zurückhalten, das ihnen allen von Herzen kam.
»Na, Muttchen, das sind ja längst verwehte Klänge«,
schmunzelte er vergnügt. »Darauf müssen wir noch einen
trinken.«
Immer mehr fanden sich in der fidelen Ecke ein: Frau
Marga, Sölve, die Kinderschwester, selbst »Kluckchen«, mit

der hüpfenden Ira am Arm.
»Du trinkst doch nicht etwa Sekt, Rosenrot?« erkundigte
sich die Mama, und alle blinzelten sich zu, als sie den einst
so verpönten Namen nun so selbstverständlich aussprach.
Na ja, es wird schon wieder werden, dachte Julius froh.
Mochte sie lieber ihre alte Energie wiederfinden, als so
stumm und starr ihre Tage verbringen.
Auch die Zwillinge mit ihren Männern kamen herbei. Man
amüsierte sich köstlich über ihre junge Frauenwürde, die
sie mit so großem Ernst herauskehrten. Allerliebst waren
sie, und man konnte die Gatten verstehen, daß sie voll
Stolz auf ihre Frauchen schauten.

Dann war das Fest zu Ende. Und oben, in ihrer Kemenate,
zog der Schloßherr seine Herrin an sein Herz.
»Sölve, wenn ich ein Dichter wäre, so würde ich ein
Loblied nach dem andern zu deinem Ruhm erschallen
lassen«, begann er, und sie lachte ihn übermütig aus.
»Dann ist es ja nur gut, daß du ein ganz gewöhnlicher
Stoppelhopser bist -!«
»Na warte, du Racker -!« bekam er sie bei den rosigen
Öhrchen. »Aber in allem Ernst, Sölve – «
»Sei doch still, Jobst. Was ist mir Dank? Nichts. Aber deine
Liebe, die ist mir alles. Sie ist für mich das Leben.«

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»Wenn es danach geht, meine weiße Möwe, dann kannst
du tausend Jahre leben.«

-ENDE-

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LENI BEHRENDT

wurde am 5. März 1894 als Tochter der Eheleute Blasinsky
in Insterburg/Ostpreußen geboren. Ihr Vater war
selbständiger Schneidermeister. Nach dem frühen Tod ihrer
Eltern lebte sie bei Verwandten, die ihr auch die
Ausbildung als Lehrerin ermöglichten. Als Privatlehrerin
auf verschiedenen großen Gütern gewann Leni Behrendt
einen tiefen Einblick in die adelige Gesellschaft. Sie hat oft
davon erzählt, und in ihren Romanen spiegeln sich die
Bilder jener Zeit wider. Aus diesen Erlebnissen stammen
ganz sicher auch der Reichtum ihrer Anschauungen und die
Glaubwürdigkeit ihrer moralischen Welt. Wie sie Land und
Leute charakterisiert, beweist ihr großes

Einfühlungsvermögen, und wie sie den Zauber der Liebe
enthüllt, macht deutlich, mit welcher sittlichen Einstellung
sie ihre Helden schuf. Stolze, aufrichtige, pflichtbewußte
Menschen begegnen uns in ihren Romanen. Schon als
junges Mädchen fabulierte Leni Behrendt. In kleinen
Geschichten und Gedichten übte sie sich, bis ihr der erste
große Roman »Warum quälst du mich?« gelang, der
gedruckt wurde. Dieses große Erlebnis war der Anfang ihrer
schriftstellerischen Laufbahn, aber ihre Berufung empfand
sie als Mutter. Nach ihrer Verheiratung mit dem
Bankdirektor Paul Gero Behrendt erlebte sie mit ihren
beiden Kindern (Sohn und Tochter) das wahre Glück einer

Mutter. Das Schicksal hat sie am Ende des Krieges
Furchtbares erleben lassen. Beide Kinder verlor sie, und auf
der Flucht von Ostpreußen in eine unbekannte Zukunft
fand sie die Kraft, nicht gegen das Schicksal, sondern mit
ihm zu leben. Auf sich allein gestellt, wünschte sie sich
einen Stall, eine Kiste, auf der sie sitzen konnte, Bleistift
und Papier, um schreiben zu können. Ihre erste Unterkunft
nach der Flucht war dann auch nur eine kalte Kammer. Sie
schrieb darin den köstlichen Roman »Sieben Töchter und
kein Geld«. Als sie wieder Verbindung mit ihrem Mann
bekam, der als Offizier im Krieg war, begann ein neues

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Leben in einer kleinen, einfachen Wohnung im Lippischen
Land. Wer sie dort erlebte, kann bescheinigen, wie diese

beiden wertvollen Menschen an ihrer Zukunft zimmerten
und in der Bescheidenheit das höchste Glück erkannten.
Trotz der großen Erfolge ihrer Romane blieb Leni Behrendt
die einfache, schlichte und anspruchslose Frau, die ihren
geraden Weg nie verließ. Sie hätte lieber trockenes Brot
gegessen, als Schulden zu machen. Um so glücklicher war
sie, als sie sich dann durch die Erfolge ihrer Romane ein
kleines Waldhaus in der Nähe von Köln kaufen konnte, in
dem sie noch viele frohe Jahre bis zu ihrem Tod am 2.
November 1968 verleben konnte.
Ihr Wunsch, mit ihren Romanen ein bißchen Freude in
einsame Stunden zu bringen, kann von Millionen Lesern

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