Behrendt, Leni Kelter Grosse Ausgabe 0285 Stranddistel

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STRANDDISTEL

Roman von Leni Behrendt

Das Mädchen Senöwe von Helgen trug seinen aparten Namen zu

Recht: wenn man es nämlich sah, mit hellem Haar und strahlend

blauen Augen, mußte man unwillkürlich an Sonne denken, an

Meer und Wind.

Nach dem Tod ihres Vaters hatte ihre Mutter ein zweites Mal

geheiratet. Diese fühlt sich wohl in der Stadt, in dem Reichtum

und in dem Luxus, mit dem ihr Gatte sie umgab. Senöwe dage-

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gen dachte voller Sehnsucht und Wehmut an das Haus am Meer

zurück, wo sie mit dem Vater gelebt hatte. Als sie hörte, daß der

beste Freund ihres Vaters – ihr geliebter Onkel Konny – nach

langen Wanderjahren zurückgekehrt sei und sich dort in der

Heimat ein Haus gekauft habe, hält sie nichts mehr in der Stadt.

Sie erbittet einen ungern gewährten Urlaub und reist los. Kurz

vor dem Ziel verfährt sich Senöwe und dringt in einen geheim-

nisvollen Park. Ein Hund stürzt auf sie zu und – ein herrischer

Pfiff – im nächsten Moment tritt eine hohe Männergestalt ihr

entgegen und weist ihr kurz den Weg; dann wendet sie sich um

und schreitet davon. Und Senöwe begegnet ihm ein zweites Mal.

Wie sie erfährt, wer er ist, welch ein Geheimnis ihn und das

Schloß am Meer umgibt, wie er ihr die schwerste Frage ihres Le-

bens stellt, die doch die glücklichste sein sollte, und wie sie

trotzdem »ja« sagt, wie aus der »Stranddistel« schließlich die ge-

liebte Herrin von und zu Bernbrugg auf Möwen wird, das erzählt

Leni Behrendt mit unnachahmlicher Meisterschaft.

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Wir verwenden Papier, das bis zu 70% aus Altpapier besteht. Das ist unser Beitrag zum Umweltschutz.

Diese Ausgabe erscheint alle 4 Wochen im Martin Kelter Verlag (GmbH & Co.),

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Abgebildete Personen auf dem Umschlag stehen in keinem Zusammenhang mit dem Roman.

Diese Ausgabe darf weder in Leihbüchereien verliehen noch in Lesezirkeln geführt oder zum gewerbsmäßi-

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Printed in Denmark.

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Das Mädchen Senöwe trug seinen aparten Namen zu Recht.
Wenn man es nämlich sah, dann mußte man unwillkürlich

an Sonne denken, an Meer und an Wind. Das machte wohl
das natürlich gewellte Haar, das auf dem Klopf gleißte wie
köstlicher Bernstein, die strahlendblauen Augen mit der
leicht grünlichen Iris, das Gesicht, von dem man sagen
konnte, herb und süßlich zugleich, die rassige, biegsame
Gestalt und das frischfröhliche Naturell.
Senöwe – den Namen hatte der Vater seinem so freude-
strahlend empfangenen Töchterlein gegeben. Es wurde
fortan sein ein und alles, zumal er mit seiner Frau in nicht
gerade harmonischer Ehe lebte. Kein Wunder, da er
zweiundzwanzig Jahre mehr zählte als sie.
Aber was sollte der Junggeselle machen, als man ihm das

Verwandtenkind, das seine Eltern durch einen Unglücksfall
an einem Tag verlor, gewissermaßen als Mündel aufhalste?
Er gab die Zwölfjährige erst mal in ein Internat, doch als sie
diesem mit achtzehn Jahren entwuchs, war guter Rat teuer.
Denn die schöne Irina war sehr verwöhnt, sehr kapriziös
und so lebensfremd, daß sie sich, auf eigene Füße gestellt,
in dem rauhen Leben nie behauptet hätte. Also sagte sich
der Bildhauer Justus von Helgen, daß dieses eigenartige
Geschöpf bei ihm immer noch am besten aufgehoben wäre
und heiratete es kurzentschlossen. Und als Irina ihm dann
mit zwanzig Jahren die kleine Senöwe schenkte, war er ihr
dafür von Herzen dankbar, zumal diese so wurde, wie er

sich seine Tochter ersehnte.
Wie zwei unzertrennliche Kameraden lebten die beiden,
die sich äußerlich und innerlich so ähnlich waren, wie es
Vater und Tochter nur sein können. Und als ein uralter
Onkel seinem Neffen Justus nach dem Tode sein Haus
vermachte, siedelte dieser mit der damals achtjährigen Se-
nöwe dahin über, dabei das Lamento seiner Gattin völlig
ignorierend.
Und dieses Haus, das sich der Kapitän nach seiner Pensio-
nierung hatte erbauen lassen, lag so dicht an der Ostsee,
wie es eben anging. Es war zwar nicht groß, aber immerhin

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genügend für zwei Personen und dazu sehr behaglich ein-
gerichtet.

Und somit befand sich Justus von Helgen endlich am rech-
ten Platz. Man konnte sich diesen blonden Hünen auch
kaum in einer engen Stadtwohnung vorstellen, genauso-
wenig, wie einen Falken in einem Vogelbauer. Und Senö-
we. diese kleine Stranddistel, wie der Vater sie zärtlich
nannte, hätte sich in einer engen Vase auch sonderbar ge-
nug ausgenommen.
Und doch steckte sie jetzt darin, bereits schon ein ganzes
Jahr, obwohl diese »Vase« kostbar war und die Weite einer
komfortablen Villa besaß.
O wie gern hätte Senöwe diesen Komfort lachenden Mun-
des eingetauscht gegen das weit primitivere Haus am Meer.

Aber leider gab es für sie dorthin kein Zurück, seitdem es
nach dem Tod des Vaters verkauft werden mußte. Erstens
einmal, weil Senöwes mondäne Mutter es entschieden ab-
lehnte, sich in dieser Einöde zu vergraben und zweitens,
weil man das Geld, das dieser Verkauf brachte, unbedingt
benötigte.
Denn Justus von Helgen hatte es nie zu Wohlstand ge-
bracht, weil er nicht zu rechnen verstand und außerdem
noch eine offene Hand besaß. Wenn es nämlich galt, in
Not geratenen Menschen zu helfen, wußte die Linke oft
nicht, was die Rechte tat.
Trotzdem hatte es zu einem behaglichen Leben immer

noch gelangt. So reichlich sogar, daß Frau Irina von Hel-
gen, die es nie lange in dem einsamen Haus am Meer aus-
hielt, auf Reisen gehen konnte, wo sie gewiß nicht mit dem
Pfennig rechnete.
Und dann war eines Tages alles aus. Und zwar, als Justus
von Helgen bei einer Rettungsaktion, von der er sich nie
ausschloß, mit drei anderen todesmutigen Männern von
den tosenden Wellen hinweggespült wurde in unermeßli-
che Ferne.
Und mit dem Tage endete auch das freie, lachende Leben
der Stranddistel Senöwe. Halb wahnsinnig vor Schmerz um

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den Verlust des zärtlichen Vaters, durfte sie sich jedoch in
diesem Schmerz nicht verlieren. Mußte die fassungslos

jammernde Mutter beschwichtigen und ihr sogar in das
Heim folgen, das ein reicher Mann der noch so jugendlich
wirkenden Witwe von vierzig Jahren freudig bot.
Irina hatte den gutaussehenden Mann auf einer ihrer Rei-
sen kennengelernt. Und da man sich gleich vom ersten
Sehen an gut gefiel, war es zu einer Freundschaft gekom-
men, bei der man aber nie vergaß, daß Irina an einen
Mann gebunden war. Als dieser jedoch starb, warb der In-
dustrielle, auch ein Witwer, um die verehrte Frau, die sei-
nen Antrag ohne Bedenken annahm, obgleich er bereits
zwei Monate nach dem Tode von Justus von Helgen erfolg-
te. Schon einige Wochen danach kam es zu einer stillen

Hochzeit, und Senöwe blieb nichts anderes übrig, als ihrer
Mutter in das neue Heim zu folgen.
Nun saß sie da wie ein Sturmvogel, dem man die Schwin-
gen gestutzt und den man in einen goldenen Käfig gesperrt
hatte. Trug immer noch heißen Schmerz um den Tod des
so sehr geliebten Vaters und war trotz ihrer jetzt einund-
zwanzig Jahre schon so recht des Lebens überdrüssig.
Es war ein reiches Haus, in dessen Halle ein siebzehnjähri-
ges Mädchen wirbelte und, einen flotten Schlager pfeifend,
die breite, teppichbelegte Treppe emporsprang. Oben
nahm es dann ein allerliebstes Jungmädchenzimmer auf,
darin es jedoch nicht verweilte, sondern in den Nebenraum

eilte, wo Senöwe von Helgen am Fenster saß und verdrieß-
lich in den dämmernden Park hinabschaute. Jetzt wandte
sie den Kopf und sah nicht gerade erfreut auf die Kleine,
die ohne zu fragen Licht einschaltete.
»Wie du hier im Dunkeln sitzen und Trübsal blasen kannst,
wird mir ewig ein Rätsel bleiben«, sprudelte es über die
Lippen des Jungfräuleins. »Ich soll dich von Fred Ewing
grüßen, der sich vor Sehnsucht nach dir verzehrt. Ebenso
wie noch andere deiner glühenden Verehrer, deren treue
Anhänglichkeit du gar nicht verdienst. Hach, wie gehst du
doch bloß grausam mit deinen Anbetern um.«

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»Um so liebenswürdiger behandelst du die deinen«, warf
Senöwe sarkastisch ein. »Wo hast du dich übrigens den

Nachmittag über herumgetrieben?«
»Herumgetrieben, wie sich das anhört«, zog die andere ein
Schmollmäulchen. »Wie du siehst, bin ich im Tennisdreß,
ergo kann ich doch wohl nur im Tennisklub gewesen sein.
Übrigens haben wir ein neues Mitglied. Du, das ist viel-
leicht ein Mann! Einfach himmlisch! Er machte mir gleich
ein Kompliment…«
»Schon faul«, unterbrach Senöwe sie trocken, sprach jedoch
nicht weiter, weil die Mutter eintrat.
O ja, sie konnte sich schon sehen lassen, die schlanke,
dunkelhaarige Frau, der man ihre einundzwanzigjährige
Tochter gewiß nicht ansah, zumal diese auch nicht die

kleinste Ähnlichkeit mit ihr hatte. Ein Unbeteiligter hätte
vielmehr annehmen können, daß die brünette Stieftochter
ihr leibliches Kind wäre.
»Himmel, Mam, bist du wieder mal schick!« rief die Kleine,
dabei bewundernd auf das elegante Kleid tippend. »Neu?«
»Ganz recht, Liebchen. Papa hat nämlich ein gutes Geschäft
gemacht und befand sich daher in ganz besonders großzü-
giger Geberlaune. Selbstverständlich hat er auch euch nicht
vergessen.«
»O wie schön!« jubelte Charlott. »Was ist's, Mamachen?« .
»Komm mit, du natürlich auch, Senöwe.«
Lachend folgte sie der Stieftochter, während die eigene

Tochter sich damit Zeit ließ. Als sie unlustig das Ankleide-
zimmer betrat, das sie mit der Stiefschwester teilte, war
diese schon dabei, ihr Kleid abzustreifen. Dabei hingen
ihre dunklen Kulleraugen entzückt an dem Kleidchen, das
allerliebst genug war, um ein Jungmädchenherz in Wonne
zu versetzen. Flugs schlüpfte Charlott hinein und drehte
sich vor dem Spiegel wie ein eitler Pfau.
»Todschick«, lachte sie selig. »Dabei paßt es wie angegos-
sen. Ich muß schon sagen, Mamachen, daß du einen siche-
ren Blick für meine Maße hast. Darf ich das Wunderwerk
anbehalten?«

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»Natürlich, Kleines. Der Papa erwartet das sogar, um sich
an unserm Anblick berauschen zu können.

Nun mach schon, Senöwe«, wandte sie sich unwillig an die
Tochter, die langsam ihr Kleid abstreifte. »Es wird gleich
zum Abendessen gongen, und du weißt doch, daß Papa
Unpünktlichkeit haßt.«
Kurz darauf schaute die Mutter stolz auf ihr schönes Kind.
Ihre Senöwe konnte aber auch anziehen was sie wollte,
stets sah sie elegant und apart aus. Aber auch Charlott
konnte sich sehen lassen in ihrer Niedlichkeit. Ebenso das
zehnjährige Nesthäkchen Susi, das nun angestürmt kam,
gleichfalls in einem neuen, allerliebsten Kleidchen.
Da der Gong ertönte, beeilte man sich, in das Speisezim-
mer zu kommen, wo auch gleich darauf der Herr des Hau-

ses eintrat. Ein Mann Ende der Vierzig, gutaussehend und
mit dem selbstsicheren Gebaren des gebietenden Ge-
schäftsmannes. An seiner Seite befand sich der Sohn des
Hauses, ein aufgeschossener Knabe von vierzehn Jahren,
mit einem kecken Gesicht und dunklem Haarschopf, der
momentan ganz manierlich gekämmt war. Da er wie die
meisten Jungen seines Alters verächtlich jeden » Weiber-
kram« abtat, sah er auch jetzt grinsend auf die in Neu ers-
trahlende Weiblichkeit, während sein Vater sie schmun-
zelnd betrachtete.
»Einfach fabelhaft schaut ihr aus, meine lieben Weibsen.
Bei so einem Anblick lohnt es schon, sein Portemonnaie

ganz weit aufzumachen.«
»Bloß mir gegenüber blieb es zugeknöpft«, brummte der
Filius, worauf denn augenzwinkernd vom Herrn Papa ein
Geldschein in die Bubenfaust geschoben wurde.
Somit hatte der Herr vom Ganzen wieder einmal alle zu-
friedengestellt und nahm mit Selbstverständlichkeit an,
daß auch seine Stieftochter es sein müßte. Und hätte man
ihm gesagt, wie widerstrebend diese dem allen, was ihr in
dem reichen Hause geboten wurde, gegenüberstand, wäre
er wohl bass erstaunt gewesen.
Genauso wie die Mutter es war, als Senöwe ihr nach der

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Hochzeit eröffnete, daß sie sich auf eigene Füße stellen
wolle.

»Ja, aber Kind, wozu das?« fragte sie verständnislos. »Du
hast es als Tochter des reichen Neubeck doch wahrlich
nicht nötig.«
»Stieftochter, Mama.«
»Mädchen, das ist doch einfach Wortklauberei. Genauso-
wenig wie ich seine Kinder als Stiefkinder betrachte, tut er
es bei meiner Tochter. Ich bitte mir aus, diesen wahrhaft
vornehmdenkenden Menschen nicht zu kränken, das hat er
gewiß nicht um uns verdient.
Außerdem, wie willst du dich auf eigene Füße stellen? Du
hast doch nichts Rechtes gelernt. Hast nicht einmal eine
öffentliche Schule besucht, weil dein Vater sich in seiner

Affenliebe nicht von dir trennen und dich nicht in die Stadt
geben wollte. Und der Unterricht, den du bei dem verdreh-
ten Dorfgelehrten erhieltest, ist wohl kaum ernstzuneh-
men.«
»Und doch habe ich mein Abitur mit Auszeichnung be-
standen, Mama. Also ein Zeichen, daß ich doch wohl etwas
gelernt haben muß.«
»Naja, das schon«, räumte Irina widerwillig ein. »Willst du
etwa studieren? Das würde Papa dir gern ermöglichen. Ich
werde mit ihm sprechen.«
»Mama, willst du mich denn durchaus nicht verstehen? Ich
möchte deinem Mann nicht auf der Tasche liegen.«

»Wie töricht, Senöwe. Und nun Schluß mit dem Unsinn!
Du bist hier genauso Kind des Hauses wie die drei anderen.
Nimm also, was dir hier freudig geboten wird, ohne Wenn
und Aber an. Lange wirst du es sowieso nicht nötig haben.
Denn bei deiner köstlichen Schönheit und dem reichen
Vater wird sich gar bald ein Mann finden.«
Da wandte Senöwe sich schroff ab und eilte hinaus. Kam
nie mehr auf ihren Wunsch zurück, unterbreitete ihn erst
gar nicht dem Stiefvater, da sie genau wußte, daß die Mut-
ter da quertreiben würde, und der Stiefvater war ihr Vor-
mund.

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Doch seit einer Woche nicht mehr, Gott sei Dank! Man
hatte ihre Volljährigkeit ganz groß gefeiert, sie mit Ge-

schenken förmlich überschüttet. Aber gefreut hatte Senöwe
sich nur über das schmucke Auto, das der Stiefvater dem
Töchterchen, wie er sie zu nennen pflegte, höchst persön-
lich zum Geschenk machte.
Eigentlich bin ich doch undankbar – sann sie vor sich hin,
während sie wie mechanisch aß. Ich müßte doch froh sein,
in einem so molligwarmen Nest sitzen zu dürfen. Müßte
unbekümmert in den Tag hinein leben, wie auch die Mut-
ter es tut.
Aber sie konnte es nicht, wirklich nicht, trotz aller vernünf-
tigen Vorstellungen nicht. Das Leben hier widerte sie förm-
lich an, das den anderen direkt Lebenselixier bedeutete.

Vergnügungen, Gesellschaften, Putz und Tand, das wurde
hier ganz groß geschrieben. Der Mann verdiente das Geld,
die Seinen gaben es mit vollen Händen aus.
Aber das wollte er ja haben, gerade so gefielen sie ihm.
Er selbst ließ sich ja auch nichts entgehen, ergo: Leben und
leben lassen.
So richtig unzufrieden mit sich und der ganzen Welt suchte
Senöwe am Abend ihr Zimmer auf. Ein trautes Nestchen,
wie es einer verwöhnten jungen Dame zukommt.
Zuerst hatte sie mal Mühe, Charlott aus dem Zimmer zu
bekommen, die wie eine kleine Elster schwatzte. Natürlich
von Kleidern, von Vergnügungen und von den feschen Ka-

valieren, die ihr den Hof machten. Vorläufig war das harm-
los, sonst hätte die Kleine nicht so offen davon gesprochen.
Aber so einige Jahre später…
Nun, das sollte Senöwes Sorge nicht sein, sie hatte gerade
genug mit sich zu tun.
Endlich verschwand die Kleine, und Senöwe, die bereits im
Bett lag, griff nach der Illustrierten, die sie erst einmal un-
lustig durchblätterte. Bis – Ja, bis ihre Augen ein Bild erfaß-
ten. Und zwar das Bild eines Mannes, das fast schon ihrem
Gedächtnis entschwunden war.
»Onkel Konny«, flüsterte sie und las dann voll Spannung,

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was unter dem Bild stand, nämlich, daß der Maler Konrad
Hövemann mit seinem Bild auf der Ausstellung den ersten

Preis bekommen hatte.
Konrad Hövemann, was alles war damit für Senöwe von
Helgen verbunden – ihre ganze unbeschwerte Kindheit und
erste Jungmädchenzeit; denn der Maler war der beste
Freund ihres Vaters gewesen. Immer stellte er sich im Haus
am Meer ein, wenn er kein Geld hatte. Wurde jedesmal mit
herzlicher Freude aufgenommen, bis die Unrast ihn dann
wieder forttrieb. Die letzte Karte war aus Spanien eingetrof-
fen, seitdem hatte Senöwe nichts mehr von ihm gehört.
Doch jetzt war er wieder in Deutschland und machte von
sich reden. Er lebte in seinem Haus an der Ostsee, wo er
seßhaft zu werden gedachte.

Ein Haus an der Ostsee – Senöwe durchzuckte ein freudiger
Schreck. Ob es gar ihr geliebtes Haus war?
Doch nein, leider nicht, die Ortschaft trug einen anderen
Namen. Egal, es war ein Haus am Meer, und nun wußte die
kleine Stranddistel endlich, wo sie ein rechtes Zuhause fin-
den konnte.
Die Zeitschrift fest ans Herz gedrückt, schlief Senöwe von
Helgen ein. Schlief so gut, wie sie in dem weichen Pfühl
noch nie geschlafen hatte.
Daß in der Villa Neubeck alles ordnungsgemäß verlief, war
gewiß nicht das Verdienst der Hausherrin, sondern das der
Hausdame, die schon länger als ein Jahrzehnt dort segens-

reich wirkte. Der Hausherr schätzte sie sehr, und seine Kin-
der hingen an ihr.
Also geschah es nicht um des Hausstandes willen, daß Er-
win Neubeck wieder heiratete, sondern weil er Irina liebte.
Er wußte wohl, daß die verwöhnte Frau kein braves Haus-
mütterchen werden würde, aber das verlangte er ja gar
nicht von ihr. Er wollte eine schöne, elegante Frau haben,
mit der er prahlen konnte das Hauswesen und die Kinder
waren bei Frau Alger bestens aufgehoben.
Also führte er Irina heim und hatte das in seiner bis jetzt
einjährigen Ehe noch nicht einen Augenblick bereut. Im

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Gegenteil war er der geliebten Frau dankbar, daß sie sich so
gut mit seinen Kindern verstand. Mehr jedenfalls als mit

der eigenen Tochter, die so gar nichts von ihrer mondänen,
charmanten Mutter hatte.
Daher konnte Erwin Neubeck auch nicht den richtigen
Kontakt zu dem aparten Mädchen finden und behandelte
es mehr als junge Dame denn als Stieftochter. Daß diese
nicht hinter den Kindern des Hauses zurückstand, dafür
würde schon die leibliche Mutter sorgen. Somit tat er die-
sen Fall ab, wie er ja alles abtat, was ihm unbequem war.
Wie schon gesagt, lief dank der Fürsorge der Frau Alger in
dem großgeführten Hauswesen alles reibungslos. Pünk-
tlichkeit war da erstes Gesetz, dem sich selbst die verwöhn-
ten und freiheitsliebenden Kinder beugten.

Also nahm man die Mahlzeiten pünktlich ein, bis auf das
Frühstück, da gab es keine Norm. Die drei schulpflichtigen
Kinder, zu denen auch Charlott bis Ostern gehörte, schlan-
gen es während des Ankleidens hinunter, weil sie nicht zu
bewegen waren, den weichen Pfühl auch nur fünf Minuten
früher zu verlassen als unbedingt nötig. Der Hausherr
nahm es gedankenlos ein, weil er dabei das Börsenblatt las,
die Hausherrin schlief bis in den Vormittag hinein, wie es
jetzt auch Charlott nach der Schulentlassung tat, und nur
Frau Alger sowie Senöwe fanden sich um acht Uhr am
Frühstückstisch ein.
So geschah es auch heute. Senöwe wünschte der würdigen

Dame artig einen guten Morgen, plauderte wie stets mit
ihr, und doch hatte Frau Alger den Eindruck, daß das junge
Mädchen mit seinen Gedanken weit fort war. Es aß hastig,
gab zerstreute Antworten und sprang schließlich auf, ohne
die Tasse geleert zu haben.
»Entschuldigen Sie, Frau Alger, aber ich kann unmöglich
hier in aller Gemütsruhe frühstücken.«
Weg war sie und hastete zum Schlafzimmer der Mutter, die
in ihrem luxuriösen Bett noch im tiefen Schlummer lag,
den Senöwe rücksichtslos unterbrach, indem sie die Jalou-
sien hochzog. Zuerst blinzelte die so Aufgeschreckte ins

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blendende Licht, setzte sich dann auf und sah die vor ihr
stehende Tochter ärgerlich an.

»Senöwe, ich muß schon sagen…«
Weiter kam sie nicht, weil das Mädchen sich auf den Bett-
rand setzte und die Schockierte umfaßte.
»Sei lieb, Mama, ja? Ich habe dir nämlich etwas zu sagen,
was keinen Aufschub duldet – wenigstens für meine Unge-
duld nicht. Da, lies!«
Damit drückte sie der Mutter die Illustrierte in die Hand,
auf die diese zuerst starrte und dann verständnislos den
Kopf schüttelte.
»Und dazu reißt du mich so unbarmherzig aus süßem
Schlummer, damit ich den Künstler betrachten soll, der
übrigens wie ein Wald- und Wiesenmensch aussieht? Wer

ist er überhaupt?«
»Aber Mama, erkennst du denn nicht den Maler Konrad
Hövemann, den besten Freund von Paps?«
»Ach, der ist das – «, dehnte Irina. »Komisch, daß der für
sein Gekleckse auf der Ausstellung den ersten Preis bekam.
Wird wohl so seine Verbindung haben.«
»Und vor allen Dingen hat er ein Haus an der Ostsee.«
»Ist das denn so aufregend?«
»Für mich schon. Ich fahre nämlich zu meinem lieben gu-
ten Onkel Konny. Herrgott, was habe ich bloß für eine
Mordsfreude!«
»Das verbiete ich dir, Senöwe! Der haust dort doch be-

stimmt allein.«
»Und was schadet das?«
»Ja, sag mal, mein Kind, gehen dir denn alle Anstandsre-
geln ab?«
»Mama, Onkel Konny ist bestimmt nicht mehr weit von
Fünfzig.«
»Das sagt gar nichts. Bedenke, daß dein Vater auch
zweiundzwanzig Jahre alter war als ich. Du fährst zu dem
Maler jedenfalls nicht.«
»Und ich fahre doch. Ich halte es in diesem Hause einfach
nicht mehr länger aus.«

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»Kind, sei doch nicht so störrisch«, griff sich nun die Dame,
die selbst im Bett einen mondänen Eindruck machte, ner-

vös an die Schläfen. »Wenn du aus diesem Hause, das dich
so schützend umgibt, durchaus fortstrebst, dann nur ein
kleines Entgegenkommen – und du wirst noch heute des
reichen und angesehenen Fred Ewings Braut.«
»Ah, daher weht der Wind. Gib dir keine Mühe, Mama, ich
heirate nur den Mann, den ich mir selbst aussuche. Und
nun paß mal auf: Sollte Onkel Konny wirklich allein in
dem Strandhaus wohnen, dann komme ich zurück, das
verspreche ich dir, denn ich bin selbst nicht dafür, mich
dem Gerede der Menschen auszusetzen. Und nun gehab
dich wohl, ich melde mich sehr bald.«
Ja, was sollte die Frau da wohl machen. Sie wußte ja schon

längst, daß sie keine Macht über die Tochter besaß, eigent-
lich nie besessen hatte. Die erste Instanz war von jeher der
vielgeliebte Paps gewesen, und mündig war sie jetzt auch.
»Na schön«, gab Irina resigniert nach, weil ihr eben nichts
anderes übrig blieb. »Ich will dich nicht halten. Ich weiß
nur nicht, wie ich es meinem Mann, diesem herzensguten
und edlen Menschen, beibringen soll, daß seine Stieftoch-
ter ihm alles, was er ihr so großmütig bietet, hohnlachend
vor die Füße wirft, um in der Einöde unterzutauchen.«
»Nun, Mamachen, du wirst schon deinem ergebenen Ehe-
sklaven gegenüber die richtigen Worte linden«, spottete
Senöwe. »Nichtsdestotrotz bin ich ihm für das Auto dank-

bar, das er mir an meinem Geburtstag schenkte. In dem
wonnigen Gefährt werde ich hinauskutschieren in die Frei-
heit und hinein in die Arme meines guten Onkel Konny.
Also indes auf Wiedersehen oder Wiederhören, Mama. Be-
halte deine unnütze Tochter heb, die nie vergessen wird,
was sie dem makellosen Namen Helgen schuldig ist.«
Und ehe die überrumpelte Frau noch antworten konnte,
war das Mädchen auf und davon.
Senöwe von Helgen fühlte sich so losgelöst wie eine Möwe,
der es gelungen war, nach einjähriger Haft dem engen Käfig
zu entfliehen. Und wenn dieser Käfig auch noch so gute

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Sicherheit garantierte, so war der Freiheitsdrang weit starker
als alle Wohlgeborgenheit.

Was sie in dem Strandhaus erwartete, das wußte Senöwe
zwar nicht, aber es würde alles leichter zu ertragen sein als
das Schmarotzerleben in der komfortablen Villa.
Senöwe hatte die Autokarte gründlich studiert und wußte
daher, welchen Kurs sie einschlagen mußte.
Dazu war es Mai – und Senöwe von Helgen zählte einund-
zwanzig Jahre. Was Wunder, daß ihr die Welt in rosarotem
Licht erstrahlte. Wie es weitergehen sollte, darob machte sie
sich keine Sorgen, der gute Onkel Konny würde bestimmt
einen Ausweg wissen.
Allein, bis es soweit war, verging noch eine gute Weile. Zu-
erst galt es einmal, das Dorf zu erreichen, in dessen Nähe

das Strandhaus liegen sollte. Wenn nur der Wegweiser aus-
führlicher angezeigt Hätte, aber aus denen konnte man
wirklich kaum klug werden.
Aha, da stand schon wieder so ein Ding und streckte vier
Arme aus. Nach Möwen wollte sie nicht, nach Sanden auch
nicht, aber hier, daher wehte wohl der richtige Wind.
Ja – und dann schien die Welt plötzlich nicht mit Brettern
vernagelt zu sein, aber immerhin von Drahtzäunen abge-
sperrt. Senöwe konnte steuern hin und her, kreuz und
quer, überall gebot so ein Zaun Halt.
Und jetzt tat es gar ein breites, schmiedeeisernes Tor, hinter
dem sich ein riesiger Park erstreckte, den eine Birkenallee

schnurgerade durchschnitt. Senöwe stieg aus, trat ganz na-
he an das Hindernis heran und lugte durch die Eisenstäbe
in den Park, der wie verwunschen dalag. Uralte Bäume, die
jetzt junges Mailaub schmückte, weite Rasenflächen mit
smaragdgrünem Schimmer, allerlei Figuren, sicher schon
sehr alt, aber gepflegt, weiter hinten ein Weiher, auf dem
ein Schwanenpaar gemächlich ruderte – nur von einem
Haus war nichts zu sehen.
Wie verzaubert schaute Senöwe auf dieses herrliche Fleck-
chen Erde, aus dessen grüner Tiefe es geheimnisvoll zu
raunen und zu wispern schien.

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Bis die andächtig Schauende rücklings einen Stoß erhielt,
der sie gegen das Tor warf. Zutiefst erschrocken fuhr sie

herum und sah nun einen Jagdhund, der sie mit feindseli-
gem Knurren musterte. Bis ein kurzer, scharfer Pfiff ihn
dahin eilen ließ, wo nun auch ein Mann sichtbar wurde,
der Jagdkleidung und die Flinte über der Schulter trug.
Senöwe stand da wie erstarrt, das Herz klopfte bang und
schwer. Abwehrend streckte sie die Hände aus – und da
umzuckte ein ironisches Lächeln den Mund des Mannes,
der jetzt vor ihr stand, seine Augen erst über den chromb-
litzenden Wagen gleiten ließ und sie dann auf das Mäd-
chen heftete, das stocksteif dastand und sich nicht zu rüh-
ren wagte.
Dann klang eine Stimme auf, dunkel, volltönend, mit der

Sicherheit des Gebieters:
»Nun, meine Gnädige, wollen Sie mir vielleicht erklären,
wie Sie in ein Gebiet gelangen konnten, das von allen Sei-
ten abgesperrt ist und wo an der einzigen Zugangsstelle ein
Schild anzeigt, daß dieser Privatweg nur von Befugten be-
fahren werden darf?«
Der herrische Ton reizte Senöwe, doch die Haltung des
Mannes warnte sie davor, eine patzige Antwort zu geben.
Daher sagte sie höflich:
»Entschuldigen Sie, mein Herr, ich habe mich hierher ver-
irrt.«
»Wohin wollen Sie denn?«

»Zum Maler Hövemann.«
Jetzt blitzte es überrascht in den Augen des Mannes auf, der
im Aussehen wie im Gebaren gewiß kein Dutzendmensch
war. Wer mochte dieser ungewöhnliche Mann sein?
Während sie grübelte, merkte sie gar nicht, daß ihre Augen
großaufgeschlagen an der prachtvollen Erscheinung hin-
gen, und daß ihr Blick ihre Gedanken verriet. Sie zuckte
zusammen, als die sonore Stimme erneut aufklang:
»Dann fahren Sie geradeaus ins Dorf und lassen sich dort
den Weg zum Strandhaus erklären. Guten Tag.«
Damit lüftete er den grünen Hut und wandte sich dem Tor

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zu, zog aus der Tasche ein Schlüsselbund, schloß auf, hin-
ter sich wieder zu und schritt festen Fußes die Allee ent-

lang, ohne sich nach Senöwe umzusehen, die ihm mit
atemloser Spannung nachsah, bis die hohe Gestalt in ei-
nem Seitenweg verschwand.
Verschwunden wie ein Spuk, dachte sie zusammenschau-
dernd. Da kann es einem ja direkt gruseln, zumal in diesem
Märchenwald eine so unheimliche Stille herrscht, als halte
die Natur den Atem an.
Also beeilte sie sich, in den Wagen zu kommen, brachte
ihn in Gang, wendete und fuhr langsam den Weg entlang,
der wohl noch zwei Kilometer weit von Zäunen abgesperrt
war.
Doch unmittelbar danach begann das Dorf, in das Senöwe

wollte. Ein Schild zeigte es an, aber daneben stand noch
eins, das darauf hinwies, daß das Betreten und Befahren
des eingezäunten Weges Unbefugten bei Strafe untersagt
sei.
»Ach du lieber Gott, da kann ich ja froh sein, daß ich noch
so glimpflich weg kam«, murmelte Senöwe. »Denn der fin-
stere Mann scheint wahrlich nicht lange zu fackeln.«
Und dann galt ihr Interesse erst mal dem Dorf. Die Häuser,
ungefähr dreißig mochten es sein, hatten zum Teil noch ein
Strohdach. An den weißgetünchten Mauern hingen Netze,
hinter den blanken Scheiben der kleinen Fenster blühten in
Töpfen Fuchsien und Geranien, und in den kleinen Vorgär-

ten leuchtete es bunt von Frühlingsboten. Jedenfalls mach-
te das Dorf, in dessen Mitte der Dorfkrug breit und behäbig
stand, einen sauberen und freundlichen Eindruck. »Zur
fetten Flunder« prangte es über der Haustür in lustigbunter
Schrift, also vielverheißend, wie Senöwe lachend feststellte.
Für ihren Wagen fand sie reichlich Platz, und nachdem sie
ihn gesichert hatte, betrat sie den Flur, der mit roten Zie-
geln ausgelegt war. Die große Stube war so niedrig, daß ein
hochgewachsener Mensch mit ausgestrecktem Arm bequem
die Balken fassen konnte. Es roch darin nach Tran, Fisch
und Tang, Schnaps, Grog, Stiefelwichse, Petroleum, Herin-

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gen und Zichorie. Die drei letzten »Düfte« wehten aller-
dings von dem Laden her, dessen Tür einen Spalt geöffnet

war.
Die Luft in dem Schankraum hätte man schneiden können.
Sie rührte von dem Knaster her, den die Männer, die darin
saßen, in ihren Pfeifen rauchten.
Wie etwas lange Entbehrtes zog Senöwe von Helgen diese
Gerüche ein. Und warum? Weil das die Luft war, die sie
geatmet hatte, wenn sie, den primitiven Korb am Arm, vom
Strandhaus in den Krugladen einkaufen ging. Es gab alles
darin, von der Nähnadel bis zu den Holzpantoffeln, über
Kochtöpfe, Steingutgeschirr, Bonbons, Schokolade und
Schmierseife.
Als die elegante junge Dame eintrat, hoben die Männer, die

an den Tischen mit den grellbuntkarierten Decken saßen,
flüchtig die Köpfe. So eine Erscheinung war hier nicht neu,
weil der Ort, der besonders schön gelegen, immer wieder
Sommergäste anzog, die es »schick« fanden, in den Fi-
scherhäusern zu wohnen und im Krug die einfache Haus-
mannskost zu essen. Selbst der Wirt näherte sich diesem
Gast, der sich an einen freien Tisch setzte, durchaus nicht
dienstbeflissen. Pomadig kam er näher und fragte nach
dem Begehr; wunderte sich gar nicht, als diese »süße Pup-
pe« ein Bier bestellte, das dann kurz darauf im Seidel
schäumte.
Beherzt setzte Senöwe es an die Lippen, tat einen langen

Zug und fragte dann den Wirt nach dem Weg.
»Das trifft sich gut, meine Dame«, verzog sich das glänzen-
de Vollmondsgesicht zu einem breiten Lachen. »Frau Hö-
vemann befindet sich nämlich gerade nebenan im Laden,
um ihre Einkäufe zu machen. Wenn Sie mitkommen wol-
len…«
Schon kugelte er voran, und sehr langsam folgte Senöwe.
Denn was sie soeben gehört, war nicht so leicht zu fassen.
Frau Hövemann?
Dann jedoch geschah etwas, das Senöwe völlig aus dem
Gleichgewicht brachte. Sie fühlte ihre Hände erfaßt, einen

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Kuß auf die Wange gedrückt und hörte ein silberhelles La-
chen.

»Nun komm schon endlich zu dir, kleine Stranddistel.
Wird mein Konny aber eine Mordsfreude haben, wenn ich
ihm mit so einem Mitbringsel komme. Hast du nebenan
etwas verzehrt?«
»Nur Bier.«
»Aha! Hier haben Sie eine Mark, Herr Wirt, und nun lassen
Sie uns in Frieden ziehen.«
Damit griff sie nach dem Arm der Willenlosen und zog sie
mit sich fort. Draußen betrachtete sie das Auto mit Ken-
nerblick.
»Schicke Karre. Dein persönliches Eigentum?«
»Ja – «, war alles, was Senöwe zuerst einmal vorbringen

konnte. Es wirbelte in ihrem Kopf, nach dem sie hilflos
griff, und die andere lachte:
»Kann mir so ungefähr denken, wie die Gedanken in dem
Köpfchen durcheinanderpurzeln. Ich hätte ja auch weniger
stürmisch vorgehen können, aber als ich dich so fassungs-
los stehen sah, spickte mich der Hafer, wie es so schön
heißt.«
»Ja – aber sind Sie – denn wirklich – Onkel Konnys – Frau -

»Mädchen, du stotterst ja ganz erbärmlich. Vor allen Din-
gen laß mal das steife Sie, das wollen wir zwischen uns erst
gar nicht aufkommen lassen.«

»Aber woher kennen Sie – kennst du – mich denn über-
haupt?«
»Kindchen, wer so aufreizend an der Wand hängt wie du
bei uns, der hat seinen Steckbrief weg. Außerdem hat Kon-
ny mir viel von der kleinen Stranddistel, dem Sturmvogel
und noch mehr solcher stolzen Tierchen in zärtlichster
Weise erzählt. Und nun wollen wir endlich losfahren. Ich
kann es nämlich kaum noch erwarten, dich Konny trium-
phierend zu präsentieren. Was dir noch unklar ist, erzähle
ich unterwegs.«
So stiegen sie denn ein, doch bevor Senöwe den Wagen in

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Bewegung setzte, ließ sie sich erst einmal den Weg be-
schreiben.

»Siehst du ungefähr zweihundert Meter weiter den Weg, der
rechts abbiegt?«
»Ja.«
»Den schlägst du ein. Dann noch einmal rechtsherum und
du gelangst an eine Wellblechgarage, wo dein Hottehüh-
chen Wohnung beziehen kann, weil wir augenblicklich
noch keins haben.« So tat Senöwe denn wie ihr geheißen.
Der Weg, der von der Asphaltstraße abbog, war so einiger-
maßen, doch der nächste, den sie einschlugen, war schmal
und sandig. Doch unermüdlich mahlten die Räder hin-
durch, angetrieben von dem vorzüglichen Motor.
Und dann befand man sich plötzlich in der Nähe der See,

die an diesem sonnigen Maitag in unwahrscheinlicher
Bläue erstrahlte. Vor der Garage stoppte Senöwe, und dann
hingen ihre leuchtenden Augen freudetrunken an dem
Bild, nach dem sie sich ein Jahr lang gesehnt hatte.
»Wunderbar«, sagte sie leise. »Mir ist zumute, als wäre ich
nach quälender Irrfahrt endlich wieder heimgekehrt.«
»Das bist du auch«, sprach da eine Stimme neben ihr gütig.
»Denn so ein kleiner Sturmvogel wie du kann sich in der
Stadt unmöglich heimisch fühlen. Das habe ich Konny
immer wieder vorgehalten.
So, und nun werde ich dir erst mal die nötigen Erklärungen
geben, also: Ich heiße Anita, bin siebenunddreißig Jahre,

könnte also zur Not deine Mutter sein. Ich bin in dem
Strandhaus geboren und auch aufgewachsen, weil mein
Vater, Professor Gratz, es mit den Altertümern hatte, wobei
sein Kind mit der Zeit auch Altertumswert gewann. Es fühl-
te sich jedoch mopsfidel dabei.
Bis dann dieser gute Kamerad seine treuen Augen für im-
mer schloß – meine Mutter hatte es schon zehn Jahre vor-
her getan – da stand ich denn da, ein einsames Altjüngfer-
lein.
Um dieser quälenden Einsamkeit mal erst zu entfliehen,
ging ich auf Reisen, was gewiß nicht zum erstenmal ge-

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schah; denn ich hatte mit meinem lieben Vater schon ein
gutes Stück von der Welt gesehen. Und auf diesem Bummel

listete mich das Schicksal mit dem Malersmann Konrad
zusammen. Das heißt, wertvoll an mir war ihm wohl nur
mein Strandpalast«, setzte sie spitzbübisch hinzu. »Und da
er den ohne mich nicht bekommen konnte, nahm er mich
wohl oder übel als Beigabe mit.«
»Was wohl nicht ganz stimmen kann«, warf Senöwe trok-
ken ein. »Da wird der liebe Amor wohl kräftig mitgeholfen
haben.«
»Kindchen, ich bitte dich, in unseren Jahren«, tat sie gro-
ßartig, mußte sich jedoch auslachen lassen, wobei sie fidel
mittat.
»Nachdem nun alles geklärt ist, können wir aussteigen.

Deine Prachtkutsche kannst du unbekümmert hier stehen
lassen, weil ich ja nicht den Schlüssel von der Garage mit
mir herumschleppe. Auch den Koffer laß stehen, den holt
Konny dann später. In unserem Paradies wird erstens nicht
gestohlen, und dann verirrt sich auch kaum ein Mensch
hierher.«
Als sie ausgestiegen waren, stand Senöwe erst einmal zö-
gernd da.
»Anita, ich habe noch etwas auf dem Herzen.«
»Na, denn mal herunter mit dem Ballast«, kam es vergnügt
zurück. »Ich bin ein Mensch; nichts Menschliches ist mir
fremd. – Ist er wenigstens deiner wert?«

Da lachte Senöwe, hellklingend, „überschäumend, wie sie
seit des Vaters Tod nicht mehr gelacht hatte.
»Der – Er – ist vorläufig noch Vexierbild, also gibt es darü-
ber nichts zu berichten. Was mich bedrückt, das ist, ob ich
Onkel Konny – und vor allen Dingen auch dir – nicht un-
gelegen komme.«
»Schaf«, unterbrach Anita sie trocken. »Wenn du das noch
nicht gemerkt hast, dann kannst du mir nur leid tun.
Also hör mal gut zu, Senöwe, was ich dir sagen werde«,
wurde die Frau nun ernst. »Konnys Erschütterung hättest
du sehen sollen, als er mich seinem guten Freund Justus

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freudestrahlend vorstellen wollte – und als uns dann in
dem lieben Strandhaus ein fremder Mann entgegentrat und

gleichmütig erklärte, daß der Bildhauer von Helgen ver-
storben wäre und seine Witwe das Haus an ihn verkauft
hätte. Sie wäre jetzt wieder verheiratet, doch Genaueres
darüber wüßte er nicht.
So stellte denn Konrad seine Recherchen an und erfuhr
somit, daß die schöne Irina wirklich wieder geheiratet hatte
– und du mit ihr in dem reichen Hause wohntest.«
»Und warum schrieb Onkel Konny denn nicht an mich?«
warf Senöwe hastig ein.
»Weil er annahm, daß, wenn du nun mit deiner Mutter
zusammen lebtest in Wohlstand und Sorglosigkeit, du ge-
wiß nicht mehr die alte Senöwe wärest. Und mit einer

mondänen Dame in Verbindung zu treten, dazu verspürte
er keine Lust.«
»Wie sehr er mir unrecht tat, werde ich ihm schon bewei-
sen«, erwiderte das Mädchen erregt. »Der kluge und auch
weitgereiste Mann hätte immerhin so viel Erfahrung haben
müssen, daß aus einer Stranddistel niemals eine Orchidee
werden kann.«
»Guter Vergleich«, lachte Anita. »Und nun rege dich mal ab,
mein Herzchen, ganz blaß bist du geworden. Komm, damit
du dem verbohrten Konny ordentlich Zunder geben
kannst.«
Der Pfad, den sie jetzt gingen, war noch sandiger als der

Weg, den sie gefahren waren.
Und dann lag das Strandhaus vor ihnen. Ein festgefügter
Holzbau, eingeschossig, mit ausgebauten Giebeln und
Mansarden. Die geräumige Terrasse lag der See zu, vierzehn
Stufen mußte man zu ihr emporsteigen. Der Hauseingang
befand sich auf der anderen Seite und man konnte ihn zur
ebenen Erde erreichen. Blanke Fensterreihen, hinter denen
duftige Gardinen hingen, zeugten davon, daß in diesem
schmucken Bau eine sorgsame Hausfrau waltete. Wahrlich
ein Anblick ringsumher, der jedes Malerauge entzücken
mußte.

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Der Maler selbst saß auf der untersten Terrassenstufe und
flickte an einem Netz. Gewiß kein Adonis mit seiner unter-

setzten Gestalt, dem groben Gesicht, der zu lang geratenen
Nase und dem kantigen Schädel, auf dem rotes, storres
Haar wuchs. Wenn es zu lang wurde, stutzte Konrad Hö-
vemann es eigenhändig mit der Schere und damit holla.
Aber die Augen, die waren schön. Dunkelblau, lustig und
gut. Wie auch das Schmunzeln, das dieses Männerantlitz so
liebenswert machte, und auch die Pfeife, ohne die man sich
den Mann kaum vorstellen konnte. Zum Glück wurde sie
nicht mit Knaster gefüllt, sondern mit einem guten Tabak.
»Bleib noch im Hintergrund«, raunte Anita dem Mädchen
zu, das mit Tränen in den Augen den Mann betrachtete, der
ihr neben dem Vater der liebste Mensch gewesen von jeher.

»Ich will meinen guten Alten neugierig machen und das
genüßlich auskosten.
Hallo, Konny, ich hab dir was Wunderschönes mitgeb-
racht!« rief sie ihm spitzbübisch zu. »Nun rate einmal, was
es wohl sein könnte.«
Die Pfeife wurde aufreizend langsam von einem Mund-
winkel in den anderen geschoben, und die Augen zwinker-
ten verschmitzt zu dem getreuen Ehegespons hin.
»Da du im Krugladen warst, wie der Korb an deinem Arm
beweist, könnten es nur einige von den Stinkadores sein,
die so herrlich nach Petroleum und Stiefelwichse schmek-
ken. Oder hast du gar eine Importe aufgestöbert? Nun rück

schon damit raus, Weib.«
»Hach, Importe, daß ich nicht lache! Ein Nuschtwerk ist
die gegen mein Mitbringsel. Und dabei kostet es nichts.«
»Hm – « meinte der Mann, der nicht so leicht zu erschüt-
tern war. »Da kann es schon gar nichts Rechtes sein, denn
umsonst ist nicht mal der Tod.«
»Aber eine Stranddistel«, entfuhr es Anita ungewollt. Da
hob der Mann den Kopf. Sein falkenscharfer Blick schweifte
umher und erspähte dann auch Senöwe, die zu ihm hin-
lachte. Einige kühne Sprünge, dann stand sie vor dem
überraschten Mann, ihm beide Hände entgegenstreckend.

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»Onkel Konny, ich bin es wirklich!« jubelte sie. »Ich glau-
be, du hast schon mal schlauer ausgesehen.«

»Hab ich recht?« triumphierte Anita. »Ist das nun ein wun-
derschönes Mitbringsel oder nicht?«
»Kann man wohl sagen«, schmunzelte er, dabei das bezau-
bernde Geschöpf liebevoll betrachtend. »Mädchen, sei mir
tausendmal herzlich willkommen.«
»Na also«, zappelte Anita vor Ungeduld, das erregende Er-
lebnis zu schildern. »Stell dir mal vor, was ich wohl für
Augen machte, als diese elegante junge Dame so plötzlich
im Krugladen vor mir stand. Aber ich erkannte sie sofort,
jawohl!«
»Bei deinem Scharfsinn gewiß kein Wunder«, besah er sich
seine muntere Ehehälfte. Und an dem zärtlichen Blick

konnte Senöwe erkenne, daß dieses Paar sich trotz der rei-
fen Jahre in Liebe gefunden hatte.
»So, meine kleine Standdistel, nun erzähle uns mal wie,
warum und wieso«, forderte der Mann auf. »Aber dazu set-
zen wir uns wohl auf die Terrasse.«
Wenig später saß man bequem in Sesseln aus Rohrgeflecht,
und es grenzte beinahe schon an Hexerei, als in unwahr-
scheinlich kurzer Zeit eine Flasche mit kühlem Wein und
Gläser auf dem Tisch standen. Der Hausherr schenkte ein,
man trank den ersten Schluck auf den unverhofften Gast.
Und dann erzählte Senöwe. Von des Vaters Tod, dem
Hausverkauf, der Heirat der Mutter und so fort bis zum

gestrigen Abend, da sie die Illustrierte in die Finger bekam
und es somit kein Halten für sie gab, zu dem Menschen zu
eilen, der ihr von Kindheit an vertraut war.
»Hm – und was sagte die Frau Mama zu deinem Ent-
schluß?« forschte Hövemann, der gleich der Gattin dem
Bericht interessiert gefolgt war. »Oder bist du etwa heimlich
auf und davon?«
»Nein, Onkel K- nrad. Ich riß sogar Mama aus süßem
Schlummer, um ihr diesen Entschluß mitzuteilen. Denn
bis sie so um zwölf Uhr herum unten auftauchte, konnte
ich unmöglich warten, weil ich ja nicht genau wußte, wie

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lange ich zu der Fahrt hierher brauchen würde. Aber sie war
denn doch kürzer, als ich annahm.«

»Ja, kümmert deine Mutter sich denn nicht um den Haus-
stand?« fragte Anita konsterniert.
»Nein, das braucht sie nicht. Dafür ist eine Hausdame da,
die schon länger als ein Jahrzehnt dort segensreich wirkt.«
»Und womit verbringt deine Frau Mama denn ihre Tage?«
»So, wie es einer Mondänen zukommt«, erklärte Senöwe,
sich über das verdutzte Gesicht der anderen köstlich amü-
sierend.
»Und die Ehe?« warf der Maler kurz dazwischen.
»Ist gut. Denn so stark Mama auch stets beschäftigt ist, für
ihren Mann hat sie immer Zeit.«
»Und die drei Kinder?«

»Läßt man nach ihrer Fasson selig werden.«
»Gott in deine Hände«, sagte Anita erschüttert. »Da komm
ich Dutzendmensch einfach nicht mit.«
»Siehst du, mir erging es ebenso«, nickte Senöwe. »Daher
konnte ich mich trotz der glänzenden Verhältnisse in dem
Haus nicht wohl fühlen. Und es verlassen, um mich auf
eigene Füße zu stellen, das hätte mein Stiefvater und Vor-
mund nicht zugelassen, dafür hätte schon Mama gesorgt.
Sie war direkt entrüstet, als ich ihr mit dem Anliegen kam.
Konnte es einfach nicht begreifen, daß ein Mensch sich aus
dem Wohlleben heraussehnte und arbeiten wollte. Und da
ich damals noch nicht mündig war, mußte ich in der kom-

fortablen Villa weiter vegetieren. Und wer weiß, wie lange
ich dazu noch verurteilt gewesen wäre, hätte ich nicht in
der Illustrierten dein Bild entdeckt, Onkel Konny.«
»Also ist das Interview, wogegen ich mich zuerst mit Hän-
den und Füßen sträubte, doch zu etwas nütze gewesen«,
schmunzelte der Maler. »Aber wenn dein Herr Stiefvater
und Vormund dich mit Pauken und Trompeten in die wei-
chen Pfründe zurückholt, was dann?«
»Kann er nicht, ich wurde vor einer Woche mündig.«
»Aha, daher die Courage. Na, sei dem wie es wolle, ich
empfinde eine Mordsfreude, dich hierhaben zu dürfen,

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meine kleine Stranddistel – die du gottlob trotz der Ver-
pflanzung geblieben bist.«

»Woran du ja, wie Anita mir erzählte, gezweifelt hast, mein
lieber Onkel Konrad.«
»Ja, denk dir bloß«, schaltete Anita sich lachend ein. »Als
ich ihr deine Skepsis verriet, bemerkte sie trocken, du klu-
ger und weitgereister Mann hättest es eigentlich wissen
müssen, daß aus einer Stranddistel nie eine Orchidee wer-
den kann.
Aber nun sag mal, mein schneidiges Mädchen, was hättest
du wohl gemacht, wenn dein guter Onkel Konny hier ohne
jede Weiblichkeit gewesen wäre? Da hätten sich die Leut-
chen wohl ganz, gehörig ihre Mäuler zerrissen?«
»Ich hätte sie geheiratet«, meinte der Maler pomadig, wäh-

rend die Fältchen um Augen und Mund nur so tanzten.
»Genauso wie ihr Vater es tat, als er mit seinem Mündel
nichts anzufangen wußte. Hättest du mich genommen,
mein Sturmvögelchen?«
»Sofort«, blitzte sie ihn übermütig an. »Ein ältlicher Mann
in der Hand, ist immerhin besser als ein junger auf dem
Dach.«
»Siehste, da hast du's!« wollte Anita sich halb totlachen.
»Geschieht dir recht, du eitler Herr der Schöpfung.
Doch nun plauscht mal allein weiter, während ich für ein
verspätetes Mittagsmahl sorge. Denn vor lauter Aufregung
vergaß ich ganz, pünktlich zu sein. Aber Delikatessen gibt

es bei uns nicht, meine fürnehme Dame.«
Damit wirbelte sie ab, und der Gatte schmunzelte.
»Na, was sagst du nun zu meinem besten Stück? Habe ich
bei der Wahl nun Dusel gehabt oder nicht?«
»Kann man wohl sagen«, entgegnete Senöwe warm. »So
rasch vertraut wie mit dieser Frau bin ich noch nie mit ei-
nem Menschen gewesen. Das heißt, sie ließ ein Fremdsein
erst gar nicht aufkommen. Duzte mich gleich und tat so,
als hätten wir zusammen bereits einen Scheffel Salz ver-
zehrt.«
»Ein Zeichen, daß sie dich spontan ins Herz schloß«, er-

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klärte der Mann. »So ist sie nun mal, meine Anita. Wen sie
mag, dem schließt sie sich sofort an.«

»Also auch dir«, warf Senöwe trocken ein, und er lachte
verlegen.
»So war es, und das wird mir ewig ein Rätsel bleiben. Denn
diese prächtige Frau sieht nicht nur gut aus, sie ist außer-
dem gebildet und hat auch noch Geld.«
Es kam so kläglich heraus, daß Senöwe hell auflachte.
»Na, Onkel Konny, wohin die Liebe nun einmal fällt. Trin-
ken wir ein Glas auf das Wohl deiner wirklich liebenswer-
ten Frau.«
Als Senöwe am nächsten Morgen erwachte, tat sie es mit
der Unlust eines Menschen, vor dem ein ganzer Tag liegt,
mit dem er absolut nichts anzufangen weiß. Verdrießlich

warf sie sich auf die andere Seite, um weiterzuschlafen,
doch irgendwie war es anders als sonst.
Was war das überhaupt für ein Rauschen und Brausen,
dazwischen gellte es hell wie der Schrei einer Möwe.
Und da war die verschlafene Senöwe plötzlich hellwach.
Die Augen öffneten sich weit, und was sie erfaßten, war ein
urgemütliches Giebelstübchen, von Sonne durchflutet.
Hei, wie flitzten da die Beine aus dem Bett! Wie eilig
patschten die bloßen Füße an das geöffnete Fenster.
Und dann schaute das Mädchen andächtig auf das herrli-
che Bild.
Doch dann jubelte Senöwe auf. So hell und laut, daß der

Hahn, der unten im Hof mit seinem Harem eitrig scharrte,
empört krähte und die zehn Haremsdamen erschreckt
dazwischengackerten. Der Hund, der so ziemlich alle Ras-
sen in sich vereinte, bellte aufgeregt, und eine Menschen-
stimme riet lachend nach oben:
»Ja, Mädchen, wirst du etwa geschlachtet?«
»Nein, ich habe nur mein Lebenslustventil geöffnet«, kam
es gleichfalls lachend zurück. »Guten Morgen, Onkel Kon-
ny! Wie wunderherrlich es doch ist, dich zu sehen.«
»Ein Dito, Marjellchen. Aber nun stürze dich in die kühle
Flut und schwimme dir Appetit zum Frühstück an. Mein

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braves Weib ist schon auf und davon, um Flundern zu ho-
len, frisch aus der Räuchertonne. Und wenn du da nicht

tüchtig einhaust, ist sie dir bitterböse.«
»Um alles – bloß das nicht!«
Der Kopf am Giebelfenster zog sich zurück, und schon fünf
Minuten später sah der Mann das reizendste Badenixlein
zur See eilen mit federndem Gang. Das bernsteinhelle Ge-
lock umflirrte das feine Gesichtchen, ein lichtgrüner Bade-
anzug umschloß die jugendschöne, rassige Gestalt, in der
herunterhängenden Rechten baumelte die Badekappe
schneeweiß und weich wie Möwengefieder.
Schmunzelnd griff der Maler nach dem Skizzenbuch. Denn
es lohnte sich schon, so was Wunderholdes aufs Papier zu
bannen. Natürlich heimlich, still und leise, versteht sich.

Senöwe tat ihm sogar den Gefallen, nicht gleich ins Wasser
zu gehen, sondern kurz davor noch zu verweilen. Die
leuchtenden Augen ins Weite gerichtet, stand sie da in ver-
sunkenem Schauen.
Hövemann wußte wohl, welch ein Anblick das Mädchen
fesselte. Nämlich das Schloß, das sich über den Dünen
erhob und so trutzig seinen Platz behauptete, als wäre es
für die Ewigkeit erbaut.
Das fand auch Senöwe, die sich von dem kühnen, stolzen
Bild kaum losreißen konnte. Wem mochte dieses prächtige
Schloß am Meer wohl gehören? Etwa dem seltsamen
Mann, in dessen Revier sie sich gestern verirrte? Der Rich-

tung nach konnte es schon stimmen.
»Nun mach schon, du Traumclinchen!« riß eine helle
Stimme Senöwe aus ihrer Versunkenheit. »Laß dich von
dem großartigen Anblick da oben auf der Höh' nicht blen-
den. Es wird auch da nur mit Wasser gekocht, genauso wie
bei uns. Und unser Kaffeewasser sprudelt sich bereits tot.«
Da stülpte Senöwe die Badekappe auf das Gelock und wart
sich mit einem Jubellaut ins Wasser. Schwamm wie ein
kleiner Otter und erschien eine halbe Stunde später wie
blankgeputzt auf der Terrasse, wo der Kaffeetisch gedeckt
war. Aus der Kanne duftete es aromatisch, auf einem Teller

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lagen dick und fett goldbraun geräucherte Flundern. Ferner
gab es noch tropfenfrische Butter, herrliches Landbrot,

Marmelade und Honig.
»O wie schön«, freute Senöwe sich. »Das alles schmeckt
schon, wenn man es nur ansieht. Ich habe einen Mords-
hunger.«
»Dein Glück«, nickte Anita zufrieden. »Bei uns wird näm-
lich nicht genascht, sondern gegessen. Oder hast du Angst,
daß deine schlanke Linie dabei futsch geht?«
»Sollte mir einfallen«, schnitt Senöwe eine Grimasse. »Die-
se Angst überlaß ich Mama, die sich förmlich kasteit, um
nur ja nicht einen Zentimeter an Umfang zuzunehmen.
Und Charlott fängt jetzt auch schon damit an.«
»Wer ist das?«

»Meine ältere Stiefschwester.«
»Wie alt?«
»Siebzehn.«
»Na, so ein dummes Ding. Du meine Güte, als ich siebzehn
Lenze zählte, da war es mir völlig wurscht wie ich aussah –
und ist es eigentlich auch heute noch. Hauptsache, daß ich
meinem Konny gefalle. Und das tue ich doch, Alter, was?«
Sie war allerliebst, als sie ihn mit ihren dunklen Augen so
verschmitzt anblitzte, so ein richtiger charmanter kleiner
Kobold, dem man sein Alter wahrlich nicht ansah.
»So schön wie du bin ich natürlich nicht«, räumte sie ein,
dabei unbekümmert die Flunder zerlegend. »Auch nicht so

schick. Mit der Verpackung könntest du glatt in den Seebä-
dern Furore machen.«
»Und dabei ist das Fähnchen eines meiner anspruchslose-
sten Kleider«, tat Senöwe gleichmütig ab. »Die mondänen
brachte ich erst gar nicht mit. Die hängen zu Hause im
Schrank und können meinetwegen die Motten kriegen.
Das heißt, so ganz ohne Eitelkeit bin auch ich nicht, ich
zieh mich gern gut an. Es darf nur nicht zur Putzsucht aus-
arten, wie es in der Villa Neubeck der Fall ist. Da wird jedes
neue Kleid zur Sensation. Und kommt man erst auf die
Mode zu sprechen, berauscht man sich daran stunden-

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lang.«
»Haben die Menschen Sorgen«, meinte Anita trocken. »Ich

verstehe immer mehr, daß du es unter ihnen nicht aushiel-
test. Gräßlich denke ich es mir, ein Sklave der Mode zu
sein. Deshalb braucht man gewiß nicht in Sack und Asche
zu gehen, muß nur immer die vornehme Note bewahren.
Wie es zum Beispiel die beiden Gräfinnen da oben tun. Die
kleiden sich bestimmt nicht nach dem letzten Schrei und
wirken dennoch elegant. Warum fährst du denn so auf?«
»Weil mir jetzt wieder einfällt, was ich gestern erlebte. Das
muß ich doch mal rasch erzählen.«
Sie tat's und führte dann weiter aus:
»Wie verzaubert kam mir alles vor – auch der Mann. Ich
muß schon sagen, daß ich einem so seltsamen noch nie

begegnete.«
»Kann ich mir denken«, lachte Anita. »Er ist ja auch wahr-
lich kein Dutzendmensch, der Graf von und zu Bernbrugg
auf Möwen.«
»So kennst du ihn?«
»Will ich meinen. Ich habe den wilden Jungen sogar be-
treut und später, als gute Beichtmutter, die kleinen Aben-
teuer des Jünglings zur Kenntnis nehmen müssen; denn ich
war ja von jeher sieben Jahre älter als er.«
»Halt ein, du Strolch«, lachte der Gatte amüsiert dazwi-
schen. »Drück dich nicht so mystisch aus. Hab Erbarmen
mit dem Mädchen, das ein Gesicht macht, als ob die Katz

es donnern hört.«
»So will ich denn gnädig sein. Also höre und staune: Der
Knabe Rasmus wurde von meinem Vater, der nebenbei
noch Dr. phil. war, in die Geheimnisse des ABC einge-
weiht. Und da das so gut ging, ließ der Graf seinen einzigen
Sprößling bei dem bewährten Magister bis zur Obersekun-
da. Da erst kam der Schüler aufs Gymnasium, wo er dank
der guten Vorbereitung das Abitur als Primus schaffte.
Hinterher ging er zur Landwirtschaftlichen Hochschule, wo
er auch glänzend abschloß, und dann kam der Bummel
durch die Welt, wie das ja bei Söhnen vornehmer und rei-

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cher Eltern so üblich ist. Kehrte er jedoch zwischendurch
nach Hause zurück, stürmte er, kaum daß er die Eltern be-

grüßt hatte, hier herein wie das lachende, sprühende Leben
persönlich. Ein Bild von einem jungen Kerl, auf den ich so
richtig schwesterlich stolz war; denn schließlich waren wir
ja wie Geschwister aufgewachsen.
Ja – und was ich nun weiter erzählen werde, kenne ich nur
vom Hörensagen, weil ich mich mit meinem Vater gerade
auf Reisen befand, als das Widerwärtige geschah.
Als der junge Graf nämlich Mitte Zwanzig war, legte ihm
sein Vater nahe, sich unter den Töchtern des Landes umzu-
sehen. Schwer für ihn; denn wer die Wahl hat, der hat auch
bekanntlich die Qual. Und Auswahl hatte dieser Mann
wahrlich, der nicht nur über eine blendende Erscheinung,

sondern auch über Geld verfügte und Gut.
Daher brauchte er um Geld nicht zu freien, Hauptsache,
seine Auserwählte besaß das, was er als Majoratserbe tradi-
tionsgemäß verlangen mußte: Tadellose Familie und ma-
kellose Vergangenheit, mit der diese Komteß, die er sich
nach langem Prüfen und Wägen erwählte, wohl auch auf-
warten konnte.
Allein, daß dem nicht so war, wenigstens nicht, was die
Tugendhaftigkeit betraf, sollte der Verlobte bald erfahren.
Da fackelte er nicht lange und gab der Braut den Laufpaß.
Daraufhin machte sie ihm eine so widerliche Szene, daß es
nur so durch das Schloß hallte. Anschließend folgte ein

gräßlicher Schrei und als die Menschen ihm nacheilten, lag
die Komteß am Absatz der Treppe – tot – sie hatte sich bei
dem Sturz das Rückgrat gebrochen.«
»Um Gottes willen, da hat man doch nicht womöglich den
Grafen…?« rief Senöwe entsetzt dazwischen, und Anita
nickte grimmig.
»Jawohl, man hat, nämlich, daß der Bräutigam seine Braut
in sinnloser Wut die Treppe hinunterwarf. Es kam zu pein-
lichen polizeilichen Untersuchungen, wobei sich dann
einwandfrei herausstellte, daß der Mann an dem tragischen
Ende des Mädchens schuldlos war. Er war nämlich gar

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nicht an der Treppe, als das Unglück geschah, sondern
blieb im Zimmer, als die Braut wie eine Rasende davon-

stürmte. Schuld allein trug nur der Schuhabsatz, der ab-
brach, als sie blindwütig die Treppe hinabrannte, durch
den fehlenden Absatz den Halt verlor und kopfüber in die
Tiefe stürzte.
So war es. Doch bis ein tüchtiger Polizeimann das heraus-
fand, vergingen immerhin Tage, in denen die Familie
Bernbrugg die Menschen in ihrer ganzen Erbärmlichkeit
kennenlernen sollte. Die Mutter der Verunglückten schrie
dem jungen Grafen sogar das Wort >Mörder< entgegen,
was sie jedoch nicht genierte, ihm nach seiner Rehabilitie-
rung süßlächelnd die zweite Tochter anzubieten.
Aber da räumte Rasmus auf, wobei sein Vater grimmig mit-

tat. Mit stählernem Besen schied man den Weizen von der
Spreu, und siehe da, es blieb kaum eine Handvoll übrig.
Darunter befand sich von den Gutsbesitzern nur der Kört-
litz auf Sanden, von den Gutsbeamten der langjährige Ver-
walter, der Oberförster, einige Förster, einige Inspektoren,
die altbewährten Instfamilien, von der Dienerschaft der
treue Kilian, die Kammerfrau, die Beschließerin und die
Mamsell, alles andere mußte dem stählernen Besen wei-
chen. Und damit das elende Gesindel ihnen drei Schritt
vom Leibe bleibt, sperrte man die Zugänge zum Schloß
durch Zäune ab. Seitdem haben nur Befugte Zutritt.«
»Grausig«, schüttelte sich Senöwe. »Und nun lebt der junge

Graf wohl verbittert und menschenscheu dahin?«
»Er denkt gar nicht daran. Dazu ist der Rasmus bestimmt
nicht wehleidig genug. Er hat durchaus nichts gegen die
Menschen – allerdings nur per Distanz.«
»Ist der Graf das einzige Kind seiner Eltern?«
»Ja – und der Majoratserbe dazu. Also, wenn das Ge-
schlecht nicht aussterben soll, wird er sich nolens volens
zur Heirat entschließen müssen.«
»Du erwähntest doch einen Körtlitz auf Sanden, was ist das
für ein Mensch?«
»Ein Rauhbein, aber eine goldene Seele. Schade, daß er

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keine Tochter hat, die würde der Rasmus gewissermaßen
unbesehen an seine Seite stellen.

Aber leider sind da nur zwei Söhne. Einer davon ist bereits
verheiratet, der andere, ein Nachkömmling, drückt noch
die Schulbank.«
»Und wie stehst du mit dem Grafen?«
»Gar nicht. Er hat nämlich Vater und mich, als wir ah-
nungslos von der Reise zurückkehrten, mit seinem Mißt-
rauen beehrt, was mein gutes Papachen bitter kränkte. Wir
zogen uns in unser Schneckengehäuse zurück, an das wir
keinen aus dem Schloß heranließen. Und nun Schluß mit
den ollen Kamellen!«
»Jawohl«, bestätigte der Gatte schmunzelnd. »Was scheren
die uns da oben auf der Höh'? Mögen sie zusehen, wie sie

mit dem Leben fertig werden, wir müssen es ja auch.«
Senöwe von Helgen kehrte von einem Einkauf im Krugla-
den zurück. Entzückend war sie anzuschauen in dem lu-
stigbunten Sommerkleidchen, so eine richtige Augenweide
für Schönheitskenner.
Also auch für die beiden Herren, die ihr im Gig entgegen-
fuhren. Einer davon war Graf Bernbrugg, wie Senöwe jetzt
ja wußte, der andere konnte nach Anitas Beschreibung Herr
Körtlitz sein.
Da der Weg schmal war, trat das Mädchen zur Seite, um
das Gig, dessen hohe Räder sich langsam durch den Sand
mahlten, vorbeizulassen, und war keineswegs angenehm

berührt, als der ältere der Herren vorwärts zeigte und la-
chend sagte:
»Reizendes Gretel, sind Sie aber spendabel! Ihre Schwester
im Märchen streute nur Brotkrumen aus, um den Weg zu
zeichnen, Sie jedoch tun es mit ganzen Brötchen.«
Senöwe machte ein so verdutztes Gesicht, daß auch der
Graf in amüsiertes Lachen ausbrach. Dann flog ihr Blick
den Weg entlang, auf dem in kleinen Abständen vier Bröt-
chen lagen. Der zweite Blick streifte das Einkaufsnetz, in
dem die weiteren knusprigen Dinger bereit waren, es den
anderen gleichzutun.

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»Ein Loch«, stellte sie lakonisch fest, und dann sprang sie
mit federnden Schritten davon, um die Ausreißer einzuho-

len. Bei dreien ging das mühelos, doch beim letzten mußte
sie ablassen, weil Fido, das Musterexemplar von minde-
stens vier Hunderassen, sich des Brötchens bemächtigt hat-
te und es mit Genuß verspeiste.
Da lachte Senöwe von Helgen. Lachte so herzerfrischend
frei und froh, wie es nur Menschen können, die noch un-
berührt sind von den Kümmernissen des Lebens. Und das
war sie ja auch, seitdem sie im Strandhaus weilte.
»Na warte, du Strolch!« drohte sie dem Hund, der sich bei
seiner ergaunerten Mahlzeit nicht stören ließ. Der Klaps,
den er bekam, war mehr liebevoll als strafend.
Und dann nahm Senöwe mal erst das Netz in Augenschein,

das ein respektables Loch aufwies. Da sie zu den Menschen
gehörte, die sich zu helfen wissen, wurde kurzentschlossen
das Seidenband, das um den Kopf gebunden war, abge-
streift und damit das Loch im Netz vernestelt. Die Locken-
pracht, nun jeden Haltes beraubt, umflirrte in bezaubern-
der Zwanglosigkeit das vor Eifer gerötete Gesichtchen. Die
Zungenspitze flitzte über die Lippen, weil die Nestelei
wahrscheinlich so leichter ging. Dann wurde das Netz, das
bis obenhin gefüllt war, kräftig geruckt – und siehe da, es
hielt. »Na also«, schmunzelte der Mann im Wagen, der
nebst seinem jungen Begleiter dem allen interessiert zuge-
schaut hatte. »Der Mensch muß sich zu helfen wissen.«

»Jawohl – dann kann man auch noch so dämlich sein«,
perlte ein übermütiges Lachen auf. Mit federnden Sprüngen
setzte die rassige Gestalt davon, von Fido, der indes seinen
Raub verzehrt hatte, lustig kläffend umsprungen. Die bei-
den Herren sahen dem Mädchen solange nach, bis es ihren
Augen entschwand, dann sagte der ältere anerkennend:
»Trautes Marjellchen voller Charme und Schneid, wie man
es bestimmt nicht alle Tage zu sehen bekommt. Es scheint
Feriengast im Strandhaus zu sein.«
»Es scheint nicht nur, sondern es ist Tatsache«, entgegnete
Rasmus . Bernbrugg, während er dem unruhigen Pferd frei-

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en Lauf ließ. »Ich begegnete der jungen Dame bereits vor
einigen Tagen, wo sie sich in unser Revier verirrt hatte. Und

dem gewiß nicht billigen Wagen nach zu schließen, gehört
sie bestimmt nicht zu den armen Mädchen.«
»Was du nicht sagst«, horchte Körtlitz interessiert auf. »Wo
fand die Begegnung statt?«
»Vor dem Parktor.«
»O weh, dann hast du gewiß die Ärmste von deinem abge-
zäunten Grund und Boden gejagt.«
»Wenn auch nicht ganz so kraß, aber liebenswürdig auch
nicht gerade. Nachdem mir die reizende Maid, die mich
wie den bösen Wolf im Märchen anstarrte, erklärt hatte,
daß sie zum Maler Hövemann wolle, gab ich ihr den guten
Rat, ins Dorf zu fahren und sich dort den Weg erklären zu

lassen.«
»Hm – «, brummelte der Ältere. »Kann mir denken, wie du
mit deiner düsteren Physiognomie gewirkt haben mußt.
Dazu noch in dem Zauberwald, der ohnehin schon un-
heimlich genug ist. Ich glaube, da würden selbst beherzte
Männer Reißaus nehmen, geschweige denn so ein zartes
Mägdelein.«
»Ist dir nun wohl Onkelchen?« fragte der Graf lachend.
»Jetzt hast du es mir wieder einmal ordentlich gegeben.«
»Wenn das bei dir Bengel bloß Zweck hätte, aber du bist
und bleibst ein hoffnungsloser Fall. Nun halte an der Weg-
gabelung.«

»Willst du meinen Lieben nicht wenigstens kurz guten Tag
sagen, Onkel Julius? Du warst schon so lange nicht mehr
bei uns.«
»Das geht nicht, mein Jungchen, dazu fehlt mir die Zeit. Du
weißt ja, was so ein Umbau für Scherereien macht. Und
daß er notwendig wurde, das mußt du doch selbst sagen.«
»Allerdings«, gab Rasmus zu. »Es war wirklich schon recht
baufällig, das uralte Herrenhaus von Sanden. Ich hatte
immer Angst, daß es eines Tages zusammenstürzen könnte.
Aber ich weiß ja. Onkel Julius, wie sehr man am Althergeb-
rachten hängt und kann mir daher denken, wie schwer dir

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der Entschluß zum Umbau gefallen sein muß.«
»Ist er, Jungchen, ist er. Und meine gute Alte erst, die jam-

merte, als wollte man ihr das liebste Kind rauben. Selbst
die Filiusse zogen einen Flunsch, und mein Schwiegertöch-
terlein erklärte, wenn sie das gewußt, hätte sie den Hellmut
gar nicht geheiratet. Denn gerade das urgemütliche alte
Haus wäre es gewesen, das sie diesen leichtsinnigen Schritt
tun ließ.«
»Ganz Ilse«, lachte Rasmus. »Und wo haust ihr jetzt?«
»In einem Insthaus. Bißchen beengt, aber es geht. Es ist ja
auch nur ein vorübergehender Zustand. Und nun sag:
Brrrr!«
Das brauchte der Lenker des Gefährts erst gar nicht, weil
das Pferd bei dem vertrauten Laut wie angegossen stand.

Der Hüne kletterte vom Wagen und sagte herzlich:
»Schönen Gruß denen zu Hause, mein Junge. Sag ihnen, es
ist keine böse Absicht, daß wir uns vorläufig nicht blicken
lassen.«
»Schon gut, Onkel Julius. Grüß auch die lieben Deinen.«
Dann fuhr das Gig schon davon, und zwar in entgegenge-
setzter Richtung. Der Weg führte allmählich bergauf, was
dem Rassepferd jedoch nichts ausmachte, zumal die Last
leicht war, die es nachziehen mußte.
Dann lichtete sich plötzlich der Wald und gab den Blick
frei. Und da lag nun das Rittergut Möwen wie in einer Enk-
lave. Große, lange Gebäude umstanden den riesigen Hof,

und von ihm durch üppige Anlagen getrennt, erhob sich
das alte trutzige Ritterschloß, vor dessen Portal jetzt das Gig
hielt, das ein herbeieilender Mann in Empfang nahm. Und
während das Gefährt dem Hof zurollte, stieg Rasmus Bern-
brugg gemächlich die Freitreppe empor, durchschritt die
riesige Halle und betrat dann ein hohes, weites Gemach, in
dem alle die geruhsam saßen, die des Mannes Herz um-
schloß.
Zu denen gehörte seine Großmutter, die Eltern und ein
neunjähriges Mädchen, das dem Eintretenden gespannt
entgegensah.

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»Da bist du ja, Onkel Rasmus, hast du das Buch?«
»Jawohl, mein Fräulein Ungeduld, ich hab's«, war die la-

chende Antwort. »Nun begib dich zu deinen holden
Schwestern.«
»Wie meinst du das?« sahen die permuttgrauen Augen ihn
fragend an.
»Weil du doch selbst so ein Märchenprinzeßlein bist, wie
sie in den Büchern geschildert werden.«
»Oh, Onkel Rasmus, bin ich denn wirklich so schön?«
»Also auch in dir steckt die eitle Eva«, bemerkte er trocken,
während die anderen herzlich lachten. »Nun nimm schon
deinen Schatz.«
»Ich danke sehr«, umschlossen die zarten Kinderhände das
ersehnte Buch. »Bringst du mich in mein Zimmer, ja? Ich

möchte sofort lesen und dabei nicht gestört werden.«
»Na eben«, tat der Mann ernsthaft, während er das zierliche
Persönchen auf die Arme hob. Und an der Art, wie er es tat,
konnte man ersehen, wie lieb ihm die Kleine war.
Ebenso wie der ganzen Familie, die dieses Verwandtenkind
zu sich holte, als die lieblose Stiefmutter – der Vater war
kurz vorher gestorben – ihre Stieftochter in ein Krüppel-
heim steckte, der nach einer schweren Knieverletzung das
Bein steif blieb, was jedoch bei fachmännischer Behand-
lung behoben werden könnte. Jedenfalls beteuerten das die
Ärzte, die man zu Rate zog, immer wieder. Allerdings wäre
die Sache langwierig und daher Geduld vonnöten.

Nun lebte die kleine Gabriele bereits ein Jahr bei den Bern-
bruggs, geliebt und verhätschelt von der ganzen Familie.
Man hatte für sie eine Lehrerin ins Haus genommen, die
das Mädchen mit zwei anderen gleichaltrigen zusammen
unterrichtete, damit es nicht nur mit Erwachsenen Umgang
hatte. Man tat also alles, um diesem lieben, engelschönen
Geschöpfchen das Leben froh zu machen.
Natürlich war die Kleine geistig anderen Kindern ihres Al-
ters weit voraus. Gottlob aber nicht soweit, daß sie ihr Lei-
den im vollen Umfang erfassen konnte. Sie hielt es für eine
Selbstverständlichkeit. Nur von einem Rollstuhl wollte sie

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nichts wissen. Da ging sie lieber an Krücken, wenn sie dazu
Lust hatte. Sonst fand sich immer jemand, der das leichte

Persönchen trug.
Wie es jetzt auch Rasmus tat. Ihm folgte die Lehrerin, die
man mit häßlich bezeichnen konnte. Doch da die Natur
dieses Menschenkind nicht ganz stiefmütterlich behandeln
wollte, gab sie ihm ein goldenes Herz, einen frohen Mut
und eine warme Altstimme mit auf den Weg.
Man hatte also richtig gewählt, als man das alternde Fräu-
lein trotz seiner Häßlichkeit engagierte. Jetzt hatte man sich
schon so daran gewöhnt, daß man es nicht mehr bemerkte.
Daß sie noch über den Durchschnitt musikalisch war, trug
viel dazu bei, ihre Stellung immer mehr zu festigen. Denn
die Bernbruggs hörten Musik sehr gern, waren jedoch darin

so wenig begabt, daß sie selbst nicht musizieren konnten.
Wenig später erschien Rasmus dann wieder, anzuschauen
wie ein junger Gott in seiner sieghaften Männlichkeit.
Wohlgefällig ruhte der Blick der Seniorin der Familie auf
dem einzigen Enkel, auf den sie fast noch stolzer war als
die Eltern. Und nicht nur auf sein blendendes Aussehen,
sondern mehr noch auf seinen vornehmen Charakter.
Und daher war man den Menschen bitter gram, daß sie
einem durch und durch anständigen Menschen einen so
gemeinen Mord zutrauen konnten. So richtig schofel hatte
man sich benommen. Hauptsächlich ein Vetter, der auf
Rasmus von jeher neidisch war, sorgte für Einflüsterungen,

die an Gehässigkeit nichts zu wünschen übrig ließen.
Obwohl die Bernbruggs diesen minderwertigen Menschen
zutiefst verachteten, waren sie dennoch gezwungen, sich
mit ihm zu befassen. Denn eine Tante der beiden Vettern
hatte ein Testament hinterlassen, in dem es hieß: Ich ver-
mache meinem Großneffen, dem Grafen Rasmus von und
zu Bernbrugg auf Möwen meine gesamte Hinterlassen-
schaft, wenn er in einem Jahr verheiratet ist. Sollte es nicht
der Fall sein, so tritt mein Großneffe Kainz Grat von Bern-
brugg auf Warnen die Erbschaft an.
»Möchte gern wissen, was die alte verdrehte Schraube sich

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so eigentlich gedacht hat!« brauste der Vater, Graf Magnus,
auf, nachdem der Notar, der das Testament verlesen hatte,

gegangen war. »Es ist schon eine Beleidigung, unseren Jun-
gen mit dem minderwertigen Subjekt gewissermaßen in
einem Atemzug zu nennen – und dann gar dieses noch!
Mag der üble Bursche mit dem Geld selig werden, wir
brauchen es gottlob nicht.«
»Na nun mal langsam«, beschwichtigte die Seniorin be-
dächtig. »Thusnelda war noch lange keine verdrehte
Schraube, sondern eine kluge und gütige Frau, die zu den
wenigen Menschen gehörte, die nach dem Widerwärtigen
treu zu uns hielt. Solltest du das vergessen haben, mein
Sohn?«
»Natürlich nicht«, brummte er beschämt. »Aber dann ver-

stehe ich nicht, wie sie Kainz bei dem Testament mit in
Betracht ziehen konnte, wo sie doch von seiner Schofligkeit
zutiefst empört war.«
»Aber ich verstehe das Testament«, lächelte die alte Dame.
»Thusnelda teilte nämlich unsere Sorge, daß Rasmus nach
der bösen Erfahrung so ehescheu geworden ist, daß er zu
einer Heirat nicht zu bewegen sein wird. Nun will sie ihn
mit diesem Testament zu einer Ehe zwingen. Denn es geht
ja nicht allein um das vermachte Geld, sondern in erster
Linie um Möwen – und Kainz ist nach Rasmus für das Ma-
jorat der nächste Agnat. Und ich glaube nicht, daß Rasmus
so gewissenlos sein wird, das Vätererbe in so schmutzige

Hände fallen zu lassen. Habe ich recht, mein Junge?«
Wortlos stand er auf, ging hinaus und ließ drei tief be-
kümmerte Menschen zurück.
Senöwe von Helgen führte jetzt ein Leben, in dem sie sich
wunschlos glücklich fühlte. Über Langeweile konnte sie
sich nicht beklagen. Im Gegenteil, ihretwegen hätte der Tag
noch länger sein können, so ausgefüllt war immer die Zeit.
Sie half Anita, deren Hilfe sie im Stich ließ, den Haushalt
besorgen, machte die Besorgungen im Krugladen und –
wenn notwendig – auch in der Stadt, die ungefähr zehn
Kilometer entfernt lag. Dann freute sie sich jedesmal über

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ihren schmucken Wagen, der jetzt entschieden wertvollere
Dienste leistete als bei Spazierfahrten.

Neuerdings hatte Senöwe noch eine Beschäftigung, an die
sie mit Lust und Liebe heranging. Sie versuchte sich in
Übersetzungen, bei denen Anita schon recht gute Erfolge
gehabt hatte.
»Ob ich mich da auch heranwagen könnte?« fragte sie zö-
gernd, und Anita lachte.
»Versuch's doch mal, den Kopf kann es ja nicht kosten.
Denn du weißt, ein Mensch ohne Kopf ist ein Krüppel.«
Seitdem arbeitete Senöwe mit Anita um die Wette. Haupt-
sächlich an Regentagen, an sonnigen tummelte man sich
lieber im Freien herum.
Wie es auch der Maler tat, der sich in der Mansarde ein

vorbildliches Atelier geschaffen hatte. Darin wirkte er nun,
sofern er tust und Liebe hatte und dann auch mehr aus
Liebhaberei. Um Geld zu verdienen brauchte er es nämlich
nicht mehr. Denn was er und seine Frau gemeinsam besa-
ßen und was sie immer noch zuverdienten, war mehr, als
sie selbst bei einem üppigen Leben verbrauchen konnten.
An einem Nachmittag Mitte Mai saßen die beiden Weib-
lichkeiten emsig bei der Arbeit. Senöwe schrieb in ein Heft,
während Anita auf der Schreibmaschine munter klapperte.
Es war ein kleines, aber gemütliches Zimmer, das sie sich
als Arbeitsplatz erwählt hatten. Schreibtisch, Schreib-
schrank und Regale an den Wänden, gaben dem Raum

einen ernsten Charakter.
Durch das geöffnete Fenster lachte die Sonne, der herbe
Duft von Wasser und Tang wehte hinein.
Möwen schrien durchdringend, als wollten sie die Fleißi-
gen hinauslocken in Sonne, Meer und Wind.
Allein, sie ließen sich dadurch nicht stören; denn die Arbeit
drängte. Wenigstens Anitas, die sie in den nächsten Tagen
abliefern mußte. Und um sie nicht allein in der Fron zu
lassen, tat Senöwe mit. War dann bald so vertieft, daß sie
ihre Umgebung vergaß. Bis Anita zu knurren anfing, da
hob sie den Kopf.

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»Ja, was hast du denn? Du knurrst ja wie ein böser Ketten-
hund.«

»Und soll ich das vielleicht nicht?« kam es ärgerlich zurück.
»Ausgerechnet jetzt muß das Farbband durchschlagen, wo
kein Ersatz im Hause ist. Ist es unbescheiden, mein Mäd-
chen, wenn ich dich bitte, in deiner Karre Farbbänder aus
der Stadt zu holen?«
»Aber gar nicht«, sprang Senöwe bereitwillig auf. »In einer
Stunde bin ich wieder zurück.«
Fort war sie, stürmte nach oben, zog sich rasch um und
stand dann abwartend vor Anita, die sie kopfschüttelnd
betrachtete.
»Mädchen, Mädchen, du wirst ja immerzu hübscher. Wenn
das so weiter geht, weiß ich nicht, was daraus werden soll.«

»Halt hier keine langen Reden, sag mir lieber, was ich ho-
len soll.«
Anita schob ihr einen Zettel hin und meinte kleinlaut:
»Ich hab hier alles aufgeschrieben. Es ist allerdings mehr
geworden als ein Farbband.«
»Das sehe ich«, bemerkte Senöwe lachend. »Da werde ich
wohl die große Tasche mitnehmen müssen, damit der
Großeinkauf gut verstaut werden kann. Also gehab dich
wohl, so schnell es geht bin ich zurück.«
»Warte, ich muß dir ja noch Geld geben.«
»Laß nur, ich leg es aus.«
»Daraus wird nichts mehr, mein Herzchen. Einige Male

habe ich dir vertraut, doch jetzt gehöre ich zu den gebrann-
ten Kindern, die das Feuer scheuen. Hier hast du fünfzig
Mark, zieh hin in Frieden.«
»Anita, kannst du denn nicht verstehen…?«
»Ich verstehe gar nichts. Nicht einmal, wie du dich gegen
eine Selbstverständlichkeit sträuben kannst. Konny hat es
ja auch nicht getan, wenn er wochen-, sogar monatelang
sich bei euch einquartierte. Und nun kein Wort mehr von
dem Unsinn, sonst werde ich ernstlich böse. Komm, gib
mir einen Kuß – so – und nun ab mit dir.«
Also hatte Senöwe auch diesmal wieder den kürzeren gezo-

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gen. Aber sie konnte da nicht so schart vorgehen, damit sie
die guten Menschen nicht kränkte. Es war ihr eine Genug-

tuung, daß sie in guten Verhältnissen lebten und daher
kein Opfer brachten, wenn sie den Gast mit durchfütterten.
Vielleicht fand sich mal etwas, womit sie einen Ausgleich
schaffen konnte.
Das heißt, viel Geld besaß sie ja nicht. Aber immerhin so-
viel, um einige Jahre damit auskommen zu können. Denn
die Mutter hatte ihr immer wieder etwas zugesteckt, woge-
gen sie sich erst gesträubt, es dann jedoch genommen hat-
te. Warum auch nicht? Es traf ja keinen Armen.
In dieser Beziehung hatte die Mama gut für sie gesorgt,
auch was Kleidung anbetraf, aber sonst…?
Na egal.

Sie mußte sich jetzt ans Steuer setzen und durfte dabei kei-
ne Probleme wälzen.
Wie lieb und brav ihr Hottehühchen den sandigen Weg
durchmahlte. Aber da Senöwe ihn nicht zum erstenmal
fuhr, wußte sie, daß die Straße, in die sie bald einbiegen
mußte, wenn auch nicht tadellos, so doch annehmbar war.
Sie wurde wohl auch nur von den Anliegern benutzt, um
auf die Chaussee zu gelangen, die zur Stadt führte.
Doch kurz vor der Chaussee blieb der Wagen einfach ste-
hen und war nicht zu bewegen, wieder anzuspringen.
So stieg Senöwe aus, hob die Haube hoch, bohrte ihre Au-
gen förmlich in das Getriebe, doch nichts konnte sie erspä-

hen, was irgendwie schadhaft gewesen wäre. Benzin war
genügend vorhanden, die Zündkerzen waren in Ordnung,
na denn – prost Mahlzeit!
Da blieb ihr wohl nichts anderes übrig, als zu der großen
Tankstelle zu tippeln, die jenseits der Chaussee lag. Weit
war es gerade nicht, aber zu Fuß immerhin eine halbe
Stunde.
Ausgerechnet auf dieser einsamen Straße passierte das Mal-
heur. Also mußte schon ein Wunder geschehen…
Und siehe da, das Wunder geschah. Senöwe traute ihren
Augen kaum, als so ein chromblitzendes Ungeheuer nahte.

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Und wer entstieg ihm? Kein Geringerer als Graf Bernbrugg.
Zufall oder gar Vorsehung? Das zu ergründen stand nicht

in schwachen Menschenkräften, das konnte nur das Schick-
sal.
»Nun, gnädiges Fräulein, woran krankt er denn?« trat der
Mann näher, von dem so ein unbeschreibliches Fluidum
ausging. »Aber jetzt, bei unserer dritten Begegnung, wird es
wohl notwendig, Nam' und Art zu nennen.«
»Nicht erforderlich«, winkte sie hastig ab. »Ich weiß, daß
Sie Graf Bernbrugg sind – und ich heiße Senöwe Helgen.«
»Ist mir bereits bekannt, gnädiges Fräulein. Auch daß Sie
die Tochter des verstorbenen Bildhauers von Helgen sind,
der immerhin einen Namen hatte – und auch noch hat.
Und nun erst mal…«

Während es ihm verdächtig um Augen und Mund zuckte,
griff er in die Tasche, zog einen kleinen Spiegel hervor und
hielt ihn Senöwe hin.
»Ach du liebe Güte«, lachte sie hellauf, dabei ihr Gesicht
musternd, das reichlich viele schwarze Flecken aufwies.
»Wenn ich so unter Menschen gekommen wäre, hätte man
mich wohl gehörig ausgelacht.«
»Oder zum mindesten angelacht«, entgegnete er schmun-
zelnd, sich dann dem Motor zuwendend, während Senöwe
sich verstohlen die Flecke aus dem Gesicht entfernte – und
zwar mit Taschentuch und Spucke, denn etwas anderes
stand ihr nicht zur Verfügung.

»Am Motor ist nichts«, erklärte er dann bestimmt. »Muß es
also an der Zündung liegen. Ist vielleicht die Batterie leer?«
»Ausgeschlossen, die ließ ich erst kürzlich auffüllen. Ich
stehe da wirklich vor einem Rätsel.«
»Das ein Fachmann bald lösen wird. Doch dazu müssen
wir den Wagen abschleppen. Und zwar bis zur nächsten
Reparaturwerkstatt, die ja nur einen Katzensprung von hier
entfernt liegt. Trauen Sie es sich zu, gnädiges Fräulein, Ih-
ren Wagen zu steuern?«
»Ohne weiteres. Es ist mir nur peinlich, Sie zu bemühen,
Herr Graf.«

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»Phrasen? Die stehen einer Stranddistel aber schlecht an.«
»Ja – woher wissen Sie denn, daß man mich so nennt«,

fragte sie perplex und er lachte.
»Man muß nur Augen und Ohren offenhalten, dann hört
und sieht man manches.«
Damit trat er an seinen Wagen, holte ein Seil hervor und
verband damit die Autos fachgerecht. Senöwe nahm in
ihrem Platz, er in dem seinen, und schon zehn Minuten
später hielt man vor der Werkstatt, wo der Meister persön-
lich eilfertig nahte. Denn Graf Bernbrugg war nun mal eine
Persönlichkeit, die rasch zu bedienen einfach Ehrensache
war – schon allein wegen der kulanten Art und für die ihn
Bedienenden wegen der noblen Trinkgelder.
»Wo fehlt's, denn, Herr Graf?« fragte der Mann.

»Das festzustellen kommt Ihnen zu, mein lieber Meister.
Wenn ich Sie bitten darf, so sehen Sie zu, den Wagen mög-
lichst schnell flottzubekommen.«
»Natürlich, Herr Graf, natürlich. Jungens, kommt mal her!«
Worauf denn zwei Lehrlinge, die um die Ecke lugten,
schleunigst herbeieilten. Senöwes Wagen wurde losgekop-
pelt, in die Werkhalle geschoben – und dann standen sich
die beiden jungen Menschen allein gegenüber.
»Ich danke Ihnen, Herr Graf.«
»Wofür denn, gnädiges Fräulein? Etwa für eine Selbstver-
ständlichkeit? Darf ich fragen, wohin Sie wollen?«
»Zur Stadt, um notwendige Einkäufe zu machen.«

»Dann nehmen Sie bitte in meinem Wagen Platz.«
Während sie es gezwungenermaßen tat, sprach der Graf
noch mit dem Meister, der beteuerte, sich sofort des Wa-
gens anzunehmen. Dann setzte Rasmus sich zu Senöwe,
die sich so betont in die Ecke drückte, daß er verwundert
fragte:
»Haben Sie Angst, daß ich beiße?«
»Nein, aber das alles paßt mir nicht«, versetzte sie kurz.
»Man muß so manches tun, was einem nicht paßt«, kam es
gelassen über die hartgeschnittenen Männerlippen.
»Nun, Sie haben das doch wirklich nicht nötig«, entfuhr es

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ihr spontan, und er lachte kurz auf.
Da ärgerte Senöwe sich und zwar über sich selbst. Was fiel

ihr überhaupt ein, sich wie ein dummes Gör zu benehmen.
Das hatte der Mann für seine Gefälligkeit doch wahrlich
nicht verdient.
Aber seine herrische Art reizte sie nun mal, sie forderte di-
rekt ihren Widerspruch heraus. Nein, mit dem da war nicht
gut Kirschen essen, mit dem hätte sie nichts zu tun haben
mögen. Sie wollte froh sein, wenn sie aus seiner Nähe kam.
Schweigend verharrte sie, wie auch er es tat. Erst als sie in
die Stadt einfuhren, wandte er den Kopf seiner Begleiterin
zu.
»Wo soll ich Sie absetzen, gnädiges Fräulein?«
»An dem nächsten Schreibwarengeschäft, Herr Graf.«

In wenigen Minuten war es erreicht. Der Wagen hielt, Se-
nöwe stieg aus und sagte erschrocken:
»Nun habe ich doch tatsächlich die Tasche im Wagen lie-
gen lassen, und darin steckt auch das Portemonnaie. Was
mach ich da bloß!«
»Mich anpumpen«, riet er so trocken, daß sie wider ihren
Willen lachen mußte.
»Und wenn das mit dem vergessenen Portemonnaie nur
die übliche Finte eines Pumpgenies ist?«
»Dann muß ich meine schlechte Menschenkenntnis eben
bezahlen«, kam es zurück, während er bereits die Briefta-
sche zückte. »Außerdem ist mir bekannt, daß Sie Gast mei-

ner Kindheitsfreundin Anita sind – und die duldet schon
nichts Zweifelhaftes um sich.
Wird es reichen?« hielt er ihr einen Fünfzigmarkschein hin,
nach dem sie hastig griff.
»O ja, reichlich. Besten Dank, Herr Graf. Hätte Frau Höve-
mann das Farbband nicht so dringend nötig…«
»Dann hätten Sie das Geld nicht von mir genommen«,
sprach er gelassen weiter, als sie unter seinem ironischen
Blick verlegen stockte. »Und nun noch die Tasche…«
Er griff hinüber zum hinteren Sitz, reichte ihr eine Aktenta-
sche und sprach ganz sachlich:

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»Jetzt bleibt nur noch zu klären, wo wir uns zur Rückfahrt
treffen.«

Überhaupt nicht – hätte sie am liebsten erwidert. Aber wie
sollte sie zur Werkstätte kommen – und wenn der Wagen
noch nicht fertig war, gar bis nach Hause? Das waren im-
merhin gute zehn Kilometer, aus der Stadtmitte noch
mehr. Also überwand sie sich, ließ die Vernunft sprechen
und sagte höflich:
»Das zu bestimmen kommt Ihnen zu, Herr Graf.«
»Recht so, immer sich selbst bekriegen«, blitzte es in seinen
Augen auf. Denn der Kampf, der sich so deutlich in dem
hochmütigen Mädchengesicht gespiegelt hatte, war ihm
nicht entgangen. »Also treffen wir uns auf dem Parkplatz
am Markt, der ist zentral gelegen.«

Er fuhr weiter und Senöwe mußte mal erst ihren Ärger hi-
nunterwürgen. Das war ja ein ganz arroganter Mensch!
Ach was, tanzten eigenwillig die Locken nach hinten, was
ging er sie an? Die Gefälligkeit, die er ihr erwies, hätte ge-
wiß auch ein anderer getan. Da machte sie tatsächlich aus
einer Mücke einen Elefanten.
Mit diesem Schlußstrich beeilte sie sich, die Einkäufe zu
machen. Was geraume Zeit in Anspruch nahm, weil sie ja
in verschiedene Geschäfte gehen und dort außerdem noch
warten mußte.
Auf dem Parkplatz trat ihr der Graf schon entgegen und
nahm ihr die Tasche ab.

»Ganz nettes Gewicht«, stellte er fest, und sie zuckte die
Achsel.
»Ich habe mich daran nicht krummgeschleppt.«
Wenig später setzte sich der Wagen in Bewegung. Tief in die
weichen Polster zurückgelehnt, streifte des Mädchens Blick
immer wieder den Mann, der das Steuer führte. Fest auf
dem Rad lagen seine schmalen, nervigen Hände, an deren
Linken ein schwergoldener Wappenring blinkte. Sie sah im
Profil das hartgeschnittene Gesicht, in dem die blitzenden
Augen anmuteten wie bläuliches Eis. Seine ganze Erschei-
nung hatte etwas Schroffes an sich, etwas Unbeugsames

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und Herrisches.
Und da mußte Senöwe von Helgen richtig erkennen, daß

ihr ein so außergewöhnlicher Mann noch nie begegnet war.
Sie hatte das Gefühl, als müßte sie sich gegen etwas weh-
ren, das drohend auf sie zukam. Als müßte sie laufen, so
schnell und weit, damit sie diesem Unerklärlichen entfloh.
Sie atmete wie erlöst auf, als sie an der Werkstatt den Wa-
gen verlassen konnte. War so richtig froh, daß ihr Wagen
bereits in Ordnung war. Es wäre allerdings nur eine Klei-
nigkeit gewesen, erklärte der Meister. Der Draht zur Zün-
dung war durchgebrochen.
»Nun, so kann ich ja beruhigt von dannen ziehen«, meinte
der Graf. »Gnädiges Fräulein, es war mir ein Vergnügen.«
Eine tadellose Verbeugung, dann saß er auch schon am

Steuer, und der Wagen flitzte davon.
Diese kurzangebundene Art ärgerte Senöwe nun wieder,
doch sie ließ sich nichts anmerken, da sie die neugierigen
Blicke des Meisters sah.
Sie zahlte den geringen Preis der Reparatur, drückte den
beiden Lehrlingen ein Trinkgeld in die Hand und atmete
auf, als sie endlich im Wagen saß, der nun wieder brav sei-
nen Dienst tat.
Was würde nur Anita sagen, daß sie so lange ausblieb. Die
wartete doch sicherlich schon sehnsüchtig auf das Farb-
band.
Das war jedoch nicht der Fall. Denn als Senöwe vor ihr

stand, unterbrach sie die Tipperei und sagte erstaunt:
»Du bist schon zurück?«
»Schon?« dehnte das Mädchen. »Ist es dir denn gar nicht
aufgefallen, daß ich länger ausgeblieben bin, als vorgese-
hen war?«
»Eigentlich nicht. Weißt du, ich fand doch noch ein Farb-
band.
Aber was hast du da für eine Tasche, die gehört ja gar nicht
uns.«
»O nein, die gehört dem Herrn Grafen Bernbrugg auf Mö-
wen«, erklärte Senöwe pathetisch. »Mach den Mund zu,

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mein Herz, sonst muß ich deine Intelligenz anzweifeln.
Und da auch Onkelchen soeben in Erscheinung tritt, brau-

che ich von meinem großartigen Erlebnis nicht zweimal zu
berichten.«
Sie erzählte, was ihr unterwegs begegnete und schloß mit
den Worten: »Ich wundere mich, daß der Herr Graf nicht
hohnlachend vorüberfuhr, sondern sich herabließ…«
»Na, so ist der Rasmus nun auch wieder nicht«, warf Anita
ein, damit den Jugendgespielen in Schutz nehmend. »Daß
er den Menschen, mit denen er nicht unbedingt zu tun hat,
aus dem Wege geht, ist ihm wahrlich nicht zu verdenken.
Aber wenn ein Mensch wirklich seiner Hilfe bedarf, wird er
sie ihm nicht versagen. Dafür steckt ihm die Ritterlichkeit
zu tief im Blut.«

»Na schön«, entgegnete Senöwe kläglich. »Aber was mache
ich nun mit der Tasche und mit dem Geld? Wie soll ich es
dem Eigentümer zurückgeben?«
»Persönlich«, zwinkerte Konrad ihr zu, und sie hob abweh-
rend die Hände.
»Nur ja nicht! Das wäre ja gerade so, als liefe ich ihm nach.
Das könnte seiner Arroganz noch so passen. Außerdem,
wie soll ich wohl durch all die Zäune kommen, mit denen
er sich abgesperrt hat?«
Es klang so komisch verzweifelt, daß die anderen herzlich
lachten. Doch dann sagte Anita:
»Überlaß die Sachen ruhig mir. Ich sorg schon dafür, daß

sie an die richtige Adresse gelangen.«
Und tatsächlich konnte sie schon am nächsten Tag Tasche
nebst Geld dem Briefträger übergeben, dessen Weg auch
nach Möwen führte. Und somit war die Angelegenheit er-
ledigt.
Es war an einem Sonnentag im Juni, als Senöwe in den
Wald ging, um Erdbeeren zu pflücken. Die erste Reife
schien jedoch bereits abgelesen zu sein, denn die Milch-
kanne wollte sich nicht füllen, noch nicht einmal bis zur
Hälfte. Aber da drüben, hinter dem Stacheldrahtzaun, da
leuchtete es rot, dicht bei dicht. Doch das war ja verbotenes

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Gebiet; auf das sich niemand wagen durfte, der nicht zu
den Bernbruggs gehörte.

Ach was, tat Senöwe leichtsinnig ab. Man darf sich dabei
nur nicht erwischen lassen.
Also kletterte sie geschickt durch die Stacheln und hielt
dann reiche Ernte. Sie war so emsig bei der Sache, daß sie
den Mann nicht bemerkte, der unweit von ihr stand und
ihrem Tun amüsiert zusah. Er hörte sogar das uralte Spinn-
stubenlied, das die eifrige Sucherin laut und unbekümmert
sang:

»Es ging ein Mädchen in den Wald.
dreiviertel Stund vor Tag.
Es wollte Erdbeer'n pflücken fein,

ja, ja pflücken fein,
dreiviertel Stund vor Tag.
Da kam ein Jäger schmuck und keck,
dreiviertel Stund vor Tag.
Der nahm ihr die roten Beeren weg,
ja, ja Beeren weg,
dreiviertel Stund vor Tag.«

So weit war die Sängerin gekommen, als über ihre Schulter
hinweg eine nervige Männerhand nach der Kanne griff.
Zutiefst erschrocken fuhr Senöwe herum – und sah mitten
in zwei blitzende Augen hinein.

»Nun, wie geht das Lied weiter?« fragte eine sonore Stimme
mit unterdrücktem Lachen.
»Das geht Sie gar nichts an, Herr Graf!« wurde das Mäd-
chen, das sich rasch faßte, nun böse. »Geben Sie mir sofort
die Kanne wieder!«
»Fällt mir ja gar nicht ein«, kam es gelassen zurück. »Die
Beeren sind in meinem Wald gepflückt und gehören daher
mir.«
»Aber nicht alle!« protestierte Senöwe heftig. »Ein Viertel
davon sammelte ich in dem Wald, der zum Dorf gehört.«
»Ich will ja großmütig sein, wenn Sie die Fortsetzung des

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Liedes, das Sie so nett sangen, beherzigen«, erklärte der
Mann, während es ihm verdächtig um Augen und Mund

zuckte.
»Ich kenne die Fortsetzung nicht«, flog der bernsteinglit-
zernde Kopf in den Nacken, und zwei blaue Augen sprüh-
ten dem Mann entgegen, der nun lächelnd sagte:
»Aber ich kenne die Fortsetzung und will sie, wenn auch
nicht gerade singen, so doch sagen:

Gib mir einen Kuß, mein Mägdelein,
dreiviertel Stund vor Tag.
Dann sind die roten Beeren dein,
ja, ja Beeren dein, dreiviertel Stund vor Tag.«

Dabei trat er so dicht an Senöwe heran, daß diese entsetzt
zurückwich.
»Wagen Sie es!!« versuchte sie sich zu wehren, doch schon
war ihr Mund von einem anderen verschlossen, dieser keu-
sche, jungrote Mund, den bisher noch kein Mann küssen
durfte.
Und was war das diesmal, Zufall oder Vorsehung, daß ge-
rade in dem Augenblick fünf Männer nahten und dieses
herzinnige Spiel schmunzelnd betrachteten? Das heißt, es
taten nur vier, dem fünften blieb fast das Herz stehen vor
Schreck.
Und dieser Mann war der Vater des kecken Jägers, der nun

auf ihn zutrat, während die anderen vier sich verdrückten.
Mit weit aufgerissenen Augen sah Senöwe, die Rasmus los-
gelassen hatte, ihnen nach. Ein Stöhnen entrang sich ihrer
schweratmenden Brust.
Doch dann schoß ihr die Röte der Empörung ins Gesicht.
Ihre Hand hob sich langsam, sank jedoch gleich wieder
hinab, als ihr Blick auf den alten Grafen fiel, der sie unwil-
lig ansah. Da wandte sie sich ruckartig ab, rannte wie ge-
hetzt davon, kroch durch den Stacheldraht, ohne darauf zu
achten, wie dabei ihr Kleid in Fetzen ging und war dann
bald den Augen der ihr nachschauenden Herren ent-

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schwunden.
»Ja sag mal, mein Sohn, was hat das eigentlich zu bedeu-

ten?!« fuhr der Vater ihn an. »Wie kommst du dazu, hier so
öffentlich im Wald zu scharmutzieren? Dazu hättest du dir
ein verstecktes Plätzchen aussuchen sollen.«
»Laß das jetzt, Vater«, unterbrach der Sohn ihn kurz, dabei
die Kanne aufhebend, aus der beim Fall ein Teil der Beeren
gerollt war. Nun lagen sie da wie rote Blutstropfen. »Ich
erkläre dir alles, wenn wir zu Hause sind. Da könnt ihr
dann gemeinsam über mich Gericht halten.«
Damit stürmte er davon, so daß der Ältere ihm nicht zu
folgen vermochte, obwohl auch er nicht gerade langsam
ging. Denn er wollte das Beschämende, das er mit eigenen
Augen erschaute, möglichst schnell Mutter und Gattin mit-

teilen, die dann über seinen Bericht genauso fassungslos
waren wie er selbst.
Und dann trat der Enkel und Sohn mit einer Gelassenheit
ein, die man direkt bewundern mußte. Er nahm Platz,
steckte eine Zigarette in Brand, legte sich tief im Sessel zu-
rück, schlug ein Bein über das andere und sah die drei wie
erstarrten Menschen ruhig an.
»Also Rasmus, ich muß schon sagen, daß ich über deine
Kaltschnäuzigkeit direkt erschüttert bin«, begann der Vater,
sich dabei mit zwei Fingern in den Kragen fahrend. »Willst
du dich nun endlich äußern über das Unerhörte?«
»Jawohl, das will ich. Ich werde die Konsequenzen tragen

und Senöwe Helgen heiraten.«
Ja, da waren die drei anderen zunächst einmal platt. Es
dauerte immerhin Sekunden, bis der Vater sich soweit ge-
faßt hatte, um tragen zu können:
»Senöwe Helgen wer ist denn das?«
»Das Mädchen, das ich im Wald küßte.«
»Kennst du es näher?«
»Näher ist zuviel gesagt«, kam es mit immer noch aufrei-
zender Gelassenheit zurück. »Ich bin der jungen Dame
heute zum viertenmal begegnet. Das erste, als sie sich in
unserem Wald verirrte und am Parktor nicht weiter konnte,

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das zweite, als ich mit Onkel Julius durch das Dorf fuhr,
das dritte, als ich ihr streikendes Auto abschleppen durfte,

das vierte in unserem Wald, wo sie unerlaubterweise Er-
dbeeren pflückte. Da mußte sie eben Strafe zahlen.«
»Aber Junge, wie konntest du nur«, sagte die Großmutter
konsterniert. »Es ist doch sonst nicht deine Art.«
»Nein, es ist sonst nicht meine Art«, winkte der Enkel kurz
ab. »Aber Dummheiten sind nun einmal da, um gemacht
zu werden.«
»So, so«, räusperte sich der Vater. »So einfach stellst du die-
ses hin. Es wäre auch nicht weiter schlimm, wenn ich nicht
mit dem Oberförster und den drei Holzfällern dazuge-
kommen wäre. Junge, hast du denn keine Ahnung, was du
dir mit dem unüberlegten Streich eingebrockt hast?«

»O ja, ich bin mir dessen durchaus bewußt. Wie schon ge-
sagt, werde ich die Konsequenzen tragen und die junge
Dame heiraten, weil sie wohl nicht zu den Mädchen ge-
hört, die man so ohne weiteres kompromittieren darf.«
»Nun sag doch schon endlich, wer die junge Dame eigent-
lich ist!« platzte dem Vater sozusagen der Stehkragen, was
den Sohn noch immer nicht erschütterte. Fast belustigt
schaute er auf die konsternierten Menschen und gab dann
endlich Bericht:
»Senöwe von Helgen ist die Tochter des bekannten Bild-
hauers, und der Mann Anitas war sein bester Freund.«
»Warum – war?« warf der Vater ein.

»Weil Herr von Helgen seit mehr als einem Jahr tot ist. Sei-
ne Frau heiratete wieder, und zwar den Industriellen Neu-
beck. Senöwe, die mit ihrem Vater in einem ähnlichen
Strandhaus gelebt hatte wie Anitas, folgte, nachdem das
Haus verkauft war, der Mutter in das neue Heim. Wahr-
scheinlich konnte die kleine Stranddistel – den Namen gab
ihr der Vater – die Verpflanzung in eine Stadtvilla nicht
vertragen und rückte aus, zu ihrem guten Onkel Konrad.«
»Aha, nun kommt langsam Licht in die dunkle Angelegen-
heit«, nickte der Vater. »Nun sag uns auch, woher deine
genaue Orientierung stammt.«

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»Aus Erkundigungen, die ich einzog.«
»Also hat die junge Dame dich gleich von Anfang an inter-

essiert?«
»Ja, und zwar durch ihre bezaubernde Natürlichkeit – mei-
netwegen auch durch ihre Schönheit. Ihr wißt ja, daß ich in
einigen Monaten verheiratet sein muß und – will.«
»Rasmus, bedenkst du denn gar nicht, daß du traditions-
gemäß nicht jedes Mädchen heiraten darfst?« sagte die Mut-
ter erregt. »Daß du bei einer Übertretung des Familienge-
setzes als Majoratserbe ausscheidest? Darauf wartet dieser
üble Kainz doch gerade.«
»Muttchen, nun beruhige dich schon. Für wie gewissenlos
hältst du denn deinen Jungen. Gerade weil ich bei der ers-
ten Wahl so jämmerlich hereinfiel, habe ich mich nach der

Familie von Helgen genauestens erkundigt. Sie ist von gu-
tem altem Adel, die Söhne wurden traditionsgemäß Offi-
zier. Nur der letzte konnte es nicht werden, weil er ein et-
was kürzeres Bein hatte, was jedoch kaum aufgefallen sein
soll. Trotzdem war er für den Militärdienst ungeeignet und
konnte guten Gewissens den Beruf ergreifen, zu dem er sich
eignete. Und er wurde ein guter Bildhauer, wie seine Erfol-
ge bewiesen. Seid ihr Zweifler nun beruhigt?«
»Bis auf das Mädchen selbst schon«, sagte die Großmutter.
»Wie war da die Auskunft?«
»Ein unbeschriebenes Blatt, blütensauber von innen und
außen.«

»Und dann hast du die junge Dame im Wald wie ein Wege-
lagerer überfallen?!« brauste der Vater auf. »Schäm dich
mal, Rasmus!«
»Und zwar ganz gehörig«, bekräftigte die Großmutter.
»Konntest du dich um das Mädchen nicht bewerben in
herkömmlicher Weise?«
»Nein, Großmama, es hätte mich bestimmt abgewiesen.«
»Na, das wird ja immer besser!« lachte der Vater grimmig
auf. »Und du meinst, daß es dich jetzt nehmen wird – nach
dieser Beleidigung?«
»Ich will es jedenfalls versuchen.«

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»Na dann herzlichen Glückwunsch«, sagte der Vater jetzt
trocken. »Vielleicht bekommst du dann die Ohrfeige, zu

der die junge Dame bereits ausholte, die dann jedoch un-
terblieb, weil ich dabei war. Denn verdient hast du sie, du
unverschämter Bengel!«
Da stand Rasmus auf und ging hinaus, die Seinen in Aufre-
gung zurücklassend.
Zutiefst erschrocken sah das Ehepaar Hövemann auf Senö-
we, die ins Zimmer stürmte – das Kleid zerrissen, das Haar
zerzaust, blutige Kratzer an Gesicht und Händen.
»Senöwe, was ist dir denn geschehen?!« schrie Anita ent-
setzt auf.
Zuerst einmal ließ das Mädchen sich in den nächsten Sessel
sinken, drückte das Gesicht in die Seitenlehne und weinte

wie ein Mensch, dem Böses widerfuhr. Nur ganz allmählich
gelang es den Gatten, das ihnen so liebe Menschenkind
zum Sprechen zu bewegen. Und erst dann, als es unter
Schluchzen und tiefster Empörung hervorgestammelt war,
konnte auch Anita ihrer Empörung freien Lauf lassen.
»Na, so ein Spitzbube! Was bildet der sich eigentlich ein!
Nimmt er etwa an, daß alle Mädchen, die sich in seinen
Wald verirren, Freiwild sind?!«
»Nun mal langsam«, stoppte der Gatte ab, der gelassen da-
saß und dabei sein Pfeifchen schmauchte. »Soweit ich den
Grafen beurteile, wird er als Ehrenmann das auslöffeln, was
er sich in seinem Übermut einbrockte…«

»Wie meinst du das?« fragte Anita dazwischen.
»Er wird um Senöwe anhalten.«
»Das soll er bloß wagen!« fuhr diese kampfbereit auf.
»Dann hat er aber schon die Ohrfeige weg, die er bereits im
Wald gekriegt hätte, wäre sein Vater nicht dabei gewesen.
Ich nehme wenigstens an, daß es sein Vater war. Und wenn
er ein gerechter Mann ist, wird er seinem unverschämten
Sprößling die Ohrfeige geben.«
»Na, na, na«, beschwichtigte Konrad. »Meine kleine
Stranddistel, so leicht ohrfeigt sich das nicht. Schon gar
nicht einen Grafen Bernbrugg.«

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»Na eben, der betrachtet es als sein Privileg, wehrlose Mäd-
chen im Wald zu überfallen und zu küssen. Und darf es

dann nonchalant abtun, wenn man ihn dabei ertappt.«
»Daß er es nicht nonchalant abtut, wird er dir schon noch
beweisen.«
Da knallte die Tür zu, und der Mann schmunzelte.
»Nun sag mal, wäre das so schlimm, wenn der Graf Senöwe
heiraten würde? Einen besseren Mann kann sie ja gar nicht
finden, abgesehen davon, daß sie durch diese Heirat in
glänzende Verhältnisse käme. Außerdem wäre ihre Heimat
an der See, wie es sich für eine Stranddistel gehört.
Wir wissen es doch, wie schlecht ihr die Verpflanzung in
Stadtboden bekam, wie sie darin müde und welk wurde.
Das merkte man doch, als sie bei uns eintraf. Und sieh sie

dir jetzt an, wie das sprühende, lachende Leben selber ist
sie. Ich jedenfalls freue mich über diese Wendung, sie ge-
schah bestimmt zu Senöwes Glück.«
»Ja, wenn du das so hinstellst, dann hat es schon was für
sich«, wurde Anita nachdenklich. »Meinst du wirklich, daß
Rasmus sich um sie bewerben wird?«
»Anita, du müßtest ihn doch noch besser kennen als ich.
Denn ich kenne ihn ja nur vom Hörensagen, du jedoch
von Kindheit an.«
»Das schon. Früher hätte ich auch für seine Ehrenhaftigkeit
meine Hand gewissermaßen ins Feuer gelegt, aber nach der
damaligen Affäre soll er sich sehr verändert haben.«

»Aber bestimmt nicht, was seine Ehrbegriffe betrifft. Nun,
wir werden ja sehen.«
Und sie sahen es; denn zwei Stunden später erschien Graf
Bernbrugg. Die Milchkanne in der Hand, in der die roten
Beeren so unschuldig leuchteten – und dabei hatten sie
doch so raffiniert Schicksal gespielt.
»Da bin ich«, erklärte er einfach, und Anita entgegnete bö-
se:
»Das sehe ich. Und gleich mit der Milchkanne. Wie vulgär,
Herr Graf – denn so muß ich jetzt doch wohl sagen, nicht
wahr?«

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»Meine liebe Anita, wie ich feststellen muß, hat dein immer
schon spitzes Zünglein in den drei Jahren unserer Entfrem-

dung noch an Schärfe zugenommen«, versetzte er gelassen
und wandte sich dann dem Hausherrn zu, der ihm lachend
die Hand entgegenstreckte.
»Da können Sie sich wohl vorstellen, Herr Graf, wie ich
unter dieser Spitzzüngigkeit zu leiden habe. Außerdem
spickt mich seit einigen Wochen auch noch eine kleine
Stranddistel. Na ja, leide ich ohne zu klagen.«
Lachend sah man sich in die Augen, und schon war der
Kontakt da.
»Na, ihr scheint euch bereits prächtig zu verstehen«,
brummte Anita noch immer nicht ganz besänftigt. »Nun
gib schon die Kanne her. Die paßt zu deiner Erscheinung

wie ein Joch zum Rassegaul. Was willst du überhaupt da-
mit?«
»Die Beeren ihrer Eigentümerin geben, für die sie redlich
bezahlte.«
»Dann mach dich nur darauf gefaßt, daß sie dir diese vor
die Füße wirft. Sie ist zwar ein wohlerzogenes Mädchen,
aber auch das kann schließlich mal aus der Haut fahren.
Nimm jetzt endlich Platz und beichte.«
»Was gibt es denn hinterher, einen Klaps oder Schokola-
de?« erkundigte er sich scheinheilig, während er einen Ses-
sel einnahm und die Kanne daneben stellte. »Das war doch
deine Taktik, als du mich früher so ganz und gar beherrsch-

test.«
»Und dieser Mann spricht von Spitzzüngigkeit. Eigentlich
müßte ich dich zur Strafe trocken sitzen lassen. Doch da es
heiß ist, will ich diesmal noch Gnade vor Recht ergehen
lassen.«
Port war sie, und Konrad fragte:
»Was rauchen Sie, Herr Graf?«
»Vorläufig nichts, Herr Hövemann. Ich möchte erst die
Angelegenheit in Ordnung bringen, von der Sie gewiß
schon hörten.«
»Ja. Es hat deswegen hier einen Aufruhr gegeben, der mo-

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mentan abgeebbt ist. Aber nur, weil Senöwe sich in ihrem
Zimmer eingeschlossen hat und wahrscheinlich ihre Sa-

chen packt.«
»So sehr ist sie über mein Verhalten empört?«
»Was ja auch schließlich kein Wunder ist. Denn Senöwe
von Helgen gehört nicht zu den Mädchen, die einen Kuß
leichtnehmen. Den wird sie nicht so bald vergessen, Herr
Graf.«
»Auch nicht, wenn ich die Konsequenzen dafür tragen
will?«
»Die zieht sie ja bereits, indem sie von der Bildfläche zu
verschwinden gedenkt.«
»Das muß auf alle Fälle verhindert werden, Herr Höve-
mann.«

»Und wie wollen Sie das verhindern, Herr Graf? Ich kenne
Senöwe von Kindheit an und weiß daher, daß sie ganz und
gar unzugänglich wird, sofern ihr ein Unrecht geschieht.«
»Also habe ich dich doch erwischt«, klang von der Diele her
jetzt Anitas Stimme. »Feige kneifen willst du, schäm dich!«
»So laß mich doch gehen!«
»Nicht eher, als bis du mit dem Grafen gesprochen hast.
Komm!«
Die Tür öffnete sich, und Anita erschien, Senöwe am Arm
zerrend, die sich wie ein störrisches Böckchen dagegen
stemmte. Doch die energische junge Frau ließ nicht locker,
bis sie die Aufsässige dahin hatte, wohin sie diese haben

wollte. Dann nahm sie kurzerhand Konrad am Arm, zog
ihn mit sich fort und schloß die Tür von außen zu.
»Besser ist besser«, erklärte sie, noch ganz echauffiert von
dem Gerangel mit dem eigensinnigen Mädchen. »Das ist
vielleicht ein kleiner Trotzteufel – oha! Da wird Rasmus
was zu zähmen kriegen.«
Im Zimmer jedoch standen sich die beiden jungen Men-
schen gegenüber und sahen sich in die Augen. Die des
Mädchens sprühten vor Zorn, die des Mannes bettelten wie
um Gnade. Zögernd versuchte er nach den bebenden Hän-
den zu fassen, die sich brüsk auf den Rücken legten.

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»Unterlassen Sie jede weiteren Annäherungsversuche, Herr
Graf«, sprach die sonst so weiche Stimme jetzt schneidend.

»Der unverschämte im Wald hat mir vollauf genügt.«
»Ich bitte Sie um Verzeihung, gnädiges Fräulein. Mein un-
schönes Verhalten tut mir leid, wollen Sie mir das glau-
ben?«
»Nein.«
»Und wenn ich gutmachen will?«
»Wie sollte das wohl möglich sein?«
»Indem ich Sie bitte, meine Frau zu werden.«
»Also doch!« lachte sie hart auf. »Bemühen Sie sich nicht,
Herr Graf, eine solche – Mußwerbung nehme ich nicht an.
Oder wollen Sie abstreiten, daß diese niemals erfolgt, wäre
der Kuß unbeobachtet geblieben?«

»Unmittelbar danach vielleicht noch nicht.«
»Das genügt mir. Ihnen als Mann wird man den Kuß, ge-
raubt im Wald, mit schmunzelndem Verständnis nachse-
hen – und mir als Mädchen wird er auch nicht weiter weh
tun, da ich noch heute von hier gehe.«
»So – und an Ihre Freunde denken Sie nicht? Ich möchte
wetten, daß dieser – na ja – jetzt schon in vieler Leute
Mund ist. Und wie soll das Ehepaar Hövemann das Ge-
schehnis wohl dementieren? Es wird in diesem kleinen Ort
und Umgegend viel geklatscht, gnädiges Fräulein.«
»Na wenn schon«, wurde sie bereits unsicher. »Über Klatsch
sind die Hövemanns erhaben.«

»Und doch schleift er Schmutz mit sich, der an dem Be-
klatschten irgendwie haften bleibt. In der Beziehung kann
ich nämlich aus Erfahrung sprechen.«
Da sah sie auf, mitten in seine Augen hinein, in denen et-
was lag, das sie wider Willen rührte. Ihr Blick flirrte ab, und
da sagte der Mann bittend:
»Gnädiges Fräulein, wollen Sie nicht ein bißchen zugängli-
cher werden, damit ich Ihnen einen Vorschlag machen
kann?«
»Meinetwegen«, gab sie seufzend nach. »Setzen wir uns.«
»Darf ich Ihnen zuerst die Beeren überreichen, die Ihnen

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doch nun wirklich gehören?«
»Ist das nicht – dreist – Herr Graf?«

»Nein, gnädiges Fräulein, das soll meine Strafe sein. Denn
es fällt mir wahrlich nicht leicht, wie ein armer Sünder vor
Ihnen zu stehen und Ihre Verzeihung zu erbetteln.«
Da nahm sie ihm die Kanne ab, stellte sie weg und bot ihm
einen Platz an. Und dann fuhr der Mann sich erst einige
Male ruckartig über Augen und Stirn, bevor er zu sprechen
begann:
»Gnädiges Fräulein, ich bitte darum, in eine Verlobung mit
mir einzuwilligen. Sie können diese nach einiger Zeit lösen
– natürlich nur, wenn Sie es wollen. Dann bleibt der
Schein gewahrt, und die Klatschmäuler sind gestopft, we-
nigstens was Sie betrifft. Kein Mensch wird es Ihnen ver-

denken, wenn Sie schließlich eine Verlobung mit mir lö-
sen.«
»Warum betonen Sie denn das – mir – so nachdrücklich?«
»Nun – Sie kennen doch sicherlich die Affäre, in die ich vor
drei Jahren geriet?«
»Aber doch schuldlos.«
»Allerdings, trotzdem bin ich irgendwie belastet.«
»Das ist doch Unsinn«, entfuhr es ihr spontan. »Mit dieser
fixen Idee überschatten Sie sich ja Ihr Leben.«
»Danke – das war ein gutes Wort.«
Verwirrt senkte sie die Augen, atmete einige Male tief und
schwer, hob dann den Blick und sagte langsam:

»Nun gut – es sei. So engherzig bin ich nun auch wieder
nicht, um eines Kusses willen so schwerwiegende Konflikte
heraufzubeschwören. Wie schon gesagt, mich würden die
Klatschmäuler ja weiter nicht berühren, wenn ich von hier
ginge, aber ich möchte sie nicht den Hövemanns auslie-
fern. Das haben sie nicht um mich verdient. Also, Herr
Graf, gelten wir nun mal so ein bißchen als Verlobte.«
Es kam so trocken heraus, daß der Mann lachen mußte,
sowenig ihm danach auch zumute war. Er beugte sich vor,
griff nach den zarten Mädchenhänden, führte sie behutsam
an die Lippen, eine um die andere und sagte leise:

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»Ich danke Ihnen, gnädiges Fräulein. Oder darf ich jetzt
Senöwe sagen?«

»Das wird sich ja wohl kaum umgehen lassen«, seufzte sie.
»Aber das sage ich Ihnen, Erdbeeren pflücke ich im verbo-
tenen Gebiet nicht mehr, das ist mir denn doch zu gefähr-
lich.«
In diesem Moment lugte Anitas dunkler Wuschelkopf vor-
sichtig durch den Türspalt, dann schob sich das Persönchen
nach und lachte.
»Ihr seid ja ganz friedlich. Darf man gratulieren, kleine
Standdistel?«
»Ja, man darf.«
»Wunderbar! Diese Verlobung muß begossen werden.«
»Aber mich entschuldigt bitte. Ich möchte die Meinen nicht

länger als nötig in Unruhe warten lassen. Darf ich morgen
wiederkommen – Senöwe?«
»Ja.«
»Danke.«
Eine tadellose Verbeugung, dann ging er, und Anita sah mit
zugekniffenen Augen zu Senöwe hin, die nach einer Ziga-
rette griff, die auf dem Tisch lagen. Ihre Hand zitterte da-
bei.
»Na, nach einer friedlichen Verlobung sieht mir das nicht
aus – «, dehnte Anita und sah dabei vielsagend den Gatten
an, der langsam nähertrat. »Was hat's gegeben, Senöwe?«
Sie erzählte kurz und stand dann auf, die unangebrannte

Zigarette auf den Tisch werfend. Sie war auffallend blaß.
Ihre Stimme klang müde, als sie sagte:
»Entschuldigt, ich muß erst einmal in aller Ruhe dazu Stel-
lung nehmen, was heute so plötzlich und ungeahnt in
mein Leben trat.«
Damit ging sie, und Anita sagte kläglich:
»Du meine Güte, das nennt sich nun Verlobung. Lach
nicht, Konrad, das ist alles eher zum Weinen. Was soll bloß
daraus werden?«
»Ein Glück natürlich. Es wäre ja gelacht, wenn es einem
solchen Prachtkerl nicht gelingen sollte, so ein sprödes

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Mädchenherz zu gewinnen. Und nun komm, kleine Frau,
trinken wir beide auf das Wohl des abwesenden jungen

Paares.«
Anita stemmte die Hände in die Hüften und besah sich
angelegentlichst den Mann, der da schmunzelnd sein Pfeif-
chen schmauchte, als wäre alles in schönster Ordnung. Sie
blies die Backen auf, schnaufte wie ein Flußpferdchen und
legte dann los:
»Ja sag mal, Mann, gibt es denn überhaupt nichts, das dich
aus deiner verflixten Ruhe bringen kann?«
»Und was nützte es, wenn ich mich ereiferte?« kam es po-
madig zurück, und da mußte sie klein beigeben.
»Nichts, da hast du recht. Aber es geht doch hier um ein
Menschenkind, das wir beide lieben und das in einer Ehe

ohne Liebe bestimmt unglücklich wird.«
»Nun, erstens ist es noch nicht soweit, und dann sind
blindgeschlossene Liebesehen größtenteils nicht die besten.
Sie sind wie schillernde Seifenblasen. Wenn sie bald zer-
platzen, bleibt ein leeres Nichts.«
»Dann steht uns ja noch so allerlei bevor.«
»Liebes Kind, mein Seifenbläschen habe ich mir mit offe-
nen Augen angeschaut, bevor ich nach ihm haschte.«
»Ach, sieh mal an. Aber da du so neunmalklug bist, kannst
du mir sicher auch erklären, was mit den aus Vernunft ge-
schlossenen Ehen wird.«
»Kann ich, nämlich:


Erwählst du dir 'ne Liebste,
forsch immer erst: Was gibt se.
Halt außerdem die Augen offen,
dann darfst du dir ein Glück erhoffen.«

Da sahen sie sich lachend in die Augen und verstanden sich
wieder einmal glänzend.
»Wo der Junge nur bleibt«, sagte Gräfin Hortense, die mit
Gatten und Schwiegermutter zusammensaß. Sie war eine
mittelgroße, schlanke Frau und nicht nur dem Namen nach

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vornehm. Sie war mit ihren zweiundfünfzig Jahren immer
noch schön und sehr gepflegt, die Kleidung ausgesucht

elegant. Ihr sorgfältig frisiertes Haar zeigte kaum einen
grauen Faden. Die Augen blickten gütig, die Stimme hatte
einen herz warmen Klang. Graf Magnus hatte die verarmte
Prinzessin aus Liebe heimgeführt und war mit ihr glücklich
geworden bis auf den heutigen Tag.
Anders war die Ehe der Eltern des Grafen Magnus zustande
gekommen. Seine Mutter entstammte wiederum einem
verarmten gräflichen Geschlecht. Man hatte sie dem, rei-
chen Grafen Bernbrugg zur Frau bestimmt, und sie hatte
ihn auch widerspruchslos genommen. Und da sie beide
Menschen von guter Erziehung und gutem Charakter war-
en, hatten sie eine vorbildliche Ehe geführt und sich von

Jahr zu Jahr immer fester aneinander geschlossen.
Jetzt war der Gatte, der fünfzehn Jahre mehr zählte, schon
seit zehn Jahren tot. Ehrlich betrauert von seiner Frau, die
mit ihren siebenundsiebzig Jahren noch so vital war. Die
hochgewachsene Gestalt war vom Alter ungebeugt, die Au-
gen hatten immer noch einen klaren, scharfen Blick. Auch
das feine Antlitz wies nur wenig Falten auf, so daß man der
Frau das immerhin hohe Alter nicht ansah.
Sie saß auch noch jeden Tag im Sattel, war geistig rege wie
eh und jeh, hatte Verständnis für die Jugend und sah ihr
viel nach.
Aber nicht dergleichen, was ihr Enkel sich da geleistet hat-

te, und das sie als unehrenhaft bezeichnete.
Nicht, daß er ein Mädchen küßte, dagegen hatte sie nichts
einzuwenden, er zählte immerhin erst dreißig Jahre. Aber
dann sollte er das bei solchen Mädchen tun, die damit ein-
verstanden waren und nicht einfach einen Kuß erzwingen.
Das war unritterlich und ihres Enkels nicht würdig.
»Magnus, nun tu mir den Gefallen und renne hier nicht im
Eilzugtempo hin und her«, sagte sie jetzt nervös zu dem
Sohn, der schon eine Weile von Unruhe getrieben auf und
ab ging. »Deshalb kommt der Junge doch nicht früher.«
»Ich könnte den Bengel ohrfeigen!« stieß er grimmig her-

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vor, sich dabei mit Vehemenz in einen Sessel werfend. »Ich
habe direkt Angst vor dem Mädchen, das er uns bringen

wird. Am liebsten möchte ich wie der Vogel Strauß den
Kopf in den Sand stecken, um nur nichts hören und sehen
zu müssen.«
»Das sieht dir ähnlich«, betrachtete die Mutter kopfschüt-
telnd ihren Sohn, der wiederum seinem Sohn auffallend
glich. Nach siebenundzwanzig Jahren würde dieser genau-
so aussehen, ein vornehmer Grandseigneur mit angegrau-
ten Schläfen.
Das konnte man so recht erkennen, als Rasmus jetzt ein-
trat. Drei Augenpaare sahen ihm gespannt entgegen, und
dann fragte die Großmutter enttäuscht:
»Hast du denn das Mädchen nicht mitgebracht?«

»Nein, Großmama.«
»Dann hat sie am Ende – Junge, so sprich doch endlich!«
Zuerst nahm er Platz, steckte eine Zigarette in Brand und
sprach dann klar und knapp. Als er geendet, schüttelte die
Seniorin ihr wohlfrisiertes Haupt.
»Ja, gibt es auch so was, daß ein Mädchen nicht mit beiden
Händen zugreift, wenn ein Mann wie du um es wirbt?«
»Das hat Senöwe ja bewiesen«, lächelte er belustigt über die
konsternierte Dame. »Sie wird es uns allen nicht leichtma-
chen, ihr näherzukommen.«
»Na das wäre«, fuhr der Vater sich brummend in den Kra-
gen. »Wir werden ihr schon das Trotzköpfchen zurechtset-

zen.«
»Dazu wünsche ich dir viel Erfolg, Vater. Sie führt nämlich
ihren Beinamen Stranddistel nicht zu unrecht.«
»Es ist kaum die Möglichkeit. Hätte man je gedacht, daß
man vor so einem jungen Ding – wie alt ist es überhaupt?«
»Einundzwanzig.«
»Hm«, brummte der Vater, seinen Sohn dabei so eingehend
musternd, als sähe er ihn heute zum erstenmal. »Es will mir
fast scheinen, als hätte der Kuß noch eine tiefere Bedeu-
tung. Ich kenne dich nämlich zu gut, um zu wissen, daß dir
derartige Geschmacklosigkeiten nicht liegen, so mir nichts,

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dir nichts ein Madchen im Wald zu überfallen und es zu
küssen. Nun mal ehrlich, Rasmus, hast du es etwa über-

rumpeln wollen? Aha, du läufst rot an wie eine Tomate –
also doch. So viel kühle Berechnung hatte ich dir trotz dei-
ner Kaltschnäuzigkeit den Frauen gegenüber denn doch
nicht zugetraut. Oder sollte ein Wunder geschehen sein
und du hast dich Hals über Kopf in das Mädchen verliebt?«
»Nun laß den Jungen endlich in Ruhe«, wurde die Groß-
mutter jetzt unwillig. »Das ist ja die reinste Vivisektion, die
du da mit ihm treibst.«
Da sprang Rasmus auf, eilte hinaus, und der Vater sah ihm
bestürzt nach.
Am nächsten Vormittag erschien Graf Bernbrugg wieder im
Strandhaus, traf jedoch nur das Ehepaar Hövemann an.

»Da bist du ja«, empfing Anita ihn vergnügt. »Nimm Platz.
Auf deine Braut wirst du noch eine Weile warten müssen,
weil sie gerade schwimmt, was sie mit bewundernswerter
Ausdauer zu tun pflegt.«
»Wie ist ihre Laune?« erkundigte Rasmus sich, während er
sich setzte, und Anita sah ihn entrüstet an.
»Werde hier gefälligst nicht spitz. Mein lieber Freund, Lau-
nen hat Senöwe keine, dafür ist sie noch zu wenig von der
mondänen Welt angekränkelt. Weißt du auch, daß dein
gestohlener Kuß im Wald, du Raubritter, heute bereits be-
klatscht wird?«
»Kann ich mir denken. Um diese Ungeheuerlichkeit zu

verbreiten, dafür werden schon die drei Waldarbeiter be-
stens gesorgt haben.«
»Jawohl, haben sie. Als ich nämlich heute früh den Krugla-
den betrat, der wie stets nach jedem wöchentlichen Zahltag
der Fischer proppevoll war, verstummte das lebhafte Ge-
spräch, und scheue Blicke streiften mich. Fast so, als hätte
ich mich im Wald mit dir geküßt«, setzte sie lachend hinzu.
»Doch ich tat sehr harmlos, erledigte meinen Einkauf und
bevor ich die Tür von draußen schloß, hörte ich, wie eine
Frau meinte, daß ich von dieser blamablen Angelegenheit
bestimmt noch nichts wüßte. Es würde ein harter Schlag

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für mich ehrbare Frau sein, wenn ich davon erführe. Und
was sagst du nun?«

»Daß es eingetroffen ist, womit ich rechnete. Weiß Senöwe
davon?«
»Nein, und sie soll es auch nicht wissen. Da kommt sie
übrigens. Ist sie nicht goldig, unsere Süße?«
Das konnte man wohl sagen. Hochbeinig, mit federnden
Schritten nahte die grazile Gestalt, den Bademantel über
die Schulter gehängt. Ein Bild sprühenden, blühenden Le-
bens. Doch bevor sie die Stufen zur Terrasse hochsteigen
konnte, trat Anita an die Brüstung.
»Verkrümele dich, mein Liebchen, und zieh dich an!« rief
sie lachend. »Wir haben nämlich Besuch.«
»Was für einen denn?«

»Den Herrn Bräutigam.«
Schon war Senöwe um die Ecke geflitzt, um nach einer
Viertelstunde zu erscheinen, bezaubernd anzuschauen in
dem duftigen Sommerkleidchen. Rasmus erhob sich, trat
ihr entgegen und zog die ihm entgegengestreckte Hand an
die Lippen, dabei einen prüfenden Blick in das frische
Mädchengesicht werfend.
»Weißt du auch, Senöwe, daß ich gekommen bin, um dich
nach Möwen zu holen?«
»Ach du lieber Gott«, tat sie burschikos, wobei ihr jedoch
heiße Röte ins Gesicht stieg. »Muß das sein?«
»Senöwe, meine Angehörigen warten ungeduldig darauf,

dich kennenzulernen. Meine Großmutter war gestern direkt
enttäuscht.«
»Was, eine Großmutter hast du auch noch?« fragte sie so
komisch entsetzt dazwischen, daß das Ehepaar Hövemann
in amüsiertes Lachen ausbrach. Dann sagte Anita:
»Nun stell dir diese Großmutter nicht womöglich vor wie
die Hexe aus dem Knusperhäuschen, sie ist nämlich alles
andere als das. Sieh zu, daß du ihr Herz gewinnst, dann
hast du auch die andern der Sippe. Und nun geh, du
Schelm, riskier' dort oben auf der Höh' dein Knickschen
und mach mir keine Schande. Umzuziehen brauchst du

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dich nicht, bist schön genug. Hast du auch ein Taschen-
tuch?«

Absichtlich schlug Anita so einen leichten Ton an, weil sie
sich denken konnte, wie es dem Mädchen zumute sein
mußte. Es war ja auch keine Kleinigkeit, unter Menschen zu
treten, die sie zwangsläufig willkommen heißen mußten.
Denn recht war ihnen die »Mußverlobung«, des Sohnes
und Enkels auf keinen Fall, dafür kannte sie die stolzen,
unzugänglichen Menschen zu gut.
Aber sie wußte daher auch, daß sie es das Mädchen nicht
entgelten lassen würden, was Rasmus verbrach. Dafür war-
en sie denn doch zu gerechtdenkend.
Also lag es ganz allein an Senöwe, wie dieser erste Besuch
ausfallen würde. Davon hing überhaupt das Später ab. Ge-

lang es ihr heute, die spröden Herzen zu gewinnen, dann
würde sie darin warm und weich sitzen für alle Zeit.
Nun, das hoffte Anita zuversichtlich. Denn man mußte
diesem frischfröhlichen Geschöpf ja gut sein, an dem alles
so ursprünglich, so ganz und gar ungekünstelt war, dazu
die Schönheit, der gute Charakter.
»Warum siehst du mich denn so starr an, als müßtest du
mich hypnotisieren«, lachte es hell in ihr Grübeln hinein.
»Laß nur, das hat bei mir gar keinen Zweck.«
»Scheint mir auch so. Nun geh schon endlich, du machst
mich mit deiner Pomadigkeit noch ganz nervös.«
»Ich gehe ja schon. Meine Lieben, betet für mich.«

»Na, mit dem Strolch werden Sie es bestimmt nicht leicht
haben, Herr Graf«, lachte Konrad herzlich. »Der wird Sie
schon in Atem halten.«
»Kommt ganz darauf an, wer den längeren Atem hat«, kam
es gleichfalls lachend zurück. »Und ich glaube, es wird der
meine sein.«
»Na schön. Nur was wir selber glauben, glaubt man uns –
sagte irgendwo ein weiser Mann.«
Damit ging sie endlich von Rasmus gefolgt zu der Garage,
vor der sein Wagen stand.
»Fahren wir denn durch das Dorf?« fragte Senöwe verwun-

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dert.
»Das müssen wir von hier aus immer, wenn wir uns einen

kilometerweiten Umweg ersparen wollen.«
»Na, da werden die Leute ja Augen auf Stielchen kriegen,
wenn sie uns so treulich vereint durch die Gegend kutschie-
ren sehen.«
»Das sollen sie ja auch. Und daß ich dich an meiner Seite
haben darf, verdanke ich nur deinem Verständnis, das du
dem Sünder so großmütig entgegenbrachtest.
Schau nur die Gesichter hinter den Fenstern«, zeigte er mit
einer Kopfbewegung zu den Häusern hin, die rechts und
links die Dorfstraße säumten. »Ich glaube, selten war der
Dorfkrug so besetzt, wie es heute der Fall sein wird.«
»Haben die Leutchen Sorgen«, schnitt Senöwe eine Grimas-

se. »Aber nun erkläre mir mal, wie du auf diesem Weg zum
Schloß gelangen willst.«
»Das müßtest du eigentlich wissen, da du vor einigen Wo-
chen diesen Weg bereits gefahren bist.«
»Der ist doch aber an dem paradiesischen Tor zu Ende.«
»Für uns wird sich das Paradies schon öffnen. Und daß es
auch wirklich eins ist, wird allein nur an dir liegen.«
Verwirrt senkte sie den Blick und sagte leise:
»Du verlangst wahrlich viel von mir, Rasmus.«
»Nicht mehr, als du zu geben imstande bist, Senöwe«, ent-
gegnete er sehr ernst. »Doch jetzt wollen wir so schwerwie-
gende Gespräche unterlassen, es ist in den vergangenen

vierundzwanzig Stunden gerade genug auf dich einge-
stürmt. Und nun wollen wir mal das Paradies öffnen. Sollst
mal sehen, wie leicht es geht.«
Er stoppte vor dem Tor, schloß es auf und dann wieder zu,
nachdem er den Wagen hindurchgesteuert hatte. Und dann
ging es erst einmal die Allee entlang, hinter deren hohen,
alten Bäumen sich gepflegte Rasenflächen dehnten. Riesige
Büsche von Rhododendron, der um diese Jahreszeit üppig
blühte, wechselten mit anderen Sträuchern ab. Rabatten
streckten sich, mit ihrem Blumenflor prunkend. Figuren
aller Art, von Urvätern hingestellt, kokettierten auch heute

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noch mit dem Beschauer. Ein Weiher, grün und tief, war
das Domizil eines stolzen Schwanenpaares, das seine Brut

zärtlich betreute. Weiden hingen ihre Äste bis zu dem Was-
ser hinab, an dessen Ufer Vergißmeinnicht und Tausend-
schönchen lustig wucherten. Ein Gang tat sich auf, einge-
zäunt von Spalieren, an dem Rosengesträuch emporrankte,
wo die Blüten in allen Größen und Farben dufteten.
Und dann lag plötzlich das Schloß da, prächtig anzuschau-
en mit seinen blinkenden Fensterreihen, Baikonen, Erkern
und Türmen.
Auf dem Hauptturm flatterte die Hausfahne derer von
Bernbrugg. Sie zeigte eine fliegende Möwe, die einen Brok-
ken im Schnabel hielt, der wohl Bernstein darstellen sollte.
Alles in allem ein prächtiges Bild, das Senöwe nun doch

beklommen machte. Nein, so großartig hatte sie sich das
Schloß und seine Umgebung denn doch nicht vorgestellt.
Wie würde sie sich darin wohl behaupten können.
Nun bog der Wagen rechts ab, nahm sicher die Rundung
und hielt dann vor dem Portal des Schlosses, das durch
Anlagen von dem riesigen Hof getrennt war. Auf dem gro-
ßen Rasenrund stand ein Springbrunnen, den aus Marmor
gemeißelte Möwen umkreisten. Aus ihren Schnäbeln
sprühte glitzernd die Fontäne empor. Und riesige Möwen
saßen auch auf den Podesten, welche die Freitreppe flan-
kierten.
»Nun, wie gefällt dir deine neue Heimat?« riß eine sonore

Stimme sie aus ihrem fast fassungslosen Staunen. »Mäd-
chen, du zitterst ja, hast du das denn nötig? Merke dir ei-
nes, Senöwe: Wenn ich an deiner Seite bin, brauchst du
dich nicht zu fürchten. Und nun komm.«
Damit griff er nach ihrer Hand und ließ sie auch nicht los,
als sie die breite Freitreppe emporstiegen. Sie sträubte sich
auch nicht dagegen, solange sie draußen der Beobachtung
ausgesetzt waren. Doch als sie die Halle betraten, die sich
prächtig der Außenseite des Schlosses einfügte, begann
Senöwe sich gegen die Fessel zu wehren.
»Laß jetzt endlich meine Hand los, Rasmus«, sagte sie är-

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gerlich. »Warum hältst du mich überhaupt so fest?«
»Weil ich Angst hatte, daß du noch im letzten Augenblick

Reißaus nehmen könntest«, blitzte es in seinen Augen auf,
und da mußte sie lachen.
»Meinst du, daß ich das nicht auch hier noch kann?«
»Nein, hier bist du mir auf Gnade und Ungnade ausgelie-
fert, mein eigenwilliges Kind. Also sei hübsch lieb und
brav.
Und nun heiße ich dich als künftige Herrin hier willkom-
men. Bring uns Bernbruggs die Sonne, Senöwe von Helgen,
mehr wird von dir nicht verlangt.«
Nachdem er die Hand an die Lippen geführt hatte, ließ er
sie endlich los. Verwirrt von all dem Neuen schritt das
Mädchen wie willenlos neben der hochgewachsenen Män-

nergestalt her. Über Teppiche und Mosaikboden, an reich-
geschnitzten Türen vorbei, bis eine nervige Hand die eine
öffnete, hinter der ein hohes, weites Gemach lag, in dem
drei Menschen saßen, die den Eintretenden gespannt ent-
gegensahen.
Senöwe hatte das Gefühl, als müßte sie kurz kehrtmachen
und davonlaufen, was die Beine nur hergaben. Doch zu
spät, schon klang die sonore Stimme auf:
»Hier bringe ich euch meine Braut, Fräulein Senöwe von
Helgen. Das da sind meine Lieben, kleine Stranddistel,
Großmutter und Eltern. Nun tu, wozu Anita dir riet.«
Daß der Mann in dieser eisigen Atmosphäre noch scherzen

konnte, war Senöwe unverständlich. Ganz langsam, als
hätte sie Blei an den Füßen, ging sie auf die Seniorin zu
und beugte sich artig über ihre Hand. Desgleichen tat sie
bei Gräfin Hortense und begrüßte zuletzt den Grafen, der
sich bei ihrem Eintritt erhoben hatte.
Inzwischen war es Senöwe gelungen, sich zu sammeln, und
Trotz stieg in ihr auf, von dem sie gewiß nicht wenig besaß.
Was fürchtete sie eigentlich? Wenn sie diesen stolzen Men-
schen nicht zusagte, mochten sie diese ruhig von sich wei-
sen.
Dabei hatte sie keine Ahnung, wie stolz sie selbst dastand,

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einen abweisenden Zug in dem hochmütigen Gesichtchen.
Etwas Frisches, Reines ging von der Mädchengestalt aus, ihr

entströmte das Fluidum von Herbe und Süße zugleich.
Und nun sprach die Seniorin der Familie das aus, was auch
andere Menschen beim Anblick Senöwe von Helgens emp-
fanden.
»Also tatsächlich eine kleine Stranddistel. Wenn man sie
sieht, muß man unwillkürlich an Sonne denken, an Meer
und an Wind.«
»Und mir drängt sich der Vergleich mit einem Sturmvogel
auf«, schmunzelte Graf Magnus. »Komm her, mein Kind,
wir beide werden uns bestimmt gut vertragen.«
»Na also«, lachte jetzt Rasmus amüsiert auf. »Ihr hättet
euch doch denken können, daß ich euch nur etwas bringen

werde, was über jede Kritik erhaben ist. Komm, Senöwe,
nimm hier Platz, damit wir es auch dürfen. Sonst ist es
doch gar zu ungemütlich.«
Damit drückte er sie in einen Sessel, der zwischen denen
der beiden Damen stand, sein Vater und er nahmen die
gegenüberstehenden ein, und schon war die Runde ge-
schlossen.
»Wozu riet Anita der Kleinen denn?« fragte jetzt Hortense
gespannt, und lachend gab der Sohn Antwort:
»Sie soll bei euch das Knickschen und ihr keine Schande
machen.«
»Ganz Anita«, schmunzelte der Hausherr. »Wie ist übrigens

ihr Mann, Rasmus?«
»Meiner Ansicht nach eine Seele von Mensch. Hab ich
recht, Senöwe?«
»Ja«, leuchtete es in den Mädchenaugen auf. »Onkel Konny
muß man liebhaben, ob man will oder nicht. Es war für
meinen Vater und mich immer eine große Freude, wenn er
zu uns ins Strandhaus kam, und wir waren traurig, wenn er
wieder ging. Leider steckte in ihm ein so großer Wander-
trieb, daß er es nicht länger als einige Wochen an einer
Stelle aushielt. Das hat sich jetzt allerdings gewandelt, er ist
kaum aus dem Strandhaus herauszukriegen.«

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»Kunststück, bei einer Frau wie Anita«, meinte Rasmus
trocken. »Bei der kann ein Mann es schon aushalten.«

»Will ich meinen«, nickte Hortense. »Schade, daß wir mit
dem lieben Menschenkind so auseinanderkommen muß-
ten. Aber das wird sich ja ändern, nun wir Senöwe als so-
genannten Mittelsmann haben. Stimmt's?«
»Ich weiß nicht, Frau Gräfin.«
»Nun, mein Kind, eine solche Fremdheit wollen wir erst gar
nicht zwischen uns aufkommen lassen. Gib uns nur ruhig
das trauliche Du, wie es sich gehört.
Und nun erzähle uns mal, wie es kommt, daß du so ganz
anders bist als die meisten Mädchen deines Alters. Oder
magst du das nicht?«
»Doch, gern. Daß ich anders bin, liegt wohl daran, daß ich

seit meinem achten Jahr keine Gelegenheit hatte, mit Glei-
chaltrigen zusammen zu kommen. Denn seit der Zeit lebte
ich mit meinem Vater im Strandhaus, das sein Onkel, ein
uralter Kapitän, ihm vermacht hatte. Ich besuchte nicht
einmal eine öffentliche Schule, weil Paps sich nicht von
mir trennen und mich nicht in die Stadt geben wollte. So
paßte es gut, daß im nächsten Dorf ein alter Gelehrter
wohnte, der mich unterrichtete. Und ich habe viel bei ihm
gelernt, bin gut durch das Abitur gekommen.«
»Und was sagte deine Mutter zu alledem?« fragte jetzt die
Seniorin.
»Natürlich war sie mit dem allen nicht einverstanden.

Wollte mich jedesmal mitnehmen, wenn sie auf Reisen
ging; denn sie hielt es nie lange im Strandhaus aus.«
»Hattest du denn keine Lust, mit ihr zu gehen?«
»Auch nicht die geringste. Ich blieb selbstverständlich bei
meinem Paps.«
Dieses »selbstverständlich« drückte so viel aus, daß man
sofort über die Eltern des Mädchens im Bilde war.
»Und was wurde aus dem Haus?« forschte die alte Dame
weiter. Da senkte Senöwe den Kopf und entgegnete leise:
»Das wurde nach Paps Tod verkauft.«
»Armes Kind. Wie lange ist das her?«

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»Anderthalb Jahre. Ich konnte es in der Stadt nicht aushal-
ten, obwohl es mir dort glänzend ging. Es sollte wohl so

sein, daß ich zufällig eine Zeitschrift erwischte, die über
Onkel Konny berichtete, von dem ich lange nichts mehr
gehört hatte. Nun las ich, daß er bei einer Ausstellung für
sein Bild den ersten Preis gewonnen hatte und in einem
Haus ganz nahe an der Ostsee seßhaft geworden war. Da
gab es natürlich für mich kein Halten mehr. Schon am
nächsten Morgen fuhr ich zu ihm.«
»Mit Erlaubnis der Mutter?«
»Ja. Sie rang zwar die Hände, weil ich ihr ganz und gar un-
verständlich war, aber ließ mich schließlich ziehen.
Und dann mein Schreck, als ich Onkel Konnys Frau ken-
nenlernte!« fuhr sie lachend in ihrer Erzählung fort. »Und

zwar geschah es im Dorfkrug, wo ich mich nach dem Weg
zum Strandhaus erkundigte. Zufällig befand sich Anita ne-
benan im Laden. Und wie sie nun einmal ist, benahm sie
sich mir gegenüber gleich so, als hätten wir zusammen
bereits einen Scheffel Salz verzehrt.«
»Also kannte sie dich nicht von früher?« warf Gräfin Hor-
tense ein.
»Nein. Trotzdem wußte sie sofort, wer ich bin, weil mein
Steckbrief im Strandhaus hängt, wie sie lachend sagte. Je-
denfalls führte sie mich Onkel Konny mit Triumph zu – na
ja – da war nun die Freude groß.«
»Kurz und bündig«, schmunzelte der Hausherr. »Mädchen,

wie mir scheint, ist es nicht deine Art, lange zu fackeln.«
»Stimmt«, blitzte sie ihn vergnügt an. »Und immer da, wo
mein Herz es gebietet. Das zog mich nun einmal zu mei-
nem guten Onkel Konny, und ich hatte Glück, daß seine
Frau, mit der ich ja gar nicht rechnete, ein so liebenswerter
Mensch ist. Aber etwas anderes hätte er erst gar nicht gehei-
ratet.«
Alles, was Senöwe sprach, klang einfach, echt und wahr.
Man hatte das Gefühl, daß sie sich nie mit Phrasen abgab.
Allerdings hätte das zu dieser lichten, kristallklaren Er-
scheinung auch gar nicht gepaßt. Dazu schien sie über ein

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helles Köpfchen zu verfügen, gleichfalls über eine gute
Erziehung, aus makelloser Familie stammte sie auch – alles

wichtige Punkte für das Familiengesetz.
Und dann weiteten sich Senöwes Augen, als die kleine
Gabriele auf Krücken nahte, die sie geschickt gebrauchte. Es
war für das Mädchen ein so erschütterndes Bild, daß ihm
die Tränen in die Augen traten, was von den anderen, die
es scharf beobachteten, gar wohl bemerkt wurde.
»Ich hörte, daß ihr Besuch habt«, klang nun ein helles
Stimmchen auf. »Und den möchte ich mir doch einmal
ansehen.
Nicht, Onkel Rasmus, laß mich nur gehen«, schob sie ihn
von sich, der auf sie zutrat und sie auf die Arme heben
wollte. »Was soll die junge Dame von mir denken, wenn

ich großes Mädchen mich wie ein Baby tragen lasse. Guten
Tag, Fräulein -?«
»Du darfst Tante sagen, mein Herzchen.« Hortense zog das
Kind liebevoll an sich, während die Lehrerin, die es beglei-
tet hatte, die Krücken in die Ecke stellte. Sie wurde mit Se-
nöwe bekannt gemacht} aus der Selbstverständlichkeit, mit
der Magda Bergelt in der Runde Platz nahm, konnte Senö-
we folgern, daß diese zur Familie gerechnet wurde.
»Warum darf ich Tante sagen?« forschte Gabriele, die nun
auf Hortenses Schoß saß. »Man sagt doch zu fremden Da-
men nicht Tante.«
»Sie ist nicht fremd, Gabylein, sondern die Braut von On-

kel Rasmus. Weißt du, was das ist?«
»O ja, ein Fräulein, das er heiraten wird«, erklärte die Klei-
ne ernsthaft. »Sie gefällt mir gut. Sie ist so schön wie Dorn-
röschen in meinem Märchenbuch.«
»Ob das nun eine Schmeichelei ist, wollen wir dahinge-
stellt sein lassen«, lachte der Hausherr gleich den anderen.
»Denn die Abbildungen in Märchenbüchern sind mit ro-
senrotem Pinsel gemalt. Doch nun mußt du Tante Senöwe
wohl sagen, wer du bist.«
»Senöwe heißt sie? Den Namen habe ich noch nicht ge-
hört. Aber ich finde ihn schön. Ich heiße Gabriele, gefällt

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dir der Name?«
»Ja – sehr«, gelang es Senöwe, ihrer Stimme Festigkeit zu

geben, denn der Anblick dieses engelschönen Kindes an
Krücken hatte sie zu sehr erschüttert. Ob Anita von ihm
nichts wußte? Wohl kaum, sonst hätte sie bestimmt davon
gesprochen.
Senöwe wirbelte es im Kopf von all den Eindrücken, von
denen der letzte so traurig war. Wie hilfesuchend sah sie
Rasmus an, der diesen Blick sofort verstand und gelassen
sagte:
»Es wird Zeit für dich, Senöwe, ins Strandhaus zurückzu-
kehren. Denn so wie ich Anita kenne, wartet sie bestimmt
mit dem Mittagessen auf dich.«
»Du kommst doch wieder, Tante Senöwe?« fragte das Kind

ängstlich, als das junge Mädchen sich von ihm verabschie-
dete. »Oder darf ich nur Senöwe sagen? Du siehst doch gar
nicht wie eine Tante aus.«
Da lachte Senöwe hellklingend auf, was die Kleine entzück-
te.
»Lachst du aber lieb. Nicht wahr, du kommst wieder?«
»Dafür laß mich nur sorgen, Gabylein«, gab Rasmus Ant-
wort. »Unsere Senöwe lassen wir nicht mehr los.«
»Nein, das tun wir nicht«, bekräftigte das Kind. »Sag mal,
Senöwe, kannst du auch Geschichten erzählen?«
»Ich glaube nicht, Gabriele. Aber du liest doch sicherlich
gern?«

»Sogar sehr gern.«
»Na siehst du. Meine kleine Schwester…«
»Eine kleine Schwester hast du?« fragte die Kleine atemlos
dazwischen. »Sag schnell, wie alt sie ist, wie sie heißt und
wo sie wohnt.«
»Sie ist zehn Jahre alt, heißt Susi und wohnt bei ihren El-
tern in der Stadt.«
»Ist das weit von hier?«
»Ungefähr hundertzwanzig Kilometer, wenn dir das ein
Begriff ist.«
»Ach, so weit«, schob das Kind enttäuscht die Lippe vor.

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»Dann kann die Susi wohl gar nicht herkommen?«
»Das weiß ich nicht«, wich Senöwe verlegen aus. »Aber sie

hat Bücher, die dir bestimmt gefallen werden. Soll sie dir
welche davon leihen?«
»O ja, das wäre fein. Wann kann ich sie haben?«
»Ich werde heute noch deswegen schreiben.«
»Dann geh ganz schnell nach Hause.«
»Aber Gaby, das ist doch ein Hinauswurf«, rügte Hortense,
und da senkte das Kind beschämt das Köpfchen.
»So mein' ich das doch nicht.«
»Das weiß ich ja«, beschwichtigte Senöwe. »Ich wäre ohne-
hin gegangen.«
Damit verabschiedete sie sich, Rasmus gab ihr das Geleit,
und auch die Lehrerin zog sich mit Gabriele zurück, weil

der Unterricht begann. Jetzt konnten die drei Zurückblei-
benden ungehemmt sprechen.
»Der Junge scheint mit dieser übereilten Verlobung tatsäch-
lich Glück gehabt zu haben«, begann Magnus. »Ich glaube,
wir können mit dieser Schwiegertochter zufrieden sein,
nicht wahr, Hortense?«
»Das können wir. Nur dürfen wir nicht vergessen, daß es
eine Scheinverlobung ist.«
»Dann soll Rasmus zusehen, daß daraus eine wird, die zur
Hochzeit führt«, sagte die Seniorin unwirsch. »So ein
dummer Bengel! Anstatt um das Mädchen, das ihm wahr-
scheinlich auf den ersten Blick gefiel werben wie es üblich

ist, überfällt er es wie ein Raubritter im Wald und küßt es –
«
»Aber Mutter«, blinzelte der Sohn ihr verschmitzt zu. »Er tat
doch nur das, was das Lied, welches die entzückende Klei-
ne freiweg sang, verlangte. Wer weiß, ob ich mit dreißig
Jahren nicht genauso gehandelt hätte.«
»Und es heute mit deinen siebenundfünfzig nicht auch
noch tun würdest«, unterbrach die Mutter ihn trocken. »O
ihr Männer! Da hackt eben eine Krähe der anderen die Au-
gen nicht aus.«
»Muttchen, wie kannst du bloß«, lachte die Schwiegertoch-

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ter herzlich. »Du gehörst gewiß nicht zu den Müttern, die
sagen: Mein Sohn, der tut das nicht.«

»Werde mich hüten«, zog ein Schmunzeln über das vor-
nehme Frauenantlitz. »Na, laßt gut sein, Kinder. Vielleicht
sollte es so sein, daß der Junge sich zu der Dummheit hin-
reißen ließ. Soll Senöwe ihn die vorerst mal büßen lassen,
das schadet ihm gar nichts. Ausschlaggebend ist, daß die
Heirat zustande kommt, mit der Rasmus seinem
nichtswürdigen Vetter ein Schnippchen schlägt.«
Als Rasmus mit seiner Braut dem Strandhaus zufuhr,
sprach er über Gabriele, und nachdem er geendet hatte,
sagte Senöwe leise:
»Armes Kind. Hoffentlich weiß es nicht, wie schwer sein
Leiden ist.«

»Nein, dafür ist Gaby wohl noch zu klein. Sie nimmt mit
Bestimmtheit an, daß sie noch einmal genauso herums-
pringen wird wie andere Kinder.«
»Kann das möglich sein?«
»Das hoffen die beiden Ärzte, Kapazitäten von Ruf, zuver-
sichtlich. Sie planen sogar eine Operation, doch dafür ist es
ihrer Ansicht nach noch zu früh. Jedenfalls soll alles getan
werden, was nur in Menschenkräften steht. Und sollte Gab-
riele eines Tages wieder gehen können, wird uns das der
schönste Lohn sein.
Aber das liegt ja noch in der Ferne, naheliegender ist, was
aus uns wird. Wann wirst du deiner Mutter Kenntnis von

unserer Verlobung geben?«
»Das weiß ich nicht«, winkte sie kurz ab. »Vorerst will ich
damit noch warten.«
»So, soo«, dehnte er. »Also war das Versprechen an Gabrie-
le, ihr von deiner kleinen Schwester Bücher zu besorgen,
nichts weiter als eine Phrase.«
»Wie kommst du denn darauf?« sah sie ihn groß an. »Mit
Phrasen pflege ich mich nun wirklich nicht abzugeben.
Zwar entschlüpfte das Versprechen mir spontan, aber was
ich verspreche, das halte ich auch.«
Darauf sagte er nichts. Senöwe bemerkte nur, wie sich seine

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Hände so fest um das Steuerrad legten, daß die Knöchel
weiß hervortraten. Scheu streifte ihr Blick sein Gesicht, das

sich auffallend verfinstert hatte. Sie war froh, als sie aus-
steigen und sich von ihm verabschieden konnte.
»Darf ich dich morgen wieder abholen?« fragte er kurz.
»Wenn du willst – bitte.«
»Und wie ich will!« lachte er hart auf. »Bilde dir ja nicht
ein, daß du mich noch einmal los wirst.«
So rasch griff er nach ihrer Linken, daß sie es nicht verhin-
dern konnte. Auch nicht, daß er ihr blitzschnell einen
schwergoldenen Wappenring auf den Finger schob.
»So, mein Kind, diese kleine Fessel war unbedingt notwen-
dig. Sie wird dich fortan daran erinnern, daß du fest an
mich gebunden bist.«

Bevor Senöwe etwas erwidern konnte, fuhr der Wagen an,
und sie sah ihm verstört nach. Während sie dann Fuß um
Fuß setzte wie eine Nachtwandlerin, starrte sie auf den
Ring, der ihr entgegenfunkelte. In den gewiß sehr kostba-
ren Stein war das Wappen der Bernbruggs eingemeißelt,
also die fliegende Möwe mit dem Brocken im Schnabel.
Winzig kleine Schrift, die man mit bloßem Auge unmög-
lich entziffern konnte, umlief den Stein, wahrscheinlich
handelte es sich um den Wappenspruch, der auch auf der
Hausfahne stand.
Aber sie wollte den Ring doch gar nicht haben, der sie mit
dem Hause Bernbrugg verband. Sie hatte doch nur in eine

Scheinverlobung gewilligt. Es war unfair von Rasmus, sie
mit dem Ring einfach zu überrumpeln.
Ob sie ihn ihm zurückgab? Nein, das wagte sie denn doch
nicht. Der Mann hatte zuweilen eine Art, die einen ganz
klein werden ließ.
Immer noch verstört langte sie im Strandhaus an, wo das
Ehepaar auf der Terrasse bei einem kühlen Trunk saß. Beim
Anblick des blassen, niedergedrückten Mädchens tauschten
sie einen erschrockenen Blick, und dann fragte Anita be-
hutsam:
»Was ist dir geschehen, mein Herz?«

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»Da«, zeigte Senöwe erregt auf den Ring. »Den hat er mir
kurz und bündig angesteckt, ehe ich es verhindern konnte.«

Ein hartes Aufschluchzen, sie sank in den nächsten Korb-
sessel und weinte bitterlich. Anita erblaßte vor Schreck und
sah böse zu dem Gatten hin, der natürlich seelenruhig sein
Pfeifchen schmauchte. Am liebsten hätte sie ihm diese aus
dem Mund gerissen und ins Meer geworfen, so sehr erboste
sie diese verflixte Ruhe. Doch als sie es in seinen Augen
humorvoll aufblitzen sah, zeigte sie ihm nur ihre niedliche
Faust und wandte sich Senöwe zu, deren Schulter umfas-
send.
»Aber, aber, mein Mädchen, wie kann man nur. Du bist
doch sonst so tapfer, läßt dich nicht so leicht erschüttern.
Komm, sei lieb. Hör zu weinen auf und sag uns, was dich

quält.«
Da hob Senöwe den Kopf, wischte energisch die Tränen
fort und machte ihrem Herzen Luft:
»Unfair ist es von Rasmus, mich so zu überrumpeln und
mir den Ring anzustecken, den ich gar nicht haben will.
Damit hat der Graf sein Wort gebrochen – jawohl! Denn
unsere Verlobung besteht laut Vereinbarung nur zum
Schein. Er selbst war es sogar, der mir diesen Vorschlag
machte.«
»Dann hat er sich jetzt eben anders besonnen«, warf der
Maler so gelassen ein, daß Senöwe ihn empört anfunkelte.
»Weißt du, was du bist, Onkel Konrad?«

»Sei still, Marjellchen, ich will das gar nicht wissen. Beruhi-
ge dich mal erst, dann sprechen wir weiter.«
»Ich will aber nicht still sein, dafür bin ich viel zu empört!
Ich werde ihm den Ring vor die Füße werfen!«
»Ei du, das riskiere nicht. Ich kenne den Grafen zwar nur
wenig, aber so viel immerhin, daß du bei dieser übrigens
geschmacklosen Geste den kürzeren ziehen würdest. Also
laß den Ring nur am Fingerlein und finde dich mit dem ab,
was das Schicksal für dich bestimmte. Gegen diese Allge-
walt kommst du nicht an, da kannst du dich auch noch so
dagegen stemmen.«

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»Onkel Konrad, daß ich mich noch einmal so über dich
ärgern müßte, hätte ich nie gedacht.«

Ȁrgere dich nur. Immerhin besser, als wenn du dich zu
einer nie wiedergutzumachenden Dummheit hinreißen
läßt.«
»Und die wäre?«
»Indem du dir durch Trotz die einmalige Chance deines
Lebens verdirbst. Denn so einen Mann wie den Grafen be-
kämst du nie wieder, nicht zu reden von seiner Stellung,
seinem Reichtum – und seinem Schloß am Meer. Denn nur
da kannst du glücklich werden, in der Stadt welkst du klei-
ne Stranddistel dahin.«
»Konny hat recht«, sprach nun auch Anita auf das vertrotzte
Mädchen ein. »Schau mal, Senöwe, ich kenne Rasmus von

Kindheit an und weiß daher, daß in ihm das ritterliche Blut
seiner Ahnen pulst. Er wird seiner Frau, ob er sie da aus
Liebe erwählt oder nicht, immer ein guter, rücksichtsvoller
Gatte sein. Aber spielen läßt er mit sich natürlich nicht.
Und nun sei lieb, kleine Stranddistel, die heute wieder mal
erbärmlich spickt. Erzähle uns, wie oben der Empfang
war.«
»Es ging«, brummte sie, immer noch nicht ganz besänftigt.
»Man kam mir freundlich entgegen. Und das Kind – ja, sag
mal, Anita, weißt du denn von der kleinen Gabriele
nichts?«
»Gabriele? Nein, wer ist das?«

Als Senöwe es erklärt hatte, nickte die andere so recht zu-
frieden.
»Schon daraus ersiehst du Dummchen, was für gute, hilfs-
bereite Menschen die Bernbruggs sind. Du müßtest stolz
darauf sein, dich zu ihnen zählen zu dürfen.«
»Ich werde mich unter ihnen nicht behaupten können,
glaubt es mir doch! Sie sind alle so vornehm, so be-
herrscht.
Und dann die ganze Umgebung. Nie könnte ich mich in
solcher Pracht wohl fühlen. Ich bin dafür eben nicht ge-
schaffen.«

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»Und wie du dafür geschaffen bist, du kleines Schaf«, ver-
setzte Anita trocken. »Das weißt du bloß noch nicht. Du

kommst doch aus einer komfortablen Villa, in der du dich
nur nicht wohlfühltest, weil sie nicht am Meer lag, Strand-
distelchen.«
»Ach, darin war doch alles so anders, ich weiß nur nicht,
wie ich das erklären soll. Na, ist ja egal.«
Es klang so kläglich, daß das Ehepaar amüsiert lachte, wo-
rüber Senöwe sich wieder ärgerte.
»Ihr habt gut lachen, die ihr hier so pomadig in eurem
Glück sitzt. Wie beneide ich euch bloß!«
»Also ganz tiefer Weltschmerz«, schmunzelte Konrad.
»Wird schon bald abflauen, Marjellchen, und dann wirst
du dich selbst auslachen.«

»Wäre gut«, brummte sie. »Aber noch ist es nicht soweit.
Erst möchte ich mich einmal ohrfeigen, daß ich Gabriele
versprach, ihr Bücher zu besorgen.«
»Da ging eben dein gutes Herzchen mit dir durch«, strei-
chelte Anita das flimmernde Köpfchen, das heute so traurig
herunterhing. »Du wolltest diesem bedauernswerten Kind
eben etwas Gutes tun. Wie wirst du die Bücher herbekom-
men?«
»Ich werde schreiben«, kam die Antwort verdrießlich.
»Und in dem Brief gleich deine Verlobung bekanntgeben«,
riet Konrad, doch da fuhr sie hoch.
»Auf keinen Fall! Dann hätten wir bald die gesamte Familie

Neubeck hier, und das darf nicht geschehen, die Bern-
bruggs dürfen nicht belästigt werden. Ich wende mich an
die Hausdame und bitte sie, die Bücher für ein Mädchen zu
schicken, das gern liest. Das kann sie ohne weiteres, da sie
ja doch nur unbeachtet herumliegen. Denn Susi hat dafür
keinen Sinn, die interessiert sich nur für Putz und Tand.«
»Wie die Alten sungen«, bemerkte Konrad trocken. »Und
nun lach wieder, Marjellchen, du hast allen Grund dazu.
Wie sagt Moliere: Schlag mich lieber, aber laßt mich la-
chen.«
Da lachte Senöwe wirklich, und das Ehepaar, dem dieses

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Mädchen so fest ans Herz gewachsen war, atmete erleich-
tert auf.

Die Verlobung des Grafen Bernbrugg mit Senöwe von Hel-
gen war eine Sensation, wie die Leutchen so zwanzig Kilo-
meter im Umkreis sie seit der Affäre in Schloß Möwen
schon nicht mehr gehabt hatten. An Stammtischen, auf
Damenkaffees, in Dorfkrügen, Hütten, Villen und auf Gü-
tern wurde herumgerätselt, was für ein Mädchen es wohl
sein mochte, das den ehescheuen Grafen betört hatte.
Nun, die Menschen in der engeren Umgebung wußten es.
Daher auch der Kuß im Wald – o ja, der war nun Wohl
verständlich.
Doch unverständlich war Senöwe der Briet, den sie zehn
Tage nach der Verlobung erhielt. Und was sie da las, war

eine einzige Verleumdung des jungen Grafen Bernbrugg.
Und zum Schluß der gute Rat, ihn um Gottes willen nicht
zu heiraten, wenn ihr das Leben lieb wäre. Unterschrieben
war der üble Wisch selbstverständlich nicht mit einem
Namen, sondern mit dem feigen: Jemand, der es gut mit
Ihnen meint.
»Na, so ein Lumpenkerl!« sagte Anita empört, nachdem sie
gleich dem Gatten das Geschmiersel gelesen hatte. »Wer
mag das bloß sein? Vielleicht wissen es die Bernbruggs.«
»Das ist möglich«, nickte Konrad. »Da tut Senöwe gut,
wenn sie sofort nach Möwen fährt und dort den Wisch
vorzeigt, der ja jeder Beschreibung spottet.«

So machte Senöwe sich auf den Weg, fand im Schloß je-
doch nur die Großmutter vor. Rasmus war mit den Eltern
zur Stadt gefahren, und Gabriele hatte Unterricht.
Schweigend legte Senöwe den Brief vor, den die alte Dame
gründlich las und dann kurz auflachte.
»Das habe ich kommen sehen. Na, so ein gemeiner
Schuft!«
»Kennst du ihn denn, Großmama?«
»Und ob! Das kann kein anderer sein, als dieser nichtswür-
dige Kainz. Und nun paß mal auf, mein Kind, was ich dir
eröffnen werde.«

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Je länger sie sprach, um so blasser wurde Senöwe. Und als
der Bericht beendet war, zitterte sie so vor Erregung, daß sie

zuerst gar nicht sprechen konnte. Und als sie es dann tat,
klang die Stimme heiser.
»So würde, falls Rasmus ledig bleibt, Möwen an diesen
üblen Menschen fallen?«
»Ganz recht. Aber das liegt noch in weiter Ferne, denn wir
wollen nicht annehmen, daß unser kerngesunder Junge uns
durch den Tod entrissen wird. Zuerst kommt einmal das
reiche Erbe der Tante, das dieser Lump erhält, wenn Ras-
mus nicht am Stichtag verheiratet ist.«
»Und wann ist dieser Stichtag?«
»In ungefähr acht Wochen. Willst du nun dazu beitragen,
mein Kind, daß das Gute über das Schlechte den Sieg da-

vonträgt?«
»Und wie ich das will!« blitzte es in den blauen Mädchen-
augen kampfbereit auf. »Aber genügt meine Abstammung,
damit dieser üble Mensch in dieser Beziehung Rasmus
nichts anhaben kann? Was verlangt das Familiengesetz?«
»Makellose Vergangenheit des Mädchens und einen makel-
losen Namen. Und da Rasmus' erste Braut nicht makellos
war, was er allerdings erst nach der Verlobung erfuhr, muß-
te diese eben gelöst werden.«
»Und von wem erfuhr Rasmus das?«
»Von Kainz, diesem routinierten Schnüffler, der ausnahm-
sweise mal die Wahrheit sprach, wie gründliche Nachfor-

schungen ergaben.«
»Na, meinetwegen mag der Bursche in meiner Familie und
deren Vorfahren schnüffeln nach Herzenslust, was er übri-
gens bereits getan haben dürfte, sonst hätte er Rasmus
schon längst vor seiner zweiten Braut gewarnt.«
In dem Moment trat Rasmus mit den Eltern ein, die sofort
merkten, daß etwas nicht in Ordnung war. Schon allein
deshalb, weil Senöwe ohne den Verlobten nach Möwen
kam. Sonst holte er sie immer ab und brachte sie auch wie-
der zum Strandhaus zurück.
Und obwohl das nun bereits zehn Tage geschah, war es den

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Bernbruggs noch nicht gelungen, Senöwe aus ihrer Zurück-
haltung herauszulocken, wenngleich sie sich auch zwang-

los gab. Selbst Gabriele gegenüber ging sie nie aus einer
bestimmten Reserve heraus.
Ehe man jetzt eine Frage stellen konnte, reichte die Groß-
mutter dem Enkel den Brief, den er mit verfinsterter Miene
las und ihn an die Eltern weitergab. Und dann war es Mag-
nus, der zuerst seiner Empörung Luft machte:
»Na, so ein Schuft! Da hat er doch wieder in seiner gemei-
nen Art herumgeschnüffelt. Wahrscheinlich fiebert er direkt
nach Tante Thusneldas Erbe. Kein Wunder, da ihm das
Messer sozusagen am Halse sitzt, diesem üblen Schulden-
macher. Kinder, tut mir den einzigen Gefallen und heiratet
bald, damit wir endlich mal vor diesem Schnüffler und

Wühler Ruhe bekommen.«
Nach diesen geharnischten Worten war es erst einmal be-
klemmend still. Aller Augen hingen an Senöwe, auf deren
feinem Antlitz die Farbe kam und ging. Man sah es direkt,
daß da ein harter Kampf gekämpft wurde – und wartete
nun bangklopfenden Herzens auf den Entscheid.
Von ihm hing ja so viel ab, wenn nicht alles. Denn löste
Senöwe die Verlobung, wozu sie laut Vereinbarung ein
Recht besaß, war es Rasmus wohl kaum möglich, in acht
Wochen ein Mädchen zu finden und zu heiraten.
Soweit waren die vier Menschen mit ihren sorgenden Ge-
danken gekommen, da hob Senöwe ruckartig den Kopf.

Die Augen fest auf den Verlobten gerichtet, der wie die an-
deren vor Spannung den Atem anhielt, sagte sie knapp und
klar:
»Wenn es dir recht ist, Rasmus, kannst du das Aufgebot
bestellen. Ich händige dir dazu noch heute meine Papiere
aus.«
Nach diesen schwerwiegenden Worten war es wieder so
still, daß einer des anderen gepreßte Atemzüge hörte. Doch
dann packte Magnus das Mädchen in den sonnenhellen
Schopf und zog es so zu sich heran.
»Komm her, dafür muß ich dir einen Kuß geben!« lärmte er

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über seine Rührung hinweg. »Und in Gold faß ich dich
außerdem, du Mordsmarjellchen! Schampus her, mein

Sohn, damit eure richtige Verlobung gebührend begossen
werden kann.
Doch halt, noch nicht, dabei dürfen Anita und ihr Mann
nicht fehlen. Denn mir schwant so, daß sie nicht ganz
schuldlos an dem schneidigen Entschluß unserer kleinen
Stranddistel sind, stimmt's?«
»Ja«, gab sie lachend zu. »Sie haben mir gerade genug ins
Gewissen geredet. Anita mit anschaulicher Dringlichkeit,
Onkel Konny auf seine trockene, pomadige Art.
Doch ausschlaggebend war wohl, was vorhin Großmama
sagte«, setzte sie leise hinzu. »Nämlich: Daß das Gute über
das Schlechte den Sieg davontragen muß.«

»Na also«, schmunzelte Magnus. »Da hat unsere verehrte
Seniorin wieder einmal das rechte Wort zur rechten Zeit
gefunden. Und nun werde ich das Ehepaar Hövemann tele-
fonisch herbitten. Sag dem Chauffeur Bescheid, Rasmus,
daß er es abholt.«
»Darf ich da mitfahren?« bat Senöwe. »Denn meinen po-
madigen Onkel Konny muß man immer erst aus seinen
vier Wänden triezen«, setzte sie lachend hinzu.
»Na wenn's so ist, dann hopp!« ermunterte der Schwieger-
vater. »Aber bleibt nicht zu lange aus.«
Es dauerte dann aber doch eine Weile, bis die Erwarteten
endlich eintrafen. Sie fanden außer den Bernbruggs die

gesamte Familie Körtlitz vor. Man hatte nicht umhin kön-
nen, auch diese guten, treuen Menschen an der improvi-
sierten Feier teilnehmen zu lassen und sie fernmündlich
hergebeten.
Nun saß es da, das kreuzfidele Ehepaar, dem die Gemüt-
lichkeit sozusagen aus allen Nähten lugte. Er, ein gutmüti-
ger, tapsiger Hüne, sie, mittelgroß und mollig mit einem
lieben Gesicht und lustigen Augen. Die Söhne schlugen
dem Vater nach, und die Schwiegertochter paßte mit ihrer
vollschlanken Figur und dem frohen Naturell vorzüglich in
die Familie.

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»Seid mir gegrüßt, ihr trauten Gäste«, brummte Körtlitz mit
seinem Baß den Eintretenden entgegen, dabei das Sektglas

schwenkend. Dann erhob er sich gleich den anderen Her-
ren und zwinkerte Anita zu.
»Mädchen, du wärst ja schon immer ein Bild von einem
Frauenzimmerchen, aber die Ehe hat dich doch bedeutend
verschönt.«
»Was deine gut dreißigjährige immer noch nicht zuwege
brachte«, kam es schlagfertig zurück, und somit hatte Anita
die Lacher auf ihrer Seite. Sie begrüßte nun auch die ande-
ren, die ihr bis auf die junge Frau Körtlitz, die Lehrerin und
Gabriele schon längst bekannt waren, und die Be-
kanntschaft mit den übrigen war rasch vermittelt.
Der Maler mußte ja, außer Rasmus, allen vorgestellt wer-

den, und Senöwe nur Familie Körtlitz. Als sie die rundliche
Dame artig begrüßte, zog diese das Mädchen einfach in die
Arme und küßte es herzlich.
»Da hat sich der Rasmus aber mal was ganz Trautes ausge-
sucht«, sagte sie entzückt und sah dann verblüfft den Gat-
ten an, der schmunzelnd bemerkte:
»Und großzügig ist sie erst, Muttchen. Sie streut nicht wie
das Gretel im Märchen Brotsamen auf den Weg, sondern
gleich ganze Brötchen.«
Auf die vielen fragenden Augen hin gab er die niedliche
Episode zum besten und lachte dann mit den anderen in
seinem dröhnenden Baß.

Indes hatte man in der Runde Platz genommen und sah
nun auf Gabriele, die geschickt von Sessel zu Sessel hüpfte
und dann vor Hövemann stehen blieb.
»Du bist der Onkel Konny, nicht wahr?« fragte sie zutrau-
lich. »Du gefällst mir doch so gut. Hast so schöne verknit-
terte Augen, wenn du lachst.«
Damit meinte sie die Fältchen und konnte gar nicht verste-
hen, warum so große Heiterkeit ausbrach, in die der Haus-
herr hineinrief:
»Die Komplimente unserer Gaby sind immer recht zweifel-
haft, aber gut gemeint.«

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»Na was denn sonst«, entgegnete die Kleine ernsthaft. »Et-
was Schlechtes sag ich nicht, das denk ich mir bloß. Sag

mal, Onkel Konny, Senöwe sagt, daß du so schön malen
kannst. Malst du mich auch?«
»Mit dem größten Vergnügen, Tausendschönchen.«
»Wie lieb«, klatschte das Kind entzückt in die Händchen.
»So will ich jetzt immer heißen. Nun heb mich auf den
Schoß, ich kann nicht mehr stehen.«
Es bereitete den anderen ein spitzbübisches Vergnügen,
mitanzusehen, welche Anstrengung es den Mann kostete,
das zierliche Persönchen auf den Schoß zu heben. Und als
das schwere Werk geschafft, standen ihm tatsächlich
Schweißtropfen auf der Stirn.
»Onkel Konny, du bist aus der Übung gekommen!« rief

Senöwe lachend zu ihm hinüber. »Mich hast du als Kind
mit kühnem Schwung hochgehoben.«
»Das konnte man bei dir handfestem Persönchen auch
herzhafter tun, als bei so einem zarten Sylphidchen. Sitzt
du auch gut, mein Kind?«
»Ja, Onkel Konny, sehr gut. Du hast Hände wie Samt. War
Senöwe als Kind artig?«
»Ja – wenn sie nicht gerade ihren Trotzkopf aufsetzte.«
»Bekam sie dann Haue?«
»Aber wer wird denn kleine Mädchen hauen.«
»Meine Stiefmama«, erklärte das Kind eifrig. »Die schlug
mich oft, wenn sie weinte, weil mir das Bein weh tat.«

»Das muß ja eine schöne Bestie gewesen sein«, murmelte
Konrad, was das Kind jedoch nicht verstand. Im es von
dem traurigen Gespräch abzulenken, sagte Körtlitz senior
etwas Lustiges, und da lachte die Kleine schon wieder.
Es gab in den nächsten Stunden noch viel zu lachen. Und
als Familie Körtlitz sich am Spätabend verabschiedete, hat-
te sie insgesamt ein wenig Schlagseite.
»Das hat mal wieder gutgetan«, sagte der Hausherr behag-
lich. »Es sind doch zu liebe Menschen, die Körtlitz'. Die
können einen Griesgram zum Lachen bringen. Was ist,
Anita, willst du etwa schon gehen?«

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»Ich meine, Zeit dafür ist es reichlich, Onkelchen.«
»Ach was, sei kein Spielverderber. Trink lieber noch ein

Gläschen. So jung kommen wir nicht mehr zusammen.«
Also blieb man, doch das Gespräch war nicht mehr so fi-
del. Es wurde sogar ernst, als die Seniorin fragte, ob Senö-
wes Mutter überhaupt schon von der Verlobung ihrer Toch-
ter wüßte.
»Nein«, kam die Antwort einsilbig.
»Und warum nicht?«
»Bitte, Großmama, ich möchte darüber nicht sprechen.«
»So werde ich es tun«, sagte Anita entschieden. »Senöwe
fürchtet nämlich, daß dann die gesamte Familie Neubeck
hier anrückt. Die besteht immerhin aus fünf Köpfen. Und
diese Köpfe gehören Stadtmenschen, die zwischen alter,

hochgehaltener Tradition bestimmt fehl am Platze sind.«
»Vorsichtig ausgedrückt«, lächelte Hortense. »Und doch
müssen wir sie ertragen, weil es Senöwes Angehörige sind.
Wenn wir uns alle zusammentun, werden wir es schon
schaffen, zumal solche Menschen es nie lange auf dem
Lande aushalten. Sofern der Reiz der Neuheit vorüber ist,
wenden sie sich gelangweilt ab und streben ungeduldig
dem quirlenden, pulsierenden Leben der Großstadt zu.«
»Ich will sie aber hier nicht haben«, sagte Senöwe, nun
schon den Tränen nahe, und da griff der gute Onkel Konny
ein.
»Wir wollen sie jetzt nicht länger quälen. Es wird sich

schon ein Ausweg finden lassen.«
»Den ich bereits habe«, schaltete sich Rasmus ein. »Ich fah-
re mit Senöwe zur Villa Neubeck und mache dort meinen
Antrittsbesuch. Ich glaube nicht, daß man mich hinauswer-
fen wird.«
»Sie bestimmt nicht«, lächelte der Maler ironisch. »Sie sind
ja schließlich eine Persönlichkeit, mit der man prunken
kann. Zieh nicht die Stirn kraus, Senöwe. Ich kenne deine
Mutter persönlich und deren Familie durch deine anschau-
lichen Schilderungen, da darf ich mir schon ein Urteil er-
lauben. Man soll eine Angelegenheit nicht verschleiern,

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sondern sie klar beleuchten. Sonst gibt es Mißverständnis-
se, die nur Verwirrung schaffen. Bedenke, daß dein Vater

genauso sprechen würde wie ich. Und vergiß nie, daß ich
dich als sein Vermächtnis liebe und ehre.«
Da senkte sich der gleitende Mädchenkopf, und eine Träne
sprang glitzernd auf die verkrampften Hände. Anita stand
auf und sagte gemacht lustig:
»Jetzt aber husch husch ins Korbchen. Werden wir leben,
werden wir sehen.«
Von einem ungewohnten Geräusch aus dem Schlaf ge-
schreckt, warf Senöwe sich herum, blinzelte ins Licht und
erblickte Anita, die lachend vor ihrem Bett stand.
»Heraus aus den Federn, du Faulpelz! Schläfst hier, als gin-
ge dich die ganze Welt nichts an. Und dabei hat dein Herr

Bräutigam schon gute Arbeit geleistet. Hat dank der Papie-
re, die du ihm gestern zustecktest, bereits das Aufgebot be-
stellt, wie er telefonisch kundtat. In einer Stunde ist er hier,
um mit dir zu deiner Mutter zu fahren. Also erhebe dich
schleunigst aus deinem weichen Pfühl!«
»Ich fahre nicht mit«, bockte Senöwe, und da wurde Anita
ärgerlich.
»Mach gefälligst keine Mätzchen, verstehst du?! Mach doch
dem Mann das Leben nicht unnötig schwer. Der hat weiß
Gott Unerfreuliches genug hinter sich.«
»Du bist ein Scheusal, Anita!«
»Ein Dito, mein Herzchen. Nun hopp raus und rein ins

Wasser. Das wird dir bestimmt einen klaren Kopf schaffen.
Laß uns nicht zu lange mit dem Frühstück warten. Du
weißt, daß Konny morgens immer sehr hungrig ist.«
Hinaus war sie, und Senöwe erhob sich mißmutig. Es gefiel
ihr ganz und gar nicht, daß man sie andauernd zu etwas
zwang, das ihr absolut nicht zusagte. Warum der überstürz-
te Besuch bei ihrer Mutter? Der hatte doch wirklich noch
Zeit.
Das sagte sie auch, als sie später am Frühstückstisch er-
schien, anzuschauen wie der taufrische Sommermorgen
persönlich. Nur das mißmutige Gesicht wollte nicht zu der

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lichten Erscheinung passen.
»Nun sei friedlich, und verdirb uns mit deiner griesgrämi-

gen Miene das Frühstück nicht«, wurde Anita energisch.
»Etwas Notwendiges, und wenn es noch so unerquicklich
ist, soll man nicht auf die lange Bank schieben, sondern es
beherzt hinter sich bringen. Wenn du das geschafft hast,
wirst du mir bestimmt recht geben und nicht länger mau-
len.«
»Bist du nun fertig mit deinem Sermon?«
»Kommt ganz darauf an, wie du dich benimmst, du stache-
lige Distel. Lieber Gott, wenn ich dich doch erst unter der
Haube hätte!«
So komisch verzweifelt klang es, daß Senöwe hell heraus-
lachte, vergnügt fiel Anita ein, und dann gab es doch noch

ein behagliches Frühstück.
Man war gerade fertig, als Rasmus in Erscheinung trat. For-
schend sah er die Braut an.
»Bist du zu der notwendigen Fahrt bereit, Senöwe?«
»Dafür hat Anita schon gesorgt«, versetzte sie trocken. »Die
Standpauke, die sie mir hielt, war wirklich nicht so ohne.«
»Aber notwendig. Jetzt plage dich mit ihr weiter ab, Ras-
mus.«
»Soll geschehen«, entgegnete er lachend. »Doch meine Ge-
duld ist langmütig.«
»Und durchaus erforderlich. Nimm sie hin, und bringe sie
mir bei besserer Laune zurück. Hier hast du den Mantel, da

die Handtasche – und nun ahoi!«
»Vergiß bloß nicht drei Kreuze hinter mir herzumachen«,
spottete Senöwe, drückte jedoch dabei einen Kuß auf die
Wange der jungen Frau, einen zweiten auf die des schmun-
zelnden Konrad, dann ging das Paar davon, dem Auto zu,
das vor der Garage stand. Man nahm Platz, und die Fahrt
begann, vor der Senöwe sich direkt graulte.
Das heißt, vor der Fahrt selbst nicht, die war sogar schön.
Die Sonne lachte vom blauen Himmel, und da Senöwe nie
lange mißmutig sein konnte, lachte sie bald mit.
Entzückend war sie anzuschauen in ihrer lichten Schön-

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heit. Die Augen leuchteten wie Saphire. Das unbedeckte
Haar, von einem Seidenband zusammengehalten, das auf

dem Scheitel zur Schleife geknotet war, umbauschte bei
dem sachten Luftzug das feine Gesichtchen. Über dem
Sommerkleid trug sie einen leichten Seidenmantel von
ausgesuchter Eleganz. Die Beine, die sie von sich gestreckt
hielt, waren schlank, die hellfarbenen Sandaletten zierlich.
Alles in allem machte sie einen vornehmen Eindruck. Dazu
ihre köstliche Schönheit – nun, ein so holdseliges Men-
schenkind bekam man bestimmt nicht alle Tage zu sehen.
Und der Mann? Der wirkte immer distinguiert, ob er den
Straßenanzug, den Frack oder den Reitdreß trug. Wahrlich
ein junges Paar, an dem selbst der liebe Herrgott seine
Freude haben mußte.

Jetzt wandte sich der rassige Männerkopf seiner Begleiterin
zu, und ein Lächeln umzuckte den hartgeschnittenen
Mund.
»Nun, mein Mädchen, ist es schön so?«
»Was die Fahrt betrifft, sogar sehr schön. Aber was an-
schließend kommt, wird alles andere als schön sein.«
»Aber notwendig, Senöwe. Vielleicht hätten wir deine Mut-
ter doch erst schriftlich von deiner Verlobung in Kenntnis
setzen sollen. Was wird sie sagen, wenn du so mir nichts,
dir nichts gleich mit einem Bräutigam anrückst? Wird sie
nicht sehr überrascht sein?«
»Zuerst natürlich. Doch sie wird sich rasch fangen und sich

über den Schwiegersohn freuen, mit dem sie in der Gesell-
schaft prunken kann. Klingt doch auch wirklich gut, dieses:
Mein Schwiegersohn, der Graf Bernbrugg auf Möwen.«
»Du hast doch ein verflixt flinkes Zünglein«, lachte er amü-
siert. »Das werde ich dir wohl nach und nach stutzen müs-
sen.«
»Wird dir wohl kaum gelingen; denn Disteln spicken nun
mal. Außerdem steht die Stranddistel unter Naturschutz,
das laß dir nur gesagt sein.«
»Sei du da nur nicht so sicher«, blitzte er sie an. »Gerade so
ein Verbot verleitet zur Übertretung.«

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»Aber nur bei Dieben.«
»Hm – davon gibt es verschiedene.« Ein Lächeln zuckte

ihm um Augen und Lippen. »Zum Beispiel – Herzensdie-
be.«
Mit spitzbübischem Vergnügen bemerkte er, wie heiße Röte
das Mädchengesicht überflutete. Doch dann war das Züng-
lein schon wieder klar zum Gefecht.
»Ich glaube, Herr Graf, Sie benehmen sich.«
»Warum denn?« tat er harmlos. »Seit gestern sind wir doch
ganz richtig verlobt. Da steht doch dem Bräutigam sogar
ein Kuß zu.«
»Also Rasmus, wenn du jetzt nicht vernünftig bist, dann –
dann – «
»Na was – dann?«

»Dann – dann – gebe ich dir den Ring zurück.«
»Wie theatralisch. Aber beruhige dich, mein eigenwilliges
Kind, ich werde mir niemals etwas nehmen, das mir nicht
freiwillig gegeben wird.«
Es war so schroff gesagt, daß Senöwe betroffen schwieg.
Scheu sah sie in das stolzgeschnittene Antlitz, um dessen
Mund ein verbissener Zug lag. Anita hatte recht, mit diesem
Mann durfte man nicht spielen, noch nicht einmal im
Scherz.
Ein Angstgefühl stieg in ihr hoch, das ihr die Kehle eng
machte. Wie würde sie sich diesem ungewöhnlichen Mann
gegenüber nur behaupten können – und sie hatte sich ge-

stern unlösbar an ihn gebunden.
Aber konnte sie anders handeln? Nein, gewiß nicht. Sie sah
jetzt noch die bekümmerten Mienen der Großmutter und
der Schwiegereltern vor sich – und das blasse, wie verstei-
nerte Gesicht des Verlobten. Wo hätte sie da wohl den Mut
herbekommen sollen, kaltblütig zu eröffnen, daß sie ihnen
leider nicht helfen könne. Hätte sie dann noch jemals Ruhe
vor ihrem Gewissen gehabt? Nein – und nochmals nein!
Denn in ihre Hand war es gegeben, die Menschen von ei-
ner drückenden Sorgenlast zu befreien, und vor allen Din-
gen einem minderwertigen Menschen das schmutzige

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Handwerk zu legen. Sie sah direkt seine gierigen Hände,
die sich nach dem reichen Erben ausstreckten.

Und was hätten Anita und Onkel Konny wohl dazu gesagt,
wenn sie ihnen eröffnet, daß sie den Bernbruggs ihre Hilfe
versagt und sie somit kaltlächelnd ihrem Schicksal über-
ließ? Die beiden Menschen hätten sie gewiß verachtet –
und unter den Umständen hätte sie nicht länger bei ihnen
bleiben können. Hätte entweder in die Villa Neubeck zu-
rückkehren oder sich eine Arbeit suchen müssen.
Und was für eine? Zur Bürokraft fehlte ihr die Ausbildung,
selbst im Hauswesen wurde eine solche verlangt.
Also hatte sie eigentlich sich selbst den größten Gefallen
getan, als sie sich gestern zu dem bedeutsamen Schritt ent-
schied und somit für ein behütetes, sorgenfreies Leben. Da

brauchte sie sich gar nicht so aufzuspielen, als hätte sie wer
weiß was für ein Opfer gebracht.
Und mit dem Mann würde sie schon irgendwie fertig wer-
den. Zwar würde es schwierig sein, aber es mußte einfach
gehen!
Mit diesem Schlußstrich warf sie kampfesmutig den Kopf
zurück, und schon hörte sie neben sich die sonore Stimme:
»Nanu, du läßt ja dein Köpfchen spielen wie ein unwilliges
Schlittenpferd. Was paßt dir jetzt so alles nicht, hm?«
»Das möchte ich lieber für mich behalten.«
»Ist auch besser«, kam es gelassen zurück. »Wie sagt Freilig-
rath meinem Gedicht: >Und hüte deine Zunge wohl, bald

ist ein böses Wort gesagt. O Gott, es war nicht bös gemeint,
der andre aber geht und klagt<.«
Da senkte Senöwe beschämt den Kopf. Es kam ihr sehr
gelegen, daß sie in eine Stadt einfuhren und Rasmus scharf
aufpassen mußte. Und als sie wieder freie Fahrt hatten,
sagte er mit einem Blick auf die Uhr am Armaturenbrett:
»Noch eine halbe Stunde, dann dürften wir unser Ziel er-
reicht haben.
Also ungefähr um zwölf Uhr. Wird deine Mutter dann
schon zu sprechen sein?«
»Das schon. Hoffentlich ist kein Besuch da.«

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»Nanu, bist du etwa menschenscheu?«
»Nein. Aber das würde unsere Angelegenheit hinausschie-

ben, und ich möchte heute noch nach Hause zurück.«
»Nach Hause – «, dehnte er. »Sollte das für ein junges Mäd-
chen nicht bei der Mutter sein?«
»Wenn ich mit ihr allein wohnen würde – vielleicht. Aber
all die anderen, die jetzt zu ihr gehören, sind mir so we-
sensfremd – überhaupt alles ist mir in dem Hause fremd,
obwohl ich ein Jahr darin lebte. Du wirst ja meine Stief-
schwester Charlott kennenlernen und dann feststellen
können, daß diese viel mehr die leibliche Tochter meiner
Mutter sein könnte als ich.«
»Armes Kind. Na, laß nur. Du wirst ja jetzt bald ein Zuhau-
se haben und zu Menschen gehören, die alles tun werden,

um es dir zum wahren Zuhause zu machen. Schon allein
deshalb, weil sie dir zu danken haben, daß du unter Ver-
leugnung deiner selbst so tapfer für sie eintrittst.«
»Bitte nicht«, unterbrach sie ihn hastig, wobei ihr die Röte
der Beschämung ins Gesicht flutete. Doch tapfer sprach sie
weiter:
»Sag das nicht wieder, Rasmus, wenn ich mich nicht schä-
men soll. Wenn ich nämlich das richtig beleuchte, wofür
ihr mir danken wollt, muß ich eingestehen, daß ich mir
damit selbst den größten Gefallen tat.«
»Wie soll ich das verstehen?«
»Nun, erstens hätte mich mein Gewissen geplagt, Höve-

manns hätten mich verachtet, und ich hätte von ihnen ge-
hen müssen in eine ungewisse Zukunft hinein.«
Der flimmernde Mädchenkopf senkte sich, und zart fuhr
die Männerhand darüber hin. Die Stimme klang nicht ganz
klar, die nun sprach:
»Wahrlich, Senöwe, nicht viele Mädchen hätten das so tap-
fer eingestanden. Ich danke dir.«
Behutsam wurde ihre Hand ergriffen, an die Lippen ge-
drückt und wieder in den Schoß zurückgelegt. Doch dann
hob sich der Kopf, und die blauen Augen sahen den Mann
bittend an.

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»Rasmus, was ich dir jetzt sagen werde, fall es nicht falsch
auf, es würde bestimmt zu Mißverständnissen führen…«

»Sprich nur, Senöwe, was ist's?«
»Rasmus«, begann sie in fliegender Hast, dabei seinen Arm
mit der bebenden Linken umfassend. »Sprich in der Villa
nicht von früher, nein? Schau mal, sie kennen dich doch
gar nicht und könnten etwas sagen, das dich – kränkt.«
Jetzt mußte sie die Augen schließen unter dem blauen,
blitzenden Strahl, der sie aus den Männeraugen traf. Ermat-
tet legte sie sich im Polster zurück und hörte dann eine
leise Stimme, ganz zärtlich, ganz weich:
»Nein, du kleine Stranddistel mit dem weichen Herzchen,
ich werde nichts sagen, was du nicht willst.«
»Danke, jetzt ist mir wohler.«

»Kann ich gar nicht finden, ganz blaß bist du geworden.
Wie der Besuch auch ausfallen mag, du hast niemand und
nichts zu fürchten, wenn du mich an deiner Seite hast, Se-
nöwe, das habe ich dir ja schon einmal gesagt. Lach dich
nur unbekümmert durchs Leben und überlaß alle Schwie-
rigkeiten mir.«
»Ach, Rasmus, ist das nicht zu schön, um wahr zu sein?«
»Nein, du mußt nur dazu beitragen, daß es wahr wird.«
Es war ihr nur recht, daß sie darauf nicht zu antworten
brauchte, weil der Verkehr kurz vor der Stadt sehr rege
wurde. Da durfte der Mann am Steuer nicht abgelenkt wer-
den.

Frau Irina war natürlich höchst überrascht, als die Tochter
so plötzlich vor ihr stand.
»Senöwe, wo kommst du denn her?« schlug sie die Hände
zusammen. »Und einen fremden Herrn bringst du gleich
bis in mein Wohnzimmer? Kind, das ist doch unschick-
lich.«
»Graf Bernbrugg ist nicht fremd, Mama, er ist mein Verlob-
ter.«
Daß die Frau nach dieser Eröffnung zuerst einmal fassungs-
los war, konnte man ihr schließlich nicht verdenken. Nicht
gerade geistreich starrte sie auf den Mann, der nur mit Mü-

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he ein amüsiertes Lachen unterdrücken konnte. Doch Se-
nöwe, die konnte es sich schon erlauben, hell herauszula-

chen.
»Aber Mama, so komm doch endlich zu dir. Einmal muß
ich dir doch einen Schwiegersohn bringen.«
»Das schon«, kam die Antwort kläglich. »Aber damit darfst
du mich doch nicht so überrumpeln, du böses Mädchen.
Entschuldigen Sie meine augenblickliche Fassungslosigkeit,
Herr – wie war doch der Name?«
»Grat Bernbrugg auf Möwen, Mama.«
»Ah so – sehr angenehm. Sie sind mir natürlich willkom-
men, Herr Graf. Aber nehmen Sie doch bitte Platz.«
Und dann ging die Fragerei los. Nicht plump und gera-
deaus, versteht sich, sondern hübsch diskret, worin diese

Weltdame ja Routine besaß.
Und während Senöwe Antwort gab, natürlich so, wie sie es
für angebracht hielt, betrachtete Rasmus seine Schwieger-
mutter mit stillem Ergötzen. Genauso hatte er sie sich vor-
gestellt.
Und dann wirbelte ein niedliches Etwas ins Zimmer, das
ihm als Tochter des Hauses vorgestellt wurde.
Senöwe hat recht, dachte der Mann. Dieses brünette, zierli-
che Persönchen könnte eher die Tochter der mondänen
Dame sein als diese rankgewachsene, sonnenhelle Schön-
heit mit den leuchtenden Blauaugen.
»Denk dir mal, mein Liebes«, erklärte die Frau Mama, »Graf

Bernbrugg ist Senöwes Verlobter.«
Zuerst behielt die Kleine das Mäulchen offen, doch dann
sprudelte es über:
»Aber das ist ja todschick. Da werden die heute abend Au-
gen machen. Ihr kommt gerade zurecht, denn wir geben
ein Gartenfest. Aber du hast dazu ja gar kein Kleid, und
mein Schwager«, setzte sie wichtig hinzu, »hat auch nichts
anzuziehen.«
»Na sind wir etwa nicht angezogen?« versetzte Senöwe
trocken, die es um Nase und Mund des Verlobten verdäch-
tig zucken sah.

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»Das schon, aber nicht einem Gartenfest angepaßt, nicht
wahr, Mama?«

»Natürlich, mein Kleines. Kinder, hättet ihr euch nicht vor-
her anmelden können? Ich weiß jetzt vor Aufregung nicht,
wo mir der Kopf steht.«
»Dann rege dich ab, Mama. Wir sind nur auf Stippvisite
hier.«
»Waaaas? Aber Kind, du scherzest wohl. Du darfst jetzt
überhaupt nicht fort, weil wir für deine Aussteuer sorgen
müssen. Wann soll denn die Hochzeit sein?«
»In knapp drei Wochen.«
»Ach du großer Gott – warum denn so überstürzt?«
»Weil mein Verlobter in spätestens acht Wochen verheiratet
sein muß. Es geht nämlich um eine Erbschaft, die er sonst

verliert.«
»Ach so ist das«, atmete die Dame hörbar auf. »Dann aller-
dings, Geld verliert keiner gern.
Aber wie sollen wir so rasch mit deiner Aussteuer fertig
werden? Und dann mit den Vorbereitungen zur Hochzeit,
die doch so glänzend wie möglich begangen werden muß.«
»Was für eine Hochzeit denn?« kam es fragend von der Tür
her, durch die der Hausherr soeben schritt. Und schon hat-
te die holde Gattin ihn bei den Rockklappen, wie ein Was-
serfall auf ihn einsprudelnd. Ein Wunder, daß der Mann
daraus klug wurde, wenigstens einigermaßen.
Natürlich war auch er überrascht, verstand das jedoch als

gewandter Geschäftsmann besser zu tarnen als die lebhafte
Gattin.
»Aber Frauchen, du bist ja ganz durcheinander«, lachte er.
»Nun laß mich mal los, damit ich die unverhofften und
lieben Gäste begrüßen kann.
Töchterchen, es scheint dir ein spitzbübisches Vergnügen
zu bereiten, uns ahnungslose Menschen hier mit einem
Herzallerliebsten zu überrumpeln«, drohte er mit dem Fin-
ger. »Aber ganz was Exquisites hast du dir da ausgesucht,
potztausend. Seien Sie mir als Schwiegersohn willkommen,
Herr Graf.

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So – nun möchte ich aber in Ruhe erklärt haben, was mein
Frauchen da so aufgeregt hervorsprudelte, von einer Erb-

schaft und einer Heirat in drei Wochen. Setzen wir uns.«
Rasmus sprach über die Erbschaftsbedingung kühl und
reserviert. Und das Fludium, das von dem vornehmen
Mann ausging, verfehlte auch hier seine Wirkung nicht.
»Daher die rasche Heirat«, führte die sonore Stimme weiter
aus. »Was die Aussteuer betrifft, wäre diese in Möwen fehl
am Platze, Senöwe findet dort alles in reichlichem Maß
vor. Und ihre persönlichen Sachen sind wohl bald be-
schafft.«
»Die ich überhaupt schon besitze«, erläuterte das Mädchen.
»Man hat mich hier so verschwenderisch mit allem ausge-
stattet, daß es für Jahre reicht.«

»Aber Kind, da ist doch bestimmt viel Unmodernes darun-
ter«, wurde die Mutter nun wieder mobil, und da lachte die
Tochter hellauf.
»Mama, unsere Möwen dort sind nicht so kritische Mode-
betrachter wie die Gesellschaftsmenschen.«
»Kind, du wirst ja ungezogen«, beklagte Irina sich, während
die Herren amüsiert lachten. »Man kann dich doch nicht
wie ein Aschenbrödel in die Ehe schicken.«
»Das werden wir ja auch nicht, Frauchen«, begütigte der
Gatte. »Vorerst gibt es wichtigere Dinge zu klären. Ist Mö-
wen Majorat, Herr Graf?«
»Ja.«

»Genügt da Senöwes Abstammung laut Familiengesetz, das
es ja wohl auf jedem Majorat gibt?«
»Voll und ganz, Herr Neubeck. Es verlangt makellose Ver-
gangenheit der künftigen Majoratsherrin und einen guten,
unbescholtenen Namen.«
»Nun, damit kann unsere Tochter wohl aufwarten«, ent-
gegnete Neubeck. »Und wie sind Ihre Verhältnisse, Herr
Grat.«
»Die denkbar besten, Herr Neubeck.«
»Keine Schulden?«
»Im Gegenteil.«

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»Danke, das mußte ich wissen. Und nun wollen wir zum
gemütlichen Teil übergehen. Du bleibst bis zur Hochzeit

selbstverständlich zu Hause, Töchterchen.«
»Nein, Papa, ich fahre heute noch zurück.«
»Aber Kind, du kannst doch unmöglich schon vor der
Hochzeit im Hause des Verlobten…«
»Tu ich auch nicht«, schnitt sie ihm kurz das Wort ab. »Ich
wohne bis dahin weiter im Strandhaus bei dem Ehepaar
Hövemann.«
»So ist der Maler verheiratet?« fragte die Mutter überrascht.
»Ja, er hat eine prachtvolle Frau.«
»Aus unseren Kreisen?«
»Will ich meinen.«
»Aber die Hochzeit dürfen wir dir ausrichten, nicht wahr?«

fragte Irina spitz, und da gab Rasmus, der sich über alles
köstlich amüsierte, Auskunft:
»Leider geht das nicht, gnädige Frau. Das Familiengesetz
der Bernbruggs schreibt vor, daß die Majoratserben in der
Kapelle von Möwen getraut werden müssen.«
»Ach, so ist das. Kind, du bringst mich aber auch um jede
Freude. Doch da fällt mir eben etwas Schreckliches ein: Ich
kann dich und deinen Verlobten noch nicht einmal zum
Mittagessen einladen, weil es heute nur einen kleinen Im-
biß gibt, wie es vor Gesellschaften so üblich ist. So eine
Blamage aber auch.«
»Wir werden schon nicht verhungern«, lachte Senöwe.

»Und nun möchten wir nicht länger stören.«
Es kam zu einem Abschied, bei dem die Frau Mama sogar
ein Tränchen zerdrückte. Aber nicht etwa, weil die Tochter
sie schon wieder verlieft, vielmehr darum, weil dieses böse
Kind sie um die Ausrichtung einer glanzvollen Hochzeits-
feier brachte, mit der sie hätte prunken können nach Her-
zenslust.
»Das ist doch recht gut gegangen«, lachte Rasmus, als er
den Wagen anspringen ließ. Mit einer diskreten Kopfbewe-
gung zeigte er zur Villa hin, wo sich hinter drei Fenstern die
Gardinen bewegten. »Ob sie mit meinem Wagen zufrieden

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sind? Denn so ganz trauten sie meiner Beteuerung nicht,
daß ich keine Schulden hätte.«

»Nun, dieses chromblitzende Ungeheuer kann ja nur ein
Angeberwagen sein, der nicht bezahlt ist«, fiel Senöwe fröh-
lich in das Männerlachen ein. »Ach, Rasmus, wie bin ich
froh, daß dir das alles da oben nicht auf die Nerven gegan-
gen ist.«
»Mein liebes Kind, so zartbesaitet bin ich nicht. Es sind
eben Gesellschaftsmenschen, dem muß man Rechnung
tragen. Das Ehepaar scheint sich übrigens gut zu verste-
hen.«
»Das tut es. Mama ist meinem Stiefvater aber auch eine
gute Frau. Immer für ihn da, immer auf sein Wohl bedacht.
Und die Kinder hängen an ihr. Wohl gerade deshalb, weil

sie ihnen allen Willen läßt und nicht an ihnen herumer-
zieht, dafür ist sie nämlich zu bequem. Sie will mit Uner-
quicklichkeiten nicht behelligt werden, das stört sie in ihrer
geliebten Ruhe.
Und nun habe ich Hunger.«
»Ich dito. Daher werden wir an einem Hotel halten und
uns gütlich tun.«
Bis es jedoch soweit war, gab es für Senöwe noch eine Be-
gegnung, die sie keineswegs entzückte. Denn als sie vor
dem Hotel ausstiegen, kam ihnen ein Ehepaar entgegen,
das das Mädchen überschwenglich begrüßte.
»Ei sieh da, die bezaubernde Seenöwe«, näselte der Herr, so

ein richtiger Lebemannstyp.
»So lange habe ich Ihren Anblick entbehren müssen. Und
der gute Fred Ewing erst, der trug sich schon mit Selbst-
mordgedanken vor lauter Liebeskummer.«
»Aber wirklich, Fräulein Senöwe«, beteuerte die Ehehälfte.
»Na, da wird sein Herz heute abend aber vor Freude hüp-
fen. Denn Sie fahren doch sicher zu den lieben Eltern, weil
Sie das Gartenfest mitmachen wollen, von dem sozusagen
die halbe Stadt spricht.«
»Darf ich Ihnen meinen Verlobten, den Grafen Bernbrugg
vorstellen?« sagte Senöwe gelassen.

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»Das ist mal eine sensationelle Überraschung«, flötete die
Dame. »Also gibt es doch einen Mann, der sich das spröde

Herzchen einfangen konnte. Allerherzlichsten Glück-
wunsch – und nun wollen wir nicht länger stören.«
Damit schoben sie ab, ihrem Wagen zu, und Senöwe blies
die Backen auf, während sie an der Seite des Verlobten ins
Hotel ging, ihn im Vestibül jedoch zurückhielt.
»Puh, war das grausig! Diese Klatschmäuler haben mir ge-
rade noch gefehlt. Nun, die werden schon dafür sorgen,
daß noch vor Beginn des Gartenfestes meine Verlobung in
der Gesellschaft herumkommt. Aber hier essen wir nicht,
damit wir nicht noch einige von der Sorte treffen.«
»Dann kneifen wir«, zwinkerte er ihr zu, und wie zwei lu-
stige Verschwörer zogen sie von dannen. Unterwegs fanden

sie ein Gasthaus, das ihnen zusagte.
»So, hier wird man uns nicht aufstöbern«, sagte Senöwe
zufrieden. »Wenigstens jetzt nicht, wo man die Zeit und die
Ruhe nicht hat, sich außerhalb der Stadt in ein Lokal zu
setzen; denn man muß ja zu dem phänomenalen Garten-
fest rüsten.«
»Vielleicht wärst du doch ganz gern dazu geblieben?«
forschte er, und sie hob abwehrend die Hände.
»Um alles nicht! Ich bin richtig froh, daß ich so leicht da-
vonkam. Wir werden später sowieso daran glauben müs-
sen, Festlichkeiten in der Villa mitzumachen. Denn soweit
ich Mama kenne, gibt sie nicht früher Ruhe, als bis sie uns

in die Gesellschaft eingeführt hat.«
»Werde ich auch noch mit Fassung tragen. Du weißt, ich
bin geduldig.«
Mißtrauisch sah Senöwe ihn von der Seite an – wie meinte
er das schon wieder? Es war wirklich nicht leicht, aus die-
sem Mann klug zu werden. Und wieder stieg die Sorge in
ihr auf, wie sie sich neben ihm würde behaupten können.
Doch nachdem sie zu dem guten Essen noch zwei Gläs-
chen Wein getrunken hatte, sah sie die Welt in rosigem
Licht. Rasmus kam aus dem Schmunzeln kaum heraus, als
er mit seiner fidelen Begleiterin weiterfuhr.

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In einem Dorf mußten sie halten, weil man Schützenfest
feierte und der Umzug die Straße versperrte.

»Du, da machen wir mit«, sagte Senöwe begeistert. »Oder
hast du keine Lust?«
»Nur, wenn du auf dem Schramm mit mir tanzt und nur
mit mir allein gehst, wie es unter den Dorfbewohnern so
schön heißt. Ich bin nämlich sehr eifersüchtig.«
»Du –?« tat sie nonchalant ab. »O nein, dafür bist du viel
zu pomadig.«
»Laß es nicht darauf ankommen, daß ich dir das Gegenteil
beweise«, schmunzelte er.
»Davor habe ich auch gerade Angst«, lachte sie ihn aus.
»Aber sieh nur, wie prächtig geschmückt die Mädchen sind.
Da komm ich bestimmt nicht mit.«

»Natürlich. Wie könnte auch eine Stranddistel mit Gänseb-
lümchen und Klatschmohn konkurrieren.«
»Na hör mal, der ist doch sehr dekorativ. Schade, daß der
Zug zu Ende ist, er war doch so lustig. Fahr jetzt weiter zum
Gasthof, wo der Schramm sicherlich stattfindet.«
»Oder dort auf dem Rummelplatz, wie ich sehe und an der
Dudelei höre. Wenn ich den Wagen abgestellt habe, gehen
wir dahin und mischen uns unter die lustigen Leute.
Aber ich muß mich doch sehr wundern, daß du nicht zum
Gartenfest bliebst, wenn du so vergnügungssüchtig bist.«
»Ach, so ein Klimbim ist für mich schon oft dagewesen,
hier jedoch lockt der Reiz der Neuheit.«

Vor dem Gasthaus standen bereits einige Wagen. Ein Zei-
chen, daß auch andere Durchfahrende Lust verspürten, den
fidelen Rummel mitzumachen. Daher fiel auch das distin-
guierte Paar nicht weiter auf und konnte sich zwanglos
amüsieren.
Doch zuerst trat Rasmus an den Schießstand, wo es dem
guten Jäger gewiß nicht schwerfiel, genau ins Schwarze zu
treffen. Er wählte als Preis ein Jägerhütchen, das er der la-
chenden Senöwe auf die sonnenhellen Locken drückte.
»So, jetzt bist du würdig geschmückt – und nun hinein ins
Vergnügen!«

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Das fand man denn auch bei einem Karussell, das in küh-
nen Kapriolen herumwirbelte. Senöwe, die nun doch

ängstlich wurde, suchte Halt am Arm des Nachbarn, der sie
daraufhin dicht zu sich heranzog.
Hui, wie das ging! Bergauf, bergab! Dazu dudelte die Mu-
sik, die sich mit dem Lachen und Kreischen der Fahrenden
vermischte. Herrlich fand Senöwe das und ließ nicht lok-
ker, bis die dritte Runde gedreht war. Da allerdings hatte
sie genug und taumelte, als sie auf festem Boden stand. Da
schob sich ein Arm unter den ihren, und so treulich ver-
eint, strolchte man über den Platz, auf dem es von fröhli-
chen Menschen nur so wimmelte. Es gelang Rasmus, ein
putziges Äffchen aus Plüsch zu erwürfeln, das Senöwe ent-
zückt betrachtete und dann kategorisch erklärte:

»Bist ein feiner Kerl, dich nehm ich mit ins Bett. Und nun
habe ich Durst.«
Den stillte sie bei einem allerdings nur kleinen Maß Bier,
das ihr trotzdem in die Beinchen fuhr. Aber tanzen konn-
ten sie dennoch leichtbeschwingt, wenn man es in dem
wirbelnden Gedränge überhaupt noch mit tanzen bezeich-
nen durfte. Das machte Senöwe nichts aus, bis ein unge-
schickter Jüngling ihr so herzhaft in die Ferse trat, daß sie
humpeln mußte. Da zog Rasmus sie kurzentschlossen aus
dem Gedränge und sagte lachend:
»Hast du jetzt endlich genug?«
»Der Not gehorchend. Aber laß nur, schön war's doch.«

Rasmus mußte noch oft über die drolligen Bemerkungen,
überhaupt über die entzückende Art dieses frischfröhlichen
Menschenkindes schmunzeln, bis er es im Strandhaus ab-
liefern konnte.
»Hier hast du sie wieder, süßbedudelt und quietschverg-
nügt«, schob er sie lachend Anita zu. »Laß dir von ihr er-
zählen, was sie an diesem Tag erlebte, ich muß es schon zu
Hause tun. Schlaf wohl, du Übermut, und vergiß nicht, was
du dem niedlichen Äffchen versprachst.«
Als Rasmus zu Hause das Wohnzimmer betrat, rief ihm die
Mutter aufgeregt entgegen:

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»Junge, wo warst du nur so lange?! Ich habe mich sehr um
dich geängstigt.«

»Und uns damit nervös gemacht«, brummte die Großmut-
ter. »Setz dich hin und erzähle.«
Das tat Rasmus – und zwar so launig und anschaulich, daß
die drei Zuhörer sich köstlich amüsierten. Und als er gar
von dem Schützenfest sprach, da lachte man direkt Tränen.
»Na so ein übermütiger Strolch!« wischte Magnus sich die
Augen. »Mein lieber Sohn, mit dem Schritt zu halten wird
nicht ganz einfach für dich Schwerblütler sein. Und wie
benahm sie sich während der Rückfahrt?«
»Da sang sie freiweg wie ein Vöglein auf dem Ast.«
»Auf die Liebeslieder bin ich aber gespannt.«
»Liebeslieder?« wiederholte Rasmus lachend. »Hast du eine

Ahnung! Ein Studentenlied sang sie, und zwar: >Im
schwarzen Walfisch zu Askalon< Wahrscheinlich hat ihr
das mächtig imponiert, daß ein Mann drei Tage hindurch
trinken konnte, während sie schon von zwei Glas leichtem
Wein und einem kleinen Maß Bier genug hatte.«
»Ihr Vater muß ein prachtvoller Mensch gewesen sein«,
sagte Hortense warm. »Denn bei der Mutter hätte Senöwe
wohl kaum ein so frischfröhliches, bezauberndes Men-
schenkind werden können.«
»Wahrscheinlich nicht«, versetzte Rasmus trocken. »Dann
wäre sie heute bestimmt auf dem Gartenfest und ließe ihr
mondänes Kleid bewundern.«

»Du hast nur die ältere Neubeck gesehen?« fragte die
Großmutter interessiert.
»Ja. Die anderen beiden Kinder waren wohl in der Schule.«
»Daß die Gören bei der Erziehung überhaupt noch zur
Schule gehen«, brummte Magnus. »Wohl kaum das Ver-
dienst der Frau Mama.«
»Ganz bestimmt nicht«, gab der Sohn Antwort. »Dafür
sorgt die langjährige Hausdame, die schon in der Villa war,
als Neubecks erste Frau noch lebte.«
»Während die Gnädige ihre Schönheit pflegt und sich
putzt«, warf die Großmutter ironisch ein. »Da ist es ja kein

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Wunder, daß ein so wertvoller Mensch wie Senöwe es bei
solchen Hohlköpfen nicht aushielt und zu ihrem Onkel

Konrad flüchtete.
Und gut, daß sie es tat. Sonst hättest du sie nicht kennenge-
lernt, mein Junge, und womöglich so ein modisches Putz-
äffchen an den Hals gekriegt. Danken wir daher unserem
Herrgott jeden Tag aufs neue, daß er eine Senöwe erschuf
und sie uns in den Weg führte. Ich freue mich schon, wenn
sie morgen kommt, auf ihr goldiges Lachen.«
Allein, daraus sollte nichts werden. Denn als Rasmus am
nächsten Vormittag im Strandhaus erschien, fand er nur
Anita vor, die aufgeregt sagte:
»Vor einer halben Stunde ist Senöwe zu ihrer Mutter gefah-
ren. Denk dir bloß, Rasmus, da hat doch dieser anonyme

Schmierfink an die Dame geschrieben. Was, das weiß ich
nicht genau. Sie sprach telefonisch mit der Tochter und
beschwor sie, um Gottes willen sofort nach Hause zu
kommen, da sie ihres Lebens hier nicht sicher wäre, weil du
ein ausgesprochener Blaubart bist. Und da Senöwe nicht
wollte, daß die aufgeregte Frau hier aufkreuzte, ist sie
schleunigst zu ihr gefahren.«
»Aber Anita, wie konntest du das zulassen?« entgegnete er
unwillig. »Senöwe war doch sicher erregt und wird so an
dem ersten besten Baum landen. Du hättest sie zurückhal-
ten und mich verständigen sollen.«
»Das verbot sie mir, weil sie die Angelegenheit ohne dich

ins reine bringen wollte. Und da Konrad das gleiche be-
fürchtete wie du, ist er mitgefahren. Er ließ Senöwe nicht
ans Steuer, sondern führte es selbst.«
»Gott sei Dank, da bin ich in dieser Hinsicht beruhigt. Aber
das andere – ich weiß nicht, ob Senöwe sich da durchset-
zen wird.«
»Worauf du dich verlassen kannst. Sie wird ihrer Mutter
schon gewissermaßen die Wacht blasen. Von dir läßt sie
jedenfalls nicht, das ist mir schon längst klar.«
»Das war ein gutes Wort, Anita. Ich gehe jetzt, weil ich dir
mit meiner Unruhe doch nur auf die Nerven fallen würde.

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Sofern Senöwe zurück ist, bitte deinen Mann, bei uns zu
erscheinen und Bericht zu erstatten. Ruf vorher an, dann

schicke ich den Wagen.«
»Das will ich gern tun, wenn es bloß erst soweit wäre. Was
man mit euch beiden so alles mitmachen muß, das läßt
sich kaum beschreiben. Aber laß nur, ich tu es ja gern«,
setzte sie hinzu, als sein Antlitz sich verfinsterte. »Aber froh
werde ich dennoch sein, wenn die Hochzeit vorüber ist
und der anonyme Schuft dir nichts mehr anhaben kann.
Doch jetzt können wir weiter nichts tun als abwarten. Aber
sei dessen gewiß. Senöwe steht zu dir auf Biegen oder Bre-
chen.«
Was sie denn auch tat. Unwillig sah sie die Mutter an, die
bei ihrem Erscheinen in den hellsten Tönen zu jammern

anfing, welch eine Angst sie um ihr Kind ausstehen müßte,
dessen Leben gefährdet sei und so weiter. Sie unterbrach
kurz ihre Jeremiade, als sie Konrads ansichtig wurde.
»Ah, der Maler Hövemann«, tat sie herablassend. »Was sa-
gen Sie bloß zu diesem Grafen. Er hat doch einen wirklich
vornehmen Eindruck auf uns gemacht. Und was verbirgt
sich dahinter? O du großer Gott, mein armes Kind!«
»Mama, jetzt hör endlich auf!« wurde Senöwe böse. »Vor
allen Dingen schick die Kinder raus, die Mund und Ohren
aufsperren.«
»Nun, nun, Senöwe, du kannst doch nicht so einfach mei-
ne Kinder hinauswerfen«, räusperte Neubeck sich, der auch

dabei war. Doch kurz schnitt sie ihm das Wort ab.
»Ob ich es kann oder nicht, darauf darf ich jetzt keine
Rücksicht nehmen.«
»So geht schon, meine lieben Kinder«, flehte die Mama, die
Finger dabei an die Schläfen pressend.
Da schoben die drei maulend ab, und Senöwe fragte kurz:
»Wo ist der Brief?«
»Da liegt er. O mein armes Kind, was wird dein Schicksal
sein. Vielleicht bist du morgen schon tot.«
»Aber nur, wenn dieser Schmierfink da mich umbringt«,
entgegnete sie trocken, dabei nach dem Wisch greifend. Als

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sie ihn gelesen hatte, gab sie ihn an Konrad weiter.
»Lies nur, Onkel Konny, was diese Kreatur da zusammen-

geschmiert hat, der müssen wir unbedingt das schmutzige
Handwerk legen.«
»Das ist allerdings ein starkes Stück«, sagte nun auch der
Maler, dabei den gelesenen Brief auf den Tisch werfend, als
hätte er sich seine Finger daran verbrannt. »Dem üblen
Burschen scheint das Wasser schon bis zum Hals zu rei-
chen, weil er alle seine dreckigen Hebel in Bewegung setzt,
um zu der Erbschaft zu gelangen.«
»Kennen Sie ihn denn?« fragte Neubeck.
»Ich nicht, aber die Bernbruggs kennen ihn. Er ist nämlich
der Mann, an den das reiche Erbe fällt, falls Graf Rasmus
an dem Stichtag, den die Erblasserin bestimmte, nicht ver-

heiratet ist.«
»Haben die Bernbruggs Beweise, ob er der anonyme
Schreiber ist?«
»Leider nicht. Sonst hätte Graf Rasmus seinem entarteten
Vetter schon längst die Hundepeitsche um seine
nichtswürdigen Ohren geschlagen.«
»Siehst du, liebster Mann, so ein brutaler Mensch ist das«,
ging Irinas Jeremiade wieder los. »Mein armes Kind…«
»Beruhige dich endlich«, wurde der Gatte nun auch unge-
halten. »Senöwe wird die Verlobung lösen…«
»Was soll ich?« fragte diese so erstaunt dazwischen, als hät-
te man ihr zugemutet, auf den Kirchturm zu klettern. »Das

ist doch wohl nicht dein Ernst?«
»Mein voller, Töchterchen.«
»Natürlich, warum auch nicht«, wurde sie jetzt ironisch.
»Auf so eine gemeine Verleumdung hin gebe ich meinem
Verlobten ganz einfach den Laufpaß. O nein, zu der Sorte
von Menschen gehöre ich nicht.«
Nun wurde es unter dem verächtlichen Blick der klarblauen
Augen dem Mann denn doch unbehaglich. Hastig sagte er:
»Kind, wie kann man gleich so spitz werden. Ob der Brief
Verleumdungen enthält oder nicht, du bleibst jedenfalls
hier, bis die Recherchen, die ich sofort anstellte, ein klares

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Bild ergeben.«
»Sehr zu wünschen«, sagte Senöwe eisig. »Diese Recherchen

werden dann ja wohl das infame Lügengewebe zerreißen,
was dieser anonyme Bursche spann und die Wahrheit über
die Tragödie enthüllen.«
»Hoffentlich. Wirst du nun die Verlobung lösen?«
»Nein, ich werde meinen Verlobten heiraten.«
»Das verbiete ich dir!«
»Mit welchem Recht? Du vergißt wohl, daß ich mündig
bin.«
»Und ein ungezogenes Mädchen dazu!« verlor der Ge-
schäftsmann jetzt seine Ruhe. »Sei doch nicht so starrköp-
fig. Sieh dir doch deine Mutter an, die in Angst um ihr Kind
einem Nervenzusammenbruch nahe ist. Bleib hier unter

unserem Schutz.«
»In einem besseren Schutz, als in dem Onkel Ronnys und
dem der Grafenfamilie kann ich mich nirgends befinden.«
»So geh zu ihnen in drei Deubels Namen!« schlug der er-
boste Mann mit der Faust auf den Tisch. »Und laß dich hier
nicht mehr blicken, wir sind fertig miteinander!«
Noch ehe er seine Wut ausgetobt hatte, fiel die Tür hinter
den Besuchern zu.
»Das nennt man das Tischtuch zerschneiden«, sagte Senö-
we bitter, als sie neben dem bekümmerten Konrad im Auto
saß. »Weißt du, was die sind, Onkel Konny? Krämerseelen.
Schau mal an, wie mein aalglatter, verbindlicher Stiefvater

aus der Ruhe geraten kann. Er hat recht, wir sind fertig mi-
teinander.«
Dabei blieb sie, so gütig Konrad auch auf sie einredete.
Besorgt ging sein Blick immer wieder zu dem blassen, er-
schöpften Mädchen hin. Hoffentlich hielt es durch, bis er
es bei Anita abliefern konnte. Die würde schon die rechten
Worte zur Besänftigung finden.
Und so geschah es auch. Anita fragte nicht viel sondern
handelte, nachdem sie einen vielsagenden Blick mit dem
Gatten getauscht hatte.
»Komm, mein Herzchen«, sagte sie gütig, dabei die Schulter

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des erschöpften Mädchens umfassend. »Du schläfst erst
einmal über deinen Ärger hinweg, wozu mein bewährter

Schlaftrunk dir verhelfen wird.«
Willig ließ Senöwe sich von ihr fortfuhren, und es dauerte
denn doch eine ganze Weile, bis Anita zum Gatten zurück-
kehrte, der unruhig im Zimmer umherwanderte.
»Na, du siehst ja auch ganz nett mitgenommen aus«, stellte
sie kritisch fest. »Setz dich und erzähle.«
»Also doch«, sagte sie grimmig, nachdem die alles wußte.
»So ungefähr habe ich es mir gedacht. Senöwe hat recht, es
sind Krämerseelen.
Ganz blaß siehst du aus, wirst wahrscheinlich hungrig und
durstig sein. Ich werde dir rasch einen Imbiß bereiten, und
dann mußt du hinauf ins Schloß. Rasmus war nämlich hier

und bat mich, ihm sofort telefonisch Bescheid zu geben,
wenn du zurück bist. Dann schickt er dir den Wagen, damit
du oben Bericht erstatten kannst. Also wollen wir die Men-
schen, die gewiß schon sehnsüchtig deiner harren, nicht
länger als nötig warten lassen. Aber bis der Wagen hier ist,
bleibt dir noch Zeit, etwas zu essen.«
Um sehnsüchtig Konrads zu harren, dazu war den Bern-
bruggs keine Zeit geblieben, und zwar durch die Aufregung,
die Gabriele verursachte. Das Kind klagte plötzlich über
Schmerzen am verletzten Knie, so daß man gezwungen
war, den sie behandelnden Arzt außer der Zeit nach Mö-
wen zu bitten. Doch bis der vielbeschäftigte Mann, der sich

die Zeit zu dem nicht einkalkulierten Besuch direkt absteh-
len mußte, in Möwen eintraf, vergingen immerhin Stun-
den, die man in Unruhe verbrachte.
Und diese sollte noch gesteigert werden, als der Arzt erklär-
te, daß er die kleine Patientin mit sich in seine Klinik neh-
men müßte, damit er sie ständig unter Augen hätte.
Allein, gegen diese Fahrt sträubte das Kind sich mit einem
Eigensinn, der neu an ihm war. Es wurde erst nachgiebig,
als es hörte, daß Fräulein Magda es begleiten und auch in
der Klinik bleiben würde.
Als dann das Auto endlich fort war, blieb den erschöpften

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Menschen kaum eine Stunde, bis Konrad eintraf. Betroffen
hörte er, was sich ereignet hatte und wagte es nicht, den

ohnehin schon Bekümmerten auch noch mit seinem unerf-
reulichen Bericht zu kommen. Er sprach erst dann, als er
dazu aufgefordert wurde, berichtete dann so ausführlich,
daß er selbst den Inhalt des Briefes ziemlich genau wieder-
geben konnte.
»So war es«, führte er anschließend weiter aus. »Hut ab vor
Senöwe, sie hat sich wieder einmal glänzend bewährt.«
»Und hat dabei zwischen sich und den Ihren das Tischtuch
zerschnitten«, fuhr Magnus auf. »Das hätte ihr erspart blei-
ben können, wenn der Verleumder sich schon einige Tage
früher seinen Hals gebrochen hätte. Dann wäre dieser
Wisch erst gar nicht geschmiert worden.

Vor ungefähr einer Stunde rief unser guter Körtlitz senior
nämlich an, daß dieser Kainz mit seiner Frau bei einer ra-
senden Autofahrt tödlich verunglückt sei. Körtlitz war gera-
de in der Stadt, als man die Toten überführte. Man spricht
davon, daß der Mann sich auf der Flucht ins Ausland be-
fand, weil die Polizei wegen Falschspiels und anderer Unta-
ten hinter ihm her war.
Sie werden uns sicherlich für herzlos halten, Herr Höve-
mann, daß wir über das tragische Ende zweier Menschen
keine Trauer empfinden können. Aber es geht nicht, der
Bursche hat uns zuviel Böses angetan. Es tut uns nur weh,
daß Senöwe das letzte Opfer seiner Verleumdung war.

Denn es wird ihr schon nahegehen, daß die Mutter sich
von ihr lossagte.«
»Aber nicht so, daß es ins Mark schneidet«, beruhigte Kon-
rad. »Denn Mutter ist die Frau ihr nie im wahren Sinne
gewesen. Es war auch gewiß nicht die Angst um das Leben
ihrer Tochter, was sie so jammern ließ, sondern feige
Furcht, daß man in der Gesellschaft über die Verlobung
tuscheln könnte. Und der Industrielle ist wohl erstens um
sein Prestige besorgt, und dann geht ihm die Jammerei
seiner Frau gehörig auf die Nerven.
Um nur seine Ruhe zu haben, wollte er radikal durchgrei-

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fen, hatte aber nicht damit gerechnet, daß seine Stieftochter
sich nicht so ohne weiteres die Butter vom Brot nehmen

läßt.
Jedenfalls ist Senöwe von Helgen ein Mensch, der der Ah-
nenreihe der Bernbruggs zur Ehre gereichen wird: stolz,
unbestechlich und von vornehmer Gesinnung. Die geht
mit Ihnen, Graf Rasmus, bestimmt durch dick und dünn.«
»Was sie ja bereits mit der Verlobung bewiesen hat.« Es
leuchtete in den Männeraugen auf. »Wie mag es ihr jetzt
wohl gehen?«
»Sie schlief bereits tief und fest, bevor ich hierher kam. Ani-
ta flößte ihr einen Schlaftrunk ein, der nach einem uralten
Rezept der Bernbruggs gebraut wird, wie sie mir erklärte.«
»Aha, der Schlaftrunk«, lächelte Hortense. »Danach schläft

Senöwe bestimmt einmal um die Uhr. Hoffentlich wird sie,
wenn sie erwacht, ihr goldiges Lachen nicht eingebüßt ha-
ben. Denn das brauchen wir hier, da nun auch noch die
Sorge um Gabriele hinzukommt, nötiger denn je.
Aber beherzt ist unsere Senöwe, das muß man ihr lassen.
Es war ja wohl ein Wagnis, die Kinder des Hauses in Ge-
genwart des Vaters zu vertreiben.«
»Danach fragt doch unsere Stranddistel nicht«, schmunzel-
te der Maler. »Die Herzchen zogen ja auch erst maulend ab,
als die Frau Mama ihnen etwas Schönes versprach. Und der
Nachsatz: >Aber horcht nicht an der Tür< – ist so richtig
typisch für Familie Neubeck. Ich bin nicht so ganz sicher,

ob sie nicht in Kürze geschlossen hier anrücken wird.«
»Wie meinen Sie das?« forschte die Seniorin.
»Nun, wenn die Recherchen abgeschlossen sind, wird das
Ehepaar wohl einsehen müssen, wie unrecht es mit seinem
Mißtrauen den Bernbruggs tat, und die Tochter dem jungen
Graten mit tausend Freuden geben. Um so mehr, da die
Recherchen die glänzenden Verhältnisse hier beleuchten
werden.«
»Wenn das so ist, dann hat Senöwe an der Mutter nicht viel
verloren und an dem Stiefvater schon gar nicht«, sagte
Magnus. »Die gehören wahrscheinlich zu den Menschen,

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die nach der Affäre uns Bernbruggs mit Schmutz besudel-
ten. Gottlob gab es auch andere, wenn auch nur wenige.

Und da Sie zu den wenigen gehören, Herr Hövemann, ist
es mir direkt ein Bedürfnis, mit Ihnen eine Freundschaft zu
schließen, die bestimmt wert ist, geschlossen zu werden,
und zwar bei einer besonders guten Flasche Wein. Sind Sie
dazu bereit, uns Bernbruggs Ihre Freundschaft zu schen-
ken?«
»Mit dem größten Vergnügen«, schmunzelte der Maler.
»Wie heißt es im Hamlet: >Wer ihn nicht braucht, dem
wird ein Freund nicht fehlen. Und wer in Not versucht den
falschen Freund, verwandelt ihn sogleich in einen Feind<.«
»Ein wahres Wort«, bekräftigte Magnus. »Das haben wir
erfahren müssen. Wenn die Menschen nur wüßten, wieviel

Unheil sie mit ihrem gedankenlosen Geplapper anrichten,
wieviel Kummer sie damit schaffen, sie würden vielleicht in
sich gehen und ihre Zunge hüten. Und größtenteils sind es
solche Menschen, denen nie ein Leid geschah. Das beleuch-
tet Stieler treffend mit den Worten: Wenn einer Herzen
richten möcht, dem selber nie das Herz geblutet.«
Es war an einem Sonntag vormittag Anfang Juli. Schon
vom frühen Morgen an kletterte das Thermometer und
zeigte bereits um elf Uhr fünfundzwanzig Grad im Schat-
ten. Die Sonne strahlte vom wolkenlosen Himmel, träge
plätscherten die Wellen der unwahrscheinlich blauen See.
Kaum ein Lüftchen regte sich.

»Ganz nett warm«, meinte Anita, die nebst dem Gatten im
Liegestuhl auf der Terrasse faulenzte. Beide leicht gekleidet
und durch den großen Schirm vor Sonnenstrahlen ge-
schützt. Anita sog durch den Strohhalm eine kühle Limo-
nade, Konrad rauchte wie gewöhnlich das geliebte Pfeif-
chen, ohne das er einfach nicht denkbar war, selbst bei
seinen neuen Freunden nicht.
»Hättest mitsegeln sollen«, sagte er schläfrig. »Auf dem
Wasser ist es bestimmt kühler als hier.«
»Das schon, aber ich wollte die beiden allein lassen, wie
sollen sie wohl ihre Reserviertheit zueinander aufgeben,

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wenn man sie ständig unter Augen hat. Mein Himmel,
Rasmus ist doch sonst den Frauen gegenüber nicht so zag-

haft.«
»Er will sich von der Stranddistel nicht spicken lassen«,
schmunzelte Konrad.
»Du, da lärmen doch in der Nähe Menschen«, unterbrach
Anita ihn, sich dabei aufsetzend und angestrengt horchend.
»Das werden doch nicht etwa Badegäste sein, die sich hier-
her wagen, das sollen sie mal gefälligst bleiben lassen.
Hilf Himmel, da nahen sie bereits, fünf an der Zahl. Na,
die will ich mal schleunigst aus unserem Paradies vertrei-
ben.«
Damit sprang sie auf, stemmte die Hände in die Hüften
und wartete angriffslustig auf das, was da kommen wollte,

bis Konrad, der nun auch interessiert den Weg entlang-
spähte, amüsiert auflachte.
»Sieh mal an, Familie Neubeck geschlossen.«
»Ach du liebes bißchen, da hast du wieder einmal richtig
geahnt. Empfange sie, ich werfe nur rasch ein Kleid über.
Denn so halbnackt möchte ich mich denn doch nicht prä-
sentieren.«
Weg war sie, und als sie nach Minuten wiederkam, begrüß-
te der Hausherr gerade die unwillkommenen Gäste.
»Meine Frau«, stellte er vor. »Und das ist Familie Neubeck.«
Schon fühlte Anita sich von fünf Augenpaaren aufgespießt,
wie sie ironisch bei sich feststellte. Wahrscheinlich galten

die Blicke ihrer Aufmachung; denn so eine Sorte pflegt die
Mitmenschen ja nach der Kleidung einzuschätzen. Aber
Anita konnte sich sehen lassen, elegant und gepflegt stand
sie da.
»Ach meine liebe Frau Hövemann, entschuldigen Sie gü-
tigst den Überfall«, lächelte Irina ihr süßestes Lächeln.
»Aber wir konnten nicht umhin, uns die Stätte anzusehen,
wo unsere Senöwe so liebevolle Aufnahme fand. Dürfen
wir uns setzen, ja? Wir sind nämlich von der Hitze
schachmatt.«
Nachdem Konrad durch Heranholen für Sitzgelegenheiten

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gesorgt hatte, fand jeder seinen Platz.
»Wo ist denn unser Töchterchen?« fragte Irina pathetisch.

»Wir haben doch so große Sehnsucht nach ihm.«
»Senöwe befindet sich mit ihrem Verlobten auf dem Was-
ser«, gab Anita reserviert Auskunft.
»Was – badet sie denn?«
»Nein, sie segelt.«
»So besitzt der Grat ein Segelboot?«
»Sogar eine Jacht mit allen Schikanen.«
»Eine Jacht?« wiederholte Charlott entzückt. »Das ist aber
fesch. Schon deshalb bleibe ich hier, Mama – das heißt auf
dem Schloß.«
»Apropos Schloß«, sprach jetzt der Herr Papa. »Kann man
es von hier aus sehen?«

»Gewiß«, entgegnete eine heute sehr reservierte Anita. »Da-
zu müssen Sie jedoch an die Brüstung treten.«
Wie ein Mann erhoben sich die fünf, die alle mit einem
Fernglas versehen waren. Die wurden nun gezückt – und
dann rissen die »Ahs« und »Ohs« nicht mehr ab. Als müß-
ten sie den stolzen Bau zu sich herunterzerren, so wurde er
von den Blicken angestarrt.
»Das Schloß scheint ja noch feudaler zu sein, als ich es mir
ohnehin schon vorstellte«, erklärte Irina so richtig stolzge-
schwellt. »Da wird unser schönes und apartes Kind wenig-
stens den richtigen Rahmen haben, nicht wahr, liebster
Mann?«

»Unbedingt, Frauchen. Sagen Sie mal, Herr Hövemann, die
Bernbruggs sind wohl – äh – hm – sehr reich?«
»Ich möchte ihr Geld nicht zählen«, kam es pomadig zu-
rück. »So an die zehntausend Morgen wird Möwen, Ne-
bengüter und Vorwerke mit eingerechnet, schon sein. Doch
nicht eingerechnet ist der riesige Waldbesitz und der nicht
mindere an Wasser«, bereitete es dem Maler eine grimmige
Freude, diesen Hohlköpfen gegenüber zu prahlen. »Ja, ja,
Möwen ist wie ein kleines Königreich, und die Grafen dar-
auf die Feudalherren. Warum hustest du so erbärmlich,
Anita, hast du dich verschluckt?«

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»Ja«, kam es erstickt zurück. »Aber es geht schon vorüber.«
Während Konrad seine ironischen Bemerkungen machte,

hatte Anita die Besucher gewissermaßen unter die Lupe
genommen. Die Weiblichkeit unbedingt »fesch« in ihren
gewiß nicht billigen Strandanzügen und den riesigen Hü-
ten, Vater und Sohn wie aus dem Modejournal geschnitten.
Das heißt, der Sohn wirkte in seinem erlesenen Habit
schlaksig, doch der Herr Papa oho!
»Ich habe doch so großen Durst«, klagte das Nesthäkchen
Susi. Also ein Wink mit dem Zaunpfahl, dem die Hausher-
rin nicht ausweichen konnte. Daher servierte sie einen küh-
len Trunk. Nachdem man sich ausgiebig gestärkt hatte, ging
die Fragerei weiter. Na, bei diesen »Malersleuten« konnte
man sich das ja leisten.

»Wie hoch ist denn eigentlich das Erbe, das dem Grafen
nach seiner Verheiratung zusteht?« fragte Irina gerade he-
raus und riß ganz groß die Augen auf, als Konrad noncha-
lant entgegnete:
»In die Hunderttausende wird es schon gehen. Denn mit
Lappalien geben sich die Bernbruggs gar nicht erst ab. Sie
haben diese eigentlich gar nicht nötig, aber Geld stinkt nun
einmal nicht, stimmt's, Herr Neubeck?«
»Gewiß, gewiß«, räusperte sich dieser, weil er nicht so recht
wußte, was er mit der Bemerkung anfangen sollte. Anita
jedoch sprang auf und trat an die Brüstung der Terrasse,
weil es ihr nicht länger möglich war, ernst zu bleiben. Und

da sah sie unweit ein stolzes Segelschiff, das sich in seiner
strahlenden Weiße wunderbar von den blauen Wellen ab-
hob. Wahrlich ein Anblick, der jedem Wassersportler das
Her? im Leibe hüpfen ließ vor Wonne.
»Die Jacht ist in Sicht!« rief Anita – und schon standen fünf
weitere Menschen an der Brüstung, ihre Gläser an die Au-
gen pressend. Anita jedoch schwenkte ihr Taschentuch und
sang dann mit heller Stimme das lustige Liedchen mit, das
zur Handharmonikamusik da drüben von Senöwe gesun-
gen wurde:

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»Du mein Mägdlein fein,
trockne deine Äugelein,

wenn wir uns jetzt trennen müssen.
Denk an meinen heißen Schwur,
daß just eine Liebste nur,
mich so zärtlich durfte küssen.
Ahoi, ahoi, ein Seemann ist der Liebsten
immer, immer treu,
ahoi, ahoi, ein Seemann bleibt
der Liebsten treu – «

Dann formte Anita die Hände zum Sprachrohr und gab das
bekannte Signal:
»Legt an, legt an, legt ahahan –!«

Und schon kam es zurück:
»Wir kokommmeeeen –!«
Dem allen sahen und hörten die fünf Besucher mit nicht
gerade geistreichen Gesichtern zu, bis die elegante Jacht
ankerte. Geschickt wurde sie an dem festen Pfahl vertäut,
und dann nahte das junge Paar. Prächtig sah es aus in Po-
lohemd und Shorts, dessen blendende Weiße die gebräun-
ten Gesichter so richtig hervorhob. Sie sprachen miteinan-
der, aber was, konnte man nicht verstehen, weil die Unter-
haltung leise geführt wurde.
»Großer Gott, die Invasion ist da«, sagte Senöwe erschrok-
ken. »Da hat Onkel Konrads Ahnung nicht getrogen. Was

machen wir da bloß?«
»Gute Miene zum bösen Spiel.«
Das tat man denn auch – aber wie! Etwas wie Eiseskälte
strömte die hochgewachsene Männergestalt aus, die Augen
glitzerten wie bläuliches Eis, um den Mund spielte ein iro-
nisches Lächeln.
Und Senöwe? Deren Haltung zeigte gewiß nichts Entge-
genkommendes, so daß die Frau Mama ihr »herzliebes
Kind« nicht in die Arme zu schließen wagte, sondern mit
forciertem Lachen sagte:
»Da staunst du, mein Liebes, nicht wahr?«

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»Allerdings. Wo wollt ihr denn hin?!« hielt sie die drei
Neubeckschen Sprößlinge zurück, die im Begriff waren,

davonzustürmen.
»Zur Jacht!« gab der Junge ungeduldig Antwort. »So laß
mich doch gehen!«
»Du wirst hierbleiben und die anderen auch.«
»Aber Herzblatt, so laß die Kinder doch – «
»Nein, Mama, sie bleiben hier. Ich kenne doch ihre rigoro-
se Art mit Sachen umzugehen, und die Jacht kostet viel
Geld.«
»Eine liebevolle Schwester bist du gerade nicht«, maulte
Charlott, doch die Frau Mama beschwichtigte:
»Laß nur, mein Liebchen, Senöwe ist jetzt noch böse. Aber
das wird sich schon geben, nicht wahr, mein Herzens-

kind?«
»Also sind die Recherchen gut ausgefallen«, stellte das
»Herzenskind« ironisch fest, doch schon schaltete sich der
Herr Papa ein:
»Töchterchen, sprechen wir nicht mehr davon«, räusperte er
sich. »Wenn du nicht so erregt gewesen wärest, hätte sich
alles in Ruhe und Güte regeln lassen.
Übrigens war es gar nicht einfach, hierher zu finden. Wir
wollten eigentlich zum Schloß, aber da sagte uns ein
Mann, daß der Zutritt dahin allen Unbefugten verboten ist.
Naja, der ungehobelte Mensch konnte ja nicht wissen, wie
befugt wir sind.

Und nun, Herr Graf – äh – hm – möchte ich Ihnen mein
Bedauern über den Fauxpas aussprechen, der uns unterlau-
fen ist. Aber wie konnten wir auch ahnen, daß es so böswil-
lige Verleumder gibt. Naja, wir waren wohl ein wenig über-
eilt, aber das alles entsprang nur der Angst um unser Töch-
terchen, das wir Ihnen, nachdem sich alles so glänzend
klärte, natürlich mit tausend Freuden geben.«
Jetzt konnte Anita sich nicht mehr länger beherrschen. Sie
platzte mit einem Lachen heraus, das die Tonleiter nur so
auf und ab perlte. Und es sprach für die Selbstgefälligkeit
des Neubeckschen Ehepaares, daß es dieses Lachen als Plus

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für sich buchte.
»Ganz recht, gnädige Frau, lachen Sie nur«, meinte der

Mann wohlgefällig. »Lachen wir alle; denn Lachen macht
lustig. Vereinen wir uns zu einem Kreis von trauten Brü-
dern. Aber dazu muß Champagner her…«
»Den wir nicht haben«, wart Konrad trocken ein. »Wir sind
ja schließlich arme Malersleute.«
»Gewiß, gewiß. Aber im Schloß wird es doch welchen ge-
ben, nicht wahr, mein lieber Schwiegersohn?«
»Das weiß ich nicht«, blitzte es in den blauen Männeraugen
humorvoll auf. »Den Weinkeller hat mein Vater unter
sich.«
»Apropos, der Herr Papa! Wohl ein jovialer Herr?«
»Das zu beurteilen möchte ich als befangen ablehnen.«

Jetzt platzte Senöwe mit ihrem unterdrückten Lachen he-
raus, was die kleine Susi zutraulich werden ließ. Sie
schmiegte sich ans Knie der Stiefschwester und sagte ent-
zückt:
»Endlich lachst du wieder. Senöwe. Nicht wahr, ich darf
meine Sommerferien im Schloß verleben?«
»Darüber habe ich nicht zu bestimmen«, wich das Mäd-
chen den bettelnden Kinderaugen aus. »Ich bin ja nicht die
Herrin dort.«
»Aber du wirst es doch nach der Hochzeit?«
»Nur untergeordnet. Denn im Schloß gibt es noch eine
Großmutter und eine Mutter.«

»Sind die böse?«
»Nein, lieb.«
»Dann werden sie auch bestimmt nichts dagegen haben,
wenn ich Freundinnen mitbringe.«
»Wie viele sind es denn?«
»Bis jetzt zehn, doch es werden schon noch mehr hinzu-
kommen.«
»Wie beruhigend. Da wird uns nichts anderes übrigbleiben,
als im Schloß einen Kindergarten zu eröffnen.«
»Kindergarten«, schob die Kleine die Lippe vor. »Du bist
abscheulich, Senöwe.«

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»Herzchen, laß das jetzt«, fiel die Frau Mama ein. »Kommt
Zeit, kommt Rat. Wie ist es, wollen wir nicht allesamt in

ein Lokal fahren und dort zu Mittag essen? Die Kosten trägt
selbstverständlich mein Mann.«
»Wie großzügig«, spottete Senöwe. »Doch leider können
wir das liebenswürdige Angebot nicht akzeptieren, weil wir
vier im Schloß zum Mittagessen erwartet werden. Und da
wir pünktlich sein müssen, wird es Zeit, daß wir uns rü-
sten.«
Das war gerade deutlich genug und wurde selbst von den
nicht gerade zartbesaiteten Leutchen verstanden. Also
sprach der Herr Papa ein Machtwort:
»Kommt, wir haben es bestimmt nicht nötig, hier zu Kreu-
ze zu kriechen. Wer nicht will der hat. Aber der Scheck, den

ich dir zustecken wollte, der bleibt in meiner Brieftasche,
du ungezogenes Mädchen. Hoffentlich bereust du deinen
jetzigen Starrsinn nicht. Wann heiratest du überhaupt?«
»In zehn Tagen.«
»So schnell schon«, wurde Irina wieder mobil. »Da wird es
ja Zeit, für entsprechende Toiletten zu sorgen. Leb wohl,
mein herzliebes Kind, ich kann dir trotz allem nicht böse
sein.«
So zog man denn vereint von dannen, und Rasmus strich
der Braut zart über die Augen.
»Senöwe, wie kann man nur. Man muß diese Menschen
eben so nehmen, wie sie nun einmal sind.«

Wohl selten hatte ein Mädchen sich so wenig um seine
Hochzeit gekümmert, wie Senöwe von Helgen es tat –
nahm wenigstens Anita an. Immer wieder versuchte sie, der
jungen Freundin ins Gewissen zu reden, wie auch heute.
Kopfschüttelnd sah sie zu ihr hin, die sich auf der Terrasse
wohlig im Liegestuhl rekelte.
»Mädchen, deine Ruhe möchte ich haben. Vergißt du denn
ganz, daß in zwei Tagen deine Hochzeit ist?«
»Daran erinnerst du mich gerade zur Genüge«, kam es
schläfrig zurück. »Möchtest du mir nicht verraten, was ich
deiner Ansicht nach noch mehr tun soll, als bereits gesche-

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hen ist? Meine Sachen, die Neubecks Hausdame mir auf
meine Bitte schickte, sind dank der Fürsorge der Kammer-

frau im Schloß in Schub und Lade. Das Hochzeitskleid
nebst Zubehör liegt bereit, mein Haupt wird der traditio-
nelle Schleier der Bernbruggs schmücken, die Blumen stif-
tet mein Herr Gemahl, der er nach der standesamtlichen
Trauung ja bereits ist, und somit ist alles in schönster Ord-
nung.«
»So – und was sagt das Herz?«
»Das schweigt.«
»Dann laß es nur immer weiter schweigen, bis Rasmus ei-
nes Tages die Geduld reißt und er seine eigenen Wege
geht.«
Da sprang Senöwe auf, eilte davon, und Anita sah ihr be-

troffen nach.
»Und was hast du nun?« fragte Konrad kopfschüttelnd.
»Diese Angelegenheit ist doch viel zu zart und empfind-
sam, um ausgesprochen zu werden. Laß Senöwe doch ge-
währen. Sie kennt ihre Pflicht als Gattin eines Majoratser-
ben und wird zu ihr stehen, verlaß dich darauf. Und nun
schau nicht so kläglich drein, mein Fraule, ich weiß, du
meinst es mit deinem Insgewissenreden gut. Das schadet
dem kühnen Jäger gar nichts, der sich so verwegen den Kuß
raubte, wenn die schöne Erdbeerpflückerin ihm noch das
kalte Schulterchen zeigt. Laß ihn zur Strafe ruhig toggen-
burgern, ungefähr so: Blickte stundenlang nach dem Fen-

ster seiner Liebsten, bis das Fenster klang.«
»Hast du das etwa auch bei mir getan?« fragte sie spitz, und
er schmunzelte, daß die Fältchen um Augen und Lippen
nur so tanzten.
»Ich habe dich ja auch nicht beim Erdbeerpflücken ken-
nengelernt.«
Nun sahen sie sich lachend in die Augen, wie nach jedem
Geplänkel; denn ernstlichen Streit gab es in dieser Ehe
nicht.
Allein, Anita schrieb sich das hinter die niedlichen Öhr-
chen, was der Gatte gesagt und so konnte es kommen, daß

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die beiden letzten Tage, die Senöwe noch im Strandhaus
verweilen durfte, harmonisch verliefen.

Und dann war der große Tag endlich da. Sorgfältig geklei-
det stand Senöwe von Helgen da, als der Verlobte sie zur
standesamtlichen Trauung abholte. Bezaubernd anzu-
schauen in dem eleganten Kleid aus schwarzem Taft, nur
sehr blaß und erschöpft. Sie taumelte sogar, als Rasmus ihr
die wenigen, aber erlesenen Blüten überreichte, so daß er
sie rasch umfaßte und besorgt in das müde Gesicht sah.
»Was fehlt dir, Senöwe, ist dir nicht gut?«
»Doch – ja – laß uns gehen, damit wir nicht zu spät kom-
men.«
Bekümmert sah Anita ihnen nach. Was hatte Senöwe nur?
Sie war ihr schon gestern abend so matt und müde vorge-

kommen. Machte das die Aufregung, oder steckte gar eine
Krankheit in dem Mädchen? Es war in den letzten Tagen
sehr heiß gewesen, man konnte Senöwe kaum aus dem
Wasser bekommen. Hoffentlich hatte sie sich dabei nicht
erkältet und machte nicht sozusagen kurz vor Toresschluß
schlapp.
O nein, das tat Senöwe von Helgen nicht, obwohl ihr be-
stimmt nicht wohl war, Kopf und Hals schmerzten erbärm-
lich, doch keine Klage kam über ihre Lippen.
Sie hätte sonst an der flotten Fahrt im Viererzug, der aus
Schimmeln bestand, bestimmt ihre helle Freude gehabt.
Doch jetzt wünschte sie sehnlichst, daß erst die stande-

samtliche Trauung zu Ende war, nach der sie mit Fug und
Recht des stolzen Grafen Bernbruggs Frau wurde – und ihm
so das reiche Erbe sicherte. Das hatte sie sich als Ziel ge-
steckt und es auch erreicht, als sie das Standesamt als Grä-
fin Bernbrugg verließ. Alles andere war ihr augenblicklich
ganz egal.
Erschöpft saß sie da, tief in die weißseidenen Polster der
Equipage geschmiegt. Hurtig griffen die Schimmel aus,
gelenkt von dem Kutscher, der heute stolz die Galalivree
trug. Ebenso wie der Diener, der mit verschränkten Armen
neben ihm saß.

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So war es wohl Vorschrift im Hause Bernbrugg, diesem
uralten Geschlecht, dessen Tradition hochgehalten wurde

bis auf den heutigen Tag.
Und zu diesem Geschlecht gehörte sie jetzt. Einige Feder-
striche auf dem Standesamt hatten genügt, um sie zur Grä-
fin Bernbrugg zu machen. Und der stolze Mann an ihrer
Seite war nun ihr Gatte.
So grübelte sie in halber Bewußtlosigkeit, und niemand
störte sie dabei. Sie fühlte nicht die Blicke der drei Herren,
die besorgt auf ihr ruhten. Sie hatte nur das brennende
Verlangen, jetzt schlafen zu dürfen. Ihretwegen über Zeit
und Ewigkeit hinweg.
Als die Galakutsche vor dem Portal des Schlosses hielt,
ließen die beiden Trauzeugen sich mit dem Aussteigen Zeit.

Sie wollten dem jungen Paar damit Gelegenheit geben, in
den ersten Minuten ihrer Ehe allein zu sein.
Aber leider gab es auch Menschen, die nicht so zartfühlend
waren. Denn als das Paar die Halle betrat, eilte ihm Familie
Neubeck freudestrahlend entgegen. Dem Grafen wurde die
Hand geschüttelt, Senöwe wurde geherzt und geküßt. Da-
bei lachte und schwatzte man durcheinander, daß die jun-
ge Frau meinte, ihr müßte der schmerzende Kopf platzen.
»Ach du mein schönes Kind!« Irina zerdrückte ein Trän-
chen, und dann sagte Charlott:
»Hast du ein Kleid an, Senöwe, einfach himmlisch. Mama,
sieh dir das bloß an.«

O ja, die Mama sah es, aber nicht, wie blaß und müde ihr
Kind war. Ehe Senöwe sich noch dagegen wehren konnte,
wurde sie mit Triumph in ein Zimmer gezogen, wo man
ihr einen Gabentisch aufgebaut hatte, an dem wirklich alles
dran war, wie man so sagt. Den Vogel jedoch schoß der
Herr Papa ab, indem er dem »Töchterchen« wohlgefällig
einen Scheck von respektabler Höhe überreichte.
Im ersten Impuls wollte Senöwe ihn zurückweisen, was sie
jedoch unterließ, weil sie keine Auseinandersetzung he-
raufbeschwören wollte. Erstens wäre das für die anderen
peinlich gewesen, und dann war sie viel zu matt, um zu

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streiten.
So nahm sie denn den Scheck, bewunderte auch pflicht-

schuldigst die Gaben auf dem Tisch und war im übrigen
froh, als sie da Platz nehmen konnte, wo ein exquisites
Gabelfrühstück bereitstand. Nachdem sie ein Glas Cham-
pagner getrunken hatte, wurde ihr tatsächlich wohler. Die
bleichen Wangen bekamen Farbe, was den Gatten und die
Seinen aufatmen ließ. Ihnen war die Blässe Senöwes näm-
lich nicht entgangen, wenn sie auch darüber kein Wort
verloren. Wahrscheinlich machte das die Erregung, die ja
wohl bei den meisten Menschen nicht ausbleibt, die einen
wichtigen Schritt tun. Als die Schwiegermutter jedoch be-
merkte, wie Senöwe bei der lebhaften Unterhaltung, die
natürlich von Familie Neubeck bestritten wurde, schmerz-

haft das Gesicht verzog, stand sie auf und trat zu ihr.
»Komm, mein Kind«, sagte sie gütig. »Ruh jetzt ein wenig.
Ich sorge schon dafür, daß es zur Trauung nicht zu spät
wird.«
»Ja, geh nur, mein Herzenskind«, redete nun auch Irina zu.
»Strecke dich nur lang, das wird dir guttun. Soll ich mit-
kommen und dir Gesellschaft leisten? Dann kann ich mir
gleich deine Gemächer ansehen, was man mir bis jetzt ver-
wehrte.«
»Aus dem einfachen Grunde, weil es ja wohl so üblich ist,
daß die junge Frau ihre Räume zuerst betritt«, warf die Se-
niorin gelassen ein.

»Na ja, gewiß, aber ich bin doch schließlich die Mutter.«
Mehr hörte Senöwe nicht, weil Hortense sie rasch mit sich
zog und Rasmus die Tür nachdrücklich von außen schloß.
Er tauschte mit seiner Mutter einen besorgten Blick, als
Senöwe so langsam die Treppe emporstieg, als hätte sie Blei
an den Füßen.
Doch sie sagten immer noch nichts, weil sie es für die
Reaktion auf das hielten, was dieses sensible Menschen-
kind in wenigen Wochen hinter sich gebracht hatte. Wenn
sie nur geahnt hätten, daß Senöwe krank war, wäre die
zweite Trauung unter allen Umständen aufgeschoben wor-

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den.
Aber gerade das wollte die junge Frau nicht, darum nahm

sie sich so tapfer zusammen. Wenn alles vorüber war, dann
konnte sie sich gehenlassen. Doch jetzt wollte und mußte
sie noch durchhalten, um jeden Preis.
Und dann betrat die junge Schloßherrin ihr kleines Reich,
das man ihr liebevoll hergerichtet, ohne daß sie etwas da-
von geahnt hatte. Sprach los vor Überraschung stand sie
erst einmal da, doch dann brach die Freude durch, die so
groß war. daß Senöwe darüber sogar ihre erbärmliche Ver-
fassung vergaß. Wie ein beschenktes Kind ging sie durch
die Räume, die aus Wohn- und Schlafzimmer, Ankleide-
raum und Bad bestanden. Man sah es diesem trauten Nest-
chen direkt an, daß an seiner Einrichtung nicht gespart

worden war, es mußte selbst den verwöhntesten Ansprü-
chen genügen.
»So wunderschön soll ich es haben«, sagte Senöwe andäch-
tig. »Ich danke euch von ganzem Herzen. Und nun werde
ich diesen Diwan mal gleich ausprobieren.«
Sprach's und streckte sich auf das weiße, weiche Fell.
Es war aber auch höchste Zeit; denn länger hätte sie sich
wohl kaum auf den Beinen halten können.
»Das tut gut, nicht wahr?« lächelte der Gatte, dabei eine
flauschige Decke über sie breitend. »Wirst du schlafen kön-
nen?«
»Und wie! Heiraten ist doch sehr anstrengend.«

»Das ist's«, lachte Hortense. »Schlaf nur ruhig, ich wecke
dich schon zur Zeit.«
Als sie sich mit dem Sohn entfernen wollte, hielt Senöwe
sie am Ärmel zurück.
»Mutti«, sprach sie das liebe Wort zum erstenmal aus, was
die Frau unsagbar beglückte. »Nicht wahr, du sorgst dafür,
daß Mama und die beiden Mädchen beim Ankleiden zur
Trauung nicht zugegen sind?«
»Wenn du es nicht magst, dann soll es auch nicht gesche-
hen, mein Liebling. Aber die Großmama wirst du dabei
schon dulden müssen, sonst würde sie sich kränken.«

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»Dulden? Aber Mutti! Ich hab die Großmama doch lieb.
Auch Anita will ich dabei haben.«

Das klang schon schlaftrunken, leise schlichen Mutter und
Sohn hinaus.
Über welche Energie Senöwe verfügte, das sollten die näch-
sten Stunden lehren. Auch wenn sie das Gefühl hatte, als
ob sie auf Gummi trat, so schritt sie dennoch neben dem
Gemahl zum Traualtar der Kapelle, die von Zuschauern
vollgepfropft war. Alles Menschen, die durch ein Dienst-
verhältnis zu Möwen gehörten, angefangen vom Oberför-
ster bis zum jüngsten Instmann. Denn zu den Gästen zähl-
ten nur die Familien Neubeck, Körtlitz und Hövemann.
Übrigens eine Enttäuschung für Frau Irina, die eine so
simple Hochzeit einfach nicht verstehen konnte. Und da-

bei hatten sie sich doch alle so »schick« gemacht, wie es nur
irgend anging. Reizend schaute die kleine Susi aus, wie sie
da vor dem Brautpaar wippte und Blumen streute, während
der Filius der Familie, als Page verkleidet, die Schleppe
trug.
Und dann Senöwe. Wie schön und apart ihr Kind wirkte in
dem duftigen Hochzeitsstaat mit dem traditionellen
Schleier und wie distinguiert der Mann an ihrer Seite. Re-
porter hätten da sein müssen, um das stolze Bild mit der
Kamera festzuhalten.
Diese ärgerlichen Gedanken hegte die Mutter, während ihr
Kind sich am Altar kaum noch aufrechthalten konnte. Im-

mer wieder riß das tapfere Menschenkind sich zusammen,
bis es an der exquisiten Hochzeitstafel wirklich nicht mehr
länger ging. Der Hals brannte wie Feuer, rote Ringe tanzten
vor den Augen, der Kopf tat erbärmlich weh. Hauptsäch-
lich, wenn die sehr lebhafte Familie Neubeck die Stimme
erhob, hatte Senöwe das Gefühl, als bohrten Messer in ih-
rem Kopf herum. Und als die kleine Susi einmal hell und
schrill auflachte, da griff sich die junge Gräfin stöhnend an
den Kopf – und brach dann bewußtlos zusammen. Sie wä-
re wohl vom Stuhl gesunken, wenn der Gatte, der kein Au-
ge von ihr ließ, sie nicht rechtzeitig aufgefangen hätte.

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Nun trug er sie davon, die weiße Gestalt im Hochzeitsge-
wand, nicht achtend, daß der kostbare Schleier den Boden

schleifte.
Es war ein so ergreifendes Bild, daß selbst dem gewiß nicht
sentimentalen Julius Körtlitz die Tränen in die Augen tra-
ten.
Eine direkt an Herz und Nerven zerrende Stille herrschte, in
die dann Irina hineinjammerte:
»Mein Kind – großer Gott – was hat man ihm getan?«
»Seien Sie doch still!« fuhr Körtlitz senior sie grob an. »Wer
sollte der jungen Gräfin wohl etwas tun, die man hier liebt
wie eine Kostbarkeit. Leider scheint es nicht die Erregung
allein zu sein, die sie zusammensinken ließ, wahrschein-
lich ist sie krank.«

»Dann muß ein Arzt her! Man kann mein Kind doch nicht
sterben lassen!«
»Hysterische Person«, brummte Körtlitz vor sich hin, wäh-
rend er zu der Gruppe trat, wo man flüsternd miteinander
sprach. Eben sagte Anita, der die hellen Tränen über die
Wangen liefen:
»Senöwe gefiel mir schon seit einigen Tagen nicht mehr. Sie
kam mir so blaß vor, so müde und matt, wo sie doch sonst
das sprühende Leben selber ist. Doch auf meine besorgten
Fragen lachte sie mich aus. Sie wollte wohl die in ihr stek-
kende Krankheit nicht zugeben, weil sie fürchtete, daß
dann die Hochzeit verschoben werden würde.«

»Was auch geschehen wäre«, entgegnete Graf Magnus mit
belegter Stimme. Seine Hand zitterte, mit der er eine Zigar-
re in Brand steckte.
»Nun, nun«, beschwichtigte Julius Körtlitz. »Wird schon so
schlimm nicht sein. Mit einer ernstlichen Krankheit gibt
sich unser forsches Marjellchen erst gar nicht ab. Ein Glück,
daß die Mondäne jetzt den Mund hält, und uns somit nicht
weiter auf die Nerven fällt. Wahrscheinlich will sie auspro-
bieren, was ihr besser zu Gesicht steht, haltloser Jammer
oder eine klagende Miene. Wo diese Frau die patente Toch-
ter herhat, das mag der liebe Himmel wissen.

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Ah, da naht sie bereits am Arm des Gemahls, anzuschauen
wie das Leiden Christi.«

»Wie geht es meinem Kinde?« fragte die Frau Mama pathe-
tisch. »Ist der Arzt schon da? Er muß mir etwas geben, denn
ich bin dem Nervenzusammenbruch nahe. Wenn ich nur
schlafen könnte!«
»Möglichst tausend Jahr«, knurrte Julius wie ein böser Ket-
tenhund, was von dem Ehepaar zum Glück nicht verstan-
den wurde. Doch die anderen hatten Mühe, ein Lachen zu
unterdrücken, so wenig ihnen danach auch zumute war.
In dem Augenblick trat der Arzt ein, ein gemütlicher älterer
Herr, der aber auch kurzangebunden sein konnte, wo es
erforderlich war. Er zählte zu den wenigen Menschen, die
nach der Affäre unerschütterlich zu den Bernbruggs gehal-

ten hatten.
»Na, was ist denn hier los?« polterte er, seine Brille zu-
rechtschiebend. »Wenn ich den Grafen Rasmus am Telefon
richtig verstand, ist seine ihm eben angetraute Gemahlin
krank geworden. Ja, wo gibt's denn so was!«
»Natürlich nur bei uns«, lachte der Hausherr bitter auf.
»Wie sollte da wohl etwas glatt verlaufen. Da hat man
schon Sorge um Gabriele, an der gestern die unbedingt
notwendige Operation vorgenommen werden mußte, und
nun wird uns die Senöwe noch krank. Es ist tatsächlich, als
ob sich alles gegen uns verschwören hätte!«
»Man immer sachte mit den jungen Pferdchen«, beschwich-

tigte der Arzt. »Um die kleine Gabriele braucht Ihnen nicht
bange zu sein. Wenn der anerkannt tüchtige Professor sich
zu der Operation entschloß, steht er auch hundertprozentig
dafür ein. Und die junge Gräfin werde ich mir zuerst ein-
mal ansehen. Wie gelange ich zu ihr?«
»Ich werde Sie führen, Herr Doktor.«
»Einen Augenblick noch«, hielt Irina wehleidig den Arzt
zurück.
»Ja – bitte?« fragte der gute Mediziner und Menschenken-
ner, die Mondäne mit dem Blick förmlich durchbohrend.
»Was gibt's denn, gnädige Frau?«

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»Herr Doktor, die junge Gräfin ist mein Kind!«
»Aha!«

»Herr Doktor, meine Frau ist einem Nervenzusammen-
bruch nahe«, warf sich der Gatte gewissermaßen in Positur,
was dem braven Landarzt aber auch kein bißchen impo-
nierte denn gerade solche Typen hatte er gern. Daher ent-
gegnete er seelenruhig:
»Zuerst kommt einmal die junge Gräfin dran – das andere
hat bestimmt noch Zeit.«
Sprach's und folgte dem Hausherrn, der ihm das Geleit
gab, was den Industriellen entrüstete.
»Ist das ein ungehobelter Mensch! Dem können wir doch
unmöglich unser Töchterchen anvertrauen.«
»Ja, ein Salondoktor ist er zwar nicht, aber er versteht was«,

lächelte Körtlitz senior so richtig niederträchtig, und da
wandte sich das Ehepaar Neubeck verächtlich von dem
»Banausen« ab.
Dann warteten er und seinesgleichen bangenden Herzens
auf den Arzt, der stundenlang weg blieb, wie es ihnen
schien. In Wirklichkeit waren es jedoch kaum zwanzig Mi-
nuten, bis der Arzt zu ihnen trat.
»Da hat sich unsere jüngste Gräfin eine ganz gediegene
Angina zugelegt«, berichtete er wohl ernst, aber nicht so,
daß man Schlimmstes befürchten mußte. »Daß sie damit
die Hochzeit überstehen konnte, zeugt von bewundern-
swerter Forsche.«

»Ist das Fieber sehr hoch?« fragte Anita angstvoll, und da
umzuckte ein Schmunzeln den Mund des Arztes.
»Immerhin so hoch, daß sie mich, aufgeschreckt aus dem
Fieberschlaf, freundlich fragte, ob ich mit ihr auf die Hoch-
zeitsreise gehen wollte. Als ich das verschämt verneinte,
kam sie zu sich und lachte mich an. Sie sehen, meine Herr-
schaften, die Krankheit ist zwar nicht leicht, aber zu
schlimmsten Befürchtungen gibt sie wiederum auch nicht
Anlaß.«
»Doktorchen, da fällt mir direkt ein Mühlstein vom Her-
zen«, lachte der Hausherr wie befreit auf. »Denn daß wir

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Ihnen vertrauen dürfen, wissen alle, die Sie so segensreich
verarzten. Wie wäre es, wenn wir uns den Genüssen der

Hochzeitstafel zuwenden würden, von der uns der Schreck
verjagte?«
»Mit dem größten Vergnügen, Herr Graf. Doch zuerst
möchte ich die gnädige Frau mal in den schönen Arm pie-
ken«, zwinkerte er Irina vergnügt zu, die ihn darob entsetzt
ansah. Doch schon kam ihr der Herr Gemahl zu Hilfe.
»Danke, Herr Doktor, Spritzen verträgt meine sensible Frau
nicht. Wenn Sie ihr nicht anders helfen können, tut es mir
leid.«
»Mir auch«, kam die Antwort pomadig. »Da weiß sicher der
Arzt der Gnädigen besseren Rat.«
»Worauf Sie sich verlassen können. Komm, mein Lieb, be-

vor du mir noch ganz zusammenbrichst. Unsere armen
Kinder müssen auch zur Ruhe kommen. Sieh mal, wie ver-
stört sie sind.«
»Das sehe ich auch«, meinte der Arzt beflissen, weil er ge-
nau wußte, welch einen Gefallen er den anderen damit tat,
wenn diese Familie entschwand. »Ich kenne ja Ihre Psyche
nicht so genau wie Ihr Hausarzt.«
»So kommt denn, meine Lieben«, winkte Irina ihnen matt
zu. »Ach, daß dieser Tag so enden muß.«
Am Arm des Gemahls wankte sie davon, gefolgt von den
lieben Kinderchen, die so recht verdrießlich dreinschauten.
Es gefiel ihnen gar nicht, daß sie die Stätte verlassen muß-

ten, wo es doch so interessant war. Höflichkeitshalber gab
der Hausherr ihnen das Geleit, und als er wiederkam,
meinte er trocken:
»Die Frau hätte Schauspielerin werden müssen, das Zeug
dazu besitzt sie wahrlich.
Nun wollen wir mal zuerst einen Kognak trinken. Donner
noch eins, der Schreck ist mir nicht zu knapp in die Glieder
gefahren. Und so richtig wird er erst daraus entschwinden,
wenn unser Sturmvöglein wieder munter zwitschert.«
Doch bis dahin sollte eine Woche vergehen. Da zwitscherte
das Vöglein wieder, wenn zuerst auch leise und matt. Aber

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es klang denjenigen, die sich um das herzliebe Menschen-
kind geängstigt hatten, wie schönste Musik.

Der junge Gatte war in diesen sorgenvollen Tagen und
Nächten ordentlich schmal geworden, kein Wunder, da er
kaum etwas aß und wenig schlief.
Und dabei brauchte die Kranke wenig Aufsicht, weil sie
unausgesetzt schlief. Zum Gurgeln, zum Einnehmen der
Medizin und zum nötigsten Essen mußte sie immer ge-
weckt werden. Geduldig ließ sie dann alles über sich erge-
hen und streckte sich, nachdem die Prozedur vorüber war,
wieder wohlig in die Kissen.
Bis sie dann an einem Frühmorgen mit klarem Kopf und
klarem Sinn erwachte. Rasmus, der im Lehnstuhl neben
dem Bett saß, hielt vor Spannung den Atem an, als die

blauen Augen unstet umherschweiften und dann an ihm
haften blieben.
»Rasmus – du? Was willst du denn hier?«
Da lachte der Mann, so recht von Herzen froh.
»Tu nur noch so unschuldig, du Bösewicht. Du hast uns
mit deiner Krankheit keinen kleinen Schrecken eingejagt.
Wie geht es dir jetzt?«
»Bis auf einen Mordshunger gut. Wo sind denn die ande-
ren?«
»Aha, die verwöhnte Prinzeß vermißt ihren Hofstaat. Ein
Wunder, daß du den überhaupt wahrnahmst.«
»Na du, so futsch und weg war ich denn doch nicht.«

»So, so. Dann war es nur Berechnung, als du den guten
Onkel Doktor fragtest, ob er mit dir auf die Hochzeitsreise
gehen wollte.«
»So dunkel erinnere ich mich«, lachte sie, wenn auch noch
matt. »Auch daran, daß er sich dagegen sträubte.«
»Weil er wohl fürchtete, daß ich ihm bei einer Zusage den
Hals umdrehen würde. Und nun halt mal dein Schnäbel-
chen, damit du dich nicht überanstrengst. Dein Stimmchen
klingt zwar klar, doch immer noch matt.«
»Weil die Stimmbänder nicht geölt sind. Ich habe nämlich
gräßlichen Hunger. Wie ausgenommen komme ich mir

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vor. Kriege ich etwas zu essen?«
»Soll geschehen, nur noch ein wenig Geduld.«

Er eilte hinaus, und als er wiederkam, trug er ein Tablett,
auf dem ein Glas warme Milch und ein Teller mit Weißbrot
stand.
»So, mein Kind, jetzt kannst du tafeln, etwas anderes gibt es
noch nicht. Warum so erschrockene Augen?«
»Weil du dich selbst bemühen mußt. Wenn ich nur
geahnt…«
»Hätte ich lieber gehungert«, warf er trocken ein. »Und nun
komm mal her, damit ich dich aufsetzen kann.«
»Wo ist Mutti?« fragte sie hastig, und er lachte.
»Sie schläft. Denn wir haben ja schließlich erst drei Uhr
morgens.«

»Und dann bist du hier?«
»Na was denn sonst? Du warst immerhin krank genug.«
»Ich hatte Angina?«
»Und zwar eine ganz gediegene, wie der Arzt sich ausdrück-
te. Und an einer Lungenentzündung kamst du knapp vor-
bei. Du hast uns Sorge genug gemacht.«
»Das tut mir aber leid. Schon allein deshalb, weil ich euch
durch mein erbärmliches Schlappmachen die Feier ver-
darb.«
»Na eben, entschuldige dich auch noch.«
Damit umfaßte er sie, setzte sie auf und steckte ihr Kissen
in den Rücken, in die sie sich kuschelte.

»Ich fühle mich doch noch sehr matt.«
»Nur gut, daß du das einsiehst. Sperr mal dein Mäulchen
auf, damit ich dich füttern kann.«
Sie schluckte denn auch gehorsam, was er ihr reichte. Trank
hauptsächlich die warme Milch mit Behagen und schlief
ihm dann unter den Händen ein. Vorsichtig zog er die Kis-
sen fort, brachte so den Körper in die gewohnte Lage und
strich mit zarter Hand das Lockengewirr aus dem Ge-
sichtchen, das, im Schlaf gelöst, all die Reinheit und Süße
widerspiegelte, die den Mann schon längst beglückte. Des-
halb mußte er sie ja auch haben, die entzückende Stranddi-

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stel, die so empfindlich spicken konnte, wenn man sie an-
zurühren wagte. So sollte sie auch bleiben – aber hoffent-

lich nicht mehr lange für ihn.
Von dieser Hoffnung beseelt, setzte er sich in den Lehn-
stuhl, wo er fast augenblicklich einschlief. Kein Wunder, da
er sieben Nächte kaum geschlafen hatte.
So bot sich Gräfin Hortense, als sie um sechs Uhr das
Zimmer betrat, ein gar friedliches Bild. Und als sie das Tab-
lett mit dem geleerten Geschirr erspähte, da wußte sie Be-
scheid. Gerührt schaute sie auf die holde Schläferin, deren
Wangen jetzt nicht mehr fieberheiß, sondern schlafgerötet
waren. Ein Gebet stieg voller Dank zu dem Höchsten em-
por, der ihnen dieses herzliebe Kind gelassen hatte.
Und als Senöwe nach einem erquickenden Schlaf erwachte,

fand sie im Lehnstuhl statt des Gatten die Schwiegermutter
vor. Mittlerweile war es zehn Uhr geworden, und die Sonne
strahlte in das luxuriöse Gemach.
»Mutti, du bist hier?« fragte sie erstaunt. »Eben war doch
noch Rasmus da.«
»Eben ist gut«, lachte die Mutter amüsiert. »Ich sitze bereits
seit vier Stunden hier. Wie geht es dir denn, mein Lieb-
ling?«
»Gut, Mutti. Am liebsten möchte ich aufstehen.«
»Sieht dir ähnlich, du kleine Draufgängerin. Doch bis es
soweit ist, wirst du dich wohl noch gedulden müssen.
Hunger?«

»Ja.«
Diesmal war die Mahlzeit schon reichlicher, die Senöwe
mit Behagen verspeiste. Sie schlief jedoch danach nicht
wieder ein, sondern fühlte sich zu einem Schwatz aufgelegt.
»Wo ist Rasmus jetzt?« erkundigte sie sich wie nebenbei,
was der Mutter ein verstecktes Lächeln entlockte.
»Er schläft nach unserem bewährten Schlaftrunk, den ich
ihm mit Gewalt einflößen mußte. Er hatte den Schlaf aber
auch wirklich nötig, der arme Junge. Ganz herunterge-
kommen ist er vor Sorge um dich.«
»Aber Mutti, warum habt ihr euch denn bloß so um mich

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gesorgt, das war doch nun wirklich übertrieben. Angina ist
doch schließlich eine Krankheit, die Tausende von Men-

schen befällt.«
»Aber nicht immer in solchem Ausmaß, mein Liebling. Du
hattest sehr hohes Fieber, und der Arzt befürchtete, daß gar
eine Lungenentzündung hinzukommen könnte.«
»Das sagte mir Rasmus schon«, bekannte Senöwe kläglich.
»Solch ein schmähliches Versagen ausgerechnet bei der
Hochzeitsfeier. Wie nahm Mama es auf?«
»Das weiß ich nicht«, wich Hortense aus. »Nachdem du
zusammenbrachst und Rasmus dich davontrug, folgten
Großmama und ich ihm. Doch wie ich aus Erzählungen
weiß, hat sie sich so aufgeregt, daß ihr der Hausarzt eine
Kur zur Stärkung der Nerven verschrieb. Schon am näch-

sten Tag fuhr sie mit der gesamten Familie ab.«
»Na, dann kann es nicht so arg gewesen sein«, warf Senöwe
trocken ein. »Hoffentlich hat sie nicht vergessen, zehn
Schrankkoffer mitzunehmen.«
»Herzchen, du wirst ja spitz«, lachte die Schwiegermutter.
»Sie hat jeden Tag angerufen und sich nach deinem Erge-
hen erkundigt.«
»Sehr bequem. Doch jetzt was anderes: Wie geht es Gaby?«
»Sie wurde einen Tag vor deiner Hochzeit operiert. Wir
haben dir das absichtlich verschwiegen, weil wir dich nicht
erregen wollten.«
»Und wie ist die Operation verlaufen?«

»Nach Aussage des Professors gut. Die Kleine wird das Be-
inchen mit der Zeit wieder gebrauchen können, ganz glück-
lich soll sie darüber sein. – Ja, Junge, du bist schon wieder
auf?« rief sie überrascht dem Sohn entgegen, der soeben
durch die Tür trat. »Nach dem Schlaftrunk eigentlich ganz
unmöglich.«
»Aber doch wahr, Muttichen. Ich habe dir ja prophezeit,
daß das Gebräu etwas für die Weiblichkeit ist, aber nichts
für Männer. Trotzdem habe ich fest geschlafen und bin
munter wie eh und jeh. Und wie geht es der Frau Gemah-
lin?«

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»Gut, mein Herr Gemahl«, gab sie schlagfertig zurück.
»Wenn ich ein saftiges Schnitzel haben könnte, würde ich

sogar sagen: Sehr gut.«
»Nicht kleinzukriegen«, lachte die Mutter amüsiert. »Wenn
der Arzt das Schnitzel erlaubt, sollst du es haben.«
Und er erlaubte es. Warum auch nicht? Die Patientin war
fieberfrei und die Angina vollkommen abgeklungen. Im
Bett mußte sie allerdings noch einige Tage bleiben, da half
kein Schmeicheln und Betteln.
Doch die Tage, die Senöwe noch im Bett verbringen mußte,
sollten ihr nicht langweilig werden, weil immer einer da
war, der ihr die Zeit vertrieb. Darunter befand sich auch
Anita, die sich täglich bei der jungen Gräfin blicken ließ.
Da sie sich jetzt einen Wagen zugelegt hatten, konnte man

leicht mal nach Möwen huschen, wie sie sich ausdrückte.
So saß sie denn auch heute an dem luxuriösen Bett, in dem
Senöwe sich wie ein holdes Prinzeßlein ausnahm. Anita
betrachtete sie mit heimlichem Entzücken, was sie jedoch
nicht davon abhielt, das bezaubernde Menschenkind wie-
der einmal auf seinen »Seelenzustand« zu prüfen.
»Du weißt ja gar nicht, wie froh ich bin, daß Rasmus sich
schon wieder erholt hat«, begann sie vorsichtig. »Er sah
nämlich erbärmlich aus, der arme Kerl, so sehr setzte die
Angst um dich ihm zu. Es stimmt schon, wie es allgemein
heißt, nämlich: Wenn Männer seiner Art lieben, dann hat
die Liebe sie aber auch mit Haut und Haaren. Die vergöt-

tern ihre Frauen förmlich, gehören ihnen wirklich mit Herz
und mit Sinn, wie es in dem Lied aus >Zar und Zimmer-
mann< heißt.«
»Du schwärmst ja ordentlich, Anitachen«, warf Senöwe
neckend ein. »Aber dazu sind die Poeten ja da, daß sie den
Menschen blauen Dunst vormachen.«
Zuerst war Anita über die Antwort verblüfft, doch dann
stemmte sie nach beliebter Art die Hände in die Hüften
und legte los:
»Also, ich muß schon sagen, daß du ein ganz kaltschnäuzi-
ges Ding bist! Du hast einen Mann wie Rasmus bestimmt

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nicht verdient.«
»Ganz recht«, kam es von der Tür her, durch die der Er-

wähnte soeben schritt. »Es ist genau das, was ich in meiner
Selbstherrlichkeit empfinde. Aber meinst du nicht auch,
Freundin Anita, daß so tiefgründige Gespräche für die an-
gegriffenen Nerven einer Rekonvaleszentin nicht das richti-
ge sind?«
»Du hast gehorcht?«
»Ich war so frei.«
»Na weißt du, Rasmus…«
»Halt ein«, unterbrach er sie lachend. »So begann nämlich
immer die Standpauke, die du mir früher nach einer
Dummheit zu halten pflegtest. Aber jetzt mache ich schon
längst keine mehr.«

»Das kann man bei euch Männern nie wissen.«
»Also doch nicht so ganz Halbgötter, wie du sie hinzustel-
len beliebst«, lachte Senöwe hellauf, wobei Anita wohl
oder übel mittat.
»Und die soll angegriffene Nerven haben? Ich finde, die
sind sehr gut intakt. Doch was verschafft uns die Ehre dei-
nes Besuches, gebietender Herr?«
»Um zu gebieten, daß der übermütige Faulpelz sich da aus
seinem weichen Pfühl erhebt. Und zwar auf Anordnung
des guten Onkel Doktor.«
»Ich darf wirklich aufstehen?«
»Ja, du darfst. Ich wünsche dir dazu viel Vergnügen.«

Was er damit meinte, das sollte Senöwe erfahren, als sie,
nachdem er gegangen war, mit Vehemenz aus dem Bett
fuhr. Doch kaum, daß sie stand, schielte sie sehnsüchtig
nach dem molligen Plätzchen.
»Ja, ja«, spottete Anita gutmütig. »Der Geist ist willig, aber
das Fleisch ist schwach.«
»Ich hätte nie gedacht, daß die Krankheit mich so mitneh-
men könnte, sie war doch nur kurz.«
»Aber heftig, mein Herzchen. Vor allen Dingen das hohe
Fieber, das saugt die Kraft aus dem Körper. Willst du nicht
doch lieber wieder ins Bett zurück?«

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»Auf keinen Fall, es soll und muß gehen.«
»Na ja, daß du über Energie verfügst, das hast du am Hoch-

zeitstag bewiesen. Wie du da, so krank wie du warst,
durchhalten konntest, wird uns allen ewig ein Rätsel blei-
ben.«
»Ach, miserabel genug war mir schon zumute, aber hätte
ich das gezeigt, wäre die Hochzeit bestimmt verschoben
worden. Denk dir mal die Aufregung! Nein, es war schon
besser so. Die hatten die Bernbruggs schon ohnehin, da ja
Gabriele, wie ich später erfuhr, am Tag vorher operiert
worden war. Es tut mir nur leid, daß ich nicht auch noch
die Hochzeitsfeier durchhalten konnte, sondern so be-
schämend schlappmachte.«
»Beschämend ist gut. Und nun setz dich bloß schnell hin,

bevor du mir noch umkippst. Komm, die gute Anita wird
dich anziehen wie ein Baby.«
Sie war gerade damit fertig, als Rasmus eintrat. Prüfend sah
er die Gattin an. Doch als er Miene machte, sie auf die Ar-
me zu heben, wehrte sie sich dagegen.
»Na das wäre! Laß mich nur gehen, ich schaffe es schon.«
Und sie schaffte es. Bei Anita und Rasmus eingehakt, langte
sie auf der Terrasse an, wo ihrer eine Überraschung harrte.
Denn wer ihr da freudestrahlend entgegenlachte, war die
kleine Gabriele. »Gaby«, sagte Senöwe überwältigt. »Du bist
schon hier?«
»Ja«, entgegnete die Kleine wichtig. »Ich kann sogar schon

etwas das Bein aufsetzen.«
»Und unser Sturmvöglein sogar schon beide«, räusperte
sich der Hausherr. »Aber setz dich ja hin, siehst doch noch
recht blaßschnäbelig aus. Gib ihr ein Glas Wein, Rasmus.«
Das leerte Senöwe dann mit Behagen, hielt auch eine Stun-
de tapfer durch, war dann jedoch froh, als sie sich wieder
ins Bett strecken konnte, wo sie augenblicklich einschlief,
zum völligen Genesungsschlaf.
Es war eine Woche später. Draußen regnete es, wie es im
Sommer ja auch sein muß. Zwar kam dieser Regen den
Landwirten ungelegen, weil man mitten in der Roggenernte

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war, aber wenn er nicht zu lange anhielt, würde er keinen
Schaden bringen.

Senöwe, die nun schon wieder fest auf den Beinen stand,
ging langsam durch ihr kleines Reich, um es so recht
gründlich in Augenschein zu nehmen. Wozu sie bisher
noch keine Gelegenheit gehabt, weil man sie in den ver-
gangenen drei Wochen nicht eine Stunde sich selbst über-
lassen hatte, so überängstlich war sie behütet worden.
Wenn Senöwe an all die Liebe und Güte dachte, in die man
sie förmlich einhüllte, wurden ihr die Augen feucht.
Wie still es um sie her war – eigentlich ein bißchen beäng-
stigend. Denn die beiden Gräfinnen waren mit Rasmus zur
Stadt gefahren, Gabriele hielt ihr Mittagsschläfchen, Fräu-
lein Magda wollte den Regentag ausnutzen, um längst fälli-

ge Briefe zu beantworten, und Graf Magnus befand sich im
Stall, wo ein Fohlen erwartet wurde.
Also war Senöwe sich selbst überlassen und konnte in Mu-
ße all das in Augenschein nehmen, was man hier mit Liebe,
Geschmack und sicherlich viel Geld für sie geschaffen hat-
te.
Liebe -? sann sie nach. Bei den anderen schon – aber bei
dem Gatten? Nein, daran glaubte die skeptische junge Frau
nicht. Gewiß, erging zart mit ihr um, aber wie hatte Anita
einmal gesagt: Rasmus wird seiner Frau, mag er sie aus Lie-
be erwählen oder nicht, immer ein guter, rücksichtsvoller
Gatte sein.

Plötzlich hatte Senöwe gar keine Freude mehr an ihrem
luxuriösen Reich. Unwillkürlich fiel ihr die Redensart mit
dem goldenen Käfig ein, die sie jedoch, ärgerlich über sich
selbst, als geschmacklose Phrase abtat.
Dann blieb ihr Blick an der breiten Glastür hängen, die ihr
und des Gatten Schlafzimmer trennte. Sie hatte den darun-
terliegenden Raum natürlich noch nie betreten, aber hi-
neinschauen konnte sie schon mal.
Vorsichtig, als wäre es ein Unrecht, drückte sie die Klinke
nieder und lugte durch den Türspalt. Vor ihr lag ein Ge-
mach, zwar sehr gut, aber gewiß nicht pompös möbliert.

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Auf dem Nachttisch neben dem breiten Bett stand ein Bild.
Das interessierte Senöwe brennend. Auf Fußspitzen schlich

sie über den dicken Teppich – und dann schlug ihr heiße
Röte ins Gesicht.
Das zarte Aquarell zeigte nämlich – sie – und zwar im Ba-
deanzug. Zwanglos stand sie da in dem knappen Trikot, die
Badekappe lässig in der Hand, das Gesicht erhoben und die
Augen sehnsüchtig ins Weite gerichtet. Es war natürlich
nicht schwer zu erraten, wer dieses kleine Kunstwerk ge-
schaffen hatte, das jeden Beschauer entzücken mußte in
seiner natürlichen Schönheit und seinem Charme.
Wie kam Onkel Konrad eigentlich dazu, ihr hinterlistig
aufzulauern und sie so zu malen – und es dann Rasmus zu
geben. Und wie kam dieser wiederum dazu, dieses immer-

hin intime Bild so offen auf seinen Nachttisch zu stellen.
Sicherlich rechnete er damit, daß sie es nicht zu sehen be-
kam, weil es in seinem Schlafzimmer stand, das sie nicht
betrat. Aber das Zimmer mußte ja auch gesäubert werden.
Allerdings hatte zu dem nur der alte treue Diener Kilian
Zutritt – und der war diskret und verschwiegen.
Dennoch -!
Hastig wandte sie sich ab und verließ den Raum.
»Siehst du, neugierige Elster, das kommt davon, wenn man
so naseweis ist«, schalt sie sich selber aus. »Jetzt hast du's!
Wärest du da nicht hineingeschlichen, wo du nichts zu
suchen hast, brauchtest du dich nicht zu schämen.«

Denn das tat sie, obwohl sie gewiß nicht ausgesprochen
prüde war. Wenn sie nur wüßte, wann Rasmus in den Be-
sitz des Bildes gelangt war, womöglich gar schon als Ver-
lobter. Aber nein, eine solche Indiskretion traute sie Onkel
Konrad denn doch nicht zu.
Und sie tat recht damit. Denn das entzückende Bildchen
hatte der Maler dem Grafen als Geschenk überreicht, nach-
dem er von dem Standesamt zurückgekehrt war.
»Da hast du sie, wie sie leibt und lebt. Als Bräutigam konn-
te ich dir dieses holdselige Konterfei nicht gut überreichen,
doch als Ehemann steht es dir zu. Halt es aber geheim,

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sonst spickt mir die Distel, soweit ich sie kenne, die Augen
aus.«

»Und mit Recht«, hatte Rasmus lachend erwidert. »Hab
Dank, Konny, du hast mir mit dem wunderholden Ge-
schenk eine große Freude gemacht. Ich werde es vor neu-
gierigen Augen zu hüten wissen.«
So war es gewesen, aber das konnte Senöwe ja nicht ahnen.
Um ihr heißes Gesicht zu kühlen, trat sie auf den Altan und
schaute hinunter in den Park, der nach dem warmen Regen
wie blankgeputzt wirkte in dem leuchtenden Grün der Ra-
sen und den buntprangenden Blumenbeeten. Von den
blühenden Akazien wehte der süße Duft bis zu Senöwe
hin, auch von den vielen Rosen, die an allen Ecken und
Enden wucherten. Schillernd sprühte die Fontäne empor,

die der auf dem Rasenrund nach der Hofseite des Schlosses
glich. Nur daß hier die Marmormöwen nicht flogen, son-
dern auf dem Bassin saßen. Eine Meisterhand mußte sie
geschaffen haben, denn sie wirkten so natürlich, daß Se-
nöwe meinte, sie müßten jeden Augenblick ihren schrillen
Schrei ausstoßen.
Erschrocken fuhr sie zusammen, als zwei Hände sich zart
auf ihre Augen legten. Sie schnellte herum und schaute in
das lachende Gesicht dessen, an den sie eben so inbrünstig
gedacht. Das verwirrte sie so sehr, daß sie rückwärts trat
und sich an die Brüstung des Altans lehnte. Es sollte gewiß
keine abweisende Geste sein – allein der Mann faßte sie so

auf.
»Entschuldige«, lächelte er spöttisch. »Ich muß mich näm-
lich erst daran gewöhnen, statt einer Stranddistel eine Mi-
mose geheiratet zu haben. Ist es hier draußen für dich nicht
zu feucht?«
»Keineswegs«, entgegnete sie hastig. »Die Luft ist ja so
warm.«
»Wenn auch, du mußt immer noch vorsichtig sein.«
Schweigend trat sie an ihm vorbei in ihr Wohnzimmer, wo
sie sich in einen Sessel sinken ließ und in das Zigaretten-
kästchen auf dem Tisch greifen wollte. Doch schon wurde

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es ihr verwehrt.
»Laß das lieber bleiben, Senöwe, schone deinen Hals noch.

So ganz gefällst du mir sowieso nicht, bist immer noch
blaß…«
»Wie soll ich wohl anders als blaß aussehen, wenn ihr
mich wie eine Gefangene haltet«, fuhr sie gereizt dazwi-
schen. »Laßt mich doch endlich hinaus in die Sonne…«
»Hauptsächlich dann, wenn es regnet«, warf er trocken ein,
und da mußte sie lachen.
»Hast recht, ich bin ein Schaf – und undankbar obendrein.
Aber laß nur, ich werde mich ändern.«
»Nur ja nicht, bleib lieber so, wie du bist.«
»So, eben bemerktest du doch, daß ich dir nicht gefalle.«
»Darüber wollen wir uns später unterhalten, jetzt ist es da-

für noch zu früh. Zuerst einmal möchte ich dir eine kleine
Dividende überreichen.«
Er zog ein Etui aus der Tasche, ließ es aufspringen – und da
lag auf weichem Samt eine Armbanduhr und eine Platin-
kette, an der ein wundervoller Smaragd hing, und Sma-
ragdsplitter zeigte auch die schwergoldene Uhr.
»Rasmus, das ist ja überwältigend schön«, sagte Senöwe
entzückt. »Aber warum Dividende?«
»Nun, ein winzig kleiner Anteil an der Erbschaft, die ich
mit deiner Hilfe heute antreten durfte. Du verstehst doch,
was ich damit meine?«
»Das schon«, entgegnete sie, unter seinem sonderbaren

Blick verwirrt die Augen senkend. »Aber du hättest ja auch
ohne meine – na ja – das Geld bekommen, weil dein Vetter
ja tot ist, ob du da verheiratet bist oder nicht.«
»Da bin ich mir noch nicht ganz sicher. Der Verstorbene
hat nämlich zwei Söhne hinterlassen und man weiß nie,
wie das Gesetz entscheidet. Also ist es auf alle Fälle besser,
daß ich verheiratet bin.«
»Die armen Kinder«, sagte Senöwe mitleidig. »Was wird
nun aus ihnen?«
»Die können sich bei ihren Eltern bedanken, die sie in ihrer
Verschwendungssucht um die Heimat brachten. Denn der

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Besitz ist so verschuldet, daß nach der Versteigerung den
Knaben nichts bleiben wird.«

»Wie alt sind sie?«
»Acht und zehn Jahre.«
»Haben sie schon einen Vormund?«
»Ja – mich. Warum siehst du mich so überwältigt an?«
»Weil es überwältigend ist, daß du nach allem, was dir der
Vater Böses antat, dich nun seiner Kinder annimmst. Was
seid ihr Bernbruggs doch für gute Menschen.«
»Nun, ich meine, daß du zu denen jetzt auch gehörst.«
»Und darauf bin ich stolz. Was hast du über die Kinder
beschlossen?«
»Sie befinden sich bereits in einem anerkannt guten Inter-
nat, wo man sie sorgfältig erziehen wird. Denn jetzt sind

sie direkt verwahrlost, was kein Wunder ist, da die Eltern
sich nicht um sie kümmerten.«
»Hoffentlich bereiten sie dir keinen Kummer.«
»Kummer bestimmt nicht, dafür sind sie mir zu wenig ans
Herz gewachsen. Höchstens Ärger vielleicht auch nicht, da
muß man eben abwarten.
Und nun bin ich neugierig, wie sich die Kette an deinem
Hälschen ausnimmt. Ich habe sie so gewählt, daß du sie
täglich tragen kannst, ebenso die Uhr. Wirst du das tun?«
»Mit dem größten Vergnügen. Aber sind die Sachen dafür
nicht zu kostbar?«
»Für dich ist mir nichts zu kostbar, das müßtest du eigent-

lich mit der Zeit schon gemerkt haben. Komm her – «
Geschickt legte er ihr die Kette um, streifte die Uhr über
und betrachtete sie dann schmunzelnd.
»So, jetzt bist du unlöslich an mich gekettet- und an der
Uhr wirst du bald merken, was die Glocke geschlagen hat.«
»Das glaube ich auch«, lachte sie, seinem Blick jedoch da-
bei ausweichend. Was sollte sie nun tun? Ihm so danken,
wie ihr ums Herz war? Doch bevor sie sich dazu entschlie-
ßen konnte, fiel die Tür hinter ihm zu.
»Was machen wir nun mit all den Leuten, die euch zur
Hochzeit beglückwünschten?« fragte der Vater den Sohn,

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als man nach dem Abendessen im trauten Familienkreis
beisammen saß. »Die Briefe häufen sich beängstigend, und

die Blumen…«
»Sind verwelkt, und ihr Duft ist verweht«, warf Rasmus
trocken ein. »Wir werden Karten drucken lassen und sie
verschicken.«
»Da hast du schon recht. Aber uns so von den Menschen
abschließen wie bisher werden wir nicht mehr können.
Bedenke, daß du jetzt eine junge Frau hast, die Geselligkeit
zu beanspruchen hat.«
»Ich?« lachte Senöwe. »Soweit kommt das noch, daß ich
hier anfange, Ansprüche zu stellen, wo man mir ohnehin
schon jeden Wunsch von den Augen abliest. Erstens habe
ich euch als liebste Gesellschaft, dann Hövemanns fast täg-

lich und auch Familie Körtlitz wird sich, sofern der Umbau
beendet ist, hier öfter einfinden, wie Onkel Julius mir neu-
lich versprach. Das dürfte insgesamt wohl Gesellschaft ge-
nug sein, will ich meinen.«
»Und deine Angehörigen, Marjellchen?«
»Paps, beschwöre sie bloß nicht herauf«, entgegnete sie
kläglich. »Die rücken schon von allein hier an, sofern sie
von der Sommerreise zurück sind. Wie mir Mama gestern
am Telefon erklärte, freut sie sich schon darauf, ihr >Her-
zenskind< wieder in die Arme schließen zu dürfen. Ich
dämpfte ihre Freude, indem ich erklärte, daß ich noch kei-
ne Gäste empfangen könnte, weil ich unbedingte Ruhe

brauchte.«
»Mit einemmal«, schmunzelte die Großmutter. »Wie lange
wirst du die noch brauchen, hm?«
»Immer, wenn es mir gerade in den Kram paßt«, kam es
spitzbübisch zurück. »Bedenke, daß ich als Stranddistel
unter Naturschutz stehe.«
»I der Dausend!« lachte Magnus gleich den anderen herz-
lich. »Aber hast recht, Marjellchen, bleiben wir erst mal für
uns allein. Eingeschlossen natürlich die lieben Hövemanns,
die ja sowieso zur Familie gehören. Außerdem haben eini-
ge Güter den Besitzer gewechselt, vielleicht sind Menschen

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darunter, mit denen in Verkehr zu treten es sich lohnt. Da
werde ich mal vorsichtig meine Fühler ausstrecken.

Doch wie ist das heute mit unserem Regenabendkonzert,
Fräulein Magda, wollen Sie etwa streiken?«
»Gewiß nicht, Herr Graf«, entgegnete sie lächelnd, während
sie sich erhob und an den Flügel trat, der im Wohnzimmer
stand, außer dem im Musikzimmer, der jedoch nur selten
benutzt wurde.
Es sang und spielte wirklich gut, das unschöne Fräulein
und hatte damit der Familie, bei der sie so freundliche
Aufnahme fand, schon manchen Genuß bereitet.
So hörte man denn auch heute behaglich zu und genoß
dabei die Traulichkeit um sich her mit allen Sinnen. Da es
in hohen, weiten Räumen bei Regenwetter leicht kühl wird,

prasselten die Scheite im Kamin. Der Schein der Flammen
huschte rotleuchtend durch den Raum, der nur von einer
Stehlampe erhellt war. Draußen sangen Meer und Wind ihr
ewiges Lied, schlug der Regen gegen die Scheiben, was in
dem wohlig durchwärmten Gemach die Traulichkeit noch
erhöhte. Dazu die Musik – nun, man konnte es schon ver-
stehen, daß diese Menschen sich nicht hinaussehnten aus
dem Hafen des Friedens.
Auch das neueste Familienmitglied nicht. Das war gerade
die Atmosphäre, die Senöwe liebte. Im Sessel tief zurückge-
lehnt saß sie da, verträumt das Lied mitsummend, das
Fräulein Magda gerade sang.

Es war ein uraltes Lied von einem schönen Knaben, der
sich keck einen stolzen Sturmvogel einfing, um sich an ihm
zu erfreuen.
So lange sang Magda allein. Doch bei dem letzten Vers
sang Senöwe, sich selbst wohl kaum bewußt, die ein-
schmeichelnde Weise mit. Ihre weiche, süßverträumte
Stimme paßte sich wunderbar dem warmen Alt Magdas an.
Wie eine Welle von Zärtlichkeit und Sehnsucht durchwehte
es das Gemach, in dem die Zuhörer gebannt lauschten:

»Nun sag mir, mein Vöglein,

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willst frei wieder sein?
Dann laß ich dich los,

ich sperr dich nicht ein,
dein Herzchen es soll nicht erkalten.
Ich komm nicht mehr los,
von dir Knaben fein;
nimm mich an dein Herz,
hüll in Liebe mich ein -
dann darfst du mich immer behalten.«

Nachdem der letzte Ton verklang, war es zuerst einmal sehr
still. Sie hatten dieses kleine schlichte Lied gewiß nicht
zum erstenmal gehört, doch noch nie hatte es sie so eigen
berührt wie heute.

Dann darfst du mich immer behalten…
Ganz einfach hatte es geklungen und war doch wie ein
Schwur gewesen durch Not und Tod.
Daß in der Seele dieses schönen Geschöpfes unschätzbare
Werte schlummerten, war hier bekannt; denn man hatte
schon so manche gehoben. Doch dieser beglückende Vor-
rat schien immer noch nicht erschöpft zu sein.
Schon während Senöwe sang, hatte sie in die Flammen
geschaut, verträumt, weltentrückt, kaum wissend, was um
sie vorging. So sinnverwirrend schön wie jetzt war sie noch
nie gewesen, wie sie so dasaß, die grazile Gestalt wie ein
Kätzchen zusammengeschmiegt, um den jungroten Mund

ein süßverträumtes Lächeln. Es war dem Mann nicht zu
verdenken, daß seine Augen wie trunken an dem wunder-
holden Bild hingen, daß ihm das Blut heiß zum Herzen
schoß.
Und in diese fast heilige Stille schrillte die Glocke des
Fernsprechers hinein – laut, aufdringlich, wie Hohngeläch-
ter. Die Menschen zuckten zusammen, und Rasmus fuhr
sich erst einige Male ruckartig über Augen und Stirn, bevor
er den Hörer abhob. Doch nachdem er das Gespräch ent-
gegengenommen hatte, sprang er hastig auf.
»Der Verwalter ist in Sorge um Thor!«

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Er eilte davon, und der Vater hinterdrein.
»Halt, Junge, nimm mich mit!«

Fort waren sie, und Senöwe sah ihnen erschrocken nach.
»Thor – wer ist denn das?«
»Unser wertvollster Zuchthengst«, gab die Großmutter Aus-
kunft. »Ja ja, mein Kind, so ist es mit den Landwirten nun
mal. Immer müssen sie auf dem Sprung sein, immer in
Bereitschaft liegen. Hauptsächlich dann, wenn der Betrieb
so groß ist wie der unsere, da kommt fast täglich was vor.
Wahrscheinlich gibt es für unsere Männer eine schlaflose
Nacht.«
»Aber die opfern sie gern, wenn Thor nur erhalten bleibt«,
meinte Hortense. »Nur jammerschade, daß unsere schöne
Musikstunde so rauh unterbrochen werden mußte. Sag

mal, mein Liebling, was werden wir noch so alles an dir
erleben?«
»Warum, Mutti, was tat ich denn?«
»Du hast uns mit deinem Gesang beglückt. Wir hatten ja
keine Ahnung, daß du so wunderbar singen kannst.«
»Muttichen, mach mich doch nicht eitel. Ich singe, wie der
Vogel singt.«
»Eben deshalb«, schaltete sich die Großmutter ein. »Gerade
weil bei dir alles so ursprünglich geschieht, so ohne jede
Effekthascherei, deshalb wirkt es auf die Menschen so stark,
mein Kind. Bist du auch sonst noch musikalisch?«
»Ja, Klavier, Geige . . .«

»Geige?« fuhr Magda lebhaft auf. »Das ist ja wunderbar,
Frau Gräfin. Dann können wir ein Konzert geben.«
»Nun warten Sie doch erst mal ab wie ich spiele«, lachte
Senöwe in ihre Begeisterung hinein. »Denn sich Ihrem gu-
ten Spiel anzupassen, das dürfte nicht ganz einfach sein.
Zwar brachte mir mein Lehrer, der mich auch in Musik
unterrichtete, manches bei – na, wir werden ja sehen.«
»Jetzt gleich?«
»Aber aber, Fräulein Magda, Sie haben ja ganz rote Wangen
vor Aufregung«, lachte Gräfin Hortense. »Heute werden wir
erst mal schlafen gehen, denn ich bin offen gestanden mü-

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de.«
»Außerdem habe ich meine Geige gar nicht hier«, erklärte

Senöwe. »Die ist im Strandhaus. Doch morgen hole ich sie,
das verspreche ich Ihnen. Aber hoffentlich erleben Sie kei-
ne Enttäuschung.«
»Das glaube ich nicht, Frau Gräfin. Ich wünsche den Da-
men eine gute Nacht.«
Damit ging sie, und die anderen folgten, begaben sich zur
Ruhe und schliefen tief und fest.
Nur Senöwe nicht, die plagte sich mit quälenden Gedan-
ken ab, konnte mit ihrem törichten Herzen nicht mehr
fertig werden. Daß sie Rasmus liebte, wußte sie längst,
doch noch nie war ihr das so qualvoll zum Bewußtsein
gekommen wie in dieser schlaflosen Nacht. Und erst als

das erste Frührot dämmerte, weinte sie sich in den Schlaf.
Als Senöwe erwachte, strahlte die Sonne so hell ins Zim-
mer, als hätte es gestern nicht geregnet. Noch schlaftrunken
streckte sie sich im Bett, fuhr jedoch erschrocken hoch, als
ihr Blick auf die Uhr fiel, die auf dem Nachttisch stand.
EH – da hatte sie sich ganz gehörig verschlafen. Einfach
beschämend war das den anderen gegenüber, die um acht
Uhr das Frühstück einnahmen, selbst die alte Gräfin mit
ihren siebenundsiebzig Jahren. Die war sicher schon längst
von ihrem täglichen Ritt zurückgekehrt, den sie in Beglei-
tung der Schwiegertochter unternahm. Danach sah diese
im Hauswesen nach dem Rechten, nur die jüngste Gräfin

stahl dem lieben Gott die Tage weg. Dafür wurde sie noch
verhätschelt, sozusagen in Watte gepackt, weil sie vor drei
Wochen Angina hatte.
»Pfui, Senöwe, schäm dich!« sprach das Gewissen in ihre
erbitterten Gedanken hinein. »Dank lieber dem Höchsten
jeden Tag aufs neue, der dir ein Leben beschert, wie du es
gar nicht verdienst. Was warst du schon vor deiner Ehe? Ein
junges Mädchen, das von der Gnade des Stiefvaters abhing.
Gewiß, du wehrtest dich dagegen und suchtest Zuflucht bei
dem guten Onkel Konny, um wiederum dem auf der Ta-
sche zu liegen.

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Bis der Mann kam, der dich zu dem erhob, was du heute
bist – Gräfin Bernbrugg. Hast du überhaupt schon darüber

nachgedacht, was das bedeutet? Wenn nicht, dann geh in
dich und zeige dich deiner bevorzugten Stellung würdig.«
Da schäme Senöwe sich wirklich. Sie sprang auf, eilte ins
Badezimmer und stellte sich unter die kühle Dusche, die
dann auch alle Grillen vertrieb. Und als sie dann später auf
der Terrasse erschien, wo die beiden Gräfinnen bei einer
Handarbeit saßen, war sie wieder ganz das frischfröhliche
Menschenkind Senöwe, bei dessen Anblick man unwillkür-
lich an Sonne denken mußte, an Meer und an Wind.
»Da bist du ja«, sagte die Großmutter schmunzelnd. »Ob
du gut geschlafen hast, braucht man nicht erst zu fragen.
Schaust aus wie das blühende Leben selber. Hast du schon

gefrühstückt?«
»Nein – ich habe auch kein Frühstück verdient. Schlafe wie
ein Murmeltier, während alle anderen arbeiten. Ich schäme
mich.«
»Das laß ja bleiben«, lachte die Schwiegermutter, dabei
zärtlich über das flimmernde Köpfchen streichelnd. »Du
tust gerade genug. Du bringst uns die Sonne ins Haus, und
das ist gewiß nicht wenig.«
Dabei drückte sie den Klingelknopf, der alte Diener er-
schien, erhielt seinen Auftrag, und schon zehn Minuten
später stand ein Frühstück da, dem Senöwe mit dem Appe-
tit eines gesunden Menschen zusprach.

»So, jetzt bin ich satt«, erklärte sie fröhlich. »Zu meiner
völligen Behaglichkeit fehlt nur noch ein Bad in der See.«
»Damit warte lieber noch, bis Rasmus es dir gestattet«, sag-
te Hortense gütig. »Wir haben ihm vor seiner Abfahrt fest
versprechen müssen, dich wie ein Kleinod zu hüten.«
»Ist er denn fort?«
»Ja. Auf einen Anruf ist er sofort nach Warnen gefahren, wo
heute die Versteigerung stattfindet. Er muß ja als Vormund
die Interessen seiner Mündel wahrnehmen. Wahrscheinlich
wird er einige Tage fortbleiben, bis alles einigermaßen ge-
regelt ist. Dem armen Jungen blieben, nachdem er aus dem

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Stall kam, kaum drei Stunden Schlaf, dann mußte er auf
den Anruf hin geweckt werden. Aber das machte ihm nicht

viel aus. Ihm war die Hauptsache, daß Thor wieder mobil
ist. Dir soll ich von Rasmus herzliche Grüße bestellen.«
»Danke, Mutti«, gelang es Senöwe, gleichmütig zu tun,
während ihr doch das Herz so bitter weh tat. Wie sollte sie
es wohl ohne Rasmus tagelang aushalten, nach dem sie
sich schon sehnte, wenn er nur auf Stunden fort war. Sie
merkte, daß ihr die Tränen kommen wollten und sprang
auf.
»Ich husch mal schnell ins Strandhaus hinüber, um meine
Geige zu holen, wie ich es gestern Fräulein Magda ver-
sprach. Hoffentlich wird ihr mein Gefiedel nicht auf die
Nerven gehen. Das heißt, die Geige selbst ist wahrschein-

lich sehr wertvoll. Ich fand sie vor, als Paps das Haus von
seinem Onkel erbte. Der alte Seebär hat das Instrument
wohl von einer seiner Fahrten mitgebracht. Jedenfalls be-
trachtete es mein Lehrer, der mich so arg mit der Musik
piesackte, immer wieder voll Andacht.
Und nun gehabt euch wohl, meine Lieben. Seid bitte nicht
böse, wenn ich mich zum Mittagessen nicht einfinden soll-
te. Denn soweit ich Anita kenne, wird sie mich sobald
nicht fortlassen.«
Einen Kuß auf Hand und Wange der Damen, dann ging
Senöwe leichtfüßig davon. Lustig wippte der weite Rock
des eleganten Sommerkleides, wie Meeresgold glänzte und

gleißte das Gelock auf dem rassigen Köpfchen.
»Wie schön sie ist«, sprach die Schwiegermutter ihr zärtlich
nach. »Und wie liebenswert in ihrer ganzen Art. Wie glück-
lich können wir doch sein, daß sie nun endgültig uns ge-
hört. Wenn der Junge nur endlich seine Gelassenheit ihr
gegenüber aufgeben möchte. Am Ende liebt er sie nicht
so…«
»Hortense, jetzt redest du aber Unsinn«, unterbrach die
Schwiegermutter sie trocken. »Bedenke, daß Senöwe nach
der Hochzeit zuerst krank und danach Rekonvaleszentin
war. Laß nur den Jungen gewähren, der weiß schon, was er

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tut.«
Indes schritt Senöwe frohgemut dahin. Eine Lust war es,

wieder einmal den Strand entlangzuwandern, so nah, daß
die heranbrausenden Wellen last ihre Füße näßten. Immer
wieder wandte sie sich um und grüßte mit den Augen den
trutzigen Bau, der auch sie jetzt schützend umschloß. Mun-
ter langte sie im Strandhaus an, wo man sie freudig begrüß-
te.
»Ei sieh da, Frau Gräfin persönlich«, schmunzelte der Ma-
ler. »Bist du entflohen deiner Kerkerhaft oder hat man dich
freiwillig daraus entlassen?«
»Letzteres, du Spötter«, blitzte sie ihn an. »Das heißt, Ras-
mus weiß von meinem ersten Ausflug nichts. Er ist heute
früh nach Warnen gefahren, wo die Versteigerung stattfin-

det.«
»Aha«, nickte Anita verständnisinnig. »Und die beiden
Damen und den vernarrten Paps hast du einfach um den
Finger gewickelt. Denn der einzige, der dir Circe da oben
standhalten kann, scheint tatsächlich Rasmus zu sein.«
»Du bist ein Scheusal, meine liebe Anita. Aber macht
nichts, ich bin froh, wieder einmal hier zu sein.«
»Ehrt uns mächtig, Frau Gräfin«, machte die Malersfrau
einen Kratzfuß, wobei ihre Augen lachten. »Aber so ganz
allein aus purer Leutseligkeit erfolgt dieser Besuch wohl
kaum.«
»Hast recht«, kam es lachend zurück. »Ich bin hier, um

meine Geige zu holen.«
»Auch das noch.«
»Wie belieben?«
»Tu nur noch so scheinheilig, du weißt ganz genau, was ich
damit meine. Wer wird dich zu deiner nichtsnutzigen Fie-
delei begleiten?«
»Fräulein Magda. Die spielt nämlich ganz wunderbar Kla-
vier, und ihre dunkle Stimme ist weich wie Samt.«
»Hast du die deine etwa auch schon hören lassen?«
»Ja, gestern abend.«
»Also kein Wunder, daß der Herr Gemahl da ausriß.«

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»Halt endlich ein, du Strolch!« fuhr jetzt Konrad lachend
dazwischen, und fröhlich fiel Senöwe ein.

»Laß sie nur, Onkel Konny. Sie hat wahrscheinlich lange
nicht ihr Zünglein wetzen dürfen, und da komm ich ihr
gerade gelegen. Warum wart ihr übrigens gestern und vor-
gestern nicht oben?«
»Weil wir schließlich noch mehr Beschäftigung haben, als
einer verhätschelten Rekonvaleszentin die Langeweile zu
vertreiben. Wie steht es mit dieser Kostbarkeit jetzt? Darf
man sie wieder herzhaft anfassen?«
»Na, herzhafter als du es tust, kann es wohl kaum noch
geschehen.«
»Ein Ausgleich tut immer gut, mein Herzchen. Wie steht es
übrigens mit deiner angefangenen Übersetzung?«

»Die nehme ich mit und führe sie zu Ende. Ich weiß sowie-
so nicht, was ich mit meiner Zeit anfangen soll.«
»Kommt noch, mein Liebchen, kommt noch. Laß Rasmus
erst wieder auf der Bildfläche erscheinen, dann wird er sich
dir, nun du wieder blühend gesund bist, schon an deine
Fersen heften. Ich habe so was läuten hören, daß er dir
bereits ein Pferd ausgesucht hat, auf dem du ihn begleiten
sollst. Und dann kommst du kaum noch aus dem Sattel bei
so einem anspruchsvollen Herrn.«
»Das wäre ja herrlich«, freute Senöwe sich. »Allerdings wird
er viel Geduld haben müssen. Denn ich bin über den An-
fangsunterricht kaum hinweg, den ich im Tattersall erhielt.«

»Dann laß den glänzenden Reiter dich nur weiter in die
Schule nehmen, das hat er nämlich erstklassig raus. Das
heißt, bei mir versagte selbst er, der als Jüngling von dem
Wahn besessen war, aus mir eine schneidige Reiterin zu
machen, bis er es als hoffnungslosen Fall aufgeben mußte.
Denn sowie er mich von einer Seite auf das Pferd hob,
rutschte ich mit Vehemenz zur andern runter. Und als das
neckische Spiel sich zum z….igstenmal wiederholt hatte,
wandte mein forscher Lehrer sich verächtlich ab und nann-
te mich eine lahme Krähe.«
»Was, so ungalant kann Rasmus sein?« fragte Senöwe la-

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chend, und vergnügt fiel die andere ein.
»Konnte, mein Herzchen. Denn damals war er fünfzehn

und somit in den schönsten Flegeljahren, die selbst vor der
Ritterlichkeit eines Bernbrugg nicht haltmachten. Weißt du
übrigens schon, daß Rasmus unseren Konny gebeten hat,
dich zu malen, so richtig in Essig und Öl für die Ahnenga-
lerie?«
»Aber das ist doch Unsinn«, wehrte Senöwe erschrocken ab.
»Daraus wird nichts.«
»Und wie etwas daraus wird! Dafür laß nur deinen hart-
näckigen Herrn Gemahl sorgen. Wenn der sich mal etwas
in seinen harten Kopf gesetzt hat, dann geschieht es auch
auf Biegen oder Brechen. Und er ist der Ansicht, daß so viel
Schönheit und Charme nicht oft genug festgehalten werden

kann.
Und nun friß mich bloß nicht. Ich weiß auch so, daß ich
eine Schwatzliese bin. Doch was tut's? Wem das Herz voll
ist, geht der Mund über.
Übrigens gibt es bei uns zu Mittag saures Herz. Ist dieses
frugale Gericht der Frau Gräfin genehm?«
Da lachte Senöwe, so recht von Herzen frisch und froh.
»Ach, Anita, was bist du bloß für ein Unikum – aber ein
liebes.«
»Wenn das ein Kompliment sein soll, dann herzlichen
Dank. Und nun gehe ich, damit ich die saure Angelegen-
heit bald servieren kann; denn sauer macht lustig.«

Damit wippte sie ab, und die junge Gräfin sagte warm:
»Onkel Konny, wie glücklich kannst du sein, vom Schicksal
eine so prachtvolle Frau beschert bekommen zu haben.«
»Das weiß ich«, entgegnete er so ernst wie selten. »Aber
glaub mir, Senöwe, ich weiß dieses Glück auch voll und
ganz zu schätzen.«
Am Abend war dann der große Augenblick gekommen, auf
den man in Möwen mit Spannung wartete. Selbst das Ehe-
paar Hövemann hatte sich dazu eingefunden, mit spitzbü-
bischem Vergnügen der Dinge harrend, die da kommen
sollten.

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Fräulein Magda war so aufgeregt, wie eine Künstlerin vor
der Premiere. Daher klappte es bei der routinierten Spiele-

rin zuerst auch nicht so recht. Dreimal mußte sie mit dem
Vorspiel beginnen, bis die Geige einsetzen konnte.
Und dann klang zart und süß die »Toselli-Serenade« durch
das Gemach. Kein künstlerisches Spiel, aber gerade deshalb
ergriff es die Zuhörer, die ja alle Dilettanten waren, wie die
Spieler selbst.
Dazu kam noch das Bild, das sich den Menschen bot. Kei-
nen Blick konnte man wenden von der zauberschönen
Gestalt, die da so leicht und sicher den Bogen führte, die
Augen dabei sehnsuchtsvoll ins Weite gerichtet. Es erfüllte
die Zuhörer mit Bedauern, daß Rasmus nicht da war, um
das holdselige Bild in sich aufnehmen zu können.

Doch der war nun bereits zwei Tage fort. Und er wußte
selbst noch nicht, wie lange es dauern würde, bis er von
Warnen loskommen konnte, diesem verwahrlosten Besitz,
wo vorläufig noch alles drunter und drüber ging.
Nun, dafür hatte er ihn auch lächerlich billig ersteigern
können – und somit hatte Möwen noch ein Nebengut
mehr. Doch sollten die Söhne des verstorbenen Kainz gut
einschlagen, dann…
Doch das hatte mindestens noch ein Jahrzehnt Zeit. Vorerst
galt es einmal, den Besitz hochzubringen, was den beiden
tüchtigen Landwirten, Vater und Sohn, allmählich schon
gelingen würde.

Zweimal hatte Rasmus bereits angerufen und mit dem Va-
ter lange Gespräche geführt, sich bei ihm Rat geholt. Denn
nach Warnen fahren konnte Magnus nicht, obwohl es nur
zwanzig Kilometer von Möwen entfernt lag. Für ihn gab es
da während der Roggenernte alle Hände voll zu tun, zumal
die tüchtige Hilfe des Sohnes fortfiel.
Als Rasmus jedoch am dritten Tag anrief, befand Senöwe
sich allein in dem Raum, in dem die Glocke so aufdringlich
schrillte. Sie hob den Hörer ab, meldete sich und schon
hörte sie die sonore Stimme, die ihr arges Herzklopfen ver-
ursachte:

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»Du bist es, Senöwe? Das ist aber lieb. Wie geht es dir
denn?«

»Soweit gut, Rasmus, aber warum bleibst du nur so lange
fort?«
Es dauerte Sekunden, bis die Antwort kam:
»Vermißt du mich denn?«
»Ja – sehr.«
Wie ein Hauch klang es, und doch hatte der Mann es ver-
standen. Ganz weich und zärtlich klang jetzt seine Stimme:
»Ich komme, liebste Frau, sobald ich irgend kann. Wirst du
mich dann aber auch nett empfangen?«
»Ja, Rasmus, das verspreche ich dir.«
Damit war es aber auch mit ihrer Courage vorbei. Sie legte
den Hörer auf. Hob ihn auch nicht ab, so sehr er auch hin-

terher wieder schrillte, bis Magnus aus einem anderen
Raum herbeieilte.
»Nanu, Marjellchen, hast du etwa Angst vor dem schwarzen
Kasten da, daß du ihn nicht anzurühren wagst?« fragte er
neckend und sah verdutzt der grazilen Gestalt nach, die wie
gehetzt aus dem Zimmer lief. Kopfschüttelnd hob er den
Hörer ab und sagte gleich darauf:
»Ach du bist es, mein Junge. Wie geht's, wie steht's, soweit
alles in Ordnung dort?«
»Ja, der Wust beginnt sich langsam zu entwirren. Aber eben
sprach ich doch noch Senöwe. Willst du mir nicht sagen,
warum sie so unvermittelt abhängte?«

»Kann ich nicht, weil sie eben wie ein gehetztes Rehlein
davonsprang. Was hat es zwischen euch gegeben?«
»Für mich Beglückendes. Sie hat nämlich verraten, daß sie
mich sehr vermißt.«
»Und hinterher Angst vor der eigenen Courage bekom-
men«, lachte der Vater herzlich. »Laß den Krempel dort und
komm zurück, dann wirst du ein Wunder erleben. Deine
Frau fiedelt nämlich, daß selbst ein Paganini vor Neid er-
blassen müßte. Damit wird sie unter Garantie dein ver-
stocktes Herz windelweich kriegen. Wann kommst du al-
so?«

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»Vielleicht morgen, Vater. Ich muß unbedingt noch mit
dem neuen Verwalter verhandeln, der sich angesagt hat.

Willst du während der Verhandlung nicht dabei sein?«
»Gut, Rasmus, ich werde mir die Zeit dazu eben abstehlen.
Ruf mich sofort an, wenn der Mann da ist.«
»Danke, Vater. Gruß an alle, besonders an Senöwe.«
»Wird bestellt, sofern ich ihrer habhaft werde. Doch vorläu-
fig muß sie wohl noch mit ihrem verängstigten Herzchen
Zwiesprache halten.«
Was sie auch tatsächlich tat. Sie schalt es ein törichtes Ding,
weil es heute so spontan mit ihr durchgegangen war.
Aber einmal muß das doch sein, nahm der Verstand das
gescholtene Herz in Schutz, was nun wirklich nicht oft ge-
schah, denn Kopf und Herz pflegen sich selten zu vertra-

gen. Besinne dich nur, was Rasmus einmal zu dir sagte:
Beruhige dich, mein eigenwilliges Kind, ich werde mir
niemals etwas nehmen, was mir nicht freiwillig gegeben
wird. Also richte dich danach. Wie deine Ehe sich gestalten
wird, das ist allein in deine Hand gegeben. Vergiß dabei
aber bitte nicht, daß dein Gatte Majoratserbe ist.
So stand die arme Senöwe nicht nur mit dem Herzen in
Streit, sondern auch noch mit der Vernunft. Und um sich
klaren Kopf zu schaffen, tat sie etwas, was sie eigentlich
noch nicht sollte. Sie schlich hinunter zum Meer und warf
sich in die kühlen Fluten. Und als sie daraus wieder auf-
tauchte, lachte sie sich selber aus.

Indes spann die Liebe ihre Fäden von Herz zu Herz. Was
machte es dieser Allgewalt schon aus, daß das eine Herz
hier schlug, das andere einige Meilen weiter? Es spann die-
se Fäden ja sogar über Land und Meer.
Und machte immer wieder erfinderisch, das sollte Senöwe
am nächsten Morgen erfahren. Zuerst dachte sie beim Er-
wachen, es narrt sie ein wunderholder Traum. Aber nein, er
blieb. Und zwar in Gestalt der Kammerfrau, die ihrer Her-
rin einen Strauß roter Rosen hinhielt.
»Die hat soeben ein Bote gebracht, Frau Gräfin. Wann darf
ich wiederkommen und beim Ankleiden helfen?«

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»Das weiß ich noch nicht, Alma«, wich Senöwe aus. »Es ist
ja noch früh, kaum sieben Uhr. Ich melde mich schon,

wenn ich Sie brauche.«
Da zog die Gute ab, die es sich nicht nehmen ließ, jetzt
auch noch ihre jüngste Herrin zu betreuen. Und war sehr
gekränkt, wenn diese die Hilfe zurückwies. Also mußte
Senöwe sich schon von ihr bedienen lassen, ob sie wollte
oder nicht.
Jetzt jedoch wollte sie mal erst mit sich allein sein, um das
Wunder erfassen zu können, das da so süß zu ihr empor-
duftete. Zögernd griff sie nach dem Brief, der in der roten
Pracht steckte, öffnete ihn mit bebenden Fingern und las
dann ein sie über alles beglückendes Geständnis:

Ein Morgengruß von dem, der Dir gehöret mit Her: und mit
Sinn.


Da mußte Senöwe sich erst einmal zurücksinken lassen in
die Kissen, weil sie meinte, das Herz müßte ihr bersten vor
lauter Glückseligkeit. Die hellen Tränen liefen ihr dabei
über die Wangen.
Und als die junge Gräfin später an den Frühstückstisch trat,
sprach die kleine Gabriele das aus, was die anderen dach-

ten:
»Senöwe, deine Augen glänzen ja heute wie die Kerzen am
Weihnachtsbaum.«
»Guter Vergleich«, schmunzelte die Großmutter. »Wer mag
die Lichtlein wohl angezündet haben?«
Eine scheinheilige Frage, die sie da stellte. Denn die Kam-
merfrau hatte die Indiskretion begangen, erst ihr und der
Schwiegertochter verschmitzt den Rosenstrauß zu zeigen,
bevor sie ihn an die richtige Adresse brachte.
»Wo ist denn Paps?« fragte Senöwe hastig, um von dem
verfänglichen Thema abzulenken.
»Er ist nach Warnen gefahren, mein Kind«, gab Hortense

Auskunft. »Rasmus braucht ihn dort zu seiner Unterstüt-
zung.«

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»Wird er lange fortbleiben?«
»Bestimmt nicht länger als bis zum Abend. Hoffentlich

bringt er dann auch unseren Jungen mit.«
Hoffentlich, dachte Senöwe sehnsüchtig. Allein, es verging
Tag und Abend, ohne ihr den Ersehnten zu bringen.
Und dann stand sich das junge Paar gegenüber. Süß er-
schrocken war der Blick der Frau, heiß werbend der des
Mannes. In der Stimme vibrierte der Herzschlag mit, als er
leise fragte:
»Was tust du nun mit dem Mann, der dir schon längst ge-
höret mit Herz und mit Sinn?«
»Das – «, kam die Antwort wie ein Hauch. Und dann legte
sich ein gleißendes Köpfchen wie müde an eine breite
Brust. Danach brannte heiß Mund auf Mund in dem ewi-

gen Spiel glückseliger Liebe.
Und dann schob der Mann seine Frau von sich, soweit die
Arme reichten. Die blauen Augen blitzten in dem stolzen
Männerantlitz, und eine sonore Stimme fragte mit unterd-
rücktem Lachen:
»Nun, steht die Stranddistel immer noch unter Natur-
schutz?«
»Die Stranddistel hast du dir ja schon längst geraubt, du
arger Räuber«, trat ihn ein Blick, der ihm das Blut heiß zum
Herzen schießen ließ. »Schon damals im Wald, wo sie zwi-
schen rotleuchtenden Erdbeeren stand, wo sie ja wahrlich
nichts zu suchen hatte. Aber der gefangene Sturmvogel

möchte noch ein Geständnis machen.«
»Und das wäre?«
Da drückte sich das heilserglühte Gesichtchen fest gegen
die Brust, in der ein Herz so stürmisch klopfte, und leise
wehte es zu dem lauschenden Mann empor:
»Ich komm nicht mehr los, von dir Knaben fein, nimm
mich an dein Herz, hüll in Liebe es ein dann darfst du
mich immer behalten.«
Drei Jahre waren vergangen, die den Bernbruggs Glück und
Segen gebracht hatten. Natürlich auch manchen Alltagsär-
ger, von dem ja kein Mensch verschont bleibt.

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Und dazu gehörte auch damals das unverschämte Ehepaar,
das in Warnen auftauchte und kategorisch das Gut mit Be-

schlag belegen wollte, weil es ihrer Ansicht nach den bei-
den Enkeln gehörte, welche die verstorbene Tochter hinter-
ließ. Das heißt, an dem Gut lag ihnen wenig, das Geld
wollten sie dafür haben.
Zwar ärgerten sich die beiden Grafen Bernbrugg über so
viel Unverfrorenheit, aber Kummer machte sie ihnen nicht.
Sie übergeben die Angelegenheit dem Gericht, nach dessen
Urteil dann die beiden Unverschämten abziehen mußten,
keinen Pfennig gewinnend, sondern noch die Gerichtsko-
sten tragend. Außerdem lag ihnen die Sorge für die Erzie-
hung der Enkel ob, weil Graf Rasmus die Vormundschaft
niederlegte. Aber auch nur, weil er zu der Erkenntnis ge-

langte, daß die beiden Knaben aus demselben Holz ge-
schnitzt waren wie Eltern und Großeltern.
Damit hatte er sich endlich von allem Zwielichtigen befreit
und durfte fortan unbeschwert in Sonne und Licht atmen,
die es reichlich gab in dem Schloß am Meer, zu dem er
nach des Tages Müh und Plage zurückkehren durfte, ein
glücklicher Mann im Kreise einer trauten Familie, zu dem
jetzt auch seit zwölf Monaten ein kleiner Erbherr gehörte.
Er trug die Vorzüge des Vaters, doch die Augen und das
goldige Lachen hatte ihm die Mutter vererbt.
Gabriele, ein kleines Wunder an Schönheit, stand schon
längst auf ihren schlanken Beinen, und die Großmutter war

mobil wie eh und je. Sie unternahm immer noch ihren
täglichen Ritt, wobei sie es am liebsten sah, wenn Senöwe
sie begleitete; denn sie war und blieb ihr Abgott.
Und das Ehepaar Hövemann? Das konnte man sich einfach
nicht mehr aus seinem Leben wegdenken. Konrad hatte
Senöwes Bild mit so viel Liebe gemalt, daß es das beste
wurde, was er je geschaffen.
Das zweite Bild, das Konrad Hövemann dann mit viel Lie-
be malte, war das des kleinen Rasmus. Senöwe erhielt es
am ersten Geburtstag des Söhnchens. Die junge Mutter
betrachtete es zuerst mit sprachlosem Entzücken, doch

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dann fiel sie dem schmunzelnden Spender kurzerhand um
den Hals.

»Onkel Konny, wie soll ich dir bloß danken! Das ist ja un-
ser Butzi, wie er da leibt und lebt.«
»Na, den Herrgott zu konterfeien, damit hat er sich den
größten Gefallen getan«, bemerkte Anita trocken. »Zuerst
war es die Mutter, auf die ich eifersüchtig sein mußte, jetzt
ist es der Sohn.«
»Was du aber ganz gut überstanden hast«, neckte die Senio-
rin der Familie Bernbrugg. »Und dein Zünglein mit.«
Heute war nun ein Tag, der des Feierns wert war; denn die
alte Gräfin wurde achtzig Jahre alt. Gerührt nahm sie all die
Liebesbeweise hin – auch die der Familie Neubeck, die
geschlossen anrückte. Schon längst nahm man die turbu-

lente Familie so, wie sie nun einmal war; denn schließlich
war sie gar nicht so übel. Man mußte nur gute Nerven ha-
ben, um sie zu ertragen. Charlott war nun auch verlobt und
zwar mit Fred Ewing, den Senöwe einst verschmähte. Das
hatte dem schneidigen jungen Mann jedoch nicht das Herz
gebrochen, wie die Verliebtheit, mit der er seine niedliche
Braut umgab, es schlagend bewies.
Irina war es hoch anzurechnen, daß sie ihre Großmutter-
würde nicht etwa verleugnete, sondern sie groß herausstell-
te, wie und wo sie nur konnte.
Da die Großmama zu ihrem Ehrentag keinen »Klimbim«
wünschte, ließ man selbstverständlich davon ab. Denn

mittlerweile hatte Schloß Möwen seine gastlichen Tore
wieder zur Geselligkeit geöffnet. Doch zu den liebsten Gä-
sten gehörten immer noch Familie Körtlitz, die sich auch
heute vereint einstellte. Selbst das jüngste Mitglied von
zweieinhalb Jahren war zugegen, das von Susi und Gabriele
sofort mit Beschlag belegt wurde.
Jetzt saß man treulich vereint unter einer uralten Linde, die
breitastig genug war, um die riesige Kaffeetafel zu über-
schatten. Man tat sich an den Genüssen gütlich, lachte und
schwatzte dabei nach Herzenslust. Sie hatten ja auch allen
Grund, vergnügt zu sein, diese bevorzugten Menschen,

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denen das Schicksal hold war.
Nur Konrad Hövemann war nicht zugegen, den man in

dem Trubel auch gar nicht vermißte.
Doch dann tauchte er plötzlich auf – und wie!
An seiner Hand tapste nämlich der kleine Erbherr von
Möwen, der bisher noch nicht den ersten Schritt getan.
Zwar noch unsicher auf den drallen Beinchen, aber im-
merhin, sie hielten wacker stand.
Zuerst einmal fassungsloses Staunen, doch dann brach der
Jubel los. Jeder wollte nach dem entzückenden kleinen
Schelm fassen, doch nonchalant, eine ererbte Geste von der
Mama, tat das dicke Patschchen die zugreifenden Hände
ab. Nur der Urgroßmutter gelang es, das Kerlchen auf den
Schoß zu heben – und gerade das war es, was der schmun-

zelnde Konrad bezweckte.
»Nun, Uromi, wie gefällt dir denn dieses Geburtstagsge-
schenk?«
»Es ist mein schönstes, du Heimtücker«, entgegnete die alte
Dame lachend. »Daher warst du auch in letzter Zeit kaum
aus dem Kinderzimmer zu bekommen. Aber wie hast du
den kleinen Schalk hier nur dazu bewegen können, nicht
schon früher seine Kunst zu zeigen?«
»Er gab mir als echter Bernbrugg sein Wort«, entgegnete der
Maler schlicht und fiel dann vergnügt in das herzliche La-
chen der anderen mit ein.
Und man lachte noch oft und viel an diesem Tag, bis dann

am Spätabend der vergnügte Trubel ein Ende nahm. Still
war es im Schloß, wo man sich so recht zufrieden zur Ruhe
begab.
Nur zwei Menschen taten es noch nicht. Deren Herzen
waren zu voll des Glücks, um Ruhe zu finden. Sie standen
sich gegenüber, und ihre Herzen brannten einander zu wie
am ersten Ehetag.
»Kleinod mein«, sagte der Mann verhalten. »Ich kann es
noch immer nicht fassen, dieses große Glück, das du mir
gibst. Kleine geliebte Stranddistel, daß ich dich pflücken
durfte, das werde ich dem Höchsten danken bis zu meines

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Herzens letztem Schlag.«

-ENDE-


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