Die Ehe auf Abbruch
Roman von Leni Behrendt
Die Morgensonne spiegelte sich in der Kristallvase, daß sie
funkelte und sprühte, sie überflutete die Rosen, die in ihr
dufteten, huschte über die Gedecke und schien überhaupt
eifrig bemüht zu sein, das ganze Gemach mit ihren
goldenen Strahlen zu durchdringen.
Die beiden Menschen, die ihr Frühstück beendet hatten,
griffen nun nach den Briefen, die der Diener neben die
Gedecke gelegt hatte. Wohltuend empfanden sie dabei die
Stille, die nur von dem geruhsamen Tick-Tack der
Standuhr, dem Summen der Kaffeemaschine und den
Schnarchtönen des Dackels Schalk, der auf einem weichen
Sessel sein Schläfchen hielt, unterbrochen wurde.
Lächelnd las Gräfin Liane den Brief, der von einer Freundin
stammte. Man sah der Dame ihre fünfundfünfzig Jahre
nicht an, obgleich das dunkelblonde Haar bereits von
Silberfäden durchwoben war. Es machten wohl das feine,
faltenlose Antlitz und die märchenhaft schlanke Figur, die
diese Frau so jung und immer noch schön erscheinen
ließen. Jedenfalls war Harro Regglin sehr stolz auf seine
Stiefmutter, die es wiederum auf ihren großen Jungen sein
konnte. Denn er verfügte über eine blendende Erscheinung,
der er die Gunst der Damenwelt zu verdanken hatte. Trotz
seiner spöttischen, arroganten Art himmelten Frauen und
Mädchen ihn an, der gern mit ihnen flirtete, aber doch stets
der vornehme, guterzogene Kavalier blieb, was mancher
Weiblichkeit nicht immer recht war.
Jedenfalls war Harro Regglin, dessen ungewöhnliche
Persönlichkeit außerdem noch die Gloriole des Reichtums
umwob, der begehrteste Mann im Umkreise. Mochte er die
Bemühungen der Damenwelt um ihn auch noch so
ironisch belächeln – gerade das machte ihn in ihren Augen
so außerordentlich interessant.
Auch jetzt, beim Lesen des Briefes, stand wieder das
berühmte Lächeln in dem schmalen, rassigen Antlitz, über
dessen linke Wange sich eine Säbelnarbe zog, die
Feindeshand im heißen Ringen des ersten Weltkrieges ihm
geschlagen hatte. Die Hand mit den beiden kostbaren
Ringen hielt das Briefblatt, mit der anderen fuhr er sich
durch das blonde, leichtgewellte Haar.
Dann sah er zu seiner Mutter hin. Es waren Augen von
kaltem Grau, deren Blick nicht jeder Mensch ruhig ertragen
konnte – hauptsächlich dann nicht, wenn sie Verachtung
widerspiegelten wie eben jetzt.
Die sonore Stimme des Mannes durchbrach die Stille:
»Darf ich dich einmal stören, Mutti?«
»Gewiß, mein Junge.«
»Dann lies – und bleibe deiner Sinne Meister«, lächelte er
ironisch und öffnete dann gleichmütig ein anderes
Schreiben, während die Gräfin das ihr Gereichte hastig
überflog. Erschrocken war der Blick, der dann zu dem Sohn
hinging, der so interessiert seinen Brief las, als ginge der in
der Mutter Händen ihn gar nichts an.
»Harro!«
»Nun, kleine Mama?«
»Junge, ich begreife nicht, wie du so gelassen sein kannst.«
Lächelnd legte er das Schreiben zur Seite und griff über den
Tisch hinweg nach der Mutter Hand, die er zart mit den
Lippen berührte.
»Du zitterst ja förmlich vor Erregung, Mutti. Wie töricht!
Wir wissen doch schon seit länger als einem Jahr, daß
dieser Brief einmal kommen mußte, und haben uns mit
dem, was darin von mir verlangt wird, abgefunden.«
»Gewiß, mein Junge – und doch habe ich immer noch
gehofft, daß Fräulein Bracht von ihrem Ansinnen Abstand
nehmen würde. Was wirst du tun?«
»Nach dem Seebad fahren, wie sie es verlangt.«
»Und weiter?«
»Den Dingen ihren Lauf lassen.«
»Harro, deine Gelassenheit kann einen Menschen
manchmal direkt peinigen. Fällt es dir denn gar nicht
schwer, diese geschmacklose Komödie zu spielen?«
»Im Gegenteil, ich finde das alles höchst interessant. Vom
Schicksal die Frau in die Arme gelegt bekommen, ist gewiß
nicht alltäglich und daher äußerst reizvoll für mich.«
»So leicht kannst du dich darüber hinwegsetzen, daß diese
Krämerstochter Gräfin Regglin werden soll?«
»Nur in einer Ehe auf Abbruch! Das darfst du nämlich
nicht vergessen, Mutter. Ein Jahr – und ich bin von dieser
Verpflichtung frei.«
»Und wenn doch nicht alles so glatt geht, wie du es
annimmst, mein Junge? Es ist verlockend genug, Gräfin
Regglin zu werden. Und das erstrebt das Mädchen doch
nur deshalb, weil es etwas ist, das es in seinem
übersättigten Leben noch reizen kann. Denke es dir nicht
so einfach, mit einem Menschen leben zu müssen, von
dem man nicht einmal das Notwendigste weiß.«
»Ist ja auch nicht erforderlich«, entgegnete er gleichmütig.
»Du weißt doch, kleine Mama: Nie sollst du mich befragen.
Daß ich die mir aufgedrängte Frau wieder los werde, das
laß nur meine Sorge sein. Gräfin Regglin zu werden, das ist
für dieses anspruchsvolle Fräulein unter solchen
Umständen nicht schwer. Aber Gräfin Regglins sein…«,
schloß er achselzuckend, und die Mutter sah ihn
bekümmert an.
»Und wenn sie sich in dich verliebt, Harro?«
»Das ist ihre Privatangelegenheit«, tat er es gelassen ab.
Sekundenlang herrschte Schweigen, bis die Gräfin leise
fragte:
»Und – Iris?«
Verständnislos sah Harro die Mutter an.
»Iris? Was hat sie damit zu tun!«
»Sie betrachtet sich als deine Braut.«
Nun trat der arrogante Zug in Regglins Gesicht, der ihn in
den Augen der Weiblichkeit so interessant machte. Und
arrogant war auch der Tonfall seiner Stimme, als er sagte:
»Tut sie das? Wie nett. Doch meiner Ansicht nach hat sie
absolut keine Veranlassung dazu.«
»Du bist ein entsetzlicher Junge!« entrüstete die Mutter
sich. »Nichts nimmst du ernst, spielst mit dem Leben wie
ein Knabe. Daß du Iris jetzt nicht heiraten kannst, das weiß
ich wohl. Aber du darfst dem Mädchen die Hoffnung nicht
nehmen, daß es später geschieht.«
O doch, Graf Regglin konnte schon ernst sein, wenn er es
für notwendig hielt. Er kniff ein wenig die Augen
zusammen, was seinem Gesicht einen hochmütigen
Ausdruck gab, und antwortete in einem Ton, den er sonst
der geliebten Mutter gegenüber nicht hatte:
»Da ich Iris nie Hoffnungen gemacht habe, kann ich sie ihr
folglich auch nicht nehmen. Alles Weitere ist leeres
Geschwätz, von dem ich verschont zu bleiben wünsche.
Und nun mach nicht ein so betrübtes Gesicht, Mutti«,
schwächte er seine scharfen Worte ab. »Wir wollen nicht
weiter um Wenn und Aber herumreden, sondern alles auf
uns zukommen lassen. Oder wäre es dir lieber, wenn ich
um etwas plärren würde, was doch nicht zu ändern ist?«
»Um Gott, mein Sohn«, sie hob abwehrend die Hände,
»das dürfte dir schlecht anstehen.«
»Na also!« Er lachte und griff nach dem Brief, um ihn zu
Ende zu lesen, während die Mutter an vergangene Zeiten
dachte und sich den Tag ins Gedächtnis zurückrief, an dem
sie als Herrin in Regglinsgrund eingezogen war und als
Mutter des damals fünfjährigen Harro, den sie sofort von
ganzem Herzen lieb gewann. Zuerst stand das trotzige und
sehr verwöhnte Kind der neuen Mutter wohl mißtrauisch
gegenüber, doch bald kapitulierte es vor so viel rührender
Liebe und Geduld. Die Mutter wurde fortan das Schönste
und Köstlichste in seinem Leben.
Die erste Ehe des Bodo Regglin war nicht glücklich
gewesen. Er hatte die Gattin ja auch nicht aus Liebe
erwählt, sondern um ihres Geldes willen, mit dem er das
stark heruntergewirtschaftete Regglinsgrund sanieren
wollte. Merkwürdig war es nur, daß dieser Reichtum zwei
Tage vor der Hochzeit zusammenbrach. Trotzdem kam sie
zustande, weil es Bodo ehrlos erschien, der Braut so kurz
vor der Eheschließung den Laufpaß zu geben.
So stand es denn weiter schlecht um die Regglinsgrunder
Herrschaft, und die Ehe, die der Tod der Gräfin sechs Jahre
später löste, wurde alles andere als harmonisch. Man
munkelte wohl, daß sie keines natürlichen Todes gestorben
sei; doch niemand wußte darüber Genaues.
Graf Bodo trauerte auch nicht lange um die Gattin; denn
schon nach Jahresfrist hielt eine neue Herrin ihren Einzug
in Regglinsgrund, die außer viel Geld auch die
leidenschaftliche Liebe des Gatten besaß.
So herrschte denn eine traute Harmonie in Regglinsgrund,
an der allerdings nur wenige Außenstehende teilhaben
durften. Denn Gräfin Liane war sehr zurückhaltend und
liebte keinen großen Verkehr. Nur zwei Familien hatte sie
sich näher angeschlossen, den Halldungen auf
Hermeshöhe und den Illsunds auf Laubern.
Gräfin Halldungen, eine Schwester der verstorbenen Gräfin
Regglin, führte an der Seite ihres Gatten ein sorgenfreies,
glückliches Leben. Die Illsunds jedoch verfügten zwar über
einen alten, makellosen Namen, waren aber mit
Glücksgütern nicht gesegnet. Der Graf wußte manchmal
nicht, woher er das Geld nehmen sollte, um seine fünf
Kinder standesgemäß erziehen zu können.
So setzte er seine Hoffnung auf Iris, die älteste Tochter, die
alle Aussichten hatte, die Herrin auf Regglinsgrund zu
werden. Illsund hegte diese Zuversicht seit dem Tage, an
dem das Ehepaar Regglin ihm zu verstehen gegeben hatte,
daß Iris ihnen als Schwiegertochter sehr willkommen wäre.
Seitdem galten Iris Illsund und Harro Regglin allgemein als
heimlich Verlobte, zumal der Bräutigam in spe nichts dazu
tat, um diesem Gerücht die Spitze abzubrechen. Daß er die
Auserwählte immer noch nicht heimführte, begründete
man damit, daß er sein Leben erst genießen wollte, bevor
er sich ins Ehejoch spannte.
So saß denn die schöne Iris Jahr um Jahr bei ihren Eltern
und träumte vom kommenden Glück. Natürlich verlangte
sie eine Ausnahmestellung in der Familie, was der vernarrte
Vater auch für richtig hielt. Er umgab sein Lieblingskind
trotz seiner schwierigen finanziellen Lage mit Luxus und
ließ seine anderen Kinder darunter empfindlich leiden. Die
drei noch nicht erwachsenen Söhne empfanden die
Zurücksetzung nicht als sehr bitter, doch um so mehr tat es
die zweiundzwanzigjährige Adelheid, die zugunsten der
älteren Schwester immer zurückstehen mußte. Sie war
überhaupt das Aschenputtelchen der Familie, das mit allem
zufrieden zu sein hatte.
Davon ahnte man allerdings in Regglinsgrund nichts. Man
lebte dort in so trauter Harmonie, daß man annahm, es
mußte anderswo auch so sein. Zuerst hatte Bodo Regglin
den Sohn oft ermuntert, ihm Iris als Töchterchen zu
bringen, doch in den letzten Jahren schien er kein
Verlangen mehr danach zu haben.
Überhaupt hatte sich der sonst so frohgemute Mann
verändert. Er schien unter Stimmungen zu leiden, die Liane
beunruhigten. Daß ihn etwas quälte, war unverkennbar.
Aber was war es?
Das sollte sie erfahren, als eine tückische Krankheit den
Gatten ganz plötzlich überfiel. Und als er sein Ende nahen
fühlte, war es Zeit, über das zu sprechen, was ihm so
schwer über die Lippen wollte. Müde war der Blick, der zu
seinem Sohn hinging, der neben der Mutter am
Krankenbett saß. Und unendlich müde klang auch die
Stimme des Kranken, als er mit seiner Beichte begann:
»Junge, um dir das zu sagen, was mich zwei Jahre lang so
unendlich quälte, muß ich ein wenig zurückgreifen. Ich bin
mit deiner Mutter nicht glücklich gewesen, weil wir beide
die Liebe nicht aufbringen konnten, die zu einer
harmonischen Ehe gehört. So konnte es kommen, daß die
enttäuschte Frau ihr Herz an einen Mann hing, der den
Posten eines Inspektors auf Regglinsgrund bekleidete. Als
ich dann hinter das Herzensgeheimnis meiner Frau kam,
jagte ich Herrn Bracht vom Hof – obgleich er schuldlos
war, wie ich später erfuhr.
Ich hörte fortan nichts mehr von ihm. Und hätte die
feindliche Haltung deiner Mutter mich nicht stets an ihn
erinnert, so hätte ich ihn wohl nach und nach vergessen.
Mit Regglinsgrund ging es immer mehr bergab. Ich mußte
Geld herbeischaffen um jeden Preis.
Also spielte ich und gewann eine große Summe, mit der ich
mich hätte zufrieden geben müssen. Doch wie ein Fieber
kam es über mich – ich wollte mehr haben – immer mehr!
Ich spielte, bis das Glück sich abwandte und ich in einer
Nacht Haus und Hof verspielte.
Nun hätte ich mir ja eigentlich eine Kugel durch den Kopf
schießen müssen. Aber vorher wollte ich mir noch den
Mann ansehen, dem ich mein Hab und Gut verpfändet
hatte.
Es war Herr Bracht.
Lächelnd erzählte er mir, daß er vor Jahren nach Amerika
ausgewandert sei, um dort eine Erbschaft anzutreten.
Geschäfte hätten ihn in die Heimat geführt – wo er
eigentlich nur aus Zeitvertreib ein Spielchen riskiert hatte.
Daher möchte er mich bitten, die unangenehme
Geldgeschichte ruhen zu lassen.
Als ich aufbrauste, erinnerte er mich an Weib und Kind, die
ich nicht mit mir ins Verderben ziehen dürfte. Ich war nicht
stark genug, um Brachts lockendem Angebot zu
widerstehen, und wurde so der Schuldner des Mannes, den
ich einst schuldlos von meinem Hof jagte, der nun von
Rechts wegen ihm gehörte.
Wie erbärmlich ich mir damals vorkam, kann ich euch
unmöglich beschreiben. Ich drang in Bracht, doch
irgendeinen Gegenwert meiner Schuld zu verlangen. Mit
dem nachsichtigen Lächeln, das mich meine ganze
Erbärmlichkeit immer stärker fühlen ließ, versprach er mir,
sich zu melden, falls ihm etwas einfallen würde; und ich
verpflichtete mich, jedem seiner Wünsche Rechnung zu
tragen. Verpflichtete mich ehrenwörtlich, obgleich er
keinen Wert darauf legte.
Nach einem halben Jahr starb deine Mutter, Harro. Ich
gewann bald darauf das Herz meiner Liane und wurde
durch sie zum reichen Mann. Ich wollte meine Schuld an
Herrn Bracht abtragen, zog über ihn Erkundigungen ein
und erfuhr, daß er eine vermögende Witwe geheiratet hatte,
deren Geld er in sein ohnehin schon erstklassiges
kaufmännisches Unternehmen steckte, so daß es nun an
führender Stelle stand.
Diese Nachricht entmutigte mich; denn Geld schien bei
dem Finanzgenie keine Rolle zu spielen. Trotzdem bot ich
ihm brieflich die Begleichung meiner Schuld an. Wie
erwartet, antwortete er mir, daß er nach wie vor auf das
Geld verzichte, mich jedoch benachrichtigen würde, wenn
er einen Ausgleich dafür wüßte.
Jahre vergingen – und in meinem Glück, das mir durch
meinen geliebten Ehekameraden zuteil wurde, vergaß ich
Herrn Bracht. Frohgemut und sorglos lebte ich dahin – bis
ein Schreiben des Mannes mich vor zwei Jahren aufs
grausamste dieser Sorglosigkeit entriß.
Er verlangte als Begleichung der Schuld meinen Sohn als
Gatten für seine damals achtzehnjährige Tochter – falls
diese bis zu ihrem einundzwanzigsten Geburtstag nicht
verheiratet sein sollte. Wenn er bis dahin nicht mehr lebt,
würde ein Schreiben, das er bei einem Notar hinterlege, die
Tochter von des Vaters Wunsch unterrichten.
Nun hieß es weiter: ›Wird die Ehe unglücklich sein, kann
sie nach einem Jahr geschieden werden – vorausgesetzt,
daß beide Ehepartner damit einverstanden sind. Sonst muß
sie bestehen bleiben.‹
Und Fräulein Bracht, ein hübsches, launenhaftes und sehr
verzogenes Persönchen, wie ich aus Erkundigungen weiß,
wird gegen eine Scheidung sein. Denn eine –
Krämerstochter gibt die Stellung einer Gräfin Regglin
bestimmt nicht auf. Somit wärest du, mein armer Junge,
durch den Leichtsinn deines Vaters dazu verurteilt,
zeitlebens an eine Frau gebunden zu sein, die deiner
unwürdig ist. Kannst du mir das verzeihen?«
Erst als der Sohn fest versprochen hatte, die Schuld des
Vaters auf sich zu nehmen, wurde der gequälte Mann
ruhiger. Er dämmerte in halber Bewußtlosigkeit dahin, bis
er am nächsten Tag die Augen für immer schloß und eine
verzweifelte Gattin und einen erschütterten Sohn
zurückließ.
Das war vor mehr als einem Jahr gewesen – und heute traf
der gefürchtete Brief ein, in dem Fräulein Bracht Harro
Regglin ersuchte, zur Unterredung in ein nahegelegenes
Ostseebad zu kommen.
Was würde diese Unterredung dem geliebten Jungen
bringen? Eine quälende Ehefessel oder vielleicht –
vielleicht…?
Die in peinigende Gedanken versunkene Mutter bemerkte
nicht Harros Blick, der schon eine Weile lächelnd auf ihr
ruhte. Erst als die schmerzlich seufzte, lachte er amüsiert
auf.
»Kleine Mama, ich muß feststellen, daß du gar keine
richtige Schwiegermutter abgeben wirst. Du siehst nämlich
so fabelhaft jung aus, daß du deine eigene
Schwiegertochter sein könntest.«
»Deine Sorglosigkeit möchte ich haben«, entgegnete sie
kopfschüttelnd. »Wann wirst du reisen?«
»Morgen; denn die Sehnsucht nach meiner Mary peinigt
mein Herz.«
Daß der Junge doch nichts ernst nahm! Selbst über die
ernstesten Dinge spottete er. Verspottete auch die Liebe, die
ihr Leben ausgefüllt hatte.
Sorgenvoll sah sie zu ihm auf, der hoch und schlank, in
seiner bekannt vornehm-nachlässigen Haltung vor ihr
stand. Ein Prachtjunge, für den ihrem Mutterstolz keine
Frau gut genug erschien. Und nun…
Wieder seufzte sie schwer.
»Ach, Junge! Du lachst – und ich…«
»Muß für dich mitseufzen«, vollendete er neckend ihre
stockende Rede. »Wo die Seufzer wohl alle hinfliegen
mögen? Einer wahrscheinlich zu deinem späteren
Sorgenkind Mary, mein verzagtes Muttilein. Doch nun
beurlaube mich, damit ich an die Arbeit komme. Ich habe
mich bereits über Gebühr verspätet.«
Er zog ihre Hand an die Lippen und ging davon, während
die Mutter weiter ihren unerquicklichen Gedanken
nachhing, bis helles Lachen sie daraus aufschreckte. Gleich
darauf traten die beiden Illsund-Töchter ein. Iris blieb
zögernd stehen; doch Adelheid, die reizende, sonnige
Heidi, legte ihre Arme zärtlich um den Hals der Gräfin.
»Guten Morgen, du liebstes Tantchen! Da unser Ritt uns an
Regglinsgrund vorbeiführte, konnten wir nicht umhin
einzukehren. Stören wir dich?«
»Wie könnte das bei euch lieben Mädchen wohl möglich
sein. Habt ihr Hunger?«
»Sehr.«
»Dann nehmt Platz. Von dem, was auf dem Tisch steht,
dürftet ihr wohl satt werden.«
Die Mädchen kamen der Aufforderung nach. Doch
während Heidi es sich gut schmecken ließ, aß Iris kaum
etwas. Sie tat immer sehr reserviert. Warum, das ließ sich
kaum erklären; denn nötig hatte sie es in diesem
befreundeten Haus gewiß nicht. Es lag wohl in ihrer Art,
sich immer ein wenig sphinxhaft zu geben, um sich damit
interessant zu machen.
Während sie sich auch jetzt in Schweigen hüllte, schwatzte
ihre Schwester frisch drauflos. Als sie dann nach Harro
fragte, hielt die Gräfin es an der Zeit, den Mädchen das
mitzuteilen, was ihr nur schwer über die Lippen wollte.
»Harro hat in der Wirtschaft noch einiges zu erledigen, weil
er morgen auf unbestimmte Zeit verreisen muß«, gab Liane
mit gemachtem Gleichmut zur Antwort. »Er will nämlich
seine – Braut besuchen.«
So, nun war das Schwere gesagt – Gott sei Dank!
Und die Wirkung ihrer Worte war auch so, wie sie es
erwartet hatte. Iris erblaßte, und Heidi erschrak so heftig,
daß Messer und Gabel ihren Händen entglitten und
klirrend auf den Teller fielen. Nur mühsam formten die
Lippen die Worte:
»Harro – ist – verlobt?«
»Ja, mit einer Deutschamerikanerin. Ich wollte euch mit
dieser Nachricht überraschen. Und soweit ich es beurteilen
kann, ist es mir auch glänzend gelungen.«
Das konnte man wohl sagen! Allerdings wirkte die
Überraschung niederschmetternd auf die Mädchen. Aber da
ihnen von Kindheit auf Selbstbeherrschung anerzogen
worden war, so rissen sie sich gewaltsam zusammen.
Es klang fast fröhlich, als Heidi sagte:
»Dieser scheinheilige Mensch! Na, warte nur, mein lieber
Harro! Du sollst bei unserer Verlobung auch erst vor die
vollendete Tatsache gestellt werden. Nicht wahr, Iris?«
Bang ging ihr Blick zur Schwester hin, die sich meisterhaft
beherrschte. Nur blaß war sie, erschreckend blaß. Und der
flackernde Blick ließ den Aufruhr in ihrem Herzen ahnen.
Sie kam zu keiner Antwort, weil Harro eintrat –
gleichmütig und sorglos, als gäbe es keine Bräute auf der
Welt.
»Du Heimtücker!« drohte Heidi ihm. »Verlobt sich dieser
Mann, ohne vorher ein Wort darüber verlauten zu lassen.
Ich werde aber feurige Kohlen auf dein Haupt sammeln,
indem ich dir dennoch herzlich gratuliere.«
Sie streckte ihm beide Hände entgegen, die er
nacheinander küßte.
»Entzückend bist du, Heidekind«, sagte er mit seiner
dunklen, warmen Stimme, die mit ihrem bestrickenden
Wohllaut in keinem Verhältnis zu seiner spöttischen Miene
stand. »Woher hast du die erschütternde Neuigkeit? Hat
meine kleine Mama etwa geplaudert?«
»Erraten. Nun beichte, du Sünder, wann du heiraten
willst.«
»Bald. Häkele nur fleißig Pantoffel und
Taschentuchbehälter für mich, damit du bei der
Hochzeitsfeier würdig bestehen kannst.«
Da lachte Heidi auf, frisch und froh.
»O Harro! Du und gehäkelte Pantoffel!«
»Warum nicht«, fiel er in ihr Lachen ein. »Zu einem
Ehemann, wie ich es zu werden gedenke, gehören Pantoffel
solidester Sorte. Willst du das etwa anzweifeln?«
»Daß du treu und solide werden willst?« fragte sie mit
blitzenden Augen zurück. »Keineswegs, da ich manchmal
noch an – Märchen glaube.«
»Racker!« Er zog sie lachend am Ohrläppchen. »Unerhört
finde ich es, meine guten Eigenschaften anzweifeln zu
wollen, die allerdings erst in mir entstehen werden.«
Dann suchte sein spöttischer Blick Iris, die mit
gelangweilter Miene dabeisaß.
»Nun, gnädigste Komteß sagen ja gar nichts. Haben Sie
denn keinen Glückwunsch für mich bedauernswerten
Mann?«
Er duzte Iris nicht, da diese nach ihrer Rückkehr aus dem
Pensionat das förmliche Sie für ihn gehabt hatte, während
Heidi das traute Du nach wie vor beibehielt. Es klang sehr
gnädig, als Iris antwortete:
»Selbstverständlich wünsche ich Ihnen alles Glück zu Ihrer
Verlobung, Graf. Nett von Ihnen, daß Sie von uns dreien
den Anfang gemacht haben.«
»Nicht wahr?« verbeugte er sich übertrieben höflich und
streifte sie dabei mit einem Blick, unter dem sie unwillig
errötete. Rasch mahnte sie die Schwester zum Aufbruch,
verabschiedete sich flüchtig von der Gräfin und sehr kühl
von Harro, der den Damen das Geleit gab, um ihnen in
den Sattel zu helfen. Als er zur Mutter zurückkehrte,
empfing diese ihn froh.
»Junge, mir ist ein Stein vom Herzen gefallen, nachdem ich
den Mut gehabt habe, den Mädchen deine Verlobung
beizubringen. Wie peinlich, wenn die Familie Illsund das
erst von dritter Seite erfahren hätte. Wenn ich den lieben
Menschen jetzt auch weh tun mußte, so hoffe ich, das
übers Jahr wiedergutzumachen zu können.«
»Inwiefern?« fragte er verwundert.
»Daß nach der Ehe auf Abbruch…«
»… die schöne Iris doch noch Chancen hat, meine Frau zu
werden«, vollendete er, als sie unter seinem ironischen
Lächeln verwirrt schwieg. »Wenn du nun schon so sehr
darauf erpicht bist, eine Illsund als Schwiegertochter zu
bekommen, kann es dann nicht die herzige Heidi sein? In
der steckt doch wenigstens Leben und Geist, während die
gnädige Komteß sich alle Mühe gibt, ein Bild ohne Gnade
zu markieren. Im übrigen geht die Bevorzugung für Iris
entschieden zu weit. Adelheid läuft in einem Aufzug
herum, der mehr als bescheiden ist, nur damit ihre
Schwester sich wie eine große Dame putzen kann. Ist dir
das noch nicht aufgefallen, Mutti?«
»Eigentlich nicht, mein Junge«, entgegnete sie betroffen.
»Heidi ist aber auch so ganz anders als Iris…«
»Drum eben«, lachte er herzlich. »Und nun laß endlich
deine Heiratspläne, Muttchen. Denke an unsere Mary, die
uns bald mit ihrer Anwesenheit beglücken wird.«
Die Schwestern ritten eine Weile stumm nebeneinander.
Heidi wagte es nicht, Iris anzusprechen, weil das böse Licht
in deren Augen nichts Gutes verhieß. Dann war es nämlich
nicht ratsam, die Ältere zu reizen, die sich in ihrer
Selbstherrlichkeit wie ein Gott vorkam, vor dem alles
anbetend zu Füßen zu liegen hatte. Und was ihr heute
angetan worden war, hätte gewiß auch bescheidenere
Mädchen bis ins tiefste verletzt. Das konnte Heidi wohl
verstehen.
Auf dem Gutshof von Laubern kam ihnen der Vater
entgegen, der mit seiner kräftigen Gestalt und dem
sonnengebräunten, ein wenig derben Gesicht einen
erfreulichen Anblick bot. Vergnügt blinzelte er den
Töchtern zu.
»Nun, Marjellchen, Station gemacht auf Regglinsgrund,
hm? Was machen denn Seine Gnaden?«
Verblüfft sah er den Mädchen nach, die rasch aus dem
Sattel glitten und auf das Haus zueilten. Kopfschüttelnd
folgte er ihnen und kam gerade dazu, als Iris sich in ihrem
Zimmer auf den Diwan warf und in Tränen ausbrach.
»Was hat sie denn?« fragte der Vater seine zweitgeborene
Tochter, die neben der Mutter stand. »Hat man ihr etwa in
Regglinsgrund etwas zuleide getan, Adelheid?«
»Ja«, kam bedrückt die Antwort.
»Wodurch? Antworte!« herrschte er die Tochter an.
»Harro Regglin hat – hat – sich – verlobt«, sagte Heidi
stotternd.
Zuerst starrte der Vater sie wie entgeistert an, dann brach es
aus ihm heraus:
»Du bist wohl verrückt geworden, wie?«
Heidi war es zwar gewohnt, von den Eltern lange nicht so
liebevoll behandelt zu werden wie der Abgott Iris, aber daß
der Vater sie so anfuhr, obwohl sie schuldlos war, das
machte sie aufsässig. Trotzig warf sie den Kopf in den
Nacken und funkelte den Vater an.
»Dann muß Tante Liane wohl verrückt sein, die mit der
Neuigkeit aufwartete, daß Harro sich verlobt hat und
morgen zu seiner Braut fährt.«
Bums, flog die Tür nach dem Nebenzimmer zu, wo Heidis
bescheidenes Reich war, das an dem der Schwester
gemessen direkt ärmlich wirkte. Jedenfalls hätte die Zofe
einer eleganten Frau es entrüstet abgelehnt, in einem
solchen bescheidenen Zimmer zu hausen. Allein, für
Aschenputtelchen Heidi war es gut genug.
Nachdem Illsund sich über das ungebührliche Benehmen
seiner Tochter Adelheid ausgepoltert hatte, sprach er mit
seinem Abgott in einem Ton, an den dieser nicht gewöhnt
war.
»Himmeldonnerwetter, hör mit der Heulerei auf! Sag
lieber, was dir geschehen ist, damit ich dir helfen kann.«
»Was willst du von mir?!« fauchte Iris wie eine kleine
Wildkatze auf.
»Du hörtest doch schon von Heidi, was Tante Liane uns
verraten hat. Harro ist verlobt und besucht morgen seine
Braut. Aus.«
Damit drückte sie das Gesicht in die Kissen und schluchzte
aufs neue, während der Vater sich mit zwei Fingern in den
Kragen fuhr, als wäre er ihm zu eng. Dann stieß er die
Fäuste in die Hosentaschen und lachte grimmig auf.
»Also haben Seine Gnaden genauso mit dir gespielt wie mit
allen anderen, mein Kind. Während er uns alle in dem
Glauben ließ, daß er dich dereinst heimführen würde,
bereitete er in aller Heimlichkeit seine Verlobung vor. Da
soll doch der Deubel dreinschlagen!«
Mit langen Schritten lief er in dem lauschigen Gemach auf
und ab wie ein gefangenes Tier. Sein Gesicht war stark
gerötet, die Brauen zogen sich finster zusammen, ein
Zeichen, wie sehr Grimm und Groll in ihm tobten. Bang
ging der Blick der Gattin zu dem Erregten hin. Die stille
Frau, die sich dem herrischen Willen ihres Mannes beugen
mußte und daher niemals wagte, ihre eigene Meinung
kundzutun, zuckte erschrocken zusammen, als er plötzlich
den Schritt vor ihr verhielt und sie anfuhr, als wäre alles
ihre Schuld:
»Was sagst du nun dazu, Frau?«
»Ich weiß nicht, lieber Mann.«
»Natürlich«, unterbrach er sie unwirsch, »wann wißt ihr
Frauen überhaupt mal was. Ihr könnt nichts anderes als
jammern und plärren. Jetzt sitzt du da mit deiner
sechsundzwanzigjährigen Tochter, die du wie eine Prinzeß
erzogen hast. Es ist, um auf die Akazien zu klettern!«
Damit stürmte er hinaus, unzufrieden mit sich und der
ganzen Welt.
Das war ein buntes, vergnügtes Leben und Treiben in dem
eleganten Seebad. Das Herz konnte einem aufgehen
angesichts der vergnügten Sommergäste, die sich dort
tummelten. Lachend tollten große und kleine Menschen in
dem lauen Wasser umher, saßen auf drolligen
Gummitieren, haschten nach riesigen Bällen, trieben
allerlei Allotria und erfüllten alles ringsum mit ihrem Jubel.
Andere lagen am Strand, wieder andere belebten die
Promenade. Alles in allem boten sie ein herzerquickendes
Bild sorgloser, ferienübermütiger Menschen.
Harro Regglin saß auf einer Promenadenbank und nahm
das frohe Bild belustigt in sich auf. Bei seiner nicht
alltäglichen Erscheinung blieb er selbstverständlich nicht
lange unbemerkt. Mit Vergnügen sah er die Blicke der
schönen Frauen, und da er einem Flirt niemals abgeneigt
war, ließ auch er seine Augen spielen. So stand er denn
bald unter einem Kreuzfeuer von Blicken, das ihn hätte
überwältigen müssen. Aber das passierte dem Schwerenöter
nicht so leicht, er konnte allerhand vertragen.
Erst als die Sonne am Horizont verschwand und ein
prächtiges Farbenspiel am Himmel zurückließ, erhob er
sich und schlenderte dem Kurhotel zu, wo er für sich und
seinen Diener Zimmer belegt hatte. Mit Vergnügen nahm
er wahr, daß einige junge Mädchen ihm folgten,
wahrscheinlich um herauszubekommen, wo er wohnte.
Am Portal des Hotels wandte er sich um und winkte ihnen
lächelnd zu, die darob verlegen kicherten. Als er sein
Zimmer betrat, um sich zum Abendessen umzukleiden,
erwartete der Diener ihn bereits.
»Nun, Albert, haben Sie Bescheid von Fräulein Bracht?«
»Sehr wohl. Das gnädige Fräulein wird morgen zwischen
elf und zwölf Uhr für den Herrn Grafen zu sprechen sein.«
»Na schön. Hat Ihnen das gnädige Fräulein das persönlich
gesagt?«
»Nein. Ich erhielt von der Zofe den Bescheid.«
»Ausgezeichnet. Nun machen Sie mich so schön wie
möglich, damit ich vor den süßen Mädelchen würdig
bestehen kann.«
Albert lächelte niemals; seiner Ansicht nach vertrug sich das
nicht mit der Würde eines wohlgeschulten Dieners. Doch
hätte er in diesem Augenblick gelächelt – es wäre
vielsagend gewesen. In den vierzehn Jahren, da er seinen
Herrn stets auf dessen Reisen begleitete, hatte er so
manches gesehen und gehört. Daher schätzte er die Frauen
nicht sonderlich.
Als der Graf den großen Speisesaal betrat, amüsierte er sich
über die vielen neugierigen Blicke, die ihn ganz
unverhohlen musterten. Er setzte sich an einen kleinen
Tisch, von dem aus er den Raum übersehen konnte.
Schau an, da waren auch einige der Pusselchen, die ihm auf
der Promenade so nett die Zeit vertrieben hatten. Sie
drehten sich bald ihre reizenden Hälschen nach ihm aus.
Exklusive Gesellschaft, stellte er abschätzend fest. Es gab
nur wenige Ausnahmen, die extravagant gekleidet waren
und es schön fanden, sich recht auffallend zu benehmen.
Jene Kleine dort, mit den dunklen, sehr kurzgeschnittenen
Haaren und der mehr protzigen als geschmackvollen
Aufmachung gehörte zu ihnen. Ihr standen
Launenhaftigkeit und kapriziöse Einfälle schon auf der
Stirn geschrieben. Damit schien sie auch jetzt die drei
Herren, die mit ihr am Tisch saßen, in Atem zu halten. Die
Dame entsprach so ganz der Vorstellung, die er sich von
seiner Mary gemacht hatte. Also mußte sie es wohl auch
sein.
Als der Ober ihm das Essen brachte, fragte er ihn:
»Die Dame dort in Gesellschaft der drei Herren – das ist
doch wohl Fräulein Bracht?«
»Sehr wohl, Herr Graf!«
Also doch! Er beobachtete nun die junge Dame
unausgesetzt, die es bald bemerkte und ihm kokette Blicke
zuwarf. Ihr auffallendes Benehmen zog die
Aufmerksamkeit der anderen Gäste auf sich, um deren
Mund ein eigenartiges Lächeln spielte. Nur Harro Regglin
lächelte nicht mehr.
Zuerst wirst du dir deine Ungeniertheit abgewöhnen
müssen, mein Kind, dachte er verbissen. Denn so wie du
darf sich die Herrin von Regglinsgrund, die den ihr
Untergebenen mit gutem Beispiel voranzugehen hat, nicht
betragen!
Unwillkürlich mußte er an seine Mutter denken, an die
schöne, stolze Frau, der alles verhaßt war, was auffallend
wirkte. Welche Zumutung, ihr diese Schwiegertochter ins
Haus zu bringen!
Harro wartete, bis sich die Gäste fast alle verzogen hatten
und bis auch das extravagante Fräulein sich erhob. Sie
verabschiedete ihre Verehrer und sah dann mit
aufforderndem Blick zu dem Fremden hin, als sie langsam
aus dem Saal schritt.
Regglin folgte ihr – und schon ließ sie im Vestibül ihr
Taschentuch fallen, nach dem er sich bückte und es ihr mit
knapper Verbeugung überreichte. Einen koketten Blick, ein
aufreizendes Lächeln erhielt er als Dank – und da hatte er
genug. Er ließ sie einfach stehen, ging davon und suchte
sofort sein Zimmer auf, wo er sich trotz der frühen
Abendstunde zu Bett legte.
Und schon wußte der Diener Albert Bescheid!
Sein Herr mußte wieder einmal etwas erlebt haben, das ihn
so anekelte, daß er zu Bett ging, um nur nichts mehr hören
und sehen zu müssen.
Am nächsten Vormittag ging Harro Regglin nach dem
Appartement, das Fräulein Bracht bewohnte. Sein Gesicht
war hart, seine Gestalt wie von Eiseskälte umweht. So
betrat er das Gemach seiner zukünftigen Braut, dessen Tür
die Zofe ihm geöffnet hatte.
Und dann stand er Fräulein Bracht gegenüber, Spott und
Verachtung auf dem arroganten Gesicht.
Aber was denn? Lag hier etwa ein Irrtum vor?
Die junge Dame, die ihm so ruhig entgegensah, hatte mit
der Kokotte von gestern abend ja gar nichts gemein!
Er verbarg seine Überraschung meisterhaft und verbeugte
sich in seiner vornehm-lässigen Art.
»Miß Bracht?« fragte er gespannt, als müsse sich nun der
Irrtum herausstellen. Doch sie neigte lächelnd den Kopf.
»Die bin ich, Graf Regglin. Wollen wir Platz nehmen. Denn
unsere Unterredung wird wohl eine gute Weile dauern.«
Die Sache schien ja immer verwickelter zu werden. Er hatte
eine Dame erwartet, die seine Muttersprache nur
mangelhaft beherrschte – und nun sprach sie ein so reines
Deutsch, dazu noch mit so ungemein wohllautender
Stimme! Merkwürdig!
Nachdem sie sich in einen Sessel geschmiegt hatte, nahm
er ihr gegenüber Platz. Forschend hing sein Blick an der
wundervollen Erscheinung. Alles war rassig an ihr, von
dem entzückenden Lockenkopf bis zu den Füßen. Sie
errötete unter seinem Blick und sagte mit leichter
Befangenheit:
»Ich habe Sie hergebeten, Herr Graf, um eine überaus
unangenehme Sache aus der Welt zu schaffen. Vor einigen
Tagen schrieb mir ein amerikanischer Rechtsanwalt, daß
mein Vater bei ihm einen Brief hinterlegt hätte, der mir an
meinem einundzwanzigsten Geburtstag zugestellt werden
sollte. In dem Schreiben stand, daß ich auf seinen Wunsch
die Frau des Grafen Regglin auf Regglinsgrund werden
müßte. Das kann selbstverständlich nur ein Irrtum sein,
nicht wahr?«
»Durchaus nicht, mein gnädiges Fräulein. Wir beide sollen
tatsächlich auf Wunsch Ihres Herrn Vaters ein Paar werden.
Das weiß ich bereits seit länger als einem Jahr von meinem
Vater, der einen Tag nach dieser Eröffnung starb.«
’ Hilflos war der Blick, der ihn nun aus den tiefblauen
Augen traf, hilflos und flehend zugleich.
»Da verstehe ich zum erstenmal meinen gütigen Vater
nicht.«
»Ich um so besser.«
»Ja, wollen Sie mir den Zusammenhang erklären?« fragte
sie ratlos.
»Sind Sie denn tatsächlich ganz ahnungslos, gnädiges
Fräulein?«
»Würde ich Sie sonst fragen? Ich weiß nur, daß ich Sie aus
irgendeinem Grund, den mein Vater in dem Brief nicht
genannt hat, heiraten soll. Weshalb, das werde ich erst in
dem Schreiben erfahren, das mir nach einem Jahr, also an
meinem zweiundzwanzigsten Geburtstag, zugestellt
werden wird.«
»Und wenn Sie eine Ehe mit mir ablehnen?« fragte Harro
interessiert.
»Dann wird mir mein Vermögen bis auf einen geringen Teil
entzogen. Allerdings könnte ich mich nach einem Jahr
wieder scheiden lassen, hat mein Vater seinen
unerklärlichen Wunsch ein wenig abgeschwächt. Er bat
mich jedoch herzlich, wie stets seine gehorsame Tochter zu
sein, aber ich habe absolut keine Lust, es zu tun. Können
Sie das verstehen, Herr Graf?«
»Ja, zumal Sie den Grund nicht kennen, der zu der
Forderung Ihres Vaters führte. Merkwürdig, daß er Sie
darüber im unklaren läßt. Vielleicht wollte er damit
meinen Vater schonen – allein, ich halte eine solche
Rücksichtnahme für unangebracht, weil sie Verwirrung
schafft. Wenn Sie genau Bescheid wissen, dann werden Sie
den Wunsch Ihres Vaters verständlich finden, und daher
wird es Ihnen nicht schwerfallen, ihn zu billigen.«
Er erzählte nun dem aufhorchenden Mädchen, was er von
seinem Vater erfahren hatte.
»Also werden Sie einsehen, daß die Forderung Ihres Vaters
zu Recht besteht«, schloß er, doch sie schüttelte den Kopf
mit einer unwilligen Gebärde.
»Das sehe ich ganz und gar nicht ein. Mein Vater hat doch
freiwillig verzichtet, somit war die Angelegenheit erledigt.«
»Mitnichten. Herr Bracht behielt sich eine Forderung vor,
zu der sich mein Vater ehrenwörtlich verpflichtete.«
»Das war nicht fair von meinem Vater gehandelt, einen
Unschuldigen büßen zu lassen. Sie als Träger eines alten
Namens können doch unmöglich ein Mädchen heiraten,
von dem Sie nichts mehr als seinen Namen wissen.«
»Nun, silberne Löffel werden Sie ja nicht gerade stehlen«,
spottete er, was ihm einen mißbilligenden Blick eintrug.
»Wie Sie über so schwerwiegende Dinge spotten können,
das ist mir unverständlich«, entgegnete sie hochmütig.
»Silberne Löffel stehle ich allerdings nicht, weil ich das
nicht nötig habe. Aber ich könnte sonstwie schlecht geartet
sein.«
»Hm, alles möglich«, sagte er ungerührt. »Aber wenn Sie
sich nun dem Gebot des Vaters nicht fügen und Ihnen
daraufhin das Vermögen entzogen wird, was dann?«
»Dann bleibt mir immer noch das Erbteil meiner Mutter,
das mir ein zwar nicht üppiges, aber doch ganz
angenehmes Leben gestattet.«
»Schön. Und doch wäre es töricht von Ihnen gehandelt,
wenn Sie einer Ehe auf Abbruch wegen auf das verzichten
wollten, was Ihnen zusteht. Die Ehe ist stets ein Glücksspiel
– ob so oder so. Zu Ihrer Beruhigung will ich Ihnen sagen,
daß ich es fabelhaft interessant finde, vom Schicksal
sozusagen meine Frau in die Arme gelegt zu bekommen.
Und Liebe? Über das Märchen dürften wir modernen
Menschen doch wohl schon hinweg sein. Wie heißt es in
dem zwar nicht so sehr geschmackvollen, doch treffenden
Schlager? ›So was von Kitsch wie die Liebe‹. Also, mein
gnädiges Fräulein, machen Sie sich da keine
Gewissensbisse. Meiner Ansicht nach werden wir ein
ideales Ehepaar werden. Denn je weniger wir uns kennen,
und je weniger wir uns gegenseitig belästigen, um so
zufriedener werden wir sein. Haben Sie noch etwas
einzuwenden?«
So etwas von Arroganz war dem weit- und
menschenkundigen Fräulein Bracht denn doch noch nicht
vorgekommen. Ihre wunderschönen Augen, die ihr tiefes,
weiches Blau verloren hatten und nun fast grau wirkten wie
Erz, sahen ihn hart an. Und so hart war auch ihre Stimme,
als sie erwiderte:
»Gewiß habe ich etwas einzuwenden, Herr Graf Regglin!
Ich will nicht!«
»Aber ich!« klirrte nun seine Stimme auf, als wenn Stahl
auf Eisen schlägt. »Merken Sie sich, ein Regglin bleibt
keinem etwas schuldig – am wenigsten einem Fräulein
Bracht.«
Sie zückte unter seinen schonungslosen Worten zusammen
wie unter einem grausamen Hieb. Drohend war der Blick,
der den ihren kreuzte, drohend und warnend zugleich.
Da neigte sie wie gottergeben das lockige Haupt. Nein,
dieser Mann ließ sich nichts schenken. Er würde die Schuld
seines Vaters sühnen, und wenn er dabei Gewalt anwenden
müßte. Also war es zwecklos, sich gegen seinen Willen
aufzulehnen.
»Also, meine liebe Mary…«
Ihr erstaunter Blick ließ ihn innehalten…
»Mary? Wie kommen Sie darauf, Herr Graf?«
»Nicht? Dann Mabel – oder Maud. Auch vorbeigetippt? Ja,
wie denn?«
»Rotraut.«
»Ah, wie heißt König Ringangs Töchterlein? Also, meine
liebe Rotraut, laß dir hiermit sagen, daß nichts auf der Welt
mich davon abhalten wird, dem Willen deines Vaters
gerecht zu werden und dich zu heiraten. Betrachte dich
bitte als meine Braut. Den üblichen Verlobungsreif habe
ich leider noch nicht erstanden, ergo mußt du solange mit
diesem vorliebnehmen…«
Er zog den Siegelring vom kleinen Finger und griff, ohne
auf ihr Sträuben zu achten, nach ihrer linken Hand.
»Schade, noch zu groß. Wenn man aber auch solche
Liliputfingerchen hat, können meine Pranken natürlich
nicht mithalten. So, der Ring wäre da, wenn er auch von
der Schablone abweicht. Um so schablonenmäßiger soll
der Verlobungskuß ausfallen.«
Er beugte sich vor, um Rotraut an sich zu ziehen, doch
blitzschnell sprang sie auf und stand nun vor ihm. Ihre
Augen sprühten in verletztem Stolz.
»Ich liebe keine Küsse, Herr Graf Regglin«, sagte sie
hochmütig. »Denn ich bin derselben Ansicht wie Sie: ›So
was von Kitsch wie Liebe‹.«
Es zuckte in seinen Augenwinkeln, das war immer das
Zeichen dafür, daß er verletzt war. Davon spürte das
Mädchen allerdings nichts, als er spöttisch sagte:
»Hast recht, mein Kind. Aber sag du zu mir. Oder willst du
mich immer weiter mit Herr Graf Regglin anreden?«
»Ich muß mich erst an das Du gewöhnen.«
»Hoffentlich geht das schnell. Doch du schaust so unruhig
auf deine Armbanduhr, hast du etwas Besonderes vor?«
»Ja, eine Verabredung mit Freunden.«
»So, ach! Bist du oft mit ihnen zusammen?«
»Sehr oft.«
»Liebe Rotraut, es tut mir leid, aber von dieser Gewohnheit
wirst du lassen müssen. Was nämlich einem Fräulein
Bracht gestattet ist, das darf eine Gräfin Regglin sich noch
lange nicht erlauben.«
Sie fuhr hastig auf, sah ihm in das arrogante Gesicht und
unterließ dann achselzuckend die heftige Entgegnung. Es
war ja doch zwecklos, mit diesem Mann zu streiten, der
einen Willen so hart wie Eisen zu haben schien.
»Laß deinen Kavalieren also Bescheid zukommen, daß ich
sie heute würdig vertreten werde«, sagte er in einem Ton,
der keine Widerrede duldete. »Dann richte dich so ein, daß
wir morgen nach Regglinsgrund fahren können, damit ich
dich mit meiner Mutter bekannt machen kann.«
»Was, eine Mutter haben Sie auch noch?« fragte sie so
komisch entsetzt, daß er lachen mußte.
»Du hast wohl schon an mir genug, Rotraut. Aber laß nur,
meine Mutter ist bedeutend harmloser als ich. Sie wartet
sehnsüchtig darauf, ihre Schwiegertochter in die Arme
schließen zu können.«
»Ihr Spott rührt mich gar nicht, Herr Graf. Ihre Mutter wird
sich bis nach der Hochzeit gedulden müssen, meine
Bekanntschaft zu machen. Denn früher komme ich nicht
nach Regglinsgrund. Treffen Sie nach Ihrem Wunsch die
Vorbereitungen, ich werde mich in alles fügen. Wenn diese
geschmacklose Heirat nun einmal sein muß, so ist es mir
gleichgültig, wie und wann die Komödie vor sich geht.«
Harro kniff die Augen zusammen, in deren Winkeln es
nervös zuckte.
»Von welcher Komödie sprichst du denn?«
»Die bei unserer Hochzeit in Szene gesetzt werden wird«,
gab sie hochmütig zur Antwort.
»Du scheinst ja eine merkwürdige Auffassung zu haben,
mein Kind. Versuche nur nicht, dich bei der Komödie
anders zu benehmen, als es der zukünftigen Gräfin Regglin
zukommt.«
»O weh«, sie lächelte ironisch. »Wie wird es mir da
ergehen? Wäre es nicht ratsam, Herr Graf, wenn Sie mir
eine schriftliche Anweisung zukommen lassen würden, wie
ich mich als Gräfin Regglin zu verhalten habe?«
Langsam erhob er sich von seinem Sitz, so daß auch sie
unwillkürlich aufstand. Die Mundwinkel verächtlich
geschürzt, in den Augen ein mitleidiges Lächeln, so hielt sie
seinem Blick stand, der drohend auf sie gerichtet war. Als er
sprach, klang seine Stimme hart und scharf.
»Zuerst laß einmal das alberne Herr Graf, mein Kind. Und
dann wünsche ich, daß du so vor den Altar trittst, wie es
bei uns üblich ist, denn jedes Land hat andere Sitten.
Daher wird meine Mutter dich mit den unseren bekannt
machen.«
»Nicht erforderlich«, tat sie mit einem sonderbaren Lächeln
ab. »Da ich seit fünf Jahren fast ausschließlich in
Deutschland gelebt habe, sind mir Sitten und Gebräuche
wohlbekannt.«
In seinen Augen blitzte es überrascht auf.
»So lange bist du schon von Amerika fort? Wo hast du
denn gelebt?«
»Wir hatten keinen ständigen Wohnsitz, da die Krankheit
meines Vaters immer wieder Luftveränderung notwendig
machte. Zwar fuhren wir im Jahr einige Male in die Heimat
zurück, wo wir jedoch nicht lange bleiben konnten, weil
Vater das dortige Klima nicht vertrug. Seit seinem Tode
habe ich Deutschland nicht mehr verlassen, lebte mal hier,
mal dort.«
»So ohne jeden Schutz – bei deiner…«
Er sprach das Wort: Schönheit nicht aus. Trotzdem hatte sie
verstanden und lächelte hochmütig.
»Wozu brauche ich einen Schutz? Ich bin viel zu
selbständig erzogen, um mich beschützen zu lassen.
Außerdem lebe ich unter der Obhut einer mütterlichen
Dame, die dürfte doch wohl Schutz genug sein.«
»Merkwürdig. Na, du kommst jetzt ja bald in geordnete
Verhältnisse, denn die Hochzeit wird in vier bis fünf
Wochen stattfinden. Und daher wäre es gut, wenn du mit
mir nach Regglinsgrund kämst, damit du dir die Zimmer
nach deinem Geschmack einrichten lassen kannst.«
»Das ist doch so unwichtig«, meinte sie fast verächtlich.
»Zum Hochzeitstag werde ich mich in Regglinsgrund
einfinden, früher nicht.«
Sie stand vor ihm in einer ungezwungenen Haltung, die
ihrer Persönlichkeit ein so selbstsicheres Gepräge gab.
Daher machte sie nicht den Eindruck, als würde sie sich
seinen Wünschen fügen – wenn sie es nicht aus
Vernunftsgründen für erforderlich hielt.
Harro betrachtete sie mit einem Lächeln, wie man es für
widerspenstige Kinder hat. Unter diesem Blick stieg ihr
langsam dunkle Röte ins Gesicht. Ihre blauen Augen
wurden fast schwarz, die Nasenflügel bebten. Er schien es
jedoch nicht zu bemerken. Doch als er sprach, klang in
seiner Stimme ein Ton von Gereiztheit mit.
»Du wirst dir deine Selbständigkeit abgewöhnen müssen,
meine liebe Rotraut – ebenso dein freies, ungebundenes
Leben. Da unsere Heirat aus dem gewöhnlichen Rahmen
fällt, stehen wir mehr im Brennpunkt des Klatsches als
andere Menschen. Im allgemeinen pflege ich mich ja wenig
darum zu kümmern, aber wenn es sich um Regglinsgrund
handelt, wo ich meinen Leuten mit gutem Beispiel
voranzugehen habe, muß ich auf meinen guten Ruf
bedacht sein. Und du als meine Frau bist genauso dazu
verpflichtet.«
Rotraut stand gegen einen Sessel gelehnt. Die Hand, die auf
dessen Lehne lag, zitterte heftig. Mit einer Stimme, die ihr
selber fremd vorkam, antwortete sie:
»Ich habe verstanden. Und ich mache Sie noch einmal
darauf aufmerksam, daß es gewagt ist, ein Mädchen zu
heiraten, dessen Vergangenheit Ihnen unbekannt ist.«
»Mir bleibt leider keine andere Wahl, mein Kind.«
»Und wenn ich nun auf die Ehre, Gräfin Regglin zu
werden, verzichte?«
»Dann müßte ich dich dazu zwingen.«
»Das würden Sie tun?«
»Unbedingt. Nichts wird mich davon abbringen, mich dem
Willen deines Vaters zu fügen und damit die Schuld des
meinen zu sühnen, da ich ihm auf dem Sterbebett mein
Wort gab. Du solltest einsichtsvoll genug sein, mich mit
deiner Widerspenstigkeit nicht wortbrüchig zu machen.«
»Ich bin aber keine Sklavin!« rief sie erbittert aus. »Ich will
nicht in einer Ehe leben, die einem Kerker gleicht. Lassen
Sie mich doch endlich in Frieden. Nehmen Sie das Geld,
das mein Vater…«
»Halt!« unterbrach er sie eisig. »Nun verstehe ich. Du
wolltest wie das Mädchen im Märchen in mein Leben
treten und mich mit deinem Goldregen überschütten. Das
war geschmacklos von dir. Denn zu deiner Beruhigung will
ich dir sagen, daß ich dein Geld nicht brauche.
Regglinsgrund steht finanziell so gut da, daß selbst die
Inflation seine Grundfesten nicht erschüttern konnte.«
»Dann verstehe ich meinen Vater immer weniger«, sagte sie
fassungslos, und er lächelte ironisch.
»Dafür verstehe ich ihn um so besser. Er wollte seine
Tochter in einer Stellung sehen, die er ihr selbst mit seinem
vielen Geld nicht erkaufen konnte. So kam es ihm sehr
gelegen, daß mein Vater ihm ehrenwörtlich verpflichtet
war, jedem seiner Wünsche Rechnung zu tragen.«
Rotraut erblaßte tief. Das bezaubernde Köpfchen senkte
sich, ein hartes Aufschluchzen ließ den schlanken Körper
erbeben.
»Pfui!« rang es sich dann von ihren entfärbten Lippen. Und
noch einmal: »Pfui!«
Sie hob auch nicht den Kopf, als er in wärmerem Ton
weitersprach:
»Wenn es dir so schwerfällt, mit mir nach Regglinsgrund zu
kommen, dann will ich dich dazu nicht zwingen. Du mußt
mir nur versprechen, daß du das tun willst, was ich von dir
verlangen muß. Gibst du nun deinen Widerstand auf?«
Sie nickte, ohne ihn dabei anzusehen. Im nächsten
Augenblick schrak sie zusammen, als etwas gegen das
geschlossene Fenster prallte. Hastig trat sie hinzu, öffnete es
– und schon flog ihr eine Rose vor die Füße. Unten stand
der Spender, ein Jüngling noch, rank und schlank
gewachsen. Die Augen sprühten in dem sonnengebräunten
Antlitz vor Lebensfreude.
»Hallo, gnädiges Fräulein!« rief er lustig. »Nennen Sie das
etwa pünktlich? Wir warten hier geduldig wie die Lämmer.«
Bei seinem Anblick wurde Rotraut wieder froh. Etwas
Schweres fiel von ihr ab, das sie zu erdrücken gedroht
hatte.
»Gerade Sie kommen mir ganz wie ein Lamm vor«, rief sie
ihm lachend zu. »Wird es Sie enttäuschen, wenn ich sage,
daß ich den Ausflug nicht mitmachen kann, weil ich
Besuch bekommen habe?«
»Waaas – Besuch – ausgerechnet heute? Können Sie den
nicht per Expreß auf den Blocksberg schicken?«
»Frechdachs!« drohte sie. »Wir sprechen und noch.«
Ehe sie das Fenster schloß, erreichte sie der Ruf:
»Oder bringen Sie Ihren Besuch mit!«
Durch die Scheibe winkte sie ihm zu und wandte sich dann
ins Zimmer zurück. Noch lag ein Lachen auf ihrem Gesicht,
das jedoch schwand, als sie die abweisende Haltung des
Grafen sah.
»Ich werde mich jetzt empfehlen und dich im Speisesaal
erwarten«, sagte er kurz. Dann verließ er das Zimmer.
Rotraut Bracht stand inmitten einer Gruppe von Damen
und Herren, als Graf Regglin den Speisesaal betrat. Sie
sprachen eifrig auf sie ein, was sie sich lächelnd gefallen
ließ. Trotz aller Liebenswürdigkeit lag eine Reserviertheit in
ihrem Wesen, die jede Vertraulichkeit ausschloß. Sie war
jetzt ganz Dame, wie Harro befriedigt feststellte. Als er, von
ihr unbemerkt, vorüberging, hörte er sie sagen:
»Es geht wirklich nicht, meine Herrschaften. Ich kann
meinen Gast nicht allein lassen, und begleiten mag er mich
nicht. Also muß ich dem Ausflug fernbleiben.«
»Dann schieben wir ihn eben auf«, bestimmte der junge
Mann, der ihr die Rose ins Zimmer geworfen hatte. »Ohne
Sie macht uns die Partie einfach keinen Spaß.«
Damit waren alle einverstanden. Freundlich verabschiedete
Rotraut sich und sah sich nach ihrem Gast um, den sie
auch bald entdeckte. Als sie auf ihn zutrat, erhob er sich,
rückte einen Sessel zurecht und nahm dann ihr gegenüber
Platz. Das alles war von den anderen Gästen nicht
unbemerkt geblieben. Man zerbrach sich den Kopf, wie
Fräulein Bracht zu der Bekanntschaft dieses Mannes, dessen
Namen man bereits diskret erforscht hatte, gekommen sein
könnte. Am meisten beschäftigte sich wohl die Dame
damit, die Harro gestern abend für Fräulein Bracht gehalten
hatte. Sie machte auch heute kein Hehl daraus, wie gut ihr
der interessante Mann gefiel, und suchte durch kokette
Blicke seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, was ihr
jedoch nicht gelang.
Harro hatte es wohl bemerkt, aber er war zu gut erzogen,
um mit einer Dame am Tisch zu sitzen und mit der
anderen zu flirten. Er beugte sich ein wenig vor und fragte
Rotraut leise:
»Kennst du die dunkle extravagante Frau am Nebentisch?«
»Ja«, gab sie ebenso leise zurück. »Es ist Fräulein Bach.
Mehr weiß ich nicht von ihr.«
»Interessiert mich auch nicht. Ich habe sie nämlich gestern
abend für dich gehalten.«
Erschrocken sah sie ihn an.
»Ein solches Bild haben Sie sich von mir gemacht? Dann
allerdings. Denn mit dieser Dame verwechselt zu werden,
ist alles andere als eine Schmeichelei.«
»Entschuldige, Rotraut. Man macht sich von einem
Menschen, den man kennenlernen soll, immer ein Bild.«
»Selbstverständlich«, lächelte sie spöttisch. »Und wenn
diese Dame nun ich gewesen wäre, wie hätten sich dann
die ihr eigenen Gewohnheiten mit der Stellung einer
Gräfin Regglin vertragen?«
»Ich hätte sie ihr abgewöhnt, verlaß dich drauf.«
O ja, sie glaubte es ihm. Er konnte unbarmherzig sein,
wenn er seinen Willen durchsetzen wollte.
Um dem Gespräch eine Wendung zu geben, fragte sie:
»Haben Sie schon einen Plan für heute nachmittag?«
»Nein.«
»Möchten Sie hierbleiben, ausfahren, wandern? Lieben Sie
einsame Orte oder solche, die von Menschen belebt sind?«
»Ich möchte an einen möglichst ruhigen Ort, und wenn es
geht, dorthin wandern.«
»Dann kenne ich eine idyllisch gelegene Waldschenke. Der
Weg ist nicht weit und führt durch den Wald. Ich gehe sehr
gern dorthin. Nur ist das Gasthaus primitiv. Hoffentlich
schreckt Sie das nicht ab.«
»Du scheinst mich ja für einen Snob zu halten. Bedenke,
daß ich Jahre hindurch an der Front war. Da hat man uns
im Schützengraben schon die feinen Allüren abgewöhnt.
Einen Holzstuhl zum Sitzen wird es in der Schenke wohl
geben und einen Topf mit Kaffee dazu. Mehr verlange ich
nicht.«
Nun mußte Rotraut lachen. Es war ein so herzfrohes,
goldiges Lachen, das alle im Saal entzückt aufhorchen ließ.
»Dann bin ich beruhigt.«
Nach dem Essen suchten sie ihre Zimmer auf. Harro zog
sich um und ging an den Strand. Zuerst schlenderte er
umher und setzte sich dann auf eine Bank, die abseits auf
einer kleinen Anhöhe stand. Von hier aus konnte er den
Strand und einen Teil der Promenade übersehen, ohne
selbst von dort aus gesehen zu werden. Die Aussicht war
einzig schön, und die Augen des naturliebenden Mannes
nahmen das Bild mit Entzücken in sich auf.
Trotz der Mittagsstunde badeten einige Menschen. Eine
Dame, deren rote Badekappe in der Ferne leuchtete, hatte
sich zu weit hinausgewagt. Der Bademeister tutete so
anhaltend, daß die Kühne sich zur Umkehr entschließen
mußte.
Harro verfolgte den Vorgang mit Interesse. Daß die
Menschen doch immer und überall übertreiben mußten!
Das Schwimmbad war so groß, daß man sich innerhalb
seiner Grenzen nach Herzenslust austummeln konnte. Aber
nein, man mußte etwas Besonderes haben, und wenn man
damit auch sein Leben aufs Spiel setzte.
Nun war die leichtsinnige junge Dame schon so nahe
herangekommen, daß Harros scharfes Jägerauge in ihr
Rotraut Bracht erkannte. Sie winkte dem Bademeister
lachend zu, der sie gutmütig ausschalt. Doch er erreichte
damit, daß die Schwimmerin nicht mehr über das Ziel
hinausschoß. Zehn Minuten später kam sie aus dem
Wasser und war gleich darauf Regglins Augen
entschwunden.
Dieser war nicht wenig erstaunt, als sich bald danach
Fräulein Bach zu ihm gesellte.
»Ich habe Sie eifrig gesucht«, bekannte sie lachend und
ohne jede Spur von Verlegenheit. »Lieben Sie immer solche
Verstecke?«
»Wenn ich vor Aufdringlichkeit sicher sein will, ja.«
»Damit wollen Sie mich wohl loswerden? Das gelingt
Ihnen nicht, Herr Graf. Ich bin froh, wenn ich mal einen
Mann erwische, der von der Blödheit der anderen absticht.«
»Tun Sie Ihre Ansicht immer so offen kund, mein
Fräulein?«
»Warum nicht? Sehen Sie mich nicht so mißbilligend an,
ich bin nicht halb so schlimm, wie Sie denken. Ich
langweile mich bloß. Und daran ist Fräulein Bracht schuld,
die alle einigermaßen vernünftigen Männer anzieht wie das
Licht die Motten. Obgleich sie über alle Begriffe hochmütig
ist, ist die Männlichkeit in sie verliebt. Selbst das
Hotelpersonal ist ganz verdreht. Ich zahle doch bestimmt
keine geringeren Preise, gebe genauso gute Trinkgelder –
und doch wird mit mir kein Aufhebens gemacht.
Lächerlich!«
Wer weiß, was sie Harro noch alles erzählt hätte, wenn sie
nicht plötzlich abgerufen worden wäre. Und so plötzlich,
wie sie aufgetaucht, war sie auch wieder verschwunden. Er
kam nicht dazu, über das sonderbare Mädchen
nachzudenken, weil in der Nähe Stimmen laut wurden.
Eine davon erkannte er sofort als die Rotrauts. Sie war
weich, melodisch und hatte einen leicht fremdländischen
Klang.
»Reden Sie doch nicht solchen Unsinn, Herr Larn«, hörte
Harro sie sagen. Und darauf die Antwort:
»Sie haben Schuld, wenn ich melancholisch werde,
gnädiges Fräulein.«
»Wie gräßlich«, neckte sie. »Auf so was soll die Natur
beruhigend wirken. Bleiben Sie also stehen und schauen
Sie hinunter. Wundervoll die Landschaft, nicht wahr?«
Sekundenlang war es still, dann sprach Larn wieder:
»Gnädiges Fräulein?«
»Nun?«
»Ich habe mich doch so sehr auf den Ausflug in Ihrer
Gesellschaft gefreut, und ausgerechnet heute müssen Sie
verhindert sein. Können Sie Ihren feudalen Gast nicht mit
dem nächsten Zug abschieben? Es gibt doch so viele
Ausreden! Sagen Sie, Ihre Großmutter sei krank, oder Sie
führen zu Ihrer Verlobung…«
Rotraut unterbrach seine weiteren Vorschläge durch ein
herzliches Lachen.
»Nein, Herr Larn, so schwindeln kann ich nicht. Sie als
wohlerzogener junger Mann sollten doch wissen, daß man
einen Gast höflich und zuvorkommend behandeln muß.
Aber seien Sie nicht gar zu betrübt, denn einen Trost kann
ich Ihnen geben – er fährt morgen wieder ab.«
»Das ist höchst vernünftig von dem Herrn. Und im übrigen
haben Sie wie immer recht, gnädiges Fräulein. Also dann
viel Vergnügen für heute. In Ihrer Haut möchte ich nicht
stecken, weil ich nicht wüßte, was ich mit einem solchen
feudalen Gast anfangen sollte. Mir würden Herz und
Nieren einfrieren bei so viel Unnahbarkeit.«
Mehr konnte Harro nicht hören, da das Paar langsam
davongegangen war. Jetzt verließ auch er seinen Platz, denn
es wurde langsam Zeit, sich zu dem verabredeten
Spaziergang einzufinden.
Rotraut war pünktlich zur Stelle. Sie trug ein weißes Kleid,
das von ausgesuchter Eleganz war. Den Kopf zierte ein
allerliebstes Mützchen, unter dem das flimmernde
Lockenhaar keck hervorlugte. Leichtfüßig schritt sie an
seiner Seite dahin und gab sich alle Mühe, ihren Gast zu
unterhalten. Als er jedoch nur einsilbige Antworten gab, da
schwieg sie auch.
Verstohlen musterte sie den Mann, von dessen Existenz sie
bis vor wenigen Tagen noch keine Ahnung gehabt hatte,
und den sie nun heiraten sollte.
Unmögliches Verlangen! Alles in ihr bäumte sich gegen das
harte Gebot des Vaters auf. Wenn sie den Mann an ihrer
Seite bitten würde, so recht flehentlich bitten, diese Ehe auf
Abbruch, wie er sie genannt hatte, gar nicht erst zustande
kommen zu lassen vielleicht…?
Doch da fielen ihr die Worte ein, die er ihr heute gesagt
hatte:
»Du solltest einsichtsvoll genug sein, nicht zu versuchen,
mich mit deiner Widerspenstigkeit wortbrüchig zu
machen.«
Da neigte sie den Kopf, um die Tränen nicht sehen zu
lassen, die ihr heiß in die Augen stiegen. Sie erschrak, als
die sonore Stimme neben ihr aufklang.
»Tränen, Rotraut? Wie töricht.«
Also hatte er sie beobachtet, obwohl er wie gelangweilt
neben ihr hergegangen war. Erleichtert atmete sie auf, als
sie wenige Minuten später den Gasthausgarten betraten, wo
ihnen der Wirt entgegenkam.
»Guten Tag, gnädiges Fräulein«, grüßte er erfreut. »Ich habe
Sie heute nicht erwartet. Zum Glück ist Ihr Lieblingsplatz
noch frei. Womit darf ich den Herrschaften dienen?«
»Mit Ihrer Spezialität«, entgegnete sie freundlich. »Mein
Gast wird diese bestimmt zu würdigen wissen.«
Der Mann eilte davon, und Rotraut schritt zu einem
abgelegenen Platz, wo an einem runden Tisch zwei
Korbsessel standen, die bunte Kissen sehr einladend
machten. Als sie Platz genommen hatte, fragte sie zaghaft:
»Gefällt es Ihnen hier?«
»Sehr. Ein wirklich idyllisches Plätzchen, das du entdeckt
hast. Bist du öfters hier?«
»Zweimal in der Woche bestimmt. Ich liebe den Wald so
sehr, daß ich mir immer gewünscht habe, eine Förstersfrau
zu werden.«
Sie sah dem Wirt entgegen, der sich mit einem
vollbesetzten Tablett näherte. Frische Waffeln, goldgelbe
Butter und Landbrot stellte er auf den Tisch. Dazu eine
Kanne, der ein aromatischer Duft entstieg.
»Ist’s recht so, gnädiges Fräulein?«
»Sehr recht, Herr Wirt. Sie wissen doch, daß ich bei Ihnen
stets einen guten Appetit habe.«
»Das freut mich, gnädiges Fräulein. Gestatten Sie, daß ich
Ihnen zu Ihrem gestrigen Erfolg gratuliere. So ein
schneidiges Spiel hat unser Bad schon lange nicht
gesehen.«
»So waren Sie gestern auch zum Tennisturnier?« fragte sie
überrascht.
»Ja. Ich habe Sie ehrlich bewundert, gnädiges Fräulein.«
»Bei meinem mittelmäßigen Spiel?« lachte sie fröhlich. »Ich
hatte Dusel, daß meine Gegenspieler so schlecht in Form
waren, sonst hätte ich sie gewiß nicht schlagen können.«
»Gestatten Sie, gnädiges Fräulein, daß ich anderer Ansicht
bin«, lächelte der Wirt. Da er jedoch merkte, daß seinem
Gast das Gespräch irgendwie unangenehm war, sprach er
nur noch einige belanglose Worte und ging dann.
Rotraut füllte nun die feinen Tassen, die sicherlich nicht für
den Ausschankbetrieb bestimmt waren, und meinte dann:
»Hoffentlich wird er Ihnen schmecken.«
»Wahrscheinlich. – Ich bin nur neugierig, wie lange du
noch das steife Sie beibehalten wirst.«
»Ich werde schon noch umlernen«, entgegnete sie verlegen.
»Es ist wirklich nicht leicht, einen fremden Menschen zu
duzen.«
»Ungeschickte Ausrede, mein Kind. Kenne ich dich etwa
länger als du mich? Und mir fällt es durchaus nicht schwer,
das Du zu gebrauchen. Im übrigen darf ich als dein
Verlobter dir nicht fremd sein. Du scheinst das Verhältnis,
in dem wir zueinander stehen, immer noch zu verkennen.«
»Lassen wir das jetzt«, bat sie. »Wozu sollen wir uns die
Kaffeestunde mit unerquicklichen Gesprächen verderben.«
Harro sah sie drohend an, und drohend klang auch seine
Stimme, als er sagte:
»Wahrscheinlich ist es dir nicht bewußt, wie unhöflich du
bist, meine liebe Rotraut. Wenn du auch nur
gezwungenermaßen meine Braut geworden bist, so solltest
du doch wenigstens so taktvoll sein, das mich nicht
andauernd empfinden zu lassen.«
Langsam stieg ihr dunkle Röte ins Gesicht. Sie murmelte
eine Entschuldigung und gab sich fortan Mühe, ihn
angenehm zu unterhalten. Er blieb jedoch verstimmt, aß
nur wenig und erhob sich sofort, als Rotraut zum Aufbruch
mahnte.
Regglin blieb auch auf dem Rückweg einsilbig, so daß sie
erleichtert aufatmete, als das Kurhaus erreicht war.
Nach dem Abendessen bat Rotraut, sich zurückziehen zu
dürfen, weil sie müde sei. Ihre Entschuldigung trug ihr
einen ironischen Blick ein.
»Na schön. Sehe ich dich morgen noch vor meiner
Abreise?«
Ihm entging das überraschte Aufblitzen in ihren Augen
nicht. Es klang jedoch harmlos, als sie fragte:
»Wollen Sie denn morgen schon wieder fort?«
»Bei deiner liebenswürdigen Behandlung bleibt mir wohl
nichts anderes übrig. Da ich annehme, daß du
Langschläferin bist, möchte ich mich jetzt verabschieden.
Gute Nacht, Rotraut – und auf Wiedersehen in
Regglinsgrund.«
Sie reichte ihm die Hand, die er höflich an die Lippen zog,
und hastete dann die Treppe empor, von Herzen froh,
diesen schwierigen Gast endlich los zu sein.
Harro sah ihr spöttisch nach, steckte eine Zigarette in Brand
und schlenderte dann zur Strandpromenade hinunter, die
recht belebt war. Vor ihm ging eine Dame in Begleitung
zweier Herren, mit denen sie sich laut unterhielt. Eben
sagte einer der beiden:
»Da bin ich doch neugierig, wer morgen den ersten Preis
bekommen wird.«
»Selbstverständlich Schön-Rotraut«, erwiderte die Dame.
»So resigniert, mein gnädiges Fräulein? Wollen Sie denn gar
nicht versuchen, wenigstens in Konkurrenz zu treten?«
»Ich habe doch nicht den Größenwahn«, lachte sie
vergnügt. »Mein Lieber, mit einem Fräulein Bracht
konkurriert es sich nicht so leicht. Dazu fehlt den meisten
Festteilnehmerinnen das Geld und außerdem die
zauberhafte Schönheit.«
»Also kein bißchen neidisch?«
»Sollte mir einfallen. Glücklicher und zufriedener, als ich es
bin, kann auch das Fräulein Bracht nicht sein.«
Da sie nun rascher ausschritten, konnte Harro von der
weiteren Unterhaltung nichts mehr verstehen. Er
schlenderte noch eine Weile dahin und kehrte dann zum
Hotel zurück. Als er sein Zimmer erreicht hatte, rief er den
Diener herbei:
»Albert, versuchen Sie herauszubekommen, was für ein Fest
morgen hier stattfindet.«
Schon zehn Minuten später hatte er Bescheid. Ein Volksfest
sollte steigen, zu dem Erwachsene sowie Kinder irgendeine
Märchengestalt darzustellen hätten.
»Großer Umzug, anschließend Ball und Prämierung der
schönsten Gestalten«, schloß der Diener seinen Bericht.
»Danke, Albert. Wir reisen erst übermorgen ab.«
Als Harro Regglin am nächsten Morgen die Terrasse betrat,
um dort sein Frühstück einzunehmen, waren erst wenige
Gäste anwesend. Die meisten lagen wohl noch im tiefen
Schlaf. Wie beiläufig fragte er den Ober, der ihm das
Frühstück servierte:
»Wann pflegt Fräulein Bracht zu frühstücken?«
»Gewöhnlich um acht Uhr, Herr Graf. Doch heute geschah
es bereits eine Stunde früher, weil das gnädige Fräulein in
Begleitung einiger Herren und Damen eine Segelfahrt
macht. Sie wird erst zum Mittagessen zurückerwartet.«
Harro dankte für die Auskunft und verzehrte dann mit
Appetit sein Frühstück. Am Nebentisch saß eine Dame, auf
die ein reizender Backfisch zueilte.
»Wie häßlich alle zu mir sind, Mutti«, klagte sie weinerlich.
»Ich habe mich so sehr auf die Segelfahrt gefreut, und nun
sind sie ohne mich fort. Warum hast du mich nicht
geweckt?«
»Tat ich, mein Herzchen, aber du warst einfach nicht
wachzukriegen. Fräulein Bracht hat noch zehn Minuten
über die vereinbarte Zeit gewartet, doch da die anderen
ungeduldig wurden, mußte sie mit ihnen gehen. Sei nicht
traurig, mein Kind. Bist ja gestern ausgewesen.«
»Und das war herrlich, Mutti! Es war schon nach
Mitternacht, als wir aufbrachen, weil Fräulein Bracht nicht
länger bleiben mochte. Sie hat sich meiner so lieb
angenommen, ich mag sie schrecklich gern.«
Während dieser Beteuerung biß sie mit ihren festen
Zähnchen in das Schwarzbrot, das ihr so gut zu munden
schien, daß sie darüber ihren Kummer vergaß. Als sie
Harros ansichtig wurde, tuschelte sie zu ihrer Mutter hin,
die ihr jedoch mit einem warnenden Blick Schweigen
gebot.
Harros Stimmung war alles andere als rosig, als er sich
erhob und die Terrasse verließ. Kein Wunder, da ihn
Rotraut gestern abend so früh verabschiedet hatte, um sich
hinterher bis Mitternacht im Freundeskreis zu vergnügen.
Er sagte Albert Bescheid, daß er einen Spaziergang machen
wolle und zum Mittagessen nicht zurückzuerwarten sei.
Während er dann langsam durch den Wald schritt, legte
sich seine Verstimmung, so daß er bald die
Naturschönheiten aus vollem Herzen genießen konnte. In
einem Waldlokal machte er Rast, aß auch dort zu Mittag
und trat dann langsam den Rückweg an. Als er den Kurort
erreicht hatte, war der kaum wiederzuerkennen in seinem
festlichen Schmuck. Es blieb Harro gerade noch genügend
Zeit zum Umkleiden, dann meldete die Kurkapelle auch
schon den Beginn des Umzugs.
Harro sah von einem versteckten Platz aus auf das
farbenprächtige3ild. Unendlich reich war die Phantasie der
Menschen. Man fühlte sich wie ins Märchenland versetzt.
Hier der Wagen mit dem Dornröschen und dem Prinzen,
da Schneewittchen mit den allerliebsten Zwergen, dort
König Drosselbart, der die lächerlich verkleidete Prinzessin
mit sich führte. Dann Brüderchen und Schwesterchen,
selbst das zahme Reh fehlte nicht. Aschenputtel, Hansel
und Gretel, Frau Holle, Hans im Glück waren zu sehen.
Jede Figur war meisterhaft dargestellt. Die Preisrichter
würden abends schwere Arbeit haben, die schönsten der
schönen Gestalten herauszufinden. Und wie herzig die
lachenden Kinder waren, mit welchem Eifer sie ihre Rollen
verkörperten!
Schade, daß der lange Zug überhaupt ein Ende nahm. Die
Menschenmenge, die sich am Wege staute, wollte sich
bereits zerstreuen, als noch einmal heller Jubel ausbrach.
Ein Jagdhorn erschallte. Gleich darauf wurde ein weißes
Roß sichtbar, das eine wunderschöne Reiterin trug. Ihr zur
Seite ritt auf dunklem Pferd ein schlanker Page in
Samtwams und Federhut. Viel prächtigere Gestalten waren
vorübergezogen; aber diese beiden hatten etwas an sich,
daß man bei ihrem Anblick den Atem anhielt vor
Entzücken. Die zaubersüße Gestalt im schneeigen,
wallenden Kleide, mit dem funkelnden Diadem im
Lockenhaar und dem Rotdornzweig im goldenen Gürtel,
dazu der bildhübsche Page!
»Schön-Rotraut!« jubelten die entzückten Menschen.
Und es lächelte und winkte, des Königs Ringangs
Töchterlein, das da so poetisch verkörpert wurde. Der
schöne Page blies auf dem Jagdhorn das dazu passende
Lied, und diejenigen, die es kannten, sangen begeistert mit:
»Wie heißt König Ringangs Töchterlein?
Rotraut, Schön Rotraut!
Was tut sie denn den ganzen Tag,
da sie nicht weben und spinnen mag?
Tut reiten und jagen…«
Und dann klang es neckend zum Pagen hin:
»Schweig stille, mein Herz…«
Das Paar war so umringt, daß es sich nur mühsam durch
die Menschenmenge drängen konnte. Bis zum Festplatz
wurde es verfolgt, wo es ihm dann gelang, den Begeisterten
zu entfliehen.
Als sich am Abend die geschmückten Menschen im Festsaal
zusammenfanden, waren Rotraut und ihr Partner, Herr
Larn, die einzigen, die ihre Kostüme nicht mehr trugen. Sie
wurden von allen Seiten bestürmt, sich doch wieder mit
den Märchengewändern zu schmücken, doch lachend
lehnten sie ab. Trotzdem drückte man ihnen die
Preisträgerkrone auf den Kopf, was sie sich resigniert
gefallen lassen mußten.
Und sie trugen die Auszeichnung mit Recht. Denn die
Gestalten, die sich in ihren phantastischen Gewändern im
Saal tummelten, hatten schon an Reiz verloren. Doch die
beiden, die wie ein wunderschönes Traumbild an den
begeisterten Menschen vorübergezogen waren, würden
weiter in deren Erinnerung leben.
Fräulein Bracht sah ja auch in ihrem zauberhaften
Abendkleid nicht weiter sinnbetörend aus als im Festzug.
Die Herren wetteiferten um einen Tanz mit ihr.
Nur einer tat es nicht. Der suchte sich andere Tänzerinnen,
mit denen er aufs charmanteste flirtete und dabei manches
Köpfchen verdrehte.
Als Rotraut ihn sah, wollte ihr fast das Herz stillstehen vor
Schreck.
Ja, wie denn? Hatte Regglin am Morgen nicht abreisen
wollen? Und nun machte er hier nach Art eines
routinierten Schwerenöters die Mädchenherzen rebellisch.
Mochte er nur – was ging es sie an? Sie hatte ja nichts
Unrechtes begangen.
Und doch schien er dieser Meinung zu sein; sonst hätte er
sie doch wenigstens begrüßt. Allein, er übersah sie
vollständig, was sie so unangenehm berührte, daß sie bald
das Fest verließ. Als sie sich aber am andern Morgen
erkundigte, ob Graf Regglin noch in seinem Zimmer wäre,
erfuhr sie, daß er vor einer Stunde mit seinem Diener
abgereist sei.
Gräfin Liane saß in ihrem Wohnzimmer, als der Sohn bei
ihr eintraf. »Nanu, Junge, du bist schon zurück?« fragte sie
erstaunt. »Das hört sich fast so an, als wäre dir mein
Anblick unangenehm«, lachte er. »Doch zuerst mal guten
Tag, kleine Mama. Fabelhaft jung siehst du aus.
Das merke ich erst so richtig, nachdem ich dich einige Tage
nicht gesehen habe.«
Er drückte seine Lippen auf ihr Haar, und sie umspannte
dann zärtlich sein Gesicht mit beiden Händen. Dabei sah
sie ihm in die Augen.
Augenblickslang schmiegte er seine Wange an die der
Mutter, dann richtete er sich auf, zog sich einen Stuhl heran
und nahm vor ihr Platz.
»Wie es war? Hochinteressant. Alles ging nach Vorschrift,
und du siehst einen Bräutigam vor dir. Meine Braut ist
persona grata in dem mondänen Bad. Siegt im
Tennisturnier, schwimmt wagehalsig übers Ziel hinaus,
erhält den ersten Preis bei Festlichkeiten, kurz und gut: sie
ist überall die große Hauptperson. Im übrigen kannst du
dir dein Urteil über sie bilden, wenn sie kurz vor der
Hochzeit hier erscheint.«
Damit war sein Bericht abgeschlossen, und der Mutter
wurde das Herz schwer. Sie bildete sich ihr Urteil selbst,
gewiß – und doch hätte sie jetzt gern mehr über Fräulein
Bracht gehört. Harros Verschlossenheit verriet, daß seine
Begegnung mit der jungen Dame durchaus unbefriedigend
verlaufen war.
Persona grata!
Das paßte genau zu dem Bild, das sie sich von dem
Mädchen machte, für das es eine Leichtigkeit war,
möglichst extravagant zu sein. Geld hatte es ja genug.
Entsetzlich diese Art!
Was wird man da noch alles erleben müssen! Mit der
harmonischen Ruhe in Regglinsgrund würde es wohl
vorbei sein, solange dieses Fräulein Bracht in seinen
Mauern weilte. Ärger und Verdruß würden zur
Tagesordnung gehören. Wie schön wäre es, wenn sie
während dieser Zeit auf Reisen gehen könnte. Aber sie
durfte den Jungen nicht verlassen, der sie so liebte. Etwas
wie Haß auf das Mädchen stieg in ihr auf. Wegen dieses
Fräulein Bracht hatte es hier schon so viele unerquickliche
Stunden gegeben, und in Zukunft würden ihnen noch viele
weitere folgen.
Wie auf Verabredung sprach man über die zukünftige Frau
und Schwiegertochter nicht mehr. Man erwähnte sie kaum,
als nach Tagen schon ein junger Mann auftauchte, der
angab, von Fräulein Bracht hergeschickt zu sein, um ihre
Zimmer auszustatten. Nachdem er sich legitimiert und
außerdem noch ein polizeiliches Beglaubigungsschreiben
vorgelegt hatte, nahm man keine Notiz mehr von ihm, der
sich noch einmal melden ließ, als seine Arbeit beendet war
und er um Besichtigung der Räume bat.
Also nahmen Mutter und Sohn sie in Augenschein. Wohn-,
Schlaf- und Ankleidezimmer mit anschließendem Bad,
alles war nicht luxuriös, aber sehr behaglich ausgestattet.
Als die Gräfin sich lobend äußerte, winkte der junge
Innenarchitekt bescheiden ab.
»Ich habe nur ausgeführt, was Fräulein Bracht bis ins
kleinste ausgearbeitet hat. Man kann tatsächlich von der
jungen Dame lernen.«
Gräfin Liane, die an dem Mann Gefallen fand, lud ihn zum
Mittagessen ein. Doch er lehnte höflich aber entschieden
ab, indem er weitere dringende Arbeit vorschützte. Er
verabschiedete sich und verließ eine halbe Stunde später
Regglinsgrund.
Der Hochzeitstag des Herrn von Regglinsgrund war
gekommen, die Vorbereitungen zur Feier hatten viel
Unruhe gebracht. Adelheid hatte ihrer lieben Tante Liane
in den letzten Tagen vor Harros Vermählung wacker zur
Seite gestanden. Selbst Iris war öfter nach Regglinsgrund
gekommen, um ihre Hilfe anzubieten, weil sie von dem
Wahn befallen schien, besser als jede andere ein Fest
arrangieren zu können.
Liane ließ sie in dem Glauben. Denn sie war von Herzen
froh, daß die leidige Geschichte das gute Einvernehmen
mit den Illsunds nicht getrübt hatte. Liane schwieg sich
über die Verlobung des Sohnes aus, auch den Halldungen
gegenüber. Mochte man sich ruhig den Kopf zerbrechen.
Das war immer noch besser, als wenn man die Wahrheit
wußte, durch die die Schuld Bodo Regglins bekannt wurde.
Selbstverständlich blühte der Klatsch an allen Ecken und
Enden, weil diese plötzliche Verlobung doch allzu
merkwürdig war. Und vier Wochen später folgte bereits die
Hochzeit?! O nein, etwas stimmte da nicht!
Kein Wunder, daß man es kaum erwarten konnte, die Braut
kennenzulernen. Das hofften die auswärtigen Gäste, die
bereits in Regglinsgrund eingetroffen waren, schon am
Vorabend der Vermählung.
Und nun, einige Stunden vor der standesamtlichen
Trauung, war sie überhaupt noch nicht da. Man tuschelte,
mutmaßte und erregte sich.
Unterdessen ging Harro im Wohnzimmer seiner Mutter auf
und ab. Diese sah vom Fenster aus auf den geschmückten
Schloßhof hinab. Sie sprachen beide nicht, schauten nur
immer wieder nach der silbernen Uhr, die auf dem Kamin
stand. Tiefe Stille herrschte im Schloß, das doch eigentlich
von Frohsinn erfüllt sein müßte.
Wie sonderbar das Leben doch mit den Menschen spielt,
dachte Liane bedrückt. Schließlich müssen der Junge und
ich noch froh sein, wenn die mißachtete Krämerstochter
überhaupt erscheint. Tut sie es nicht, sind wir dem Spott
der Gäste erbarmungslos ausgeliefert. – Käme es doch
endlich, das kapriziöse Persönchen mit dem
herausfordernden Wesen, wie es reiche, verwöhnte
Mädchen so an sich haben, weil ihnen dank ihres Geldes
die ganze Welt gehört. Wie es sich wohl ausnehmen wird
neben der stolzen Erscheinung meines Jungen? Keine paßt
so gut zu ihm wie Iris Illsund.
»Wir werden wohl Hochzeit ohne Braut feiern müssen,
mein Sohn«, beendete sie das bedrückende Schweigen.
»Man könnte von Herzen gern auf ihre Anwesenheit
verzichten, wenn nicht die Vorbereitungen getroffen und
die Gäste bereits hier wären, wenigstens schon ein Teil von
ihnen!«
Harro blieb vor ihr stehen und sah sie tiefernst an.
»Es wäre nicht gut für mich, wenn sie fortbliebe, Mutter.
Wie sollte ich dann wohl die Schuld des Vaters sühnen?
Aber schau jetzt einmal durchs Fenster.«
Vor dem Portal hielt ein eleganter Viersitzer, an dessen
Steuer eine Dame saß. Eine weitere lehnte im Fond. Die
erste ließ mit einem sonderbaren Lächeln die Augen über
das geschmückte Schloß schweifen und sprach dann mit
dem Diener, der herangetreten war und sich tief vor ihr
verneigte. Das lag sonst gewiß nicht in des hochmütigen
Albert Art.
Nun stieg sie aus dem Auto und war gleich darauf den
spähenden Augen entschwunden. In der Halle, die schon
die ganze Pracht des Schlosses ahnen Heß, schoß es ihr
unwillkürlich durch den Sinn, daß sie dessen Besitzer Geld
angeboten hatte.
Als sich niemand zu ihrer Begrüßung blicken ließ, wandte
sie sich an den Diener, der in respektvoller Entfernung
hinter ihr stand.
»Fragen Sie die Frau Gräfin, wann ich ihr meine
Aufwartung machen darf«, verlangte sie kurz, worauf er
davoneilte, um sehr schnell zurückzukommen.
»Frau Gräfin erwarten das gnädige Fräulein unverzüglich.«
Rotraut musterte ihr Sportkostüm, zuckte dann die Achseln
und folgte Albert. Als sie das Zimmer betrat, streifte ihr
Blick flüchtig die hohe Gestalt des Verlobten. Dann eilte sie
auf die Gräfin zu, die sich langsam von ihrem Sitz erhob.
Sekundenlang hingen die Blicke ineinander. Der Rotrauts
war weich und schmeichelnd, der Lianes kühl und
abweisend. Ebenso klang auch ihre Stimme.
»Sei mir willkommen – ah – tatsächlich – ich weiß noch
nicht einmal deinen Vornamen.«
»Rotraut.«
Augenblickslang blitzte es überrascht in Lianes Augen auf,
dann sagte sie in unverändert kühlem Ton:
»Hoffentlich lebst du dich so gut in Regglinsgrund ein, wie
ich es für dich wünsche. Und dann möchte ich dir sagen,
daß ich dein Benehmen taktlos finde. Seit gestern wartet
das mit Gästen gefüllte Haus auf die Braut, die durch
Abwesenheit glänzt. Ein derartiges Benehmen sind wir hier
nicht gewohnt. Richte dich in Zukunft danach. In einer
Stunde bereits findet die standesamtliche Trauung statt.
Sieh zu, daß du bis dahin mit dem Umkleiden fertig bist.«
Bei diesen scharfen Worten errötete und erblaßte Rotraut in
jähem Wechsel. Sie kam zu keiner Antwort, da die Tür sich
öffnete.
»Tretet nur näher«, ermunterte Liane die Mädchen, die
zögernd auf der Schwelle stehenblieben. Dann stellte sie
vor:
»Die Komtessen Iris und Adelheid Illsund – Fräulein
Bracht.«
Ein formelles Nicken hüben und drüben. Sie standen sich
gegenüber – die Kaufmannstochter und die aus altadligem
Geschlecht. Und obgleich die erstere im einfachen
Sportkostüm war, konnte sie sich mit der elegant
gekleideten Iris mühelos messen – auch was den Hochmut
betraf, mit dem sie sich gegenseitig musterten.
»Ich freue mich, Sie kennenzulernen, Fräulein Bracht.«
Mit einem weichen Lächeln nahm Rotraut die dargebotene
Rechte.
»Ich gewiß auch, Komteß Illsund. Haben Sie Dank für Ihr
Entgegenkommen.«
»Rotraut, es ist allerhöchste Zeit, daß du dich umkleidest«,
mahnte die Gräfin – und schon wich das liebe Lächeln aus
dem Mädchengesicht. Es nahm einen kühlen, ablehnenden
Ausdruck an.
»Ich bin bereit, Frau Gräfin. Wo finde ich meine Zimmer?«
»Der Diener wird dich führen.«
Als dieser auf ein Rufzeichen erschien, folgte Rotraut ihm.
Mit bangen Augen schaute Adelheid auf die Tür, die sich
soeben geschlossen hatte. Harros spöttische Stimme ließ
sie zusammenschrecken.
»Heidekind, du siehst ja aus, als müßtest du in nächster
Minute in Tränen ausbrechen. Hat der Anblick meiner
Braut dich denn so sehr erschüttert?«
Adelheid schüttelte den Kopf, als müsse sie sich gegen
seinen Spott wehren. Dann senkte sie den Blick.
»Sie ist so schön«, murmelte sie. »Viel zu schön – und auch
zu schade.«
»Du bist ja sehr liebenswürdig«, lachte Harro amüsiert,
während Iris ihr einen so wütenden Blick zuwarf, daß sie
von neuem erschrak. Auch die beiden Regglins hatten ihn
bemerkt, und Liane empfand ihn außerordentlich
befremdend. Fragend sah sie zum Sohn auf, der die Achsel
zuckte.
»Es ist nicht alles Gold, was glänzt«, blitzte es humorvoll in
seinen Augen auf, zumal Heidi ihn verständnislos ansah.
»Wie meinst du das, Harro?«
»Vielleicht dachte ich dabei an meine Braut?«
Jetzt amüsierte er sich über den empörten Blick der
Mädchenaugen, die sich gleich darauf mit Tränen füllten.
Da strich er mit weicher Hand über ihr Haar.
»Bist du ein Schäfchen, Heidekind. Und nun entschuldigt
mich; denn schließlich habe ich heute ja noch eine
Kleinigkeit zu erledigen.«
Damit ging er hinaus und ließ die Mutter in banger Sorge
zurück.
In der Schloßkapelle von Regglinsgrund warteten die
Hochzeitsgäste ungeduldig auf das Brautpaar, um das ihre
Phantasie ein ganzes Märchen geschlungen hatte. Etwas
stimmte bei dieser Heirat nicht, sonst hätten Harro Regglin
und seine Mutter sich darüber nicht in Stillschweigen
gehüllt.
Als das Paar dann endlich erschien, schüttelte man
verblüfft den Kopf.
Das also war die Braut? Sie sah ja wunderschön aus. Sie
paßte ganz vorzüglich zu der distinguierten Erscheinung
des Bräutigams. Frei und stolz schritt sie an seiner Seite
zum Altar, wo der Pfarrer bereits ihrer harrte.
Der Mann mit den gütigen Augen und der warmen Stimme
sprach nicht viel. Doch was er sagte, ging zu Herzen und
rührte an manche verhärtete Seele, die solche
eindringlichen Worte schon lange nicht mehr gehört hatte.
Zuerst schaute Rotraut offen zu dem Pfarrer auf. Doch je
länger er sprach, um so verwirrter wurde sie. Schließlich
senkte sie tief den Kopf – wie schuldbeladen.
Von Liebe und Treue, auf denen sich eine gute Ehe
aufbauen soll, sprach der greise Mann.
Von der Liebe, die der Mann an ihrer Seite spöttisch
verlachte!
Von der Treue, auf die sie keinen Anspruch hatte, weil sie
sich in sein Leben drängte wie etwas Widerwärtiges, das er
klanglos auf sich nahm, um damit den Leichtsinn seines
Vaters zu büßen.
Hart schluchzte sie auf – nur einmal – doch sie glaubte, das
Herz müßte ihr dabei entzweispringen. Ihre ganze Not
hätte sie den Menschen, die den Worten des Pfarrers wie
gebannt lauschten, entgegenschreien mögen.
Bei der standesamtlichen Trauung war es ihr leichtgefallen,
die Komödie zu spielen. Doch bei den Worten des greisen
Mannes, der ihr mit seinen gütigen Augen bis auf den
Grund der Seele zu schauen schien, hatte sie das Gefühl, als
beflecke sie durch die Duldung zu dieser Scheintrauung
etwas Heiliges.
Wenn der Graf doch barmherzig wäre und mit Nein die
Frage beantworten wollte, die das Ehegelübde vorschrieb.
Wenn er doch mit diesem Nein der scheinheiligen Lüge in
das grinsende Gesicht schlagen würde!
Doch klar und fest klang sein Ja durch die Stille der Kirche.
Und als ihr die Frage vorgelegt wurde, bekam sie die
Antwort nicht aus der wie zugeschnürten Kehle. Flehend
sah sie zum Pfarrer auf, der ihr gütig zunickte – da war sie
endlich dazu fähig, ihr Ja zu flüstern.
Obgleich das alles nur wenige Sekunden währte, hatte es
Unruhe unter die Menschen gebracht, die nun erleichtert
aufatmeten, als der Pfarrer den Segen sprach.
Dann führte Harro die junge Gattin seiner Mutter zu. Als
diese sie an sich ziehen wollte, verhinderte Rotraut es,
indem sie sich rasch über die Hand Lianes beugte, die sich
darob verletzt zurückzog.
Nun brachten auch die anderen ihren Glückwunsch an,
teils herzlich, teils gezwungen. Dann bewegte sich der
lange Zug zum Schloß zurück, um sich dort an der festlich
geschmückten Tafel niederzulassen. Wie das so üblich ist,
wurden Reden gehalten, mit dem Brautpaar angestoßen,
wobei es manch ein Kompliment zu hören bekam.
Auch Iris näherte sich der jungen Frau mit dem gefüllten
Glas. Die Gäste, die fast alle darum wußten, welche große
Hoffnung der Komteß heute zerschlagen war, hielten vor
Spannung den Atem an, als die beiden Frauen sich
gegenüberstanden. Schön waren sie beide – und doch
fehlte Iris der Zauber, der von Rotraut ausging.
Und dann geschah etwas, das alle entsetzte. Iris hatte
nämlich ihr Glas so heftig gegen das der jungen Frau
gestoßen, daß es zersprang und der rote Wein sich über das
Brautgewand ergoß. Wie Blut leuchtete der große Fleck, auf
den das ungeschickte Mädchen mit flackernden Augen
starrte. Ihren Mund umspielte ein höhnisches Lächeln.
Bevor die Gäste sich von ihrem Schreck erholen konnten,
umfaßte der junge Ehemann die Schulter seines zitternden,
tieferblaßten Weibes. Verächtlich blickte er auf Iris, die es
nicht einmal für nötig hielt, sich für ihre
Ungeschicklichkeit zu entschuldigen.
»Jeder benimmt sich so, wie er kann«, sprach er in die
atembeklemmende Stille hinein. »Schade, daß so ein
Mißklang in die Harmonie des Festes fallen mußte. Feiern
Sie ruhig weiter, meine Herrschaften. Wir müssen uns
leider empfehlen.«
Er grüßte nach allen Seiten und zog Rotraut mit sich fort.
Als er die Tür hinter sich geschlossen hatte, zog er ihre
Hand an die Lippen und sagte lächelnd:
»Mach dir nichts draus, mein Kind. Jede Niedertracht fällt
letzten Endes immer auf den Urheber zurück. Ziehe dich
nun zur Reise um. In einer Stunde hole ich dich ab.«
Als sie ihr Zimmer betrat, fuhr die Zofe erschrocken
zusammen.
»Um Gott, Frau Gräfin, was ist denn geschehen?«
»Nichts weiter, als daß Wein über mein Kleid geflossen ist.«
»Aber das bedeutet doch Unglück!«
»Wir wollen nicht abergläubisch sein, Dora. Haben Sie
meine Reisegarderobe zurechtgelegt?«
»Alles ist bereit, Frau Gräfin.«
Eifrig half sie ihrer Herrin beim Umkleiden und bat dann
gehen zu dürfen, weil sie die Koffer noch zu verschließen
hatte. Rotraut setzte sich in einen Sessel, griff nach einer
Zigarette und gab sich Gedanken hin, die gewiß nicht
erfreulich waren. Sie erschrak heftig, als die Tür aufgerissen
wurde und ein Mann auf sie zueilte.
»Um Gottes willen, Bob – was willst du hier?«
»Dich fragen, was der Irrsinn hier zu bedeuten hat«, brach
es aus ihm heraus. »Bist du tatsächlich dem Grafen Regglin
angetraut, Raute?«
»Ja, Bob.«
»Also bin ich doch zu spät gekommen«, stöhnte er so
qualvoll auf, daß ihr die Tränen in die Augen traten. »So
belohnst du meine treue Liebe. Es ist zum
Wahnsinnigwerden!«
»Bob, so beruhige dich doch«, bat sie eindringlich. »Die
Ehe ist nur zum Schein geschlossen und wird nach einem
Jahr bestimmt geschieden. Wie kannst du nur so
leichtsinnig sein, hier einzudringen. Geh jetzt und grüße
dein Mütterlein daheim.«
»Ich gehe nicht früher, als bis ich den Grund zu dieser
verrückten Ehe weiß.«
»Den kann ich dir nicht sagen.«
»Du bist schlecht, Raute.«
»Und wenn auch! Aber geh jetzt endlich. Wenn der Graf
dich hier sieht, gibt es bestimmt einen Skandal. Er läßt
nicht mit sich spaßen, das kannst du mir schon glauben.«
Ehe sie es verhindern konnte, fiel er vor ihr auf die Knie
und flehte verzweifelt:
»Hab’ doch Erbarmen mit mir, Raute! Ich liebe dich doch
zu sehr.«
»Was geht denn hier vor?!« kam es von der Tür her, wo
Harro neben seiner Mutter stand. Bob sprang auf und sah
dem Grafen furchtlos entgegen, der nun näher kam, einen
so drohenden Ausdruck in den Augen, daß Rotraut sich
unwillkürlich vor den Kindheitsgespielen stellte.
»Wer sind Sie, mein Herr?« fragte Harro eisig. »Wie können
Sie es wagen, bei meiner Gattin einzudringen und ihr zu
Füßen zu liegen? Sie werden mir Rechenschaft geben.«
Rotraut hob flehend die verschlungenen Hände zu ihm
empor.
»Nicht so – bitte!« stammelte sie mit entfärbten Lippen,
doch der gereizte Mann schob sie zur Seite. In seinen
Augen wetterleuchtete es, langsam hob sich seine Hand.
»Bob, bist du von Sinnen!« schrie Rotraut verzweifelt auf.
»Willst du es durchaus bis zum Äußersten kommen
lassen?! Denk doch an deine Mutter – und auch an mich.
Geh doch endlich – bitte!«
»Dann wäre ich ein Feigling, Raute.«
»Ich weiß, daß du keiner bist, und diejenigen, die dich
gleichfalls kennen, wissen es auch. Was liegt dir an dem
Urteil fremder Menschen? Bob, ich flehe dich an…«
Ein Zucken ging über das offene, hübsche Gesicht des
jungen Mannes. Zärtlich streichelte seine Hand über die
angstvollen Augen Rotrauts, dann verbeugte er sich
spöttisch vor Harro.
»Um dieser geliebten Frau willen empfehle ich mich, Herr
Graf Regglin.«
Blitzschnell sprang er durch das offene Fenster auf die
Terrasse hinaus. Als Harro ihm nacheilen wollte,
umklammerte Rotraut ihn so fest mit beiden Armen, daß er
hätte Gewalt anwenden müssen, um sich aus der
Umschließung zu lösen. Erst als man von unten her das
Geräusch eines anfahrenden Autos vernahm, ließ sie
aufatmend die Arme sinken.
»Wer war der Mann?« fragte der Gatte herrisch, doch sie
zuckte nur die Achseln und schwieg. Bob war ja in
Sicherheit. Was nun kam, wollte sie schon auf sich
nehmen.
»Hörst du nicht?« stieß er drohend hervor. Sie warf den
Kopf in den Nacken, die Augen sprühten in dem blassen
Gesicht.
»Den Namen wirst du niemals erfahren.«
Da stieg der Zorn in ihm hoch. Die Säbelnarbe leuchtete
blutrot in dem sehr bleichen Antlitz. Er schüttelte die
schlanke Gestalt, daß sie wankte.
»Harro, du vergißt dich!« rief die Mutter entsetzt, und da
kam er zur Besinnung. Er trat zurück, atmete einige Male
tief und schwer, bevor er zu sprechen anhob:
»Willst du nun wenigstens die Güte haben und für diese
merkwürdige Angelegenheit eine Erklärung abgeben? Ich
habe das Recht zu erfahren, wer der Mann ist, der meiner
Gattin zu Füßen lag und für den diese so leidenschaftlich
eintritt. Ich weiß von deiner Vergangenheit so wenig.«
»Halt!« unterbrach sie ihn hochmütig. »Ich habe Sie darauf
aufmerksam gemacht, daß es leichtsinnig ist, ein Mädchen
zu heiraten, dessen Vergangenheit Ihnen unbekannt ist. Sie
wollten sich jedoch nicht warnen lassen, wollten sich
nichts schenken lassen von einem Fräulein Bracht.
Trotzdem weiß ich, was ich Ihrem Namen schuldig bin.
Doch für Vorfälle, an denen ich schuldlos bin, wünsche ich
nicht verantwortlich gemacht zu werden.«
»Also soll ich fortan ruhig mit ansehen, daß man sich
meiner Gattin nähert wie einem x-beliebigen kleinen
Mädchen?«
Rotraut griff nach einer Sessellehne, an der sie sich
krampfhaft festhielt. Deutlich konnte man sehen, daß sie
dem Umsinken nahe war. Die Augen wirkten wie erloschen
in dem todblassen Gesicht.
»Bitte, lassen Sie mich allein«, sagte sie leise.
Kopfschüttelnd betrachtete Harro sie, dann bat er seine
Mutter, ihm zu folgen. Im Nebenzimmer sank er vor ihr in
die Knie und legte den Kopf in ihren Schoß, wie er es als
Knabe getan hatte, wenn er sich irgendwie nicht mehr zu
helfen wußte. Aufs höchste erregt streichelten ihre weichen
Mutterhände den Kopf ihres großen Jungen, und sie sprach
liebevoll auf ihn ein:
»Das eine Jahr wird auch vergehen, Harro. Bleibe mit
deiner Frau so lange auf Reisen, dann kannst du dich ihr
vollkommen widmen und hast so die beste Kontrolle über
sie. Wenn du dich dann von ihr trennst, muß sie unseren
Namen ablegen. Dann kann sie tun und lassen, was sie
will. Wie gefällt dir der Vorschlag, mein Junge?«
Er drückte ihre Hände gegen seine brennenden Augen und
erhob sich. Nun war er wieder ganz Harro Regglin, wie die
Mutter befriedigt feststellte. Jetzt konnte sie ihn beruhigt
ziehen lassen.
Er warf einen Blick auf die Armbanduhr.
»Es wird Zeit, daß ich mich auf die Hochzeitsreise begebe«,
lächelte er ironisch. »Also auf Wiedersehen, kleine Mama.
Wann, das kann ich dir allerdings noch nicht sagen.«
Das war zugleich die Antwort auf ihren Vorschlag. Sie trat
auf ihn zu, zog seinen Kopf an sich und küßte seine
Wange.
»Alles Gute, mein geliebter Junge.«
»Dir auch, Mutti. Mach nicht so ängstliche Augen, ich
beiße mich schon durch.«
Er zog ihre Hände an die Lippen, eine um die andere, strich
zärtlich über ihre Wange – dann schloß sich die Tür hinter
ihm.
Rotraut schmiegte sich in das Polster des Autos, das sie in
eine ihr unbekannte Ferne führte. Denn sie wußte
tatsächlich nicht, wohin die Reise gehen sollte. Schließlich
entschloß sie sich, ihren Mann, der schweigend an ihrer
Seite saß, danach zu fragen.
»Nach Italien«, war die gelassene Antwort. »Wenigstens in
dieser Beziehung wollen wir als Hochzeitsreisende nicht
aus dem Rahmen fallen. Hast du etwas dagegen
einzuwenden?«
»Durchaus nicht.«
»Das beruhigt mich ungemein. Aber ich muß mich
wundern, daß du auch jetzt noch mir gegenüber das Sie als
Anrede gebrauchst. Ich persönlich habe ja nichts dagegen.
Doch da wir als Gatten reisen, wird man es überall höchst
merkwürdig finden, daß du deinen Mann so förmlich
ansprichst.«
»Du hast recht«, entgegnete sie leise. »Es ist nur so
entsetzlich schwer, einen fremden Menschen plötzlich zu
duzen. Aber ich lerne es schon noch.«
»Na schön.«
Dann herrschte wieder Schweigen. Rotraut kuschelte sich in
die Ecke und schloß die Augen. Eine süße Mattigkeit
überkam sie, der sie sich nur zu gern hingab. Wie Schemen
zogen die Ereignisse des heutigen Tages durch ihre
Gedanken, die sich dann langsam verwirrten und endlich
ganz Ruhe gaben. Der Traumgott nahte, führte das
zerquälte Menschenkind hinüber in sein Reich, wo alles so
märchenhaft schön war, wo es kein hartes Gebot des Vaters
gab, keinen Harro Regglin, keine Ehe auf Abbruch und
keine Angst vor der Zukunft. Das Motorengeräusch, das das
Ohr der Träumenden unbewußt aufnahm, klang wie
liebliche Musik. Der enge dunkle Wagenraum wurde zur
sonnendurchfluteten Halle, der Mann an der Seite der
Schlafenden zum strahlenden Prinzen, wie ihn sich jedes
Mädchenherz erträumt. Keine Tränen gab es, nur
lachenden Frohsinn in dem Traumparadies, aus dem dann
die glückselige Schläferin gerissen wurde. Noch
traumumfangen öffnete sie die Augen, hörte eine Stimme,
die sie unsanft weckte, obgleich sie recht freundlich klang.
»Nun werde endlich munter, Rotraut. Es hat mir zwar leid
getan, dich zu wecken, aber es muß sein, weil wir unser
heutiges Ziel erreicht haben.«
»Verzeihen Sie – verzeih – ich habe – ich wollte…«,
stotterte sie so verwirrt, daß er herzlich lachen mußte.
»Nun rappele dich endlich auf, du Traumelinchen.
Draußen steht bereits unser braver Albert, der darauf
wartet, den Schlag öffnen zu dürfen.«
Gleich darauf stand sie im Freien und schauerte in der
kühlen Spätabendluft zusammen. Aber da war auch schon
Dora, die mit dem Zug vorgefahren war, zur Stelle.
Fürsorglich legte sie der Herrin einen leichten Pelzmantel
über die Schultern.
An Harros Seite betrat Rotraut das Hotel, in dem Zimmer
für sie bestellt waren. Der Gatte gab ihr bis zu dem ihren
das Geleit und fragte dann:
»Wollen wir hier oben essen oder unten im Speisesaal?«
»Ich bin viel zu müde, um essen zu können.«
»Na schön, dann geh schlafen. Gute Nacht, Rotraut,
angenehme Ruhe.«
Er zog ihre Hand an die Lippen und ging in das
Nebenzimmer. Gleich drauf klopfte es, was Rotraut nervös
zusammenzucken ließ. Als jedoch auf ihre Aufforderung
zum Eintritt die Zofe erschien, atmete sie erleichtert auf.
»Gut, daß Sie kommen, Dora. Ich bin entsetzlich müde
und möchte gleich zu Bett gehen.«
Eine halbe Stunde später streckte sie sich nach einem
erfrischenden Bad in den weichen Kissen. Zwar war die
Müdigkeit durch das laue Wasser verflogen, aber sie würde
sich schon wieder einstellen. Das Licht der
Nachttischlampe erhellte das Zimmer nur matt, so daß
Rotraut dessen Einrichtung nur undeutlich erkennen
konnte. Sie interessierte sie auch nicht, da ihr die typischen
Hotelräume bekannt waren.
Nebenan blieb alles still, also schien Harro nach unten
gegangen zu sein. Wie schön, daß sie nicht mit ihm
zusammen zu sein brauchte.
Jetzt wollten die unerquicklichen Gedanken sie wieder
überfallen. Doch energisch wehrte sie sich dagegen, löschte
das Licht, duselte noch ein Weilchen vor sich hin und
schlief dann fest ein.
Es war noch früh, als sie am anderen Morgen erwachte. Sie
lauschte angestrengt zum Nebenzimmer hin, wo sich
nichts regte. Demnach schien Harro noch zu schlafen. Leise
erhob sie sich, ging in das Badezimmer, duschte fast kalt
und wurde dadurch frisch und munter. Dann entnahm sie
dem Schrankkoffer die passende Garderobe, kleidete sich
an und schlich sich leise hinaus, um erst einmal einen
Spaziergang zu machen. Wie erstaunte sie jedoch, als sie im
Vestibül Harro entdeckte, der dort in einem tiefen Sessel
saß und die Zeitung las. Jetzt hatte auch er sie erspäht,
erhob sich und kam auf sie zu.
»Guten Morgen, Rotraut.« Er zog ihre Hand an die Lippen.
»Ich habe dich noch lange nicht erwartet. Aber recht so, um
so früher können wir unsere Fahrt fortsetzen. Doch zuerst
wollen wir einmal ausgiebig frühstücken. Oder hast du
auch jetzt wieder keinen Hunger?«
»Doch, großen sogar.«
»Das freut mich. Denn Menschen, die nur an den Speisen
nippen, sind entweder krank, oder sie drangsalieren ihren
Körper auf schlanke Linie.«
Als sie beim Frühstück saßen, fragte er, ob sie in bezug auf
die Reise besondere Wünsche hätte, worauf sie kühl
erwiderte:
»Mir ist es gleichgültig, wohin wir fahren. Erstens kenne ich
bereits ein gutes Stück von der Welt, und dann steht es mir
bestimmt nicht an, dir mit irgendwelchen Wünschen lästig
zu fallen.«
Schon zuckte das Lächeln um seinen Mund, das sie immer
so reizte.
»So, ach! Demnach kann ich von Glück sagen, eine so
bescheidene Frau erwischt zu haben. Ferner danke ich dir
für das erste Du. Nur hätte es ein wenig liebenswürdiger
deinen Lippen entschlüpfen dürfen.«
Nach dem Frühstück fuhren sie weiter, dem Süden zu. An
besonders schönen Orten blieben sie, machten Auflüge,
besuchten Feste, jagten von einem Vergnügen zum
anderen, bis es Rotraut endlich zu viel wurde und sie sich
entschuldigte, nicht mehr mitmachen zu können.
Da ging er denn ohne sie aus, was schließlich so oft
geschah, daß sie sich meistens selbst überlassen blieb.
Wenn sie ihn einmal begleitete, dann kümmerte er sich so
wenig um sie, daß sie die spöttischen oder mitleidigen
Blicke der Menschen, in deren Gesellschaft er seine Zeit
verbrachte, zu fürchten begann. Hauptsächlich die der
Damen, mit denen er flirtete, als wäre er frei und
ungebunden, kränkten sie.
Warum aber sollte er sich nicht amüsieren? Er war gewiß
nicht dazu verpflichtet, auf die Frau Rücksicht zu nehmen,
die er nur gezwungenermaßen geheiratet hatte. Sie hätte es
nicht dazu kommen lassen dürfen, hätte sich mit aller
Energie dagegen wehren müssen.
So begann sie sich denn mit Selbstvorwürfen zu quälen
und dachte unablässig darüber nach, wie sie ihren Fehler
gutmachen könnte. Endlich kam sie dann zu dem
Entschluß, einfach abzureisen, ohne eine Nachricht zu
hinterlassen. Damit entband sie Harro jeder Verpflichtung.
Nach einem Jahr wollte sie dann die Scheidung einreichen.
Ja, so ging es. Ganz still wollte sie aus seinem Leben gehen,
wofür er ihr gewiß nur dankbar sein würde. Nun galt es nur
noch, die Gelegenheit zur Flucht abzupassen. Und die
sollte sich schon einige Tage später finden.
Harro hatte sich mit seinen Bekannten für einen
Tagesausflug verabredet. Vergnügt war die Gesellschaft
abgezogen, und Rotraut blieb Zeit genug, ihren Vorsatz
auszuführen. Kurz entschlossen rief sie die Zofe herbei.
»Dora, packen Sie sofort meine Sachen. Wir reisen noch
heute ab.«
Das Mädchen ließ sein Erstaunen nicht merken und führte
den Befehl aus. Obgleich es sich beeilte, nahm das Packen
jedoch mehr Zeit in Anspruch, als Rotraut erwartet hatte.
Schließlich wurde sie so nervös, daß sie mithalf.
Als die Arbeit dann endlich geschafft war, atmete sie
erleichtert auf. Nun galt es nur noch…
Ein kurzes Klopfen riß sie aus ihrer Überlegung – und dann
stand plötzlich der Gatte vor ihr.
»Ah, schon gepackt?« fragte er in einem Ton, als wüßte er
um die bevorstehende Reise. »Leider können wir erst
morgen fahren.«
Dora, die so etwas wie dicke Luft spürte, verzog sich eilig,
und das Ehepaar stand sich nun allein gegenüber. Rotraut
in trotziger, Harro in eisiger Haltung.
»Also fahnenflüchtig willst du werden, mein Kind. Du bist
im Bild: Deserteure holt man zurück. So viel müßtest du
doch nun schon wissen, daß ich nicht mit mir spielen
lasse.«
Ihre Gestalt reckte sich, die Augen verdunkelten sich in
leidenschaftlichem Zürnen, die feinen Nasenflügel bebten.
»Auch ein Fräulein Bracht läßt nicht mit sich spielen, Graf
Regglin! Es ist nämlich nicht daran gewöhnt, sich so
behandeln zu lassen, daß die Menschen fast mit Fingern
nach ihm zeigen. Nein – ich ertrage dieses Leben so nicht
länger!« rief sie erbittert aus. »Ich will fort von Ihnen,
damit ich wieder Mensch sein kann – keine Sklavin in
unwürdiger Tyrannei! Ich brauche nicht zu warten, bis das
Jahr um ist. Keiner kann mich dazu zwingen, diese
lächerliche Komödie mitzumachen – auch Sie nicht!«
Furchtlos hielt sie seinen Augen stand, in denen es
wetterleuchtete. Der Mann war von einer eisigen Ruhe,
hinter der jedoch flammender Zorn zu lodern schien.
Augenblickslang biß er die Zähne zusammen, daß die
Wangenmuskeln spielten, dann sagte er mit unheimlicher
Gelassenheit:
»Oho, meine liebe Rotraut, so leicht soll dir diese Ehe auf
Abbruch denn doch nicht gemacht werden. Ein klein wenig
Recht wird mir in dem Eheverhältnis denn doch zugebilligt
sein. Und das nehme ich nun in Anspruch, indem ich dir
jede eigenmächtige Handlung verbiete. Ich habe nichts
dagegen, wenn du Wünsche äußerst, und werde mir alle
Mühe geben, sie zu erfüllen – falls sie erfüllbar sein sollten.
Wenn du reisen willst, bitte sehr. Aber du reist nicht ohne
mich, mein schönes, böses Kind.«
»So wollen Sie mich denn zwingen, bei Ihnen zu bleiben –
nur um mich zu quälen und demütigen zu können?« fragte
sie aufgebracht. »Das ist nicht fair gehandelt, Graf Regglin.«
Er trat so dicht an sie heran, daß sein Körper fast den ihren
berührte. Sein Atem ging schwer, seine Augen glitzerten in
dem blassen Gesicht, in dem die Säbelnarbe leuchtete.
Furchtlos stand Rotraut vor ihm. Sie wich auch nicht
zurück, als seine Hand sich langsam hob.
»Schlagen Sie nur ruhig zu«, sagte sie mit einer Stimme, vor
der sie selber erschrak. »Nach der Behandlung, die mir
bisher zuteil geworden ist, könnte ich mich darüber kaum
noch wundern.«
Da trat er zurück. Fuhr sich einige Male hastig über die
Stirn und Augen, stieß den Atem durch die Nase und fragte
dann ruhig:
»Du möchtest von hier fort?«
»Ja.«
»Schön, dann reisen wir morgen ab. Wohin möchtest du?«
Sie hielt das blasse Gesicht gesenkt, Tränen liefen
darüberhin. Flehend war der Blick, der sich dann zu ihm
erhob.
»Harro«, bat sie mit zuckenden Lippen. »Hab doch
Erbarmen mit mir, und laß mich meiner Wege ziehen. Ich
will sofort deinen Namen ablegen. Will mich irgendwo
verkriechen, bis das Jahr um ist. Ist es nicht besser, wenn
wir uns in Güte trennen, als uns gegenseitig das Leben
schwer zu machen? Nicht wahr, Harro, du läßt mich
gehen?«
»Nein!« antwortete er hart. »Dein Vater hat gewünscht, daß
wir ein Jahr lang zusammenleben, und keine Macht der
Welt wird mich daran hindern, diesem Wunsch gerecht zu
werden. Du solltest vernünftig genug sein, dir und mir
nicht durch Widerspenstigkeit das Leben zu verbittern.
Vielleicht denkst du darüber nach, wie du es wohl
erträglicher gestalten könntest.«
Damit ging er hinaus, und Rotraut sank auf einen der
gepackten Koffer und weinte bitterlich. Sie fuhr zusammen,
als sie ihre Schulter berührt fühlte. Als sie den Blick hob,
sah sie Harro vor sich stehen, der mißbilligend auf sie
schaute.
»Das habe ich mir so ungefähr gedacht. Tränen, das ist bei
euch Frauen immer der Weisheit letzter Schluß. Hast du
Lust zu einer Spazierfahrt?«
»Ich möchte jetzt nicht unter Menschen sein.«
»Ist auch nicht erforderlich. Nur meine Gesellschaft mußt
du dir gefallen lassen.«
Wenig später fuhren sie dann im Pferdewagen durch die
herrliche Gegend. Die lachende Natur legte sich wie Balsam
auf Rotrauts wundes Gemüt. Sie war Harro dankbar, daß er
schweigend neben ihr verharrte.
Am nächsten Tag fuhren sie ab. Venedig war ihr Ziel.
Und hier änderte nun Rotraut ihre Lebensweise. Sie zog
sich nicht mehr von den Vergnügungen zurück, sondern
nahm sie eifrig wahr. Bald wurde sie zum Mittelpunkt jeder
Veranstaltung. Sie ließ sich feiern, bewundern, ohne dabei
aus ihrer kühlen Reserve herauszugehen.
Leider fuhren sie auf Harros Wunsch nach zehn Tagen
wieder weiter. Eine Unrast war über sie gekommen, die ihn
fernerhin niemals länger als wenige Tage an einem Ort
verweilen ließ. Und eines Nachmittags überraschte er seine
Frau mit der Eröffnung, daß es nun endgültig nach Hause
ginge.
Gräfin Liane saß mit den Familien Halldungen und Illsund
beim Nachmittagskaffee. Es war um so behaglicher in dem
trauten Gemach, weil es draußen regnete. Man war recht
vergnügt; denn wo Herma Halldungen weilte, konnte es zu
keiner trüben Stimmung kommen. Dafür sorgte ihr
unverwüstlicher Humor, den sie ihrem Sohn Eberhard
vererbt hatte. Graf Halldungen war auch eine Frohnatur
gewesen und hatte sich mit seiner viel jüngeren Frau
sozusagen durchs Leben gelacht. Leider war er vor zwei
Jahren gestorben, was Herma auch heute immer noch nicht
verwinden konnte. Doch wenn sie die Traurigkeit überfiel,
ließ sie ihre Umgebung davon nichts merken.
Graf Eberhard hatte große Ähnlichkeit mit seinem Vetter
Harro, allerdings war er zugänglicher als dieser.
Obgleich Herma über die Heirat ihres Neffen auch nicht
mehr wußte als andere, konnte sie sich doch manches
zusammenreimen. Sie hatte Herrn Bracht gekannt und um
die Liebe ihrer Schwester zu ihm gewußt. Sie wußte auch
um die schmähliche Entlassung des Mannes, der sich
nichts hatte zuschulden kommen lassen.
Und ausgerechnet dessen Tochter war nun Harros Frau
geworden. Das mußte irgendwie einen Haken haben.
Schon deshalb, weil Mutter und Sohn ein Geheimnis aus
dieser Heirat machten.
Nun, ihr kam es nicht zu, dieses zu erforschen. Aber sie
konnte es kaum erwarten, das Kind des Mannes
kennenzulernen, um dessentwillen ihre Schwester so früh
aus dem Leben gegangen war.
Und als sie dann Rotraut Bracht zum erstenmal sah –
damals, als sie so stolz und frei zum Altar schritt – da war
sie von der Schönheit des jungen Menschenkindes
überwältigt. Das war doch etwas anderes als diese
hochnäsige Iris Illsund. Ein Rätsel, wie die sonst so
vernünftige Liane eine solche Vorliebe für das arrogante
Balg haben konnte. Seitdem Harro sich auf der
Hochzeitsreise befand, hatte sie sich in Regglinsgrund
eingenistet.
Das war auch tatsächlich der Fall. Iris fühlte sich ganz als
Tochter des Hauses. Sie umgab Gräfin Liane mit einer
Zärtlichkeit, die schon übertrieben wirkte, und maßte sich
Rechte an, über die ein klardenkender Mensch nur den
Kopf schütteln konnte. Die Eltern kamen fast täglich, um
ihren Liebling, den sie zu Hause sehr vermißten, zu
besuchen.
Nur Adelheid erschien selten. Sie hatte sich sehr verändert.
Ihre herzliche Offenheit Liane gegenüber war einer
höflichen Zurückhaltung gewichen. Das gutherzige
Mädchen, das im Verkehr mit der Schwester bisher immer
die Nachgebende gewesen war, setzte ihr nun harten
Widerstand entgegen, wenn sie im Unrecht war. Der Vater
schalt auf Adelheid, wenn Iris sich bei ihm über die
Schwester beklagte. Empörte sich über ihren verstockten
Trotz – und konnte ihn doch nicht brechen.
Heute hatte Adelheid ausnahmsweise die Eltern nach
Regglinsgrund begleitet und sah nun spöttisch zu, wie Iris
das Haustöchterchen spielte. Dabei hatte diese immer noch
Zeit, ein beredtes Augenspiel mit Eberhard Halldungen zu
führen. Sie fühlte sich ganz als Hauptperson, nach deren
Wünschen man sich zu richten hatte. Sie drängte sich
immer wieder in die Unterhaltung der anderen, machte
dabei ihre Scherze, über die der verliebte Vater am meisten
lachte.
Nach dem Kaffee ging man in das lauschige Wohngemach
Lianes. Und kaum daß man Platz genommen hatte,
erschien der Diener mit der Meldung:
»Herr Graf und Frau Gräfin sind soeben von ihrer Reise
zurückgekehrt.«
Das gab nun ein Hallo! Das Gespräch drehte sich fortan
nur noch um den Heimgekehrten. Daß er auch seine Frau
mitgebracht hatte, schien man allgemein vergessen zu
haben.
Als Harro erschien, wurde er mit Jubel begrüßt. Als er die
Mutter in die Arme schloß, sah sie ihm bang ins Gesicht.
Auch Gräfin Halldungen betrachtete ihn forschend.
»Bist etwas schmal geworden, doch sonst ganz der alte«,
stellte sie fest, und er lachte amüsiert.
»Teure Tante Herma, ich kann mich in den sechs Wochen
meiner Abwesenheit doch nicht total verändert haben.«
Als er Iris begrüßte, traf ihn ein so aufstrahlender Blick, daß
ein spöttisches Lächeln seinen Mund umzuckte. Sie war
von einer unnatürlichen Lebhaftigkeit, wollte viel von
seiner Reise wissen und belegte ihn vollständig mit
Beschlag. Lächelnd hörte er auf ihr Geplauder und sah
dabei ab und zu nach der Armbanduhr, bis er sich erhob.
»Entschuldigen Sie, meine Herrschaften, ich will nur mal
sehen, wo meine Frau bleibt.«
Als er dann mit ihr erschien, gab es eine formelle
Begrüßung – nur bei Herma nicht, die das bezaubernde
junge Menschenkind einfach in die Arme schloß. Rotraut
sah zaghaft zu ihr auf.
»Frau Gräfin?«
»Ach was,« Herma gab sich Mühe, ihre Rührung zu
verbergen, »ich bin durch deine Heirat mit Harro deine
Tante geworden, Trautchen.«
Die junge Frau vergaß bei der herzlichen Begrüßung das
ablehnende Verhalten der anderen und lachte hellauf.
»Wie sagst du, Tante? Trautchen? Um alles, das paßt nicht
zu mir. Ich bin weder traut noch lieb. Wenn du meinen
Rufnamen abkürzen willst, dann nenne mich Raute, wie
auch mein Vater mich nannte.«
Da war wieder die Stimme, die sich in das Herz der
Menschen zu schmeicheln pflegte, diese weiche, süße
Stimme mit dem leichten fremden Klang.
Herma ließ sich auf das Sofa sinken und zog die Nichte an
ihre Seite. Und schon gesellte sich Eberhard zu ihnen.
»Wenn meine Mutter so resolut ihre Tantenrechte betont,
dann bin ich berechtigt, auch die des Vetters geltend zu
machen. Auf gute Freund, liebe Base Raute.«
Augenblickslang sah sie ihn prüfend an, dann zog ein
sonniges Lächeln über ihr Gesicht. Sie reichte ihm beide
Hände, die er nacheinander küßte. Zuerst war ihr seine
Ähnlichkeit mit Harro groß erschienen, doch seine
herzliche Art schwächte das ab.
»Nun erzähle, kleine Schönheit«, forderte Herma auf. »Wie
war die Hochzeitsreise? Hast du viel Schönes und Neues
gesehen?«
»Schönes ja, Neues nicht, da ich die Orte, in die uns unsere
Reise führte, bereits alle kannte.«
Immer mehr wollte Herma wissen, nur um die süße
Stimme zu hören, dem goldigen Lachen lauschen zu
können. Auch die anderen waren zuletzt wie gebannt.
Nur Iris nicht. Sie war wütend, daß man über dieser
Rotraut sie so ganz und gar vergessen konnte. Sie empfand
es als Erlösung aus harter Pein, als der Diener meldete, daß
das Abendessen serviert sei.
An der Tafel führte sie dann die Unterhaltung. Das fiel ihr
leicht, weil die anderen recht schweigsam waren. Harro, an
den sie immer wieder das Wort richtete, antwortete nur,
um nicht unhöflich zu sein. Als man nach dem Essen
wieder in das Wohnzimmer der Gräfin zurückging, näherte
sich Adelheid der jungen Frau.
»Mich haben Sie wohl ganz übersehen«, beklagte sie sich,
worauf die Antwort kam:
»Wie könnte ich denn so blind sein, Komteß? Aber in
einem fremden Kreis muß man immer erst die Fühler
ausstrecken – und zwar vorsichtig, damit man nicht eins
draufbekommt.«
»Von mir bestimmt nicht«, lachte Adelheid. »Wollen wir
uns zusammensetzen, ja? Ich höre Sie doch so gern
sprechen.«
»Bescheidenes Gemüt«, neckte Rotraut. Sie nahmen auf der
Couch Platz. Zuerst war Adelheid noch ein wenig
befangen, doch Rautes entzückende Art ließ sie bald
auftauen. Sie wurde nun ganz die sonnige Heidi, die es sich
verbat, mit Komteß angesprochen zu werden.
»Ich heiße Heidi«, erinnerte sie. »Heidi und du.«
»Und ich Raute und du.«
»So darf ich…?«
»Natürlich, gleiches Recht für alle.«
Nun waren sie erst recht vertraut. Sie plauschten und
lachten wie alte Bekannte.
Harro saß behaglich in seinem Sessel und stellte wieder
einmal fest, daß es nirgends auf der Welt so schön sein
kann wie zu Hause. Er beteiligte sich an keiner
Unterhaltung, weder an der halblaut geführten der neuen
Freundinnen noch an der lebhaften der anderen. Die
dauernden Fragen Iris’ wurden ihm lästig. Sollte sie sich
doch ein anderes Opfer aussuchen. Zum Beispiel Eberhard.
Aber der machte es sich bei den Freundinnen gemütlich,
die ihn bereitwillig in ihre Mitte genommen hatten.
»Wie war es denn auf der Hochzeitsreise?« fragte Iris nun
schon zum dritten Mal; denn Harro hatte es so
einzurichten gewußt, daß er nicht direkt darauf zu
antworten brauchte. Doch nun konnte er nicht
ausweichen.
»Wie es auf der Hochzeitsreise war, wollen Sie wissen,
gnädigste Komteß? Da der Geschmack verschieden ist,
möchte ich Ihnen den Rat geben, selber eine zu machen«,
antwortete er, ohne dabei seine Stimme zu dämpfen, wie
sie es vorhin getan hatte. Das Lachen der anderen reizte sie
so sehr, daß sie sich zu einer Unbesonnenheit hinreißen
ließ.
»Daß Sie doch immer spotten müssen«, sagte sie ärgerlich.
»Es wäre doch anzunehmen, daß Ihnen die Lust dazu in
der Ehe vergangen sein müßte.«
»Nanu, ist die Ehe denn eine Zwangsanstalt?« fragte er
lachend. »Dann würde ich Ihnen entschieden abraten zu
heiraten.«
Iris biß sich auf die Lippen, damit ihnen ja nicht bissige
Worte entschlüpften.
Gräfin Liane legte ihr den Arm um die Schulter.
»Mag er ruhig spotten, der ungalante Mann«,
beschwichtigte sie. »Du singst und spielst uns lieber etwas
vor.«
Das ließ Iris sich nicht zweimal sagen, denn auf ihr Können
war sie nicht wenig eingebildet. Ihr Vortrag wurde auch
wirklich ein Genuß, und sie konnte befriedigt feststellen,
daß sie diese Rotraut übertrumpft hatte.
Als man aufbrach, wollten die Eltern auch ihre älteste
Tochter nach Laubern mitnehmen, doch diese lächelte
nachsichtig:
»Was sollte Tante Liane wohl ohne mich anfangen? Sie
befindet sich in dem Alter, wo sie eine Gesellschafterin
braucht.«
Au Backe! hätte Eberhard am liebsten gesagt, verschluckte
es jedoch noch zur rechten Zeit. Er unterdrückte das Lachen
und wandte sich an Raute und Heidi, mit denen er vorhin
einen Morgenritt verabredet hatte.
»Wann darf ich die Damen erwarten?«
»Um neun Uhr«, gab Rotraut zur Antwort. »Wirst du auch
pünktlich sein, Heidi?«
»Selbstverständlich.«
»Und du, Eberhard?«
»Raute, ich bitte dich!«
»O wie schön«, lachte sie über seine Entrüstung. »Ich bin
nämlich selten pünktlich.«
Zuerst war er verdutzt, dann fiel er in ihr Lachen ein.
»Raute, du bist entzückend. Darf ich dich zum Abschied
küssen?«
»Bist du immer so anspruchsvoll?« fragte sie neckend. »Was
meinst du, Tante Herma, ob ich es ihm gestatte?«
»Wenn Harro nichts dagegen hat, ich bestimmt nicht.«
»Bitte sehr, ich bin nicht mißgünstig.«
»Aber großzügig«, lachte Eberhard. »Weißt du, ich habe
doch Angst vor meiner eigenen Courage.«
»Soll vorkommen«, meinte die Mutter trocken. »Wann läßt
du dich bei mir sehen, Rautendelein?«
»Morgen nach dem Ritt, Tante Herma. Und wenn du etwas
Gutes zu Mittag hast…«
»Versteht sich. Also dann morgen auf Wiedersehen.«
Der Aufbruch der Gäste erfolgte nun rasch. Iris machte
keine Anstalten, mit den Eltern zu fahren, womit diese
dann auch zufrieden waren.
Rotraut hatte das Gefühl, als hätten die drei ihr lieben
Menschen alle Wärme mit sich genommen. Sie schauerte
zusammen.
»Ist dir kalt?« fragte Harro.
»Nein, ich bin nur müde. Darf ich mich zurückziehen, Frau
Gräfin?«
»Bitte«, war die kühle Erwiderung. Rotraut beugte sich
höflich über Lianes Hand, ein hochmütiges Nicken zu Iris
hin, dann wandte sie sich an den Gatten.
»Gute Nacht, Harro.«
»Gute Nacht, Rotraut. Schlafe gut und träume etwas
Schönes. Hast du alles nach Wunsch vorgefunden? Es hat
sich hier alles nach dir zu richten. Du bist neben meiner
Mutter Herrin von Regglinsgrund, das ja nun deine Heimat
ist.«
»Ich danke dir, Harro. Nun habe ich auch den Mut, dich
um etwas zu bitten.«
»Nur immerzu, kleine Frau«, ermunterte er.
»Darf ich mir ein Pferd aussuchen?«
»Welch eine Frage, Rotraut! Daß du fest im Sattel sitzt,
habe ich ja bereits feststellen können, Rotraut, Schön-
Rotraut.«
Sie lachte verlegen und wandte sich zum Gehen. Da fing sie
einen haßerfüllten Blick von Iris auf, der sie erschreckte. Sie
hastete davon, um nicht noch länger solchen Blicken
ausgesetzt zu sein.
Die waren übrigens auch von den beiden Regglins bemerkt
worden. Sie sahen sich an, Liane betroffen, Harro ironisch.
Er blieb es auch, als Iris ihn in ein Gespräch verwickelte.
Deshalb zog sie sich bald ärgerlich zurück.
»Gott sei Dank!« Harro streckte sich lachend in seinem
Sessel. »Jetzt sind wir endlich allein. Ich verstehe dich
nicht, kleine Mama, wie du die tägliche Gesellschaft der
unangenehmen Iris aushältst.«
»Ich habe nun einmal eine Schwäche für das Mädchen. Es
hat sich verändert, das gebe ich zu, aber daran bist du
schuld, mein Junge. Du hättest Iris nicht ein Anrecht an
dich einräumen sollen.«
»Anrecht – inwiefern?« fragte er verwundert.
»Indem du ihr zu verstehen gegeben hast, daß du sie
liebst.«
»Woher weißt du das, Mutter?«
»Von Iris selbst.«
Nun fuhr er auf, flammenden Zorn in den Augen.
»Das ist gelogen!«
»Harro, du sprichst von einer Dame!«
»Daß ich nicht lache!« Er zwang sich zur Ruhe. »Lassen wir
das, Mutter, sprechen wir lieber von etwas Erfreulicherem.
Wie ist es dir in meiner Abwesenheit ergangen?«
»Gesehnt habe ich mich nach dir, du Schlingel. Und wie
erging es dir? Haben die Extravaganzen deiner Frau dir viel
zu schaffen gemacht?«
»Sie ist alles andere als extravagant, Mutter. Nur eigenwillig
und sehr stolz. In Herrengesellschaft, wo sie wegen ihrer
Schönheit angehimmelt wird, bleibt sie stets Dame. Sie
wird gewiß nichts tun, worüber wir uns schämen müssen.«
»Gott sei Dank, Harro, ich machte mir hier schon die
schwärzesten Gedanken. Wird es schwerfallen, sie nach
abgelaufener Frist zu einer Scheidung zu bewegen?«
»Die scheint dir ja sehr am Herzen zu liegen, Mutter. Aber
beruhige dich, sie wartet nur auf diesen Tag. Sie hatte sogar
schon einmal alles zur Flucht vorbereitet, die ich jedoch
vereiteln konnte. Denn ich ließ sie fast niemals aus den
Augen, was sie freilich nicht wußte. Also keine Bange,
kleine Mama, du wirst deine ungewünschte
Schwiegertochter schon zur richtigen Zeit los – und ich
habe mein Ehrenwort, das ich dem Vater gab, eingelöst.«
Als Harro am anderen Morgen nach dem Stall ging, um für
Rotraut ein passendes Pferd auszusuchen, meldete der
Oberinspektor, daß Frau Gräfin das bereits vor mehr als
einer Stunde selbst besorgt hätte.
»An weichem Tier hat meine Frau Gefallen gefunden?«
»An der Ira, Herr Graf.«
»Aber Herr Seiler, wie können Sie den ungebärdigen Gaul
einer Dame in die Hand geben?«
»Keine Sorge, Herr Graf«, schmunzelte der biedere Beamte.
»Sie hätten einmal sehen sollen, wie die Ira unter der
kleinen Faust unserer Frau Gräfin wurde. Das Herz hat mir
im Leibe gelacht.«
»Haben Sie meine Frau wenigstens auf die Tücken des
Pferdes aufmerksam gemacht?«
»Dazu kam ich gar nicht. Frau Gräfin hatte Iras Fehler
sofort erfaßt. Wie sie mir erzählte, hat sie bereits mit fünf
Jahren im Sattel gesessen und später Turniere geritten. Das
sagt doch wohl alles. Aber das werden der Herr Graf ja
selber wissen.«
O nein, er wußte es nicht. Und das hätte den braven
Oberinspektor wohl baß erstaunt, hätte er es ihm erzählt.
Harro sagte ihm noch einige freundliche Worte und ging
dann nach der Terrasse, wo an diesem herrlichen
Spätsommermorgen der Frühstückstisch gedeckt war. Die
Mutter erwartete ihn bereits.
»Guten Morgen, kleine Mama, so allein? Wo ist denn deine
Gesellschaftsdame, die schöne Iris?«
»Du sollst nicht immer spotten, Junge«, erwiderte sie
lachend. »Iris braucht viel Schlaf.«
»Natürlich, um ihre Schönheit zu pflegen.«
»Rotraut ist ja auch noch nicht auf.«
»Ein Trugschluß, Muttchen. Die tummelt sich schon seit
einer Stunde auf Ira.«
»Auf der ungezogenen Stute?« fragte sie erschrocken. »Wie
kannst du das dulden, Harro!«
»Dulden ist gut«, lächelte er amüsiert. »Dazu müßte ich erst
Gelegenheit haben.«
»Du sprichst in Rätseln, mein Sohn.«
»Die ich sofort lösen werde. Rotraut ist sozusagen vor Tag
und Tau in den Stall gegangen, hat sich ein Pferd
ausgesucht und ist mit ihm auf und davon.«
»Das ist doch unerhört!«
»Bei meiner Frau ist nichts unerhört, Muttchen. Das wirst
du auch noch begreifen lernen.«
»Und dann nennst du sie nicht extravagant?«
»Nein, nur sehr eigenwillig.«
Unterdes ritt Rotraut auf dem Gaul dahin, der so ganz nach
ihrem Herzen war. Herrlich, so ein Traben in der herben
Morgenluft. Sie vergaß darüber die Zeit, und als sie nach
der Uhr sah, war es zu spät, um noch einmal nach
Regglinsgrund zurückzukehren, bevor sie sich mit Heidi
und Eberhard traf.
Nun, man würde sie, den Eindringling, bestimmt doch
nicht vermissen. Wenn sie etwas an ihr auszusetzen fanden,
was ging sie das an? An der Meinung dieser hochmütigen
Menschen war ihr gewiß nichts gelegen. Deshalb würde es
ihr auch nicht schwerfallen, sich durchzusetzen. Um ihre
Gunst betteln, das sollte ihr einfallen!
Da kamen ihr bereits Heidi und Eberhard entgegen. Es gab
ein fröhliches Reiten, wobei Rotraut all die
Unerquicklichkeiten ihres jetzigen Lebens vergaß.
Frohgelaunt langte man in Hermeshöhe an, wo die
Hausherrin sie mit Herzlichkeit begrüßte.
»Das soll schon ein gemütlicher Tag werden mit euch
wonnigen Gören«, lachte sie vergnügt.
O ja, auf Hermeshöh fühlte Rotraut sich sofort heimisch.
Warum konnte nicht Eberhard ihr Mann sein, Tante Herma
nicht seine Mutter? Wie einfach wäre dann alles gewesen!
Wenn sie doch immer bei den Halldungen bleiben könnte,
nicht mehr nach dem zwar feudalen, aber eisigkalten
Regglinsgrund zurückzukehren brauchte. Sie merkte nicht,
daß Hermeshöh kaum weniger feudal war, daß die
Menschen darin im Grunde genommen genauso waren wie
die Regglins. Sie sah nur die Herzlichkeit, mit der man ihr
entgegenkam.
Als sie sich nach dem Mittagessen verabschieden wollte,
winkte Herma ab.
»Daraus wird nichts, mein Kind. Bleibe nur ruhig hier, die
zu Hause vermissen dich ja doch nicht. Um der Form zu
genügen, werde ich anrufen und sagen, daß du erst abends
zurückkommst.«
Rotraut ließ sich nur zu gern halten. Und als sie nach den
vergnügten Stunden scheiden mußte, wurde ihr das Herz
bitter schwer. Die Tante merkte, was in ihr vorging. Sie zog
sie beim Abschied in die Arme und flüsterte ihr zu:
»Hier findest du jederzeit Zuflucht, mein Rautendelein.
Rücke aus, wenn sie es in Regglinsgrund gar zu arg treiben
sollten.«
Da mußte Rotraut lachen, und schon war alles nicht mehr
so schwer. Eberhard gab den Damen das Geleit. Langsam
ritten sie durch den wundervollen Abend. Der Himmel war
mit Sternen übersät, am Weg leuchteten die
Glühwürmchen geheimnisvoll.
»Schade«, murmelte Heidi, als Laubern erreicht war. »Daß
doch alles Schöne so rasch ein Ende nehmen muß.«
Sie fand die Haustür verschlossen, und so laut sie auch
klopfte, nichts rührte sich. Die Bewohner des Hauses
schienen einen beneidenswert festen Schlaf zu haben.
Die drei Freunde standen ratlos, bis Rotraut vorschlug:
»Komm mit nach Regglinsgrund, Heidi. Dort stehen wir
bestimmt nicht vor verschlossenen Türen, weil Dora mich
erwartet. Ich fürchte nur, daß deine Eltern sich um dich
sorgen werden.«
»Hätten sie dann einen so festen Schlaf?« erwiderte das
Mädchen bitter. »Ja, wenn ich Iris wäre.«
Sie tat den beiden anderen von Herzen leid, was diese
jedoch nicht zeigten. Eberhard sorgte dafür, daß keine
trübe Stimmung aufkommen konnte, und vergnügt kam
man in Regglinsgrund an, wo man noch nicht so früh zur
Ruhe gegangen war. Iris musizierte und hatte die beiden
Regglins als Zuhörer. Die Angekommenen traten leise
hinzu, winkten zu Mutter und Sohn hin, um die Sängerin
nicht zu stören, die so saß, daß sie ihren Eintritt nicht
bemerkte.
Rotraut ließ sich in einen Sessel sinken, Adelheid setzte
sich auf dessen Seitenlehne, Eberhard stützte sich auf die
Rückenlehne, und so hörten sie andächtig zu, bis Iris ihre
Klage hinausschrie:
»Daß du mich nicht liebst, so wie ich dich,
das ist meines Herzens Not…«
Da konnte Eberhard es sich doch nicht verkneifen, sich tief
zu Rotraut hinunterzubeugen und ihr zuzuflüstern:
»Und wenn du nicht aufhörst, mein liebes Kind,
sind wir bald mausetot.«
Raute konnte mit Mühe das Lachen unterdrücken, doch
Heidi, der diese Worte auch nicht entgangen waren, gelang
das nicht. Silberhell perlte es über ihre Lippen – hinein in
die jammervolle Klage, die plötzlich mit schrillem Ton
abbrach.
»Bravo!« Eberhard klatschte begeistert Beifall. -»Wie schön,
daß wir noch leben dürfen.«
Rotraut und Adelheid, die ja nur allein den Sinn der Worte
verstanden, lachten ein klingendes Duett.
Harro hatte seine Frau noch niemals so fröhlich gesehen.
Die Wangen waren von dem Ritt durch die frische
Abendluft gerötet, die Augen strahlten.
Iris, die selbstverständlich tief gekränkt war, daß man es
gewagt hatte, mitten in ihrem Gesang zu lachen, trat
langsam näher. Und da der Mensch ja oft nach einem
Opfer zu suchen pflegt, an dem er seine Wut auslassen
kann, so mußte die arme Adelheid herhalten.
»Wo kommst du denn her?« kam es ungnädig von den
rotgefärbten Lippen. »Du weißt, daß die Eltern es nicht
lieben, wenn ihre Töchter sich in der Nacht herumtreiben.«
Bevor die Angegriffene sich wehren konnte, meldete sich
Eberhard, der zu gegebener Zeit genauso ironisch sein
konnte wie sein Vetter Harro.
»Aber meine Gnädigste, warum denn gleich so streng?
Durch das Schlüsselloch konnte Ihr Schwesterlein nun
wirklich nicht kriechen, obwohl es über ein entzückendes
Sylphidenfigürchen verfügt. Und durch die Tür zu gehen,
diese Selbstverständlichkeit blieb ihm leider versagt, weil
man in Laubern den Schlaf des Gerechten schläft. Und da
Rautendelein und ich die arme Obdachlose nicht auf der
Haustürschwelle übernachten lassen wollten, haben wir sie
hierhergebracht.«
Harro und seine Mutter lachten amüsiert, was den Ärger
der bösen Iris gewiß nicht milderte.
»Wir haben hier aber kein Asyl für Obdachlose«, entfuhr es
ihr unbedacht, worauf Adelheid das aussprach, was die
anderen dachten.
»Was hat du denn hier zu sagen? Ich wundere mich, daß
Tante Liane – na ja – schweigen wir davon. Im übrigen bin
ich Gast der Gräfin Rotraut, genügt dir das?«
Man fürchtete, daß Iris im nächsten Augenblick platzen
müßte, diesen Eindruck machte sie nämlich. Das Gesicht
war rot vor unterdrückter Wut, die Augen funkelten wie die
einer gereizten Katze. Es war gut, daß Dora eintrat, die
Rotraut unbemerkt von den anderen herbeigerufen hatte.
»Wir haben einen Gast, Dora«, sagte ihre Herrin freundlich.
»Bereiten Sie ein gutes Lager auf dem Diwan in meinem
Schlafzimmer. Dann gehen Sie zur Ruhe.«
Als das Mädchen sich zurückgezogen hatte, seufzte
Eberhard:
»Hat die Komteß es gut. Was wird nur aus mir? Trügerisch
wie die Frauen war der Sternenhimmel, der bei dem Ritt
vorhin über uns gefunkelt hat. Denn jetzt höre ich den
Regen gegen die Fensterscheiben klopfen. Deshalb poche
ich an dein gutes Herz, Tante Liane, und bitte um ein
Plätzchen, wohin ich mein müdes Haupt legen kann.«
»Schon gewährt, mein Schlingel«, lachte sie. »Und da ich
soeben eine poetische Ader an dir entdeckt habe, so wollen
wir diese gebührend feiern. Folglich wird der so malerisch
hingegossene Hausherr sich um einen guten Tropfen
bemühen müssen.«
Dieser erhob sich schmunzelnd, ging hinaus und kam mit
einigen Flaschen wieder. Es wurden vergnügte Stunden, die
sich ausdehnten, bis das erste Frührot am Himmel
leuchtete. Fröhlich trennte man sich, um sich einem kurzen
aber festen Schlaf hinzugeben.
Die Traulichkeit des Gemachs, in das Rotraut sie führte,
umfing Adelheid wie mit linden Armen. Hier war es schön,
hier konnte man sich geborgen fühlen. Das Lager mit
seinen seidenen Kissen und Decken lockte. Sogar ein
Nachtgewand, dem Wäscheschatz der Gräfin Rotraut
entnommen, lag bereit.
»Nun mache es dir bequem, Heidelein«, sagte Raute
herzlich. »Ich gehe indes in das Badezimmer, das dann
anschließend dir zur Verfügung steht.«
Als sie ins Schlafzimmer zurückkehrte, war sie erstaunt, die
Freundin bereits auf ihrem Lager zu finden.
»Kannst du denn hexen, Heidi? Ich brauchte zu meiner
Nachttoilette bestimmt mehr Zeit.«
»Zwischen dir und mir besteht ja auch ein Unterschied.«
»Und ein großer!« warf Rotraut spöttisch ein. »Du bist die
Komteß Illsund, und ich bin das Fräulein Bracht.«
»Nein, du bist die Gräfin Regglin«, entgegnete das Mädchen
heftig. »Hast du eine Ahnung, was das bedeutet? Die
Regglin und die Halldungen stehen im weitesten Umkreis
an führender Stelle. Und von allen Herrinnen, die ich
kenne, bist du die schönste und stolzeste.«
»Nimm deine rosenrote Brille ab«, lachte Rotraut herzlich.
»Sie trübt dir nur den Blick. Du wirst meine Fehler schon
noch kennenlernen.«
»Die glaube ich dir nicht«, beharrte Adelheid eigensinnig.
»Und nun will ich von dem Unsinn nichts mehr hören,
sonst werde ich böse.«
»Als wenn du es nicht jetzt schon wärst«, neckte Rotraut
und setzte sich zu der Freundin, die sie schmeichelnd
umfaßte.
»Ich bin dir ja so dankbar, Raute.«
»Warum denn?«
»Weil du der erste Mensch bist, der mich meiner Schwester
vorzieht. Ich habe bisher immer in ihrem Schatten leben
müssen. Und das war manchmal nicht leicht.«
»Das ist jetzt vorbei, Heidelein. Du mußt dir nur von mir
helfen lassen. Willst du?«
»Ja.«
»Das freut mich. Und nun gute Nacht – oder besser: Guten
Morgen, weil bereits die Sonne ins Zimmer lacht, die den
Nachtregen vertrieben hat. Schlafen wir noch einige
Stunden.«
Es war noch verhältnismäßig früh, als sie erwachten. Trotz
des kurzen Schlafes waren sie frisch und munter. Sie
plauderten noch ein wenig, dann ging Rotraut ins
Badezimmer, um zu duschen.
Indes besah Adelheid ihre Kleider und wurde traurig. Sie
war gewiß nicht eitel, auch nicht anspruchsvoll, aber ihre
Sachen waren doch wirklich gar zu schäbig. Gestern noch
hatte sie den Reitanzug bügeln lassen, aber nachdem sie
ihn tagsüber angehabt hatte, trat seine Abgetragenheit
wieder hervor. Hastig legte sie den Dreß zur Seite, als
Rotraut eintrat.
»So ein Duschbad erfrischt doch wunderbar«, sagte Raute
und tat, als wäre ihr die Kleidermusterung entgangen. »Nun
hopp, Heidelein, hinein in die kühle Flut!«
Als Heidi wiederkam, waren ihre Kleider verschwunden.
Dafür lagen andere bereit, bei deren Anblick dem Mädchen
dunkle Röte ins Gesicht schoß. Schon wollte sich der Mund
zum Protest öffnen, doch Rotraut legte warnend den Finger
auf die Lippen.
»Da hat dein Reitanzug gestern gehörig was abgekriegt«,
sprach sie so laut, daß Dora, die sich im Nebenzimmer
aufhielt, es hören konnte. »Außerdem kannst du in ihm
jetzt nicht beim Frühstück erscheinen. Also ziehe die
Sachen an, mit denen ich dir gern aushelfe. Kommen Sie,
Dora, helfen Sie der Komteß beim Ankleiden.«
Was blieb Heidi anderes übrig, als sich resigniert zu fügen?
Das bedingte schon die Anwesenheit der Zofe.
Später starrte sie dann erschrocken ihr Spiegelbild an.
Machte es die gefällige Frisur, die Doras geschickte Hände
ihr gelegt hatten, oder das Kleid?
Hilflos sah sie sich nach Rotraut um, die ihr lächelnd
zunickte. Sie schickte Dora mit einem Auftrag hinaus und
sagte dann herzlich:
»Nun bist du so, wie ich dich gern sehen möchte,
Heidelein. Gut sitzt das Kleid, du hast fast meine Figur. Wie
wäre es, wenn du fortan deine Garderobe aus dem
Modehaus beziehen würdest, das auch die meine liefert?«
Erschrocken wehrte Heidi ab.
»Raute, wo denkst du hin! Meine Eltern können mir nur
ein geringes Taschengeld geben, das nicht einmal für meine
bescheidenen Ansprüche reicht. Wir sind nicht reich,
Raute.«
»Du brauchst ja keine Modelle zu tragen«, beharrte diese.
»Es gibt in dem Atelier auch billige Sachen, die trotzdem
fesch sind. Soll ich dir einmal so ein Kleid bestellen?«
»Wenn du willst«, sagte Heidi zögernd. »Ich habe mir eine
kleine Summe erspart.«
»Von dem geringen Taschengeld?« unterbrach Rotraut sie
ernst.
»Ja. Ich brauche davon in manchen Monaten wenig, weil
ich mir aus den abgelegten Sachen meiner Schwester noch
immer einmal was zurechtschneidern kann.«
So sieht es auch aus, wäre es Rotraut beinahe entschlüpft.
Da nun Dora wieder eintrat, konnten sie das Gespräch
nicht fortsetzen und gingen hinunter zur Terrasse, um dort
das Frühstück einzunehmen. Die beiden Regglins und
Eberhard Halldungen waren bereits damit beschäftigt.
»Ei sieh da«, Eberhard begrüßte sie augenzwinkernd.
»Schon so früh auf den Beinchen? Das nenne ich tapfer.«
»Hältst du uns für Murmeltiere?« gab Rotraut lächelnd
zurück. »Das soll uns mal einer vormachen, bei dem
Sonnenschein länger als nötig im Bett zu bleiben.«
Sie war entzückend, als sie vor dem Vetter stand, lachenden
Schelm in den Augen. Als sie sich jedoch zur Begrüßung an
Gräfin Liane und Harro wandte, verschwand ihre
gewinnende Herzlichkeit und wich einer hochmutigen
Kälte. Zu jäh war der Wechsel, als daß er für Zufall gehalten
werden konnte. Doch dies fand weniger Beachtung, als es
sonst der Fall gewesen wäre, weil aller Interesse Adelheid
galt.
»Raute war so lieb, mir mit einem Kleid auszuhelfen«,
erklärte sie hastig, ehe die anderen noch zu Wort kommen
konnten. Da sie die Verlegenheit des Mädchens sahen,
stellten sie sich harmlos. Eberhard neckte Rotraut, die
schlagfertige Antworten gab, und so blieb Heidi Zeit, ihre
Verwirrung zu überwinden.
Sie hatten ihr Frühstück noch nicht beendet, als Herma
Halldungen erschien.
»Na warte, du Schlingel!« drohte sie dem Sohn. »Du sitzt
hier gemütlich und läßt deine arme Mutter sich zu Tode
ängstigen.«
Sie fand für ihre Entrüstung kein Verständnis, wurde
ausgelacht, lachte liebenswürdig mit und ließ sich nicht
lange nötigen, beim Frühstück mitzuhalten. Herma nahm
Platz und stutzte.
»Heidelein, Sie sehen heute ja entzückend aus. Werden Sie
doch nicht rot, Kind. Ich als alte Frau kann Ihnen das doch
wohl sagen. Na so was!«
Sie war so komisch in ihrer Verblüffung, daß die anderen
herzlich lachten. Auch Heidi tat mit. Denn schließlich hört
ja jedes Mädchen gern, daß es gut aussieht. Es kommt nur
ganz darauf an, wie es gesagt wird.
Wie Iris es tat, die nun auch geruhte zu erscheinen, mußte
es verletzend wirken.
Heidi stellte ihre schöne Schwester heute in den Schatten.
Sie wirkte mit ihrer natürlichen Schönheit wie eine
taufrische Blume neben einer verzärtelten
Treibhauspflanze.
Natürlich hatte Iris die Veränderung Heidis sofort erfaßt.
»Wie siehst du denn aus?« fragte sie unfreundlich.
»Genau wie ein Mensch«, kam die schlagfertige Antwort,
die herzlich belacht wurde. Darüber war die Ältere
selbstverständlich gekränkt. Jedoch niemand nahm davon
Notiz. Man unterhielt sich lebhaft darüber, was man bei
dem herrlichen Wetter wohl unternehmen könnte.
Schließlich entschloß man sich zum Tennisspiel.
Sofort besserte sich Iris’ Laune, denn im Tennis war sie
nicht so leicht zu schlagen. Sie hielt es sogar nicht unter
ihrer Würde, die Krämerstochter zu einer Partie
aufzufordern. Was sie damit bezweckte, ließ sich unschwer
erkennen.
Die Dreßfrage war bald gelöst. Wer den seinen nicht bei
der Hand hatte, bekam einen geliehen. Raketts waren
genügend vorhanden, also stand dem Spiel nichts mehr im
Wege. Samt und sonders zog man zum Tennisplatz, der an
einer schattigen Stelle des Parkes lag. Und kaum, daß man
ihn erreicht hatte, stand Iris auch schon spielbereit.
Wahrscheinlich konnte sie die Niederlage ihrer Gegnerin
kaum noch erwarten.
Um so ruhiger war Rotraut. Lächelnd gab sie die Bälle
zurück, ohne sich dabei anzustrengen, während Iris wie
wild umhersprang. In ihrem verbissenen Eifer spielte sie
viel schlechter als gewöhnlich.
Die Zuschauer hielten vor Spannung den Atem an. Gräfin
Liane, die selbst eine vorzügliche Spielerin war, sagte
kopfschüttelnd:
»Was hat Iris nur heute? Sie spielt ja miserabel.«
»Blinder Eifer schadet nur«, entgegnete der Sohn
achselzuckend.
Eberhard, der das Amt des Schiedsrichters inne hatte,
klatschte plötzlich Beifall.
»Bravo, Rautendelein!«
Also war diese Siegerin. Langsam kam sie näher, während
Iris an ihr vorüberhastete und sich neben Liane echauffiert
auf die Bank fallen ließ.
»Uff, das war ein interessantes Spiel«, tat sie begeistert.
»Leider war ich heute nicht in Form. Schade!«
Rotraut, die nun auch herangekommen war, mußte
manche Schmeichelei über ihr Spiel einstecken. Als Harro
sie fragte, ob sie es mit ihm versuchen wolle, war sie sofort
einverstanden.
Und dann standen sich zwei gleichwertige Spieler
gegenüber. Es ging hart auf hart, bis auch diesmal Rotraut
siegt, wenn auch knapp. Sie griff nach dem kühlen Trunk,
den Gräfin Liane zur Erfrischung hatte kommen lassen und
der nun so verlockend im Glas perlte. Doch Harro hielt
ihre Hand fest.
»Ich bin doch so durstig.«
»Ich nicht weniger«, entgegnete er gelassen. »Nur daß ich
vernünftiger bin als du. Kühle dich erst ab, dann kannst du
deinen Durst stillen.«
»Na, ein wenig freundlicher hättest du das auch sagen
können, mein Jungchen«, meinte Gräfin Herma
mißbilligend. »Mein Mann hätte mir nicht in diesem Ton
kommen dürfen. Strafe ihn mit Nichtachtung, mein Kind.«
»O weh, mein Muttchen hetzt«, lachte Eberhard so
herzlich, daß die andern mitlachen mußten. Fürsorglich
zog er der Base die Jacke fester um die Schulter, strich ihr
übers Gesicht und meinte dann gönnerhaft:
»Einige Schlucke seien dir gewährt.«
Er hielt ihr das Glas an die Lippen, und als es zur Hälfte
geleert war, zog er es fort.
»Erquickt?«
»Ja, danke. Nun bin ich wieder zu neuen Taten gerüstet.
Wie wäre es mit uns beiden, Heidelein?«
»Raute, was denkst du von mir!« rief diese ordentlich
entsetzt. »Wenn du schon Iris und Harro schlägst, dann bin
ich bestimmt nach den ersten Bällen erledigt. Aber lernen
möchte ich von dir.«
»Das Vergnügen sollst du haben. Und wie ist es mit dir,
Eberhard?«
»Ich fehle dir wohl noch zu deiner Siegersfreude, Bäschen?
Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um. Außerdem
hast du für heute genug.«
»Du springst ja gut mit mir um«, lachte sie. »Wenn ich nun
nicht gehorche?«
»Dann verprügele ich dich.«
»Schöne Aussichten. Du hast ja einen ganz rabiaten Sohn,
Tante Herma.«
»Das hat er von mir«, war die verblüffende Antwort, die
stürmische Heiterkeit hervorrief. Da es langsam Zeit wurde,
sich zur Mittagstafel umzukleiden, brach man auf. Rotraut
schob eine Hand unter Eberhards Arm, die andere unter
den Heidis, und so gingen sie davon, die anderen folgten.
Die Zeit verging, Tage reihten sich zu Wochen.
Rotraut hatte sich noch immer nicht in Regglinsgrund
eingelebt. Sie vertrieb sich die Zeit auf vergnügliche Art.
Ritt, schwamm, spielte Tennis, fuhr in ihrem Auto zur
Stadt, hielt sich viel in Hermeshöh auf, und Adelheid
machte fast immer alles mit.
In Regglinsgrund sah man Rotraut nur bei den Mahlzeiten,
wo sie sich höflich aber reserviert gab. Sie sprach ihre
Schwiegermutter immer noch formell an, den Gatten
notgedrungen mit seinem Vornamen und Iris, die nach wie
vor bei ihrem geliebten Tantchen weilte, überhaupt nicht.
Waren jedoch die Hermeshöher zugegen, dann gab Rotraut
sich frei und unbeschwert. Sie zeigte deutlich, wie lieb sie
die Tante hatte, und ließ sich von ihr bemuttern. Mit
Eberhard war sie so vertraut wie mit einem Bruder, der sich
manchmal mit dem Schwesterlein zankte.
An einem Nachmittag kehrten die beiden Freundinnen von
einem Ritt zurück. Da Gräfin Liane, Iris und Harro zur
Stadt gefahren waren, tranken sie den Kaffee allein. Dann
suchten sie Rotrauts kleines Reich auf. Heidi hatte noch nie
den Wunsch geäußert, auf Rautes wundervollem Flügel zu
spielen, doch heute liebäugelte sie damit.
»Darf ich, Raute?« fragte sie verlegen.
»Bitte sehr. Bist du denn überhaupt musikalisch?«
»Nicht besonders, darum spiele ich auch nur, wenn ich
allein bin. Aber du wirst sicherlich eine milde Kritikerin
sein.«
Als sie dann spielte, war Rotraut verblüfft. Na, so eine
kleine Heimlichtuerin! Die konnte sich doch bestimmt
hören lassen. Als Heidi dann pausierte und sich verlegen
nach ihr umsah, schalt sie entrüstet:
»Bescheidenheit ist wohl eine Zier, aber allzuviel davon ist
Dummheit. Zur Strafe wirst du mit mir musizieren. Ich
hole gleich meine Geige.«
Es war das erste Mal seit langer Zeit, daß Rotraut das
kostbare Instrument aus dem Kasten holte. Und dann
begann ein Konzert, das die drei Menschen, die nach ihrer
Rückkehr aus der Stadt auf der Terrasse Platz genommen
hatten, verwundert aufhorchen ließ. Da die Fenster in der
ersten Etage offenstanden, konnte man unten jeden Ton
hören, jedes Wort verstehen, das während einer
Musikpause gesprochen wurde.
»Das war einzig schön«, sagte Heidi beglückt. »Du spielst
aber auch ganz wunderbar, Raute.«
»Na, na, nur keine Lobeshymnen, Heidelein. Bei den
Stunden, die ich gehabt habe, ist es gewiß kein Kunststück
zu spielen. Mein Vater war ein großer Musiknarr und daher
sehr darauf bedacht, daß seine Tochter musikalisch
sorgfältig ausgebildet wurde. Allerdings nicht mehr, als es
für den Hausgebrauch notwendig ist.«
»Dann singst du auch?«
»Ich singe, wie der Vogel singt«, intonierte Rotraut
übermütig, worauf Adelheid bat:
»Willst du dieses Lied hier singen, zu dem ich soeben die
Noten entdeckt habe?«
Nachdem die junge Frau einen Blick auf das Blatt geworfen
hatte, lachte sie herzlich!
»Himmel, Heidi, für so sentimental habe ich dich
bestimmt nicht gehalten!«
»Du magst es nicht, Raute?«
»Da dir so viel daran zu liegen scheint, will ich dir gern den
Gefallen tun.«
Nach dem Vorspiel setzte die süße, warme Stimme ein:
»Wißt ihr, wo ich gerne weil’
in der Abendkühle?
In dem kleinen Tale geht
eine kleine Mühle.
Und ein kleiner Bach dabei,
ringsumher steh’n Bäume.
Oft weil’ ich da stundenlang,
schau umher und träume.
Selbst die Blumen in dem Grün
an zu sprechen fangen.
Und ein kleines Blümlein sagt:
›Sieh mein Köpfchen hangen.
Röslein mit dem Dornenkuß
hat mich so gestochen,
ach, das macht mich gar betrübt,
hat mein Herz gebrochen‹
Da naht sich ein Spinnlein weiß,
spricht: ›Sei doch zufrieden.
Einmal mußt du doch vergeh’n,
o ist es hienieden.
Besser, daß das Herz dir bricht
von dem Kuß der Rose,
als du kennst die Liebe nicht
und stirbst liebelose.‹«
Heidi schwieg, ihre Hände glitten von den Tasten, das
Gesicht senkte sich auf das Notenblatt – und dann
schüttelte ein wehes Weinen den schlanken
Mädchenkörper. Erschrocken beugte sich Rotraut über sie.
»Heidelein, was ist dir geschehen? Hat dir jemand etwas
zuleide getan?«
Ein nur noch heftigeres Schluchzen war die Antwort auf die
bange Frage. Ratlos stand die junge Frau neben Heide, bis
der Mädchenkopf sich hob und zwei verweinte Augen sie
flehend ansahen.
»Verzeih’, Rautendelein, ich bin ein dummes Ding. Aber
weißt du, deine süße Stimme hat so wundersam mein Herz
berührt.«
»Und deshalb weinst du so bitterlich? Das kann ich dir
unmöglich glauben, Heidi. Aber ich will nicht in dich
dringen.«
Der Gong, der zum Abendessen rief, ließ Adelheid
aufspringen. Sie warf der Freundin einen bittenden Blick
zu, die ihr darob zärtlich die Wange streichelte. Dann
zogen sie sich eiligst um und gingen in das Speisezimmer,
wo sie die beiden Regglins und Iris bereits vorfanden.
Letztere hatte mit gemischten Gefühlen Spiel und Gesang
gelauscht. Wie konnte Heidi es wagen, sich mit dem ihren
so hervorzutun.
Gewiß, es war ganz passabel, aber doch nicht so, daß sie es
vor andern hören lassen konnte.
Heidi nahm sich in letzter Zeit überhaupt Frechheiten
heraus, die jeder Beschreibung spotteten. Das kam wohl
daher, daß sie diese unausstehliche Krämerstochter hinter
sich hatte, die ja so tat, als wäre sie aus fürstlichem Geblüt.
Und dann nach dem Spiel noch Heidis Heulerei. Man
mußte sich ja der Schwester schämen!
Als Iris Heidi zu Gesicht bekam, machte sie ihrem Ärger
Luft.
»Deine Taktlosigkeit nimmt bestimmt schon Überhand,
Heidi. Du darfst es dir ja noch nicht einmal zu Hause
erlauben, auf dem Klavier herumzuklimpern, weil die
Eltern es nicht ertragen können. Und hier, wo du doch nur
ein Gast bist, tust du es stundenlang.«
Rotraut hatte sich noch niemals gegen die Anmaßungen
der Komteß gewehrt. Aber jetzt wurde es Zeit, daß sie ihr
energisch entgegentrat. Ihr Gesicht nahm einen
hochmütigen Ausdruck an, die Lippen schürzten sich
spöttisch.
»Gestatten Sie, daß ich Ihre Worte korrigiere. Heidi ist mein
Gast, sie kann in meinen Zimmern machen, was sie will.
Wir haben die Absicht, noch recht oft zu musizieren. Wem
das nicht paßt, der braucht ja nicht zuzuhören. Außerdem
ist meine Freundin musikalisch sehr begabt. Was an
Technik noch fehlt, ersetzt der innige Ausdruck. Ich kann
mir darüber schon ein Urteil erlauben, weil ich Gelegenheit
hatte, hervorragende Künstler zu hören.«
Iris war aus allen Wolken gefallen. Am liebsten hätte sie
diese unverschämte Person in ihre Grenzen
zurückgewiesen. Als sie jedoch die mißbilligenden Blicke
Tante Lianes und die ironischen Harros bemerkte, schwieg
sie verbissen. Es herrschte eine peinliche Stille, bis Adelheid
hastig sagte: »Ich muß jetzt nach Hause – weil – du weißt
doch, Raute…«
»Ja, Heidelein. Ich bringe dich in meinem Auto sofort nach
Laubern.«
»Daraus wird nichts«, meldete sich Liane, so energisch wie
selten. »Nach dem Essen kann der Chauffeur dich nach
Hause fahren, Heidi. Du, Rotraut, bleibst hier. Du bist viel
zu erregt, um das Steuer ruhig genug führen zu können. Du
fährst überhaupt sehr leichtsinnig. Harro und ich können
das nicht länger dulden. Deine letzte Fahrt mit Eberhard
war direkt ein frevelhaftes Spiel mit dem Leben.«
Rotraut sah die plötzlich so energisch gewordene Liane
zuerst erstaunt an, dann zuckte sie lächelnd die Achseln.
»Ich weiß schon, wie ich zu fahren habe, Frau Gräfin. Noch
stets habe ich das Steuer in der Gewalt gehabt.«
Liane sah den Sohn an, der ihr beruhigend zulächelte.
»Nur keine Angst, Mutter, ich fahre mit.«
Das klang so bestimmt, daß Rotraut nichts darauf
erwiderte. So weit kannte sie ihren Mann nun schon, um
zu wissen, daß sie gegen seinen herrischen Willen nicht
aufkam.
Nach dem ungemütlichen und sehr schweigsam
verlaufenen Abendessen fuhr man zu dritt nach Laubern.
Auf der Hinfahrt fuhr Rotraut ein gemäßigtes Tempo, weil
Heidi ein wenig ängstlich war. Doch nachdem man die
Komteß abgesetzt hatte, flitzte der Wagen nur so dahin, bis
Harro seine Hand auf die der leichtsinnigen Fahrerin legte.
»Laß das«, sagte sie gereizt.
»Erst, wenn du vernünftig fährst.«
»Ich mag es aber nicht, wenn der Wagen wie eine Schnecke
dahinkriecht.«
»Und wenn du bei dem unsinnigen Tempo verunglückst?«
»Wenn schon – wem liegt was daran?«
Er musterte sie unter halbgeschlossenen Lidern, in den
Augenwinkeln zuckte es.
»Du hast ja eine merkwürdige Auffassung, mein Kind.«
»Jeder wie er kann«, entgegnete sie achselzuckend. »Sieh
nur, wie dunkel es schon ist. Man merkt, daß der Herbst
naht. Und der Winter…«
»Warum sprichst du nicht weiter?«
»Weil – ach, es hat doch keinen Zweck.«
»Doch es hat einen Zweck: mir zu sagen, daß du dich vor
dem Winter auf Regglinsgrund fürchtest. Stimmt’s?«
»Ja und nein.«
»Möchtest du den Winter über auf Reisen gehen?«
Sie schüttelte hastig den Kopf.
»Danke, nein. Diesen einen Winter halte ich es in
Regglinsgrund schon aus. Gerade dann kann man deine
Mutter nicht allein lassen.«
Er musterte sie mit einem Blick, unter dem sie den Kopf
unwillig zur Seite wandte.
»Wie rücksichtsvoll du mit einem Mal bist. Aber lege dir
nur keinen Zwang auf. Meine Mutter hätte so und so nichts
von dir.«
»Wer spricht denn von mir?« fragte sie abweisend. »Dich
würde deine Mutter vermissen, der du mich auf der Reise
wahrscheinlich begleiten würdest. Und deine letzten
Worte, sollen die etwa ein Vorwurf sein?«
»Nicht direkt. Aber lieb wäre es mir schon, wenn du meine
Mutter nicht wie Luft behandeln würdest. Nimm dir ein
Beispiel an Iris, die sehr viel zärtliche Aufopferung für ihr
geliebtes Tantchen aufbringt.«
»Darüber solltest du nicht spotten.«
»Bitte sehr, ich bin nur des Lobes voll über so viel
Liebesreichtum.«
»Schäme dich. Harro!« unterbrach sie ihn empört. »Wie
kannst du dich über ein Mädchen lustig machen, das dich
so sehr liebt.«
Überrascht blitzte es in seinen Augen auf, dann meinte er
achselzuckend:
»Mein liebes Kind, wenn ich auf die Gefühle all der
Mädchen Rücksicht nehmen sollte, die mich zu lieben
angeben, dann wäre ich ein bedauernswerter Mensch, der
niemals seines Lebens froh werden könnte.«
Der Wagen stand auf der Stelle wie festgewachsen.
Sekundenlang kreuzten sich die Blicke der beiden
Menschen wie scharfe Klingen. Achselzuckend wandte
Rotraut sich ab und brachte den Wagen wieder in Gang.
Eine eisige Abwehr ging von ihr aus, die jedoch den Mann
durchaus nicht beeindruckte. Es klang ordentlich
vorwurfsvoll, als er sagte:
»Deine stolze Abwehr ist hier unangebracht. Du müßtest
mich vielmehr bedauern, daß ich so viel Liebe nicht
erwidern kann.«
Und dann beugte er sich so weit vor, daß sein Mund fast
ihr Ohr berührte, und sprach mit schmeichelnder Stimme:
»Besser, daß das Herz dir bricht von dem Kuß der Rose, als
du kennst die Liebe nicht und stirbst liebelose.«
Ihr Kopf ruckte zur Seite, die Augen blitzten vor Empörung.
»Nun, Rotraut, du willst mich wohl mit deinem Blick
umbringen? Hast du mir nichts auf meinen Herzenserguß
zu antworten?«
»Ich habe dir nur zu sagen, daß es ein Unglück sein müßte
– dich zu lieben.«
»Aber Rautendelein, wie kann man nur. Liebe? Ich werde
dir morgen ein Märchenbuch schenken, mein Kind.«
Um nur aus der Nähe dieses arroganten Menschen zu
kommen, gab sie Gas. Der Wagen flitzte so schnell davon,
daß Regglinsgrund in wenigen Minuten erreicht war.
Als Rotraut sich in der Halle des Schlosses von ihrem Mann
verabschieden wollte, sah er sie mit einem Blick an, vor
dem sie errötend den Kopf senkte.
»Es wird auch Zeit, daß du dich schämst«, meinte er
gelassen. »Du bist klug genug, um zu wissen, wie unrecht
du handelst, wenn du dich dem Familienleben fernhältst.
Du kränkst meine Mutter damit, und das kann ich nicht
länger dulden.«
Schweigend ging Rotraut ihm voran nach dem kleinen
Gemach, in dem die Hausherrin am Abend zu weilen
pflegte. Sie hielt sich auch heute hier auf. Das gedämpfte
Licht der Stehlampe gab dem Raum etwas Verträumtes. Im
Nebenzimmer musizierte Iris. Sie spielte und sang heute
besonders gut. Wahrscheinlich wollte sie beweisen, daß ihr
musikalisches Können nicht zu übertreffen war.
Rotraut ließ sich in einen Sessel sinken. Sie fühlte sich
elend zum Vergehen. Müde legte sie den Kopf gegen die
hohe Lehne. Daß Harro sich ihr gegenübersetzte, störte sie,
aber sie konnte es ihm ja nicht verbieten.
»Ist Heidi gut nach Hause gekommen? Und was machen
Illsunds?« wollte die Mutter wissen.
»Wir haben sie nicht gesprochen«, antwortete der Sohn.
»Heidi verabschiedete sich am Parktor von uns.«
Sekundenlanges Schweigen, dann wieder Lianes Stimme:
»Wie benahm sich Rotraut am Steuer?«
»Unvernünftig wie gewöhnlich. Neunzig, hundert, das ist
ihr Tempo.«
»Das darfst du nicht länger gestatten, Harro.«
»Darüber bin ich mir klar. Wenn sie nicht vernünftig wird,
darf sie sich nicht mehr ans Steuer setzen.«
Rotraut war zu müde, um zu widersprechen.
Erbarmungslos hämmerte und bohrte es in ihrem Kopf.
Mit geschlossenen Augen saß sie regungslos. Ab und zu
zuckten die Lider, die Nasenflügel zitterten nervös. Sie
schrak auch zusammen, wenn Iris ihren Sopran besonders
hoch brachte. Und als nun gar das Lied aufklang, das sie
vor einigen Stunden gesungen und dessen letzte Strophe
Harro in so unerträglich spöttischer Art wiederholt hatte,
da stöhnte sie leise auf. Sie fühlte ihre Hand ergriffen und
hörte eine raunende Männerstimme, die ihr durch und
durch ging:
»Ist der Gesang dir unangenehm, Raute? Soll Iris damit
aufhören? Sag es nur. Du brauchst in deinem Haus nichts
zu dulden, das dir lästig ist.«
Erschrocken öffnete sie die Augen und sah in die seinen
hinein, die eine ungewohnte Weichheit widerspiegelten.
»Bitte nicht«, wehrte sie hastig. »Ich mag Gesang so gern.«
Jetzt trat auch Liane hinzu. Sie legte ihre kühle Hand auf
den schmerzenden Kopf der Schwiegertochter und sagte
gütig:
»Du solltest dir mehr Ruhe gönnen, mein Kind. Gestern
bist du wieder über eine Stunde im Wasser gewesen. Hast
den See durchschwömmen, obwohl du weißt, daß es darin
kalte Strudel gibt. Aber du läßt dir ja nichts sagen, willst
immer mit deinem Trotzköpfchen durch die Wand.«
»Hier herrscht ja ein auf die Nerven gehendes
Dämmerlicht«, sagte Iris, die ins Zimmer getreten war,
ungehalten. Und schon schaltete sie die
Deckenbeleuchtung an, die nach dem Halbdunkel
besonders grell wirkte. Rotraut bedeckte die schmerzenden
Augen mit der Hand.
»Laß das, Iris!« verwies Liane sie unwillig. »Raute hat
Kopfweh und kann das blendende Licht nicht vertragen.«
Noch bevor sie zu Ende gesprochen, hatte Harro es bereits
ausgeschaltet. Iris stand wie erstarrt. Was fiel den Regglins
ein?! Vorhin hatte sie schon die Zurechtweisung der
Krämerstochter hinnehmen müssen – und nun fingen
Tante Liane und Harro auch noch damit an? An eine solche
Behandlung war sie nun ganz und gar nicht gewöhnt.
Leider! Und daran waren ihre Eltern doch schuld. Hätten
sie der von Natur schon herrisch veranlagten Tochter nicht
immer den Willen gelassen, dann hätte diese sich niemals
zu einem so anmaßenden, selbstherrlichen Geschöpf
entwickeln können, das sich sozusagen selbst anbetete.
Ihrer Ansicht nach war keine so schön, keine so klug wie
sie. Und daher konnte sie auch überall eine Sonderstellung
verlangen. Also sollte diese hergelaufene Person sich hüten,
ihr die Herrschaft in Regglinsgrund streitig zu machen. Der
wollte sie schon beweisen, daß sie hier nichts zu bedeuten
hatte.
Gleichmütig, als wäre nichts gewesen, holte sie ein
Fußkissen herbei und ließ sich zu Füßen Lianes nieder.
Plauderte charmant und witzig, wie sie annahm, und war
entzückt, als die Gräfin auf das Fest zu sprechen kam, das
man nächstens geben wollte. Sie schmiedete Pläne, machte
Vorschläge und benahm sich anmaßender denn je.
Das tat sie auch, als das Fest kurz darauf stattfand. Als ob
sie ganz zu den Gastgebern gehörte, stand sie in einer
raffinierten Toilette neben diesen und begrüßte die Gäste,
während die junge Gräfin sich im Hintergrund hielt. Und
da es gottlob auch gerechtdenkende Menschen gibt, so
empörten diese sich über die beiden Regglins, die so etwas
duldeten. Ihre Sympathie gehörte fortan Rotraut. Man
scharte sich um sie, zeichnete sie aus und ließ sich von
ihrer entzückenden Art immer mehr gefangennehmen.
Und was war mit dem Aschenputtelchen Heidi geschehen?
Das hatte sich ja in ein Prinzeßlein verwandelt. Ob die
bezaubernde junge Gräfin daran schuld war? Ob sie die
elegante Toilette ihres Lieblings ausgewählt und gekauft
hatte?
Nun, das ging ja keinen was an. Aber man freute sich, daß
dieses bisher so im Verborgenen blühende Heideröslein
dem Schatten entrückt und an ein sonniges Plätzchen
verpflanzt worden war. Taufrisch und anmutig zeigte es
sich jetzt den Augen der Menschen.
Das störte und verdroß nun die schöne Iris ganz
außerordentlich. Hauptsächlich deshalb, weil man sie
kaum beachtete. Sie gesellte sich ihren Eltern zu, um diese
gegen Heidi aufzuhetzen. Hätte sie jedoch die beiden
Regglins bemerkt, die unweit standen und jedes Wort mit
anhören konnten, dann wäre sie bestimmt vorsichtiger
gewesen.
»Seht nur, wie unmöglich Heidi sich benimmt«, begann sie
ihr Gift zu verspritzen. »Die vergißt neuerdings vollständig
ihre gute Kinderstube. Aber das ist kein Wunder. Sie hat ja
an dieser Krämerstochter das denkbar schlechteste Beispiel.
Wenn ihr eurer Tochter den Verkehr mit der hergelaufenen
Person nicht bald verbietet, dann könnt ihr noch was
erleben. Woher hat Heidi überhaupt das auffallende
Kleid?«
Da die Eltern ihr darauf keine Antwort geben konnten,
fragte sie die Schwester danach, die eben mit Rotraut
vorüberging. Heidi hob das feine Naschen und entgegnete
schnippisch:
»Gestohlen«, wandte sich ab und ging mit Rotraut, die ein
amüsiertes Lachen kaum unterdrücken konnte, davon.
Ja, da war nicht nur die sonst so zungenfertige Iris
sprachlos, sondern auch ihr Vater. Und das war gut. Denn
wäre ihm die Zunge augenblickslang nicht wie gelähmt
gewesen, dann hätte sich über dem reizenden Haupt der
kleinen Komteß ein Donnerwetter zusammengezogen, das
in der illustren Gesellschaft bestimmt nicht am Platze war.
Also schluckte der erboste Mann seinen Grimm hinunter,
nahm sich allerlei vor, was seine Tochter Adelheid in
Grund und Boden schmettern sollte und sah, nachdem sich
sein Groll gelegt hatte, schmunzelnd zu, wie seine
Erstgeborene dem Grafen Halldungen schöne Augen
machte.
Warum auch nicht? Der Eberhard konnte sich mit seinem
Vetter Harro bestimmt messen, und Hermeshöh war eine
gewiß nicht weniger fette Pfründe als Regglinsgrund.
Das hatte seine Tochter Iris schon längst erfaßt. Ihr schien
es ratsam, zwei Eisen im Feuer zu haben. Wenn sich wider
Erwarten ihre Hoffnung auf Harro Regglin zerschlagen
sollte, dann blieb ihr immer noch Eberhard Halldungen,
der, wie sie ganz genau zu wissen glaubte, Wachs in ihren
Händen war.
Als sie bei Tisch neben ihm saß, bot sie all ihren Scharm
auf, um ihn zu betören. Er brannte dann auch bald
lichterloh, wie sie befriedigt feststellte. Zwischendurch
versuchte sie noch mit Harro zu kokettieren, der ihr
gegenübersaß und sich mit seiner Tischdame unterhielt.
»Was ist nur mit Iris Illsund?« fragte diese schließlich
befremdet. »So unnatürlich habe ich sie noch nicht erlebt.«
»Sie scheinen einen Schwips zu haben«, lächelte Harro.
»Kein Wunder, da sie dem Wein so eifrig zuspricht.«
»Trotzdem finde ich sie verändert und gewiß nicht zu
ihrem Vorteil. Dafür hat sich die kleine Heidi erstaunlich
herausgemacht. Wie sie jetzt ist, stellt sie ja ihre Schwester
mühelos in den Schatten. Und Ihre Frau, Graf Regglin, die
ist einfach bezaubernd«, sprach die distinguierte Dame
mittleren Alters lebhaft weiter. »Schauen Sie nur, wie sie
ihren Tischherrn, der sonst sehr schweigsam ist, zum
Sprechen gebracht hat. Sie ist aber auch ein Rackerchen
reizendster Art, das einem Mann das Herz schon warm
machen kann«, schloß sie lachend. »Da haben Sie doch
tatsächlich so lange gesucht, bis Sie die passende Frau
gefunden haben, Sie Schwerenöter. Eine Herrin für Ihren
Besitz und etwas Liebes für Ihr Herz.«
Iris hatte die Worte der Dame, die allgemein beliebt und
geachtet war, gehört, und ein böses Licht glomm in ihren
Augen.
Nach dem exquisiten Mahl begann dann der Tanz, dem
sich hauptsächlich die Jugend eifrig hingab. Aber auch die
älteren Herrschaften machten vergnügt mit und freuten
sich der Fröhlichkeit, die um sie herrschte. Rotraut und
Adelheid ließen keinen Tanz aus, während Iris nicht so
begehrt war. Am meisten tanzte sie mit Eberhard
Halldungen, der sie so gut zu unterhalten schien, daß ihr
lautes Lachen immer wieder aufklang. Und die Blicke, die
sie dabei ihrem Partner schenkte, ließ die meisten Gäste
mißbilligend den Kopf schütteln.
Als dann eine Pause eintrat, in der Erfrischungen gereicht
wurden, ging es in der Ecke, wo Raute und Heidi saßen, am
fröhlichsten zu. Fast die gesamte Jugend war dort
versammelt. Der junge Illsund, ein neugebackener Student,
hatte sich in das betörende Rautendelein verliebt. Der
reichlich genossene Sekt ließ ihn so keck werden, daß er
die augenblickliche Königin seines Herzens impulsiv
besang:
»Wie heißt König Ringangs Töchterchen? Rotraut, Schön-
Rotraut!« begann er übermütig, und ebenso stimmten die
andern ein. Iris, die im Kreise der Gastgeber, ihrer Eltern
und der Gräfin Halldungen saß, schürzte verächtlich die
Lippen:
»Die Leutchen sind ja regelrecht beschwipst. So etwas
dürfte doch gar nicht vorkommen.«
»Was Sie nicht sagen«, Herma kniff die Augen zusammen
und besah sich die Sprecherin angelegentlich. »Warum
sollten diese fröhlich singenden Leutchen’ wohl beschwipst
sein? Nur, weil sie einem so entzückenden Geschöpf wie
der jungen Herrin von Regglinsgrund huldigen? Ich täte es
auch, wenn ich ein Mann wäre.«
Illsund bekam einen roten Kopf; denn daß seine Tochter
zurechtgewiesen wurde, wurmte ihn gewaltig. Nur mit
Mühe konnte er eine heftige Erregung unterdrücken. Und
der empörten Iris erging es genauso. Es war gut, daß
Eberhard hinzutrat und durch seine frische Art die
peinliche Situation überbrückte.
Gleich darauf begann auch wieder der Tanz, und Harro trat
auf seine Frau zu. Obwohl sie ihm nur ungern folgte, ließ
sie das nicht merken.
Es war das erste Mal überhaupt, daß sie mit ihm tanzte. Er
führte vorzüglich, sprach jedoch dabei kein Wort. Sein
Gesicht war hart, die Narbe darin hatte sich gerötet. Das
war das Zeichen, daß er sich in gereizter Stimmung befand,
wie Rotraut längst schon wußte. Es wurde ihr unbehaglich,
und sie atmete erleichtert auf, als der Tanz beendet war.
Hoffentlich holte Harro sie nicht zu einem zweiten!
Nein, er tat es nicht. Er hatte mit dem einen Tanz ja auch
seiner Pflicht genügt, mehr schien er seiner Frau gegenüber
nicht für erforderlich zu halten. Außerdem wurde sie von
den Herren so umschwärmt, daß man sich beeilen mußte,
um sich einen Tanz mit ihr zu sichern. Und um diesen
Wettlauf mitzumachen, dazu verspürte Harro keine Lust.
Der neue Tag war schon längst angebrochen, als man sich
vergnügt trennte. Man beteuerte immer wieder, wie
wunderschön die Stunden gewesen waren, die man in dem
gastfreien Haus verlebt hatte. Man sagte den Gastgebern
herzlichen Dank und ging zu den Wagen.
Iris sträubte sich wie gewöhnlich, mit den Eltern nach
Laubern zu fahren. Aber diesmal setzte sie ihren Willen
nicht durch, weil der Vater ein ihr ungewohntes Machtwort
sprach. Es kränkte ihn denn doch zu sehr, daß sein Abgott
bei dem Fest nicht die Hauptperson gewesen war.
Adelheid mußte natürlich auch mit. Wenn er sie erst zu
Hause hätte, wollte er ihr die schnippische Art schon
abgewöhnen.
Doch so eifrig er Heidi auch suchte, sie schien wie vom
Erdboden verschwunden zu sein, so daß er schließlich
wutentbrannt ohne sie abfahren mußte. Na, die sollte was
erleben!
Nachdem auch diese letzten Gäste gegangen waren, traten
Harro und seine Mutter auf die Terrasse hinaus, um sich
erst ein wenig von dem Trubel zu erholen, bevor sie sich
einige Stunden zum Schlaf niederlegten. Sie atmeten die
herbe Morgenluft tief ein und genossen schweigend die
erwachende Natur. Die Sonne, die leuchtend am Horizont
erschien, überstrahlte alles ringsum mit ihrem lodernden
Schein. Vogelstimmen wurden mehr und mehr hörbar,
eine Lerche schwang sich jubelnd empor. Sonst herrschte
noch die erhabene Ruhe des frühen Morgens.
Plötzlich schraken die beiden ins Schauen versunkenen
Menschen zusammen, und ihr Blick flog zu den geöffneten
Fenstern hin, hinter denen Rotraut sprach:
»Hier bist du, Heidi? Noch vor einigen Minuten habe ich
dich gesucht, weil deine Eltern nicht ohne dich nach Hause
fahren wollten.«
»Sind sie fort?«
»Ja. Dein Vater war sehr ärgerlich. Wo hast du dich
versteckt gehalten, daß man dich trotz eifrigen Suchens
nicht finden konnte?«
»In deinem Ankleideraum.«
»Aber Heidi, warum denn. Wie siehst du überhaupt aus,
hast ja ganz dick verweinte Augen.«
»Raute, liebe Raute«, schluchzte das Mädchen heiß auf,
indem es den Arm um den Hals der erschrockenen jungen
Frau legte. »Darf ich bei dir bleiben? Bitte!«
»Heidilein, du zitterst ja vor Erregung. Komm, setz dich
zuerst einmal. So. Und nun erzähle mir, warum du so
furchtbar weinst.«
»Ach, Raute!«
»Damit ist uns beiden nicht geholfen!« Rotraut wurde
energisch. »Reiß dich doch zusammen. Hier, nimm eine
Zigarette.«
Einige Minuten herrschte Schweigen, dann stieß das
Mädchen verbissen hervor:
»Diese Schändlichkeit! Ich dulde sie nicht – nein, um alles
nicht! Er darf nicht unglücklich werden!«
»Wer denn, um alles in der Welt. Etwa Harro?«
»Der doch nicht«, tat Heidi ungeduldig ab. »Der kann ja
niemals unglücklich werden, weil er viel zu arrogant ist. Ich
spreche von Eberhard, den Iris neuerdings auf eine Weise
umgarnt, die ihm zum Verhängnis werden muß. Dabei hat
sie die Hoffnung auf Harro noch längst nicht aufgegeben.
Ist das etwa nicht schändlich, Raute?«
»Heidi, man soll mit Beschuldigungen vorsichtig sein.«
»Ich habe aber gesehen, wie Iris sich von Eberhard küssen
ließ«, fuhr das Mädchen heftig auf. »Ist das noch nicht
Beweis genug?«
»Allerdings«, entgegnete Rotraut betroffen. »Vielleicht
gedenkt er deine Schwester zu heiraten.«
»Das ist es ja, was ich befürchte«, weinte Heidi nun wieder.
»Und dann wird er bestimmt unglücklich – und das darf er
nicht. Ach, Raute, ich möchte sterben!«
»Heidekind, wer wird denn so verzweifelt sein«, sagte die
junge Frau erschüttert. »Doch nun eine Frage, die du mir
ohne jede falsche Scham beantworten sollst: Liebst du
Eberhard?«
»Ja.«
»Das habe ich mir gedacht. Aber laß nur, noch ist ja nichts
spruchreif. Ich glaube nicht, daß Eberhard seiner Mutter
eine Schwiegertochter ins Haus bringen wird, die ihr
absolut nicht zusagt.«
»Meinst du, Raute?«
»Ja, Heidi. Und nun trockne deine Tränen, du Dummchen.
Du hast bis jetzt noch keine Veranlassung, so verzweifelt zu
sein.«
»Wenn du doch recht hättest«, kam es noch immer
tränenschwer zurück. »Schau mal, ich persönlich mache
mir ja keine Hoffnungen auf Eberhard, weil ich weiß, daß
er für mich nichts übrig hat. Aber er soll nicht unglücklich
werden. Kannst du das verstehen, Raute?«
»Voll und ganz, Heidi. Aber glaube mir, oft trügt der
Schein. Und damit mußt du dich trösten.«
»Ach, Raute.«
»Ach, Heidi! Nur nicht wehleidig werden, damit verbitterst
du dir nur dein Leben. Geh jetzt schlafen. Und damit du es
wirklich kannst, werde ich dir einen Beruhigungstrank
mischen. Morgen wirst du dann brav nach Hause fahren…«
»Auf keinen Fall!« rief das Mädchen angstvoll. »Wenn du
mich nicht hierbehalten willst, dann gehe ich in den See.«
»Wahrscheinlich zum Baden«, lachte Rotraut. Heidi war
empört.
»Du lachst, wenn mir das Herz vor Jammer brechen will?
Das ist häßlich von dir!«
»Na, soll ich über solchen Unsinn weinen? Ich behalte dich
gern hier, das müßtest du wohl wissen. Ich fürchte nur, daß
dein Vater dich gewaltsam nach Hause holen wird.«
»Kann er nicht, weil ich mündig bin.«
»Oh, über diesen Trotzkopf! Warten wir ab, das ist nämlich
das beste, was wir tun können.«
Als Rotraut am späten Morgen erwachte, schlief Adelheid
noch so fest, daß die junge Gräfin sich leise anzog und
dann hinunterging, um zu frühstücken. Harro und seine
Mutter tranken bereits Kaffee. Nach einem kühlen Gruß
nahm die Hinzugekommene ihren Platz ein und aß ohne
jeden Appetit, weil ihr Mann recht verstimmt zu sein
schien. Und daß diese Verstimmung mit ihr
zusammenhing, merkte Rotraut bald.
Was hatte sie nun schon wieder verbrochen? Sie konnte
sich doch wahrhaftig so klein wie möglich machen, aber
immer noch gab es etwas, woran der Herr Gemahl Anstoß
nahm. Nun, was es diesmal war, das würde sie ja bald
erfahren.
Und sie erfuhr es, nachdem man das Frühstück beendet
hatte und nach den bereitliegenden Postsachen griff. Harro
schob ihr die Post, die für sie bestimmt war, zu und sagte
ungehalten:
»Wenn noch einmal Briefe für dich mit verkehrter Adresse
eintreffen, dann lasse ich sie zurückgehen. Ein Fräulein
Bracht existiert nämlich nicht in Regglinsgrund, wohl aber
eine Gräfin Regglin.«
»Soll ich das etwa sein?« fragte sie hochmütig, worauf er die
Zähne zusammenbiß, einmal schwer atmete und dann
sagte:
»Liebe Rotraut, ich habe bisher eine Geduld mit dir gehabt,
die mir selber nicht erklärbar ist. Laß es jedoch nicht etwa
darauf ankommen, daß sie mir reißt. Es ist ein Fehler von
dir, daß du nur auf deine Gefühle Rücksicht nimmst und
niemals auf die deiner Mitmenschen. Daß du mich durch
dein sonderbares Benehmen lächerlich machst, davon will
ich nicht sprechen. Wohl aber, daß auch meine Mutter
davon betroffen wird. Wie die Dinge liegen, konntest du
nicht von ihr verlangen, daß sie dir mit offenen Armen
entgegenkam. Dann hat sie jedoch versucht, sich dir zu
nähern, was du in beleidigender Weise zurückgewiesen
hast. – So, das war eines, und das andere: Was soll wohl
der Briefträger denken, der die Post bringt, die an Fräulein
Bracht adressiert ist? Sorge also dafür, daß sie fortan die
richtige Anschrift trägt.«
Damit überreichte er ihr die für sie bestimmten Briefe und
sah dann die seinen durch. Ebenso tat es seine Mutter. In
Rotraut stritten Widerspenstigkeit und Einsicht. Ihr Trotz
lehnte sich gegen den Tadel Harros auf, ihre Vernunft gab
ihm recht. So saß sie minutenlang mit abweisendem
Gesicht, bis sie sich dann entschloß, auch ihre Briefe zu
öffnen. Es war nichts von Bedeutung dabei. Reklame,
Angebote von Modehäusern und andere Drucksachen
mehr. Nur ein Schreiben schien persönlicher Art zu sein.
Und kaum hatte Rotraut es mit den Augen überflogen, als
sie erblaßte. Scheu ging ihr Blick zu Harro und seiner
Mutter hin. Doch die waren ins Lesen vertieft. Da erhob sie
sich hastig.
»Ich will mal rasch nach Heidi sehen, die jetzt bestimmt
schon ausgeschlafen hat.«
Sie raffte ihre Briefe zusammen und eilte davon. So
bemerkte sie nicht die Blicke, die Mutter und Sohn
tauschten.
»Hast du ihr Erschrecken gesehen, Harro?«
»Ja.«
»Hast du eine Ahnung, von wem der Brief sein könnte?«
»Nein, es stand kein Absender drauf. Zerbrechen wir uns
nicht weiter den Kopf, Mutter, das ist zwecklos. Du weißt
ja, daß Rotraut kein Vertrauen zu uns hat.«
»Leider. Vielleicht liegt das an dir, mein Junge?«
»Möglich.«
Seufzend wandte Liane sich wieder ihren Briefen zu. Wenn
Harro so zugeknöpft war, dann bekam sie nichts aus ihm
heraus. Das wußte sie schon längst aus Erfahrung.
Inzwischen saß Rotraut in ihrem Wohnzimmer und las
noch einmal den Brief, der sie so erschreckt hatte. Wie gut,
daß Heidi noch nicht angekleidet war und ihr somit Zeit
blieb, sich zu sammeln. Als die Freundin dann eintrat,
wurde sie neckend empfangen:
»Das nennt man schlafen, du Murmeltierchen! Die
Mittagssonne muß dir doch bereits ins Bett geschienen
haben.«
»Das kann man wohl sagen«, entgegnete die andere
verlegen. »Ich habe mich wohl sehr töricht benommen –
na, du weißt ja.«
»Das scheint mir auch so«, war die lachende Erwiderung.
»Aber laß nur, nach einer durchfeierten Nacht pflegt
hinterher der Katzenjammer zu kommen. Wie ist es mit
dem Frühstück?«
»Das hat mir Dora bereits ans Bett gebracht.«
»Lieb von ihr. Da können wir uns gleich mit den Kleidern
beschäftigen, die angekommen sind. Schau mal dieses
fesche Kostüm. Ist das nicht für die kommenden
Herbsttage wie geschaffen?«
»Raute, ich kann doch nicht…«
»Immer die gleiche Litanei. Du hast mir doch kürzlich eine
ganz gute Summe zum Einkauf gegeben. Und da mein
Vater schon immer sagte, daß ich ein kleines Rechengenie
bin, so ist es mir möglich gewesen, neben dem Festkleid
noch diese reizende Angelegenheit herauszuschlagen.
Stürze dich also gleich hinein.«
Wie angegossen saß das helle Kostüm mit der dazu
passenden Bluse. Adelheid hätte kein Mädchen sein
müssen, wenn ihr nicht die Freude aus den Augen gelacht
hätte. Dafür lachte nun Rotraut in sich hinein. – Und so
hatte jeder etwas davon.
Als sie dann später durch den Park schritten, spürte Heidi,
daß die Freundin nicht so ausgeglichen war wie sonst.
Raute hatte einen fremden Zug im Gesicht, die Augen
hasteten unstet umher. Eine Weile sah sich Adelheid das
schweigend an, dann fragte sie leise:
»Rautendelein, dir fehlt doch etwas, willst du es mir nicht
sagen? Vielleicht kann ich dir helfen?«
Augenblickslang schwieg Rotraut wie überlegend, dann
fragte sie mit tränendunkler Stimme:
»Kann ich dir vertrauen, Heidi?«
»Voll und ganz, Raute.«
»Auch wenn ich dich vorläufig im unklaren lassen muß?«
»Wäre es sonst ein volles Vertrauen, Rautendelein?«
»Ich danke dir«, die junge Frau atmete erleichtert auf. »Ich
habe nämlich eine Bitte, die du immer noch ablehnen
kannst.«
»Ich werde es nicht tun.«
»Abwarten. Ich muß heute noch nach Königsberg, wo eine
sehr schmerzliche Angelegenheit auf mich wartet. Da nun
aber Harro angeordnet hat, daß ich nie ohne Begleitung im
Auto fahren soll, so bitte ich dich, mit mir zu kommen.
Willst du das?«
»Selbstverständlich, Raute. Daß du nichts Unrechtes tun
wirst, das weiß ich. Alles andere geht mich nichts an.«
Rotraut erwiderte nichts darauf, weil ihr die Tränen in der
Kehle saßen. Sie zog die treue Freundin an sich und küßte
sie.
Harro ritt nach dem Mittagessen aus, um in Begleitung des
Verwalters auf einem Nebengut eine unangenehme Sache
in Ordnung zu bringen. Denn der Gutsherr verbrachte
seine Tage durchaus nicht im süßen Nichtstun, obgleich er
sich das hätte leisten können, sondern er kümmerte sich als
ausgezeichneter Landwirt sehr eingehend um seinen Besitz.
Und da er über gute Mitarbeiter verfügte, so lief in dem
Riesenbetrieb alles wie am Schnürchen. Und wenn sich in
ihm hier und da auch einmal ein Knoten zeigte, so wurde
er immer sofort beseitigt.
Um einen solchen zu entwirren, traf er denn auch auf dem
Nebengut ein. Als er dann ohne den Verwalter, der
anschließend auf einem Vorwerk noch nach dem Rechten
sehen wollte, nach Hause ritt, war er müde und
abgespannt.
Man merkte, daß der September seinem Ende zuging. Die
Luft war herb und frisch. Die Sonne hatte schon erheblich
an Kraft verloren.
Harro Regglin liebte seine Heimat wie kaum einer. Selbst
dann erschien sie ihm herrlich, wenn der Sturm tobte und
der Regen alles grau in grau erscheinen ließ. Zuerst auf dem
Gaul dahinzutraben und bei anbrechender Dunkelheit ins
warme Zimmer zu flüchten, wo die Mutter, unter deren
kühler Ruhe sich ein so warmes Herz barg, auf ihn wartete,
das war schön. Jedesmal empfand er dann von neuem den
Reiz des Nachhausekommens.
Heute regnete es zwar nicht, aber doch strebten Roß und
Reiter ungeduldig Stall und warmer Stube zu. Daher waren
sie beiden nicht erfreut, als der frischfröhliche Ritt
unterbrochen werden mußte, weil Ihnen eine Reiterin
entgegenkam.
»Guten Abend, Harro«, grüßte sie schon von weitem. Dann
hielt sie, wodurch Regglin gezwungen war, das gleiche zu
tun. Mit einem verführerischen Lächeln reichte sie ihm die
Hand, die er nicht wie sonst an seine Lippen zog, sondern
nach kurzem Druck freigab. Das ärgerte die schöne Iris,
obwohl sie es nicht merken ließ. Strahlend sah sie ihn an.
»Wie gut, daß ich Sie treffe, Harro. Ich war nämlich bei
Tante Liane eingekehrt, wo es so gemütlich war, daß ich
mich über Gebühr verplauderte. Jetzt ist es schon fast
dunkel, und daher freut es mich, in Ihnen einen Beschützer
getroffen zu haben. Sie werden mich doch nach Laubern
begleiten?«
»Bitte sehr.«
Er hatte Mühe, das Pferd zu wenden. Es dauerte eine ganze
Weile, bis es neben seinem Artgenossen einigermaßen
gutwillig dahintrabte. Um nur irgendeine Unterhaltung zu
beginnen, fragte Harro:
»Wie ist Ihnen denn das gestrige Fest bekommen,
Komteß?«
»Danke, sehr gut. Aber Ihnen doch nicht minder, will ich
meinen. Sie haben nach alter Art wieder einmal ganz nett
geflirtet.«
»Warum soll ich nicht«, lachte er. »Oder schickt sich das
nicht für einen Musterehemann?«
»Musterehemann!« Ihre Mundwinkel zogen sich nach
unten. »Sie sehen auch ganz danach aus. Aber schließlich
haben Sie es ja nicht nötig, bei dieser Ehe den verliebten
Gatten zu spielen.«
Er sah sie unter halbgeschlossenen Lidern an. Und hatte
diese spöttische Überlegenheit sie schon immer gereizt,
heute tat sie es ganz besonders, da es sehr verächtlich
klang, als er sagte:
»Ich fürchte, ich verstehe Sie nicht recht, Gnädigste!«
»Ist auch nicht erforderlich.«
»Ich rate aber nicht gern Rätsel.«
»Aber Sie geben sie anderen auf.« Seine Art reizte sie immer
mehr und versetzte sie dann langsam in Weißglut, als er
belustigt fragte:
»Und diese können Sie bei Ihrer Klugheit nicht lösen?
Darüber muß ich mich doch sehr wundern.«
Nun war es um den letzten Rest ihrer Beherrschung
geschehen. Außer sich vor Wut schrie sie ihm entgegen:
»Schon gelöst, mein Lieber, schon gelöst! Sie sind alle nicht
dumm, die den Vater dieser Krämerstochter gekannt
haben! Ihr Vater jagte ihn vom Hof, weil er mit Ihrer
Mutter, mein stolzer Herr Graf, ein Techtelmechtel
unterhielt. Alles andere läßt sich leicht zusammenreimen,
wenn man nicht auf den Kopf gefallen ist!«
Sie saß ihm gegenüber, jeder Haltung bar. Die Augen
schillerten wie die einer bösen Katze. Nur zu deutlich
spiegelte ihr hohnlachendes Gesicht wider, was sie
bezweckte. Demütigen wollte sie ihn! Diese kalte Ruhe
sollte noch von ihm abfallen. All der Groll, der sich in
ihrem Herzen aufgespeichert hatte, brach sich nun gleich
einem Wildbach Bahn. Ihre Stimme schrillte, als sie von
neuem fortfuhr:
»Und wie sie sich gibt! Als wäre sie aus fürstlichem Geblüt!
Sie weiß genau, wie man Männer an sich lockt. Geben Sie
nur hübsch acht auf König Ringangs Töchterlein, damit es
Ihnen nicht ganz unköniglich Hörner aufsetzt!«
Hätte Iris sich sehen können, sie wäre über sich selbst
entsetzt gewesen. Sie, die sich auf ihre vornehme
Abstammung so ungeheuer viel einbildete, daß es schon an
Größenwahn grenzte, glich jetzt einer Megäre. Der Mann
vor ihr sah es mit Abscheu. Es dauerte sekundenlang, bis er
sprechen konnte:
»Es ist wohl besser, wenn Sie Ihren Weg allein fortsetzen.
Laubern ist bereits in Sicht. Guten Abend.«
Doch so leichten Kaufes sollte er nicht davonkommen. Sie
drängte ihr Pferd so nah an das seine, daß er den
Oberkörper nach hinten bog. Wie zwei schwarze Flecken
brannten die Augen aus dem grünlichblassen Gesicht. Ihre
Stimme überschlug sich:
»Das ist der Dank dafür, daß ich so lange auf Sie gewartet
habe, mir jede gute Partie entgehen ließ! Jetzt kann ich
mich zur Belohnung dafür von einer Person verdrängen
lassen, die wie aus einem rätselhaften Dunkel aufgetaucht
ist. Die es versteht, die Menschen mit ihrem vornehmen
Getue, ihrer gleißenden Larve an sich zu fesseln, und deren
Launen sich sogar der selbstherrliche Graf Regglin beugen
muß. Ich hasse Sie – hasse sie alle!«
Wie gejagt hetzte sie auf ihrem Pferd davon. Harro war
zutiefst angewidert. Das also blieb von der stolzen Iris
Illsund übrig, wenn die Tünche der Erziehung von ihr
abgefallen war. Pfui Teufel! So hätten sie nur ihre in sie
vernarrten Eltern sehen sollen – und seine Mutter!
Er fuhr sich über die Augen, als könne er damit das
häßliche Bild verwischen, das die Megäre ihm gezeigt hatte.
Und unwillkürlich schob sich ein reines, klares Antlitz
dazwischen, er hörte nach der schrillen eine weiche, süße
Stimme.
Da trieb er sein Pferd zu einem Galopp an.
Er fand seine Mutter in ihrem Zimmer vor dem Kamin,
dem eine mollige Wärme entströmte. Die Ruhe und der
Friede, die das Gemach erfüllten, zu dessen Harmonie die
vornehme Erscheinung der Frau ein übriges beitrug, legten
sich wie Balsam auf die gereizten Nerven des Mannes. Voll
Dankbarkeit, daß es einen so friedlichen Hafen für ihn gab,
zog er die Hand der Mutter an die Lippen.
»Wie schön, daß ich wieder bei dir bin, kleine Mama.«
»Du hast lange auf dich warten lassen, mein Junge. Hast du
Iris unterwegs getroffen?«
Er ließ sich erschöpft in einen Sessel sinken.
»Nur ein Weilchen will ich mich verschnaufen, dann ziehe
ich mich um. Ja, ich begegnete der Komteß und brachte sie
fast bis Laubern.«
»Findest du auch, daß das Mädchen sich sehr verändert
hat?«
»Das kann man wohl sagen. Wir haben sie alle überschätzt,
Mutter. Doch wo ist Rotraut?«
»Sie ist mit Heidi im Auto fort.«
»In Begleitung des Chauffeurs?«
»Nein, sie fuhren allein.«
Die Falte des Unmuts grub sich zwischen seine Brauen. Es
klang recht vorwurfsvoll, als er sagte:
»Das hättest du nicht dulden dürfen, Mutter. In der
Dunkelheit ist ein Fahren auf der Landstraße in heutiger
Zeit nicht ungefährlich.«
»Ja, Junge, ich hatte keine Ahnung, daß Rotraut so lange
wegbleiben würde. Außerdem blieb mir keine Gelegenheit
zur Kontrolle. Denn ich erfuhr erst nach dem Mittagsschlaf,
daß sie fort ist. Durch Albert ließ sie sich entschuldigen.«
»Ohne das Ziel ihrer Fahrt angegeben zu haben?«
»Ja.«
Harro sprang auf, durchmaß das Zimmer einige Male mit
langen Schritten, dann blieb er vor der Mutter stehen, die
beunruhigt zu ihm aufsah.
»Da Rotrauts Eigenmächtigkeit Überhand zu nehmen
beginnt, werden wir energisch dagegen vorgehen müssen,
kleine Mama. Jetzt entschuldigst du mich wohl, damit ich
mich umkleiden kann.«
Zum Abendessen war Rotraut immer noch nicht zurück –
auch Stunden später noch nicht. Mutter und Sohn saßen in
dem kleinen Gemach neben dem Musikzimmer und
versuchten zu lesen, während sie jedes Geräusch draußen
aufhorchen ließ.
»Vielleicht ist sie in Hermeshöh?« sprach Liane nach einer
Weile bedrückenden Schweigens.
»Das glaube ich nicht. Sonst hätte sie uns davon in
Kenntnis gesetzt, wie sie es stets zu tun pflegte. Anrufen
möchte ich nicht, um Tante Herma nicht zu beunruhigen.«
Dann warteten sie – Stunde um Stunde. Immer wieder
musterte die Mutter verstohlen den Sohn, der seine Unruhe
durch Gleichmütigkeit zu verbergen suchte. Um
Mitternacht erhob er sich.
»Es hat keinen Zweck, noch länger zu warten. Gehen wir
also zur Ruhe.«
Als er sich über ihre Hand beugte, drückte sie ihr Gesicht in
sein Haar.
»Willst du deiner Mutter etwas vormachen, mein Junge?«
fragte sie leise. »Es ist nicht die Unruhe allein, die dich
quält…«
Hastig richtete er sich auf, sein Blick verfinsterte sich.
»Lassen wir das, Mutti. Gehen wir lieber schlafen. Gute
Nacht.«
Die Nacht wurde alles andere als gut. Schlaflos wälzte sich
die Mutter auf ihrem Bett, während der Sohn es auf dem
Diwan tat, auf den er sich angekleidet gestreckt hatte. Sie
horchten in die Nacht hinaus, von der Nietzsche sagt, daß
sie tiefer ist, als der Tag gedacht.
›O Mensch, hab acht, was spricht die tiefe Mitternacht?
Und tiefer als der Tag gedacht, tief ist ihr Weh.‹
Übernächtigt fanden sie beiden Regglins sich am
Frühstückstisch zusammen. Daß die Gräfin blaß und müde
aussah, war ja kein Wunder. Aber auch das sonst so straffe
Antlitz Harros zeigte Spuren tiefster Erschöpfung.
Schweigend tranken sie den Kaffee und ließen die Speisen
fast unberührt.
»Ob wir nicht einmal in Rotrauts Zimmer nachsehen?«
fragte die Mutter leise. »Vielleicht finden wir dort etwas, das
uns Aufschluß geben kann?«
»Können wir machen, obwohl ich nicht gern die Zimmer
betrete, die mir bisher verschlossen waren. Aber schließlich
bin ich ja dazu gezwungen.«
Als sie das behagliche Wohngemach betraten, blieb ihr
Blick an dem Schreibtisch hängen, auf dem drei Bilder
standen. Das erste stellte den jungen Mann dar, der am
Hochzeitstag so plötzlich aufgetaucht und ebenso wieder
verschwunden war. Das zweite zeigte eine Dame mittleren
Alters mit einem herrischen, hochmütigen Gesicht und das
dritte einen älteren Herrn, wahrscheinlich Rotrauts Vater,
denn die Ähnlichkeit mit ihr war unverkennbar. Ein
scharfgeschnittenes, ein wenig strenges Antlitz, das ein
kluges Auge wunderbar belebte.
Dann betraten sie das Schlafzimmer. Der feine Duft, der
auch Rotraut eigen war, haftete darin. Vor dem Bett lag ein
weißes Fell und halb von ihm verdeckt – ein Brief. Er
mußte dorthin geflattert und nicht beachtet worden sein.
Nach diesem Briefblatt bückte Harro sich. Las, was darin
stand, und gab es dann an die Mutter weiter, die, nachdem
sie es gelesen hatte, den Sohn hilflos ansah.
»Was nun, Harro?«
»Abwarten«, entgegnete er so hart, daß sie
zusammenzuckte.
Wenn Rotraut das alles mit angesehen hätte, hätte sich ihre
Unruhe noch gesteigert. Als sie am Tag vorher nach dem
Essen abgefahren war, hatte sie bestimmt damit gerechnet,
daß sie am Abend wieder zurück sein würde. Da Gräfin
Liane ihren Mittagsschlaf hielt, konnte sie diese von der
Fahrt nicht in Kenntnis setzen und beauftragte den Diener,
später die Herrin davon zu unterrichten. Die Begleitung des
Chauffeurs lehnte sie so entschieden ab, daß dieser sich
fügen mußte.
Rotraut fuhr so schnell, daß Königsberg nach einer Stunde
erreicht war. Im Hotel stellte sie zuerst ihren Wagen unter,
dann erkundigte sie sich beim Geschäftsführer nach Herrn
Wayler. Ja, der Herr hätte hier ein Zimmer belegt, wäre
jedoch augenblicklich nicht anwesend. Wenn die Damen
im Gastraum warten wollten?
Sie warteten – und zwar so lange, bis es dunkelte. Heidi
gab sich alle Mühe, die Freundin zu unterhalten, deren
Unruhe sich immer mehr steigerte. Endlich sagte Rotraut:
»Wir werden heute nicht mehr zurückfahren können,
Heidelein. Ich wäre dir dankbar, wenn du Regglinsgrund
anrufen und Bescheid sagen würdest, daß sie uns erst
morgen zurückerwarten können.«
Dazu war Heidi gern bereit. Als sie wiederkam, meldete sie
in frischem Ton:
»Befehl ausgeführt. Meine Schwester, die gerade in
Regglinsgrund war, hat das Gespräch entgegengenommen
und versprochen, Tante Liane zu verständigen.«
»Danke, Heidi. Das wäre also erledigt. Nun müssen wir
noch versuchen, in diesem meist überfüllten Hotel ein
Zimmer zu bekommen, in dem wir übernachten können.«
Sie hatten Glück, ein kleines Zimmer war noch frei. Es
hatte zwar nur ein Bett, aber auf dem breiten Diwan
konnte man auch gut ruhen.
Rotraut griff sofort zu. Nachdem sie den Raum bezogen
hatten, säuberten sie sich erst einmal. Und kaum, daß sie
damit fertig waren, wurde die Tür aufgerissen, und ein Herr
eilte freudestrahlend auf Rotraut zu.
»Raute, ich habe gewußt, daß du kommen würdest!«
Stürmisch küßte er ihre Hände und erst, als sich seine
Freude gelegt hatte, bemerkte er Adelheid, die wie erstarrt
dabeistand.
»Herr Wayler – Komteß Illsund«, stellte Rotraut hastig vor.
»Eine liebe Freundin von mir, Bob.«
»Dann sind Sie auch die meine, Komteß«, beteuerte er
strahlend und küßte galant die Hand der jungen Dame.
Nach dieser Begrüßung verließ Heidi das Zimmer.
Jetzt standen die Kindheitsgespielen sich allein gegenüber.
»Das war leichtsinnig von dir, Bob«, begann Rotraut erregt.
»Genauso leichtsinnig wie damals, als du in Regglinsgrund
in mein Zimmer eindrangst. Schon dabei sagte ich dir, daß
es Dinge gibt, in denen mein Mann keinen Spaß versteht.
Und heute wiederhole ich das. Wir wollen hoffen, daß er
von unserem jetzigen Treffen nichts erfährt.«
»Sei doch nicht so böse, Raute«, entgegnete er kleinlaut.
»Ich bin extra von Amerika herübergekommen…«
»Das hättest du dir ersparen können«, unterbrach sie ihn
vorwurfsvoll. »Was hofftest du damit zu erreichen?«
»Ich wollte dir sagen, wie sehr ich dich liebe.«
»Das sieht dir Tollkopf ähnlich!« Sie zwang sich zu einem
neckenden Ton, während ihr das Herz bis zum Hals herauf
klopfte. Jetzt nur tapfer durchhalten, nicht weich werden,
damit erwies sie ihm und sich keinen guten Dienst.
Lachend beutelte sie seinen vollen Haarschopf.
»Komische Einfälle hat der Mensch, kaum zu glauben! Was
du mir soeben gesagt hast, geschieht ja nicht das erste Mal.
Aber ich will dir noch einmal darauf Antwort geben: Auch
ich bin dir von Herzen zugetan – wie einem
Lieblingsbruder. Zufrieden?«
»Raute – ist – das – wahr?«
Sie hätte weinen mögen angesichts des Schmerzes, der in
seinen Augen stand. Aber sie durfte ihn ihr Mitleid nicht
fühlen lassen – auf keinen Fall! Sie zog ihn mit sich auf
den Diwan nieder und umspannte sein Gesicht mit ihren
Händen.
»Dummer Junge, über meine Gefühle zu dir müßtest du dir
doch längst klar sein. Wir sind wie Geschwister
aufgewachsen.«
»Raute, bitte, quäle mich nicht!« Aufstöhnend barg er
seinen Kopf in ihrem Schoß. »Du hast kein Herz…«
O doch, sie hatte eins – und das tat ihr bitter weh. Sie
schluckte an den Tränen, die ihr in der Kehle saßen. Und
erst, als sie sie heruntergewürgt hatte, war es ihr möglich,
zu sprechen:
»Du bist noch viel zu jung, Bob, um über dein Herz genau
Bescheid zu wissen. Was du mit deinen zwanzig Jahren für
mich empfindest, ist nichts weiter als Jugendschwärmerei,
wie sie ein jeder Jüngling hat. Das wirst du erst später
merken, wenn dich die wahre Liebe erfaßt. Dann wirst du
über dich selber nachsichtig lächeln. Und nun den Kopf
hoch, du dummer Bengel, der mir so viel zu schaffen
macht.«
Langsam richtete er sich auf, sah sie schmerzgequält an und
sagte mit zuckenden Lippen:
»Anscheinend weißt du nicht, wie grausam du bist, Raute.
Darum will ich dir keinen Vorwurf machen. Aber eine
Frage sollst du mir beantworten. Bist du glücklich in deiner
Ehe?«
Raute hatte das Gefühl, als müsse ihr das Herz stillstehen.
Sie allein wußte, welche große Beherrschung es erforderte,
seinem forschenden Blick standzuhalten und noch ein
Lächeln auf die Lippen zu zwingen.
»Aber selbstverständlich doch, Bob«, tat sie verwundert.
»Ich habe doch meinen Mann geheiratet, weil ich ihn liebe
– und er mich auch.«
Sie spürte die Grausamkeit ihrer Worte, die ihr selber
vielleicht weher taten als dem jungen Mann, der nun die
Fäuste in die Augen drückte und minutenlang so verharrte.
Seine Zähne bissen sich zusammen. Was er dann sprach,
klang wohl rauh aber leidlich gefaßt:
»Deine Antwort auf meine Frage wird mir das Vergessen
leichter machen. Und nun will ich dich nicht länger
quälen. Ich kehre jetzt in die Heimat zurück. Und später
einmal – wenn ich ganz ruhig geworden bin – dann will
ich dich besuchen, um mich an – deinem Glück – zu
freuen. Leb wohl – und hab’ Dank für deine
Aufrichtigkeit.«
Die Tür fiel hinter ihm zu – und nun gaben ihre bis aufs
äußerste gespannten Nerven nach. Sie drückte das Gesicht
in die Hände und weinte bitterlich.
So fand Heidi sie, als sie zehn Minuten später das Zimmer
betrat. Zaghaft berührte sie die Schulter der immer noch
Weinenden, die daraufhin den Kopf hob. Ihr verstörter
Blick blieb an den Rosen hängen, die das Mädchen ihr
zögernd reichte.
»Einen Gruß von Herrn Wayler, Raute. Er läßt dir sagen,
daß du dich unbekümmert deines – Glückes – freuen
möchtest, das er dir aus vollem Herzen gönnt. Er hat
bereits das Hotel verlassen.«
»Wo hat er dir das gesagt, Heidi?«
»Unten im Gastzimmer, wohin ich gegangen war, um eure
Unterredung nicht zu stören.«
»Du bist weiß Gott eine gute Freundin«, sagte Rotraut mit
einem Lächeln, das dem weichherzigen Mädchen die
Tränen in die Augen trieb. Unschlüssig, wie es sich
verhalten sollte, stand es da, bis Rotraut es zu sich auf den
Diwan zog.
Und dann bekam die aufhorchende Adelheid zu hören,
was sie tief erschütterte. Rotraut sprach sich so recht das
Herz frei. Sie begann dabei mit dem Tage, an dem ihr der
Brief des verstorbenen Vaters durch den Rechtsanwalt
zugestellt worden war und schloß mit den Erlebnissen des
heutigen. Und Heidi weinte, als ob ihr das alles geschehen
wäre.
»Raute, wie schrecklich ist es doch! Wie mußtest du dem
armen Wayler weh tun. Liebst du ihn wirklich nur wie
einen Bruder?«
»Ja. Und er mich nicht anders als eine geliebte Schwester.«
»Glaubst du daran so fest?«
»Unbedingt. Was er für mich empfindet, ist bestimmt
nichts anderes als Jugendschwärmerei.«
»Wenn du doch recht hättest. Nun ist mir alles klar, woran
ich herumgerätselt habe. Zwar ist über deine Ehe eifrig
geklatscht worden, aber gottlob ist die Ursache, weswegen
sie geschlossen werden mußte, den Klatschmäulern
unbekannt. Hab’ Dank für dein Vertrauen.«
»Nachdem du mir das deine auf dieser Fahrt bewiesen hast,
Heidi, war ich dir dieses Bekenntnis schuldig.«
Am nächsten Vormittag betraten Rotraut und Adelheid das
Zimmer, in dem die beiden Regglins saßen. Und ehe noch
die junge Gräfin ihre Entschuldigung vorbringen konnte,
stand der Gatte schon vor ihr in einer Haltung, die nichts
Gutes verhieß.
»Wo warst du?!« herrschte er sie an.
»In Königsberg.«
»Was wolltest du dort?«
»Eine Privatangelegenheit regeln.«
Rotrauts Gelassenheit wirkte direkt beängstigend in der
Atmosphäre, die wie geladen schien. Das Antlitz des
Mannes wurde blaß vor unterdrücktem Zorn. Die Narbe
über der Wange leuchtete wie ein blutroter Streifen. In den
Augen lag ein unheimliches Drohen.
Ȇber diese Privatangelegenheit werdet ihr mir
Rechenschaft geben müssen, mein Kind«, klirrte seine
Stimme auf, »du und dein hartnäckiger Verehrer. Wenn
man nämlich so aufschlußreiche Briefe erhält, dann sollte
man vorsichtig damit umgehen, damit sie nicht in
unbefugte Hände fallen!«
»Du hast spioniert?« unterbrach sie ihn empört. Er winkte
herrisch ab und fuhr fort:
»Vor allen Dingen dürfen sie nicht in die Hände der
Dienerschaft kommen. Ich hatte es nicht nötig zu
spionieren, weil der Brief allen Augen zugänglich auf dem
Fußboden deines Schlafzimmers lag. Und dieses
aufzusuchen, war mein Recht, da du einen halben Tag und
eine Nacht spurlos verschwunden warst. Vielleicht hast du
jetzt die Liebenswürdigkeit, mir den vollen Namen jenes
Jünglings zu nennen. Zwar widerstrebt mir die Frage, die
ich schon einmal an unserem Hochzeitstag stellte – aber
mir widerstrebt ja manches. Also antworte.«
Sie stand da, die Lippen zusammengepreßt. In den Augen
funkelte der Trotz. Man sah, wie seine Hand sich langsam
zur Faust ballte, und hörte, wie er den Atem durch die Nase
stieß.
»Rotraut, ich warne dich. Bisher habe ich dir die Ehe leicht
gemacht, habe dir deinen Willen gelassen bis zur
Lächerlichkeit. Wenn du jedoch dabei so rücksichtslos
wirst, dann muß ich dir verbieten, dich ohne mein und
meiner Mutter Wissen von Regglinsgrund zu entfernen.«
»Ja, sage einmal, bin ich denn deine Sklavin?« fragte sie
mehr erstaunt als entrüstet. »Weißt du überhaupt, was du
von mir verlangst? Über meine Person bin ich Gott sei
Dank immer noch mein eigener Herr.«
»Wenn du dich nur nicht irrst. Ich als Ehemann habe das
Recht, die Abenteuerlust meiner Frau zu unterbinden, die
einer Gräfin Regglin unwürdig ist.«
»Aha, darauf habe ich nur gewartet«, lachte sie spöttisch
auf. »Ich habe dir meines Wissens gestern noch
klargemacht, daß ich auf die Ehre verzichte, eine Gräfin
Regglin zu sein.«
Es war erstaunlich, woher Rotraut den Mut nahm, den
Mann, der sich nur mit Aufbietung aller Energie
beherrschte, immer noch mehr zu reizen.
Er trat in eisiger Ruhe näher an sie heran, so daß Heidi, die
dem allen mit Entsetzen gefolgt war, schützend den Arm
um die Freundin legte. Das brachte ihn zur Besinnung. Er
atmete einige Male schwer, bevor er sprach:
»Ob du verzichtest oder nicht, steht hier nicht zur Debatte.
Du bist mir angetraut und wirst es bleiben.«
»Das wollen wir einmal sehen!« Sie warf den Kopf trotzig
in den Nacken. »Hast du vergessen, daß diese Ehe auf
Abbruch…«
»Schluß!« Regglin schlug mit der Faust auf den Tisch, daß
die anderen erschrocken zusammenfuhren. »Ich habe mir
deinen Unsinn jetzt lange genüg angehört. Hüte dich, es
bis zum Äußersten zu treiben – bei Gott, dann sollst du
mich kennenlernen!«
Langsam wich jeder Blutstropfen aus dem Antlitz der
jungen Frau. Schweigend wandte sie sich ab und verließ
das Zimmer.
»Großer Gott, Harro – wie kannst du nur – so hart – sein«,
stammelte Heidi mit entfärbten Lippen. »Raute ist an einen
solchen Ton gewiß nicht gewöhnt.«
»Dann wird sie sich daran gewöhnen müssen. Oder glaubst
du, ich ließe mir noch weiter von deiner vergötterten Raute
auf der Nase herumtanzen?«
Seine Linke, die die Zigarette hielt, zitterte heftig. Wie
erschöpft warf er sich in einen Sessel und strich hastig über
Stirn und Augen. Heidi näherte sich ihm langsam und
fragte bang:
»Harro, ist es denn wirklich so unverzeihlich, was Raute
getan hat?«
»Wie man’s nimmt!« Seine spöttische Art trat wieder
hervor. »Wenn du das in Ordnung findest, daß sie auf
vierundzwanzig Stunden spurlos verschwindet, dann hast
du von deinem Idol schon viel gelernt.«
»Spurlos?« fragte das Mädchen verwundert. »Du wußtest
doch, wo sie sich aufhielt.«
»Ach, sieh mal an, lügen kannst du auch schon.«
»Ich verbitte mir das! Gestern abend habe ich persönlich
Regglinsgrund angerufen und Bescheid gesagt, daß wir erst
heute zurückkommen können.«
Es blitzte überrascht in seinen Augen auf.
»Mit wem hast du gesprochen, Heidi?«
»Mit Iris. Hat sie denn nichts bestellt?«
»Nicht, daß ich wüßte.«
Adelheid wurde zuerst blaß und dann blutrot.
»Iris wird es vergessen haben«, stammelte sie.
Da lachte er hart auf. Und hastig fuhr er herum, als er seine
Mutter leise weinen hörte. Sofort war er bei ihr und
umfaßte ihre Schulter.
»Mutti, nun mal ruhig. Ich kann deine Tränen nicht
ertragen.«
»Hast recht«, sie rieb sich die Augen. »Es war nur ein
bißchen viel für mich.«
»Kann ich mir denken. Nun, Heidi, was siehst du mich so
ängstlich an? Hältst du mich immer noch für einen
Barbaren, der seine bedauernswerte Frau knechtet?«
Sie schüttelte den Kopf und sagte leise:
»Ihr müßt euch sehr geängstigt haben.«
»Danke, uns hat es genügt, nicht wahr, Muttchen?«
»O ja«, seufzte Liane. »Es tut mir nur leid, daß wir Rotraut
in einer Beziehung unrecht getan haben.«
»Und in der anderen auch«, sagte Heidi entschieden. »Wißt
ihr überhaupt, wer Herr Wayler ist?«
»Wenn du damit den Herrn meinst, der am Hochzeitstag
meiner Frau zu Füßen lag? Aber davon weißt du ja nichts.«
»Doch, seit gestern abend hat mich Rotraut in alles
eingeweiht. Und ich bin stolz auf ihr Vertrauen.«
»Soso. Dann wirst du uns auch sagen können, was es mit
dem Herrn auf sich hat.«
»Bitte nicht, Harro«, unterbrach sie ihn hastig. »Das kommt
mir nicht zu. Nur darauf möchte ich dich aufmerksam
machen, daß er und Raute wie Geschwister aufgewachsen
sind, und daß sie ihn auch heute noch wie einen Bruder
liebt. Das hat sie ihm auch bei der gestrigen Unterredung
eindeutig gesagt. Es hat ihr zwar weh getan, aber wie sie
mir später sagte, mußte es sein, um den jungen Mann von
seiner Jugendschwärmerei zu heilen. Noch gestern hat er
Abschied genommen und wird fortan Rotraut nicht mehr
mit seinen Besuchen in Ungelegenheit bringen. Du
brauchst also nicht mehr mißtrauisch zu sein. Übrigens
hattest du auch vorher keine Ursache dazu. Denn soweit
müßtest du doch Raute kennen, daß sie niemals etwas tun
wird, was das Licht scheut. Dazu ist sie ein viel zu
vornehmer Charakter. Und nun entschuldigt mich bitte,
ich möchte nach ihr sehen. Denn deine Härte, Harro, wird
ja nicht spurlos an ihr vorübergegangen sein.«
Im Oktober hatte Gräfin Liane Geburtstag. Sie liebte es
nicht, an diesem Tag viele Menschen um sich zu haben,
daher ließ sie keine Einladungen ergehen. Wer sich auch
ungeladen einstellte, blieb zu einer kleinen zwanglosen
Feier. So fanden sich außer den Halldungen und den
Illsund nur noch einige Familien ein.
Nachdem man Kaffee getrunken hatte, entschloß man sich
zu einem Spaziergang durch den Wald; denn es war fast
sommerlich warm. Glitzernd huschte die Sonne über das
bunte Laub, über die letzten Herbstblumen und die
Rasenflächen, die von ihrem saftigen Grün schon viel
eingebüßt hatten.
Der Wald schloß sich dem großen Park an, ein Flüßchen
bildete zwischen ihnen die Grenze. Plaudernd schritt man
an ihm entlang, bis man die Brücke erreichte, die zum
Wald führte.
Man hatte sich zwanglos gruppiert. Heidi hielt sich wie
gewöhnlich an Rotrauts Seite. Harro gesellte sich zu ihnen,
und bald fand sich auch Iris wie unbeabsichtigt dazu.
Obgleich man sie wenig beachtete, hielt sie mit den
anderen Schritt, die sich friedlich unterhielten. Da rief
Gräfin Liane den Sohn zu sich. In Gesellschaft einiger
Damen und Herren folgte sie in einigem Abstand. Sie war
in einen lustigen Wettstreit verwickelt worden, und Harro
sollte ihr zu Hilfe eilen.
Iris sah ihm unentschlossen nach. Sollte sie ihm folgen
oder die Gesellschaft Eberhards suchen? Aber der befand
sich gleichfalls in der Gruppe der vergnügt Streitenden,
deren Lachen auch die übrigen anzog, was Iris in ihrer
humorlosen Art so albern fand, daß sie lieber dort blieb,
wo sie war.
Rotraut gab sich zuerst Mühe, ein belangloses Gespräch in
Gang zu bringen, auf welches das übelgelaunte Mädchen
jedoch nicht einging. Da schwieg die junge Gräfin, wie
auch Adelheid es tat, die sich in ihren Arm gehängt hatte.
Mit Entzücken ließen sie ihre Augen durch den
herbstbunten Wald schweifen, den nur die Malerin Natur
so prächtig zu färben imstande ist. Vergnügt schoben sie
die Füße durch das raschelnde Laub, das den Boden
bedeckte. Dabei lachten sie wie Kinder, die sich beim Spiel
vergnügen.
Das fand Iris natürlich albern, hauptsächlich deshalb, weil
Rotraut es tat. Aber diese hätte das vollkommendste
Geschöpf unter der Sonne sein können, die überhebliche
Komteß hätte an ihr immer noch etwas auszusetzen
gehabt. Das machte der Haß, in den sie sich immer tiefer
hineinsteigerte, weil die andere das besaß, was sie für sich
selbst so heiß begehrte: den Mann und seinen alten
Namen, Reichtum – und zuletzt noch eine zauberhafte
Schönheit, die Iris allerdings nicht anerkannte, weil sie sich
selbstverständlich für bedeutend schöner hielt.
Aber daß die Krämerstochter ihr den Rang in der
Gesellschaft streitig machte, das merkte sie denn doch.
Selbst Tante Liane, die sich früher sozusagen von ihr um
den Finger wickeln ließ, war jetzt ganz merkwürdig zu ihr.
Besonders von dem Tag an, da sie das Telefongespräch mit
Heidi unterschlagen hatte. Von Harro war sie in einer Art
zur Rechenschaft gezogen worden, die an Verachtung
nichts zu wünschen übrig ließ. Klipp und klar hatte er ihr
auf den Kopf zugesagt, daß sie es absichtlich unterlassen
hätte, die Bestellung auszurichten. Und das war ja auch
tatsächlich der Fall. Was sie damit bezweckte, hatte sich
jedoch nicht erfüllt. Nach wie vor blieb diese von ihr so
gehaßte Krämerstochter in Regglinsgrund.
Heidis entzückter Ruf ließ Iris aus ihren unerquicklichen
Gedanken aufschrecken.
»Sieh nur, Raute, dieser Strauch mit den flammendroten
Beeren! Sind die nicht einzig schön? Da will ich mir doch
gleich einen Strauß für die Vase pflücken.«
Sie eilte ins Gebüsch, während Rotraut und Iris langsam
weitergingen, bis ein Waldsee ihre Schritte hemmte. Die
Bäume spiegelten sich in seiner tiefgrünen Fläche. Seerosen
in ihrem zarten Weiß schwammen darauf. Ein Steg führte
ungefähr zwei Meter in den See hinein. Er diente wohl als
Anlegestelle des Bootes, das farblos und verwittert am
Rande schaukelte. Fast unbewegt lag das Gewässer und
wirkte daher noch geheimnisvoller.
Rotraut betrat den Steg, um das romantische Bild besser in
sich aufnehmen zu können. Sie merkte nicht, daß das
morsche Brett sich unter ihrer leichten Last bog. Als hielte
der Wald den Atem an, eine solche beängstigende Stille
herrschte ringsum. Die Spaziergänger mußten weiß
entfernt sein; denn ihre Stimmen waren nicht zu hören.
Rotraut schaute in das dunkle Wasser und erschauerte.
Wer da hineinfällt, der kommt nicht wieder heraus, dachte
sie. Der See ist bis obenhin verwachsen und macht daher
ein Schwimmen fast unmöglich.
Als sie sich bückte, um eine Wasserrose, die ganz in der
Nähe lockte, zu erhaschen, knickte der Steg an der Stelle
ein, wo er nicht mehr auf dem Erdboden auflag. Iris, die es
bemerkte, wollte die leichtsinnige junge Frau warnen, die
sich wieder aufrichtete, die Rose in der Hand. Durch die
Bewegung erweiterte sich der Riß im Brett.
»Vorsicht!« wollte Iris rufen – aber der Anblick der
bezaubernden Gestalt, die sich in der romantischen
Umgebung wie ein Märchenwesen ausnahm, ließ den Ruf
in der Kehle ersticken. Der Haß gab Iris einen Gedanken
ein, vor dem sie sich selber entsetzte. Aber er bohrte und
wühlte, loderte auf, wie eine vom Sturm gepeitschte
Flamme.
Ein einziger harter Ruck genügte, um das morsche Brett
brechen und die verhaßte Rivalin in der unheimlichen
Tiefe verschwinden zu lassen.
Und dann – und dann…
Dann würde sich endlich der Traum erfüllen, den sie, Iris,
jahrelang geträumt hatte. Dann war der Weg zum Reichtum
und Glück für sie frei!
Wer konnte ihr beweisen, daß sie da ein wenig
nachgeholfen hatte? Es gab keinen Zeugen weit und breit.
Wenn es geschehen war, wollte sie um Hilfe rufen.
Iris hätte sich niemals Rechenschaft geben können über die
Sekunden, in denen ihr Hirn von diesem furchtbaren
Gedanken beherrscht wurde. Es brauste und dröhnte in
ihrem Kopf, daß er schier zu bersten drohte. Ihr Gesicht
verzerrte sich zur Fratze. Wie von einer bösen Macht
getrieben, bückte sie sich, stemmte sich mit der ganzen
Körperschwere gegen das Brett, wo es geknickt war.
In diesem Augenblick drehte die ahnungslose Rotraut sich
um, sah das verzerrte Gesicht mit den irren Augen. Und
ehe sie noch einen entsetzten Schrei aus der Kehle bekam,
brach das Brett – und sie stürzte in den See.
Da durchschnitt ein Schrei die andächtige Stille des Waldes
– laut, gellend, wie in allerhöchster Not. Heidi rannte auf
das Gewässer zu, wollte der Entschwundenen
nachspringen, doch die Schwester hielt sie zurück.
»Laß mich los, du – du – Mör…«
Die beiden letzten Silben erstickte die Hand, die sich fest
auf ihren Mund preßte. Mit der Kraft der Verzweiflung rang
Heidi sich los und stieß dann Iris so hart von sich, daß
diese gegen den Stamm einer Birke taumelte. Mit glasigen
Augen stierte sie auf das dunkle Wasser.
Wieder machte Heidi Anstalten, in den See zu springen.
Doch nun wurde sie von dem Vater zurückgehalten, der
gleich den anderen auf ihren furchtbaren Schrei hin
herbeigeeilt war. Und ehe sie begriffen hatten, was
geschehen war, tauchte der Kopf gespensterhaft aus dem
Gewässer empor. Wasserpflanzen umschlangen Gesicht
und Nacken, ringelten sich bis zu den Füßen hinab. Die
Gestalt war bedeckt mit Morast und Schlamm. Wie ein
unheilbringendes Wasserwesen entstieg sie der grausigen
Tiefe – und Grausen packte auch die Menschen, die das
alles mit ansahen. Sie standen wie erstarrt, bis Harro auf
seine Frau zutaumelte.
»Rotraut, was ist dir geschehen?!« schrie er so angstgefoltert
auf, daß die anderen zusammenzuckten. Nur Rotraut blieb
davon unberührt. Mit zitternder Hand schob sie die Algen
aus dem Gesicht, sah sich langsam wie irr im Kreis um –
bis ihr Blick an Iris haften blieb, die sie mit blödem
Lächeln anstierte. Mit einer Bewegung, als wollte sie etwas
Entsetzliches von sich abhalten, streckte sie die Arme aus,
warf den Kopf zurück – und sank dann lautlos zu Boden.
Und schon kniete Heidi laut aufweinend neben ihr,
umklammerte die regungslose Gestalt mit beiden Armen.
Auch Gräfin Liane taumelte auf sie zu, blaß wie eine Tote.
Fast gewaltsam mußte Harro sich den Weg zu der
Ohnmächtigen bahnen, die er dann auf die Arme hob, um
mit ihr, von der Mutter gefolgt, davonzueilen.
Nun kam auch langsam wieder Leben in die wie erstarrten
Menschen. Hilflos sahen sie sich an, während die Eltern zu
Iris gingen, die noch immer am Baum lehnte und blöd
lächelte. Die Mutter brach in fassungsloses Weinen aus.
Aber der Vater, dem vor Angst um die Tochter die Kehle
eng wurde, brachte doch noch so viel Kraft auf, um Heidi
anzuherrschen:
»Da siehst du nun, was du angerichtet hast! Das arme Kind
ist über deine verrückte Idee, der Gräfin in das vermaledeite
Wasser nachzuspringen, so erschrocken, daß die Nerven
versagen!«
Und dann wandte er sich in liebevollstem Ton an Iris:
»Werde doch ruhig, mein Herzenskind, es ist ja nichts
geschehen. Komm, ich bringe dich zum Schloß zurück,
und dann fahren wir nach Hause. Stütze dich nur auf
Mutter und mich.«
Langsam gingen sie davon, und die anderen folgten.
Wieder einmal hatten sie allen Grund, über das Ehepaar
Illsund verwundert den Kopf zu schütteln. Während sie die
eine Tochter mit liebevollster Fürsorge umgaben,
kümmerten sie sich um die andere nicht. Der Vater schalt
Heidi sogar noch aus, obschon er sehen mußte, wie
verstört sie war. Hauptsächlich Gräfin Halldungen empörte
sich über so viel Ungerechtigkeit. Liebevoll umfaßte sie die
Schultern des Mädchens, das sich kaum noch auf den
Beinen halten konnte. Das Gesicht, über das unaufhaltsam
Tränen liefen, war erschreckend blaß.
Als man Regglinsgrund erreicht hatte, sah sich der Vater
nach seiner jüngeren Tochter um und sagte streng:
»Du kommst mit nach Hause. Und wehe dir, wenn du
nicht gehorchst! Dann kannst du etwas erleben!«
»Vater, ich möchte erst wissen, wie es Rotraut geht«, bat sie
flehend, doch er winkte unwirsch ab:
»Was geht dich die leichtsinnige Gräfin an. Kümmere dich
lieber um deine Schwester. Aber deren jammervolles
Aussehen erschüttert dich selbstverständlich nicht, du
herzloses Geschöpf. Wird’s bald, oder soll ich dir Beine
machen?«
Mitleidsvolle Blicke sahen Heidi nach, die nun den Ihren
zum Wagen folgte. Sie kauerte sich auf den Rücksitz,
während Iris im Fond zwischen den Eltern saß und sich
von ihnen bedauern ließ. Zu Hause wurde sie liebevoll in
ihrem Zimmer auf den Diwan gebettet.
»Nun versuche zu schlafen, mein armer Liebling«, redete
der Vater gütig zu. »Am besten ist es, wenn wir den Arzt
holen lassen.«
»Bitte nicht«, wehrte Iris matt ab. »Ich brauche nur Ruhe.
Geht nur, und laßt mich allein.«
Da Gräfin Illsunds Nerven nun auch nachgaben, führte der
Gatte sie hinaus, um sie erst einmal zu beruhigen. Heidi
erhielt den barschen Befehl, zu Iris zu gehen und auf sie zu
achten. Widerwillig suchte sie die Schwester auf, die sich
schlafend stellte. Adelheid trat ans Fenster, drückte den
schmerzenden Kopf gegen die kalte Scheibe und verharrte
regungslos, bis ein Geräusch sie herumfahren ließ. Iris
hatte eine Zigarette in Brand gesteckt und rauchte. Die
Augen brannten in dem blassen Gesicht, um die Lippen
zuckte es höhnisch.
Heidi stand nun mit dem Rücken gegen das Fenster
gelehnt, hielt die Arme über der Brust verschränkt und sah
unverwandt zur Schwester hin, bis diese sie anfuhr:
»Laß das Angestarre! Geh hinaus, du bist mir lästig.«
»Das glaube ich dir. Denn ein wenig wirst du ja wohl auch
von dem besitzen, was man Gewissen nennt.«
»Halt den Mund und mach, daß du rauskommst. Du hast
Rücksicht auf meine Nerven zu nehmen, verstehst du?«
»Du darfst ja auch besondere Rücksichtnahme
beanspruchen – ausgerechnet du. Ungezwungen suche ich
deine Gesellschaft gewiß nicht, ich bin nur auf Befehl des
Vaters hier.«
»Dann werde ich den Eltern sagen, daß deine Gesellschaft
mir widerwärtig ist.«
»Ach, sieh mal an. Vielleicht sage ich ihnen dann etwas
anderes.«
Iris fuhr auf, ließ sich dann aber wieder in die Kissen
zurücksinken und lachte höhnisch.
»Damit würdest du dich nur schädigen, mein liebes Kind.
Denn ich würde ja dabei nicht schweigen. Und ich zweifle
nicht einen Augenblick daran, wem die Eltern mehr
Glauben schenken würden. Wollen wir es einmal auf einen
Versuch ankommen lassen?«
Heidi mußte an sich halten, um der Schwester nicht in das
niederträchtig lächelnde Gesicht zu schlagen. Der Ekel
würgte sie, als sie langsam sprach:
»Dein Gewissen und deine Schamlosigkeit möchte ich
nicht haben. Pfui Teufel! Ich werde den Eltern deine
verbrecherische Handlungsweise nicht verraten. Aber nicht
etwa um dich zu schonen, werde ich schweigen,
sondern…«
»Darauf lege ich auch absolut keinen Wert«, wurde sie
hämisch unterbrochen. »Übrigens hat niemand außer dir
gesehen…«
»O doch – nämlich Rotraut.«
»Na – wenn schon. Mit der nehme ich es noch auf.«
»Wenn du dich nur nicht irrst. Sag’ mal, was hat die junge
Gräfin dir eigentlich getan, daß du so – gewissenlos an ihr
handeln konntest?«
Jetzt war es mit Iris’ erkünstelter Ruhe vorbei. Sie richtete
sich auf, ihr Körper zitterte vor Erregung, in den Augen
funkelte Haß.
»Was sie mir getan hat? Das fragst du noch?! Auf den Platz
hat sie sich gedrängt, der mir zukommt. Mit ihrem
scheinheiligen Getue umgarnt sie die Menschen. Ich will
mich nicht wundern, wenn ihr das auch eines Tages bei
Tante Liane und Harro gelingt.«
»Hoffentlich«, entgegnete Heidi nachdrücklich. »Wenn dir
nun aber deine schuftige Tat gelungen wäre, was hätte dir
das genützt? Du nimmst doch nicht etwa an, daß Harro
dich dann geheiratet haben würde? Wenn seine Ehe sich
auch zerschlagen sollte, so besäße er nie und nimmer die
Geschmacklosigkeit, nach einer Rotraut eine – Iris zu
wählen.«
»So demütigst du deine Schwester um dieser hergelaufenen
Person willen?!« schrie Iris, daß ihre Stimme sich
überschlug. »Ich werde den Eltern sagen, daß sie dir den
Verkehr mit ihr ganz energisch verbieten, weil sie dir nur
ein schlechtes Beispiel gibt. Wie kommst du überhaupt
dazu, diese Krämerstochter mit mir zu vergleichen!«
»Du hast recht, es war geschmacklos von mir, diese
wirklich vornehme Gräfin in einem Atemzug mit dir zu
nennen«, erwiderte Heidi ruhig. Iris wollte auffahren,
unterließ es jedoch und lächelte perfid.
»Du bist ja nur neidisch, weil ich Chancen bei dem Grafen
Halldungen habe – den du so liebst.«
Sie freute sich, als sie bemerkte, daß die Schwester
zusammenzuckte.
»Ja, siehst du, ich komme hinter alles.« Der Trumpf, den sie
soeben ausgespielt hatte, besänftigte Iris erheblich. Heidi
lehnte noch immer am Fenster, aufs tiefste angewidert und
unheimlich blaß.
»Der Hieb sitzt, Schwesterlein, nicht wahr? Vielleicht
kannst du dich bei deinem heimlich Angebeteten in Gunst
setzen, wenn du ihm die interessante Begebenheit am
Waldsee erzählst?« fragte Iris lauernd, und Adelheid
schüttelte sich.
»Wenn ich deinen Charakter und dein Gewissen hätte,
dann täte ich es bestimmt. Pfui, Iris – pfui! Schämst du
dich denn überhaupt nicht mehr? Packt dich nicht vor dir
selber das Grauen? Du mußt krank sein – oder durch und
durch schlecht. Und nun verlasse ich dich, denn ich kann
dich nicht mehr sehen. Hetze die Eltern gegen mich auf, so
viel du willst, das soll mich nicht kümmern.«
Wie verfolgt eilte sie davon. Jetzt nur fort von hier – und
wenn der Vater über ihren Ungehorsam auch noch so
toben sollte.
Sie ging zum Stall, ließ sich ihr Pferd satteln und ritt nach
Regglinsgrund.
Rotraut lag erschöpft in ihrem Bett und dämmerte vor sich
hin. Wie Marmor wirkte das schöne Antlitz, so kalt und
weiß sah es aus. Die feuchten, straff zurückgekämmten
Haare gaben ihm einen fremden Zug. Immer wieder legte
Harro sein Ohr auf die Brust seines jungen Weibes, um
festzustellen, ob das Herz überhaupt noch schlug. Jedesmal
nickte er dann seiner Mutter beruhigend zu, die mit
angstvollen Augen neben ihm stand.
Nach einer Weile setzten sie sich auf das Bett, jeder auf eine
Seite, und warteten auf den Arzt, der über Land zu einem
Kranken gefahren war. Er würde sofort nach Regglinsgrund
kommen, wenn er zurückgekehrt wäre, wurde Harro auf
seinen Anruf hin versichert.
Nun warteten Mutter und Sohn voll Ungeduld. Wenn er
nicht bald erschien, mußte man einen anderen Arzt
kommen lassen, so ungern man es auch tat.
Rotraut begann sich zu verändern. Die Blässe des Gesichts
wich einer dunklen Röte. Die Augen, die sie ab und zu
öffnete, hatten keinen klaren Blick. Sie erkannte den Gatten
nicht, der sich über sie beugte, und stieß ihn angstvoll von
sich.
»Bitte, ach bitte!« flehte sie. »Ich habe Ihnen doch nichts
getan. Nicht das Brett heben – nein! Es ist lebendig da
unten – Arme greifen nach mir – halten mich fest! Sie
sollen den Harro ja haben – sagen Sie ihm nur, daß er
mich freigibt. Aber nicht hineinstoßen in das grausige
Wasser – haben Sie doch Erbarmen!«
Harro legte seine Hand auf ihren Kopf, in dem es wie
rasend hämmerte.
»Raute, so beruhigte dich doch«, sprach er gütig auf sie ein.
»Es darf dir ja niemand etwas tun. Ich bin doch bei dir.
Erkennst du mich denn nicht?«
Angstvoll schob sie seine Hand zur Seite – auch die der
Mutter, die beruhigend über das heiße Gesicht streichelte.
Der Körper zitterte und glühte. Der unstete, flimmernde
Blick irrte durch das Zimmer, als erwarte die Fiebernde von
irgendwo Rettung.
»Sie sollen mich in Ruhe lassen!« rief sie heftig. »Sie sind
böse – Sie wollen mich in den See stoßen! Wenn Sie Harro
lieben, brauchen Sie doch deshalb nicht schlecht zu
werden. Sie sollen ihn ja haben – aber dazu muß ich doch
nicht umkommen – in diesem furchtbaren Wasser! Hilfe!«
Harro mußte alle Kraft aufwenden, um die Phantasierende
im Bett zu halten. Der Schweiß brach ihm aus allen Poren
vor Anstrengung und Angst.
Da machte der Eintritt Gräfin Halldungens der Pein ein
Ende.
»Großer Gott«, stammelte sie erschrocken, als sie vor dem
Bett stand. Ihre zitternden Hände umfaßten den Kopf der
Fiebernden, die sie zuerst mißtrauisch musterte, dann wie
befreit aufatmete und sich in die Kissen zurücksinken ließ.
»Ach du bist es, Vater – dann ist alles gut. Du wirst mich
schützen, nicht wahr? Du wirst auch dem Grafen Regglin
sagen, daß er mich freigeben soll. Du kennst ihn und seine
Mutter ja nicht. Sie haben kein Herz – auch nicht die
Komteß Illsund – die mich in das grausige Wasser stieß –
um Harro zu bekommen. Sag es keinem, Vater«, flüsterte
sie geheimnisvoll – »ich tu es auch nicht. Nimm mich fest
in deine Arme – damit ich nicht mehr Angst zu haben
brauche. Ach ja – so ist – es schön.«
Voll Erbarmen umschloß Gräfin Herma den zitternden
Körper, der sich zutraulich an sie schmiegte.
In diesem Augenblick trat der Arzt ein. Er ließ sich den
Vorfall am See erzählen und trat dann an das Bett.
»Na, Frau Gräfin, Sie machen ja schöne Geschichten«, sagte
er und zwang sich zu einem frischen Ton. »Kann mir
denken, daß Ihnen der Schreck in die Glieder gefahren ist.
Aber zu fiebern brauchen Sie dabei doch nicht gleich, Sie
törichte kleine Frau. Nun, das wollen wir gleich haben.«
Während er ihr eine Spritze gab, plauderte er vergnügt.
Dann wartete er gespannt die Wirkung der Injektion ab
und nickte zufrieden, als Rotraut nach einer Weile die
Augen aufschlug und ihn mit klarem Blick ansah.
»Nanu, Herr Doktor, was wollen Sie denn hier?«
»Eine leichtsinnige kleine Frau zur Räson bringen«,
schmunzelte er. »Wenn Sie schon baden wollen, dann
suchen Sie sich in Zukunft ein appetitlicheres Wasser aus.
Sie können froh sein, daß Sie aus diesem verflixten Tümpel
herausgekommen sind. Oder glauben Sie, sich dort unten
einen Nixerich anlachen zu können?«
»Warum nicht«, lächelte sie matt. »Vielleicht sind sie besser
als die Männer hier oben.«
»Olala«, lachte er herzlich. »Wenn wir schon so
angriffslustig sind, dann geht es uns schon wieder ganz gut.
Nun versuchen Sie zu schlafen, Frau Gräfin. Und wenn ich
wiederkomme, dann bitte ich mir ein fröhliches Gesicht
aus.«
Er erhob sich und winkte dann den beiden Regglins, ihm
zu folgen. Im Nebenzimmer sagte er:
»Es ist kein Grund zu ernster Besorgnis. Das Fieber ist wohl
nur eine Folge der furchtbaren Erregung. Die Spritze wird
der Frau Gräfin zu einem langen Schlaf verhelfen. Wenn sie
dann erwacht, wird ihr das grausige Erlebnis wie ein böser
Traum erscheinen. Sollte sich jedoch ihr Zustand wider
Erwarten verschlechtern, dann bitte, benachrichtigen Sie
mich sofort davon.«
Damit verabschiedete sich der vielbeschäftigte Arzt, und die
beiden Regglins kehrten zur Rotraut zurück, auf deren Bett
Gräfin Herma saß. Sie bemerkte die Eintretenden nicht, die
abseits Platz nahmen. Wohl eine Minute lang war es still,
dann sagte Raute müde:
»Wie gut, daß du da bei mir bist, Tante Herma. Dann
brauche ich mich nicht zu fürchten.«
»Das hast du doch auch sonst nicht nötig, mein
Rautendelein. Wovor fürchtest du dich überhaupt?«
»Vor der Komteß Illsund. Aber du weißt ja nicht…«
»Doch, mein Kind. Laß uns jetzt nicht darüber sprechen,
versuche lieber zu schlafen. Harro wird dich fortan schon
schützen, das darfst du mir glauben.«
»Ausgerechnet er«, wehrte sie müde ab. »Vielleicht wäre er
froh gewesen, mich auf so einfache Art loszuwerden.«
»Kind, ich bitte dich!« unterbrach die andere sie
erschrocken. »Was sind das für schwarze Gedanken! Wie
kommst du nur darauf?«
»Weil ich ihm lästig bin.«
»Davon habe ich noch nichts gemerkt, du kleines Schaf.
Schlafe jetzt, und quäle dich nicht mit Hirngespinsten ab.«
»Tante Herma, du hast mich doch lieb?«
»Sehr, mein Rautendelein.«
»Dann beweise es, indem du mich nach Hermeshöh
mitnimmst. Nur für die Zeit, bis diese – Ehe auf Abbruch –
beendet ist. Dann gehe ich sowieso meiner Wege. Bitte,
bitte, Tante Herma, sag nicht nein!«
Diese konnte den flehenden Blick nicht ertragen und
wandte das Gesicht ab. Das deutete Rotraut so falsch, daß
sie mißtrauisch wurde.
»Du willst nicht?«
»Ich kann nicht, Raute«, entgegnete sie gequält. »Harro
würde das niemals dulden.«
»Natürlich nicht«, lachte die junge Frau bitter auf. »Dann
kann er mich, die ich ihm aufgedrängt worden bin,
nämlich nicht mehr weiter demütigen. Aber ich habe auch
meinen Stolz – und nicht zu knapp.«
»Raute, ich bin entsetzt.«
»Glaube ich dir gern. Laß nur, ich weiß Bescheid.«
»Nichts weißt du, und ich will dir sagen…«
»Danke. Ich bin jetzt müde und möchte schlafen.«
Sie drehte sich auf die Seite, und bald verrieten regelmäßige
Atemzüge ihren festen Schlummer. Seufzend erhob Gräfin
Herma sich. Nun bemerkte sie auch Mutter und Sohn, auf
die sie leise zutrat.
»Ihr seid hier?« fragte sie flüsternd. »Dann wißt ihr ja, was
Raute von euch denkt. Ich glaube, wir können sie beruhigt
der treuen Dora überlassen. Sie wird sobald nicht
aufwachen.«
Nachdem die Zofe Verhaltungsmaßregeln erhalten hatte,
gingen die Regglins und Herma ins Wohnzimmer hinunter,
wo ihnen Eberhard entgegenkam.
»Wie geht es Raute?« fragte er bang.
»Augenblicklich schläft sie«, entgegnete seine Mutter.
»Armes Ding! Es ist wirklich so allerlei, womit sie sich
herumquälen muß.«
Tiefbekümmert ließ sie sich in einen Sessel sinken, und die
anderen folgten ihrem Beispiel. Es war kein freundlicher
Blick, der zu Harro hinging.
»Nun, Tante Herma, willst du mich mit deinen Blicken
erdolchen?«
»Verdient hättest du es, mein Sohn. Denn du scheinst so
manches auf dem Kerbholz zu haben.«
»Na schön. Schweige ich und leide.«
»O über diesen Spötter! Gibt es denn wirklich nichts, was
du ernst nimmst? Um ein Haar wäre deine Frau…«
»Bitte nicht, Herma«, unterbrach Liane sie hastig.
»Ich werde dir erzählen, wie alles zusammenhängt. Dann
wirst du dem Jungen bestimmt nicht allein die Schuld
geben.«
Als sie geendet hatte, schüttelte Herma verblüfft den Kopf.
»Na so was! Kann es denn wirklich so viel Verbohrtheit
geben, wie Herr Bracht sie an den Tag gelegt hat? Zwei
Menschen in eine Ehe zu zwingen, dazu gehört schon was.
Zwar habe ich etwas Ähnliches vermutet, aber die
Einzelheiten des Gehörten erschüttern mich nun doch.
Kein Wunder, daß Rotraut sich hier als Eindringling
betrachtet. Ein Jahr hat schließlich
dreihundertfünfundsechzig Tage, die einem Menschen zur
Ewigkeit werden können. Du als Mann wirst das nicht so
empfinden, Harro. Denn erstens bist du nicht so zart
besaitet, und zweitens bist du der Herr hier. Aber für
Rotraut muß es ein demütigendes Gefühl sein, sich nur
geduldet zu wissen.«
»Ich wüßte nicht, daß Mutter und ich sie das haben jemals
spüren lassen. Wenn Rotraut sich hier unglücklich fühlt,
dann liegt das an ihr.«
»Gewiß, Junge – und doch! Vor vier Monaten erst wurde
eure Ehe geschlossen, acht müßt ihr sie noch laut Vertrag
aufrechterhalten. Ich weiß wirklich nicht, was da werden
soll.«
»Nicht anders, als es bereits geworden ist, Tante Herma.
Rotraut schmachtet durchaus nicht in einem Kerker; im
Gegenteil, sie hat so viele Freiheiten wie selten eine Frau.
Was sie sich da einbildet, sind weiter nichts als
Hirngespinste.«
»Das habe ich ihr vorhin ja auch gesagt. Wie wäre es, wenn
ich sie zu mir nach Hermeshöh nähme?«
»Das geht nicht, Tante Herma, weil das nicht im Sinne
ihres Vaters wäre. Und dessen Wunsch muß ich Rechnung
tragen bis zum letzten.«
»Armer Kerl! Na ja, du wirst dich schon durchbeißen. Aber
für Raute sehe ich schwarz. Jetzt fühlt sie sich gar noch
bedroht.«
»Unsinn!«
»Sagst du! Doch gebranntes Kind scheut das Feuer. Wenn
ich nur genau wüßte, ob Iris tatsächlich so gewissenlos…«
In diesem Augenblick hastete Adelheid ins Zimmer und lief
auf Gräfin Herma zu, sie sank vor ihr in die Knie und
drückte weinend den Kopf in ihren Schoß. Erschrocken
sahen die anderen sich an, und dann umschloß Herma den
bebenden Mädchenkörper fest mit beiden Armen.
»Na, nun mal ruhig, Kindchen, Wer wird denn so wild
weinen. Wo drückt denn das Herzchen, wie?«
»Iris – oh, wie kann die nur so schlecht sein«, kam es
schluchzend heraus. »Wenn nun Raute… Gar nicht
auszudenken wäre das!«
»Dieses ist nun die Antwort auf meine Frage vorhin«,
flüsterte die Gräfin den anderen zu. Dann sprach sie wieder
zu Heidi:
»Dummchen, unserer Raute geht es doch gut. Sie schläft
jetzt friedlich, und wenn sie erwacht, wird der Schreck
überwunden sein. Daß auch gerade Sie dazukommen
mußten, als das arme Ding ins Wasser stürzte. Fast hätte es
sein Leichtsinn, den morschen Steg zu betreten, mit dem
Leben büßen müssen. Ihre Schwester war ja auch ganz
verstört, Kleines.«
Heidi erschauerte.
»Ich weiß es besser…«
»Nichts wissen Sie, Kindchen – genauso wenig wie wir und
Raute selbst. Und nun mal das Köpfchen hoch, die Tränen
getrocknet! So. Jetzt ist Feierabend für die Nerven. Danken
wir Gott, daß Raute lebt. Alles andere ist halb so wichtig.«
Heidi erhob sich langsam und setzte sich auf die
Sessellehne. Sie schmiegte sich an Herma, die ihr zärtlich
über die verweinten Augen strich.
»Es will mir fast scheinen, als wären wir dem Herrn Papa
wieder ausgerückt, mein Herzchen, wie?«
»Ja. Ich mag jetzt noch weniger zu Hause sein als früher«,
kam es herb über die Mädchenlippen. »Zwar bin ich daran
gewöhnt, daß Iris hauptsächlich von meinem Vater
vergöttert wird, aber heute – nach alledem, was passiert ist
– ging mir die Verhimmlung denn doch zu weit. Ich mag
nichts mehr hören und sehen – und deshalb kam ich
hierher. Es ist dir doch recht, Tante Liane?«
»Selbstverständlich, mein Kind. Ich fürchte nur, daß dein
Vater dich zurückholen wird. Du weißt doch, daß er dich
nicht gern bei uns sieht.«
»Bei euch schon, Tante Liane – aber nicht bei Raute. Er läßt
sich von Iris immer wieder aufhetzen, die mir das warme
Plätzchen hier nicht gönnt.«
Der Fernsprecher schlug an, und Harro nahm den Hörer
ab.
»Ja, Heidi ist hier«, gab er der zornigen Stimme am anderen
Ende der Leitung Antwort. Und schon nahm die Tante ihm
den Hörer aus der Hand, sprach seelenruhig in den
Apparat:
»Na, nun mal langsam, mein lieber Graf! Sie brauchen mir
mit Ihrer Donnerstimme nicht das Trommelfell zu
zertrümmern. Ganz recht, hier spricht Herma Halldungen.
Leider kann Ihre Tochter Adelheid jetzt nicht nach Hause
kommen, weil sie zusammengeklappt ist«, log sie
freundlich. »Auf Anraten des Arztes muß sie unbedingte
Ruhe haben. Zwei kranke Töchter, das ist, um auf die
Akazien zu klettern? Stimmt. Daher will ich mich opfern
und Ihnen eine Marjell abnehmen. Ich pflege das arme
Seelchen in Hermeshöh schon wieder zurecht.
Einverstanden?«
Nach einem weiteren Hin und Her legte sie dann lachend
den Hörer in die Gabel zurück.
»Das muß man schon sagen, Heidekind, der Herr Papa
kann ganz nett toben. Wie stehe ich nun da? Fein überlistet
habe ich ihn, was? Fragt sich nur, Kleinchen, ob Sie mit der
Eigenmächtigkeit, mit der ich über Sie verfügt habe,
einverstanden sind.«
»Von ganzem Herzen.«
»Dann ist ja alles in schönster Ordnung. Habe ich Sie erst
einmal in Hermeshöh, dann wird sich das Weitere finden.
Schließlich brauche ich ja eine Gesellschafterin, nicht
wahr?« Sie zwinkerte vergnügt den anderen zu.
»Und daß ich diese bei meinen Besuchen hier mitbringe,
das ist ja wohl selbstverständlich. Somit haben wir alle was
von dem Mädchen, das jetzt hoffentlich die wehleidige
Miene lassen wird.«
»An uns wird Heidi wohl herzlich wenig liegen«, bemerkte
Liane. »Das hat sie in letzter Zeit klar genug bewiesen. Zwar
weiß ich nicht, was wir ihr getan haben…«
»Aber Muttchen«, schaltete sich Harro spöttisch ein. »Da
wir Barbaren ihr Idol doch so knechten…«
»Nun hört euch bloß diesen Spötter an!« lachte die Tante.
»Laßt mir das Kind in Ruhe, das schon wieder das
Köpfchen hängt. Geben Sie ihm doch contra, Kleine.«
Heidi, den Tränen nahe, sah zu Gräfin Liane hin, die sie
lächelnd zu sich bat. Sie zog das Mädchen zu sich auf die
Sessellehne, strich zart über das vor Verlegenheit gerötete
Gesichtchen und sagte gütig:
»Glaubst du wirklich, es sei allein unsere Schuld, daß
Rotraut uns so feindlich gegenübersteht?«
»Nachdem ich alles weiß – nicht mehr«, entgegnete sie
leise. »Es ist wohl Rautes unbändiger Stolz, der sie jedes
Entgegenkommen schroff zurückweisen läßt. Sie kann so
lieb sein, Tante Liane, glaube es mir.«
»Davon haben wir bisher noch nichts zu spüren
bekommen. Aber laß nur, wir haben uns daran gewöhnt,
von ihr als Widersacher betrachtet zu werden. Es macht uns
schon gar nichts mehr aus.«
»Ach, Tante Liane, wie schön könnte alles sein, wenn…«
»Ja – wenn! Gefühle lassen sich eben nicht erzwingen.
Vertrauen könnte sie uns allerdings entgegenbringen, aber
sie hält uns wohl dessen nicht wert genug. Wir wissen noch
nicht einmal, ob ihre Mutter noch lebt, ob sie Geschwister
hat.«
»Die Mutter ist tot.« Adelheid wurde nun lebhaft. »Aus
ihrer zweiten Ehe stammt nur Raute, zwei Söhne aus der
ersten. Rotraut spricht nicht gern über ihre Mutter, die
übrigens auch eine Deutsche war. Mit ihrem älteren
Stiefbruder scheint sie sich nicht so gut zu verstehen, aber
den jüngeren mag sie sehr gern. Den Bildern nach zu
urteilen, die sie mir einmal zeigte, muß ihr elterlicher
Besitz prächtig sein. Geld scheint bei ihnen keine Rolle
gespielt zu haben. Mehr weiß ich auch nicht.«
»Na, immerhin ist das schon etwas«, meinte Herma
trocken. »Vielleicht öffnet sich der schweigende Mund
einmal, wir müssen nur mit Geduld abwarten können.
Und nun bin ich dafür, daß wir nach Hause fahren. Seid
ihr damit einverstanden, meine Kinder, jetzt zwei an der
Zahl?«
Sie waren es. Beim Abschied schmiegte Heidi sich an
Gräfin Liane und fragte leise:
»Bist du mir noch böse?«
»Kindchen, das bin ich niemals gewesen. Es hat mich nur
gekränkt, daß du in letzter Zeit so unzugänglich warst. Aber
jetzt soll wieder alles so werden, wie es war – wenn du
willst.«
»Und ob ich will, Tante Liane! Hab’ Dank für deine Güte.«
Als Gräfin Liane am anderen Morgen nach Rotraut sehen
wollte, erhielt sie von der Zofe den Bescheid, daß die
Herrin nicht zu sprechen sei. Es ginge ihr so gut, daß sie
das Bett bereits verlassen hätte.
An der Mittagstafel erschien Rotraut denn auch, wohl noch
blaß, aber sonst ganz die alte. Sie begrüßte den Gatten und
seine Mutter so gleichmütig, als wäre der gestrige Tag nicht
gewesen.
»Komm doch einmal her zu mir, Rotraut.«
Widerwillig folgte sie der Aufforderung der Gräfin, die sie
neben sich auf das Polster zog und sie kopfschüttelnd
betrachtete, weil Rotraut die Augen beharrlich gesenkt
hielt.
»Was bist du doch für ein unbegreifliches Menschenkind,
Rotraut. Nach dem, was gestern geschehen ist, müßtest du
uns, die dir nahestehen sollten, doch etwas zu sagen
haben.«
»Ich wüßte nicht«, kam es so hochmütig zurück, daß ein
tiefes Rot in Lianes Antlitz stieg. Da der Diener meldete,
daß angerichtet sei, erhob sie sich schweigend.
Und schweigend verlief auch das Mahl, bei dem Rotraut
beinahe schlapp gemacht hätte. Einige Male mußte sie sich
am Tisch festhalten, weil es ihr schwarz vor den Augen
wurde. Sie sah die Blicke nicht, die Mutter und Sohn
miteinander tauschten, und wankte nach Aufhebung der
Tafel sofort aus dem Zimmer. Liane, die ihr besorgt folgen
wollte, wurde von Harro zurückgehalten. Als Rotraut
draußen war, sagte er unwillig:
»Hat dir die Abfuhr, die du vorhin bekamst, noch nicht
genügt, Mutter? Es ist unerhört, was du dir so alles bieten
lassen mußt.«
»Du wohl weniger, mein Junge?« fragte sie lächelnd, und er
winkte gelassen ab.
»Ich werde schon mit ihrem Eigenwillen fertig, aber du
nicht, Muttchen. Daher möchte ich dir raten, ihr mit
keinem Schritt mehr entgegenzukommen. Du hast dir
schon gerade genug von ihr bieten lassen.«
»Sie war aber nahe am Zusammensinken, Harro. Es ist
unsere Pflicht, auf sie zu achten. Willst du nicht nach ihr
sehen?«
»Um vor verschlossener Tür zu stehen? Danke! Dora wird
sie schon betreuen.«
Das tat das treue Mädchen auch. Es umsorgte seine Herrin,
die völlig erschöpft auf den Diwan gesunken war, bis sie
fest einschlief. Dann setzte es sich mit einer Handarbeit ins
Nebenzimmer, um jedes Rufs gewärtig zu sein.
Zur Kaffeezeit erwachte Rotraut. Sie rief nach Dora, doch
statt dieser eilte Heidi auf sie zu, umfaßte sie mit beiden
Armen und schmiegte ihre Wange an die der Freundin.
»Ach, Raute, wie habe ich mich um dich geängstigt! Geht es
dir jetzt wieder gut, ja?«
»Wahrscheinlich besser als dir«, entgegnete Rotraut
lächelnd. »Jedenfalls zittere ich nicht so wie du. Sitzt dir
immer noch der Schreck in den Gliedern?«
»Das ist es nicht allein. Glaube mir, Raute, meine Schwester
war niemals schlecht. Sie hatte allerdings auch keine
Gelegenheit, es zu sein, weil alles nach ihrem Willen ging.
Daß man diesem entgegentrat, kam nicht vor. Erst als du
auftauchtest und sie immer mehr und mehr
verdrängtest…«
»Na, Heidelein, seit wann übertreiben wir denn?« warf
Rotraut ein. »Ich weiß nur nicht, warum du deine
Schwester verteidigst? Ich habe sie doch gar nicht
angegriffen. Sprechen wir nicht mehr davon. Dich peinigt
das Gespräch, und mir ist es unangenehm. Bist du schon
lange hier?«
»Ungefähr eine halbe Stunde. Denke dir, Raute, ich bleibe
jetzt vorläufig in Hermeshöh.«
Sie erzählte von dem gestrigen Telefongespräch und merkte
in ihrem Eifer gar nicht, wie ablehnend Rotraut sich
verhielt.
»Ich bin ja so von Herzen froh, daß ich von zu Hause fort
bin«, erzählte sie weiter. »Jetzt Iris ständig vor Augen zu
haben und die Vergötterung durch den Vater
mitanzusehen, das ginge einfach über meine Kraft. Ja,
wenn sie ihre schändliche Tat wenigstens bereuen wollte,
aber keine Spur.«
»Heidi, du wolltest die unangenehme Sache doch ruhen
lassen«, mahnte Rotraut. »Für das Tun deiner Schwester bist
du doch wirklich nicht verantwortlich zu machen.«
»Was würde aber geschehen, wenn du nicht so edelmütig
wärest?«
»Stop, Heidi, das klingt ja ganz nach Schwärmerei. Dazu
bin ich ein ganz ungeeignetes Objekt. Edelmütig? Wer ist
das überhaupt! Ich mit meinen vielen Fehlern bin es
bestimmt nicht.«
»Ich kenne keine – höchstens…«
»Was denn?« forschte Rotraut, als Heidi verlegen schwieg.
»Sprich nur ruhig weiter.«
»Ja – muß ich wohl«, kam es kleinlaut heraus. »Schau mal,
Raute, seitdem du mir dein Vertrauen geschenkt hast, bin
ich in der Lage, so manches besser als vordem beurteilen zu
können. Denn zuerst gab ich Tante Liane und Harro allein
die Schuld an euerm befremdenden Verhalten. Die
sonderbare Art Harros empörte mich ebenso wie Tante
Lianes verletzendes Gebaren, mit dem sie dich am
Hochzeitstag willkommen hieß. Ich stellte mich sofort auf
deine Seite, hieß alles gut und richtig, was du tatest – aber
jetzt… Ach, Raute, was will ich da viel reden? Ich bitte dich
nur, sei doch nicht so unversöhnlich – und hochmütig.«
»Also schon zwei Fehler, die du an mir entdeckst.«
»Bitte nicht, Raute«, unterbrach Heidi sie hastig. »Dein
spöttischer Blick tut mir weh. Ich merke schon, du bist mir
böse.«
»Nicht doch, Heidi. Ich weiß ja, wie gut du es meinst. Du
wirfst mir Hochmut vor, schön. Aber sind die Regglins etwa
weniger hochmütig als ich? Siehst du, darauf weißt du
nichts zu erwidern. Ich bin nicht gewohnt zu betteln. Das
verbietet mir nicht mein Hochmut, sondern mein – Stolz.
Und nun mach’ nicht ein so verzagtes Gesicht, Heidi. Laß
mich nur gewähren – und die anderen auch. Wir beißen
uns schon gegenseitig durch. Hörst du, es gongt. Also
werden wir uns an der Kaffeetafel einfinden müssen. Mich
würde man dabei wohl kaum vermissen, aber du würdest
ihnen fehlen.«
Sie erhob sich, zog rasch ein anderes Kleid an, erfrischte
das Gesicht, bürstete das Haar und trat dann zu Heidi, die
sie bittend ansah.
»Raute, sei mir nicht böse…«
»Dummchen! Nun komm schon.«
Sie zog sie rasch mit sich fort, und sie gingen nach unten,
wo man bereits mit dem Kaffee auf sie wartete.
»Da ist ja unser Rautendelein!« Gräfin Herma zog Raute in
die Arme. »Laß dich anschauen, Kind. Ein wenig blaß
noch, aber sonst wieder die alte. Gott sei Dank, daß das
schauerliche Erlebnis keine ernsten Folgen…«
»Bitte, Tante Herma…« Rotraut löste sich aus der
Umarmung. »Es ist genug über meine Ungeschicklichkeit
gesprochen worden.«
Rotraut wußte nicht, wie hochmütig sie wirkte. Sie schien
auch den betroffenen Blick der Tante nicht zu sehen. Sie
nahm mit den anderen am Tisch Platz, beteiligte sich
jedoch nicht am Gespräch, das lebhaft geführt wurde.
Und je länger sie verweilte, um so schwerer wurde ihr das
Herz. Es fraß sich eine Bitterkeit in ihr fest, gegen die sie
sich augenblicklich nicht wehren konnte.
Jetzt waren ihr auch die beiden Menschen verloren, die sie
auf ihrer Seite geglaubt hatte. Wie hätte sonst Tante Herma
ihre flehende Bitte ablehnen können, ihr in Hermeshöh
Obdach zu gewähren? Sie tat es ja bei Heidi – warum also
bei ihr nicht?
Ach, das war leicht zu erklären. Tante Herma war im
Grunde genommen nicht anders als die Regglins. Auch
Adelheid nicht, deren offene Meinung sie vorhin hatte
hören dürfen. Mit ihrer Tante Liane war sie bereits wieder
ein Herz und eine Seele. Nun ja, sie gehörten kraft ihrer
jahrzehntelangen Freundschaft eben alle zusammen.
Und sie, Rotraut, war und blieb ein Fremdling in dem
festgefügten Kreis.
Ein Eindringling, den man je nach Veranlagung teils
freundlich, teils ablehnend duldete – weil man ihn dulden
mußte.
Rotraut hatte keine Ahnung, daß ihre Verbitterung sie
ungerecht werden ließ. Sie in ihrer hochmütig-
abweisenden Haltung machte es ja den anderen
unmöglich, sie in das Gespräch zu ziehen. Denn
schließlich läßt sich keiner gern seine frohe Laune
verderben.
Nachdem die andern zur Zigarette gegriffen hatten, erhob
Rotraut sich. Hoch und schmal stand sie da. Abwehrend
die Haltung und abwehrend der Blick.
»Ich bitte, mich zurückziehen zu dürfen.«
Als sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, lehnte sie sich
gegen sie und drückte die Hand auf das hartklopfende
Herz. Gottlob, es schien ihr niemand zu folgen. Trotzdem
eilte sie wie gehetzt davon und machte erst in ihrem
Schlafzimmer halt, wo die Zofe herumhantierte.
»Dora«, sprach sie zu ihr in einem Ton, den sie sonst für
das treue Mädchen nicht zu haben pflegte. »Ich erteile
Ihnen den Befehl, niemand in meine Zimmer zu lassen. Sie
können gehen.«
Verstört schlich Dora hinaus. Was mochte der Herrin nur
geschehen sein? Nun hörte sie diese gar noch weinen.
Sie setzte sich in einen Sessel und behielt die Tür im Auge,
durch die sie niemand gehen lassen durfte, wer es auch sei.
Also mußte sie auch Adelheid abweisen, die einige
Minuten später erschien.
»Bitte, Komteß, ich habe von Frau Gräfin den strikten
Befehl, keinen vorzulassen.«
»Davon bin ich doch wohl ausgenommen, Dora.«
»Nein, Komteß. Bitte! Es könnte meine Stellung kosten.«
Nun, darauf wollte Heidi es nicht ankommen lassen. Also
ging sie wieder nach unten, wo ihr drei Augenpaare
gespannt entgegensahen.
»Wie ich sehe, hast du nichts ausrichten können, mein
Kind«, fragte Gräfin Liane bekümmert, und ebenso
bekümmert folgte die Antwort:
»Nein, nichts. Dora darf keinen zu Raute lassen. Ich bin so
entsetzlich unruhig. Harro, du mußt unbedingt nach
Rotraut sehen.«
»Na schön«, er erhob sich. »Ich tue es – selbst auf die
Gefahr hin, gehörig abgeblitzt zu werden. Denn du
scheinst dein Idol noch immer nicht zu kennen, meine
liebe Heidi.«
Unverzüglich suchte er das Wohnzimmer seiner Gattin auf,
wo die Zofe aufsprang und sich mit dem Rücken gegen die
Tür lehnte. Angsterfüllt stammelte sie:
»Herr Graf – Frau Gräfin wünscht – ungestört zu sein.«
»Nun, nun, nicht gar so furchtsam, Mädchen. Ihnen
geschieht nichts, dafür werde ich sorgen.«
Trotz der Freundlichkeit, mit der er es gesagt hatte, hörte
Dora doch den herrischen Unterton heraus, der sie
einschüchterte. Sie gab die Tür frei, öffnete und schloß sie
gleich wieder hinter der hohen Gestalt, die dann an der
Schwelle verharrte.
Es bot sich dem Mann aber auch ein seltsames Bild. Am
Boden kniete Rotraut und stopfte wahllos Kleidungsstücke
in den Koffer. Obwohl er bereits gefüllt war, sollte immer
noch mehr in ihn hinein – wahrscheinlich alles das, was
verstreut auf dem Boden lag. Natürlich ging der Deckel
nicht zu. Also wurde Verschiedenes wieder herausgezerrt,
zwischendurch das Gesicht in die Hände gedrückt und
bitterlich geweint – bis eine spöttische Stimme sie entsetzt
herumfahren ließ. Sie sprang auf und stand nun dem Mann
gegenüber, der, die Hände in den Hosentaschen, sie
belustigt betrachtete. Wie ein gescholtenes kleines
Mädchen stand sie da. Die in Unordnung geratenen Locken
mit dem satten Goldton gaben dem zarten Antlitz etwas
ungemein Süßes, Rührendes, zumal die Augen, an deren
Wimpern noch die Tränen hingen, sehr hilflos
dreinschauten.
»Was bist du doch nur für ein törichtes kleines Mädchen«,
sprach er nun in fast väterlichem Ton. »Es gehört deine
ganze Eigenwilligkeit dazu, nach dem ersten von mir
vereitelten Fluchtversuch an einen zweiten zu denken.
Diesmal glaubtest du schlauer vorzugehen, indem du die
Zofe vor der Tür Posten stehen ließest. Halt, sprich jetzt
nicht. Deinen Augen und dem trotzigen Mund nach zu
schließen, willst du zum Angriff übergehen. Ich jedoch
habe keine Lust, mit gleichen Waffen zurückzuschlagen,
weil du mir in deiner jetzigen seelischen Verfassung keine
ebenbürtige Gegnerin wärest. Wollen wir lieber gemeinsam
das Chaos hier beseitigen, damit die Zofe keine dummen
Vermutungen anstellt. Ich bin ohnehin schon das Gespött
der Dienerschaft, die längst bemerkt hat, wie meine Frau
mir auf der Nase herumtanzt. Vielleicht schreibst du dir
hinter deine rosigen Ohren, was ich dir jetzt zum
letztenmal sagen werde: Nach abgelaufener Frist kannst du
Regglinsgrund ohne mich verlassen – eher nicht. Versuche
nicht, das, was jetzt noch eine Bitte ist, verächtlich abzutun.
Sonst müßte ich es in einen Befehl fassen – und das wäre
unerquicklich für uns beide. Und nun werden wir uns an
die Arbeit machen. Ich glaube fast, daß ich mich dabei
geschickter anstellen werde als du. Kein Wunder, da ich als
Soldat ja nicht immer einen Diener hinter mir haben
konnte.«
Rotraut ließ es geschehen, daß er die Kleidungsstücke aus
dem Koffer nahm und sie an den ihnen zukommenden
Platz legte. Zwar half sie nicht dabei, aber sie wehrte ihm
auch nicht. Sie war viel zu müde dazu. Das Zimmer begann
sich im Kreis zu drehen, so daß sie unwillkürlich nach
einem Halt griff. Und schon war er an ihrer Seite.
»Was eine so törichte kleine Frau einem Mann zu schaffen
machen kann, das ist kaum zu glauben. Komm, lege dich
jetzt einstweilen auf den Diwan.«
Willenlos duldete sie es, daß er ihre Schulter umfaßte und
sie führte. Sie streckte sich auf das Polster, drückte das
Gesicht in die Kissen und weinte. Warum, hätte sie selbst
nicht zu sagen vermocht. Augenblicklich war ihr alles ganz
gleichgültig. Auch daß Harro sie mit Hilfe der Zofe ins Bett
brachte, ließ sie widerstandslos geschehen. Sie trank auch
gehorsam von dem bitteren Zeug, das er ihr einflößte.
Dann duselte sie vor sich hin und hörte trotzdem die
weiche, tiefe Stimme dicht an ihrem Ohr.
»Schlafe dich jetzt über all dein eingebildetes Leid hinweg,
kleine Frau. Und wenn du dann erwachst, werden
hoffentlich alle Hirngespinste zerstoben sein wie Spreu im
Wind.«
Sie hatte das Gefühl, als ob ihre Stirn von zwei Lippen
gestreift wurde. Aber das war selbstverständlich nur
Einbildung oder ein Traum – wie alles andere auch: die
sonore Stimme, ganz ohne den gewohnten Spott, die
Zartheit, mit der ihr der bittere Trank eingeflößt wurde.
Ach ja, einen solchen Traum ließ sie sich schon gefallen.
Wohlig streckte sie sich im Bett, kuschelte sich in die
Kissen. Ihr wurde froh und leicht – wie seit langem nicht
mehr. Nur die Lider waren ihr so schwer, daß sie sie nicht
zu heben vermochte.
Wenige Sekunden später trat Harro, der seine Frau
gespannt beobachtet hatte, vom Bett zurück. Er wandte sich
an die Zofe, die unweit von ihm stand.
»Sie schläft«, sagte er leise. »Sorgen Sie dafür, daß dieser
Schlaf durch nichts gestört wird. Jede kleinste Veränderung
teilen Sie mir sofort mit.«
Von Liane wurde er unten schon mit Ungeduld erwartet.
»Junge, du bliebst ja so lange fort«, fragte die Mutter
vorwurfsvoll. »Geht es Rotraut nicht gut? Du machst ein so
ernstes Gesicht.«
Er ließ sich in einen Sessel sinken und fuhr sich einige Male
über Stirn und Augen. Dann zündete er eine Zigarette an,
legte sich zurück und schlug die Beine übereinander.
»Nein, es ging ihr nicht besonders gut«, beantwortete er die
Frage der Mutter. »Die Nerven sind überreizt, was nach
dem gestrigen Erlebnis ja kein Wunder ist. Ihr fehlt ein
langer, tiefer Schlaf, zu dem ihr der Trunk, den ich ihr gab,
hoffentlich verhelfen wird. Wir können nichts weiter tun
als abwarten.«
Der Schlaftrunk mußte wohl eine besondere Wirkung
haben; denn Rotraut schlief Stunde um Stunde.
Regelmäßig ging der Atem, auf dem entspannten Antlitz lag
ein Zug von betörender Reinheit und Süße. Sie merkte
nicht, was um sie her geschah, so fest hielt der Schlummer
sie umfangen – wußte nicht, wie treu er bewacht wurde
von den beiden Menschen, denen sie fast feindlich
gegenüberstand. Immer wieder traten sie an das Bett der
Schläferin, und erst um Mitternacht streckte Harro sich
angekleidet auf den Diwan, um sofort zur Stelle zu sein,
wenn es notwendig sein sollte. Er brauchte sich dabei nicht
künstlich wachzuhalten, weil er sich auf sein im Krieg
geschärftes Ohr verlassen konnte, das jedes Geräusch auch
im Schlaf wahrnahm.
Er schlief dann länger, als er gewollt hatte. Leise erhob er
sich danach und trat an das Bett, in dem Rotraut nach wie
vor friedlich schlief. Dann sagte er Dora, die bereits im
Nebenzimmer wartete, daß sie auf ihre Herrin achtzugeben
hätte, nahm ein kühles Duschbad, zog den Reitanzug an
und ging in den Stall.
Kurz darauf ritt er davon. Tief atmete er die herbe
Morgenluft ein. Der Tag würde schön werden; denn die
Sonne brach sich durch den Nebel sieghaft Bahn. Der
diesjährige Herbst hatte bisher überhaupt viel
Sonnenschein gebracht. Geruhsam konnten die Landwirte
die Hackfrüchte trocken bergen, was ja immer ein großer
Vorteil ist. Auch das Pflügen der Felder wurde durch das
günstige Wetter erheblich erleichtert, also konnte man
schon zufrieden sein und beruhigt dem Winter
entgegensehen, der auf dem Lande seine Reize hatte.
Freilich nur für den, der mit seiner Scholle so verwachsen
war wie der Landmann.
Harro von Regglin wurde deshalb das Herz weit, als er
langsam dahinritt. Ringsum lag sein von den Vätern
ererbtes Land, das zu hüten seine heiligste Pflicht
bedeutete. Zwar hatte sein Vater das einmal vergessen, eine
einzige leichtsinnige Stunde lang. Und was darauf folgte…!
Die Stirn des Reiters umdüsterte sich. Er atmete tief und
schwer, dann gab er seinem Pferd die Sporen.
Hei, so ein frisch-fröhliches Reiten schafft klaren Kopf und
klares Herz! Der Wind, der um die Ohren saust, lüftet
sozusagen das Hirn mit aus. Was ist schwer? Nichts ist
schwer! Schließlich ist man doch ein Mann, kein
sentimentales kleines Mädchen, das weinerlich alles über
sich ergehen läßt, ohne sich zu wehren. Wozu ist man
denn Jäger? Nur frisch das Leben angepackt!
Herrlich erfrischt, innerlich und äußerlich, langte er wieder
zu Hause an und begrüßte seine Mutter herzlich, die im
Frühstückszimmer bereits auf ihn wartete.
»Guten Morgen, kleine Mama, gut geschlafen?«
»Es ging. Und du?«
»Ganz prächtig. Rotraut hat mich nicht einmal gestört. Hast
du schon nach ihr gesehen?«
»Ja – sie schläft immer noch. Das kam mir so unheimlich
vor, daß ich den Arzt anrief…«
»Und?«
»Er lachte mich aus.«
»Geschieht dir recht, Muttchen. Wenn ein Mensch so
friedlich schläft wie Rotraut, dann schläft er sich gesund.
Und nun wollen wir frühstücken, denn ich habe einen
Mordshunger.«
Danach sah Harro wie jeden Morgen draußen nach dem
Rechten. Er ritt zur Oberförsterei, um auch dort einiges zu
regeln. Kurz vor Mittag war er wieder zu Hause. Er zog sich
um und ging dann nach dem Schlafzimmer seiner Frau, wo
die Mutter am Fenster saß und an einer feinen Handarbeit
stichelte.
»Schläft Rotraut immer noch?« fragte er halblaut.
»Ja. Ist das nicht merkwürdig?«
Er zuckte die Achseln, trat an das Bett und sah prüfend in
das schlafheiße Gesicht.
»Wie ein Murmeltierchen«, lachte er verhalten. Und dieses
Lachen drang in Rotrauts tiefen Schlaf. Schon wollte sie die
Augen öffnen, besann sich dann jedoch eines anderen.
Noch wollte sie ein wenig vor sich hin duseln. Mit
Befriedigung bemerkte sie, daß der Gatte zurücktrat und
sich zu seiner Mutter setzte. Sie sprachen halblaut
miteinander. Was, das konnte Rotraut nicht verstehen,
wollte es auch nicht.
Behaglich streckte sie sich im Bett. So wohl hatte sie sich
schon lange nicht mehr gefühlt – so frisch, so frei, so froh!
Alles, was ihr bisher das Leben verbittert hatte, kam ihr
plötzlich fast lächerlich vor. Sie hatte sich selber wohl zu
wichtig genommen. In krassem Egoismus hatte sie nur an
sich gedacht und anspruchsvoll das für sich verlangt, was
sie anderen hochmütig versagte.
Ja, hochmütig! – Heidi hatte sie schon richtig eingeschätzt.
Wie töricht war es, sich mit hartnäckiger Verbissenheit
gegen etwas zu wehren, das sie doch nicht ändern konnte.
Wie dumm, sich das Leben zu vergällen. Das Leben, das
fast schon zu Ende gewesen – und das trotz allem so schön
war. Um zu dieser Erkenntnis zu gelangen, mußte also erst
das grausige Erlebnis kommen und sie aufrütteln!
Ein Spruch fiel ihr ein:
›Hast du etwas falsch gemacht, beharre nicht dabei, denke
lieber gründlich nach, Wie’s gutzumachen sei.‹
Nach diesen Versen wollte sie sich richten und fortan alles
hinnehmen, was auch kam. Sie wollte ihren wahren
Charakter nicht mehr knechten und knebeln, sondern sich
geben, wie sie wirklich war – unbekümmert und
frohgemut. Jedoch innerlich sollte nichts an sie
herankommen. Sie wollte keinem hier ihr Herz erschließen
– auch Tante Herma und Heidi nicht mehr. Dann hatte sie
keine neue Enttäuschung zu fürchten.
So weit war Rotraut mit ihren Vorsätzen und Entschlüssen
gekommen, als sie Gräfin Liane sagen hörte:
»Ob wir nicht doch den Arzt herbitten, Harro?«
Rotraut lachte in sich hinein. Einen Arzt? Nein, den
brauchte sie jetzt nicht mehr. Noch nicht einmal einen
Seelenarzt! Sie streckte sich, gähnte herzhaft – und schon
beugte sich Harro über sie.
»Nun, Murmeltierchen, endlich wieder munter? Schau nur,
Mutter, was für blanke Augen sie hat. Wie mit Blitzblank
geputzt! Da brauche ich gar nicht zu fragen, wie es dir geht,
was, kleine Frau?«
»Prächtig! Wie lange habe ich geschlafen?«
»So ungefähr zweimal um die Uhr.«
»Dürfte genügen.« Sie lächelte zu ihm auf, daß es ihm heiß
in die Stirn stieg. Zwar kannte er dieses süßschelmische
Lächeln, doch für ihn hatte sie es noch niemals gehabt.
»Ich möchte jetzt aufstehen.«
»Fühlst du dich dazu auch frisch genug?«
»So frisch, daß ich am liebsten in meinem Auto
dahinbrausen oder auf Ira über die Felder rasen möchte.«
»Dann allerdings!« lachte er. »Wenn du dich beeilst, dann
kommst du noch zur Mittagstafel zurecht.«
Dazu erschien sie denn auch, entzückend anzuschauen in
ihrem hellen Kleid aus weichem Wollstoff. Wie glänzende,
feingesponnene Seide umbauschte das Lockenhaar ihr
zartes, stolzgeschnittenes Gesichtchen, aus dem die
tiefblauen Augen herauslachten. Und auch das Lächeln,
mit dem sie schon so manchen Menschen betört hatte, lag
um den Mund.
Ein so gemütliches Mahl hatte man schon lange nicht mehr
in Regglinsgrund erlebt. Nicht wie sonst hielt sich Rotraut
zurück, sondern sie beteiligte sich an dem Gespräch, das
lebhaft geführt wurde.
Nach dem Essen fragte Harro:
»Wie ist es, Rautendelein, hast du noch Lust, auf Ira nicht
dahinzujagen, sondern zu reiten?«
»O ja.«
»Auch in meiner Gesellschaft?«
»Bitte sehr.«
Man konnte es dem Mann nicht verdenken, daß er über die
Veränderung seiner Frau erstaunt war, zumal sie so
plötzlich kam. Gestern noch wollte sie heimlich von hier
fort – und heute? Ja, da mußte man abwarten, was nach
dieser Laune – denn um etwas anderes konnte es sich wohl
kaum handeln – kommen würde.
Bei dem Ritt war auch Gräfin Liane dabei. Sie machte im
Damensitz eine ausgezeichnete Figur. Lächelnd schaute sie
auf Rotraut, die einige Kapriolen nicht unterlassen konnte,
sonst aber das von Harro angegebene Tempo gutwillig
einhielt. Der Mund lachte, die Augen blitzten nur so vor
Lebensfreude. Gar nicht wiederzuerkennen war sie in ihrer
betörenden Art. Welches war nun die echte Rotraut – diese
oder die andere, die kühle, abweisende, hochmütige? Was
hatte dieser plötzliche Umschwung zu bedeuten?
Mußten Mutter und Sohn auf der Hut sein?
Es war eine Lust, durch den herbstbunten Wald zu reiten.
Der Himmel spannte sich wie blaue Seide über die Erde.
Und doch rauschte in den Laubbäumen das wehmütige
Lied vom Scheiden. Bald würde der Novembersturm die
Blätter durcheinanderwirbeln. Wo es jetzt vom hellsten
Gelb bis zum tiefsten Rot leuchtete, würden bald kahle
Äste wie stumme Ankläger ragen. Nur im Nadelholz würde
es unvergänglich grünen.
Aber vorläufig war es ja noch nicht soweit. Noch hielt das
lachende Herbstwetter stand, und das mußte man
ausnutzen – so, wie die drei Menschen es taten, die
geruhsam dahinritten und mit frohen Augen das herrliche
Waldbild in sich aufnahmen. Was danach kam, war auch
schön. Fern hinterm Waldesrand sah man rote
Ziegeldächer. Die untergehende Sonne spiegelte sich in den
Fensterscheiben, daß sie golden blitzten. Dort lag
Hermeshöh wie eine trutzige Feste.
»Wie ist es?« fragte Harro. »Wollen wir Tante Herma in die
Kaffeekanne fallen? Ja? Dann gebt den Pferden den Kopf
frei – aber nicht zu frei. Das gilt hauptsächlich dir,
Rotraut.«
»Jawohl, Herr Unteroffizier!« meldete sie stramm, blieb
jedoch gehorsam. Und die beiden anderen hatten wieder
einmal Ursache, sich zu wundern.
In Hermeshöh empfing man sie freudig und staunte über
Raute, die so frisch und froh vor ihnen stand.
»Ja, Mädchen, was ist denn mit dir geschehen?« Gräfin
Herma schüttelte den Kopf. »Du siehst ja aus wie frisch
gewaschen und geplättet. Ist etwa das Seewasser daran
schuld?«
»Wahrscheinlich«, lachte Raute. »So ein unfreiwilliges Bad
und das Wasser, das man dabei geschluckt hat, sollen
manchmal Wunder wirken. Wenn man hinterher wieder
Luft schöpfen kann, dann weiß man erst, wie gut das tut.«
»Du sprichst zwar in Rätseln, mein Kind, aber es hört sich
ganz vernünftig an. Nehmt Platz, ihr Lieben. Ein guter
Einfall, uns zu überrumpeln.«
Man gruppierte sich zwanglos, unterhielt sich angeregt und
wunderte sich immer wieder über Rotraut, die sich
sozusagen über Nacht in ihrem Wesen vollständig
verändert hatte. Da man sie früher nicht gekannt hatte,
konnte man nicht wissen, daß man jetzt die echte Rotraut
vor sich sah, die zu sich selbst zurückgefunden hatte.
Nun war auch der November mit seinem Regen, Sturm und
Nebel gekommen. Doch Harro und seine Frau ließen sich
nicht davon abhalten, sich im Freien zu tummeln. Herrlich
war es dann, ins warme Zimmer zu kommen und sich von
der Traulichkeit umfangen zu lassen. Denn traulich war es
jetzt in Regglinsgrund, seitdem Rotraut nicht mehr Anlaß
zu einem Mißklang gab. Friedlich lebte sie neben Mutter
und Sohn und zeigte sich verträglich und aufgeschlossen.
Und doch war da noch etwas, das sie wie ein Wall umgab.
Doch war es nur für den spürbar, der ein feines Empfinden
hatte.
Selbst Iris, die eine Woche nach der Begebenheit am
Waldsee wieder wie selbstverständlich in Regglinsgrund
auftauchte, wurde von Rotraut so freundlich behandelt,
daß die Komteß fast davon überzeugt war, Rotraut wisse
um ihre Tat nicht.
Das gab Iris nun ihre ganze Sicherheit wieder. Anmaßend
wie zuvor versuchte sie ihren Platz in Regglinsgrund zu
behaupten. Sie merkte nicht oder wollte in ihrer
Dickfelligkeit nicht merken, wie ablehnend Gräfin Liane
und ihr Sohn sich ihr gegenüber verhielten.
Auch in Hermeshöh nistete Iris sich immer mehr ein. Mit
Eberhard schien sie ein Herz und eine Seele zu sein. Er
sagte ihr sogar im Beisein anderer Schmeicheleien über ihr
Aussehen, das sich in den letzten Wochen gewandelt hatte.
Ihr Haar war heller geworden, platinblond, raffiniert
frisiert. Das Gesicht diskret angemalt, die Kleidung
mondän. Ihr Augenaufschlag war nach ihrer Meinung
unnachahmlich. Er sollte nach ihrer Meinung ein
Mittelding von Herzinnigkeit und lockender Koketterie
bedeuten.
Am häufigsten trafen diese Blicke Eberhard. Die Regglins
amüsierten sich darüber, Herma beunruhigten sie – und
Heidi bereiteten sie bitteres Herzweh. Sie war nicht so froh,
wie sie es bei ihrem jetzigen Leben hätte sein müssen; denn
in Hermeshöh führte sie ein herrliches Dasein. Sie hielt
sich auch oft in Regglinsgrund auf, wo man sie mit
Herzlichkeit umgab. Dort wußte man ja, worum das
Mädchen litt, konnte ihm jedoch nicht helfen. Denn
Eberhard schien tatsächlich mit Blindheit geschlagen zu
sein, sonst hätte er sich von Iris nicht so umgarnen lassen.
Graf Illsund war nach wie vor vernarrt in seine älteste
Tochter. Mit behaglichem Schmunzeln verfolgte er, was
sich zwischen ihr und Eberhard anspann. Den Besitzer von
Hermeshöh als Schwiegersohn zu haben, war bestimmt
nicht zu verachten. Da mochte der Harro, dieser arrogante
Bengel, mit seiner Krämerstochter seinetwegen selig
werden!
In der rosigen Stimmung, in der er sich jetzt immer befand,
ließ er sogar bei seiner jüngeren Tochter Nachsicht walten.
Ganz recht war es ihm ja nicht, daß sie sich so viel in
Hermeshöh aufhielt, aber schließlich konnte man da schon
ein Auge zudrücken.
Selbst die Krämerstochter ließ er jetzt gelten, seitdem sie
seiner Iris keine Rivalin mehr war. Wenn er vor sich selber
ganz ehrlich gewesen wäre, dann hätte er sie sogar
bezaubernd finden müssen. Aber soweit ging seine
Objektivität denn doch nicht.
Nun, um so ehrlicher begeistert waren die anderen, mit
denen Rotraut zusammenkam. Überall schmeichelte sie
sich mit ihrer entzückenden Art in die Herzen der
Menschen. Unbekümmert nahm sie an Freundschaft
entgegen, was ihr geboten wurde. Freilich, so
aufgeschlossen sie zwar auch gegen den Gatten und seine
Mutter jetzt war, die Herzlichkeit fehlte. Von Innigkeit war
schon gar nicht zu sprechen.
An einem Abend Ende November, als man in
Regglinsgrund am mollig warmen Kamin saß, bot Harro
seiner Frau an, mit ihm auf Reisen zu gehen.
»Warum?« fragte sie erstaunt. »Gefällt es dir hier nicht? Mir
gefällt es.«
»Nun, wenn das nicht ein freimütiges Bekenntnis ist«,
lachte er herzlich, und die Mutter lachte auch.
»Meinetwegen habe ich den Vorschlag gar nicht gemacht,
sondern deinetwegen. Du mußt dich hier auf dem Lande
doch langweilen – noch dazu bei dem scheußlichen
Wetter. Hör nur, wie der Wind heult und der Regen gegen
die Fenster klatscht.«
»Meinst du, anderswo regnet und stürmt es nicht?« Sie
lachte ihn freundlich an. »Ob ich dort oder hier im Zimmer
sitze, das bleibt sich ja doch einerlei. Außerdem sorgst du
so reichlich für Abwechslung, daß ich bestimmt keine
Langeweile habe. Reiten, Autofahren, Gesellschaften,
Theater, Kino, Konzerte«, zählte sie spitzbübisch an den
Fingern ab. »Im Winter kommt noch das Skilaufen, Rodeln,
Schlittenfahren dazu – das dürfte doch wohl genügen.
Nebenbei muß ich mich noch mit dir herumärgern.«
»Na, so ein Schelm!« Er drohte ihr lachend. »Da haben wir
uns ja was Gutes auf den Hals geladen, Muttchen. Sieh nur,
wie süßlächelnd sie dich anschaut, die kleine Circe. Hast
dich gut ausgewachsen, mein Kind, das kann man wohl
sagen.«
»Ich bin ja so froh, daß Raute hierbleiben will«, sagte die
Mutter lächelnd. »Ich wäre mir ohne euch recht einsam
vorgekommen.«
»Wir hätten dich mitgenommen, Muttchen. Nicht wahr,
Raute?«
»Selbstverständlich. Aber fahrt man lieber ohne mich, ich
bleibe hier und bewache das Haus.«
Also unterblieb die Reise. Herbst und Winter vergingen
schnell, und eh man’s gedacht, war es März geworden. Der
Frühling schickte schon seine Vorboten.
Als ersten davon die Schneeglöckchen, mit denen Rotraut
eines Morgens an den Frühstückstisch trat. Selber wie der
Frühling anzuschauen in ihrer herzerfrischenden
Schönheit, legte sie der Schwiegermutter die Blümchen
neben den Teller.
»Es sind die ersten«, berichtete sie, indem sie Platz nahm.
»Einige steckten noch im Schnee.«
Während sie aß, plauderte sie vergnügt. Als sie dann
gesättigt war und sich im Stuhl zurücklegte, begegnete sie
des Gatten forschendem Blick.
»Was hast du denn, Harro?« fragte sie unbehaglich.
»Bist du satt?«
»Natürlich.«
»Freut mich. Denn was ich dir hier gebe, würde dir den
Appetit genommen haben.«
Er reichte ihr einen Brief, den sie rasch überflog. Das
Schreiben war an Harro gerichtet und stammte von dem
Rechtsanwalt, der Rotraut im Mai vergangenen Jahres den
Brief des verstorbenen Vaters hatte zugehen lassen – jenen
Brief, der so schwerwiegend in ihr Leben eingegriffen hatte.
Der Rechtsanwalt bat den Grafen Regglin, die Interessen
seiner Frau wahrzunehmen und dafür zu sorgen, daß deren
Erbschaftsangelegenheit endlich geregelt würde. Sie selbst
hätte er dazu noch nicht bewegen können. Ihre beiden
Stiefbrüder wären sehr wohl in der Lage, ihr das Muttererbe
auszuzahlen.
»Was der Mensch nur will«, sagte sie nach dem Lesen des
Schreibens hochmütig. »Dem kann es doch gleich sein, was
mit dem Geld geschieht.«
»Ganz Rotraut«, lächelte der Gatte nachsichtig. »In
Geldsachen unbekümmert wie ein Kind. Welche
Veranlassung hast du denn, deinen Brüdern diese mehr als
ansehnliche Summte zu schenken?«
Sie preßte trotzig die Lippen zusammen und schwieg. Es
war nicht zu verkennen, daß sie sich von dem Gatten in
ihre eigenste Angelegenheit nicht dreinreden lassen wollte.
Eine Weile war es still, dann sagte er gelassen:
»Ja, Rotraut, da hilft dir nichts. Du wirst mich in deine
Familienverhältnisse nun wohl oder übel doch einweihen
müssen.«
»Ich mag dich damit nicht belästigen«, entgegnete sie
abweisend. »Du bist mir gegenüber zu nichts verpflichtet.«
Um seinen Mund zuckte es.
»Das war zwar recht deutlich, mein Kind, aber trotzdem
lasse ich nicht locker. Wenn du durchaus nicht sprechen
willst, werde ich von dem Rechtsanwalt erfahren, was ich
wissen muß.«
Ein so erschrockener Blick traf ihn, daß er ein Lächeln
kaum verbergen konnte. Mit einer hilflosen Gebärde hob
sie die Hand.
»Bitte nicht, Harro…«
»Ja, Rotraut, wenn du mich aber dazu zwingst…«
Sie senkte in peinlichster Verlegenheit den Kopf, schluckte
einige Male und begann dann leise:
»Nun, dann hör zu. Meine Mutter, eine geborene Gräfin
Kardesberg, heiratete einen Großindustriellen, der später
nach Amerika ging. Zwei Söhne wurden in der Ehe
geboren. Nachdem sie Witwe geworden war, lernte sie
einen Mann kennen, den sie so leidenschaftlich liebte, daß
sie keinen anderen in seiner Nähe dulden wollte. Sie ging
in ihrer egoistischen Liebe soweit, daß sie sogar auf seine
Arbeit eifersüchtig war, ihn immer wieder davon fortholte.
Auf die Dauer ließ er sich das nicht gefallen – und es kam
mehr und mehr zu bösem Streit und Unfrieden. Noch ärger
wurde es, als ich geboren wurde. Ich glaube, meine Mutter
hat mich gehaßt, weil sie mir die Liebe des Vaters
mißgönnte. Je ärger sie es trieb, um so mehr schloß er sich
an mich an. Sie litt ja selbst unter ihrer krankhaften Liebe –
und ihr Mann mit ihr. So war meine Kindheit alles andere
als rosig. Das heißt, allzusehr habe ich nicht darunter
gelitten, weil eine Nachbarin, Bobs Mutter, mich
erbarmungsvoll an ihr Herz nahm, was meinen Vater
unsagbar beglückte. Nun wußte er sein Kind immer gut
aufgehoben. So bin ich denn mit Bob zusammen
aufgewachsen. Oft war mein um sechs Jahre älterer
Stiefbruder der Dritte im Bunde. Ihn mochte ich gern, den
älteren nicht. Als mein Vater zu kränkeln begann und
daher das aufregende Leben im Haus nicht mehr ertragen
konnte, ging er nach Deutschland und nahm mich mit. Wir
schlossen uns so innig aneinander an, wie es bei Vater und
Tochter nur möglich ist. Selbstverständlich fuhren wir auch
einige Male im Jahr nach Hause, aber schon nach wenigen
Wochen flüchteten wir wieder. Langsam wickelte mein
Vater seine Geschäfte ab, übergab das Unternehmen
seinem ältesten Stiefsohn, und als seine Frau starb, war er
ganz frei. Leider konnte er diese Freiheit aber nur noch
zwei Jahre genießen, dann starb auch er. Kurz vor seinem
Tode sprach er viel von einer Frau, die er geliebt hatte, die
er jedoch aus irgendeinem Grund nicht heiraten konnte.
Diese Liebe muß ihm viel zu schaffen gemacht haben;
denn er war immer sehr traurig, wenn er sich in
Erinnerungen an sie verlor. Das ist alles, Harro.«
Nachdem sie geendet hatte, blieb es einige Herzschläge
lang still. Dann sagte der Gatte rauh und gepreßt:
»Weißt du denn auch, wer diese Frau war, Raute?«
Seltsam berührt sah sie ihm in das blasse Gesicht,
schüttelte ratlos den Kopf.
»Nein, Harro, den Namen hat mein Vater mir nicht
genannt.«
»Es war meine Mutter, Raute.«
Sie erblaßte bis in die Lippen. Ihr verstörter Blick ging zu
Gräfin Liane hin, die ihr beruhigend zulächelte.
»Nicht mich, mein Kind, sondern Harros leibliche Mutter
hat dein Vater geliebt.«
Rotraut hatte das Gefühl, als presse ihr eine harte Faust das
Herz zusammen. Glitzernd sprangen ihr die Tränen von
den Wimpern. Es war ihr nicht möglich, an ihrem Platz zu
bleiben. Hastig stand sie auf.
»Verzeihung – ihr müßt verstehen – begreifen – es kam so
plötzlich.«
Wie gehetzt eilte sie davon. Weiter, immer weiter, bis sie
am Stall haltmachte. Dahinstürmen durch den
frühlingsduftenden Wald – dabei die Gedanken ordnen,
die hinter der Stirn flatterten wie aufgescheuchte Vögel –
das war im Augenblick ihr sehnlichster Wunsch.
Harro Regglin stand am Fenster und starrte auf den Hof
hinunter. In seinem Gesicht zuckte es von verhaltenem
Schmerz. Er merkte wohl, daß die Mutter zu ihm trat,
rührte sich jedoch nicht. Sie sahen beide, daß unten der
Gutsverwalter Rotraut in den Sattel half. Er strahlte dabei
über das ganze Gesicht.
Und nun sprach Harro – es klang so unendlich bitter, daß
sich das Herz der Mutter zusammenzog.
»Sogar unseren borstigen Alten hat sie ganz und gar betört.
Schau nur, wie verliebt er sie betrachtet und wie süß sie ihn
anlächelt. Ich werde nicht klug aus dieser Frau; sie gibt mir
Rätsel über Rätsel auf. Eben tat sie zutiefst erschüttert – und
jetzt scherzt sie herum, als wäre nichts geschehen. Oft
denke ich, daß nichts Wertvolles in ihr steckt. Dann wieder
vermute ich bei ihr unerschöpflichen Herzensreichtum. So
zugänglich und aufgeschlossen sie jetzt auch scheint –
wenn man sie richtig fassen will, dann entwindet sie sich
mit dem verflixten Nixenlächeln, das einen rasend machen
kann. Sie nimmt alles, was ihr anvertraut ist, in die Hände
wie ein verspieltes Kind. Gewinnt die Menschen mit ihrer
unwiderstehlichen Art, und wenn sie sie hat, wohin sie sie
haben will, wendet sie sich süßlächelnd ab, diese Circe.
Heidi zum Beispiel war für Raute ein verlockendes
Spielzeug, mit dem sich abzugeben es sich schon lohnte. Es
wurde umgeformt, verfeinert, verschönert – und dann
überdrüssig in die Ecke getan. Nicht offensichtlich,
bewahre! Aber die arme Heidi spürt es schon. Und ich? Na,
schweigen wir darüber. Mit dieser Ehe auf Abbruch habe
ich mich verrechnet wie niemals zuvor. Zuerst stand ich
dieser Heirat durchaus ablehnend gegenüber. Doch als ich
das Fräulein Bracht sah, das mir aufgedrängt werden sollte,
begann mich die Sache zu reizen. Da wollte ich mit ihr
spielen – und jetzt spielt sie mit mir. Nun, das geschieht
mir recht. Warum war ich auch so leichtsinnig, das
Schicksal herauszufordern? Jetzt hat es mir gezeigt, wie es
ist, wenn man sich mit den eigenen Waffen schlägt.«
In banger Sorge war die Mutter seinen verbitterten Worten
gefolgt. Das hatte sie denn doch nicht erwartet. Ihren sonst
so nüchtern denkenden Jungen, der über die Liebe so oft
gespottet, hatte die Leidenschaft gepackt in ihrer ganzen
Stärke. Das war das Schlimmste, das ihm in dieser Ehe
passieren konnte. Denn auf Gegenliebe hatte er bei seiner
Frau bestimmt nicht zu rechnen.
Erbarmend umfaßte sie sein blasses Gesicht mit den
Händen, dabei liefen ihr die hellen Tränen über die
Wangen.
»Mein geliebter Junge«, sagte sie mit schwankender
Stimme. »Das hätte nicht kommen dürfen – das nicht!«
»Ich bin ein Esel«, entgegnete er, nun schon wieder
gelassen. »Wie konnte ich nur so schwatzhaft werden und
dir dein Herz beschweren. Man macht doch manchmal
Dummheiten, über die man sich hinterher ohrfeigen
könnte. Du kennst doch deinen Jungen, kleine Mama. Der
läßt sich nicht so leicht unterkriegen – schon gar nicht von
der vielgepriesenen Liebe. Schließlich bin ich doch ein
Mann, kein sentimentales kleines Mädchen.«
»Und doch ist mir so bang, mein Junge.«
»Das wäre gelacht. Komm, küssen wir die dummen Tränen
fort. So. Nun wird nicht mehr geweint, hörst du?«
»Nein, ich bin ja schon vernünftig«, sie lächelte ihm zu,
und er atmete erleichtert auf.
»Bist doch die Beste von allen, mein treuester und
zuverlässigster Kamerad. Leider muß ich jetzt gehen, und
wenn ich wiederkomme, dann sind wir wieder frohgemut.«
Er nickte ihr herzlich zu und verließ das Zimmer. Die
Mutter gab sich ihren trüben Gedanken hin, in die sich
immer wieder ein zaghaftes ›Vielleicht‹? schob.
Währenddessen ritt Rotraut dahin. Die erhabene Ruhe des
Waldes legte sich allmählich wie Balsam auf Herz und
Gemüt. Plötzlich hatte sie Sehnsucht nach Tante Herma –
nach der Schwester der Frau, die ihr Vater geliebt hatte.
Deshalb also war sie ihr gleich so vertraut gewesen.
Vielleicht konnte die Gräfin ihr manches sagen, wonach sie
den Gatten oder seine Mutter nicht fragen mochte.
Sie ermunterte das Pferd zur schnelleren Gangart und ritt
nach Hermeshöh, wo sie jedoch nur Eberhard antraf, der
sie freudig begrüßte.
»Lieb von dir, Rautendelein, mir Gesellschaft leisten zu
wollen.«
»Bist du denn allein zu Hause?«
»Ja. Mutter ist in der Stadt, und die kleine Heidi ist
ausnahmsweise in Laubern. Auf strikten Befehl des Vaters
mußte sie hin, um bei den Vorbereitungen zu seiner
Geburtstagsfeier zu helfen. Die soll groß begangen werden,
weil es Illsunds sechzigster Geburtstag ist. Komm nur
weiter, damit ich dir eine Erfrischung anbieten kann.«
Sie nahmen in dem kleinen Gemach Platz, in dem die
Familie mit Vorliebe weilte. Das heißt, nur Rotraut setzte
sich; denn Eberhard war noch beschäftigt. Er holte Wein
herbei, Zigaretten, Konfitüren, so daß Raute lachend
Einhalt gebot.
»Nun komm schon und setze dich, du eifriger Hausherr.
Erzähle mir lieber etwas Nettes.«
»Dann sage ich zuerst: Prosit.« Er ließ sein Glas an das ihre
klingen. »Wie geht es zu Hause?«
»Danke, wie üblich. Aber da ich dich einmal so ganz für
mich allein habe, möchte ich eine Gewissensfrage an dich
stellen. Gedenkst du Iris zu heiraten?«
Er hustete, weil er sich vor Schreck am Wein verschluckt
hatte. Nun stellte er das Glas auf den Tisch und sah Raute
verdutzt an.
»Das muß man sagen, Rautendelein, fackeln tust du nicht
lange. Wie du gefragt hast, das nennt man nämlich mit der
Tür ins Haus fallen. Aber um auf deine Frage
zurückzukommen – ich möchte sie mit einer Gegenfrage
beantworten. Für wie geschmacklos hältst du mich
eigentlich?«
»Ja, mein lieber Eberhard, so wie du der Komteß den Hof
gemacht hast, muß man schon solche Schlüsse ziehen.«
»Verflixt, da habe ich mich ja ganz gehörig in die Nesseln
gesetzt!« Er biß sich auf die Lippen. »Was macht man da
nun, Raute?«
»Du sprichst in Rätseln, mein Sohn.«
»Hast recht.« Er lachte verlegen. »Sieh mal, das ist so: ich
wollte mit dem Flirten eine andere herausfordern.«
»Aha, jetzt kommt langsam Licht in das Dunkel.«
»Sei doch nicht so eklig, Raute. Deiner Miene sehe ich doch
an, daß du bereits im Bilde bist. Du glaubst gar nicht, wie
entsetzlich dämlich ich mir vorkomme.«
»O doch«, lachte sie hellauf. »Friß mich nur nicht gleich.
Fasse dich nur lieber an die Stirn, ob dir da nicht am Ende
schon…«
»Raute, du hast manchmal eine verflixt spitze Zunge. Wenn
du mich so verspottest, sage ich kein Wort mehr.«
»Na schön, dann werde ich reden. Anständig war es nun
wirklich nicht von dir, ein solches Spiel zu treiben. Iris hast
du Hoffnungen gemacht und diese Hoffnungen damit der
kleinen Heidi genommen.«
Zuerst starrte er sie fassungslos an, doch dann meinte er
anerkennend:
»Bist doch ein kluges Frauenzimmerchen, Rautendelein.
Hut ab vor dir! Doch kannst du mir vielleicht einen Rat
geben, was ich nun machen soll? Schau mal, ich bin sonst
gewiß nicht zaghaft, aber bei der abweisenden Art der
kleinen Heidi fürchtete ich doch, mir einen Riesenkorb zu
holen.«
»Den du auch verdient hättest, du abscheulicher Mensch.
Zur Strafe müßtest du eigentlich an deinem Flirt
hängenbleiben, aber da ich Barmherzigkeit üben will, rate
ich dir, Heidi ganz einfach in die Arme zu nehmen.«
»Würde sie sich das gefallen lassen?« fragte er atemlos.
»Versuche es nur.«
»Raute!« schrie er auf, daß sie erschrocken
zusammenzuckte. »Komm, ich muß dir einen Kuß geben,
du kleiner getreuer Kamerad. So – das hat gutgetan. Schon
ein Vorgeschmack. Wie spät haben wir es? Nach elf Uhr.
Wenn ich mich beeile – also, Rautendelein, ich muß dich
leider hinauswerfen.«
»Ich gehe ja schon von selber, du verdrehter Kerl«, lachte
sie amüsiert.
Fort war sie und er auch. Als er gerade im Ankleidezimmer
den Zylinder probierte, trat unerwartet seine Mutter ein,
der vor Verblüffung der Mund offenstehen blieb.
»Na, nun schlägt’s dreizehn. Wo willst du denn hin, mein
Sohn?«
»Auf die Freite, verehrte Mutti.«
»Hm – darf man erfahren, wohin?«
»Nach Lauben.«
»Soso. Weißt du, so etwas künstlich Platinblondes dürfte
nicht ganz nach meinem Geschmack sein, mein Sohn.«
»Nach meinem auch nicht. Ich schwärme nicht für
angekränkelte Treibhauspflänzchen, Heideröslein sind mir
lieber.«
»Dein Glück!« Sie atmete auf, und er lachte.
»Ich hörte ordentlich den berühmten Stein von deinem
Herzen fallen, Mutti. Gib deinem Sohn den Segen und laß
ihn ziehen.«
»Verrückter Bengel.« Sie lachte gerührt. »Wann ist dir denn
die Erleuchtung gekommen?«
»Vor einer halben Stunde. Und zwar hat unser
Rautendelein, das zu eben dieser Zeit hier war, mir
nachdrücklich dazu verholfen.«
»Sieh mal an, die Raute. Na ja, die ist gewiß nicht auf den
Kopf gefallen. Nun geh mit Gott, mein langer Schlingel.
Und bring mir das Kind gleich mit; denn es würde in
seinem trauten Vaterhaus nichts zu lachen haben.«
In Laubern empfing der Hausherr den Freiersmann, dessen
Besuch nach seiner Ansicht schon längst fällig war, ohne
jede Überraschung. Die Bewerbung um die Tochter des
Hauses wurde ihm daher leicht gemacht.
»Ja, mein lieber Freund, daß Sie mir als Sohn herzlich
willkommen sind, brauche ich ja nicht erst zu beteuern«,
schmunzelte der alte Herr. »Wir kennen uns genügend, um
zu wissen, woran wir sind. Da werden Sie auch im Bilde
sein, daß ich meiner Tochter nichts mitgeben kann. Doch
sonst besitzt sie Eigenschaften, die einen Mann beglücken
müssen. Sie ist mir so fest ans Herz gewachsen, daß es mir
schwerfällt, sie aus dem Haus zu geben. Aber Ihnen
vertraue ich meinen Liebling gern an.«
Eberhard hatte Mühe, ein Lachen zu unterdrücken. Nun,
wenn der ein wenig schwerhörige Vater den Vornamen der
Tochter, um die er sich bewarb, nicht verstanden hatte, ihm
sollte es schon recht sein. Der Reinfall, den der eitle Mann
bald erleben würde, war ihm zu gönnen; denn er hatte ihn
wirklich verdient.
Wohlgefällig hörte Illsund dann, was Eberhard ihm
klarlegte. Die Halldungen standen ja also noch glänzender
da, als er angenommen hatte. Da brauchte man dem
Harro, diesem arroganten Bengel, nicht nachzutrauern.
Ordentlich jovial sagte er:
»Dann wären wir wohl einig, mein lieber Eberhard. Ich
werde meine Tochter sofort rufen.«
»Hoffentlich kommt es unserer kleinen Heidi nicht zu
überraschend.« Der Freier betonte laut und nachdrücklich
den Vornamen der Komteß. Und nun wurde er verstanden.
Das Gesicht des Hausherrn rötete sich, die Hand hob sich,
als müsse sie im nächsten Augenblick auf den Tisch
schlagen. Doch Illsund besann sich noch rechtzeitig und
Heß es bleiben, den wilden Mann zu spielen. Das fehlte
gerade noch, dem scheinheiligen Bengel seine Empörung
zu zeigen. So klang es denn auch einigermaßen freundlich,
als er sagte:
»Nun, so ahnungslos wird die Kleine ja nicht sein. Ich
werde sie sofort verständigen.«
Er ging und Eberhard konnte an sich selber feststellen, daß
Schadenfreude nun einmal die reinste Freude ist.
Sein Erscheinen war von den anderen im Hause nicht
unbemerkt geblieben. Warum er gekommen war, ließ sich
anhand seines feierlichen Anzugs leicht erklären. Iris wurde
von einem Gefühl beherrscht, das schon an Größenwahn
grenzte. Er kam zwar noch ein wenig früh, der gute Junge,
aber wer weiß, wozu das gut war. Mit Harro schien die
Sache sich doch länger hinzuziehen. Na, abwarten. Eine
Verlobung konnte man ja immer noch aufheben.
»Siehst du, jetzt wirst du eine Tochter los«, meinte sie
gönnerhaft zu der unscheinbaren Mutter, mit der sie
zusammensaß. »Nun müßt ihr nur noch zusehen, daß auch
Heidi einen Mann bekommt.«
Der Hieb galt der Schwester, die sich im Zimmer befand
und nun den Kopf tief über ihre Stickarbeit senkte. Die
zitternde Hand konnte die Nadel kaum halten, die
tränenumflorten Augen das Muster nicht erkennen. Sie
hätte laut aufschreien mögen, so weh tat ihr das Herz. Nun
also war der Augenblick da, vor dem sie sich unsagbar
gefürchtet hatte. Wenn Iris doch mit ihrem prahlerischen
Gerede aufhören wollte, bei dem jeder Satz begann: »Wenn
ich erst Gräfin Halldungen bin…«
Als Iris dann endlich verschwand, um sich »schön« zu
machen, wie sie mit einem niederträchtigen Seitenblick auf
die Schwester betonte, schwelgte die Mutter weiter in
Zukunftsplänen. Endlich würde nun auch für sie ein
besseres Leben kommen, und das hatte sie dann ihrer Iris
zu verdanken. Man sagt zwar, daß Mutteraugen scharf
sehen, aber Frau Illsund bildete wohl eine Ausnahme.
Denn sie sah nicht die Not ihres Kindes, das unweit von ihr
saß. Allerdings war die schüchterne Frau so sehr die Sklavin
ihres Mannes, daß sie nur mit seinen Augen sah, mit
seinem Herzen fühlte.
Sie hatte niemals ihre eigene Meinung und durfte sie auch
nicht haben unter der Fuchtel des herrischen Gatten.
Dann trat Iris wieder ein – aufgeputzt, als ginge es zum
Ball. Heidi merkte wohl, daß sie sie ausstechen wollte, aber
das war ihr gleichgültig. Sie kleidete sich nach Rotrauts
Vorbild, und dabei hatte sie noch keinen Fehlgriff gemacht.
Denn die junge Regglinsgrunder Gräfin war ja für ihre
vornehme Eleganz allgemein bekannt.
»Wo der Vater nur blieb?« Iris wurde ungeduldig. »Soviel
gibt es doch gar nicht zu besprechen. Die glänzenden
Verhältnisse in Hermeshöh sind uns ja bekannt. Und wenn
ich erst Gräfin Halldungen bin…«
Endlich erschien der Vater. Iris lief ihm entgegen, doch er
schob sie zur Seite.
»Du nicht, mein Kind.« Er lachte grimmig auf. »Mit dir hat
dieser niederträchtige Bursche nur geflirtet – aber zur Frau
begehrt er deine Schwester Adelheid.«
Erst schnappte Iris einige Male nach Luft, dann lachte sie
überlaut.
»Das Gänschen? Da kennst du den Grafen Halldungen
schlecht! Du hast dich bestimmt verhört, Papa.«
Ehe er sie zurückhalten konnte, war sie schon
hinausgelaufen. Gleich darauf stand sie vor Eberhard, in
dessen Augen es spöttisch aufblitzte. In diesem Moment
glich er mehr denn je seinem Vetter Harro.
»Wie nett Komteß, daß Sie mir Gesellschaft leisten wollen,
bis unser Heideröslein erscheint«, sagte er harmlos. Der
Hieb saß – und er freute sich darüber. Das war eine kleine
Rache für die Unbill, die seinem geliebten Mädchen durch
diese boshafte Schwester widerfahren war.
Krach! Die Tür flog hinter Iris zu. Wie eine Furie stürmte
sie ins Zimmer, wo Eltern und Schwester ihrer harrten.
»Geh!« schrie sie wütend. »Er will tatsächlich dich, du
intrigante Person!«
Wie schuldbeladen schlich Adelheid davon, als ginge sie
einen unrechten Weg. Als sie vor dem Grafen stand, wagte
sie ihn nicht anzusehen. Sie wußte nicht, wie entzückend
sie in ihrer Zaghaftigkeit wirkte. Dem Mann wurde das
Herz weit.
»Heidi, mein Heideröslein«, sprach er verhalten. »Ich
möchte eines nur wissen: Hast du mich lieb?«
Keine Antwort, nur ein schluchzender Laut – und schon
fühlte er ihre zitternden Hände an seinem Nacken. Fest
umschloß er den bebenden Körper, wobei ein Glücksgefühl
ohnegleichen ihn durchflutete. Zaghaft hob sich das
Gesichtchen, die Augen sahen flehend zu ihm auf.
»Nimm mich mit, Eberhard, bitte! Ich fürchte mich hier –
so allein.«
»Die müssen es ja arg genug getrieben haben.« Ihm stieg
die Zornesröte ins Gesicht. »Geh, mein armes Liebstes, hol
deinen Mantel. Ich warte hier auf dich.«
Heidi eilte zu den Eltern zurück, um ihnen Bescheid zu
geben. Doch kaum daß sie das Zimmer betrat, schrie der
Vater sie an:
»Schämst du dich denn gar nicht, Adelheid! Steh nur noch
da, als ob du kein Wässerchen trüben könntest!«
»Was habe ich denn getan, Papa?«
»Das fragst du noch, du scheinheiliges Ding! Eben hat Iris
mir erzählt, daß du sie bei Halldungen verleumdet und
dich selbst ihm an den Hals geworfen hast!«
»Laß das jetzt Papa«, fuhr Iris dazwischen. »Es hat ja doch
keinen Zweck mehr.«
»Nein, es hat wirklich keinen Zweck, daß Sie so erbärmlich
weiterlügen!« ließ eine zornige Männerstimme sich
vernehmen. Alle zuckten zusammen. Auf der Schwelle
stand Eberhard, die Augen wetterleuchteten in dem
zorngeröteten Gesicht. »Meine Braut ist viel zu anständig,
um sich einem Mann an den Hals zu werfen. Wer eine
solche Niedertracht wie Sie auf dem Gewissen hat, der
sollte sich hüten, unschuldige Menschen zu beleidigen.«
»Herr, ich verbitte mir…!« tobte Illsund los, doch
Halldungen schnitt ihm herrisch das Wort ab.
»Sehen Sie sich Ihren Liebling nur an. Wenn er noch alle
Sinne beisammen hat, dann sollte es mich wundern.«
Tatsächlich machte Iris jetzt den Eindruck einer Irren. Die
Augen flackerten. Das Gesicht verzerrte sich. Aber was sie
nun sprach, klang durchaus nicht wirr, sondern haßerfüllt.
»Warum sollen meine Eltern nicht wissen, daß ich ein
wenig Vorsehung spielte, als euer schönes Rautendelein in
den Waldsee stürzte?«
»Iris!!!«
Die Mutter war einer Ohnmacht nahe, und der Vater wurde
leichenblaß.
»Mädchen, du bist ja nicht bei Sinnen. Laß dir doch nichts
einreden von dem Menschen da…«
»Halt!« fuhr Eberhard drohend auf. »Hüten Sie Ihre Zunge,
Herr Graf. Ich hätte nicht über das gesprochen, was außer
mir nur noch Heidi, meine Mutter und die drei Regglins
wissen. Aber die Art, wie Sie meine Braut vorhin
behandelten, forderte mich heraus. Denn die Affenliebe,
die Sie für die eine, und die Schmähungen, die Sie für die
andere Tochter haben, schreit ja wirklich schon zum
Himmel! Adelheid steht jetzt unter meinem Schutz! Und
wehe, wenn die böse Zunge ihrer Schwester sie noch
einmal kränkt! So, das wäre nun klargestellt«, sprach er
ruhig weiter. »Es bleibt Ihnen überlassen, ob Sie heute
nachmittag in Hermeshöh erscheinen wollen, wo eine
kleine Verlobungsfeier stattfinden wird. Meine Braut
nehme ich gleich mit, weil sie hier sonst schutzlos Ihrer
Willkür ausgesetzt wäre.«
Ohne weiter auf das verstörte Ehepaar zu achten, zog er
Heidi mit sich fort. Als sie im Auto saßen, schmiegte sie
sich an ihn und weinte bitterlich.
»Aber, mein Röslein, Tränen am Verlobungstag?« fragte er
mit zärtlichem Vorwurf. »Sei mir nicht böse, daß ich mit
deinem Vater so hart verfuhr. Aber als ich brüllen hörte, da
hielt ich es für ratsam, dir zur Hilfe zu eilen. Es schadet
ihm gar nichts, wenn er über seinen Herzensliebling
einmal aufgeklärt wird. Diese Affenliebe muß endlich ein
Ende nehmen.«
Rotraut legte den Telefonhörer auf die Gabel und trat
lächelnd zu dem Gatten und seiner Mutter, die im
Wohnzimmer saßen.
»Eberhard hat sich verlobt.«
Diese Neuigkeit rief nicht die Freude hervor, wie es bei
Verlobungen üblich zu sein pflegt. Harro murmelte etwas,
das ganz danach klang wie: »Die Dummen werden nicht
alle.« Und Gräfin Liane meinte bekümmert:
»Armer Junge, ich hätte ihm eine andere Frau gewünscht.«
»Warum denn?« tat Rotraut harmlos. »Heidi ist doch wohl
ein liebenswertes Menschenkind.«
Nun horchten Mutter und Sohn auf.
»Heidi?« fragte Harro, als habe er sich verhört.
»Ganz recht – Heidi.«
»Das ändert allerdings die Sache erheblich. Du strahlst ja
über das ganze Gesicht, Muttchen.«
»Dazu habe ich auch allen Grund. Kinder, was bin ich
froh! Da hat der Schlingel uns ja gut an der Nase
herumgeführt. Wann wird die Verlobung gefeiert?«
»Heute, man erwartet uns dazu in einer Stunde.«
Das war in Hermeshöh ein frohes Begrüßen! Heidi, die vor
Glück nur so strahlte, sagte lachend:
»Eberhard hat mir erzählt, wie energisch du ihn auf die
Freite geschickt hast, Raute. Laß dir danken, du Gute.«
Stürmisch wurde sie umarmt und dann leise gefragt:
»Bist du mir jetzt wieder ganz gut, Rautendelein?«
»Heidi, ich bitte dich, das war ich doch immer. Du bist mir
die liebste Freundin, genügt dir das?«
»Jetzt ja.«
Später erschienen die Eltern und die Schwester der Braut.
Die Mutter war scheu und bedrückt, der Vater irgendwie
verbittert. Nur Iris tat sich hervor wie gewöhnlich. Doch
niemand beachtete sie. Aber den Brauteltern machte man
es leicht, sich in dem fröhlichen Kreis zurechtzufinden.
Heidi war recht lieb zu ihnen, und Eberhard tat, als wäre
die Auseinandersetzung am Vormittag nicht gewesen.
Nach dem Kaffee gruppierte man sich zwanglos.
Rotraut saß mit dem Brautpaar vergnügt plaudernd in einer
Sesselecke. Als Harro einmal vorüberging, hielt Eberhard
ihn am Rock fest.
»Komm, teurer Vetter, leiste uns Gesellschaft.«
»Habe kein Verlangen danach. So ein verliebtes Brautpaar
wirkt auf vernünftige Leute immer ein wenig lächerlich.«
»Na warte!« Eberhard drohte ihm entrüstet. »Das reibe ich
dir schon noch einmal unter die Nase. Nun komm, sei kein
Spielverderber, du unverbesserlicher Spötter.«
Also nahm Harro Platz. Schweigend hörte er auf das frohe
Geplauder. Sein Sessel stand dem Rotrauts so nahe, daß ihr
Haar sein Gesicht streifte, wenn sie sich zurückbog. Und
wenn sie den Kopf wandte, sah sie ihm gerade in die Augen
hinein, in denen ein Ausdruck lag, den sie nicht zu deuten
wußte. Jedenfalls beunruhigte er sie, und daher war sie
froh, als Heidi sie um ein Lied bat.
»Gern, Heidi. Doch was soll ich singen? Etwa das vom Kuß
der Rose? Aber jetzt brauchst du ja nicht mehr lieblose zu
sterben.«
»Na, du hast bei deinem Eheliebsten das Spotten ja schon
ganz nett gelernt«, lachte Eberhard. »Ärgere mir meine
Braut nicht, dann kann ich nämlich zum brüllenden
Löwen werden. Wie ist es, darf auch ich mir ein Lied
wünschen?«
»Dir als Bräutigam steht das gleiche Recht zu.«
»Dann dieses hier.«
Er sang einige Takte des gewünschten Liedes so falsch, daß
Rotraut sich vor Lachen ausschütten wollte.
»O Eberhard, du singst so schön«, trällerte sie übermütig.
»Wer singt, darf in den Himmel seh’n. Du wirst mit deinem
Singen zum Paradies dringen.«
»So ein Balg!« Er schüttelte bekümmert den Kopf. »Nun
geh schon.«
Als sie am Flügel Platz nahm, fiel Iris plötzlich in
Ohnmacht. Das gab nun das übliche Erschrockensein –
hauptsächlich bei den Eltern, die mit der Tochter nach
Hause fuhren, sobald sie sich erholt hatte. Und das geschah
sonderbarerweise erstaunlich schnell. Kaum daß sie fort
waren, legte der empörte Eberhard los:
»Sogar die Verlobung muß einem diese angetuschte Katze
stören!«
»Eberhard, benimm dich!«
»Ist doch wahr, Muttchen«, brummte er. »Weil es ihr nicht
gelang, die Hauptperson zu sein, mußte sie wenigstens eine
Ohnmacht fingieren. Oder glaubt ihr etwa daran?«
Nein, das taten sie alle nicht. Es war bei Iris mehr eine
ohnmächtige Wut gewesen, daß man Rotraut und nicht sie
aufgefordert hatte zu singen. Um das zu verhindern und
außerdem noch aus dem Kreis zu kommen, in dem es ihr
nicht behagte, inszenierte sie eine Ohnmacht.
Ȇbrigens habe ich euch noch nicht die Begebenheit des
Vormittags erzählt«, sprach Eberhard weiter. »Du gestattest
doch, Heidi?«
»Bitte sehr. Vor den Regglins brauchen wir bestimmt keine
Geheimnisse zuhaben.«
Nachdem er geendet hatte, fragte Rotraut unangenehm
berührt:
»Ja, woher wißt ihr denn das vom Waldsee?«
»Aus deinen Fieberphantasien«, entgegnete Tante Herma
trocken. »Und nun genug der unangenehmen Gespräche,
die bei einer Verlobungsfeier gewiß nicht am Platze sind.
Raute wird jetzt singen, und wir werden dabei bestimmt
nicht in Ohnmacht fallen.«
»Na, wer weiß«, lachte diese. »Wenn es mit meinem Gesang
nicht mehr zum Aushalten ist…«
Als sie zum Flügel schritt, trat erwartungsvolle Stille ein, die
Eberhard noch einmal unterbrach.
»Ich werde dir die Noten geben, Rotraut.«
»Danke, es geht ohne.«
Nach dem Vorspiel setzte dann die Stimme ein.
Glockenklar und ungemein süß schmeichelte sie sich in die
Herzen der Zuhörer.
»Wach’ auf, du goldnes Morgenrot, und grüße meine Braut,
daß sie des Himmels Seligkeit in Rosenwölkchen schaut.
Ihr Frühlingsrosen, geht zu ihr, ihr Engelsköpfchen, fliegt,
daß ihr die Welt, wenn sie erwacht, in Rosenschimmer
liegt.
Auch du, mein Herz, flieg hin zu ihr, sag’ ihr in diesem
Lied, wie all mein Glück an diesem Tag in Rosen
aufgeblüht.«
Hauchhaft zart verklang der Ton. Man hatte das innige Lied
schon öfters gehört, doch so herzwarm war es noch
niemals vorgetragen worden. Gleich als Raute begann, war
der besorgte Blick Lianes zu dem Sohn hingegangen. Wie
schmerzlich mußte die zärtliche Weise sein wundes Herz
berühren.
Äußerlich war ihm nichts anzumerken, er konnte sich ja so
beherrschen, der geliebte Junge.
Ach, daß er doch an dem jungen Menschenkind etwas
auszusetzen fände, vielleicht hätte das seine Liebe
vermindert. Aber wie ein holdseliges Traumbild saß es da,
schmeichelte sich mit der lieblichen Stimme immer tiefer
in die Herzen der Menschen hinein. Armer Junge!
»Na, wenn das nicht schön war«, sagte Herma in betonter
Frische. »Eigentlich hättest du ja deiner Braut das
Ständchen bringen müssen, mein Schlingel.«
»Erbarm dich, Muttchen!« Er hob lachend die Hände. »Bei
dem rauhen Gekrächze wäre mein Heideröslein wohl bang
erzittert. Aber du kannst was, Rautendelein, das muß der
Neid dir lassen. Warum hörte ich dich heute zum ersten
Male singen?«
»Weil du mich vorher noch nicht dazu aufgefordert hast.«
Sie lächelte ihn so lieblich an, daß er warnend die Finger
hob.
»Du, laß dein Nixenlächeln, ich bin verlobt! Du könntest
die Dornen meines Rösleins zu spüren bekommen.«
Man lachte herzlich über seine komische Entrüstung, und
damit war die rührselige Stimmung überbrückt. Und daß
eine solche an diesem Tag nicht mehr aufkommen konnte,
dafür sorgten schon die Gastgeber mit ihrem köstlichen
Humor.
Sechs Wochen später fand in Hermeshöh die Hochzeit
statt, die glänzend gefeiert wurde. Man wunderte sich
zuerst, daß Iris nicht erschienen war; als man jedoch hörte,
daß die Komteß einen Nervenzusammenbruch gehabt
hätte und nun zur Erholung in einem Bad weilte, da
lächelte man verständnisvoll.
»Hm«, meinte ein Gast zu einem anderen, »bei dem, was
die Dame auf dem Kerbholz hat, dürften ihr schon die
Nerven brechen. Die Begebenheit am Waldsee kommt so
manchem nicht geheuer vor. Und dann später, nachdem
der Regglin ihr durch die Lappen gegangen, die Jagd nach
dem Halldungen, der es wagte, das Aschenputtelchen der
intriganten Prinzeß vorzuziehen – das kann einem schon
die Galle ins Blut ärgern. Der Halldungen kann lachen.
Schauen Sie sich mal die holdselige Braut an, die muß
einem Mann ja das Herz heiß machen. Die Eltern waren
rein wie mit Blindheit geschlagen, daß sie die kleine
Kanaille dem liebwerten Menschenkind vorzogen.«
Es war Vater Illsunds persönliches Pech, daß er das Urteil
über seinen bisher so vergötterten Liebling mit anhören
mußte. Vielleicht ließ ihn das ein wenig in sich gehen.
Die Feier verlief in beschwingter Fröhlichkeit, was
angesichts des glückstrahlenden Brautpaares auch nicht
anders möglich war. Viele gute Wünsche gingen mit ihm,
als es sich auf die Hochzeitsreise begab.
Drei Tage danach wurde Rotraut zweiundzwanzig Jahre alt.
Ein Maientag zog herauf, wie er köstlicher nicht zu denken
war. Früher als sonst fanden sich in Regglinsgrund Mutter
und Sohn am Frühstückstisch zusammen. Sie wollten die
Postsachen erst durchsehen, bevor das Geburtstagskind
erschien. Unter Rotrauts Post befanden sich auch drei mit
ausländischen Marken. Und solche Marke trug auch der
Brief, den Harro soeben öffnete. Während er ihn las,
wechselten auf seinem Gesicht Überraschung und
Betroffenheit, so daß die Mutter unruhig wurde. Nachdem
er den Brief gelesen hatte, reichte er ihn ihr schweigend.
Und sie vertiefte sich darein.
Harro, lieber Junge! Laß Dich ein einziges Mal so von mir
nennen. Was dem Lebenden nicht gestattet war, sei dem Toten
verziehen. Denn dieser Brief wird erst in Deine Hände
gelangen, wenn ich nicht mehr auf der Erde weile.
Daß Du keine gute Meinung von mir hast, darüber bin ich mir
klar. Man achtet einen Mann nicht, der sein Kind verkauft um
des Titels willen. Denn daß dieses das Motiv meines Willens ist,
meine Tochter mit Dir zu vereinen, mußt Du fest annehmen.
Allein, es ist ein anderer Grund, der mich so handeln läßt. Daß
ich Deine Mutter liebte, wirst Du ja bereits erfahren haben.
Und warum ich die Spielschuld Deines Vaters strich, wirst Du
Dir jetzt denken können. Sein Ehrenwort mußte ich annehmen,
wenn ich ihm die Achtung vor sich selbst nicht ganz nehmen
wollte. Daß ich nicht davon Gebrauch machen würde, war
damals mein fester Entschluß.
Aber dann wurde meine Tochter geboren, die ich von ihrem
ersten Schrei an über alles liebte. Je älter sie wurde, um so
heißer stieg das Verlangen in mir auf, daß sie einmal dem Sohn
der schmerzlich geliebten Frau angehören sollte. Ein
leichtsinniges Spiel mit dem Schicksal, ich gebe es zu, aber
vielleicht ist es barmherzig und läßt es zum Segen werden – für
Dich und für mein Kind.
Du bist mir kein Fremder, mein Junge. Ich habe Deinen
Werdegang verfolgt und Dich auch öfter heimlich gesehen. Wo,
das spielt hier keine Rolle. Ich kenne Deinen ehrenwerten
Charakter und weiß, daß meine herzliebste kleine Raute bei Dir
gut aufgehoben sein wird.
Und nun zu ihr. Sie wird es nicht begreifen, daß ihr Paps dazu
fähig sein konnte, ein so ungeheuerliches Ansinnen an sie zu
stellen. Sie wird sich gedemütigt, in ihrem Stolz verletzt fühlen –
und sie wird sich Dir gegenüber hinter diesem Stolz
verschanzen, meine süße, törichte Kleine. Das Jahr, das ich für
Eure Ehe zur Bedingung stelle und das Ihr nach Erhalt der
Briefe – Raute wird zu gleicher Zeit einer zugestellt – bald
hinter Euch habt, wird gewiß kein leichtes für Euch gewesen
sein. Ihr werdet Stolz gegen Stolz setzen, der entweder siegen
oder – brechen wird. Ist ersteres bei Raute der Fall, dann halte
sie nicht, mein geliebter Junge. Das gäbe für Euch beide kein
Glück. Liebt sie Dich jedoch und liebst Du sie, was ich aus
tiefstem Herzensgrund hoffe und wünsche – dann alles Glück
der Erde Euch, geliebte Kinder.
Albrecht Bracht
.
»Harro, wie sehr haben wir dem Mann unrecht getan«,
sagte Liane verstört, als sie den Brief sinken ließ. »Jetzt
kann ich Rotraut erst so richtig verstehen.«
In diesem Moment trat die junge Gräfin ein. Schön wie der
Maientag, der draußen lachte. Als sie sich zum Morgengruß
über Lianes Hand neigte, küßte die Mutter sie auf die
blütenzarte Wange.
»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, mein liebes
Kind«, sagte sie bewegt. »Möge Gott Glück geben, dir und
auch uns.«
»Du weißt?« fragte Raute überrascht. Ganz unbewußt hatte
sich das Du über ihre Lippen gedrängt, was Liane beglückt
empfand. Dann trat Harro hinzu.
»Nimm auch meinen herzlichen Glückwunsch entgegen.«
Er beugte sich über ihre Hand. Seine Worte klangen kühl
und legten sich wie Rauhreif auf ihre Freude. Doch
gewohnt, sich zu beherrschen, blieb sie äußerlich froh und
nahm die Geschenke entgegen wie ein glückliches Kind.
Nach dem Frühstück griff sie zu den Briefen, die neben
ihrem Teller lagen, und sah sie durch. Bei dem einen
erblaßte sie, legte ihn rasch zu den anderen und begann ein
nichtssagendes Gespräch. Sie empfand es als eine Wohltat
ohnegleichen, als der Diener erschien und meldete, daß sie
von der Gräfin Halldungen am Fernsprecher gewünscht
würde. Hastig raffte sie die Briefe zusammen und eilte
davon.
»Sie hat kein Vertrauen zu uns«, sagte Liane leise, »und das
ist das allerschlimmste, mein Junge.«
Die nächsten Wochen wurden für Rotraut zur Leidenszeit.
Tagsüber war sie gezwungen, sich zu beherrschen – doch in
der Nacht kamen die peinigenden Gedanken, denen sie
schutzlos ausgeliefert war. Sie verlor darüber ihr blühendes
Aussehen, wurde müde und blaß.
Es lag überhaupt eine unbeschreibliche Atmosphäre über
dem Regglinsgrunder Schloß. So erdrückend traurig wie die
Vorwehen eines kommenden Leides, eines qualvollen
Trennungswehs.
Und dann war der Tag da, vor dem Rotraut sich unsagbar
gefürchtet hatte. Draußen regnete es, und der Wind fuhr
durch die Bäume.
Erschauernd ging es Rotraut durch den Sinn: Zum
Abschiednehmen just das rechte Wetter, grau wie der
Himmel liegt vor mir die Welt. – Dazu sang noch im
Rundfunk eine Männerstimme ein Lied, das ans Herz griff:
Nicht jeder Mund spricht die Wahrheit, nicht jedes Wort
bringt uns Klarheit, jeder Traum geht zu Ende, auch diese
Liebeslegende…
Wie ein Seufzer verklang der letzte Ton. Rotraut hätte
aufschreien mögen vor Herzensnot. War das Lied nicht wie
für sie gedungen? Liebeslegende würde er bleiben, der
Traum – der jetzt endete.
Wie gut, daß Harro den Apparat ausschaltete. Aber die
bedrückende Stille, die jetzt im Raum herrschte, war kaum
weniger zu ertragen. Ihr Blick ging zu ihrem Mann und
seiner Mutter hin. Beide lasen in einem Buch. Daß sie das
jetzt konnten! Nun ja, warum nicht? In ihrem Herzen war
ja auch nicht so ein entsetzlicher Aufruhr.
Aber etwas mußte doch geschehen, der Tag begann sich
bald zu neigen. »Harro«, würgte sie endlich hervor. Er ließ
das Buch sinken und sah sie fragend an.
»Du wünschest, Rotraut?«
»Vor einem Jahr war unser Hochzeitstag.«
»Ich weiß es.«
Warum kam er ihr denn nicht zur Hilfe, warum ließ er sie
allein sprechen! Es ging ihn doch alles ebensoviel an wie
sie. Hatte sie sich noch nicht genug gedemütigt? Was
erwartete er nun noch von ihr? Wahrscheinlich das, daß sie
gehen sollte. – Er hatte jetzt ja seine Pflicht getan.
»Ich möchte noch heute Regglinsgrund verlassen.«
Hatte sie diese Worte wirklich ausgesprochen? Ihr kam die
eigene Stimme vor, als hätte sie keinen Teil daran, als
gehöre sie einer Fremden.
Nun legte er endlich das Buch aus der Hand.
Vielleicht – ach, vielleicht!
»Du mußt wissen, was du tust, Rotraut. Ich habe dich wohl
zweimal zurückgehalten, als du von mir gehen wolltest,
doch damals hatte ich ein Recht dazu, weil der Wille deines
Vaters noch nicht erfüllt war. Jetzt kommt mir das Recht
nicht mehr zu. Wenn dich nichts an Regglinsgrund bindet,
kann und will ich dich nicht halten.«
War es möglich, daß einem Menschen so grenzenlos
zumute sein konnte! Sie hatte in der letzten Zeit geglaubt,
alles an Schmerz empfunden zu haben, was ein
Menschenherz zu tragen imstande ist. Doch das, was jetzt
darin bohrte und brannte, war neu – grausam neu.
Nur jetzt noch einige Minuten durchhalten – dann war
wohl das Schlimmste vorüber!
Aber es gab doch noch ein Allerschlimmstes für sie! Es kam
mit dem Abschied. Da stand sie nun vor dem Mann, in
dessen Heim sie ein Jahr lang als Eindringling gelebt hatte.
Blaß war sein Gesicht, blaß und hart, blutrot die Narbe
darin.
Sprechen, nein, das konnte Rotraut jetzt nicht. Sie
vermochte nur ihm die Hand zu reichen, die er höflich an
die Lippen zog.
Nun noch von Gräfin Liane Abschied genommen – ganz
flüchtig, ganz schnell! Dann war wirklich alles vorüber.
Nur der heiße, qualvolle Schmerz im Herzen, der blieb.
Als wäre alle Sonne daraus gewichen, so düster erschien
fortan das Regglinsgrunde Schloß. Aus allen Ecken schien
es zu klagen – um einen Traum, der zu Ende ging, um eine
Liebeslegende.
Harro war schroff und unzugänglich in diesen Tagen, und
die Mutter weinte heimlich bittere Tränen um ihren
Jungen, der sich so verändert hatte. Um sich zu betäuben,
arbeitete er mehr denn je. Kam kaum tagsüber aus dem
Sattel und saß dann am Schreibtisch bis tief in die Nacht.
Eben betrat er das Zimmer und reichte der Mutter einen
Brief.
»Da lies – und dann sage noch, daß sie keine Circe ist.«
Hastig überflog Liane, was Rotraut schrieb. Sie bat Harro,
die Scheidung einzureichen, gab ihm jede Vollmacht.
Unter das Schreiben hatte sie ihren Mädchennamen
gesetzt.
»Junge, vielleicht versuchst du noch mal, mit ihr zu
sprechen«, begann sie zaghaft, doch er winkte kurz ab.
»Damit sie mit mir wieder spielen kann, wie?«
Er trat ans Fenster, drückte die Stirn gegen die Scheibe und
verharrte regungslos. Der Mutter zog sich vor Mitleid das
Herz zusammen.
Armer Junge, daß ihn die Liebe auch so heftig packen
mußte! Wenn sie ihm nur helfen könnte? Aber wie? Sollte
sie an Rotraut schreiben und ihr alles klarlegen? Vielleicht
kehrte sie zurück, ließ sich vielleicht aus Mitleid dazu
bewegen. Und was dann? Dann würde alles ja noch viel
schlimmer sein. Liebe verlangte Harro, um wahrhaft
glücklich sein zu können. Kein Almosen vom Mitleid
zugeworfen.
Rotraut – und immer wieder Rotraut! Um sie drehten sich
die Gedanken von Mutter und Sohn.
Und Rotraut selbst?
Die quälte sich genauso mit ihrem Herzweh. Mit
fieberhafter Ungeduld erwartete sie Harros Antwort auf
ihren Brief mit der Scheidungsvollmacht. Als er dann
endlich eintraf, starrte sie wie entgeistert auf die Anschrift.
Fräulein Rotraut Bracht – stand da in fester Schrift.
Ja, was wollte sie denn eigentlich? Hatte sie nicht ihren
Mädchennamen unter den Brief gesetzt? Lebte sie nicht
unter diesem Namen in dem Hotel? Warum weinte sie
denn, als müßte ihr das Herz in Stücke brechen?
Vielleicht – weinte das Herz mit – vielleicht hättest du doch
in Regglinsgrund bleiben sollen! Ihn bitten…
Doch da bäumte sich der Stolz auf. Ich mag keine
Almosen, ich will Liebe gegen Liebe.
Stolz und Herz standen sich gegenüber in harter Fehde.
Und Rotraut wußte zuletzt nicht mehr aus noch ein. Bis ein
Brief dem allen ein Ende machte. Ein Brief von so
schicksalsschwerer Bedeutung. Rotraut öffnete ihn mit
zitternden Händen, las:
Raute, gestern sind wir von der Hochzeitsreise zurückgekehrt.
Ich bin erschüttert über die Zustände in Regglinsgrund. Komm
zurück, Raute. Harro liebt Dich über alles und leidet
wahnsinnig um seine Liebe. Und Du liebst ihn auch, nur Dein
Stolz will das nicht zugeben. Wenn Du nicht kommst, dann hole
ich Dich.
Heidi.
Holen, o nein, holen ließ Rotraut sich nicht.
Zwei Stunden später saß sie im Auto und raste so schnell
Regglinsgrund zu, daß die neben ihr sitzende Dora ein
Vaterunser nach dem andern betete.
Weitere zwei Stunden später lief Rotraut durch das Portal,
durch die Halle, an dem erschrockenen Diener vorbei, und
landete vor den Füßen der Gräfin Liane, die in ihrem
Zimmer ein Dämmerstündchen hielt.
»Mutti, ich konnte es ja nicht mehr vor Sehnsucht
aushalten. Muttilein, da bin ich! – Oh, so ist es schön.«
Zufrieden kuschelte sie ihren Kopf in den Schoß der Frau,
der die hellen Tränen über das Gesicht liefen. Fest
umschloß sie den schlanken Körper mit beiden Armen und
fragte dann behutsam:
»Liebst du ihn, mein Kind?«
»4a, Mutti – ja! Wäre ich sonst gekommen?«
»Raute, unser Rautendelein, daß wir dich endlich wieder
bei uns haben. Kein Leben war das ohne dich, du böses,
stolzes Kind. Der Junge hat ja so sehr um seine Liebe
gelitten – klaglos, weil er es anders für einen Mann
unwürdig findet. Du wirst ihm deine Liebe schon zeigen
müssen, sonst glaubt er sie dir nicht.«
Ein fester Schritt ließ sie verstummen.
»Bist du hier, kleine Mama?« fragte Harro in die Dunkelheit
hinein.
»Ja, mein Junge.«
Licht flammte auf – und dann verharrte er wie erstarrt.
Vor ihm stand Rotraut, sah ihn flehend an. Da stieg
siedender Zorn in ihm auf. Alles, was er um diese Frau
erduldet hatte, machte sich in herrischen Worten Luft:
»Was suchst du hier? Willst du weiter mit mir spielen, du
gefährliche Circe?«
Weiter kam er nicht, weil zwei Arme ihn umfaßten, eine
weiche Wange sich an die seine schmiegte. Ein Mund
sprach dicht an seinem Ohr: »Dich suche ich hier – dich
und deine Liebe.«
»Raute, wenn du jetzt noch ein niederträchtiges Spiel mit
mir treibst…«
»Mutti, so hilf mir doch! Er will mir doch nicht glauben!«
»Dann sag’s ihm doch.«
»Ich habe Angst.«
»So ist’s richtig«, lachte die Mutter nun herzlich. »Nimm sie
schon in den Arm, Junge, du bist doch sonst nicht so
zaghaft.«
Mißtrauisch sah er in Rautes Augen, die ihn anstrahlten wie
zwei Sonnen. Wie ein Hauch drang es an sein Ohr, dieses
beseligende: »Ich habe dich lieb.«
Und schon waren die Lippen von den seinen versiegelt.
Leise schlich sich die Mutter hinaus; und als sie wiederkam,
da wurde ihr das Herz ganz weit vor glückseliger Freude.
Raute schmiegte sich an sie, sah mit dem ihr eigenen
Lächeln zu ihr auf.
»Nun, mich brauchst du ja nicht zu betören«, lachte Liane.
»Hast es ja schon zur Genüge getan. Daß ich außer meinem
Jungen jemals einen Menschen so liebhaben könnte wie
dich, das hätte ich mir auch nicht träumen lassen.«
Als sie dann nach dem Abendessen im trauten Gespräch
beisammensaßen, sagte Rotraut:
Ȇbrigens habe ich in dem Bad, in dem ich mich bisher
aufhielt, Iris Illsund mit ihrer Mutter getroffen. Die Komteß
ließ sich viel mit einem Herrn sehen, der bestimmt doppelt
so alt ist wie sie. Aber er soll sehr reich sein.«
»Hauptsache für sie«, lächelte Harro ironisch. »Die
Verlobung hat bereits stattgefunden. Ich glaube, die Eltern
sind froh, die Tochter loszuwerden. Aber es ist zweifelhaft,
ob Iris auf ihre Kosten kommen wird. Denn der Herr soll
recht zugeknöpfte Taschen haben.«
»O weh, arme Iris«, lachte Rotraut. »Nun, vielleicht sieht
alles schlimmer aus als es ist. Was reichst du mir denn da,
Harro?«
»Einen Brief, der für dich bestimmt ist.«
Nachdem sie das Schreiben ihres Vaters an Harro gelesen
hatte, traten ihr die Tränen in die Augen.
»Mein guter Paps! Trotz allem habe ich daran geglaubt, daß
er mit der mir zudiktierten Ehe mein Bestes im Auge hatte.
Das steht ja auch in dem Brief, den ich an meinem
Geburtstag erhielt. Seine ganze Liebe zu mir spricht aus
jeder Zeile. Auch wenn ich die Ehe auf Abbruch«, ein
schelmischer Seitenblick traf Harro, »nicht eingegangen
wäre, hätte ich mein Vermögen erhalten. Das mit der
sogenannten Enterbung sollte nur eine Einschüchterung
sein. Morgen könnt ihr den Brief lesen. Nicht wahr, nun
denkt ihr nicht mehr schlecht von meinem Vater?«
Die Mutter schüttelte stumm den Kopf, und Harro küßte
die flehenden Augen seines jungen Weibes.
»Ich wünschte, daß ich ihm sagen könnte, wie sehr ich ihn
verehre. Zufrieden, mein Rautendelein?«
»O ja, jetzt bin ich restlos glücklich. Ich danke dir auch,
daß du die Angelegenheit mit meinem mütterlichen Erbteil
so wunderbar geregelt hast, du liebster Mann. Da ist ja
noch viel mehr herausgekommen, als ich erwartet habe.
Der Bescheid erreichte mich vorgestern.«
Der Fernsprecher schlug an, und Harro nahm das Gespräch
entgegen.
»Nein, Heidi, heute können wir nicht kommen. Wir haben
Besuch. Wie meinst du, lieben Besuch? Gar kein Ausdruck!
Den allerliebsten der ganzen Welt. Er hat und das Glück
und die Liebe ins Haus gebracht Jawohl, recht geraten –
unser Rautendelein.«
Er reichte ihr den Hörer hin.
»Komm, mein Liebes, Heidi möchte dich begrüßen.«
»Ja, Heidilein, ich bin da. Morgen besuche ich dich.«
Dann lauschte sie angestrengt auf das, was die Stimme am
anderen Ende so leise sagte, daß sie kaum zu verstehen
war:
»Nichts von meinem Brief erwähnen, Raute, hörst du?
Harro soll des Glaubens sein, daß du freiwillig zu ihm
zurückgekehrt bist. Dann erst ist sein Glück vollkommen.«
Aufatmend legte Rotraut den Hörer auf die Gabel und
schmiegte sich an den Gatten, der neckend fragte:
»Was wurde dir da für ein Geheimnis zugeflüstert, meine
liebste Frau?«
»Das Geheimnis der Liebe«, entgegnete sie leise. »Denn
Heidi liebt ihren Eberhard genauso wie ich meinen Harro.«
Behutsam legte er seine Lippen auf die ihren, als ob er
etwas Heiliges berührte. Dann flüsterte er ihr etwas ins
Ohr, worauf sie lachend erwiderte:
»Nun, deine Braut bin ich ja nun gerade nicht, aber das
Lied sollst du hören.«
Dann saß sie am Flügel, und jubelnd klang es durch das
Gemach:
»Wach auf, du goldnes Morgenrot, und grüße meine
Braut…«
Er stand neben ihr, hatte die Wange an die ihre gelegt und
sog die süßen, zärtlichen Töne förmlich in sich ein. Der
Mutter wurden die Augen feucht, so rührte sie das
wundervolle Bild. Herz hatte sich zu Herz gefunden, was
konnte es Schöneres im Leben geben?
Es war spät, als man sich trennte. Oben, in Rotrauts
Wohngemach, zog Harro seine Frau in die Arme.
»Hab Dank, daß du gekommen bist, du liebste Frau.
Freiwillig zu mir gekommen. Deshalb liebe ich dich um so
mehr.«
»Liebe?« In ihren Augen blitzte es schelmisch auf. »Mir ist
so, als wenn ein Graf Regglin einmal zu einem Fräulein
Bracht gesagt hätte: ›So was von Kitsch wie die Liebe!‹«
Aber schon war ihr Mund verschlossen.
-ENDE-