Behrendt, Leni Kelter Grosse Ausgabe 0395 Um das Erbe der Väter

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Um das Erbe der Väter

Roman von Leni Behrendt


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Das Theater des Provinzstädtchens war bis auf den letzten
Platz gefüllt. Über den erwartungsfrohen Menschen lag

eine fühlbare Spannung, die sich von Minute zu Minute
steigerte. Das kleine Theater hatte nämlich einen Gast,
einen prominenten Schauspieler, den die meisten Besucher
nur vom Film her kannten.
Heute waren sogar die Logen besetzt, die sonst gewöhnlich
leer blieben. Die meisten Bewohner des Städtchens hatten
nicht so viel Geld, um sich die teuren Plätze leisten zu
können. Und warum auch, man saß im Parkett ja ebenso
gut.
Der Landadel und die Industrie, die zahlreich vertreten
waren, hatten heute diese Plätze inne – obgleich der größte
Teil von ihnen nicht besser gestellt war als die anderen

Bürger der Stadt.
Eben öffnete sich wieder eine Logentür, und
Kommerzienrat Hartmann, eine der maßgebendsten
hiesigen Persönlichkeiten, nahm mit seiner Familie in den
roten Sesseln Platz.
Die eben Angekommenen wurden von den Theatergästen
mit großem Interesse gemustert. Man hatte reichlich Muße
und konnte sich über die Familie Hartmann unterhalten,
sehr diskret und unauffällig – versteht sich!
Der Kommerzienrat war erst seit ungefähr einem halben
Jahr in der Stadt ansässig. Er besaß große
Unternehmungen, deren Zweigniederlassungen über die

ganze Welt verstreut waren, und hatte bisher mit seiner
Familie bald hier, bald dort gelebt. Sein Dasein war
eigentlich eine einzige Hetze gewesen, bis sein Sohn
herangewachsen war. Nun hatte er an ihm eine
vortreffliche Stütze und konnte sich endlich mehr Ruhe
gönnen als bisher.
Der junge Doktor Hartmann zeigte für die
Unternehmungen im Auslande nicht viel Interesse, und so
war denn der Vater dabei, die kleineren Niederlassungen
aufzulösen und nur die größten bestehen zu lassen, die von
vorzüglichen Kräften geleitet wurden.

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Damit konnte er auch seinem sehnlichsten Wunsch
nachgeben und endlich, endlich irgendwo festen Fuß

fassen. Es wurde auch Zeit dafür, denn er war mittlerweile
siebzig Jahre alt geworden.
Es zog ihn in die Heimatstadt zurück, in der schon sein
Großvater und sein Vater segensreich gewirkt hatten. Ihnen
hatten hier die große Schneidemühle und die Zuckerfabrik
gehört, die auch der Kommerzienrat noch sein eigen
nannte. Außerdem war er Besitzer eines kleinen
Bankgeschäftes, das jedoch in der Hauptsache seinen
eigenen Unternehmungen zugute kam.
Der Kommerzienrat war nicht nur ein tüchtiger
Geschäftsmann, sondern er besaß auch noch eine
glückliche Hand; und so konnte man sagen, sein großes

Vermögen sei nicht bloß erworben, sondern wirklich
erarbeitet worden. Das gaben auch alle, die ihn kannten,
ohne weiteres zu. Er war ein so grundreeller Kaufmann, wie
es auch seine Väter gewesen waren.
Als Hartmann von einem in Amerika verstorbenen
Verwandten gar noch ein dort befindliches großes
Unternehmen erbte, stand er so sicher da wie nur wenige
andere Handelsherren.
Seinen einzigen Sohn hatte er ganz im Sinne der Vorfahren
erzogen und größte Sorgfalt auf dessen Ausbildung
verwandt.
Er durfte mit ihm auch in jeder Hinsicht zufrieden sein,

denn er war ihm eine sehr zuverlässige Stütze geworden.
Alle Hoffnungen, die man auf ihn setzte, hatte der Sohn
erfüllt; und so war das Verhältnis zwischen ihm und dem
Vater geradezu ideal zu nennen.
Mit Wohlgefallen ruhten die Blicke der Theaterbesucher auf
seiner hohen, schlanken Gestalt, der man ganz gewiß nicht
ihre siebzig Jahre anmerkte. Trotz seines schneeweißen
Haars wirkte er so elastisch, so jugendlich, daß mancher
Vierziger sich vor ihm hätte verstecken können. Dazu
trugen wohl die leuchtenden blauen Augen bei, die vor
Lebens- und Schaffensfreude strahlten.

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Seine Gattin war klein und fein, sanft und gütig, wurde
vom Gatten und von ihren beiden Kindern gehätschelt und

geliebt und war vor jedem rauhen Lüftchen so ängstlich
behütet worden, als sei sie eine kostbare Treibhauspflanze.
Der Sohn, Doktor Gisbert Hartmann, bot mit seiner
hohen, sportgestählten Gestalt, dem scharfgeschnittenen,
kühnen Gesicht und den leuchtenden Blauaugen, einem
Erbteil seines Vaters, einen äußerst angenehmen Anblick.
Er war überhaupt ganz und gar das verjüngte Ebenbild
seines alten Herrn und galt nicht nur als bestaussehender
Mann, sondern auch als beste Partie in weitem Umkreise.
Und nun das Nesthäkchen der Familie, die sinnverwirrend
schöne, grazile, vergötterte und verzogene Roswitha. Die
Herrenwelt riß sich um die Gunst dieses eigenwilligen

Persönchens, und nicht nur deshalb, weil sie eine reiche
Erbin war. Sie verdrehte den Herren der Schöpfung nur zu
leicht die Köpfe und lachte sie hinterher aus. Sie war ein
Sonnenkind, das in einer ganz entzückenden Weise durch
das Leben tändelte und keine Ahnung hatte, wie furchtbar
grausam es oft sein kann.
Das Töchterchen war geradezu der Abgott der Familie und
war es gar nicht anders gewohnt, als daß alles nach seinem
Willen ging. Denn nicht nur Eltern und Bruder vergötterten
das entzückende Persönchen, sondern man tat es überall,
wohin es auch kam.
Wie ein zaubersüßes Elfchen war sie anzuschauen, als sie in

ihrer taufrischen Unberührtheit und Holdseligkeit neben
dem Vater saß und ihre leuchtenden, schimmernden Augen
umherschweifen ließ. Das zarte Blau des duftigen Kleides
ließ das Antlitz lilienhaft zart erscheinen, und das lichthelle
Lockenhaar flimmerte in metallischem Glanz.
Plötzlich blieben ihre Blicke an einer Loge haften, und
unwillkürlich hob sie das Opernglas, um deutlicher sehen
zu können. Doch schon legte sich des Vaters Hand
unauffällig auf ihren Arm und drückte ihn herunter.
»Roswitha, Mädel, vergiß nicht, daß wir im Mittelpunkt des
Interesses stehen.«

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Bis zur Stirn hinauf stieg ihr ein tiefes Rot der Beschämung,
und der Vater betrachtete sein Töchterlein mit heimlichem

Entzücken.
»Du, Papi, die vier Herrschaften in der gegenüberliegenden
Loge kenne ich ja noch gar nicht?« fragte sie den Vater, der
leise und belustigt lachte.
»Papi, wer sind die Fremden?«
»Bist doch ein närrisches Mädel«, entgegnete er mit
leichtem Spott, »so sehr kann dich der Anblick dieser
Menschen erregen, du seltsames Kind? – Ein ganz
schlimmer Frauenfresser ist der Held da drüben, meine
Kleine. Das Gruseln würde dich packen, könntest du
hören, was man von diesem ›Mann ohne Herz‹ erzählt. Die
Frauen sollen ihm so wenig gelten, daß er sie nicht einmal

sieht. Wenn die da drüben eine Ahnung davon hätten, wie
sehr sie dich beeindrucken – ihre Geringschätzung würde
dich kopfscheu machen, kleine Ita; denn sie pflegen über
jedes Interesse, das man ihnen entgegenbringt, mit stolzer
Gelassenheit hinwegzusehen – der Graf Starkenborn nebst
Anhang.«
»Papi, das sind doch nicht…?«
»Ssst, Kleine, sei um Himmels willen vorsichtig, du bist
hier nicht allein!« mahnte der Vater.
Soeben ertönte wieder ein Klingelzeichen, und der
Kommerzienrat wandte sich seiner Gattin zu, die mit dem
Sohne in die Loge zurückkehrte.

Dann ging das Spiel auf der Bühne weiter; doch Roswitha
war lange nicht mehr so gefesselt wie von den beiden
vorhergehenden Akten. Immer und immer wieder ging ihr
Blick zu der gegenüberliegenden Loge hin, und sie saß so
unruhig in ihrem Sessel, daß der Vater sie ernstlich
ermahnen mußte, sich zusammenzunehmen und die
anderen nicht zu stören.
Noch nie in ihrem Leben hatte Roswitha das Ende eines
Theaterstückes mit solcher Ungeduld herbeigesehnt wie
heute. Als erste verließ sie die Loge und trat im Foyer hastig
hinter einen Pfeiler, vor dem ein alter Diener in

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unauffälliger Livree stand und Mäntel auf dem Arme trug.
Er mußte wohl der Diener des Grafen Starkenborn sein.

Und sie hatte sich nicht getäuscht, denn schon kamen die
vier hohen Gestalten auf den Diener zu, der sich tief vor
ihnen verneigte.
Unwillkürlich fuhren Roswithas Hände zum Herzen, und
sie schaute, schaute…
O dieser große blonde Mann! Er verkörperte ganz und gar
den Helden ihrer Träume, entsprach ganz und gar dem
Ideal, das in dem romantischen Köpfchen des kleinen
Persönchens spukte.
Diese edle, ritterliche Gestalt, dieses herrische Antlitz, das
wie aus bräunlichem Marmor gemeißelt zu sein schien, das
volle, strahlend-blonde Haar und die blauen, blitzenden

Augen, die wie zwei Saphire unter der markanten Stirn
lagen!
Ganz plötzlich und unerwartet tauchten diese blitzenden
Augen in die ihren, und ein mitleidiges, spöttisches
Lächeln erschien auf dem Gesicht des Grafen.
Wie hatte der Vater gesagt? – Ein Mann ohne Herz!
Roswitha wandte den Blick zur Seite, und ein wehes Gefühl
stieg in ihr auf.
Mechanisch schlüpfte sie in den kostbaren Abendmantel
und schritt dann wie eine Träumende an der Seite ihres
Vaters, der sie aufmerksam beobachtete, dahin. Nicht ein
Wort sprach sie während der Heimfahrt und eilte, als sie in

der Villa angelangt war, mit einem kurzen Gutenachtgruß
in ihre Zimmer.
Dort wartete das gute alte Fräulein Krön auf sie, das
Roswitha schon seit deren frühester Kindheit betreut hatte
und das jetzt, da es sich von seinem Abgott nicht hatte
trennen mögen, sozusagen als Kammerfrau der
eigenwilligen kleinen Prinzessin fungierte.
Krönchen merkte sofort, daß ihr Goldkind anders war als
sonst, daß es etwas erlebt haben mußte, was seine sonnige
Gleichmut aus dem Konzept gebracht hatte. Wenn das
Kind sonst von einer Veranstaltung zurückgekehrt war,

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dann hatte der rote Mund nicht stillgestanden, hatte
geplaudert und gelacht, bis Krönchen alles wußte, was ihr

kleiner Abgott erlebt hatte.
Doch heute war Roswitha still und in sich gekehrt, sprach
nicht und gab auch keine Antwort, wenn Krönchen sie
nach etwas fragte. Das verdroß das alte treue Mädchen
jedoch nicht weiter. Es wußte ja, daß sein kleiner Liebling
von selber zu sprechen und sich seinen Kummer vom
Herzen zu reden begann, wenn ›das Seelchen‹ sonst nicht
mehr aus noch ein wußte.
Krönchen kleidete die kleine Herrin mit einer
Behutsamkeit aus, als wäre sie die größte Kostbarkeit der
Welt und obendrein leicht zerbrechlich.
Eben streifte sie Roswitha das hauchdünne, spitzenbesetzte

Nachtgewand über, als diese aus ihrer tiefen Versunkenheit
auffuhr. Die Augen, diese wundersamen tiefblauen Sterne
mit dem ihnen eigenen feuchten Schimmer, hatten einen
Ausdruck, als wenn sie in das Märchenland geschaut hätten
und nun zur Wirklichkeit zurückgekehrt wären.
Sie schüttelte sich leicht und lächelte.
»Sag mal, Krönchen, gibt es wirklich eine Liebe auf den
ersten Blick?«
Krönchen mußte sich sehr zusammennehmen, um ihre
Überraschung nicht zu verraten.
»Ita, Liebling, deine Frage ist sehr sonderbar«, forschte sie
vorsichtig. Doch Roswitha hörte sie gar nicht, sondern war

wieder weltentrückt. Willenlos ließ sie sich ins Bett
bringen, sich von zärtlichen, behutsamen Händen
zudecken und erwiderte wie abwesend den Gutenachtgruß
des treuen Krönchens, als dieses zögernd das Zimmer
verließ.
Sonst hatte die gute Alte allabendlich am Bett ihres kleinen
Lieblings gesessen, bis tiefe Atemzüge verrieten, daß dieser
eingeschlafen war. Doch heute schien Roswitha kein
Verlangen nach ihrer Gesellschaft zu haben. Ihre Augen
schweiften über die bekümmerte Dienerin hinweg, als wäre
sie gar nicht vorhanden.

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So hatte das taktvolle Krönchen das Empfinden, überflüssig
zu sein, und schlich leise aus dem Zimmer; sie nahm an,

daß der Schlaf ihr Goldkind bald in die Arme nehmen
würde, um es hinüberzuführen in das Traumland.
Doch der Schlaf, der dieses sorglose, unbekümmerte
Glückskind noch nie geflohen hatte, wollte heute nicht
kommen. Als Roswitha mit all den Gedanken, die sich
hinter ihrer Stirn drängten, nicht fertig werden konnte,
erhob sie sich, warf ein leichtes Morgenkleid über und
begab sich zu ihrem Vater in dessen Arbeitszimmer.
Der Kommerzienrat war nicht wenig erstaunt, daß seine
Tochter zu so später Stunde noch zu ihm kam. Er sah es ihr
sofort an, daß sie etwas bewegte, womit sie nicht allein
zurechtkam. Liebevoll zog er sie auf seinen Schoß, und wie

ein Kätzchen schmiegte sie sich an ihn.
Dabei schoß es ihm durch den Sinn, warum sie wohl nicht
zu ihrer Mutter gehen mochte, wie es eigentlich natürlich
gewesen wäre. Die Mutter liebte dieses Sonnenkind doch
genauso innig wie er.
Aber so war es immer schon gewesen: sein Junge und sein
Mädel, beide waren sie immer zu ihm gekommen, wenn
sie etwas bedrückte. Sie gingen nur dann zu der zarten,
sanften Mutter, wenn sie Freude im Herzen trugen. Als
wäre ihre süße Mutti zu schwach, um den rauhen Stürmen
des Lebens standzuhalten.
»Nun, meine kleine Ita, wo fehlt’s?« fragte er zärtlich und

drückte ihr Köpfchen fest an seine Brust. Er spürte den
unruhigen Schlag ihres Herzens sehr wohl, bedrängte
Roswitha jedoch nicht mit Fragen, sondern wartete, bis das
Köpfchen sich hob und die Traumaugen seines Kindes mit
grenzenlosem Vertrauen in die seinen schauten.
»Papi, ich kann den Grafen Starkenborn nicht vergessen«,
sagte sie so leise, daß der Vater sie kaum verstand, sondern
ihr die Worte von den zuckenden Lippen ablesen mußte.
»Aber Ita, liebes Kind!« entgegnete er tief erschrocken, denn
er erkannte auf einmal, daß Roswithas Interesse für den
Grafen Starkenborn mehr war als eine plötzliche

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aufflammende aber ebenso schnell erlöschende
Anteilnahme.

Allerdings, der Graf war ein Mann, dessen Anblick ein
Mädchenherz schon um seine Ruhe bringen konnte.
»Sollte das etwa die Liebe sein, mein Kind«, fragte er
besorgt, »die dich bisher glücklicherweise noch verschont
hat?«
»Ich weiß es nicht, Papi. Aber mir ist so, als ob ich weinen,
immer nur weinen müßte«, kam es sehr leise von ihren
immer stärker zuckenden Lippen.
»Ita, da – das geht doch nicht«, erklärte der Vater hilflos,
»dieses Gefühl mußt du unbedingt zu beherrschen suchen,
wenn du nicht unglücklich werden willst. Denn gerade die
Starkenborn sind ein Geschlecht, das die Tradition

hochhält und ehrt als sein kostbarstes Eigentum. Nie würde
ein Starkenborn ein bürgerliches Mädchen heiraten, und
wenn sein Herz verbluten müßte. Da habe ich nun immer
geglaubt, ein noch ganz kindliches, unbekümmertes Mädel
zu haben, und muß zu meinem Schrecken sehen, daß es
sich schon ganz ernsthaft mit Herzensqualen plagt? Na,
wollen hoffen, daß dies alles nur Hirngespinste deines
romantischen Köpfchens sind«, zwang er sich zu einem
frischen Ton, obgleich ihm sehr ernst zumute war.
»Papi, gehört Königsgnade dem Grafen Starkenborn?«
»Ja.«
»Ach, Königsgnade! Mich packt immer eine ganz tolle

Sehnsucht, wenn ich es von weitem sehe«, sagte sie
verträumt. »Was gäbe ich darum, könnte ich es aus der
Nähe sehen, könnte ich nur eine einzige Stunde darin
weilen.«
»Kind, die Sehnsucht ist ja nur deshalb so groß, weil es sich
deinem Anblick entzieht, dieses märchenumwobene
Königsgnade«, lachte der Vater. Doch das Lachen war nicht
ganz echt. »Das Gut ist nämlich nur von der einen Seite
erreichbar, nur die breite Allee, die von der Chaussee
abbiegt, führt dorthin. Wer keinen triftigen Grund hat,
kann diese Allee selbstverständlich nicht betreten. Ich stehe

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mit dem Grafen in geschäftlicher Verbindung; ein Besuch
ist keine direkte Notwendigkeit, kann aber auch nicht

schaden. Ich bin daher bereit, in den nächsten Tagen mit
dir nach Königsgnade hinauszufahren. Doch mein
Töchterlein muß mir gestatten, es bei der Heimfahrt
gehörig auslachen zu dürfen, denn Schadenfreude ist und
bleibt ja nun einmal die reinste Freude. Wenn du
Königsgnade und seinen Besitzer bei nüchternem
Tageslicht gesehen hast, dann kannst du feststellen, daß
sich dein Märchenprinz nur durch sein faszinierendes
Äußeres, sonst jedoch durch nichts von einem
gewöhnlichen Sterblichen unterscheidet, und daß sein
Schloß ein langweiliger alter Kasten ist.«
»Oh, Papi, du bist doch der herrlichste Mann auf der

ganzen Welt«, schwärmte die Tochter, und ihre
leuchtenden Augen hingen an seinem lachenden Gesicht.
»Nun ist mir viel, viel leichter zumute. Du brauchst nur
einige Worte zu sagen, und schon fühlt man sich frisch und
frei.«
Ein prachtvolles Schloß, trutzig und fest wie für die
Ewigkeit erbaut, abseits vom Lärm der Welt, berückend
schön in seinem Frieden und seiner erhabenen Einsamkeit,
dicht am Walde gelegen: das ist Königsgnade!
Wenn man den stolzen Bau sieht, fühlt man sich mit
einem Schlage in eine andere Welt versetzt, eine Welt, in
der unerschütterliche Treue, Ritterlichkeit und Romantik

noch nicht ausgestorben sind, wo es noch stolze, aufrechte
Menschen gibt; wo man glauben muß, daß Märchen wahr
werden können, und wo einem das Herz ganz groß und
weit wird angesichts aller der zauberischen Schönheit
ringsumher.
Diese Gnade des Königs, die dem damaligen Starkenborn
zu einem derartigen Prachtbesitz verhalf, war an keinen
Undankbaren verschwendet. Er nannte die Herrschaft
»Königsgnade«, hütete das Geschenk seines Königs als
kostbares Heiligtum und machte es seinen Nachkommen
zur Pflicht, es ebenso zu halten wie er.

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Und das geschah von Geschlecht zu Geschlecht. Jedes
Mitglied des Hauses setzte seine Ehre darein, sich der

Gnade des Königs würdig zu erweisen und so zu leben, daß
es vor niemandem die Augen niederzuschlagen brauchte.
Fortan führten alle Erbsöhne von Königsgnade den Namen
»Odalrich«, was soviel bedeutet wie »Herr reichen
Erbgutes«, führten ihn durch sechs Generationen bis auf
den heutigen Tag.
Reich waren die Starkenborn niemals gewesen. Sie hatten
jedoch stets so viel gehabt, um ohne Sorgen leben zu
können. Jedoch der augenblickliche Besitzer von
Königsgnade hatte mit schweren Sorgen zu kämpfen. Denn
er war alles andere als ein Geschäftsmann, und so war es
nicht zu verwundern, daß er sich nur schwer zu behaupten

vermochte, und daß der fast zwei Jahrhunderte hindurch
sorglich gehegte und gepflegte Familienbesitz immer mehr
verschuldete.
Eben betrat Graf Starkenborn das Frühstückszimmer, wo
Großmutter, Mutter und Schwester ihn bereits erwarteten.
Es folgte eine höfliche, jedoch wortkarge Begrüßung,
ebenso wortkarg nahm man das Frühstück ein.
»Aufrecht und stolz!« – das war der Wahlspruch dieses
Geschlechts. Und aufrecht und stolz waren die Starkenborn
allzeit gewesen, die Männer wie die Frauen. Bei der Wahl
einer Lebensgenossin für den Erbherrn hatte man stets
sorgfältig geprüft und überlegt, und man sah dabei nicht so

sehr auf Geld und Gut wie auf die Eigenschaften, die einer
späteren Gräfin Starkenborn würdig waren. Die Frau mußte
stolz und tugendhaft sein, dazu hellhaarig und blauäugig.
Immer waren es die Eltern gewesen, die die Gattin für den
Sohn auswählten, und immer hatten sich die Erbsöhne
dieser Wahl ohne Murren gefügt. Daher war auch noch nie
eine Mesalliance in diesem Hause vorgekommen – aber
auch keine Liebesheirat.
Erdmuthe, des Schloßherrn Schwester, war eine echte
Tochter ihres Geschlechts. Selbst als kleines Mädchen war
sie stolz und gelassen gewesen und blieb es auch, als sie

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nach zweijähriger Pensionszeit auf das Schloß der Väter
zurückkehrte. Sie war dem Bruder so ähnlich, wie

Geschwister es nur sein können, doch was bei ihm stolz
und männlich wirkte, erweckte bei ihr den Eindruck von
Hochmut und Strenge.
Erdmuthe zählte bereits siebenundzwanzig Jahre, allein es
hatte sich bisher noch kein Freier für sie gefunden. Einer,
der es hätte wagen dürfen, um dieses ernste, stolze
Mädchen zu werben, war leider bettelarm, und der Besitz,
auf dem sein Geschlecht seit Jahrhunderten saß, wurde
heute versteigert.
Daran dachte wohl auch die Großmutter des Schloßherrn,
denn ihre hellen durchdringenden Augen suchten immer
wieder die Enkelin, die heute zurückhaltender und

hochmütiger wirkte denn je.
Diese Großmutter war die bedeutendste aller Frauen, die je
ein Starkenborn gefreit, und war somit der Stolz der
Familie. Sie war eine geistreiche Frau und stammte aus
fürstlichem Geschlecht; trotzdem hatte sie sich nicht
besonnen, einem Starkenborn die Hand fürs Leben zu
reichen, und war dann so sehr mit der Familie ihres Gatten
verwachsen wie keine zweite. Man hatte sich ihrem
Scharfsinn und ihrer Klugheit von jeher untergeordnet und
tat das auch heute noch. Die Führung des Hauses lag in
ihren Händen. Ihre Schwiegertochter Wilhelma sowie die
Enkelin Erdmuthe fügten sich ihr ohne Murren und wagten

in ihrer Gegenwart nie, eine eigene Meinung kundzutun.
Sogar der Schloßherr schien dieser Frau gegenüber keinen
eigenen Willen zu haben; es waren jedenfalls noch niemals
Meinungsverschiedenheiten zwischen ihnen
aufgekommen.
Die vier Menschen waren heute noch verschlossener, noch
wortkarger als sonst, bis endlich die alte Gräfin das
aussprach, was augenblicklich alle am meisten beschäftigte.
»Wann findet die Versteigerung statt, Odalrich?«
»Um acht Uhr, Großmutter, sie hat also bereits begonnen.«
»Die wievielte in diesem Jahre?«

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»Die dritte.«
»Was ist aus Hellin geworden?«

»Erschossen.«
»Und Bornstorff?«
»Auch erschossen.«
Dann tiefe, bedrückende Stille; kein anderer Laut war mehr
im Zimmer vernehmbar als das Knistern der Holzscheite
im Kamin. Das mit ährenblonder Haarkrone geschmückte
Haupt Erdmuthes, kurzes Haar trug in Königsgnade
selbstverständlich keine Frau, neigte sich wie unter der Last
einer schweren Schuld. Die Blicke des Grafen ruhten
minutenlang auf der Schwester, und es war, als träte ein
wärmerer Glanz in seine sonst so kalten blauen Augen.
»Und wie lange werden wir noch von diesem Schicksal

verschont bleiben?«
Unbarmherzig nüchtern klang die Stimme der alten Dame.
Die stolze Erdmuthe hob den Kopf, und auch der
Schloßherr zuckte zusammen. Gräfin Wilhelma schien auf
einmal allen Appetit verloren zu haben, denn sie legte
Messer und Gabel aus der Hand und lehnte sich mit einer
müden Gebärde in den hochlehnigen Sessel zurück.
Alle blickten auf die Greisin, die anscheinend vollkommen
gelassen eine Frage stellte, die über ihr aller Sein oder
Nichtsein entschied.
»Wir wollen uns doch nichts vormachen«, klang nun
wieder die unbarmherzige Stimme auf. »Man schafft

Hindernisse nicht aus der Welt, indem man sich über sie
ausschweigt und ängstlich um sie herumgeht. Viel
schlimmer ist es, wenn uns die Tatsache, daß Königsgnade
für uns verloren ist, überraschend trifft, als wenn wir damit
rechnen.«
Sie mußten ihr recht geben, die drei Menschen. Sie wußten
nur zu gut, wie sehr gerade diese zweiundachtzigjährige
Greisin an Königsgnade hing, und bewunderten es, daß sie
so hart gegen sich selbst war und sich nichts vorzutäuschen
versuchte.
»Und da gibt es keine Hilfe«, fuhr sie fort. »Mit einer

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reichen Heirat, die uns alle zu retten vermöchte, ist leider
nicht zu rechnen, denn die Mädchen, die für den letzten

Starkenborn als Gattin in Frage kommen könnten, sind alle
nicht reich. Viola Brechten, die vielleicht Hilfe hätte
bringen können, hat es ja vorgezogen, eine Frau Richter zu
werden. Nun ist sie Witwe, hat den reichen Gatten beerbt
und sein Geld noch zu ihrem gehäuft. Und das ist gut so;
nun bleibt es uns erspart, sie in unsere Familie
aufzunehmen. Außerdem ist es auch eines Mannes
unwürdig, sich an eine Frau zu verkaufen. So werden wir
uns denn an den Gedanken gewöhnen müssen, eines
Tages…«
Auf einmal schien es für sie doch zu viel zu sein, über
dieses Furchtbare, dieses Unfaßliche sachlich

weiterzureden. Sie winkte leicht mit der Hand und erhob
sich. Stolz und aufrecht stand sie da – trotz ihrer
zweiundachtzig Jahre.
Kommerzienrat Hartmann machte sein Versprechen wahr
und fuhr einige Tage nach der Unterredung mit seiner
Tochter nach Königsgnade. Das Mädchen war so erregt wie
ein Kind vor Weihnachten und mußte sich
zusammennehmen, um den Vater diese Unruhe nicht
merken zu lassen.
Mit dem Augenblick, als das Auto in die Schloßallee
einbog, fühlte sie sich in eine andere Welt versetzt. Selbst
der Kommerzienrat, der bis dahin vergnügt mit seiner

Tochter geplaudert hatte, wurde schweigsam.
Als sie vor dem Schlosse hielten, warf die Märzsonne ihre
letzten Strahlen darüber und tauchte die hohen Fenster in
ein Meer von Gold. Königsgnade erschien in seiner fast
unwirklichen Schönheit wie ein Märchenschloß. Dieser
tiefe Friede ringsumher, dieses Raunen und Rauschen in
den alten Bäumen vor dem Schlosse!
Der Kommerzienrat dachte resigniert darüber nach, wie
verkehrt er handelte, daß er der Tochter Gelegenheit gab,
dieses Wunder zu schauen, dessen Anblick selbst ihn, den
nüchternen Geschäftsmann, in seinen Bann zwang. Wie

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mußte es erst auf seine Kleine mit dem romantischen
Köpfchen wirken?

Ein verstohlener Blick streifte sein Kind, und ein Seufzer
kam über seine Lippen.
Roswithas strahlende Augen, die unverwandt an der
Prunkfassade des Schlosses hingen, verrieten nur allzu
deutlich, was sie empfand, was ihre schönheitsdurstige
Seele bewegte.
Gottlob, soeben erschien ein Diener! Wenigstens ein
erdgeborenes Wesen, vor dessen Gegenwart aller
Märchenspuk in nichts zerrann.
Dem Kommerzienrat war ganz eigen zumute, als er ihm
auf seine Frage zur Antwort gab, daß er den Grafen zu
sprechen wünsche.

»Erlaucht sind nicht anwesend, mein Herr«, meldete der
Alte mit unnachahmlicher Würde, »vielleicht aber kann der
Herr Oberinspektor Auskunft geben.«
Der kam auch gerade über den Hof und wandte seine
Schritte dem Schlosse zu: eine kernige, aufrechte Gestalt
mit wetterhartem Gesicht und treuherzigen Augen. Er hatte
eine tiefe Stimme, die wie das gutmütige Brummen eines
Bären klang.
»Wünschen die Herrschaften Erlaucht zu sprechen?«
»Ja, Herr Oberinspektor. Doch wir hören soeben, daß
Erlaucht abwesend ist. Hartmann ist mein Name.«
Nun fuhr der Oberinspektor heftig zusammen, und der

Kommerzienrat wußte, warum.
»Nein, nein«, begütigte Hartmann, »ich komme in einer
ganz neutralen Angelegenheit; ich wollte den Grafen nur
aufmerksam machen…«
»Darf ich den Herrn Kommerzienrat bitten, mir in mein
Büro zu folgen?« warf der Oberinspektor hastig ein.
»Danke, Herr Oberinspektor. Was ich zu sagen habe, ist
nicht viel; nur eine kleine Warnung. Teilen Sie dem Grafen
mit, daß er sich endlich entscheiden müsse.«
Er reichte dem Manne, der wie erstarrt dastand, freundlich
die Hand und gab Roswitha einen leisen Wink, den Wagen

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in Gang zu bringen.
Solange sie die Allee entlangfuhren, herrschte Schweigen

zwischen Vater und Tochter. Aber als sie auf die Chaussee
abbogen und ihnen das alltägliche Leben wieder
entgegentrat, war auch der Bann gebrochen, der sie in
Königsgnade umfangen gehalten hatte.
Als kehrten sie aus dem Märchenlande in die Wirklichkeit
zurück, so war ihnen zumute, und bald fand der
Kommerzienrat auch seinen Humor wieder.
»Nun, mein Kind, ist es gestattet, dich auszulachen?«
»Nein, Papi, denn Königsgnade ist ja noch tausendmal
schöner, als ich gedacht habe«, entgegnete sie, und ihre
Augen leuchteten und strahlten wie zwei Sonnen. »Weißt
du, Papi, schon als ich noch ein kleines Mädchen war,

wünschte ich mir immer, einmal eine Schloßfrau zu
werden. Nicht an die Prachtpaläste Italiens und anderer
Länder habe ich dabei gedacht – nein, mein Traumschloß
sah so ähnlich aus wie das von Königsgnade. Ein deutsches
Ritterschloß war es mit all seiner Schönheit und
Romantik.«
Der Vater teilte den Geschmack seiner Tochter ganz und
gar, doch das durfte er ihr keinesfalls zeigen. Er mußte
vielmehr versuchen, ihre Schwärmerei zu unterdrücken,
statt sie darin zu bestärken.
Es war ihm nicht sogleich möglich, die rechten Worte zu
finden. Er empfand, daß er sehr vorsichtig sein müsse.

So herrschte eine gute Weile Schweigen, bis Roswitha ganz
unvermittelt fragte:
»Schuldet Graf Starkenborn dir Geld, Papi?«
»Seit wann spreche ich mit meinem kleinen Mädchen über
geschäftliche Dinge?« scherzte der Vater. Doch Roswitha
hörte den Unterton der Abweisung heraus und wußte, daß
der Vater über diese Angelegenheit nicht zu sprechen
wünschte.
Roswitha befand sich von dieser Stunde an in einer höchst
seltsamen Stimmung. Sie, die mit ihrem goldenen Frohsinn
wie ein schillernder Schmetterling durch das Dasein

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gegaukelt war, Licht und Wärme um sich verbreitend, brach
jetzt oftmals ohne jeden ersichtlichen Grund in ein

leidenschaftliches Schluchzen aus. Dann wiederum konnte
sie ganz still dasitzen und vor sich hinträumen.
Die Eltern betrachteten ihr verändertes Kind mit Sorge und
geheimer Angst. Der Vater ahnte wohl, was Roswitha
bewegte; er schwieg jedoch darüber, um seine zarte,
ängstliche Gattin nicht zu beunruhigen.
Selbst Gisbert, der von seiner Arbeit stark in Anspruch
genommen war, fiel das veränderte Wesen der zärtlich
geliebten Schwester auf. Aber am meisten von allen sorgte
sich das treue Krönchen um ihren Herzensliebling.
Es war ja auch namenlos schwer für dieses behütete,
verhätschelte Kind, das bisher nur nach eigenem Wunsch

und Willen gelebt hatte und es nicht gewohnt war, auf
irgendwelchen Widerstand zu stoßen, mit all dem Neuen
fertig zu werden, das plötzlich in sein Leben getreten war.
Mit dem feinen, ihr eigenen Instinkt empfand Roswitha,
daß sie eine Grenze überschritten hatte, über die hinaus
ihre Eltern ihr nicht folgen konnten.
Wochenlang rang sie mit der geheimen, ihr Herz
erfüllenden Sehnsucht. Ein anderes, gleich ihr verwöhntes
Mädchen hätte an ihrer Stelle ohne weiteres Himmel und
Hölle in Bewegung gesetzt, ihres Lebens größten Wunsch
in Erfüllung gehen zu sehen.
In dem Privatbüro saßen Vater und Sohn zusammen und

waren so eifrig in ein Gespräch vertieft, daß sie Roswithas
Eintreten vollkommen überhörten.
»Nun kommt zu aller geschäftlichen Überbürdung auch
noch die Sorge, die die Verwaltung einer solchen
Herrschaft mit sich bringt«, sagte der Kommerzienrat
unwillig. »Wir haben doch beide keine Ahnung von dem
Kram, mein Junge. Übernehmen müssen wir das Gut; wir
sind direkt dazu gezwungen, wenn wir nicht unser Geld
verlieren wollen. Und dazu noch das niederträchtige
Gefühl, den Henker dieser Leute spielen zu müssen, die ein
heiliges Recht an ihrer Scholle haben und bettelarm von

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ihr gehen müssen. Ekelhaft!«
»Papi, von welchem Gute sprichst du?«

Die beiden Männer fuhren herum.
Da war Roswitha schon an des Vaters Seite, umklammerte
seinen Arm mit beiden Händen und sah ihn mit einem so
flehenden, beschwörenden Blick an, daß er verständnislos
den Kopf schüttelte.
»Roswitha, Mädel, wo kommst du her?«
»Ihr habt weder mein Klopfen gehört noch meinen Eintritt
bemerkt, Papi. So vernahm ich denn deine letzten Worte.
Sag, Papi, du sprachst von Königsgnade?«
»Allerdings, aber ich weiß gar nicht, Kind…«
Sie ließ ihn nicht aussprechen, umklammerte seinen Arm
immer fester und sah ihn an, als erhoffte sie von ihm Hilfe

in höchster Not.
»Papi, du mußt Königsgnade erwerben«, sagte sie mit einer
Hast und mit einer Dringlichkeit, die den alten Herrn aufs
tiefste beunruhigte. »Schau mal, Papi, dann kann doch der
Graf auf seinem Schloß und Gut als Verwalter bleiben und
braucht nicht das Erbe seiner Väter zu verlassen. Aber du
mußt schnell handeln. Denn wenn ein anderer dir
zuvorkommt und Königsgnade erwirbt – wer weiß, ob
dieser dann nicht schon einen Verwalter hat, den er
einsetzt.«
»Sag mal, du Blitzmädel, das ist eine Idee, die keinesfalls zu
verwerfen ist«, schmunzelte der Vater, der bei dem

Vorschlag seiner Tochter die Ruhe wiedergefunden hatte.
»Es fragt sich nur, wie der Graf darüber denkt, wenn man
ihm anbietet, als Verwalter auf dem Erbe seiner Väter zu
bleiben.«
»Du kannst ihm jedenfalls den Vorschlag machen, Papi.«
»Werde ich auch, mein Kind. Denn auch uns wäre damit
geholfen, wenn er ihn annähme. Wer könnte Königsgnade
besser bewirtschaften als er? Wer hat mehr Interesse daran
als er, daß das Gut bleibt, was es ist – ein wertvoller
Besitz?«
Nun kamen für Roswitha erst recht aufregende Tage – Tage

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des Hangens und Bangens.
Das ging zwei Wochen hindurch.

Doch als die Tochter sich eines Abends wieder erkundigte,
schüttelte der alte Herr traurig den Kopf.
»Die Antwort ist wohl da, mein Kind; aber er – lehnt ab.«
»Papi, das ist doch nicht möglich«, stammelte sie
fassungslos.
Das hatte sie nicht erwartet, das nicht!
»Papi, du mußt trotzdem Königsgnade erwerben, du
mußt«, bettelte sie inständig.
»Und du willst ruhig mit ansehen, wie der Graf mit den
Seinen die Heimat verlassen muß und hinausgeht in Armut
und Not, Roswitha?« mahnte der Vater. »Denn ihnen bleibt
nichts, wovon sie leben können. Im Gegenteil, sie hätten

überdies noch eine große Schuld zu zahlen.«
Da senkte sie erneut den Kopf, stand noch länger als vorhin
da, regungslos und stumm. Doch als sie dann den Blick
endlich wieder erhob, lag in ihm nicht mehr stille
Verzweiflung, sondern ein Ausdruck tiefen Ernstes.
»Ich mache dir noch einen Vorschlag, Papi. Ich will… ich…
möchte seine Frau werden.«
»Roswitha!« Eltern und Bruder riefen es wie aus einem
Mund. Entsetzt fuhren sie auf, als habe sie ein schwerer
Schlag getroffen.
Still war es im Zimmer, totenstill.
Dann sagte der Vater mit verhaltener Stimme: »Ita, mein

Herzkind, weißt du überhaupt, was du sprichst, was du
verlangst?«
»Ja.«
Klar und fest klang es, und ebenso klar und fest sah sie den
Vater an und hielt seinem Blick stand.
»Ich habe in den letzten Wochen viel gelitten, Papi. Wie
sehr, könnt ihr euch unmöglich vorstellen. Ich liebe
Starkenborn und möchte ihm die Heimat erhalten. Muß
ich mich meines starken Gefühls schämen, Papi?«
»Kind, mein Mädel!« Der Vater war so erschüttert, daß er
nicht weitersprechen konnte. Er zog sein Kind fest ans

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Herz. So verharrten sie minutenlang, während Mutter und
Bruder sich bemühten, ihre Rührung zu verbergen. Dann

hob der Kommerzienrat das Köpfchen seines Töchterchens
empor und sah ihm in die unschuldigen klaren Augen.
»Du bist noch sehr jung und unerfahren, meine kleine Ita«,
sagte er mit bebender Stimme. »Du hast ja keine Ahnung
davon und kannst es unmöglich wissen, wie es ist, wenn
man für seine Liebe Geringschätzung, ja vielleicht sogar
Verachtung erntet. Wenn der sehr hochmütige Graf sich
entschließt, über das Hausgesetz hinweg eine Bürgerliche
zu heiraten und gar noch eine, die man ihm aufdrängt,
dann kann es sich für ihn nur um ein Opfer handeln, das
er der Heimat und den Seinen bringt. Wie willst du, ein
durch Liebe und gar zu viel Nachsicht verwöhntes Kind, es

im Kreise dieser hochmütigen, adelsstolzen Menschen
aushalten? Du mußt ja zugrunde gehen. Und dazu ist der
Graf noch als ein Mann bekannt, dem die Frauen nichts
bedeuten, der kein Herz für sie hat. Wie kannst du dich
neben so viel Kälte und Unnahbarkeit behaupten?«
»Aber Papi, dann gehört er doch zu mir und wird sich
schon an mich gewöhnen. Wenn er sieht, wie sehr ich ihn
liebe, dann wird sein hartes Herz schon einmal weich
werden. Und wenn er sich auch im allgemeinen nichts aus
Frauen macht, wird er mir doch immer die Treue halten.«
Der Kommerzienrat lächelte. Es war ein eigenes Lächeln,
das seine Lippen umspielte.

»Wir wollen einen Kompromiß schließen, Liebling«, sagte
er und zwang sich zu einem frischen Ton. »Du machst erst
einmal mit der Mutter die Sommerreise – sagen wir auf
sechs Wochen – und kommst du dann wieder und bist
noch genau derselben Ansicht wie heute, dann verhandeln
wir weiter über diesen Punkt. Einverstanden?«
Sie nickte lächelnd. Und der Vater war von Herzen froh,
wenigstens eine längere Frist zu haben, die es ihm
ermöglichte, über alles noch einmal gründlich
nachzudenken. Vielleicht würde alles viel besser, als es sich
jetzt ermessen ließ, und vielleicht waren es unnötige

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Sorgen, die er sich machte. In der großen Welt traten
vielerlei Eindrücke an ein junges Menschenkind heran, die

imstande waren, dessen Fühlen und Denken zu wandeln.
Vielleicht lachte man später über die schwärmerische Liebe
der kleinen Ita, die all denen, die ihr nahestanden, jetzt so
viele Sorgen bereitete.
Doch seine Hoffnung war vergeblich. Als die Mutter von
der Reise zurückkehrte und mit Mann und Sohn gemütlich
beisammensaß, mußten diese erfahren, daß Roswitha mit
ihrer Liebe keineswegs fertiggeworden war. Im Gegenteil –
die Neigung hatte sich noch vertieft, und die Sehnsucht war
größer denn je. Sie hatte die Tage gezählt, bis sie aus der
»Verbannung«, wie sie das Leben in der großen Welt
nannte, zurückkehren konnte.

»Ach, Papi, was ist alles da draußen gegen unser Zuhause«,
erzählte sie. »Die Menschen kamen mir alle so unwahr, so
verlogen vor. Und die Männer mit ihrem albernen
Geschwätz können mich beinahe zu Tode langweilen.
Nein, wenn einer für mich in Frage kommt, dann kann es
nur der Graf Starkenborn sein.«
War es schon niemals besonders lebhaft in Königsgnade
gewesen, so herrschte jetzt geradezu Grabesstille in dem
Schloß. Nicht nur die Herrschaft, sondern auch die
Angestellten und Arbeiter des Gutes, die zum Teil alte
bewährte Leute waren, wußten, daß die Tage gezählt waren,
die die Starkenborn auf ihrer Scholle verbringen durften.

Als ein Vetter des Schloßherrn in dieser Zeit auf einer
Durchreise bei den Verwandten einkehrte, fiel ihm die
gedrückte Stimmung gewaltig auf die Nerven.
Er war von ganz anderer Art als sein Vetter Odalrich. Er
nahm alles, was auch kam, mit vollkommenem Gleichmut
hin und versuchte, dem Leben immer nur die beste Seite
abzugewinnen. Das hatte er schon damit bewiesen, daß er
das Hausgesetz übertrat und eine Bürgerliche zur Frau
wählte. Denn diese besaß das, was ihm fehlte, um ein
behagliches Leben zu führen – nämlich Geld, viel Geld!
Und das Experiment war geglückt. Liebte Graf Bernhard

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seine Frau auch nicht gerade schwärmerisch, so war er ihr
dennoch herzlich zugetan.

Jetzt saß er seelenvergnügt, zufrieden mit sich und der
ganzen Welt, beim Nachmittagskaffee und ließ sich durch
die Zurückhaltung der anderen nicht einschüchtern.
Warum auch? Er war doch sein eigener Herr, war von
diesen verschlossenen Menschen gottlob nicht mehr
abhängig.
Bernhard erfuhr bei diesem Besuch, daß dem Vetter kein
Stein von Königsgnade gehöre, und daß es nur eine Frage
der Zeit sei, wann er das Schloß seiner Väter verlassen
müsse.
Er bewunderte die Verwandten geradezu, daß sie so ruhig
und sachlich besprechen konnten, worüber anderen

Menschen aus Gram und Leid vielleicht das Herz
gebrochen wäre.
»Steht der Termin schon fest, an dem wir Königsgnade
räumen müssen, Odalrich?«
Diese rücksichtslose Nüchternheit der Großmutter fand
Bernhard unerhört.
»Noch ist mir der Termin unbekannt, Großmutter.«
»Wer ist denn bei euch der mächtige Mann, der über Sein
und Nichtsein gebietet?« erkundigte sich Bernhard nun
ganz offen.
»Kommerzienrat Hartmann.«
»Na, das war ja auch nicht gut anders möglich«, lachte

Bernhard belustigt auf. »Es soll mich nicht wundern, wenn
auch alles andere haargenau da ist, was nun mal zu einem
mächtigen Mann gehört. Verfügt dieser beneidenswerte
Herr nicht über ein leutseliges, vor Wohlwollen triefendes
Wesen? Pocht er nicht auf seinen Geldsack, daß es kling?
Ist er nicht klein und dick, und hat er nicht ein passables,
hübsches, launenhaftes Töchterlein, das nur allzusehr
gewillt wäre, mit den ringüberladenen Patschen Gold und
immer wieder Gold aus dem Schatz ihres Vater zu spenden,
nur damit sie Gräfin Starkenborn werden kann?«
Nun mußten sie alle lachen, was gewiß selten vorkam und

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Bernhard immer kühner werden ließ.
»Bernhard, man könnte fast glauben, daß du hellseherisch

veranlagt bist«, sagte Odalrich am nächsten Morgen, als sie
alle gemeinsam am Frühstückstisch saßen. »Schau her,
dieser Brief bestätigt, daß Hartmann wirklich eine Tochter
hat, die mich zum Gatten begehrt.«
Bernhard sah ihn zuerst verblüfft an. Doch dann lachte er
so übermütig und ansteckend, daß der Vetter mitlachen
mußte, so wenig ihm im Grunde danach zumute war.
»Odalrich, das ist ja einfach gottvoll«, schluchzte Bernhard
und wischte sich die Lachtränen aus den Augen. Er
beruhigte sich nur langsam und meinte dann: »Damit sich
nun alles weiterhin programmäßig entwickelt, möchte ich
dir den guten Rat geben, mein lieber Vetter: greife ohne viel

Bedenken mit beiden Händen zu.«
»Wenn Odalrich so geschmacklos wäre wie du, dann täte er
es, mein guter Junge«, sagte die alte Gräfin mit beißendem
Spott.
Doch Bernhard ließ sich nicht beirren. Er war in diesem
Augenblick dickfelliger als je und lachte die alte Dame mit
der ganzen Liebenswürdigkeit an, die seiner
Schwerenöternatur eigen war.
Als Bernhard sich nun mit formeller Verbeugung entfernen
wollte, erhob sich der Schloßherr, schob den Arm unter
den des Vetters und verließ mit ihm das Zimmer.
»Großmutter ist verbittert«, sagte er seufzend, während sie

zu Odalrichs Zimmern gingen. »Hinter ihren Worten
verbirgt sich ihre Verzweiflung. Ich weiß es wohl am
besten, wie sehr sie an Königsgnade hängt, und wie
furchtbar ihr der Gedanke ist, es verlassen zu müssen.
Darum mußt du es nicht auf die Goldwaage legen, was sie
sagt. Du siehst, ich tue es auch nicht. Ich kann jedoch
verstehen, daß du nach diesem Vorfall nicht länger bei uns
bleiben willst. Und es tut mir aufrichtig leid, daß dein
Besuch, der mich ehrlich erfreute, mit einem Mißklang
enden muß. Doch wenn es dir eine Genugtuung ist, so
sollst du wissen, daß deine Worte doch nicht ohne

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Eindruck auf sie geblieben sind. Das weiß ich genau.«
»Na, dann will ich diesen Anpfiff getrost hinnehmen«,

brummte Bernhard, beinahe schon wieder versöhnt. Er
packte den Vetter an den Schultern und sah ihn mit seinen
ehrlichen Augen fest an.
Die Vettern drückten sich herzlich die Hände. Noch
niemals hatten sie sich so gut verstanden wie in dieser
Stunde.
Es hatte den Kommerzienrat einen schweren Entschluß
gekostet, jenen inhaltsschweren Brief an den Grafen
Starkenborn zu richten, der in Königsgnade helle
Empörung hervorgerufen hatte.
Nun warteten er und die Seinen auf eine Antwort –
tagelang, wochenlang.

Roswitha wurde in dieser Zeit blaß und schmal, und die
Ihren konnten das kaum noch mit ansehen. Die Kleine
wurde immer gereizter und begegnete der Dienerschaft oft
ohne jeden Grund so rücksichtslos, wie es die
launenhafteste Weltdame nicht besser gekonnt hätte.
Selbst Angela Richter, Roswithas intimste Freundin, wurde
so heftig angefahren, daß sie ganz betreten war.
Angela war ein entzückendes Geschöpf. In ihrer Sanftheit
war sie das ganze Gegenteil des kleinen Sprühteufelchens
Roswitha. Sie hing mit inniger Liebe an dem kleinen
Dollarprinzeßchen, und das um so mehr, da ihr dessen
Bruder nicht gleichgültig war.

Auch Angela war sehr reich. Daß sie schon lange verwaist
war, hatte sie bis vor kurzem nicht als besonders
schmerzlich empfunden, da ihr Bruder stets zärtlich besorgt
um sie war, auch dann noch, als er sich mit der schönen
Gräfin Viola Brechten verheiratet hatte.
Aber dann ereignete sich ein schwerer Unglücksfall in
seiner Fabrik. Richter geriet in eine Maschine, die ihm
beide Beine abriß. So hätte er sein Leben als Krüppel fristen
müssen, hätte der Himmel nicht ein Einsehen gehabt und
den Ärmsten zu sich genommen.
Die beiden Mädchen saßen eines Tages auf der Couch in

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Angelas kleinem Wohnzimmer. Beide waren sehr bedrückt,
und die Unterhaltung stockte. Das Hereinbrechen der

Dämmerung trug ebenfalls nicht dazu bei, die Stimmung
zu heben.
Lange Zeit saßen die beiden Freundinnen schweigend
nebeneinander, bis Roswitha auf einmal in heftiges Weinen
ausbrach.
Angela erschrak bis ans Herz heran. Sie versuchte alles nur
mögliche, die Freundin zu beruhigen, und dabei erfuhr sie
von deren Herzeleid.
Beide waren so vertieft, daß sie nicht bemerkte, wie Frau
Viola Richter das Zimmer betrat und Zeugin von Roswithas
Beichte wurde.
Trotz des Jammers, der aus Roswithas Worten sprach, war

Frau Viola herzlos genug, hell aufzulachen und im gleichen
Augenblick das grelle Deckenlicht einzuschalten.
Beide Mädchen fuhren empor und schlossen unwillkürlich
die Augen.
»Bist du rücksichtslos, Viola«, murmelte Angela.
»Dieses helle Licht tut euch beiden Schwärmerinnen gut«,
lachte Viola, und die kleine Schwägerin fand dieses Lachen
häßlicher denn je.
»Nun wird unsere romantische Roswitha wohl zur Vernunft
kommen und einsehen lernen, daß es leichter ist, nach den
Sternen zu greifen, als einen Starkenborn zu bewegen, ein
Mädchen zu freien, das nicht seines Standes ist.«

»Warum sollte ich nicht die Gattin des Grafen Starkenborn
werden können?« fragte sie sehr von oben herab. Und es
war etwas in ihrer Stimme, das die weltgewandte Frau
nervös machte.
»Liebes Kind, eher steht die Welt köpf, als daß ein solches
Wunder geschähe.«
Roswithas Augen funkelten wie die einer Katze. »So sollen
Sie das Vergnügen haben, die Welt kopfstehen zu sehen.
Wollen wir wetten?«
»Roswitha!« schrie Angela entsetzt auf, doch das wurde von
dem unbändigen Lachen übertönt, mit dem Frau Viola sich

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in ihren Sessel zurückwarf.
»Köstlich! Einfach köstlich ist das!« rief sie überlaut. »Graf

Starkenborn, dieser Mann ohne Herz, als Wettobjekt!
Kinder, ich sterbe vor Lachen!«
Das wäre gut, dachte Angela, die ihre Schwägerin in diesem
Augenblick geradezu haßte. Sie umschlang die Freundin
mit beiden Armen.
»Ita, komm«, bat sie ängstlich. Doch diese hörte sie gar
nicht; sie schaute noch immer auf die Frau, die sich vor
Lachen förmlich hin und her wand.
»Nun, halten Sie die Wette, gnädige Frau?«
Und ehe Angela es verhindern konnte, hatte Roswitha
schon die Hand der anderen erfaßt, die ihr plötzlich mit
fieberhafter Hast entgegengestreckt wurde.

»Angela, schlag durch!«
Die weigerte sich.
»Nun, kleine Ita, die Wette gilt auch so«, sagte Frau Viola
und erhob sich. Ehe die Mädchen so recht zur Besinnung
kamen, hatte sie das Zimmer verlassen.
»Roswitha, weißt du überhaupt, was du getan hast?« fragte
Angela entsetzt. »Wenn Viola nun von dieser Wette etwas
verlauten läßt?«
»Das ist mir gleich«, brauste Roswitha auf und warf das
Köpfchen in den Nacken. »Dieser Frau muß man zeigen,
daß man ihrer Bosheit gewachsen ist. Ihre Augen sind mir
unheimlich, wie Teufelslichter erscheinen sie mir

manchmal.«
»Siehst du, Ita, und mit dieser Frau muß ich tagaus, tagein
zusammenleben«, sagte Angela bitter.
Da vergaß Roswitha ihr eigenes Leid, umfaßte die Freundin
mit beiden Armen und zog sie auf die Couch nieder.
Genau wie vorhin saßen sie nebeneinander und hingen
ihren quälenden Gedanken nach.
»Nicht traurig sein, Geli«, tröstete Roswitha, die um das
Herzeleid der Freundin gar wohl wußte. »Gisbert wird
schon eines Tages merken, welch großer Dummkopf er ist,
daß er deine Liebe nicht sieht. Und liebt er dich erst, dann

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hast du bei ihm den Himmel auf Erden, das darfst du mir
schon glauben.«

»Und wenn er eine andere liebt?« fragte Angela bedrückt.
»Dazu hat er ja gar keine Zeit, Geli. Nur Arbeit, Arbeit und
immer wieder Arbeit füllt seine Tage aus.«
»Wie gut du einen aufzurichten verstehst.« Angela fuhr der
Freundin zärtlich über die Wange. »Und dabei ist dir selber
doch das Herz so schwer. Wenn ich dir doch irgendwie
helfen könnte.«
Roswitha schüttelte den Kopf. »Das kann wohl niemand,
da es noch nicht einmal Papi vermag, der doch stets bereits
ist, alles für mich zu tun, wenn es sich um mein Glück
handelt.«
»Ita, mir ist so bange um dich. Wenn du nun die Wette

verlierst, und Viola…«
»Das werde ich nicht!« fuhr die kleine Dollarprinzessin auf.
»Wie ich es anfangen werde, weiß ich selbst noch nicht.
Doch ich will und muß des Grafen Frau werden, schon um
deiner vortrefflichen Schwägerin zu zeigen, daß sie nicht
jeden Menschen ungestraft verhöhnen kann.«
Starkenborn nahm in der Halle dem Gärtner die Rosen ab,
schritt zu dem Wagen, der vor dem Portal des Schlosses auf
ihn wartete, und ließ sich aufseufzend in die Polster fallen.
Das Gefährt hielt eine Stunde später vor dem Bankhause,
in dem Odalrich den Kommerzienrat am ehesten zu treffen
hoffte.

Ruhig und gelassen schritt er dem Bankhause zu.
In dem Hause erhielt er von dem Prokuristen den Bescheid,
daß der Kommerzienrat in seiner Villa sei.
Der Graf dankte freundlich und befahl dem Kutscher, nach
der Villa Hartmann zu fahren.
Als er an dem Portal die Glocke zog, öffnete sich die
schwere Tür geräuschlos, wie von unsichtbarer Hand
bewegt. In der Diele trat ihm ein Diener entgegen, und
Starkenborn gab seine Karte ab.
Sehr schnell kam der Bediente wieder und führte Odalrich
zu dem Arbeitszimmer des Kommerzienrates, in dessen Tür

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dieser den Besucher bereits erwartete.
Als Odalrich des Hausherrn ansichtig wurde, blitzte es in

seinen Augen auf.
Lächelnd bat der Kommerzienrat seinen Gast, näher zu
treten.
Und als dieser die geschmackvolle Einrichtung des
Zimmers sah, war es ihm, als ließe die Spannung in seinem
Innern nach.
»Guten Tag, Erlaucht«, begrüßte Hartmann den Grafen und
streckte ihm liebenswürdig die Hand entgegen.
»Meine Zeit ist zwar knapp bemessen – man erwartet mich
bei einer wichtigen Sitzung – doch für ein halbes
Stündchen stehe ich Ihnen gern zur Verfügung. – Sorgen
Sie dafür, daß wir nicht gestört werden, Karl!« wandte er

sich an den Diener, der sich daraufhin mit einer
Verbeugung zurückzog.
Nun standen sich die beiden Männer gegenüber. Die
Augen des Kommerzienrats glitten unauffällig über den
feierlichen Anzug seines Besuchers, fielen auf die Blumen
in dessen Hand, und ein humorvolles Lächeln zuckte um
seinen Mund.
»Wollen Sie nicht bitte Platz nehmen?«
Mit einladender Handbewegung wies Hartmann auf einen
der Ledersessel und zog, nachdem Starkenborn seiner
Aufforderung Folge geleistet, sich selber einen Lehnstuhl in
dessen unmittelbare Nähe.

Sekundenlang herrschte Schweigen zwischen den beiden
Herren.
Hochmütig, eisig beinahe war der Blick des Grafen,
freundlich und aufmunternd der des Kommerzienrates.
»Ich glaube zu erraten, was Sie zu mir hergeführt hat«, sagte
der alte Herr mit gewinnender Liebenswürdigkeit.
»Und ich glaube annehmen zu dürfen, daß Sie den Anlaß
meines Hierseins richtig einschätzen.«
Wie kühl der Ton dieser Stimme klang, wie ganz anders als
die des alten Herrn.
»Ich bitte um die Hand Ihres Fräulein Tochter, Herr

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Kommerzienrat.«
Jetzt wurde Starkenborn des humorvollen Lächelns gewahr,

das abermals um des Hausherrn Lippen huschte und seine
Haltung wurde daraufhin noch kühler, noch ablehnender.
Doch es schien, als ob sein Gegenüber das absolut nicht
bemerkte.
»Meine Tochter sowie ich nehmen Ihre Werbung gern an«,
entgegnete Hartmann ohne Zögern.
Und dann lachte er auf: »Na, da wird meine Ita selig sein!
Sie sind nämlich ihre stille Liebe.«
Nun mußte auch der Graf lächeln. Es sah aus, als ob
jemand einem anderen von einer harmlosen Äußerung
seines Kindes erzählt; aber es war immerhin ein Lächeln,
das den hoheitsvollen Gast zugänglicher erscheinen ließ.

»Lassen Sie uns in dieser Stunde ganz aufrichtig sein«, sagte
der Kommerzienrat sehr herzlich, »lassen Sie uns von
Mann zu Mann sprechen. Warum Sie um meine Tochter
werben, Erlaucht, das weiß ich, auch meiner Familie ist es
bekannt, meine Tochter selbstverständlich nicht
ausgeschlossen. Wir wollen deshalb jede Verschleierung der
Tatsachen vermeiden und uns bemühen, ehrlich zu bleiben
und die Dinge beim richtigen Namen nennen.
Ich bot Ihnen die Hand meines Kindes an, und Sie nehmen
diesen Vorschlag nach langem Ringen, wie ja Ihr
wochenlanges Schweigen beweist, an. Sie tun es aus Liebe
zur Heimat, aus Pflichtgefühl den Ihren gegenüber. Mit

dem Augenblick, da Sie sich durch Ihr Wort binden, meine
Tochter zu Ihrer Gattin zu machen, steht Ihnen das Geld
zur Verfügung, das Sie benötigen, um Königsgnade von
allen Schulden zu befreien. Denn dann gehören Sie auch
zu unserer Familie, und wir halten es stets so, daß einer
dem anderen treu zur Seite steht.
Als Gegenleistung hierfür verlange ich nichts weiter von
Ihnen, als daß Sie gut zu meinem Kinde sind. Meine
eigenwillige Ita gestand mir, längst gehöre Ihnen ihr Herz,
und sie beschwört es mit tausend Eiden, Sie seien die große
Liebe ihres Lebens. Sie erklärte mir ferner, schon als Kind

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habe sie sich danach gesehnt, in Königsgnade leben zu
dürfen. Wie das alles gekommen ist, entzieht sich meiner

Kenntnis. Ich weiß nur, daß Sie auf der Stelle gesiegt
hatten, als meine Tochter Sie zum ersten Male sah. Sofort
besaßen Sie Gewalt über ihr Herz. Bisher war es noch
keinem Mann gelungen, ihre Liebe zu gewinnen, obgleich
sie weit in der Welt herumgekommen ist und dabei genug
Männer kennengelernt hat, die sie keineswegs allein des
Geldes wegen verehrten.
Wir versuchten, diese Neigung zu unterdrücken, suchten sie
abzulenken – umsonst. Meine Tochter hat sich in wenigen
Wochen so sehr verändert, daß man es nicht für möglich
halten sollte. Sie war es auch, die mir den Vorschlag
machte, Sie als Verwalter zu gewinnen, falls ich

Königsgnade übernehmen müßte. Und als Sie auf diesen
Vorschlag nicht eingingen, erklärte, sie kurz und bündig,
sie wolle Ihre Gattin werden. Daß ich davon nicht gerade
entzückt war, und es auch heute noch nicht bin, das
können Sie mir nicht verdenken, Erlaucht. Ich muß Ihnen
dies sagen, denn ich liebe meine Tochter sehr, sie ist der
Sonnenschein meines Lebens, und ich möchte sie daher
recht von Herzen glücklich sehen.«
Der Kommerzienrat machte eine kleine Pause und fuhr
dann fort:
»Solange ich lebe, kann ich über meinen Liebling wachen
und halte die Augen schon offen. Aber ich zähle immerhin

siebzig Jahre; und so gesund ich bin und so frisch ich mich
auch fühle, so muß ich doch damit rechnen, daß ich nicht
allzulange mehr zu leben habe. Dann aber stände mein
Mädel mit seinem romantischen Köpfchen und mit seinem
unberechenbaren Eigenwillen allein in der Welt. Denn so
sehr mein Sohn seine Schwester auch liebt, ist er dennoch
nicht imstande, sie in der Weise zu schützen, wie ich es zu
tun vermag. Auch er wird einmal eine Familie gründen
wollen, und dann steht das Wohl der Seinen
selbstverständlich allem anderen voran.«
»Zu Ihnen habe ich felsenfestes Vertrauen, Erlaucht. Ich

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weiß, die Starkenborn haben ihre Frauen wohl nicht immer
geliebt, sie jedoch allzeit geachtet und geehrt und sind

ihnen ein starker Schutz gewesen. Und daher kommt es,
daß ich trotz allem mit ruhigem Gewissen das Geschick
meiner Tochter in Ihre Hände lege.«
Mit keinem Wort hatte der Graf die Rede des alten Herrn
unterbrochen, und seine Mienen verrieten nicht, wie er sie
auffaßte.
Jetzt erhob er sich langsam und ergriff die Hand des
Kommerzienrates, die sich ihm mit viel Herzlichkeit
entgegenstreckte.
»Ich danke Ihnen, Herr Kommerzienrat, daß Sie so offen
mit mir sprachen, denn ich verstehe Offenheit sehr wohl zu
schätzen. Daher will auch ich ganz ehrlich sein – weil ich

es sein darf. Lieben kann ich Ihr Fräulein Tochter nicht, da
ich sie ja überhaupt nicht kenne. Doch ich gebe Ihnen
mein Wort, daß ich meine Gattin schützen, achten und
hochhalten werde, soweit es in meiner Macht steht. Denn
sie ist es ja, die uns, meinen Angehörigen und mir, ein
sorgenfreies Leben nach Königsgnade bringt, und das
werde ich nie vergessen. Und daß die Meinen es auch nicht
tun werden, lassen Sie meine Sorge sein.«
»Das genügt mir fürs erste«, entgegnete der Kommerzienrat,
»und daß Sie mit der Zeit meine kleine Ita auch ein wenig
liebgewinnen, dafür wollen wir dieses Sonnenkind selber
sorgen lassen«, setzte er mit feinem Lächeln hinzu. »Meine

Zeit ist nun um – leider. Meine Frau und mein Junge sind
verreist und kommen erst morgen wieder. Doch so viel Zeit
muß mir noch bleiben, Sie zu meiner Tochter zuführen.«
Er schritt mit seinem Gast die breite, teppichbelegte Treppe
hinauf. Auf dem Gang des oberen Stockwerks hörten sie
eine junge, süße Stimme, und Starkenborn sah, wie es in
den Augen des Kommerzienrats aufleuchtete.
Gleich darauf betraten sie ein ungemein hübsches Zimmer,
dessen Fußboden ein dicker lichtblauer Teppich bedeckte.
Auf diesem lag Roswitha und trieb Gymnastik. Die in einer
weiten Hose aus zartblauem Samt steckenden Beine

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pendelten hin und her. »Knie beugt, Knie streckt!« so ging
es in einem fort. Die blonden Locken hingen wirr in das

vor Eifer gerötete Gesichtchen.
Dicht über dem Fußboden schaukelte sich in einem Ringe
ein großer Papagei, ein wahres Prachtexemplar seiner
Rasse. Er trat von einem Bein auf das andere, wiegte sich
mit Behagen und sah geringschätzig auf seine Herrin herab.
Es war ein unbeschreiblich reizendes Bild, das jeden
Beschauer sofort gefangennehmen mußte. Das war
Schönheit und Anmut und herzerquickende Natürlichkeit.
Bei einem so bezaubernden Geschöpf konnte man es wohl
verstehen, daß die Eltern ihren Abgott in ihm sahen, es
verhätschelten, weil sie nicht anders konnten, und sich
dadurch einen kleinen Tyrannen erzogen, der sein

eigenwilliges Köpfchen immer und überall durchsetzte.
Eben drohte Roswitha mit dem Finger zu dem Papagei hin.
»Sag Affe, Coco!«
»Ita!« schnarrte der widerspenstige Vogel und blinzelte
seine Spielgefährtin lauernd an. Doch die war ganz und gar
nicht mit ihm zufrieden und schüttelte unwillig den Kopf,
daß die Locken nur so flogen.
»Nicht Ita – Affe sollst du sagen!«
Doch Coco dachte gar nicht daran, sondern setzte den Ring
in heftige Bewegung und legte das Köpfchen schief. Es sah
aus, als ob er lachte. Da hielt Roswitha den Ring fest und
tippte dem Papagei auf die bunte Brust.

»Coco, du mußt unbedingt Affe sagen«, wiederholte sie mit
einer Dringlichkeit, als hinge wer weiß was davon ab.
»Schau mal, du bist doch ein verständiges Cocolein, und
du wirst es deshalb begreifen, daß du Affe sagen mußt,
wenn der unausstehliche Modefatzke uns wieder einmal
mit seinen blöden Schmeicheleien langweilt. Also, sag
schon endlich Affe!«
»Ita!« rief der Vater lachend, doch sie sah gar nicht auf.
»Gut, daß du da bist, Papi«, sagte sie eifrig, »vielleicht
kannst du erreichen, daß Coco Affe sagt, weil doch – «
Sie war aufgesprungen – alle weiteren Worte blieben ihr

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geradezu in der Kehle stecken, als sie den
hochgewachsenen Besucher erblickte.

Flammend rot wurde sie, und aus großen Augen schaute sie
entsetzt auf den Grafen, der ein Lächeln nicht unterdrücken
konnte.
»Hier ist meine Tochter, Roswitha, Erlaucht«, stellte der
Kommerzienrat vor. »Sie haben sich Ihre zukünftige Gattin
wahrscheinlich anders vorgestellt, doch im Leben ist selten
etwas vollkommen.«
Ein humorvolles Lächeln spielte um seinen Mund.
Roswitha stand vor den beiden Männern da wie ein
erschrockener, hilfloser Backfisch. Sie sah in der hellblauen
Samthose mit dem dazu passenden ärmellosen Pullover so
rührend kindlich aus, wie es nur bei ganz jungen,

unschuldigen Mädchen möglich ist.
»Nun, mein Kind, reiche dem Herrn Grafen die Hand«,
ermunterte der Vater. »Er hat soeben um dich bei mir
angehalten.«
»Papi!«
Sie flog in des Vaters Arme und sah von diesem sicheren
Platze aus dem Grafen in das Antlitz, das wie aus Erz
gegossen zu sein schien. Ach, in der Nähe sah er noch viel
hoheitsvoller, viel faszinierender aus als aus der
Entfernung.
Doch wie er sie ansah, so kalt, so durchbohrend, da hatte
sie das Gefühl, als ginge sein Blick ihr durch und durch.

Bald jedoch überwand sie die Scheu vor dem unnahbaren
Besucher. Was konnte ihr passieren, solange der Papi bei
ihr war!
Sie warf das Köpfchen zurück, lachte ihr köstlich frisches,
unbekümmertes Lachen, löste sich aus den Armen des
Vaters und streckte dem Grafen die Hand hin.
»Guten Tag, Erlaucht, ich heiße Sie herzlich willkommen.
Ist es – ist es wirklich wahr, was Vater sagt?«
Sie errötete tief bei dieser Frage. Der Graf lächelte und
drückte seine Lippen auf ihr Händchen, das in seiner
Rechten zitterte und bebte.

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»Ja, gnädiges Fräulein, es ist wahr. Wenn Sie mir das Recht
geben wollen, diese Hand für das Leben halten zu

dürfen…«
»Oh!« machte Roswitha und seufzte tief auf. Sie nahm die
Blumen, die er ihr reichte, und steckte das erglühende
Gesichtchen hinein. Dann schaute sie über die Rosen
hinweg tief in seine Augen, in die beim Anblick dieser
leuchtenden, tiefblauen Sterne ein warmer Ausdruck trat.
Sie hielt seinem Blick stand, preßte mit den
flammendroten Rosen zusammen ihre Hände auf das Herz
und sah ihn lange an, als müsse sie sich sein Bild einprägen
für Zeit und Ewigkeit.
»Nun ist es wahr, endlich wahr«, sagte sie verträumt vor
sich hin.

»Ja, nun ist es endlich wahr, Liebling«, sagte der Vater mit
bebender Stimme und zog sein Kind fest an sich, hob
dessen Köpfchen zu sich empor und sah ihm in die
unschuldsvollen Augen.
»Dein Wunsch ist in Erfüllung gegangen. Und nun ist es an
dir, zu zeigen, ob du nicht nur Wünsche haben kannst,
sondern ob du auch Pflichten hoch und heilig hältst.
Vergiß nie, welche Opfer dieser Mann dir bringt, wenn er
dich heiratet. Es ist nun in deine Hand gegeben, ihm dieses
Opfer so leicht wie möglich zu machen. Schäme dich nicht,
ihm deine Liebe zu zeigen, Ita, denn Liebe erzeugt
Gegenliebe. Wenn du ihn immer mit deiner Liebe umgibst,

wird er dir sein Herz nicht auf die Dauer verschließen
können.«
Jetzt liefen helle Tränen über das Antlitz des erschütterten
Mannes, und er zog sein Kind fest an seine Brust.
»Papilein!« sagte da ein weiches, süßes Stimmchen, »ich
werde dir ganz gewiß keine Schande machen.«
Das klang so naiv, daß der Vater unwillkürlich lachen
mußte.
»Na ja, bist ja ein tapferes Kerlchen und hast das Herz auf
dem rechten Flecke; das hast du ja schon oft bewiesen.
Doch nun heißt es für mich leider, euch zu verlassen; ich

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muß den auf mich wartenden Herren wenigstens
persönlich Bescheid sagen, daß ich für sie heute nur wenige

Minuten zu sprechen bin.«
»Einen Augenblick noch, Papi«, bat Roswitha. »Ich will
mich nur ganz schnell umkleiden, und da Mutti und
Gisbert nicht zu Hause sind, ist niemand da, der Herr von
Starkenborn so lange Gesellschaft leisten kann.«
Schon war sie im Nebenzimmer verschwunden. Nach
erstaunlich kurzer Zeit erschien sie wieder. Sie trug ein
duftiges Kleid aus mattgelben Spitzen und war
anzuschauen wie ein Märchenbild. Die wirren Locken
waren geordnet, und die Augen strahlten und leuchteten
wie zwei Sonnen. Sie trug eine mit Wasser gefüllte Vase in
der Hand, steckte die Rosen hinein und stellte sie auf den

Tisch.
»So, Papi, jetzt kannst du meinetwegen gehen.«
»Ist auch allerhöchste Zeit«, erwiderte der und sah nach der
Uhr. »Verflixt spät ist es geworden. Ich werde mich
bemühen, so schnell wie irgend möglich zurück zu sein. In
der Zwischenzeit könnt ihr beide frühstücken.«
Er nickte ihnen noch einmal freundlich zu und verließ
dann eilig das Zimmer.
Nun wurde es Roswitha doch recht beklommen zumute.
Der Vater war nun fort, und ihr lag die Pflicht ob, diesen
schweigsamen, unnahbaren Besucher zu unterhalten. Ihre
Augen streiften mit leiser Scheu seine Gestalt.

»Bitte – lassen Sie uns doch Platz nehmen«, sagte sie mit
einer Unsicherheit, die dem weltgewandten jungen Mädel
sonst fremd war.
»Oder wäre Ihnen ein anderes Zimmer lieber, Herr von
Starkenborn?«
»Wenn es dir recht ist, dann bleiben wir hier, Roswitha«,
entgegnete er und lächelte leicht, als sie zusammenzuckte
und ihn erschrocken ansah.
»Ach ja, selbstverständlich«, murmelte sie dann und senkte,
bis zur Stirn errötend, den Kopf. Sie rückte ihm einen der
zierlichen Sessel zurecht und nahm ihm gegenüber Platz.

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Und als sie sah, mit welcher Unsicherheit der
hochgewachsene Mann auf dem seidenüberspannten

Stühlchen balancierte, das nur für ihre winzige Figur
berechnet war, siegte ihr angeborener Frohsinn über
Verlegenheit und Scheu, und sie lachte hell und lustig auf.
»Ich sehe schon, das ist für so lange Glieder wie die Ihren
keine Sitzgelegenheit. Da nehmen Sie wohl lieber den
Sessel am Kamin, in dem immer mein Vater und mein
Bruder sitzen, wenn sie mich einmal in meinem Reich
aufsuchen.«
Sie wechselten die Plätze, und nun wurde Roswitha wieder
unsicher unter des Grafen Blick, der unverwandt auf ihr
ruhte. Sekundenlang saß sie dann, den Kopf tief gesenkt,
und wagte es nicht, die Augen zu erheben; sie ärgerte sich

unbeschreiblich über ihre Unsicherheit und suchte
krampfhaft nach einem Gesprächsstoff.
»Sie rauchen doch gewiß?« atmete sie dann befreit auf, von
Herzen froh, daß ihr diese Frage eingefallen war.
Auf ihr Klingeln erschien ein Diener, den sie beauftragte,
Zigarren und Zigaretten zu bringen. Als er damit erschien,
gab sie ihm noch leise den Auftrag, für ein Frühstück Sorge
zu tragen, worauf der Diener sich sofort zurückzog.
»Zigarren oder Zigaretten?« fragte sie dann ihren
ungesprächigen Gast.
»Zigaretten, wenn ich bitten darf.«
Sie schob ihm ein Zigarettenkästchen, Streichhölzer und

Aschenbecher hin, und er sah sie prüfend an.
»Nach dir, Roswitha.«
»Danke, ich bin eine sogenannte Sonntagsraucherin und
rauche nur ganz leichte Damenzigaretten.«
Da verbeugte er sich leicht, entnahm dem Kästchen eine
Zigarette, und sie sah zu, wie er sie in Brand steckte.
Coco, den seine kleine Herrin ganz und gar vergessen hatte
und der noch immer in seinem Ringe schaukelte, war den
ungewohnten Vorgängen mit Neugier gefolgt. Doch mit
der Zeit wurde es ihm langweilig, und er machte sich
energisch bemerkbar, indem er zornige Rufe ausstieß.

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»Affe!« kreischte er zornig. »Affe! Affe!«
»Coco!« rief Roswitha entsetzt und drohte dem Papagei. Sie

trat zu ihm und hakte den Ring von der Schnur, die von
der Decke des Zimmers herabhing.
»So, du Bösewicht, für deine Unart kommst du nun in dein
Bauer.«
»Affe! Affe!« schrie Coco noch einmal aufgebracht, ehe
Roswitha mit ihm im Nebenzimmer verschwand.
Sie kehrte schnell wieder zurück und lachte den Grafen an,
halb verlegen, halb schelmisch.
»Das ist ein ganz toller Bursche. Zuerst wollte er durchaus
nicht ›Affe‹ sagen, und nun, da er es nicht soll –
unglaublich!«
»Wem war denn diese liebevolle Bezeichnung zugedacht?«

erkundigte sich der Graf lächelnd.
»Ach, so einem Affen.«
»Einem richtigen aus dem Urwalde?«
»O nein«, lachte sie lustig auf. »Den ich meine, der ist ganz
und gar nicht urwaldmäßig, im Gegenteil, er tut sehr
kultiviert, sieht immer aus, als wäre er einem Modesalon
entsprungen, und langweilt seine Mitmenschen mit den
blödesten Schmeicheleien.«
»Darf man einige davon erfahren, Roswitha?«
»Ach, die sind wirklich zu affig«, entgegnete sie
geringschätzig, »er will mich durchaus heiraten, das ist
doch schon reichlich dumm von ihm, und er verspricht mir

die unglaublichsten Dinge, wobei er Süßholz raspelt, daß
mir dabei immer ganz übel wird.«
»Also magst du es nicht gern, wenn man dir süße Dinge
sagt?«
»Nein, die sind doch alle erlogen, denn ich weiß recht gut,
daß das alles nur dem Vermögen meines Vaters gilt. Meine
Person würden diese Herren doch nur als notwendiges
Übel mit in Kauf nehmen und mich weit von sich
schieben, wenn sie erst im Besitz des ersehnten Geldes
wären«, erklärte sie mit einem Ernst, der bei dem sonst so
unbekümmerten Mädchen überraschte.

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»Roswitha – und ich? Ich sehe dich heute zum erstenmal
und habe trotzdem bei deinem Vater um dich geworben«,

sagte er und sah sie dabei durchdringend an.
Obgleich flammende Röte in ihr zartes Antlitz stieg, hielt
sie seinem Blicke stand, offen und frei.
»Warum Sie um mich warben, das weiß ich ja«, entgegnete
sie tapfer. »Ich habe es gewollt und werde mich darum
niemals beklagen.«
Nun senkte sie den Kopf, und es herrschte eine tiefe Stille
in dem Zimmer, daß einer des anderen Herzschlag zu
hören glaubte.
»Und warum hast du das gewollt, Roswitha?«
Ganz weit beugte er sich vor, so daß sein Kopf fast den
ihren berührte, und wenn sie den Blick erhoben hätte,

dann wäre es ihr nicht entgangen, mit welcher Spannung er
ihre Antwort erwartete.
Doch sie hob das Gesicht nicht; sie verkrampfte die Hände
im Schoß und sagte leise:
»Weil ich mich krank sehnte… nach Ihnen… nach
Königsgnade, zu dem es mich hinzieht mit
unwiderstehlicher Gewalt. Ich bin ganz elend geworden in
all den Wochen.«
Sie konnte nicht weitersprechen. Tränen erstickten ihre
Stimme.
Der Mann vor ihr saß noch immer weit vorgebeugt da,
verharrte minutenlang regungslos. Seine Brust hob und

senkte sich hastig, sein Atem ging schnell.
»Roswitha«, sagte er endlich, und ein leises Beben war in
seiner Stimme, »ich danke dir für deine Aufrichtigkeit,
danke dir für die Tapferkeit, mit der du mir deine Gefühle
offenbarst. Ich will dir in dieser Stunde nichts versprechen,
ich kenne dich ja noch gar nicht. Soweit es in meiner
Macht steht, will ich dafür Sorge tragen, daß du deinen
Schritt nie bereust, das kann ich dir heute schon mit
bestem Gewissen zusagen.«
Er ergriff ihre Hände, die nun eiskalt in seinen warmen,
kräftigen lagen, und drückte seine Lippen darauf.

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Sie fuhren beide zusammen, es klopfte an der Tür. Ein
Diener erschien und meldete, daß das Frühstück serviert

sei.
»Gut, wir kommen«, sagte Roswitha hastig und erhob sich.
Sie sah den Grafen nicht an, sie bat ihn nur leise, ihr zu
folgen. Dann ging sie so eilig vor ihm her, als fürchte sie
seine Nähe.
Erst am nächsten Morgen bei der Frühstückstafel sah der
Graf die Seinen wieder. Zwar suchten sie ihre alte
Gelassenheit zu wahren, doch die Unruhe, in der sie sich
erklärlicherweise befanden, ließ sich nicht ganz verbergen.
Aber diese Frauen, die von jeher Selbstbeherrschung geübt
hatten, fragten nicht, erwähnten den vergangenen Tag mit
keiner Silbe, ehe nicht das von Tag zu Tag einfacher

werdende Frühstück beendet war. Überall gerechnet und
gespart, um sich möglichst lange über Wasser halten zu
können.
Erst als Starkenborn sein Butterbrot verzehrt und den
Kaffee getrunken, als er sich in seinen Stuhl gelehnt und
eine Zigarette in Brand gesetzt hatte, glaubten die drei
Frauen, es vor Ungeduld kaum noch aushalten zu können.
Gespannt hingen ihre Augen an seinen Lippen.
»Ich habe mich gestern mit Fräulein Hartmann verlobt«,
sagte er endlich und tat es mit einer Ruhe und
Gelassenheit, als gehöre eine Verlobung für ihn zur
Tagesordnung. »Ich kann euch zudem die erfreuliche

Mitteilung machen, daß ich überrascht, und zwar
angenehm überrascht bin. Der Kommerzienrat ist so wenig
Emporkömmling, wie wir alle es sind; denn schon sein
Großvater und Vater waren Leute, die den besten
Gesellschaftskreisen angehörten. Ebenso die Verwandten
seiner Gattin, die durchaus Weltdame ist. Der
Kommerzienrat macht in jeder Hinsicht den Eindruck eines
vornehmen Herrn der alten Schule, und der Sohn, Doktor
Gisbert Hartmann, ist ebenfalls ein vornehmer, gewandter
Weltmann, wie es bei solchen Eltern gar nicht anders
möglich ist. Die Villa, in der die Familie wohnt, entspricht

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vollkommen dem kultivierten Geschmack dieser Leute.
Und endlich Roswitha – meine Braut.«

Jetzt ging ein feines Lächeln über seine herrischen Züge,
was den Damen keineswegs entging.
»Was die kleine Roswitha anbetrifft«, fuhr er fort, »so ist sie
ungewöhnlich schön, zugleich kindlich naiv, eigenwillig
und spielerisch – ein verwöhntes, verhätscheltes Kind, dem
zärtliche Eltern- und Bruderliebe das Leben zum Paradiese
gemacht haben. Somit verstoße ich mit dem Eingehen
dieser Heirat zwar insofern gegen das Hausgesetz, als
meine zukünftige Frau bürgerlichen Standes ist – im
übrigen aber entspricht sie allen Anforderungen. Sie hat
eine tadellose Vergangenheit, ist hellhaarig und blauäugig.
Und der nötige Stolz dürfte sich mit der Zeit ebenfalls

finden.«
»Also gefällt dir deine Braut, Odalrich?« fragte die
Schwester leise.
»Gefallen? – Ja. – Es dürfte nicht so leicht einen Menschen
geben, der dem Zauber dieses kleinen Persönchens
widerstehen kann. Allerdings ist sie noch so sehr Kind, daß
sie – spielt, je nach Lust und Laune. Heute verlangt sie
mich mit dem ganzen Ungestüm ihres Wesens zum Manne,
um meiner vielleicht schon nach Wochen überdrüssig zu
sein. Vielleicht bin ich ihr kaum mehr als ein Spielzeug.
Und wenn sie eines Tages erkennt, daß ich gar nicht der
Märchenprinz bin, von dem sie geträumt hat, dann wirft

sie mich weg. Der Vater kennt seine Tochter und legt
vertrauensvoll ihr Geschick in meine Hände. Er verlangt für
die Hilfe, die er uns angedeihen läßt, nichts weiter, als daß
ich gut zu seinem Kinde bin.«
»So hat die Kleine nichts von dem an sich, was diese
reichen, übersättigten Mädchen zumeist kennzeichnet?«
fragte die Großmutter.
»Nein, nichts. Nur daß sie durch Liebe maßlos verwöhnt
ist.«
»So können wir also noch ganz froh sein«, sagte die
Greisin.

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»Ja, Großmutter, das können wir«, antwortete er sehr ernst.
»Und darum wollen wir nie vergessen, daß sie es ist, die

uns aus aller Not rettet.«
Die Damen erwiderten hierauf nichts, und der Graf nahm
wiederum nach längerem Schweigen das Wort.
»In sechs Tagen begeht Roswitha ihren neunzehnten
Geburtstag. An diesem Tage soll die Verlobung gefeiert
werden, wozu ihr von meinen künftigen Schwiegereltern
herzlichst eingeladen seid. Ich werde Roswitha übrigens
noch heute hierherbringen, um sie euch vorzustellen.«
Als der Graf eine Stunde später vor seiner Braut stand und
sie bat, ihn zu den Seinen zu begleiten, war Roswitha von
diesem Vorschlag keineswegs entzückt, obwohl sie gestern
noch förmlich danach gefiebert hatte, das Königsgnader

Schloß von innen kennenzulernen. Doch jetzt, da sich ihr
die Gelegenheit dazu bot, überfiel sie eine ihr selbst
unerklärliche Angst.
»Mutti ist nicht zu Hause. Sie ist in der Stadt, um
Besorgungen zu machen«, versuchte sie einzuwenden.
»Und bei ihrer Rückkehr weiß sie dann nicht, wo ich
geblieben bin. Mutti ist sehr ängstlich.«
»Wir lassen Bescheid zurück, daß wir nach Königsgnade
gefahren sind«, entgegnete der Graf zwar freundlich, doch
in einem Ton, der keine Widerrede duldete.
So kleidete sie sich rasch an und stand nach zehn Minuten
vor ihm, zaghaft und sehr niedergeschlagen.

Vor der Villa wartete noch der Wagen des Grafen, eine
elegante Equipage, die mit zwei herrlichen Pferden
bespannt war.
Der Graf hob seine Braut in die Polster, und fort ging es in
scharfem Trab.
Am Schloßportal wollte Odalrich ihr beim Aussteigen
behilflich sein; allein sie wehrte sich dagegen.
»Nein, laß mich.« Schon war sie aus dem Wagen
gesprungen.
Wie gebannt hingen ihre Blicke an dem imposanten Bau.
»Ich höre meine Angehörigen kommen«, raunte Odalrich

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ihr zu. »Reiße dich endlich von dem Anblick des Schlosses
los. Du kannst es späterhin noch oft genug von innen und

außen betrachten.«
Er nahm ihren Arm und führte sie die Freitreppe hinauf.
Sie zitterte an allen Gliedern.
»Immer noch ängstlich, du törichtes Kind?« flüsterte er ihr
zu. »Wenn ich bei dir bin, hast du dich vor nichts und
niemand zu fürchten. Merke dir das ein für allemal, kleine
Ita.«
Aus dem Portal waren soeben die drei Gräfinnen
herausgetreten.
»Hier bringe ich euch Fräulein Roswitha Hartmann, meine
Braut – meine Großmutter«, sagte er vorstellend.
Roswitha beugte sich schweigend über die feine

Altfrauenhand, die sich ihr langsam entgegenstreckte.
»Ich heiße Sie willkommen, liebes Kind, als die Braut des
letzten Grafen Starkenborn und die zukünftige Herrin von
Königsgnade.«
Wie kalt, wie unpersönlich es klang! Roswitha war es, als
griffe eine eiskalte Hand nach ihrem Herzen.
»Danke«, stammelte sie mit entfärbten Lippen, und der
Blick, der zu der unnahbaren Frau hinging, war wie der
eines scheuen Rehes.
Da lächelte die alte Gräfin, und ihre Hand fuhr über das
seidenweiche Gelock des verängstigten Kindes.
»Nur keine Furcht, Dollarprinzeßchen; wir beißen so kleine

Mädchen wirklich nicht.« Die Greisin ergriff eine Locke
und ließ sie prüfend durch die Finger gleiten. »Scheint
nicht nachgeholfen zu sein. Prachtvoll, wirklich
prachtvoll«, murmelte sie.
»Ich habe es bestimmt nicht blondieren lassen, Frau
Gräfin.«
Die Greisin lächelte und strich wie liebkosend über die
zarte Wange des Mädchens.
Der Graf lächelte auch, umfaßte die Schultern seiner Braut
und führte Roswitha der Mutter zu.
»Auch ich heiße Sie als Verlobte meines Sohnes herzlich

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willkommen.«
Das klang schon etwas freundlicher, und Roswitha atmete

erleichtert auf.
»Und hier meine Schwester Erdmuthe, Roswitha.«
»Willkommen in Königsgnade, Fräulein Hartmann«, sagte
das stolze Mädchen ernst. »Ihnen haben wir es zu danken,
daß wir die Heimat nicht verlassen müssen.«
»Oh, warum danken Sie mir?« fragte Roswitha verwirrt,
und ihre tiefblauen Augen schauten fast entsetzt auf die
junge Gräfin. »Ich habe doch gar kein Geld, das hat doch
mein Vater.«
»Das ist dasselbe, kleine Dollarprinzessin«, sagte nun die
alte Gräfin. »Erdmuthe hat recht – wir müssen Ihnen
danken.«

Sie erfaßte Roswithas Hand und betrat mit ihr das Schloß.
Das junge Mädchen durchschritt schweigend, beinahe
verstört, einen Saal, ein Zimmer nach dem anderen. Zu
anderer Zeit hätte dieser Anblick sie in helles Entzücken
versetzt. Heute aber kam sie sich vor wie ein Kind, das die
Mutter verloren hat und in die Hände böser Menschen
gefallen ist.
Die Gräfinnen hatten sich zur Verlobungsfeier gerüstet und
waren im Begriff, zur Stadt zu fahren. Da erschien, auch
festtäglich gekleidet, der Graf.
»Ich habe lange darüber nachgedacht, was ich Roswitha als
Verlobungsgeschenk überreichen könnte«, sagte er mit

einer Hast, die man sonst nicht an ihm gewohnt war. »Es
muß schon etwas Eigenartiges sein, wenn es die Beachtung
des verwöhnten Kindes finden soll. Nun bin ich auf den
indischen Ring aus unserem Familienbesitz verfallen. Was
meint ihr dazu, Großmutter, Mama und Erdmuthe?«
Mutter und Tochter nickten, und auch die alte Dame war
einverstanden.
»Das ist ein guter Gedanke von dir, Odalrich. Keine
Starkenborn konnte ihn bisher tragen, da er für eine ganz
kleine Hand bestimmt ist, aber deiner Verlobten dürfte er
passen. Ihn fortzugeben kann und darf uns nicht

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schwerfallen. Es wird ihn ja immerhin eine Gräfin
Starkenborn tragen. Außerdem, wäre Königsgnade in die

Hände der Gläubiger gefallen, so hätten die kaum vor dem
Familienschatz haltgemacht. Wer weiß, in wessen Besitz
der Ring dann gekommen wäre.«
Graf Oldalrich nickte, zog das Etui mit dem Ring aus der
Brusttasche, öffnete es und reichte es der Großmutter hin.
Noch einmal ging das Familienkleinod von Hand zu Hand.
Dann war es Zeit aufzubrechen.
Ohne ein Wort zu verlieren, stiegen die vier Starkenborn in
den bereits vorgefahrenen Wagen und fuhren ebenso
schweigend der Stadt zu.
Beim Eintritt in die Villa des Kommerzienrates atmeten die
Damen auf, als wäre eine schwere Last von ihnen

genommen. Sie waren zugänglicher als sonst, als das
Ehepaar Hartmann sie begrüßte.
Dann erschien auch Roswitha – glückstrahlend, vor Freude
zitternd.
Hier im Elternhause, in Gegenwart der Ihren, fürchtete sie
die Angehörigen des Grafen nicht. So lernten diese nun erst
das Sonnenkind so richtig kennen.
»Das ist meine Freundin Angela«, stellte Roswitha diese mit
herzlichem Lächeln vor. »Ich verdiene ihre Freundschaft
eigentlich gar nicht, denn sie ist viel besser als ich.«
»Ita, mache dich doch nicht immer schlechter, als du bist«,
wehrte das sanfte Mädchen erschrocken ab. »Würde ich

dich sonst so lieb haben, wenn du böse wärst?«
»Ach, du bist eben, wie dein Name schon sagt, ein Engel«,
meinte Roswitha lachend.
Bei der Tafel, an der es an nichts fehlte, unterhielt die
Kleine alle Anwesenden mit ihrem entzückenden
Geplauder. Ihr Charme war einfach unwiderstehlich.
Nach der Suppe erhob sich der Kommerzienrat und gab die
Verlobung seiner Tochter bekannt. Er tat es mit wenigen
aber herzbewegenden Worten.
Dann sprach der Graf. Kurz, knapp und klar dankte er für
alle Güte und das ihm entgegengebrachte Vertrauen. Er

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versicherte, es würde sein Bestreben sein, sich beider
würdig zu erweisen.

Darauf nahm er wieder Platz und steckte der Braut außer
dem schlichten glatten Verlobungsring auch noch den Reif
an den Finger, den er wenige Stunden vorher dem
Familienschatz entnommen hatte.
»Paßt er?« fragte gespannt die alte Gräfin, die dem Enkel an
der Tafel gegenübersaß.
»Wie angegossen«, gab dieser zurück und hob dabei
Roswithas Hand hoch. »Ich muß hierzu eine Erklärung
abgeben«, sagte er dann. »Diesen Ring erhielt einer meiner
Vorväter von einem Inder als Dank für irgendeine
Gefälligkeit. Es soll ein Zauberring sein. Das sagt man ja
vielen indischen Ringen nach«, ergänzte er spöttisch. »Er

soll nämlich die Gabe besitzen, jenes Herz zur Liebe zu
zwingen, das seine Besitzerin dazu ausersieht. Bisher hat
keine Gräfin Starkenborn diesen Ring tragen können, da er
so klein ist, daß er bisher keiner unseres Geschlechtes
paßte. Roswitha ist also die erste, die diesen Zauberring an
unbewehrten Männerherzen ausprobieren kann.«
»Na, hören Sie mal, das ist aber dann ein ganz unerhörter
Leichtsinn von Ihnen, Graf«, schmunzelte Fürst Hallnitz,
»diesem kleinen Racker Roswitha ein so verflixtes
Zauberding in die Patschen zu geben. Sie verdreht ja
ohnehin den Männern schon genügend die Köpfe.«
»Mit dem Ring hat es aber noch etwas Besonderes auf sich«,

fuhr der Graf lächelnd fort. »Nur jenes Herz, dem sich das
der Besitzerin zu eigen gibt, wird von dem Zauber berührt
und erliegt ihm.«
»Heiliger Bimbam! Dann können Sie sich ja auf etwas
gefaßt machen, Graf!« Jetzt lachte der Fürst prustend auf.
»Sei du lieber still, Onkel«, drohte Roswitha ihm, während
eine flammende Röte ihr süßes Gesicht übergoß, »sonst
sollst du der erste sein, an dem die Kraft dieses Ringes
erprobt wird.«
»Wenn meine liebe Ehehälfte nichts dagegen hat – dann
bitte.« Er schmunzelte immer schalkhafter und behaglicher.

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»Darf ich den Ring einmal sehen, Graf Starkenborn? Ich
beginne nämlich, mich für ihn zu interessieren. Oder gibt

es eine Bedingung, daß der Ring nicht mehr abgenommen
werden darf, wenn er erst mal an einem Finger sitzt?«
»So weit reicht mein Wissen leider nicht«, entgegnete der
Graf. Es lag etwas so Ironisches in seinen Worten, daß der
Fürst ihn aufmerksam ansah.
»Mein lieber Freund, wie ich sehe, scheinen Sie nicht
allzusehr an die Zauberkraft des Ringes zu glauben?«
forschte er, und das Lächeln, das daraufhin auf dem Antlitz
des Grafen erschien, machte seine Vermutung zur
Gewißheit.
»Ich möchte dir den Ring gern geben, Onkel, doch er geht
nicht ab. Hilf mir doch bitte, Odalrich«, bat Roswitha.

Aber wie sehr sich der Graf auch bemühte – der Ring ließ
sich am Finger wohl hin und her drehen, aber nicht wieder
von ihm abziehen.
Es war plötzlich sehr still im Zimmer geworden. Alle
gewahrten mit heimlichem Unbehagen, wie nach und nach
jeder Blutstropfen aus des Grafen Gesicht wich.
»Das habe ich nicht geahnt«, murmelte er, als müsse er sich
entschuldigen. »Wir werden morgen einen Juwelier
aufsuchen und den Ring aufsägen lassen.«
»Nein… Nein!« wehrte die kleine Braut. Sie umklammerte
den Ringfinger, als fürchte sie, man könne ihr das
Schmuckstück entreißen.

Mit Entzücken blickte sie auf den großen grünlichen Stein,
der so stark funkelte, daß er fast das Auge blendete. Wie
Feuer lohte es in seinem Innern, und während Roswitha
auf ihn blickte, war es ihr, als blicke sie in eine
unermeßliche Tiefe.
»Zeig mal, Ita, sitzt der Ring denn wirklich so fest?« fragte
Gisbert die Schwester, die ihm daraufhin die Hand
entgegenstreckte.
»Tatsächlich«, stellte er fest, nachdem er den Ring nach
allen Seiten hin und her gedreht hatte. »Da kann einem
wirklich bald gruseln.«

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»Wenn man ein solches Hasenherz besitzt wie du… dann
ja«, neckte ihn die Schwester. »Doch nun habe ich über

diesen Ring wirklich mein Geschenk für Odalrich
vergessen. Einen Augenblick!«
Schon war sie aus dem Zimmer geeilt, kehrte aber nach
zehn Minuten wieder zurück, mit roten Wangen und mit
Augen, die vor freudiger Erregung strahlten.
»Darf ich die Herrschaften bitten, uns zu folgen«, erklärte
sie mit gehobener Stimme. Sie nahm den Arm des
Verlobten und führte diesen, die übrigen folgten ihnen, die
Treppe hinab, bis zu dem Portal der Villa.
Draußen stand ein Wagen, eine große Luxuslimousine, an
deren Steuer ein Chauffeur saß.
»Hier ist mein Verlobungsgeschenk, Odalrich«, jubelte

Roswitha. »Den Fahrer bekommst du gratis und franko
dazu, nicht wahr, Lorenz?« Sie lachte zu dem Mann hin,
der nun ausstieg und sich tief verneigte.
»Du freust dich ja gar nicht, Odalrich«, sagte Roswitha
enttäuscht, als der Graf regungslos verharrte.
»Doch, Roswitha. Wie kannst du nur auf eine derartige
Vermutung kommen?« fuhr er aus tiefen Gedanken auf.
»Ich bin nur überrascht, sehr sogar. Hab vielen Dank,
kleine Ita.« Er zog ihre Hände an die Lippen, und sie
strahlte ihn an.
»Von meinem eigenen Gelde habe ich ihn gekauft«, erklärte
sie mit allerliebster Wichtigkeit. »Papi hat auch nicht eine

Mark dazulegen brauchen.«
Jetzt wurde auch der Wagen von den anderen bewundert.
Dann begab man sich wieder ins Haus zurück.
Endlich war der Hochzeitstag da. Ein sonniger Oktobertag,
wie er nicht schöner gedacht werden konnte.
Schon am Tage vorher hatten sich viele Gäste in
Königsgnade eingefunden, die voller Erwarten die Stunde
herbeisehnten, in der sie die Braut des stolzen Odalrich zu
Gesicht bekommen würden.
Man hatte in der Hauptsache ältere Herrschaften zu dem
Fest geladen. Zu der Jugend zählten außer dem Grafen

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Bernhard und seiner Frau Annelore nur noch zwei Vettern
und eine Base. Und diese waren eigentlich die einzigen, die

mit der »Mißheirat« des Familienoberhauptes
einverstanden waren. Denn den älteren Herrschaften
verursachte sie schwere Pein. Und sie alle meinten, es wäre
wohl auch noch auf andere Art Rat zu schaffen gewesen.
Nichtsdestoweniger waren sie sehr begierig, das neue
Familienmitglied endlich kennenzulernen.
Annelores Anwesenheit erregte bei mehr als einem
Mißfallen. Bisher hatte Bernhard nicht die
»Geschmacklosigkeit« besessen, seine Frau bei einer
Familienfestlichkeit zu präsentieren. Doch diesmal hatte er
nicht lange gefragt, sondern die Gattin einfach mitgebracht.
Nun ja, wenn sogar Odalrich solche Geschichten machte

und unter seinem Stande freite, was sollte man da von
anderen verlangen? Er ging ihnen ja direkt mit schlechtem
Beispiel voran!
Roswitha war begreiflicherweise sehr aufgeregt und
erwartete den Verlobten mit fieberhafter Ungeduld. Sie sah
ganz elend aus von all dem Trubel der letzten Wochen.
»Warum so aufgeregt?« fragte der Graf Roswitha, die an
einem Tisch lehnte und vor Erschöpfung kaum stehen
konnte.
»Hast du den zweiten Ring mitgebracht, Odalrich?« fragte
sie ängstlich, statt eine Antwort zu geben.
Er lächelte. »Gewiß, Kind. Komm, wir stecken ihn auf den

Zeigefinger der linken Hand. Bei der Trauung werden die
Ringe ja sowieso gewechselt.«
Dann ging es zum Standesamt.
Als Graf Bernhard Roswitha zum erstenmal sah, war er
verblüfft.
Wie hatte Odalrich auch nur eine Minute zögern können,
dieses schöne Geschöpf zu seiner Gattin zu machen?
Nach der standesamtlichen Trauung nahmen das junge
Paar, Eltern, Bruder und die Trauzeugen im Hause des
Kommerzienrats ein kleines Frühstück ein. Dann begaben
sich alle nach Königsgnade, das in vollstem Festschmuck

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prangte. Die auswärtigen Gäste begannen sich bereits
einzufinden. Der Bruder der Kommerzienrätin war noch

nicht erschienen, wurde aber jeden Augenblick erwartet.
Als Roswitha fertig angekleidet war, weinte die
Kommerzienrätin plötzlich so laut auf, daß die junge Braut
erschrocken auffuhr: Ohne ihres Kleides zu achten, kniete
sie vor der Mutter nieder, die wie gebrochen in einem
Sessel lehnte, und schmiegte sich fest an sie an.
Die Tränen der Mutter fielen in den Brautkranz der Tochter.
»Wer ist denn hier eigentlich die Unvernünftigste, unsere
Mutti oder unsere Kleine?« fragte der Kommerzienrat, der
soeben in das Zimmer trat und die seltsame Gruppe sah.
Unmittelbar hinter ihm erschienen die drei Gräfinnen, der
Fürst und Gisbert. Sie alle wünschten die Braut zu sehen,

bevor sie an den Altar trat.
Zugleich mit ihnen hatte Odalrich das Zimmer betreten,
und ein Schatten flog über seine Züge, als er seiner jungen
Gattin ansichtig wurde.
Rasch versuchte sie sich aus den Armen der Mutter zu
lösen; doch es war ihr nicht so schnell möglich, wollte sie
nicht den hauchdünnen Schleier zerreißen, der sie
umwallte.
Da kam der Vater zu Hilfe.
»Aber Mutti, wer wird denn so unvernünftig sein«, sagte er
gütig zu der fassungslos schluchzenden Frau. »Ita ist uns ja
nicht verloren, sie bleibt sogar in unserer nächsten Nähe,

und wir können sie sehen, so oft wir wollen.«
Roswitha erhob sich langsam. Sofort war die Zofe an ihrer
Seite, ordnete etwas an Kleid und Schleier und atmete
erleichtert auf, daß beides nicht so mitgenommen war, wie
man hatte befürchten müssen.
Der Graf trat jetzt zu seiner Braut. Er bat sie, Platz zu
nehmen, damit er ihr den Schmuck anlegen könnte, ohne
den die Braut eines Starkenborn nicht vor den Altar treten
durfte.
Wie das in der goldenen Kassette, die den Schmuck barg,
glänzte und gleißte!

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Roswitha mußte die Augen schließen, als sie einen Blick
hineintat.

Die Hände des Grafen zitterten ein wenig, während er das
Geschmeide befestigte. Alle blickten wie gebannt auf die
wunderschöne Braut, die wie ein Märchenbild vor ihnen
stand. Geheimnisvoll und dunkel schauten die Augen aus
dem weißen Antlitz.
Sie erschien allen seltsam fremd, und der Kommerzienrat
mußte sich abwenden, weil ihm die Tränen in die Augen
traten.
Nun war Roswitha mit dem Schmuck aus dem
Starkenborner Familienschatze geschmückt. Sie trug ihn
mit der ganzen Unbekümmertheit, die ihr eigen war, und
konnte sich nicht erklären, warum alle anderen so tiefernst,

ja geradezu erschüttert waren.
Dann wanderte sie von Arm zu Arm. Alle wagten sie kaum
zu berühren, küßten nur die weiße Stirn unter der
Myrtenkrone und traten dann stumm zurück.
Roswithas Blicke suchten den Gatten, der schweigend etwas
abseits stand. Sie schritt auf ihn zu und legte ihre Hand auf
seinen Arm.
Dann schritt das junge Paar davon.
Was nun folgte, war für Roswitha wie ein Märchen, das an
ihr vorüberglitt wie ein Traum. Sie wußte kaum, was mit
ihr geschah, und ebensowenig sah sie die prüfenden und
entzückten Blicke, die auf ihr ruhten.

Erst als sie an der festlich geschmückten Tafel saß, beim
Anblick der lachenden und schmausenden Gäste, fand sie
sich in die Wirklichkeit zurück. Zum Essen hatte sie weder
Lust noch Zeit. Es gab ja allzuviel des Neuen und
Interessanten zu beobachten. Alle die vielen unbekannten
Menschen, deren Blicke mit mehr oder minder
freundlichem Ausdruck auf sie gerichtet waren, lenkten sie
ab.
Und dort… dort saß ja auch Frau Viola. Scharf sah sie zu
ihr herüber, und unwillkürlich überlief es Roswitha kalt bei
dem wahrhaft teuflischen Ausdruck ihres Gesichts.

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Eben trank sie dem Grafen zu, sie erhob ihr Glas mit einer
betont vertraulichen Gebärde.

Oder gab sie ihm etwa ein Zeichen, dessen Bedeutung nur
sie beide kannten?
In Roswitha erwachte Mißtrauen. Verstohlen ging ihr Blick
zu dem Gatten hin. Der hatte den heimlichen Gruß der
schönen Frau bemerkt, denn er tat ihr Bescheid, ebenso
heimlich und vertraut, und er lächelte dabei; eigenartig und
seltsam war dieses Lächeln.
Roswitha war es, als öffnete sich vor ihr ein Abgrund, der
viele Schrecknisse in seiner Tiefe barg, die sie bisher weder
kannte noch ahnte. Das Herz tat ihr plötzlich so weh, daß
sie beide Hände darauf preßte. Sie stöhnte auf, ganz leise.
Doch der Gatte vernahm es und neigte sich zu ihr hin.

»Roswitha, was hast du, Kind, du bist ja plötzlich so blaß?«
»Ich habe nichts«, wehrte sie hastig ab, »ich bin wohl nur
müde.«
»Bald ist ja alles überstanden, kleines Mädchen«, tröstete er,
»und dann fahren wir beide in die weite Welt hinaus.
Freust du dich darauf, Roswitha?«
»Ja… nein, ich weiß nicht«, stammelte sie verwirrt. Sie sah
wie gebannt zu der Frau hinüber, die sich an ihrer
Verwirrung geradezu zu weiden schien und deren Gesicht
ein so höhnisches Lächeln verzerrte, daß es Roswitha wie
eine Teufelsfratze erschien.
Nun schrak sie heftig zusammen, denn Frau Viola beugte

sich vor und trank auch ihr zu.
»Nicht wahr, kleine Gräfin, nichts geht über ein reines
Gewissen«, sagte sie lächelnd, und es war an der Tafel
außer Roswitha nur noch Angela, die den Sinn dieser
Worte verstand.
»Roswitha, was soll das bedeuten, was will diese Frau von
dir?« wandte sich der Gatte an sie.
»Ich… ich weiß nicht«, wich sie seiner Frage aus.
»Nun, das kommt mir aber höchst sonderbar vor«, meinte
er ungläubig.
»Mir auch«, entgegnete Roswitha und warf den Kopf in den

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Nacken, »ein Mann, der an der Hochzeitstafel mit einer
anderen Frau heimlich Zeichen tauscht.«

»Roswitha, es ist mir hier nicht möglich, auf diese
unerhörte Beschuldigung näher einzugehen«, sagte er leise,
»du wirst mir jedoch später erklären müssen…«
»Jawohl«, gab sie kurz zurück, »denn was ich behaupte,
kann ich auch verantworten.«
Sie schauerte zusammen wie im Fieber. Nahm denn dieses
Essen gar kein Ende?
Sie war kaum noch imstande, die Blicke Frau Violas zu
ertragen.
Was wollte sie überhaupt von ihr? Was hatte sie nur?
Sahen die Umsitzenden denn gar nicht, was hier vor sich
ging, sah keiner von ihnen die Teufelsfratze dieser Frau?

Endlich, endlich wurde die Tafel aufgehoben, und ohne
rechts oder links zu schauen, eilte Roswitha aus dem Saale
in ihr Ankleidezimmer.
In dem Vorzimmer, das die Gemächer der jungen Gattin
abschloß, hatten sich die nächsten Angehörigen
versammelt, um das junge Paar vor der Abreise noch
einmal zu sehen und ihm Lebewohl zu sagen. Außerdem
hatten sie noch eine Überraschung für Roswitha. Gisberts
und Angelas Herzen hatten sich nämlich endlich gefunden,
heute, in all dem Trubel. Die Verlobung sollte sogar noch
bekanntgegeben werden, ehe das junge Paar abgereist war.
Starkenborn war schon anwesend; es fehlte also nur noch

Roswitha.
Endlich trat auch sie ein. Sogleich fiel ihr Angela um den
Hals und lachte und weinte vor Freude.
»Ita, ich bin ja so glücklich, so unbeschreiblich glücklich!«
Und obgleich sie der Freundin nicht verriet, worüber sie
eigentlich glücklich war, hatte diese es dennoch sofort
erfaßt.
»Na, also, lange genug hat es ja gedauert, daß ihr…«
Sie verstummte und starrte mit entsetzten Augen nach der
Tür, durch die soeben Frau Viola eintrat. Roswitha hatte
das Gefühl, als risse ihr eine unsichtbare Hand das Herz

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aus der Brust.
Auch alle übrigen sahen der Eintretenden mit Befremden

entgegen. Aber ohne sich um die eisige Ablehnung zu
kümmern, mit der jedermann ihr augenscheinlich
begegnete, schritt sie zielbewußt auf Roswitha zu, die
entsetzt vor ihr zurückwich und sich an ihren Vater
klammerte.
»Gut, daß ich Sie noch treffe, kleine Gräfin«, sagte Frau
Viola in einem Ton, der jeden empörte. »Ich komme, um
Ihnen zu der gewonnenen Wette zu gratulieren.«
»Viola!« rief Angela entsetzt aus, flog auf ihre Schwägerin
zu, faßte deren Arm mit beiden Händen und sah ihr in die
funkelnden Augen, flehend, beschwörend.
»Viola, liebe Viola, sei doch gut«, bettelte sie mit

zuckenden Lippen.
Doch diese Worte hörte Viola nicht. Ihre Augen ruhten
funkelnd auf dem jungen Weibe, das sich noch immer fest
an den Vater geklammert hatte und aussah, als müsse es
jeden Augenblick zusammenbrechen. Wilder Triumph
stand in den Augen der gefährlichen Frau. Sie stieß die
kleine Schwägerin zur Seite, daß sie taumelte.
»Was die Kleine nur hat«, sagte sie in einem Ton, dessen
gespielte Freundlichkeit in keinem Verhältnis zu ihren
flackernden Blicken und ihren verzerrten Zügen stand. »Die
kleine Gräfin hat mit mir doch gewettet!«
»Viola!« schrie Angela auf.

»Ruhig!« fuhr diese sie an und wandte sich dann an den
Grafen, der gleich allen anderen wie erstarrt dastand.
»Ihre kleine Gattin scheint sich nicht gerade der
gewonnenen Wette zu erfreuen«, dabei zeigte sie hämisch
lächelnd auf Roswitha. »Ach, Sie wissen wohl noch gar
nicht, worum es sich handelt? Die kleine Frau ist nämlich
eine Wette eingegangen, daß es ihr gelingen würde, dem
Grafen Starkenborn, dem ›Mann ohne Herz‹, Ehefesseln
anzulegen, was bisher alle anderen Frauen vergeblich
erstrebten. Angela kann es bezeugen, sie war dabei, als die
Wette abgeschlossen wurde.«

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Sie blickte triumphierend im Kreise umher. Dann fuhr sie
mit ganz besonderer Betonung fort: »Graf Starkenborn als

Wettobjekt! Wenn das keine Sensation ist! Jedenfalls würde
ich es als Unterlassungssünde betrachten, sie der Welt
vorzuenthalten.«
Alle saßen da wie versteinert, zumal die Gräfinnen
Starkenborn glichen leblosen Standbildern.
Kaum anderes erschien der Graf. Hochaufgerichtet stand er
da; seine Augen hafteten mit eigentümlichem Ausdruck an
der sehr erregten Frau, und in seinen Mundwinkeln lag
tiefste Ironie.
Und Roswitha?
Daß ein Mensch so blaß sein konnte wie sie! Ihre Lippen
waren wie verkrampft von ungeheurem Schmerz.

»Sie wollen diese Wette doch nicht etwa ableugnen, kleine
Gräfin?« fragte Viola lauernd. Sie trat auf Roswitha zu, und
es schien, als wollte sie das junge Weib umfassen.
Da kam auf einmal Leben in Roswithas Gestalt.
»Rühren Sie mich nicht an!«, gebot sie mit einer Stimme,
die gar nicht ihrer kleinen Person zu gehören schien. »Ich
leugne diese Wette nicht ab. Ich habe noch immer den Mut
besessen, für meine Worte und Taten einzustehen. Ja, ich
habe mit Ihnen gewettet, daß Graf Starkenborn mein Mann
werden würde!«
»Ita, so wüte doch nicht gegen dich selbst!« rief Angela
schluchzend.

Doch Ita winkte unwillig ab und wandte sich wieder Frau
Viola zu, die eine derartige Haltung von diesem kindlichen
jungen Geschöpf nicht erwartet hatte.
»Es ist nur schade, gnädige Frau, daß Sie nicht schon früher
von dieser Wette sprachen und mich an sie erinnerten,
solange die Ehe noch nicht geschlossen war. Vielleicht
hätte ich Ihnen den Grafen Starkenborn dann abgetreten.
Denn die Art, wie Sie ihm heute zutranken, läßt den Schluß
zu, daß Sie irgendwelche Ansprüche an ihn geltend zu
machen haben.«
»Roswitha – genug!«, unterbrach Odalrich sie.

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Jetzt legte sich der Kommerzienrat ins Mittel, den diese
ganze Szene auf das peinlichste berührt hatte. Er führte

Roswitha zu einem Sessel und streichelte ihre Wangen,
straffte seine schlanke Gestalt und trat nun so dicht vor
Frau Viola hin, daß diese unwillkürlich einen Schritt
zurückwich.
Doch dann fiel sein Blick auf Angela, die ganz verstört
dreinschaute.
»Geh, mein liebes Kind«, sagte er zu ihr in gütigem Tone,
»was ich deiner Schwägerin zu sagen habe, ist nichts für
dich. Gisbert wird dich zurückholen, wenn meine
Abrechnung mit dieser Frau beendet ist.«
Angela entfernte sich gehorsam, und der Kommerzienrat
sah sich noch einmal im Kreise um. Niemand hätte

geglaubt, daß diese gütigen Augen so hart, so unerbittlich
blicken konnten wie eben jetzt.
»Wir sind nun ganz unter uns«, begann er, »und alle
Anwesenden können hören, was ich Ihnen zu sagen habe,
schöne Frau. Jedoch Angela, die ihren Bruder zärtlich
geliebt hat, durfte nicht dabeisein. Denn sonst hätte sie
erfahren müssen, daß er keines natürlichen Todes
gestorben ist. Nicht wahr, gnädige Frau, Sie wissen schon,
was ich meine?« sagte er in einem Ton, daß sie entsetzt
zurückwich. »Ich habe nämlich davon munkeln hören, daß
eine verführerisch schöne Frau, deren Gatte verunglückte,
ein wenig Vorsehung gespielt hat, um die Leidenszeit des

armen Krüppels zu verkürzen. Bitte, hübsch ruhig bleiben«,
mahnte er ironisch, als sie die Hand auf den Mund preßte,
um einen Schrei zu unterdrücken.
»Die schöne Frau konnte ja nicht wissen, daß die Pulver,
die sie sich von einem gefälligen Arzt hatte besorgen lassen,
nicht ungefährlich waren. Schade um den Arzt, der ein
anständiger Kerl war, bis eben diese Frau in seinem Leben
auftauchte. Jung und unerfahren wie er war, ließ er sich
allzuleicht von einem Paar schillernder Augen betören und
wurde ihnen gegenüber willenlos. Der arme Mensch hat
sein Verschulden gesühnt, hat Hand an sich selber gelegt,

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als es ihm zum Bewußtsein kam, was er getan hatte. Hätte
er jedoch den Mut besessen, mit einer Last auf dem

Gewissen weiterzuleben, glauben Sie mir, Frau Viola, auch
er wäre ein Frauenhasser geworden. Wohlgemerkt
geworden. Denn das ist kein Mann von Hause aus, sondern
er wird es erst durch die Erfahrungen, die er mit Frauen
macht.
Und nun lassen Sie mich Ihnen noch etwas sagen«, – hier
hob sich seine Stimme, wurde schneidend und scharf –
»würde eine solche Frau es wagen, meiner Tochter zu dem
Gewinnen einer Wette zu gratulieren, die dieses
unerfahrene, eigenwillige Kind nur in einem Anfall von
unberechenbarem Trotz abgeschlossen haben kann, und
zugleich betonen, die Sensation dieser Wette dürfte der

Mitwelt nicht vorenthalten werden, dann würde ich dieser
Welt eine ganz andere Sensation zu bieten wissen. Bei
Gott! – Und diese Frau würde endlich dahinkommen,
wohin sie von Rechts wegen gehört – hinter eiserne Gitter.
Sollte ich irgendwo ein einziges Wort von dieser übrigens
sehr geschmacklosen Wette hören, dann kenne ich ja die
Quelle und daß ich dann nicht schweigen werde, das
schwöre ich Ihnen! Des weiteren verlange ich, daß Sie sich
mit keinem Wort dagegen auflehnen, wenn Angela nicht in
das Haus zurückkehrt, in dem Sie Ihren Wohnsitz haben,
und das zur Hälfte Angela gehört. Ich will das Kind Ihrem
schädlichen Einfluß nicht länger ausgesetzt wissen. Die

Kleine gehört durch die Verlobung mit meinem Sohne nun
zu unserer Familie, und ich bin dazu da, diese zu schirmen
und zu schützen. So, das wäre alles, was ich Ihnen zu sagen
hätte.«
Er wandte sich von ihr ab, und nun kam Leben in ihre wie
zu Stein erstarrte Gestalt. Sehr schnell hastete sie aus dem
Zimmer.
Arme Frau Viola, wie so anders verläßt du den Ort, wo du
deine Trümpfe auszuspielen gedachtest, wie ganz anders,
als du es dir vorgestellt, als du es erhofft hattest!
»Donnerwetter, ist das eine Kanaille«, sagte der Fürst und

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wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Gut, daß du diese
Waffe gegen sie in Händen hattest, Adolf. Dieser Teufel

hätte es wirklich fertigbekommen…«, seine Worte verloren
sich in undeutlichem Gemurmel.
Der Kommerzienrat wandte sich nun seiner Tochter zu, die
unbeweglich in ihrem Sessel lehnte.
»Das war nicht recht von dir, mein Kind«, sagte er gütig.
»Ein Mensch ist kein Wettobjekt, Roswitha, und schon ganz
und gar nicht der Mann, den du mit ganzer Seele zu lieben
vorgibst. Aber ich will dir weiter keine Vorwürfe machen.
Ich sehe ja, wie du unter deiner Unvernunft, die dir im
Leben noch manchen bitteren Streich spielen wird, leidest.
Geh, bitte Odalrich um Verzeihung, mein Liebling. Ein
Mann wie er wird diese ganze Wettgeschichte als das

ansehen, was sie wirklich ist: als Dummheit eines
verzogenen kleinen Mädchens, das einer bösen Frau, die es
in unverantwortlicher Weise reizte, durchaus zeigen wollte,
daß es alles bekommen kann, was es sich in das
eigenwillige Köpfchen gesetzt hat. Schau nur, Odalrich
sieht gar nicht so böse aus, wie er eigentlich müßte. Geh
und bitte ab, was du ihm mit dieser Wette angetan hast,
mein Mädel.«
Doch Roswitha wollte nicht, auf keinen Fall! Sie warf den
Kopf in den Nacken.
»Nein, ich gehe nicht, denn ich habe nichts abzubitten!«
rief sie mit leidenschaftlicher Heftigkeit. »Die Wette war

genauso abgeschlossen, wie Frau Viola es schilderte.
Warum soll ich nicht den Frauen zeigen, daß ich jeden
Mann bekommen kann, den ich haben will? Ich kann mir
meinen Mann eben – kaufen. Geld ist Macht, und die habe
ich.«
»Roswitha!« unterbrach der Vater sie erzürnt, packte sie bei
den Schultern und schüttelte sie leicht. »Weißt du
überhaupt, was du sprichst? Vergiß nicht, daß ich das Geld
habe, nicht du, und daß du durchaus kein Recht hast,
darauf zu pochen. Ich habe nicht geglaubt, daß ich mich
eines Tages deiner so zu schämen hätte, wie ich es jetzt tun

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muß. Und ich bereue es bitter, dir gegenüber so viel
Nachsicht geübt zu haben.«

Allein seine Worte fanden nicht den Weg zum Herzen
seiner Tochter. Und weil sie nicht zeigen wollte, wie es in
ihr aussah, verschanzte sie sich immer mehr hinter
Auflehnung und Trotz.
»Roswitha, bitte deinen Gatten um Verzeihung!«
»Nein!«
»Ja, was macht man denn nur mit einem so
widerspenstigen Kinde?« fragte der Kommerzienrat
verzweifelt, während seine Frau auf die Tochter zuging und
ihren Arm um sie legte.
Doch Roswitha machte sich von ihr frei.
»Laß nur, Mutti… ihr… ihr…«

Tränen erstickten ihre Stimme, sie warf den Kopf in den
Nacken und floh aus dem Zimmer, als würde sie verfolgt.
Betretenes Schweigen herrschte im Kreise der
Zurückbleibenden.
»Ein verflixter kleiner Racker«, sagte der Fürst mit
erzwungener Heiterkeit, »wird Ihnen noch allerlei zu
schaffen machen, lieber Graf.«
Dieser lehnte mit gewohnter Ruhe am Fenster, und es
schien, als schrecke ihn diese Prophezeiung ganz und gar
nicht.
Er lächelte nur halb belustigt, halb spöttisch.
»Ich werde zu Roswitha gehen«, erklärte er ruhig und

wandte sich dann an seine Großmutter.
»Geht bitte zu den Gästen zurück. Eure lange Abwesenheit
dürfte schon längst aufgefallen sein.«
Er winkte leicht mit der Hand und schritt der Türe zu.
»Nicht zu hart werden, bitte, bitte!« bettelte die Mutter. Da
wandte er sich noch einmal um und lächelte ihr
beruhigend zu.
»Es wird schon nicht«, tröstete ihr Gatte, sah dem Grafen
jedoch mit sorgenvollem Blick nach.
Als Odalrich das Ankleidezimmer seiner jungen Gattin
betrat, saß diese vor dem Toilettentisch, hatte den Kopf

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darauf gelegt und schluchzte herzzerbrechend. Die Zofe
stand neben ihr, und da sie sich keinen Rat wußte, weinte

sie mit ihrer jungen Herrin um die Wette. Bei des Grafen
Eintritt schrak sie heftig zusammen und starrte ihn aus
großen, erschrockenen Augen an wie ein Kind den
schwarzen Mann.
»Bereiten Sie alles zur Reise vor, Anni!«, gebot er, und gar
zu gern leistete das Mädchen dieser Aufforderung Folge.
Dann trat er zu der in Tränen aufgelösten Gattin, legte
seinen Arm um ihre zuckenden Schultern und sagte:
»Roswitha, du mußt dich fertig machen!«
Sie hatte kaum seine Stimme vernommen, als sie auch
schon auffuhr und bebend vor Zorn vor ihm stand.
»Ich komme nicht mit dir, du, du…«

Sie schien nach einem passenden Ausdruck zu suchen,
doch er ließ es gar nicht erst dazu kommen.
»Mache dich fertig!« gebot er ernst und fest.
»Nein!«
O nein, das war nicht mehr der Trotz eines verzogenen
Kindes, das war feste Entschlossenheit, die ihm aus ihren
Blicken entgegenfunkelte.
»Und warum willst du die Reise nicht antreten?«
»Ich will eben nicht.«
»Weshalb hast du mich dann geheiratet, wenn du gleich in
den ersten Stunden von mir gehen willst?«
»Weil… weil… ich glaubte, weil ich annahm, ein

Weiberfeind wie du, so ein Mann ohne Herz, hätte noch
nie eine Frau geliebt und…«
Sie hielt verblüfft inne, als ein spöttisches Lächeln um
seinen Mund irrte.
»Ah so! Und du wolltest diesen Weiberfeind die Liebe
lehren?«
»Ja – und tausendmal ja!« schrie sie ihm entgegen. Sie
bebte an allen Gliedern, so daß sie sich kaum aufrecht zu
halten vermochte.
»Das habe ich geglaubt«, sagte sie nun ruhigeren Tones.
»Doch wie sehr ich mich irrte, erkannte ich vorhin. Oder

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willst du etwa ableugnen, daß du Beziehungen zu Frau
Viola hast?«

»Gehabt hast, mußt du sagen, Roswitha. Nein, das kann ich
nicht leugnen, ich kann es nicht und will es auch nicht.
Doch was ich einmal vor Jahren, als dummer Junge, getan
habe, darüber bin ich dir keine Rechenschaft schuldig.«
»So, und ich soll dir glauben, daß diese Beziehungen heute
nicht mehr bestehen? Solche Lügen finden…«
»Mäßige dich, Roswitha«, unterbrach er sie scharf, »ich
halte es meiner für unwürdig, auch nur ein Wort weiter
über diese Angelegenheit zu verlieren. Mache dich
reisefertig.«
»Nein, ich komme nicht mit, ich kehre mit meinen Eltern
in die Stadt zurück. Mein Vater wird dir schon das Geld

geben, das du zur Finanzierung deines Gutes brauchst!
Aber unsere Wege gehen auseinander. Ich habe zwar
gewußt, daß du mich nicht liebst, doch es war mir
unbekannt, daß ich mit einer anderen würde teilen
müssen.«
Sie wich vor ihm zurück, so weit sie konnte. Am liebsten
hätte sie sich versteckt, um seinen eisigen Blick nicht
aushalten zu müssen.
Mit einem Gefühl des Schreckens gewahrte sie, wie die
Adern an seiner Stirn und an seinen Schläfen zu dicken,
blauen Strängen anschwollen und wie seine Hände sich zu
Fäusten ballten.

»So nicht, nein, so nicht!« stammelte sie mit entfärbten
Lippen und schlug die Hände vor das Gesicht, um seinen
Blick nicht länger zu sehen, der ihr das Herz erzittern ließ
in sinnloser Angst.
Noch nie in ihrem Leben hatte jemand sie so angesehen,
noch nie in ihrem Leben war ihr ein Mensch begegnet, von
dem eine derartige Eiseskälte ausging wie von diesem
Manne, der hochaufgerichtet vor ihr stand und sich mit fast
übermenschlicher Kraft zu beherrschen suchte.
»Papi!« stammelte sie. Dann raffte sie sich auf, um zu
fliehen, doch er faßte ihre Hände, umspannte sie wie mit

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Eisenklammern und hielt sie fest.
Minutenlang versuchte sie, sich seinem Griff zu entwinden.

Doch dann hielt sie ganz erschöpft inne, denn sie mußte
einsehen, daß es unmöglich war, gegen diesen Mann
anzukommen.
Dennoch gab sie sich nicht besiegt und versuchte eine
letzte Gelegenheit. Sie stieß mit den Füßen nach ihm und
grub ihre Zähne in seine Hände, daß das Blut unter ihren
Bissen hervorquoll.
Doch alles war umsonst. Ruhig und unbeweglich stand er
da, als sei er aus Stahl und Eisen. Und unerträglich dünkte
sie der Blick, mit dem er ihrem zwecklosen Beginnen
zusah, verächtlich, voll Ironie.
Erschöpft ließ sie sich endlich in einen Sessel fallen.

»Ein Barbar bist du, ein brutaler Mensch!« keuchte sie, und
ihre Augen funkelten. »In alle Welt werde ich es
hinausschreien, wie du deine Frau behandelst!«
»Bitte!« entgegnete er mit einer Ruhe, die sie von neuem
erschauern ließ. »Dann werde ich etwas anderes
bekanntgeben, das nämlich, daß eine Gräfin Starkenborn
wie eine Wildkatze tobt und faucht und wie eine
ungezogene Range mit den Füßen stößt und beißt. Ich bin
nicht so leicht kleinzukriegen, das wirst du mit der Zeit
schon einsehen lernen. Es tut mir allerdings leid, wenn du
erkennen mußt, daß ich nichts von dem Märchenprinzen
an mir habe, der in deinem Köpfchen spukt. Es tut mir

auch leid, erkennen zu müssen, daß du des Spielzeuges, als
das du mich angesehen hast, bereits überdrüssig geworden
bist. Doch ich lasse mich nicht in die Ecke werfen und
mich auch nicht wieder aus ihr hervorholen, wenn dir
gerade die Laune danach steht. Daß du nicht einmal
Respekt hast vor der Heiligkeit der Ehe, kennzeichnet
deinen Charakter. Solange alles nach deinem Willen ging,
war bei dir eitel Sonnenschein. Doch nun, bei dem
Auftauchen der ersten Schwierigkeiten, willst du nichts
mehr von alledem wissen, was dir früher viel und beinahe
alles galt. Das ist die Art eines verhätschelten Kindes, das

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jeden Wunsch unbedingt erfüllt haben, aber nichts von
dadurch bedingten Konsequenzen wissen will. Du gehörst

zu den Frauen, die wohl jemand lieben…«
»Ich liebe dich nicht!« warf sie erbittert ein.
»… Oder bloß vorgeben, es zu tun«, fuhr er unbeirrt fort.
»Deine Liebe mag süß, mag betörend sein, allein sie ist
ohne Bestand. Ich möchte dir jedoch eines zu bedenken
geben, Roswitha: ein Mann ist wohl dazu imstande, Opfer
zu bringen, allein er verträgt es nicht, eine lächerliche Rolle
zu spielen. Und ich warne dich davor, mir eine solche
zuzumuten. Hüte dich daher, das Hampelmännchen in mir
zu sehen, das nur nach deiner Lust und Laune zu tanzen
hat, sonst stehe ich für nichts ein.«
Ganz dicht war er an sie herangetreten, so daß sein Körper

fast den ihren berührte; ganz nahe war ihr sein herrisches
Gesicht, in dem jeder Muskel gespannt war.
»Willst du nun mit mir reisen, Roswitha?«
»Ich, ich fürchte mich, fürchte mich unsagbar vor dir«,
stammelte sie, und in ihren weitaufgerissenen Augen stand
ein Ausdruck des Grauens.
»Willst du mit mir reisen, Roswitha?« Noch einmal diese
Frage, hart, kalt, unerbittlich. Sie meinte, das Herz sollte ihr
stillstehen. »Ja… ich… nicht so ansehen, bitte!«
Unwillkürlich streckte sie die Arme aus, als ob sie nach
einem Halt suche.
Aber als Odalrich sich erhob, um sie zu stützen, da straffte

sich sofort ihre Gestalt, und fast gebieterisch wies sie ihn
zurück.
»Ich werde mit dir gehen, weil… weil es mir nicht möglich
ist, mich deinem brutalen Willen zu widersetzen«, sagte sie
ruhiger als zuvor, »doch wenn du erwartest, auch nur eine
Stunde Freude an dieser Reise zu haben, dann irrst du.«
»Damit habe ich auch niemals gerechnet«, gab er gelassen
zurück, »ich bin mit keinerlei Illusionen in diese Ehe
gegangen und kann daher auch nicht enttäuscht werden.
Wenn man ein so unbeherrschtes, unberechenbares Kind
heiratet wie dich, dann fühlt man sich als Erzieher, nicht

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als Gatte.«
Ohne sie weiter zu fragen, rief er die Zofe herbei.

»Alles bereit, Anni?«, fragte er, und das Mädchen bejahte
ängstlich.
»Dann helfen Sie der Frau Gräfin beim Ankleiden.«
Er ließ sich in einen Sessel fallen und sah zu, wie die
flinken Hände der Zofe sich an Roswitha zu schaffen
machten.
Prangend in seinem farbigen Blätterschmuck zog ein
junger, lachender Herbstmorgen herauf. Überall öffnete
man weit die Fenster, um ihn hereinzulassen, den
launischen Gesellen, der leuchten und strahlen und
wiederum wild daherbrausen konnte mit Regen und Sturm.
Wie sehr aber war er erstaunt, daß zwei Fenster in dem

vornehmen Hotel dicht verschlossen blieben.
Vielleicht hätte er in seiner herben Frische, hätte er mit
seinem blinkenden Sonnenschein dem jungen
Menschenkinde, das sich in seiner Verlassenheit schließlich
in den Schlaf geweint hatte, ein Trost sein können;
vielleicht hätte er mit seinen Sonnenstrahlen einen
Widerschein in den Augen geweckt, die sich erst schlossen,
als das erste Frührot am Himmel erschien.
Es war bereits nach elf Uhr.
Odalrich, der die Nacht im Nebenzimmer auf dem Diwan
verbracht hatte, war schon lange aufgestanden. Nach dem
Frühstück hatte er einen ausgiebigen Bummel durch die

belebte Stadt gemacht und wartete jetzt auf das Erscheinen
seiner Gattin.
Nun sah er wieder nach der Uhr, wie schon unzählige Male
an diesem Morgen, und seine Brauen schoben sich
unmutig zusammen. Kurz entschlossen erhob er sich, stieg
zu dem Wohnzimmer hinauf und lauschte an der
Schlafzimmertür.
Nichts rührte sich dahinter.
»Roswitha!«
Erst rief er leise, dann lauter.
Klopfte.

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»Roswitha!«
»Ja, Papi, gleich«, rief sie erwachend.

Sie richtete sich empor. Schlaftrunken, wie sie war,
vermochte sie Traum und Wirklichkeit nicht sogleich zu
unterscheiden.
War sie nicht daheim gewesen, eben noch? Und nun?
Verstört blickte sie umher. Wo befand sie sich? Dieses
Zimmer war ihr vollkommen fremd.
Dann aber war sie auf einmal ganz wach, war sich voll
bewußt, wo sie sich befand.
»Ja, Odalrich, was wünschst du?«
Wie müde ihre Stimme klang. Es gab ihm einen Stich ins
Herz.
»Du mußt aufstehen, Roswitha; es ist schon fast zwölf Uhr,

wir müssen heute noch weiter; ich werde dir Anni
schicken.«
Dann ging er wieder hinunter und wartete. Seine Geduld
wurde auf eine harte Probe gestellt. Es dauerte sehr lange,
bis Roswitha endlich erschien.
Er stand auf, ging ihr entgegen, ergriff ihre Hand und
drückte seine Lippen darauf.
»Hast du gut geschlafen, Roswitha?«
»Danke«, entgegnete sie aufatmend, als sie sah, daß er so
war wie sonst, daß er ihr nichts nachzutragen schien.
Christian brachte das Frühstück. Heute ließ Roswitha es zu
keinem Zwischenfall kommen; sie aß und trank gehorsam,

wenn auch ohne rechten Appetit.
Als das Geschirr abgeräumt war, reichte Odalrich ihr einen
Brief, der die Schriftzüge ihres Vaters aufwies.
Mit hastiger Bewegung griff sie danach und drückte ihn erst
fest gegen das Herz, bevor sie ihn öffnete und las. Es waren
warme, freundliche Worte, die der Vater an sie richtete.
Liebevoll ermahnte er sie, gut und verständig zu sein,
damit er sich seines Kindes nicht zu schämen brauchte.
Und weiter las sie, er hoffe, ihr mit diesem Zeilen am
ersten Morgen ihrer jungen Ehe eine Freude zu machen,
und gleichzeitig solle ein Blumenstrauß ihr die innigen

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Wünsche übermitteln, die er für seinen Liebling hege.
Aufblickend entdeckte Roswitha einen von einer

Seidenpapierhülle umgebenen Blumenstrauß, der neben
ihr auf der Couch lag.
Mit leicht zitternder Hand entfernte sie das Papier. Lilien,
ihre Lieblingsblumen, in köstlicher Reinheit und Frische,
boten sich ihrem entzückten Auge dar.
Oh, sie verstand wohl, was der Vater damit meinte, daß er
ihr gerade diese Blumen spendete.
»Papi, lieber, lieber Papi«, sagte sie leise und merkte gar
nicht, wie ihre Tränen unaufhaltsam auf die Blumen
niedertropften.
Sie hatte den Mann an ihrer Seite vergessen, ebenso alle
anderen, die sich hier in dem Frühstückszimmer befanden.

Sie sah nur das gütige Antlitz ihres Vaters vor sich und
spürte im Herzen eine heiße Sehnsucht nach ihm.
»Roswitha, du mußt dich zusammennehmen, die Leute
werden aufmerksam«, hörte sie die leise, mahnende
Stimme des Gatten sagen.
Er, selbstverständlich mußte er es wieder sein, der sie aus
dieser köstlichen Versunkenheit riß. Mit feindseligem Blick
sah sie ihn an.
»Nun ja, mein Erzieher«, sagte sie bitter.
»Roswitha, wenn wir in einem solchen Tone miteinander
verkehren, dann wird unsere gemeinschaftliche Reise nicht
angenehm verlaufen.«

Nun sah sie ihn an, groß und verwundert.
»Ich habe dich im voraus darauf aufmerksam gemacht, daß
diese Reise alles andere als ein Vergnügen für beide Teile
werden würde. Du hast jedoch trotzdem auf ihr bestanden,
hast mich sogar dazu gezwungen, weil du das Gespött der
Menschen fürchtest.«
»Also gut, wenn du diesen Ton unter uns wünschst, mir
soll es recht sein«, entgegnete er so gelassen, daß sie ihn
verblüfft ansah. »Halte dich bereit, damit wir nach einer
Stunde weiterfahren können.«
Auf dieser Fahrt waren sie nicht ganz so schweigsam wie

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am Abend vorher. Sie unterhielten sich wie zwei
wohlerzogene Menschen und vermieden alles, was den

anderen hätte verletzen können. Aber herzliche Worte
fanden beide nicht füreinander.
Und so blieb es während der ganzen Reise. Befand
Roswitha sich mit dem Gatten allein, so war sie
schweigsam und scheu und ging nur gelegentlich ein wenig
aus sich heraus, wenn sie ihn auf irgendwelche
Naturschönheiten aufmerksam machte. Dabei zeigte sie
manchmal sogar einen gewissen Eifer und wurde beinahe
zutraulich. Doch sofort, wenn sie sich dessen bewußt
wurde, verschwand ihr sonniges Lächeln wieder und
machte einer kühlen, konventionellen Liebenswürdigkeit
Platz; sie wurde schweigsam und in sich gekehrt, und alles

um sie her schien ihr plötzlich verleidet zu sein.
Nur in Gesellschaft anderer war sie ganz die alte Roswitha,
die alle Welt mit ihrem Reiz, ihrem natürlichen, sonnigen
Wesen bezauberte. Sie stand ganz von selbst überall im
Vordergrunde und nahm es als etwas Selbstverständliches
hin, daß man ihr huldigte.
Roswitha ließ das Interesse, das man ihr von allen Seiten
entgegenbrachte, ziemlich kalt. Wie ein Schmetterling von
Blume zu Blume gaukelt, genoß sie von allem, was sich ihr
darbot, das Beste, ohne sich darum zu kümmern, was sie
zurückließ.
So verlief diese Reise, vor der sie sich außerordentlich

gefürchtet hatte, schneller und besser, als sie es für möglich
gehalten, und ehe man sich dessen versah, kam der Tag
heran, den man für die Heimkehr ins Auge gefaßt hatte.
Endlich ging es wieder nach Hause!
Dieser Gedanke erfüllte sie so sehr, machte sie so glücklich
und stimmte sie so heiter, daß sie mit ihrem Übermut,
ihrer Freude jeden mit fortriß.
Hätte sie diese Liebe und das Vaterhaus nicht gehabt, in
dem sich ihr allzeit weit geöffnete Arme entgegenstreckten
– ach, sie hätte an ihrer seelischen Verarmung zugrunde
gehen müssen.

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Wie wohl fühlte sie sich auch heute wieder daheim. Was
hatten Vater und Mutter nicht auch dieses Mal aufgeboten,

um dem Töchterlein Freude zu bereiten!
Und wie dankte sie ihnen diese Liebe, wie jubelte sie auf,
als sie alle ihre geheimen Wünsche erfüllt sah!
Was brauchte sie jene anderen vier, die da stumm und steif
in ihren Sesseln lehnten und keinen Blick von ihr ließen!
Fremd waren sie ihr; ganz und gar fremd. Nichts anderes
hatte sie mit ihnen gemein, als daß sie in Königsgnade
einige Zimmer bewohnte und gelegentlich mit ihnen am
Tische saß.
Die Märzsonne schien schon so warm, daß man sich in
Königsgnade entschloß, den Nachmittagskaffee auf der
Terrasse zu trinken.

Heute war der Kaffeetisch sogar festlich gedeckt, und eine
Torte stand darauf, die in Zuckerguß die Zahl 34 aufwies.
Jedes Familienmitglied erhielt zu seinem Geburtstag eine
solche Torte, das ließ sich die Mamsell, die wie die gesamte
Dienerschaft schon lange auf dem Schlosse war, nicht
nehmen.
An diesem Tage war der Schloßherr der Jubilar, und wären
die Torte und die Blumen auf dem Tische nicht gewesen, so
hätte nichts daran erinnert, daß jemand Geburtstag hatte.
Einen solchen Tag festlich zu begehen, sich gar zu
beschenken, das kannte man in Königsgnade nicht. Es war
doch kein Grund zu besonderer Freude, wenn man ein Jahr

älter geworden war.
Daß aber Roswitha selbst an diesem Tage abwesend war,
schien sogar die nüchterne alte Gräfin zu stören.
»Sage einmal, Odalrich, hast du eigentlich eine Gattin, oder
hast du keine?«, fragte sie den Enkel, der sich soeben ein
Stück Torte auf den Teller legte.
»Was für Fragen du manchmal stellst, Großmutter«,
entgegnete er achselzuckend.
Er horchte auf, denn in Roswithas Zimmern, die ihre
Fenster zum Teil nach der Terrasse hatten, wurden
Stimmen laut. Einer der Fensterflügel ihres Wohnraumes

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war weit geöffnet, und so war auf der Terrasse jedes Wort
zu verstehen, das oben gesprochen wurde.

»Angela, Liebste, du bleibst bis Sonntag bei mir, ja?« hörten
sie die schmeichelnde, bettelnde Stimme Roswithas sagen.
»Ich kann doch nicht, Ita! Was würde Gisbert dazu sagen?«
»Na, der wird nicht gerade sterben, wenn du mal ein paar
Tage nicht bei ihm bist. Ihr macht euch ja lächerlich mit
eurer übertriebenen Liebe zueinander.«
»Und das sagt eine Frau, die kaum länger verheiratet ist als
ich?« lachte Angela hell auf. »Hast du denn ganz und gar
vergessen, wie heiß du deinen Mann zu lieben vorgabst?«
»Höre doch mit dem Unsinn auf!« unterbrach Roswitha die
Freundin heftig.
»Das nennst du Unsinn, was anderen Menschen die

Seligkeit des Lebens bedeutet?« entrüstete sich nun Angela.
»Wenn ich dich nicht kenne, Roswitha, ich müßte dich,
deinem Reden nach, für das oberflächlichste Geschöpf
unter der Sonne halten.«
»Tue es bitte!« war die gelassene Erwiderung.
Eine Weile war es still zwischen den beiden, bis Angela
fragte:
»Spielst du viel auf diesem wunderbaren Flügel, Ita? Ich
beneide dich geradezu um dieses Geschenk der gütigen
Fürstin.«
»Ich habe das Instrument noch nie berührt«, entgegnete
Roswitha gleichmütig, »man liebt in Königsgnade keine

Musik.«
»Oh, das ist allerdings sehr bedauerlich. Ita, da du doch so
musikalisch bist. Du hast doch früher immer behauptet,
ohne Musik nicht leben zu können, wie hältst du es nun
ohne sie aus?«
»Man gewöhnt sich an alles, liebe Geli«, lachte Roswitha
kurz auf, »ich lebe ja auch nicht ohne Musik, sondern
spiele, wie du weißt, zu Hause sehr fleißig.«
Angela öffnete das Instrument und schlug ein paar Akkorde
an.
»Aber das ist ja ein ganz wundervoller Klang«, begeisterte

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sie sich, »viel schöner noch, als ich dachte. Mir kribbelt es
förmlich in den Fingern.«

»Bitte«, meinte Roswitha, »sei du die erste, die auf dem
Flügel spielt.«
»Um mich unsterblich vor dir zu blamieren«, wehrte sich
Angela lachend, »nein, Ita, diesen Triumph gönne ich dir
doch nicht. Du bist mir eine verflixt ernst zu nehmende
Kritikerin. Aber spiele du etwas, bitte, bitte, etwas recht
Schönes.«
»Na, was das schon sein wird«, lachte Roswitha, »für dich
kommt doch nur die Melodie in Frage, mit der dein
verliebter Gemahl dich morgens aufweckt und abends in
den Schlaf singt.«
Nun klang das Vorspiel eines Tangos auf, erst zaghaft, dann

immer voller und sicherer. Schon bei den ersten Takten war
zu merken, daß es eine wirkliche Künstlerin war, die dem
herrlichen Instrument diese schmeichelnden Töne
entlockte.
Und nun sang Roswitha noch dazu mit ihrer süßen,
zärtlichen Stimme:

»So ein Mädel vergißt man nicht,
so ein Mädel vergißt man nicht,
man kränkt sie nie,
man lebt für sie,
und andre küßt man nicht.

So ein Mädel belügt man nicht,
so ein Mädel betrügt man nicht,
weil schon ihr Blick das ganze Glück
der Welt verspricht.
Was kann denn schöner sein,
als einer treu zu sein,
die einem alles gibt,
wenn man sie liebt? –
So ein Mädel vergißt man nicht,
so ein Mädel vergißt man nicht,
ihr leises Wort: »Ich hab’ dich lieb«

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ist ein Gedicht.

Zufrieden?« lachte Roswitha.
»Ach, Ita, du singst das ja wunderbar, viel, viel schöner
noch als Gisbert«, schwärmte Angela. »Und dein Gehör!
Irgendwer singt ein Lied, und du spielst es ganz einfach
ohne Note nach! Und wie du es spielst!«
»Na, na, nicht loben, Geli, das verdirbt den Charakter«,
entgegnete Roswitha mit leichtem Spott. »Mein liebes Kind,
wenn du den musikalischen Unterricht gehabt hättest, den
ich jahrelang genossen habe, dann spieltest du ebenso,
wenn nicht besser. Und dann ist es auch weiter keine
Zauberei, auf diesem unvergleichlichen Instrument eine so
einschmeichelnde Melodie zu spielen. Hätten meine

Anverwandten das soeben gehört, sie wären vor Entsetzen
in Ohnmacht gefallen. Eine Gräfin Starkenborn spielt
einen Tango! Nicht auszudenken! Kantaten und
Opernmelodien, die ließe man vielleicht noch gelten, aber
einen Tango! Das hat heute bestimmt diese geheiligten
Räume entweiht.«
»Ita, wie kannst du nur so bitter werden«, sagte Angela
leise. »Na, um so süßer bist du«, gab diese spöttisch zurück.
»Aber nun komm, es wird Zeit, daß wir uns unten sehen
lassen.«
Einige Minuten später erschienen sie auf der Terrasse. Es
war ein reizendes Bild, wie sie Arm in Arm daherkamen.

Angela verschwand geradezu neben Roswitha, obgleich
auch ihre Schönheit über dem Durchschnitt stand.
Nach kurzer Begrüßung nahmen sie auf die Aufforderung
der alten Gräfin hin am Kaffeetisch Platz.
»Sieht man dich endlich wieder einmal, kleine
Dollarprinzessin?« fragte die Gräfin mit beißendem Spott.
»Ich habe Odalrich vorhin schon gefragt, ob er eine Frau
habe oder nicht.«
Alle Weichheit, die Roswitha immer so jung und kindlich
erscheinen ließ, war plötzlich aus ihrem Antlitz
verschwunden. Stolz blickte sie auf, und niemand hätte in

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diesem Augenblick daran zweifeln können, daß Roswitha
eine echte Starkenborn werden würde.

»Ich habe noch keinen Augenblick vergessen, daß ich mit
Odalrich verheiratet bin«, entgegnete sie herb und stolz.
»Und er hoffentlich auch nicht, wenn allerdings auch
begründete Zweifel vorliegen. Da… da… da!«
Sie warf drei Briefe auf den Tisch, die sie ihrem
Handtäschchen entnahm. »Das fand ich auf Angelas
Schreibtisch.«
»Roswitha, wie kommst du dazu, Korrespondenz, die an
mich gerichtet ist, an dich zu nehmen?« rief Angela empört.
»Viola sandte mir die Briefe mit der Bitte…«
»… sie Odalrich zuzustecken, jawohl!« unterbrach
Roswitha sie kalt. »Ich habe auch das Kärtchen gelesen, das

daneben lag; schließlich habe ich das Recht, in meinem
Elternhause Briefe, die frei herumliegen, zu lesen.«
War das wirklich die kindliche, spielerische Roswitha, die
diese Worte sprach und die in geradezu eisiger Ablehnung
im Sessel saß?
Angela sah die Freundin fassungslos an, und ihre Augen
füllten sich langsam mit Tränen.
»Ita, wie kannst du mich nur so verkennen«, sagte sie leise,
»Viola hat mir die Briefe zur Weiterbeförderung übersandt,
gewiß; doch dazu hätte ich mich niemals hergegeben, ich
wollte sie ihr zurückschicken.«
»Dann habe ich eben dieses Amt für dich übernommen,

Angela«, sagte Roswitha ein wenig freundlicher. »Bitte,
nimm die Schreiben an dich«, wandte sie sich an ihren
Mann, der gelassen dieser erregten Auseinandersetzung
gefolgt war.
»Wer mir schreiben will, soll die Post unmittelbar an mich
schicken, eine Vermittlung lehne ich ab. Da jedoch Frau
Viola weiß, daß ich die Annahme ihrer Briefe verweigere,
versucht sie es auf diesem Wege.«
»Und warum verweigerst du die Annahme?« wollte
Roswitha wissen.
»Darüber bin ich dir keine Rechenschaft schuldig, mein

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Kind. Es wäre besser, du hättest mehr Vertrauen zu mir;
dann wäre uns beiden erheblich geholfen. Bitte, Angela,

willst du so gut sein und das da an die Adresse Frau Violas
zurückgehen lassen?« Er wandte sich mit leichter
Verbeugung an die junge Frau.
»Ja, gerne, ich danke dir«, Angela atmete erleichtert auf und
griff hastig nach den Briefen, die sie in ihre Handtasche
steckte. Dabei traf ein so trauriger, vorwurfsvoller Blick die
Freundin, daß diese den Kopf zur Seite wandte.
Der Diener brachte soeben den Kaffee, und der duftende
braune Trank schien die erregten Gemüter friedlich zu
stimmen. Angela bemerkte die Zahl auf der Torte und
fragte, was sie zu bedeuten habe. Als sie von Odalrichs
Geburtstag erfuhr, war sie ehrlich erschrocken.

»Hörst du es, Ita?« sagte sie erregt. »Odalrich feiert heute
seinen Geburtstag, und wir haben keine Ahnung davon
gehabt.«
Roswitha schien das in keiner Weise zu berühren.
»Deswegen brauchst du doch nicht so zu schreien«,
entgegnete sie spöttisch. »Ist es denn etwas besonders
Wichtiges, wenn man Geburtstag hat?«
»Aber Ita!«
»Verschone mich endlich mit deinen Sentimentalitäten«,
fuhr Roswitha auf. »Wenn Gisbert Geburtstag hat, kannst
du ihn ja feiern, soviel du magst, doch mich laß bitte mit
dergleichen in Ruhe!«

Angela schüttelte den Kopf.
Was war nur mit Roswitha geschehen? Sie war gar nicht
mehr wiederzuerkennen und wurde ja mit jedem Tag
unzugänglicher.
Vier Wochen später suchte der Kommerzienrat seinen
Schwiegersohn in Königsgnade auf. Es war gerade um die
Abendstunde, und Starkenborn saß mit den Seinen auf der
Terrasse. Der Kommerzienrat sah sehr niedergedrückt aus.
»Du läßt dich gar nicht sehen, Odalrich! Ist denn die
Verstimmung zwischen dir und Roswitha so groß? Du
mußt die Kleine nicht ernst nehmen, mein Junge; sie ist

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manchmal noch ein rechtes Kind, dem die Tragweite seines
Handelns nicht bewußt ist. Ich befinde mich in einer

beinahe verzweifelten Lage. Denn ich muß übermorgen auf
alle Fälle meine Amerikareise antreten. Die Auflösung einer
Zweigniederlassung macht meine Anwesenheit drüben
unbedingt erforderlich. Roswithas Erkrankung wegen ist
mein Aufbruch schon mehrfach verschoben worden, doch
länger geht das beim besten Willen nicht mehr an. Meine
Frau begleitet mich selbstverständlich. Auch Roswitha
möchte fürs Leben gern mit uns kommen, allein ihre
Gesundheit ist noch nicht wieder so gefestigt, daß sie die
Reise wagen könnte. Ihre Lunge braucht noch dringend
Schonung, und da wir ein Flugzeug benutzen wollen, wäre
sie ununterbrochen erheblichen Temperaturschwankungen

ausgesetzt, die für sie gefährlich werden könnten. Doch wo
soll sie bleiben, solange wir fort sind?«
»Selbstverständlich hier, wohin sie sowieso gehört«,
entgegnete der Graf ruhig, und der Kommerzienrat atmete
erleichtert auf.
»Na ja, gewiß. Ich nahm nur an, du trügest ihr mancherlei
nach. Nun, dann ist ja alles in schönster Ordnung, und mir
ist es leichter ums Herz. Vielleicht ist es ganz gut, daß alles
so kam. Nun ist sie gezwungen, in Königsgnade zu bleiben,
und wird sich vielleicht eingewöhnen. Wäre sie gesund,
dann hätte ich ihren flehenden Bitten wohl kaum
widerstehen können und sie sicherlich mitgenommen.«

So brachte der Vater Roswitha am nächsten Tage nach
Königsgnade zurück. Sie war zwar noch ein wenig blaß,
sonst aber ging es ihr wieder besser. Als der Kommerzienrat
sich von ihr verabschiedete, wollte sie ihn durchaus nicht
von sich lassen und weinte die bittersten Tränen.
»Aber Ita, mein Kind, in vier Wochen bin ich ja wieder bei
dir«, tröstete der Vater, dem es augenscheinlich nicht leicht
wurde, sich von seinem schier verzweifelnden Kinde zu
trennen. »Paß mal auf, was ich dir alles mitbringen werde.
Anschließend machen wir gleich noch eine Reise und
bitten Odalrich, uns zu begleiten. Und dann wird mein

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kleines Mädel über sein heutiges Benehmen lachen.«
Er lächelte, obwohl ihm selbst schwer um das Herz war. Ita

sah dem Auto, das ihr den Vater entführte, so lange nach,
bis es ihren Blicken entschwunden war, und kehrte dann
mit müden Schritten in das Schloß zurück.
Der Mai war in diesem Jahr strahlender denn je. Es grünte
und blühte, wohin das Auge schaute, und die Temperatur
war beinahe schon sommerlich.
In Königsgnade saß man allabendlich auf der Terrasse, und
es war ein Genuß, von dort die Blicke über den Park
schweifen zu lassen, der unvergleichlich schön war in
seinem jungen Grün. Die Luft war von Blütenduft erfüllt,
und das Quaken der Frösche klang aus dem nahen Teich
herüber.

Ein Lautsprecher spendete schon seit einer Weile weiche,
einschmeichelnde Musik, die so recht zu dem herrlichen
Abend paßte.
Soeben wurden durch den Lautsprecher die täglichen
Nachrichten bekanntgegeben. Sachlich, geschäftsmäßig.
»Wir geben noch folgende Meldung: Der bekannte
Großindustrielle Kommerzienrat Hartmann, der sich mit
seiner Gattin auf dem Rückflug von Amerika befand, ist mit
seiner Maschine abgestürzt. Das Ehepaar und der Pilot
waren sofort tot. Die Leichen konnten geborgen werden.«
Roswitha war aufgesprungen. Wie irr starrte sie vor sich
hin, dann brach sie mit einem furchtbaren Aufschrei

zusammen.
Auch die vier Starkenborn hatten sich erhoben und knieten
nun neben der regungslosen Gestalt nieder, die auf dem
Marmorboden der Terrasse lag.
Jeder Blutstropfen war aus des Schloßherrn Gesicht
gewichen; er nahm sein junges Weib auf die Arme und
schritt langsam, als trüge er eine schwere Last, in das Haus.
Wie Schatten folgten ihm die drei Frauen.
Hinter ihnen drein klang ein lustiges Marschlied aus dem
Lautsprecher.
Allein, was er heute immer noch bringen mochte an

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Unterhaltung, Nachrichten, Musik, wer achtete seiner
noch? Alles war vollkommen verstört, dachte an nichts

anderes als an das Leid der jungen Gräfin, die vom
Schicksal ins tiefste Herz getroffen, schluchzend und an
sich und dem Leben verzweifelnd, auf ihrem Bett lag.
Soeben öffnete sie die Augen. Verständnislos irrten ihre
Blicke umher, um endlich an Odalrich und den Seinen
hängen zu bleiben.
Ein Schauer ging durch die zarte Gestalt der jungen Frau.
»Papi! Mutti! Papi! Mutti!«
Sinnlos vor Schmerz rief sie die Namen, die sie so oft in
heißer Liebe genannt, die Namen derer, nach denen sie in
jeder Not und Bedrängnis gerufen hatte.
Dann blickte sie starr den Gatten an, der bei ihr auf dem

Bett saß und ihre zuckenden Hände in den seinen hielt.
»Odalrich, sage mir doch, daß es nicht wahr ist! Lieber
Odalrich, bitte, bitte!«
Sie befreite ihre Hände, packte ihn bei den Armen,
schüttelte ihn hin und her. Wortlos wandte er das Antlitz
von ihr ab.
Auch Gräfin Wilhelma und Erdmuthe konnten sich der
Tränen nicht erwehren.
Ja, war denn die Welt aus den Angeln gehoben worden,
daß diese Menschen weinen konnten!?
Und woher kamen Gisbert und Angela so plötzlich?
Warum starrten alle sie so an?

»Italein, mein Schwesterchen!«
Auch Gisbert weinte; sie fühlte es, als er sein Gesicht auf
ihre Hand preßte. Angela kniete vor ihrem Bette und barg
schluchzend das Antlitz in den Kissen.
»Ita, wir sind sofort zu dir geeilt«, begann der Bruder
behutsam.
Ach ja, nun war kein Zweifel mehr, Papi und Mutti waren
tot.
Plötzlich fuhr Roswitha auf.
»Nein, nicht, das kann ja nicht sein!« schrie sie gellend.
Dann sank sie bewußtlos zusammen.

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»Daß sie es auf so unbarmherzige Weise hat erfahren
müssen, ebenso wie wir«, sagte Gisbert mit tränenerstickter

Stimme.
Auch er war tief erschüttert. Auch ihn hatte diese furchtbare
Nachricht wie mit Keulenschlägen getroffen.
Trotzdem hatte sein erster Gedanke der Schwester gegolten.
Wie er ging und stand hatte er sich in das Auto geworfen,
und Angela hatte sich stumm an seine Seite gesetzt.
Und nun mußten sie in Königsgnade hören, daß Roswitha
die entsetzliche Kunde bereits erfahren hatte.
»Odalrich, ich habe Angst vor der Zukunft«, würgte Gisbert
gequält heraus, »wie wird Roswitha das überstehen?«
Ja, das wußte der Graf selbst nicht, der immer wieder die
zuckenden, eiskalten Hände seines jungen Weibes

streichelte, als könnte er ihr dadurch die Ruhe des Herzens
wiedergeben. War er doch selbst in tiefster Seele ergriffen
durch den Tod des Mannes, der so viel Güte, so viel
menschliches Verstehen für ihn gezeigt hatte.
Roswitha war wieder zu sich gekommen, sie hatte die
Augen geöffnet.
»Ita, kleines, tapferes Kerlchen«, sagte Gisbert und neigte
sich über sie. »Wir beide müssen jetzt fester
zusammenhalten denn je. Nicht wahr, Schwesterchen?«
Sie sah ihm sekundenlang ins Gesicht, als fiele es ihr
schwer, seine Worte zu begreifen; doch dann schüttelte sie
den Kopf, mutlos, verzweifelt.

»Du hast Angela, Gisbert, die du am meisten liebst von
allen Menschen auf der Welt und die immer bei dir an
erster Stelle steht. Aber ich, ich habe niemand, dem ich
mehr bin als jeder andere.«
Ganz leise flüsterte sie diese Worte, den leeren Blick ins
Weite gerichtet, als sähe sie die geliebten Toten in
unermeßlicher Ferne.
Die ganze Stadt und Umgegend nahm an dem Unglück,
das das Haus Hartmann betroffen hatte, herzlichen Anteil.
Keiner wollte fehlen, um dem hochgeschätzten und
verehrten Kommerzienrat und seiner Gattin das letzte

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Geleit zu geben. Und es war ein schier endloser Trauerzug,
der sich durch den Königsgnader Park bewegte.

Dieser war durch ein schmächtiges Flüßchen von dem
angrenzenden Wald getrennt, an dessen Rande sich eine
kleine Anhöhe mit einer Gruppe uralter Bäume befand, die
ihre breiten Kronen weit in den Himmel hineinreckten.
Von hier aus konnte man einen Teil des Schlosses und des
Parkes übersehen, und an dieser Stelle wurde der
Kommerzienrat mit seiner Gattin bestattet.
Der alte Herr hatte bei einem Besuch in Königsgnade dieses
einzigschöne Fleckchen Erde gesehen und war von ihm so
entzückt gewesen, daß er zu Odalrich geäußert hatte:
»Hier möchte ich einmal begraben sein. Dann wäre ich
meiner kleinen Ita immer nahe, und das Schloß, in dem sie

lebt, grüßte mit seinen Türmen zu mir herüber.«
Der Graf hatte sich diese Worte wohl gemerkt. Sie galten
ihm als ein heiliges Vermächtnis. Diesem Manne, der so
viel für ihn und die Seinen getan und ihnen die Heimat
erhalten hatte, stand wohl das Recht zu, auf Königsgnader
Boden für immer auszuruhen.
Es war der erste dankbare Blick, der Odalrich aus Roswithas
Augen traf, als er ihr erzählte, wo die Eltern begraben
werden sollten.
Nun standen sie an der offenen Gruft, die den großen
Doppelsarg bergen sollte. Man hatte die beiden, die ein
Leben lang in treuer Liebe miteinander verbunden gewesen

und in der gleichen Stunde gestorben waren, auch im Tode
nicht trennen wollen.
Hand in Hand schliefen sie nun den ewigen Schlaf.
Die Trauerfeier war noch nicht zu Ende, als Roswitha ganz
plötzlich lautlos zu Boden sank.
Sofort nahm ihr Gatte sie in seine Arme und trug sie
hinweg, trug sie hinauf in ihr Zimmer, legte sie auf das Bett
und saß wie vor Tagen wiederum bei ihr.
Lange, lange.
Roswitha weinte nicht, sie hatte wohl keine Tränen mehr.
»Papi, Mami!« wimmerte sie nur von Zeit zu Zeit, und

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dieses trostlose Wimmern schnitt dem, der es hörte, mehr
ins Herz, als laute Klagen es vermocht hätten.

Das fanden alle, die nach und nach in das Zimmer
gekommen waren und nun bedrückt dastanden: Bruder
und Schwägerin, die Starkenborner Damen, Fürst Hallnitz
mit seiner Gattin und der Schwager des Verstorbenen,
Professor Lütgens.
Dieser schüttelte immer wieder den Kopf.
»Ja, ja, da sagt man von mir, ich sei ein erfahrener
Seelenarzt. Und ich muß hier untätig dabeistehen und mit
ansehen, wie ein junges Menschenkind so entsetzlich
leidet. Arme kleine Ita, dich hat ein unbarmherziges
Schicksal schwer getroffen. Ita, Herzchen, sei doch nicht so
verzweifelt! Bedenke doch, daß dein Jammer denen, die

dich lieben, das Herz zerreißt.«
Mit einem Ruck fuhr Roswitha empor, saß aufrecht im Bett.
Ihre Augen gingen langsam von einem zum andern.
Unheimlich starr war ihr Blick.
Dann lachte sie auf, kurz und hart.
»Sieh sie dir an, Onkel Arnold«, dabei wies sie auf die drei
Gräfinnen und auf den Schloßherrn, »stolz sind sie und
aufrecht, doch auch kalt und herzlos. Ich mag sie nicht, sie
sollen mich in Ruhe lassen. Ich hasse sie! Ich will fort von
ihnen, von Königsgnade, wo man an Leib und Seele friert.
So geht doch endlich!« schrie sie gequält auf. »Geht alle –
alle! Ich brauche euch nicht!«

Sie warf sich zurück, preßte das Gesicht in die Kissen und
verharrte regungslos.
»Gehen wir also!« sagte der Fürst mit gepreßter Stimme.
Schweigend entfernten sich alle, nur der Graf blieb.
Ohne sich zu rühren, lag Roswitha da, so daß Odalrich
glaubte, sie sei eingeschlafen. Doch ganz plötzlich wandte
sie den Kopf:
»Du bist noch hier?« fragte sie schroff.
»Ja, Roswitha, ich bin noch hier und gedenke auch hier zu
bleiben.«
»Hast du nicht gehört, daß ich euch alle hasse?«

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»Nein, Roswitha, das habe ich nicht gehört, oder will es
nicht gehört haben.«

»Dann werde ich es so lange sagen, bis du es hören mußt.«
»Daran kann ich dich nicht hindern, Roswitha.«
»Und wenn ich dich immer wieder beleidige?«
»Dann werde ich daran denken, daß es nicht Roswitha
Starkenborn ist, die mir dergleichen sagt, sondern ein
verzweifeltes Menschenkind, das nicht weiß, was es
spricht.«
Ganz groß und weit wurden ihre Augen; sie starrte den
Gatten an, als sähe sie ihn heute zum erstenmal.
Und dann bemerkte sie auch, wie blaß er war. Wie müde,
wie angegriffen er aussah.
»Du!« sagte sie nur. »Du!« Doch es lag tiefe Bitterkeit in

den beiden Worten.
Dann wandte sie sich wieder von ihm weg und nahm keine
weitere Notiz von ihm.
Vollständig ablehnend verhielt sie sich auch in den
nächsten Wochen.
Die Geschwister waren nicht, wie man angenommen hatte,
die alleinigen Erben. Der Graf war in gleicher Weise wie sie
bedacht worden, allerdings mit der Einschränkung, daß er
je zehntausend Mark an seine Großmutter, Mutter und
Schwester abzutreten habe, damit diese nicht bis ins
kleinste von ihm abhingen. Die Summe, die Odalrich von
dem Schwiegervater zur Rangierung der Königsgnader

Verhältnisse erhalten hatte, war in sein Erbteil
eingerechnet. Angela erhielt außer einigen Schmucksachen
nichts, da sie selbst ein bedeutendes Vermögen hatte.
Die Villa ging an Gisbert über. Doch sollte auch Roswitha
eine Zufluchtsstätte in ihr behalten.
Dann folgten verschiedene Legate für Fräulein Krön und
einige Angestellte, die schon längere Zeit im Hause
gewesen waren.
Zum Schluß hatte der Kommerzienrat noch bemerkt, er
hoffe, ganz im Sinne seiner Frau gehandelt zu haben.
Gisbert und Roswitha erklärten sich einverstanden, und die

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letzten Formalitäten wurden erledigt. Dann übergab der
Notar dem jungen Hartmann vier Briefe, die der

Kommerzienrat für seine Lieben hinterlassen hatte.
»Odalrich, das ist einmal wieder unser gütiger Vater«,
Gisbert schritt auf den Schwager zu und streckte ihm beide
Hände entgegen. »Wie ich mich mit dir freue, Odalrich.«
»Wirklich, Gisbert?«
Der Graf sah ihn forschend an, und Gisbert hatte das
Gefühl, als wolle er ihn mit seinen Blick durchbohren.
Doch er hielt diesem Blick stand – offen, frei.
Da ergriff der Graf des Schwagers Rechte. »Ich danke dir,
Gisbert«, sagte er und atmete tief auf. Dann hob er die
Augen zu dem Bilde des Kommerzienrates empor.
Lange, lange verharrte er im Anschauen. Es war, als hielte er

Zwiegespräche mit dem Toten, der ihm noch über das Grab
hinaus seine väterliche Liebe und Güte bewiesen hatte.
Gisbert störte ihn in dieser Andacht nicht. Und als er den
tiefen Schmerz in den Augen des Schwagers sah, erkannte
er, wie nahe auch ihm der Tod des Vaters ging.
Nun hatte er die Gewißheit, daß das Geschick seiner
kleinen, geliebten Schwester, um die er immer gebangt
hatte, in den treuesten, zuverlässigsten Händen lag, und
daß Odalrich in Roswitha stets das Vermächtnis des
Mannes sehen würde, dem er so viel Dank schuldete.
Angela schluchzte leise vor sich hin, und Roswitha lehnte
anscheinend teilnahmslos in ihrem Sessel. Erst als der

Bruder ihr den Brief des Vaters in den Schoß legte, kam
Leben in ihre Gestalt.
Es waren nur wenige Worte, die dieser Brief enthielt, aber
sie kamen aus treuem, zärtlichem Vaterherzen.
Sie ermahnten Roswitha, unverbrüchlich zu dem Manne zu
halten, dem sie sich am Altar angelabt hatte. Odalrich habe
nicht nur Anspruch auf ihre Treue, sondern auch auf ihre
Liebe; und sie solle zudem bedenken, daß Königsgnade
nun ihre Heimat sei.
In dem Schreiben, das an den Grafen gerichtet war, sprach
der Kommerzienrat die Bitte aus, Odalrich möge das ihm

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Zugedachte ohne Bedenken annehmen, denn er betrachte
ihn ganz als seinen Sohn. Fühle er sich aber ihm gegenüber

zu Dank verpflichtet, so solle er diesen Dank an Roswitha
abtragen, deren Geschick er noch einmal vertrauensvoll in
seine Hände legte mit der Bitte, ihr ein einsichtsvoller Gatte
zu sein. Gisbert möge er ein guter Bruder werden und ihm
in Treue verbunden fühlen.
Ähnlichen Inhalts waren auch die an Gisbert und Angela
gerichteten Briefe. Und es war wie ein Gelübde, als diese
drei Menschen sich unter dem Bild des edlen Mannes, der
so treu für sie gesorgt hatte, die Hände reichten.
Nur Roswitha blieb nach wie vor still. Sie hörte zwar all die
lieben Worte, die ihr von Bruder und Schwägerin in dieser
Stunde gesagt wurden, erwiderte jedoch nichts darauf.

Als sie nach Königsgnade zurückgekehrt war, legte sie sich
sofort wieder zu Bett und war in den nächsten Tagen nicht
zu bewegen, es zu verlassen.
Die Welt prangte im schönsten Sommerschmuck, und die
Sonne strahlte lockender denn je vom Himmel herab.
Roswitha aber wollte nichts von der Sonne wissen. Sie tue
ihr weh, behauptete sie. Und wenn sie gar zu hell ins
Zimmer schien, befahl sie, die Vorhänge an den Fenstern
zu schließen.
Den Gatten, der täglich stundenlang bei ihr weilte, sah sie
überhaupt nicht. Und daß er immer verschlossener, immer
ernster wurde, daß er kaum noch richtig schlief, sondern

die halben Nächte an ihrem Bett verbrachte und ihren
unruhigen Schlummer bewachte, bemerkte der
selbstsüchtige Trotzkopf nicht einmal.
Was gingen sie die Sorgen und Kümmernisse Dritter an?
Sie selbst litt. Alles andere war für sie Nebensache. Warum
sollte nicht alles so bleiben, wie es jetzt war?
Es lag sich doch sehr gut hier, und sie wollte von der Welt
nichts mehr sehen oder hören. Was galt ihr das Leben
noch? Sollte morgen alles aus sein – immerzu! Sie wäre
damit ganz einverstanden!
Eines Abends saß man in der großen Schloßhalle

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beieinander, denn in dem großen Räume war es
erfrischend kühl. Der Tag war unerträglich heiß gewesen,

und sogar noch am Abend war es drückend warm.
Gisbert und Angela waren vor einer Stunde in Königsgnade
eingetroffen und hatten sich nach Roswitha umgesehen.
Doch da sie weder durch Bitten noch durch gutes Zureden
irgend etwas bei ihr ausrichten konnten, waren sie ziemlich
bedrückt zu den anderen zurückgekehrt.
In Königsgnade hatte sich inzwischen nichts verändert.
Roswitha fand alles genauso vor, wie sie es verlassen hatte.
Die Gemächer waren bereit, ihre Herrin aufzunehmen, und
ein Gefühl des Geborgenseins überkam die junge Frau, als
sie sie wieder betrat.
Die Begrüßung mit den Angehörigen ihres Gatten hatte

Roswitha, gottlob, hinter sich. Sehr kalt, sehr förmlich war
sie ausgefallen.
Einträchtig begaben sich die Gatten eine halbe Stunde
später nach dem Speisesaale, wo die anderen sie schon
erwarteten.
So steif und ungemütlich wie früher fand Roswitha die
Tafel nicht mehr. Entweder hatte sich hier etwas geändert,
oder sie sah alles mit anderen Augen an. Es hatte fast den
Anschein, als ruhten die Blicke der alten Gräfin mit
Wohlgefallen auf ihr.
»Sonne und Seeluft haben deinem Teint wenig anhaben
können, mein Kind«, stellte sie fest, »fühlst du dich nun

wieder ganz frisch und gesund?«
»Danke, ja.«
»Hast dort wohl alle gehörig am Bändel gehabt, wie?
Mußten sich wohl alle nach deinen Wünschen richten?«
Sehr hochmütig klang das, so daß Frau von Wilde
Roswitha ganz erschrocken ansah.
»Das stimmt nicht, Frau Gräfin«, wandte sie sich an die alte
Gräfin. »Wenn wir meiner kleinen Herrin alles zuliebe
taten, dann geschah es nur deshalb, weil wir es nicht
anders konnten. Frau Gräfin gibt ja selbst so viel Liebe, daß
man unwillkürlich Gleiches mit Gleichem vergelten muß.

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Und daß man sie dabei ein wenig vergöttert, ist nur zu gut
zu begreifen.«

»Na ja, das erzählen Sie ihr nur noch«, lächelte die alte
Dame. »Schauen Sie einmal, was für ein Gesicht sie macht!
Das sieht ganz und gar nicht liebevoll aus.«
Nun, das stimmte. Roswitha blickte so hochmütig, so
unnahbar drein, wie es nur jemals eine Herrin von
Königsgnade getan hatte.
»Ärgere mir mein kleines Mädchen nicht, Großmutter!«
lächelte der Graf. »Ita ist nämlich furchtbar in ihrem Zorn,
und ich möchte dir nicht geraten haben, den
herauszufordern.«
Am nächsten Morgen stand Roswitha früh auf. Ihr erster
Weg war zu der letzten Ruhestätte der Eltern. Der Platz war

sehr gepflegt, und ein imposantes Grabmal stand zu
Häupten des Hügels, der über und über mit Blumen
geschmückt war.
Von heißem Schmerz überwältigt, kniete Roswitha an dem
Grabe nieder und drückte das zuckende Gesicht in die
Blumen.
Oh, dieser Friede hier! Sie meinte, er teilte sich auch ihrem
Herzen mit. Ihr war beinahe, als vernähme sie des Vaters
Stimme.
Und leiser und leiser wurde ihr Weinen.
Auch Odalrichs erster Gang an diesem Morgen hatte der
Ruhestätte seiner Schwiegereltern gegolten. Aber als er sein

junges Weib in Tränen aufgelöst hier an dem Hügel knien
sah, ging er still wieder davon.
Ach, daß es ihm nicht gegeben war, den Weg zu der Gattin
Herzen zu finden. In trotziger Abwehr stand sie ihm
allezeit gegenüber.
So würde kein noch so gut gemeintes Wort aus seinem
Munde imstande sein, sie trösten zu können.
Als Roswitha ihre Tränen getrocknet hatte und sich erhob,
saß ein Vöglein auf dem Grabstein und sang aus voller
Kehle. Sie wagte nicht, sich zu rühren, denn sie fürchtete, es
zu verscheuchen.

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Nun sah sie auch die Schönheit ringsumher, sah das
Schloß, das im Strahl der Morgensonne herübergrüßte, und

fühlte den köstlichen Frieden, der hier herrschte.
Ach ja, nun wußte sie, wo ihre Heimat war: hier, wo ihre
Lieben ruhten, deren Grab sie vom Fenster ihres
Schlafzimmers aus erblicken konnte; hier, wo sie ihnen so
nahe war wie nirgends sonst.
Getröstet ging sie zu dem Schlosse zurück und besuchte
erst einmal ihr Pferd, das der Vater ihr noch kurz vor
seinem Tode geschenkt hatte. Es war ein rührendes
Wiedersehen.
Sie rief den Stallknecht herbei und gab den Auftrag, es zu
satteln.
Oh, wie herrlich das war, auf dem Rücken eines Pferdes

dahinzufliegen durch den frischen Herbstmorgen! Nun erst
wurde sie sich dessen bewußt, wie sehr sie ihre täglichen
Ausritte entbehrt hatte.
Wie schön war der Wald in seinem bunten Blätterschmuck,
wie wundervoll! Wie weit wurde einem in seinem Bereich
das Herz.
Ja, das war Heimatluft; nun fühlte sie es.
Ganz vergnügt war sie, als sie nach Königsgnade
zurückkam. Sie kleidete sich rasch um, um bei dem
gemeinsamen Frühstück nicht zu spät zu erscheinen.
»Wo ist Roswitha?« fragte Graf Starkenborn und ließ sich
vor dem Kamin, dem eine wohlige Wärme entströmte, in

einen Sessel sinken. Der Novembersturm heulte um das
Schloß, und da war es hier in der Halle am gemütlichsten.
Wie gewöhnlich saßen die Gräfinnen zusammen, und wie
gewöhnlich fehlte die jüngste von ihnen in ihrem Kreise.
»Roswitha ist gleich nach dem Kaffee fortgeritten und bis
jetzt nicht zurückgekommen«, gab Erdmuthe auf des
Bruders Frage Auskunft.
»Sag mal, Odalrich, ist es dir auch schon aufgefallen, daß
die Kleine tut, was sie will?« fragte die alte Gräfin ihren
Enkel, und es klang wie Befriedigung aus ihren Worten.
»Ich kann mir nicht helfen: deine kleine Dollarprinzessin

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gefällt mir.«
»Mir nicht«, entgegnete der Graf gelassen und sah nach der

Uhr. »Schon achtzehn Uhr.«
In diesem Augenblick betrat Roswitha die Halle.
Sie schien alle Furcht vor dem Gatten und den Gräfinnen
verloren zu haben und trat ihnen lebhaft und vollkommen
unbeschwert entgegen.
Sie lachte, als die alte Gräfin sie an ihre Seite winkte und
ihr mit der Hand in die Locken fuhr.
»Na, Hexlein, wir sind ja so fidel!«
»Einer von der Familie muß es doch wenigstens sein«,
lachte sie spitzbübisch zu dem Gatten hinüber. »Ist es nicht
genug, wenn mein hoher Herr und Gebieter eine wahre
Menschenfressermiene aufsetzt? – Brrr! – Odalrich, da

kann es einem ja wahrhaft grausen.«
So hatten die Starkenborn sie noch nie gesehen, und ihr
sprudelnder Übermut riß sie alle mit fort, so daß sie lustig
auflachten. Sie waren zuerst wohl selbst darüber
erschrocken, doch die Kleine war einfach unwiderstehlich.
Wie ein lichter Sonnenstrahl huschte sie durch das düstere
Schloß und war auch bei den Gutsleuten ein gern
gesehener Gast. Für alle hatte sie ein herzliches Wort und
half, wo sie nur konnte. Wenn sie die Dorfstraße
entlangritt, hängten die Kinder sich wie Kletten an sie.
Dann lachte sie herzlich und fröhlich auf. Ohne daß man
dessen eigentlich gewahr wurde, stellte sie in Königsgnade

manches geradezu auf den Kopf und war dank ihrer
herzbetörenden Art bald der Liebling von jung und alt.
Schon wenn Roswitha morgens an der Frühstückstafel
erschien, lauschte man ihrem frohen Geplauder mit tiefer
Befriedigung und merkte es nicht einmal, wie sehr sie
bereits ihre ganze Umgebung beherrschte.
Man war daher gar nicht damit zufrieden, als sie eines
Morgens durch Frau von Wilde bestellen ließ, sie gedenke
künftighin nicht mehr an dem gemeinsamen Frühstück
teilzunehmen. Sie sei morgens stets sehr müde und möchte
darum länger im Bett bleiben.

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Dagegen war nichts zu machen. Zwingen ließ sich dieses
eigenwillige Persönchen nicht; es tat ja doch, was es wollte.

Zur Mittagstafel erschien sie aber stets sehr pünktlich und
gab auf die besorgten Fragen, ob sie sich nicht wohl fühle,
ausweichende Antworten. Es war jedoch seltsam, daß sie
Frau von Wilde dabei nicht ansehen konnte.
So ging es zwei Wochen, bis Frau von Wilde, die jetzt
immer das Frühstück mit Roswitha eingenommen hatte,
wieder einmal an der Frühstückstafel erschien.
Sie war sehr unsicher und verlegen, und man merkte ihr
an, daß sie etwas auf dem Herzen hatte, das ihr nur schwer
über die Lippen wollte.
»Haben Sie mir etwas mitzuteilen, Frau von Wilde?«
ermunterte der Graf sie.

»Ach ja«, sie atmete befreit auf, »ich muß Erlaucht etwas
sagen, selbst auf die Gefahr hin, daß meine kleine Herrin
mir sehr zürnen wird. Frau Gräfin treibt nämlich seit zwei
Wochen Gymnastik, wenn man ihre Gewaltkuren
überhaupt mit diesem Wort bezeichnen kann. Sie hat sich
von dem Chauffeur heimlich ein Turnzimmer einrichten
lassen und treibt nun allmorgendlich Sport, und zwar in
einer Weise, daß ihr das schließlich schaden muß.«
Der Graf schien allen Appetit verloren zu haben; er lehnte
sich in seinem Stuhle zurück, und seine Miene verfinsterte
sich.
»Ich danke Ihnen für diese Mitteilung, Frau von Wilde«,

sagte er freundlich, erhob sich, machte eine
entschuldigende Verbeugung zu den Damen hin und
verließ das Zimmer. Dann ging er zu den Gemächern
seiner Gattin.
»Roswitha!«
Sie fuhr zusammen und hielt erschrocken im Rudern inne.
»Odalrich – du? Sonst kamst du doch nie!«
»Nein, leider nicht!« Kurz und bestimmt klang es, und eine
Falte erschien zwischen seinen Brauen, die nichts Gutes
verhieß.
»Den Sport in Ehren, Roswitha«, sagte er mit einer gewissen

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Schärfe, »doch wenn er in Tollheit ausartet, dann ist sein
Zweck verfehlt! Wer hat dich überhaupt auf diese

hirnverbrannte Idee gebracht?«
»Du hast mich hier in meinen Zimmern nicht so
anzuschreien, verstehst du? Und was du liebst oder nicht,
ist mir höchst gleichgültig.«
Ohne ihn noch eines Blickes zu würdigen, ruderte sie
weiter. Doch als er nun zu ihr trat, wich sie erschrocken
zurück. Wie ein Püppchen hob er sie aus dem Sitz. Es half
ihr nichts, daß sie sich mit aller Gewalt dagegen sträubte
und mit den Fäusten nach ihm stieß.
Nur als sie ihm auf die Schulter schlug, zuckte er so heftig
zusammen, daß er sie auf die Erde gleiten ließ.
»Ah, also an dieser Stelle ist der gehörnte Siegfried

verwundbar«, spottete sie.
Doch schon saß sie wieder auf seinen Armen.
»Laß mich herunter… du… oder…«
Sie schlug wie wild auf ihn ein, doch er ließ sie nicht
wieder los, sondern trug sie nach dem Ankleidezimmer, wo
er sie in einen Sessel sinken ließ.
»So bändigt man widerspenstige kleine Mädchen«, sagte er
gelassen und hatte für die Empörung, die ihr aus den
Augen sprühte, nur ein ironisches Lächeln. Er drückte auf
den Klingelknopf und befahl der unverzüglich
erscheinenden Anni:
»Helfen Sie der Frau Gräfin, Anni, sie möchte sich

ankleiden.« Dann verließ er das Zimmer, ohne Roswitha
nur noch eines Blickes zu würdigen.
Diese sah ihm wie erstarrt nach. Dann schnellte sie auf, lief
in ihr Schlafzimmer, warf sich auf den Diwan und weinte,
weinte, als müsse sie die Welt erschüttern mit ihrem
leidenschaftlichen Schluchzen.
Doch auch das wurde mit der Zeit langweilig.
Endlich wurde es Abend.
Sie warf sich auf ihr Bett, konnte aber keine Ruhe finden.
Elend und verlassen fühlte sie sich und war unzufrieden
mit sich und mit der ganzen Welt.

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Zornig warf sie sich herum und wühlte den Kopf in die
Kissen. Sie wollte nicht immer nach dem Nebenzimmer

hinhorchen. Der Mann dort drüben war ihr doch
vollkommen gleichgültig! Sie haßte ihn sogar!
Ja wirklich, sie haßte ihn!
Und doch ertappte sie sich immer wieder dabei, daß sie
angestrengt nach dem Nebenzimmer lauschte.
Plötzlich wurden ihre Augen ganz groß und weit, und mit
einem Ruck saß sie aufrecht im Bett.
Was bedeutete das?
Ein Stöhnen nebenan?
Da, jetzt wieder!
Mit einem Satz war sie aus dem Bett und schlich leise zu
der Tür, die zum Schlafgemach des Gatten führte.

Sie legte ihr Ohr an das Schlüsselloch und lauschte mit
angehaltenem Atem.
Da, wieder dieses unterdrückte Ächzen!
Nun war alles vergessen, was sie sich in den einsamen
Stunden dieses Abends vorgenommen hatte; sie dachte nur
noch an den, der im Nebenzimmer lag, und –
Sekundenlang zögerte sie noch, dann trat sie ein.
Es war so dunkel hier, daß sie das Bett nicht sehen konnte.
»Odalrich!« rief sie leise.
»Wer ist da?« kam es zurück. An dem Klang seiner Stimme
konnte sie erkennen, daß er Schmerzen haben mußte.
»Ich bin es, Roswitha«, entgegnete sie zaghaft.

»Du, Kind? Ich glaubte, du schliefest.«
Er schaltete die Nachttischlampe ein, Licht fiel auf sein
Gesicht.
Mit wenigen Schritten war sie bei ihm.
»Hast du Schmerzen, Odalrich?«
Er lächelte, als er ihre erschrockenen, angstvollen Augen
sah.
»Meine Schulter, wenn du Christian herbeirufen wolltest.«
Aber sie hörte seine Worte gar nicht, beugte sich über ihn
und erblaßte bis in die Lippen, als sie die Jacke seines
Schlafanzuges sah, die an der Schulter blutdurchtränkt war.

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Halb sinnlos vor Angst rief sie Christian herbei und befahl
ihm, sofort den Arzt zu benachrichtigen. Darauf eilte sie in

ihr Ankleidezimmer, warf ein Kleid über, holte eine
Schüssel mit Wasser und ein leinenes Tuch herbei und
kehrte zurück.
»Laß doch, Ita«, sagte er verlegen, als sie zu ihm trat und
mit Hilfe eines Schwammes versuchte, den festgeklebten
Stoff der Jacke von der Wunde zu lösen. Sie biß die Zähne
zusammen, als sie sah, wie weh sie ihm dabei tat.
Und dann schrie sie leise auf, denn dicht unter seiner
Schulter klaffte ein tiefer, ungefähr zehn Zentimeter langer
Riß.
»Odalrich, um Gottes willen!«
»Ich weiß doch, daß das nichts für dein weiches Herzchen

ist, kleine Ita«, sagte er leise, »überlasse das weitere
Christian!«
Doch sie hatte schon das feuchte Tuch ergriffen und preßte
es behutsam auf die Wunde.
Plötzlich weinte sie auf, so heftig, so hemmungslos, daß er
erschrocken zusammenfuhr.
»Roswitha, ja, was ist dir denn?«
»Ich, ich habe heute früh auf diese Schulter geschlagen«,
schluchzte sie bitterlich. »Odalrich, was mußt du von mir
denken! Ach, könnte ich dir doch sagen, wie leid mir das
tut!«
Da ging ein weiches Lächeln über seine Züge.

»Du hast es ja nicht gewußt, kleines Mädchen, brauchst dir
keine Vorwürfe zu machen. Heute morgen schmerzte die
Schulter überdies so wenig, daß ich der Wunde weiter
keine Bedeutung beilegte. Der störrische Stier, den man
nicht mehr bändigen konnte, und der deshalb für den
Schlächter verladen werden mußte, gebärdete sich zum
Abschied noch wie toll. Er wollte mich auf die Hörner
nehmen, doch traf zum Glück nur die Schulter.«
»Und davon sagst du gar nichts? Vernachlässigst die böse
Wunde in dieser Weise?«
»Aber, Kind, ich werde doch nicht wegen dieser

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Geringfügigkeit das Haus auf den Kopf stellen. Ich verachte
mich selber, daß ich so zimperlich bin. Aber es schmerzt

ganz niederträchtig, und ich bin schlapp wie ein
Milchkind.«
»Selbstverständlich, bei dem Blutverlust«, entgegnete
Rowitha mit zuckenden Lippen. Sie kühlte behutsam die
Wunde, und er sah sie dankbar an.
»Ah, das tut gut, kleine Samariterin!« Und nach einer
Weile: »Zürnst du mir noch sehr, wegen heute morgen?«
»Odalrich, bitte sei still, wenn ich mich nicht zu Tode
schämen soll.«
Dann erschien der Arzt, den Christian herbeigerufen hatte.
»Das ist ja eine schöne Bescherung«, sagte er, als er die
Wunde untersucht hatte. »Wie ist das nur gekommen,

Erlaucht?«
Roswitha erklärte es ihm hastig, und er nickte.
»Mit Verlaub, es war sehr leichtsinnig, Erlaucht, mich nicht
eher rufen zu lassen. Erlaucht haben doch keinen Körper
aus Stahl und Eisen. Die Wunde muß unbedingt genäht
werden, sonst bleibt eine fingerbreite und ebenso tiefe
Narbe zurück, und sonst hört auch die Blutung nicht auf.«
Er traf schleunigst seine Vorbereitungen, und Roswitha
folgte seinem Tun mit vor Entsetzen weit aufgerissenen
Augen. Sie hatte beide Hände fest auf das Herz gepreßt, das
so heftig klopfte, als wollte es ihr aus der Brust springen.
Der Arzt sah ihre verstörten Mienen und lächelte.

»Nicht ängstlich sein, wir geben unserem Patienten ein
wenig Chloroform, dann merkt er nichts von der Bastelei.«
Er erteilte noch einige Verhaltensmaßregeln, versprach am
nächsten Vormittage wiederzukommen und verabschiedete
sich.
Nun sah Roswitha auch den Diener, der am Fußende des
Bettes stand.
»Vorläufig brauche ich dich nicht mehr, Christian«, sagte
sie freundlich, »du kannst zu Bett gehen, mußt aber
jederzeit zur Stelle sein, falls ich deiner bedürfen sollte.«
»Aber Erlaucht können doch nicht…«

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»Doch, Christian, ich kann es, und ich will es«, entgegnete
sie fest. »Das ist eine schlechte Frau, die ihren kranken

Mann fremden Händen überläßt, wenn es in ihrer Macht
steht, ihn pflegen zu können.«
Da ging ein Leuchten über das faltige Gesicht des Alten,
und er ging leise hinaus.
Roswitha blieb mit dem noch immer bewußtlosen Gatten
allein. Der Arzt hatte wohl gemeint, daß der Graf bald
erwachen würde; sie hatte jedoch große Angst, als er lange
Zeit regungslos dalag.
Immer wieder streichelte sie sein Gesicht.
»Odalrich, hörst du mich? Odalrich, wache bitte auf«, sagte
sie unausgesetzt.
Endlich schlug er die Augen auf und sah sie verständnislos

an.
»Du, Roswitha?«
Er wollte sich herumwerfen, doch sie hielt ihn fest.
»Nicht, Odalrich, du sollst ruhig liegen.«
»Ach ja, richtig«, murmelte er, »was hat denn unser guter
alter Pflasteronkel mit mir gemacht?«
»Er hat die Wunde genäht und angeordnet, daß du im Bett
bleiben sollst. Du bist mir also auf Gnade und Ungnade
ausgeliefert.«
»Na, das lasse ich mir schon gefallen«, lachte er, verzog
dann aber doch das Gesicht, weil jede Erschütterung ihm
Schmerzen verursachte. »Willst du nicht Schlafengehen,

Ita?«
»Ich soll schlafen«, entgegnete sie empört, »und soll dich
hier deinem Schicksal überlassen? Du scheinst ja eine gute
Meinung von den Frauen zu haben.«
Er sah sie lange an, und so eigen war sein Blick, daß sie die
Augen niederschlug.
»Eine gute Meinung von der Frau habe ich soeben
bekommen«, sagte er leise. »Tapfere kleine Ita, ich danke
dir.«
Sie blendete nun die Nachttischlampe ab, so daß nur noch
eine gedämpfte Helle im Raum herrschte, und legte sich

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dann.
Sein Schlaf war sehr unruhig. Von Zeit zu Zeit öffnete er die

Augen. Jedesmal, wenn sein Blick auf Roswitha fiel, bat er
sie zu schlafen, hielt aber gleichwohl ihre Hand fest.
In den langen bangen Nachtstunden, als sie ihn schwach
und hilflos vor sich Hegen sah, flammte in ihr erneut die
Liebe zu diesem Mann auf, dem sie vom ersten Augenblick
an verfallen war. Sie brannte in ihrem Herzen vielleicht
stärker denn je.
Aber was mit dieser Liebe beginnen, die er nicht für sich
begehrte, die er zwar duldete, jedoch niemals erwidern
würde?
Konnte sie sich so weit überwinden, das große Gefühl, von
dem sie vollkommen beherrscht wurde, hinzugeben, um

dafür nichts einzutauschen als bloße Sympathie und
vielleicht noch nicht einmal die?
Auf einmal fiel ihr Blick auf den Ring, den Zauberring, und
ihr Herz begann wie rasend zu pochen.
Wie der Stein an ihm gleißte und funkelte! Wieviel
Unerforschtes, Unergründliches mochte in seiner
geheimnisvollen Tiefe schlummern!
Vielleicht war es unrichtig, als Aberglauben zu verlachen,
was der Stein verhieß, vielleicht wohnte ihm wirklich eine
Kraft inne, die man nicht einmal ahnte. Ach, könnte er mit
seinem blinkenden Schein hinunterleuchten in ihres
Herzens Kammern.

Als ahne Odalrich, was in der Seele seines Weibes vorging,
öffnete er die Augen und sah sie an.
Blick ruhte in Blick.
Lange, unlöslich fast.
Wie unter einem Zwange erhob Roswitha die Hand, als
wolle sie das, woran sie gedacht, wahrmachen und den
Stein hinunterleuchten lassen in ihres Herzens tiefsten
Grund.
Vor dem flammenden Licht des Juwels schloß er die Augen,
lächelte wie traumverloren und schlief weiter.
Roswitha war so erregt wie noch niemals in ihrem Leben.

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Als wären Jahre vergangen und nicht bloß Stunden, so sehr
hatte sich ihr ganzes Inneres gewandelt.

Getreulich wachte sie an des Gatten Lager.
In solcher Weise verwöhnt zu werden, war für Odalrich
etwas ganz Neues. Und die drei Gräfinnen, die soeben
eintraten, kannten derartiges auch wohl kaum, denn sie
standen zunächst sprachlos da.
»Das sind ja nette Geschichten, die du da machst,
Odalrich«, sagte die Mutter endlich und trat als erste an des
Sohnes Bett. Daß sie zuerst das Wort ergriff, war wohl noch
nie vorgekommen. Das war bisher stets der alten Gräfin
vorbehalten geblieben.
Doch Roswitha, die da so lachend auf dem Bett des Gatten
saß, hatte manches umgestoßen, was schon zwei

Jahrhunderte hindurch bestanden und hatte es mit einer
Grazie und einer Unbekümmertheit getan, als müsse es so
sein.
Wäre ein erkrankter Schloßherr in früherer Zeit jemals mit
der gleichen Liebe und Hingabe gepflegt worden? Wohl
kaum!
Was man hier sah, widersprach eigentlich aller Tradition;
aber seltsam, ein Befremden darüber wollte sich dennoch
nicht einstellen.
Die Damen lächelten, und die alte Gräfin bemerkte
neckend:
»Schau, schau, unser kleines Dollarprinzeßchen scheint ja

die geborene Samariterin zu sein. Bloß um so verwöhnt zu
werden, ließe ich es mir ganz gern gefallen, einmal krank
zu sein, übrigens, wie geht es dir, Odalrich?«
»Danke, ausgezeichnet«, lächelte er, »bei solcher
Behandlung und in solcher Gesellschaft bin ich gar nicht
darauf erpicht, schnell gesund zu werden.«
»Odalrich!« rief Roswitha entrüstet, und er lachte.
»Nun, so schlimm wie man es nach Christians Bericht
vermuten mußte, scheint die Krankheit nicht zu sein«,
stellte die alte Gräfin mit Befriedigung fest. »Ich bekam
keinen geringen Schreck, als ich erfuhr, der Arzt sei gestern

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noch spät am Abend hiergewesen. Aber uns zu rufen, das
fiel der kleinen Dollarprinzessin nicht ein, wie? Wir haben

eben unser Köpfchen für uns!«
»Warum sollte ich Frau Gräfin stören?«
»Nenne mich ›Großmutter‹, Kind! Wie oft soll ich dir das
noch sagen? Jedenfalls freue ich mich, daß du so auf dem
Posten bist. Ist schon eine Pflegerin bestellt?«
»Nein, denn ich habe mich entschlossen, Odalrich allein
zu pflegen; Christian wird mich dabei unterstützen. Der
Arzt hat es mir gestattet, und ich werde bleiben, wo ich
bin.«
Sehr sanft, fast zaghaft strich Gräfin Wilhelma ihr über das
Haar, und die alte Gräfin sagte leise:
»Gott segne dich dafür, mein Kind!«

Wenn es der Wille des Schicksals war, daß die Gatten sich
doch noch in Liebe finden sollten, so konnte es kein
besseres Mittel dafür geben als Odalrichs Erkrankung.
Dadurch, daß die jungen Eheleute fast ununterbrochen
allein waren, kamen sie sich von Tag zu Tag näher.
Sie tauschten gegenseitig ihre Gedanken aus und sprachen
von Dingen, die früher niemals über ihre Lippen
gekommen wären.
Odalrich hatte gehofft, sobald er genesen wäre, würde alles
so bleiben wie bisher; er mußte in dieser Hinsicht jedoch
eine große Enttäuschung erleben.
Von dem Augenblick an, als der Arzt ihn als

wiederhergestellt bezeichnete, war Roswitha wie
umgewandelt.
War sie vorher kaum von seiner Seite gewichen, so ging sie
dem Gatten jetzt aus dem Wege, wo und wann sie es nur
vermochte.
Er stand geradezu vor einem Rätsel. Vergeblich fragte er
sich, wodurch die Veränderung ihres Wesens bedingt sein
könnte.
Er konnte ja nicht ahnen, wie sehr sie sich quälte, wie sie
litt, wie sie in heißem Kampf mit sich selber lag, und wie
heftig ihr Stolz sich dagegen wehrte, ihn erkennen zu

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lassen, daß all ihr Sinnen und Denken ihm gehörte.
Er war jetzt stets ungemein zuvorkommend, ja geradezu

ritterlich im Verkehr mit ihr. Aber das bedeutete noch lange
keine Liebe.
Dadurch wollte er ihr nur seinen Dank für ihre aufopfernde
Pflege bekunden.
Und Liebe mit Dankbarkeit vergelten?
Nein, tausendmal nein!
Sie, die früher über jeden Aberglauben gelacht und
gespottet hatte, setzte jetzt alle ihre Hoffnungen auf die
angebliche Zauberkraft des indischen Ringes. Sie erwartete
von ihr, daß sie ihr das Herz des Gatten zuwenden solle.
Eben wieder drückte sie den Ring an die Lippen. Wie oft –
ach, wie oft schon in den letzten Wochen. Sie wurde nicht

gewahr, daß der Gatte leise das Zimmer betrat, das er in
letzter Zeit ebenso eifrig aufsuchte, wie er es früher
gemieden hatte. Nun konnte sie ihm nicht entschlüpfen.
»Halt, Roswitha, laufe mir nicht wieder davon, ich möchte
endlich wissen, was ich dir getan habe.«
»Nichts«, entgegnete sie und senkte den Kopf, denn sie
wollte ihm nicht in die Augen sehen.
»Roswitha, mein Mädchen, wo ist all die köstliche
Zutraulichkeit geblieben, die du während meiner Krankheit
für mich hattest und die mich unendlich glücklich machte?
Du bist jetzt viel unzugänglicher, als du es in früherer Zeit
warst. Werden wir uns denn immer fremd bleiben? Sollen

wir uns niemals näherkommen, die wir uns doch am
nächsten stehen sollten?«
Da hob sie ganz plötzlich den Kopf und sah ihn lange und
forschend an. Doch dann wandte sie den Blick von ihm.
In seinen Augen hatte wohl ehrliche Trauer, aber noch
lange keine Liebe gestanden.
Sie wandte sich schroff von ihm ab, und ehe er es
verhindern konnte, war sie aus dem Zimmer geeilt.
Er sah ihr nach, Hoffnungslosigkeit im Blick.
In der nächsten Zeit fand er keine Gelegenheit, Roswitha in
Ruhe sprechen zu können; denn das Weihnachtsfest rückte

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immer näher, und die junge Gräfin war stark beschäftigt.
Sie hatte von dem Gatten die Erlaubnis erhalten, den

Gutsleuten und deren Kindern im Schlosse zu bescheren,
was in Königsgnade bisher nicht Brauch gewesen war.
Was hätte Roswitha wohl nicht durchgesetzt!
In ihrem Eifer, mit dem sie die Vorbereitungen traf, kam sie
auch dem Gatten wieder näher. Er hütete sich, etwas zu
sagen oder zu tun, was ihre Zutraulichkeit verscheuchen
konnte, die wieder langsam zurückzukehren schien.
Jedem hatte Roswitha einen Wunsch nicht nur abgelauscht,
sondern ihn auch erfüllt, soweit sie dazu imstande war.
Und diese durch Liebesbeweise und Aufmerksamkeiten
nicht verwöhnten Menschen, die es niemals verstanden
hatten, Freude um sich her zu verbreiten, fühlten sich

Roswithas Liebesreichtum gegenüber arm.
Und wie sie selbst sich freuen konnte über das, was man
ihr bescherte! Es war ja nichts Besonderes, und Roswitha
hätte sich alles selbst kaufen können, aber es waren
Weihnachtsgeschenke und deshalb freute sie sich.
Zuletzt führte sie den Gatten an den Gabentisch. Sie
schaute ihn an, ob sie seine geheimen Wünsche erraten
hätte, doch er blickte seltsam traurig.
»Freust du dich denn gar nicht, Odalrich?« fragte sie ihn
leise, als sie sich von den anderen unbeobachtet wußte.
»Doch, Roswitha, ich danke dir, sehr sogar. Allein das
größte, das köstlichste Geschenk wird mir auch heute noch

nicht beschert werden, Roswitha?«
»Und das wäre?« fragte sie hastig und fühlte das Herz bis
zum Halse schlagen.
»Alles das, Roswitha, was mir während meiner Krankheit in
so reichem Maße zuteil wurde, mich hoch beglückte und
mir dann wieder verlorenging.«
»Ja… selbstverständlich«, stammelte sie verwirrt und wagte
nicht, ihn anzusehen.
»Roswitha!« bat er leise und verhalten.
Da hob sie schnell den Blick, und als sie seine traurigen
Augen sah, lächelte sie und schaute zu den anderen

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hinüber. Dann führte sie den Gatten hinter den
Tannenbaum und küßte ihn, leise und scheu.

»Da – meine Antwort«, sagte sie sehr verlegen und senkte
dann schnell den Kopf, denn ein so heißer, strahlender
Blick traf sie aus Odalrichs Augen, daß sie heimlich
erschauerte.
»Roswitha, ich danke dir«, hörte sie ihn leise sagen, und
dann eilte sie schnell von ihm fort.
Doch es war ihr plötzlich so leicht, so glückselig zumute.
All die Freude, die sie im Herzen hatte, hätte sie
hinausjauchzen mögen in die Welt.
Mit strahlenden Augen saß sie an der Abendtafel und
konnte vor Freude kaum etwas genießen.
Kein Wunder also, wenn sie sich bei der vorzüglichen

Weihnachtsbowle, die nach dem Essen kredenzt wurde,
einen allerliebsten Schwips anprostete.
Man war ja ganz unter sich. Gisbert und Angela, die man
nach Königsgnade gebeten hatte, konnten der Einladung
nicht Folge leisten, da Angela Mutterfreuden entgegensah
und sich nicht mehr aus dem Hause wagte.
Und als gar am späten Abend die Nachricht kam, daß im
Hause Hartmann soeben ein strammer Junge angekommen
sei, kannte Roswithas Glückseligkeit keine Grenzen. Sie
steckte mit ihrem unwiderstehlichen Übermut alle an,
behauptete immer wieder, daß die Ankunft des kleinen
Erdenbürgers gebührend gefeiert werden müsse, und

erreichte es wirklich, daß selbst die Gräfinnen nicht mehr
ganz taktfest waren.
Der Schloßherr war ebenfalls berauscht, wenn auch nicht
von der Bowle.
Wohl aber vor Glück.
Doch auch die schönsten Stunden haben einmal ein Ende,
und so zog man sich endlich zurück, als die Müdigkeit sich
nicht mehr bekämpfen ließ. Man nahm jedoch die
glückliche Gewißheit mit, daß man sich an diesem Abend
sehr nahegekommen war.
Roswitha wäre fast gefallen, als sie an des Gatten Seite die

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Treppe hinaufstieg. Da nahm er sie einfach auf die Arme,
lief wie ein übermütiger Junge mit ihr davon und setzte sie

in ihrem Wohnzimmer mitten auf den Flügel.
»Oh!« sagte sie hilflos, denn allein von dem glatten Deckel
herunterzukommen, war nicht ganz leicht.
Da nahm er sie bei den Füßen und drehte sie wie einen
Kreisel herum, so daß sie hellauf jauchzte.
Ganz erschöpft saß sie dann da und lehnte das Köpfchen
gegen des Gatten Brust.
»Müde – ins Bettchen gehen«, sagte sie wie ein müde
gespieltes, müde getolltes kleines Kind.
»Aber, kleines Mädchen, es ist ja noch viel zu früh«,
entgegnete er lachend, ließ sich vor dem Flügel nieder,
ergriff ihre Füßchen und trommelte mit den Absätzen auf

die Tasten.
Es klang schauderhaft, aber sie lachten trotzdem wie
ausgelassene Kinder.
»Odalrich, so heiter habe ich dich ja noch nie gesehen«,
sagte Roswitha, und er strahlte sie an, wahrhaft jungenhaft
froh und glücklich.
»So wohl wie heute habe ich mich auch noch nie in
meinem ganzen Leben gefühlt! Und alles das bringt ein so
süßes, liebes, eigenwilliges, herzbetörendes kleines
Mädchen zuwege.«
»Zu viel!« winkte sie ab und wippte auf dem erhöhten und
keinesfalls alltäglichen Sitz wie ein kleiner Kobold hin und

her. »Heute sagst du mir das, weil du eben nicht mehr
genau weißt, was du sprichst, doch morgen, wenn du
nüchtern bist…«
»Oho!« widersprach er, »beschwipst ist ein gewisses kleines
Mädchen, und sogar sehr entzückend beschwipst.«
Er schob die baumelnden Beinchen zur Seite, griff in die
Tasten und spielte eine Melodie, die sie nüchtern werden
ließ.
Er neigte sich dicht zu ihr hin, daß seine Stirn die ihre
berührte, sein Mund dem ihren ganz nahe war und spielte.
Er sprach die Worte zu der Melodie, eindringlich,

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verhalten, mit werbender Zärtlichkeit:

»So ein Mädel vergißt man nicht,
so ein Mädel vergißt man nicht,
man kränkt sie nie, man lebt für sie,
und andre küßt man nicht.
So ein Mädel belügt man nicht,
so ein Mädel betrügt man nicht,
weil schon ihr Blick
das ganze Glück der Welt verspricht.
Was kann denn schöner sein,
als einer treu zu sein.
die einem alles gibt,
wenn man sie liebt?

So ein Mädel vergißt man nicht,
so ein Mädel vergißt man nicht,
ihr leises Wort: ›Ich hab’ dich lieb‹
ist ein Gedicht.«

Ganz still saß Roswitha da und wagte sich auch dann noch
nicht zu rühren, als er längst geendet hatte. Erst als er
seinen Mund dem ihren ganz, ganz nahe brachte, schrak
sie auf.
»Odalrich, du singst Schlager?« fragte sie fast entsetzt. »Ja,
wie kannst du, woher weißt du?«
Wieder griff er in die Tasten:

»Winterstürme wichen dem Wonnemond«, sang er
übermütig. »Wie du siehst, ich bin vielseitig, singe Schlager,
singe Opernarien, kann auch noch mit Kantaten aufwarten,
ganz wie Erlaucht befehlen. Ich hörte nämlich einmal
zufällig, daß eine gewisse Roswitha von Starkenborn
spöttisch zu ihrer Schwägerin sagte, in Königsgnade würde
man in Ohnmacht fallen, wenn in diesen geheiligten
Räumen Schlagermelodien erklängen; Opernmelodien und
Kantaten ließe man vielleicht noch gelten, doch Schlager?
Unmöglich! Also, welche Kantate ist gefällig?«
»Nein, nein!« wehrte sie hastig ab. »Ich habe ja nicht

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gewußt, daß du so spielen kannst.«
»Und wie – paß mal auf!«

Wieder ergriff er ihre Füße und schlug mit den Hacken der
feinen Brokatschuhe auf die Tasten.
»So ein Mädel vergißt man nicht«, ließ sich ganz deutlich
die Melodie unterscheiden.
Dann hob er plötzlich mit einem Ruck die ganze kleine
Person auf seinen Schoß:
»Ita, kleine Ita, weißt du auch, daß man am Christabend
ganz ehrlich zueinander sein muß?«
»Aber…«, warf Ita ein.
»Kein ›Aber‹ jetzt! Sag, mein Mädchen, wo ist all deine
Liebe geblieben, die du für mich hattest, bevor ich dich
überhaupt noch kannte? War es Liebe, Roswitha, oder war

es Spielerei?«
»Laß mich, Odalrich«, entgegnete sie statt einer Antwort
und strebte von seinem Schöße fort. Doch er hielt sie
unerbittlich fest.
»Erst sage die Wahrheit, Ita!«
»Du… du verlangst Liebe von mir, Odalrich, und bist selbst
so kalt, so unnahbar!«
Da schob er sie mit beiden Armen von sich, so weit er
konnte. Und was sie nun in seinen Augen sah, benahm ihr
fast den Atem.
»Der Zauberring«, stammelte sie. Ihre Augen wurden ganz
groß und weit. Sie erhob die Hand, und noch nie hatte der

Stein ein solches Feuer ausgestrahlt wie in diesem
Augenblick. Beide schlossen die Augen vor dem
funkelnden Strahl.
»Hast du mich lieb?« fragte sie wie unter einem Zwange.
Da war es mit seiner Beherrschung vorbei, stürmisch riß er
sie in seine Arme.
»Du – du – du – was weißt du von mir, du dummes kleines
Mädel! Kannst du auch nur ahnen, wie es in meinem
Herzen aussieht, wie es nach dir verlangt, wie es nur in
dem einen Rhythmus schlägt: ›Ita, Ita, Ita!‹ Ich danke
meinem Herrgott, daß ich dir gegenüber so kalt, so

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unpersönlich bleiben, daß ich meine Beherrschung wahren
konnte, die mich immer wieder zu verlassen drohte. Wie

sehr würde dich die entfesselte Leidenschaft dieses
vermeintlich kalten Mannes erschreckt haben. Geflohen
wärst du, weit, weit fort, und ich hätte meinem Glück
nachtrauern können – für immer!«
Seine heißen Küsse erstickten jedes weitere Wort, und vor
lauter Glück und Seligkeit schwanden ihr fast die Sinne.
Was sich am nächsten Morgen in Königsgnade zutrug, war
durch das Hausgesetz der Starkenborn weder verboten
noch erlaubt!
Der letzte Sproß des stolzen Geschlechts, der herrische,
unnahbare Schloßherr jagte hinter seinem lachenden
Weibe her wie ein übermütiger Junge.

Nun hatte er sie gefangen, hob sie wie ein Püppchen in die
Höhe und bedeckte ihr rosiges Gesicht mit Küssen.
»Achtzehn, neunzehn, zwanzig«, zählte er zwischendurch
lachend, »so, die drei Küsse hatte ich noch zu bekommen!«
Dann drehte er sich mit ihr im Tangoschritt.
»Man kränkt sie nie, man lebt für sie, und andre küßt man
nicht«, sang er übermütig und setzte Roswitha der Gräfin
Wilhelmina auf den Schoß.
»Da, Mutter, da hast du meinen kleinen Abgott.«
Und die Gräfin, gar nicht weiter erstaunt, drückte das
junge, lachende Geschöpf an sich und küßte dessen
strahlende Augen.

»Mädel, Liebes, wie glücklich hast du mir meinem großen
Jungen gemacht!« sagte sie leise.
Und die alte Gräfin, über deren Hand der Graf sich soeben
zur Begrüßung beugte, faßte in seinen blonden Schopf und
zog seinen Kopf zu sich heran.
»Also auch dich hat die Liebe vollständig
unzurechnungsfähig gemacht«, sagte sie; doch es klang
nicht tadelnd. »Nimm dich nur in acht, mein Sohn, daß du
nicht allzusehr in den Bann dieser verflixt hübschen Augen
gerätst, sonst weißt du zuletzt nicht mehr, was du tust.«
»Als wenn dir das nicht schon längst widerfahren wäre,

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Großmutter«, lachte er, worauf sie im Tone höchster
Befriedigung meinte:

»Na ja, die kleine Hexe hat ja sowieso ganz Königsgnade
auf den Kopf gestellt, da kommt es auf ein bißchen mehr
oder weniger nicht an.«
Was war das fortan für ein Leben in Königsgnade! Ganz
jung wurden sie alle angesichts des seligen Paares! Wie
wurde Roswitha von nun an geliebt und vergöttert, und wie
dankbar war sie für all diese Liebe!
Die Gatten trennten sich kaum noch voneinander. Selbst
als der Frühling ins Land kam und der Graf sich viel um die
Wirtschaft kümmern mußte, wich Roswitha nicht von
seiner Seite. Dann begleitete sie ihn auf den oft recht
anstrengenden Ritten, war munter und guter Dinge, kannte

keine Ermüdung und freute sich, wenn der Gatte sie einen
lieben kleinen Kameraden nannte.
Es war an einem sonnigen Spätnachmittag, als sie wieder
einmal von einem solchen Ritt zurückkam. Ihr Gatte war
verreist, da er an einer Versammlung der Landwirte
teilnehmen mußte. Er wollte jedoch im Laufe des Tages
zurückkommen. Vielleicht war er sogar schon daheim, und
dann würde sie ihn vermutlich an seinem Lieblingsplatz im
Park treffen.
Sie saß ab und eilte zu dem Plätzchen, das idyllisch und
versteckt an einem Weiher lag.
Den Gatten traf sie zwar dort nicht an, wohl aber ihre

Schwägerin Erdmuthe, die mit einem Herrn auf der Bank
saß. Er hatte ihre Hände erfaßt, während sie den Kopf tief
gesenkt hielt.
Ja, was war denn das?
War das wirklich die allzeit gelassene, ausgeglichene
Erdmuthe, die da so bitterlich schluchzte?
Und wer mochte der Herr sein, der einen ungemein
angenehmen Eindruck machte und den Roswitha noch nie
gesehen hatte?
»Ich habe gehört, daß das Leben in Königsgnade jetzt ganz
anders sein soll«, hörte sie den Herrn sagen, und seine

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dunkle, warme Stimme flößte ihr sofort Sympathie ein.
»Da leidest du doch wenigstens nicht mehr so unter der

Herzenskälte deiner Angehörigen, mein armes Kind,
sondern hast nun jemand, der dich hoffentlich ein wenig
liebhat, nicht wahr?«
Nun hob Erdmuthe den Kopf, und ein Lächeln huschte
über ihr Gesicht.
»O ja, Roswitha hat uns die Sonne ins Haus gebracht«,
sagte sie mit warmer Stimme, die gar nicht der stolzen
Erdmuthe zu gehören schien. »Aber was ändert das daran,
daß wir…«
Sie senkte wieder den Kopf.
»Erdmuthe, du warst doch bisher immer so tapfer«, sagte
der Mann mit leisem Vorwurf. »Soll ich zu all meinen

Sorgen auch noch den Schmerz mit mir herumschleppen,
den mir deine Verzweiflung verursacht, mein Herz?«
»Nein, Herwig, nein!« rief sie erschrocken und fuhr sich
über die verweinten Augen. »Ich bin ja auch nicht immer
so mutlos.«
Sie horchte auf.
»Das war doch die Stimme der Großmutter«, sagte sie
hastig, »ich muß eilen, Liebster. Wenn sie mich hier sähe,
dann… es wäre überhaupt nicht auszudenken, was dann
geschehen würde. Eine Gräfin Starkenborn gibt sich ein
Stelldichein wie ein kleines Bürgermädchen!«
Sehr, sehr bitter klangen die letzten Worte, und über das

Antlitz des Mannes huschte ein Ausdruck tiefsten Mitleids.
Er zog sie fest in seine Arme, küßte sie lange und zärtlich.
»Leb wohl, mein Mädchen, irgendwann werden wir uns
wiedersehen. Und wenn du kannst, dann vergiß mich, das
wäre das beste für dich.«
Die letzten Worte hörte sie wohl nicht mehr, denn sie
hastete davon.
Roswitha hatte gerade noch soviel Zeit, hinter einen Busch
zu springen. Sie sah Erdmuthe so lange nach, bis diese um
die Ecke verschwunden war. Dann ging ihr Blick zu dem
Manne zurück, der regungslos dastand und die Hände

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ausgestreckt hielt, als müsse er die halten, die so plötzlich
von ihm gegangen war.

Traurig und bedrückt sah er aus; Roswitha kamen vor
Mitgefühl Tränen in die Augen.
Ohne sich recht bewußt zu werden, was sie jetzt tat, trat sie
hervor und stand plötzlich vor dem Manne, der sie wie
eine Erscheinung anstarrte.
Sie hob ihr von schimmerndem Gelock umrahmtes Antlitz
zu ihm empor, die Traumaugen voll auf ihn gerichtet.
»Ja, gibt es denn wirklich Feen? Gibt es noch Märchen
wunder?« fragte der Fremde ganz verstört.
»O nein, mein Herr«, Roswitha lachte hellauf, und zugleich
klatschte sie auf das Beinkleid ihres Reitdreß’.
»Ich bin wirklich und wahrhaftig ein Mensch aus Fleisch

und Blut, und obendrein noch dazu ein neugieriger und
fehlerhafter. Ich habe Ihr Gespräch mit meiner Schwägerin
belauscht.«
»Dann sind Sie…?«
»Roswitha Starkenborn, ja.«
Da leuchtete es in den Augen des Mannes auf.
»Gräfin, man hat mir wohl schon manches von Ihnen
erzählt, aber so, nein, so habe ich sie mir doch nicht
vorgestellt. Glücklicher Odalrich!«
»Und wer sind Sie?«
»O Verzeihung! Herwig Ellern.«
»Der frühere Besitzer von Ellerbach?« fragte sie hastig und

konnte ihre plötzliche Erregung nicht begreifen.
»Kommen Sie, Graf Ellern, nehmen wir Platz.« Sie zeigte
auf die Bank, auf der er soeben mit Erdmuthe gesessen
hatte, und zog ihn zutraulich am Ärmel zu sich hin, was
ihm ein Lächeln entlockte.
»So, da säßen wir«, sagte sie nun doch ein wenig verlegen,
als sie zu Ellern aufschaute, der sie mit unverhohlener
Bewunderung ansah.
Doch dann nahm sie sich zusammen und wurde ganz
sachlich.
»Passen Sie auf, Graf Ellern, ich werde fragen, und Sie

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werden antworten, ja?«
Ihre frische, ungekünstelte Art entzückte ihn, und hätte er

nicht schon Erdmuthe Treue geschworen, so wäre dieses
liebreizende Geschöpf an seiner Seite sein Schicksal
geworden.
»Soll ich zur Plaudertasche werden, Gräfin?« fragte er, und
wieder huschte ein Lächeln über sein Gesicht.
»Graf Ellern, kein Mensch wird zur Plaudertasche, wenn er
sich einem teilnehmenden Herzen mitteilt. Wenn Sie nicht
sprechen wollen, dann werde ich es für Sie tun. Also: Sie
lieben meine Schwägerin Erdmuthe und können sie nicht
zu Ihrer Gattin machen, da Sie heimatlos sind. Stimmt’s?«
»Ja, woher wissen Sie das? Hat Erdmuthe etwa geplaudert?«
»Das glauben Sie von Erdmuthe doch selber nicht«, lachte

sie ihn aus. »Sie bisse sich eher selber die Zunge ab, als daß
sie nur mit einem Wort ihr Herzensgeheimnis preisgäbe.
Nein, Graf Ellern, aber ich habe gelauscht, wie ich Ihnen
schon vorhin sagte. Und da ich nicht gerade auf den Kopf
gefallen bin, so war es wirklich nicht allzu schwer, mir alles
zusammenzureimen. Machen Sie kein so abweisendes
Gesicht, Graf Ellern, ich bin jetzt genauso gut eine
Starkenborn wie Erdmuthe, und es kann daher keine
Neugierde sein, wenn ich mich um das Geschick meiner
Schwägerin kümmere, die ich, nebenbei bemerkt, herzlich
liebhabe. So, nun sagen Sie mir, ob ich Ihnen helfen
kann.«

Er drückte die Hand, die sich ihm entgegenstreckte.
»Graf Ellern, Ihnen fehlt doch nur Geld«, sagte sie leise und
herzlich.
»Nur Geld!« lachte er bitter auf. »Als ob damit nicht viel,
nein, alles gesagt wäre! Das ist es ja gerade, daß ich arm,
bettelarm bin! Darum mußte ich meine Heimat verlassen!
Darum darf ich meine Hand nicht nach Gräfin Erdmuthe
ausstrecken, sondern muß es mitansehen, wie sie unter
ihrer Liebe leidet! Und das soll einen nicht um den
Verstand bringen?!«
Die letzten Worte stieß er beinahe zornig hervor und

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wandte den Kopf zur Seite.
Er hatte ein scharf geschnittenes, edelgeformtes Antlitz, in

dem Sorge und Kummer sichtbare Spuren hinterlassen
hatten.
Das Haar des Mannes war schneeweiß.
»Graf Ellern, sehen Sie mich einmal an!«
Er kam ihrem Wunsche nach, und sie konnte ihm nun
ungehindert in die blauen, schwermütigen Augen schauen.
»Fällt Ihnen nichts an mir auf?«
»Doch«, entgegnete er mit müdem Lächeln. »Sie sind das
bezauberndste Geschöpf, das ich je gesehen habe.«
»Aber nein, das meine ich nicht«, winkte sie ungeduldig ab,
und die Röte der Verlegenheit stieg ihr in die Wangen.
Doch dann schüttelte sie sich wie ein kleiner Pudel und

lachte hellauf.
»Ich bin doch manchmal grenzenlos dumm!« stellte sie
freimütig fest und winkte energisch ab, als er
widersprechen wollte. »Doch, doch, Graf Ellern, wie hätte
ich sonst denken können, Sie wüßten durch bloßes
Ansehen, daß Großmutter mich immer ›kleine
Dollarprinzessin‹ nennt. Und wissen Sie auch, warum sie
das tut?«
»Nun?«
»Weil ich Geld habe. Und weshalb sollte ich da nicht
meiner lieben Schwägerin Erdmuthe helfen?«
»Aber gnädigste Gräfin…. ich kann doch nicht…!«

»Gewiß können Sie! Hören Sie mich bitte ganz ruhig an.
Übrigens werde ich Sie gar nicht viel fragen, ich werde
handeln! Wie, weiß ich augenblicklich allerdings noch
nicht; allein es wird sich schon ein Weg finden. Zweierlei
müssen Sie mir jedoch versprechen. Sich hier in der Nähe
aufzuhalten, so daß ich Sie zu jeder Zeit erreichen kann,
und keinem Menschen auch nur ein Sterbenswörtchen von
dem zu sagen, was augenblicklich nur uns beide angeht.
Wollen Sie mir das versprechen, Graf Ellern?«
»Aber Gräfin, wissen Sie denn überhaupt, was Sie von mir
verlangen?«

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»Gewiß weiß ich das; ich werde auch nichts tun, was Ihrer
Ehre oder Manneswürde zu nahe treten könnte, darauf

gebe ich Ihnen mein Wort. Wenn Sie jedoch einen
dickköpfigen Stolz herauskehren wollen, dann allerdings
ist von vornherein alles verdorben.«
Nun mußte er lachen. Sie war gar zu reizend, wie sie da vor
ihm saß und mit der Miene einer Königin Gehorsam von
ihm verlangte, dem gereiften Manne, den das Schicksal
unbarmherzig gerüttelt und gezaust, den es hartnäckig
verfolgt hatte, immer und überall.
Sollte es diesen kindhaft kleinen Händen wirklich möglich
sein, sein Geschick in andere Bahnen zu lenken?
»Nun, geben Sie mir doch schon endlich Ihr Wort!«
verlangte Roswitha ungeduldig. Da ergriff er die ihm

entgegengestreckte Hand mit warmen Druck.
»Schweigen werde ich, Gräfin. Doch ob ich alles annehmen
werde, was Sie aus gütigem Herzen heraus für mich zu tun
gedenken, das allerdings kann ich Ihnen nicht
versprechen.«
»Darum ist mir nicht bange, das wird sich mit der Zeit
finden«, meinte sie zuversichtlich. »Ich muß jedoch freie
Hand haben, und daher soll niemand meiner Angehörigen
um meinen Plan wissen. Ich will sie vor die vollendete
Tatsache stellen; denn wo viele Köpfe sind, da sind auch
viele Sinne. Auch Sie haben nichts weiter zu tun, als
abzuwarten.«

»Und da soll nun noch einer sagen, daß Märchen nicht
Wirklichkeit werden können«, murmelte er.
»Nicht sentimental werden, Graf Ellern, das beeinträchtigt
die Sachlichkeit, die wir beide in nächster Zeit recht nötig
haben. Also, ich habe Ihr Wort?«
»Ja, Gräfin.«
»Na, das wurde auch höchste Eisenbahn«, entgegnete sie
trocken, denn soeben kam Graf Starkenborn den
Hauptgang des Parkes entlang.
Daß man in Königsgnade von der Anwesenheit des Grafen
Ellern in der Heimat wußte, erfuhr Roswitha, als sein

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Name eines Tages bei Tisch genannt wurde. Unwillkürlich
ging ihr Blick zu Erdmuthe hin. Doch sie saß so gelassen

und ruhig da, als ginge sie das Gespräch nichts an.
Auch davon, daß Eilerbach wieder einmal seinen Besitzer
wechseln sollte, wurde gesprochen. Aber wer den Mut
aufbringen würde, diesen vollkommen
heruntergewirtschafteten Besitz zu erwerben, das wußte
man nicht. Es müsse schon ein edler Idealist sein, meinte
man; denn ein Mensch, der auf seinen Vorteil bedacht
wäre, könne niemals die Dummheit begehen, ein Gut zu
erwerben, auf dem rein nichts mehr zu holen sei.
Roswitha lachte spitzbübisch in sich hinein und freute sich
auf die Stunde, in der es bekannt würde, wer der neue
Besitzer von Ellerbach sei.

Daß ein Gutserwerb mit so vielen Laufereien und
Scherereien verknüpft seih könnte, hätte sie niemals
gedacht. Sie wußte schon manchmal nicht mehr, wie sie es
einrichten sollte, von Königsgnade fortzukommen, ohne
den Gatten stutzig zu machen. Sie schob stets Angela vor,
die sie besuchen müßte, weil sie sich nicht wohl fühlte.
»Das dauert ja nur kurze Zeit, Odalrich«, beschwichtigte sie
den Gatten, wenn er darüber brummte, daß er wieder
einmal allein bleiben sollte.
Je näher der Verkaufstermin des Gutes heranrückte, desto
unruhiger und zerstreuter wurde die junge Frau.
Eines Nachmittags fuhr sie wieder in die Stadt, wo der alte

Quendlin sie schon erwartete.
»Heute habe ich den Besitzer von Eilerbach endlich
soweit«, frohlockte er, »nun müssen wir sehen, daß wir
möglichst rasch zum Abschluß kommen. Ich habe das
verwahrloste Nest abschätzen lassen, und wir haben Dusel,
es ist wirklich nicht viel mehr als ein Butterbrot wert. Über
die Taxe gehen wir keinen Pfennig hinaus. Verstanden,
kleine Gräfin?«
Sie stimmte ihm zu. Dann suchten sie den Besitzer von
Ellerbach auf, der sich als unangenehmer Patron
entpuppte.

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Roswitha eilte danach schnell zu der Pension, in der Graf
Ellern wohnte, denn ihr stand nicht mehr viel Zeit zur

Verfügung. Sie hatte ihn noch nie besucht, und er war
daher sehr erstaunt, sie bei sich zu sehen. Er wurde ganz
verlegen, als er Roswitha in sein mehr als einfaches Zimmer
führen mußte.
»Ein Stuhl für Sie, Gräfin, ein Stuhl für mich, das ist alles.«
»Na, die Hauptsache ist doch, daß wir uns nicht auf den
Fußboden zu setzen brauchen«, lachte sie. »Wir wollen uns
jedoch nicht mit Nebensächlichkeiten aufhalten, ich habe
nämlich nicht viel Zeit. Also, ich habe versprochen, Ihnen
zu helfen, Graf Ellern, und Sie versprachen, sich von mir
helfen zu lassen. Nun beweisen Sie, daß Sie ebenso Wort
halten wie ich. Kurz heraus – wollen Sie eine

Verwalterstelle annehmen, Graf Ellern?«
Er sprang auf, doch sie drückte ihn auf seinen Stuhl nieder.
»Ruhe ist die erste Bürgerpflicht«, meinte sie scherzend.
»Beantworten Sie zunächst meine Frage, und zwar ebenso
kurz und knapp, wie ich sie gestellt habe.«
»Ja, ich weiß doch gar nicht, ob ich imstande sein werde,
die Stelle auszufüllen.«
»Na, das allemal! Sie werden nämlich sehr selbständig
wirtschaften müssen, Graf Ellern. Der Besitzer des Gutes
hat von der Landwirtschaft keine Ahnung; außerdem
können Sie dann heiraten – müssen es sogar, wenn Sie
nicht einsam sein wollen.«

Da trat ein frohes Leuchten in seine Augen, das jedoch
wieder schnell erlosch.
»Sie wissen ganz genau, Gräfin, daß ich nur das Mädchen
heirate, das ich liebe. Überdies ist es Ihnen genauso
bekannt wie mir, daß die alte Gräfin Starkenborn ihre
Enkelin niemals einem Verwalter zur Gattin geben würde.«
»Doch, sie wird es ganz bestimmt tun«, meinte sie so
zuversichtlich, daß er stutzig wurde.
»So kennen Sie den Besitzer des Gutes, Gräfin?«
»Selbstverständlich, sonst würde ich Ihnen doch nicht
empfehlen, auf seinem Gut Verwalter zu werden. Nun

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geben Sie endlich Ihre Zurückhaltung auf, und werden Sie
zugänglicher.«

»Zuerst muß ich wissen, wer der Besitzer ist, und wie das
Gut heißt.«
»Sollen Sie auch«, lachte sie spitzbübisch. »Also: der
Besitzer oder vielmehr die Besitzerin heißt Roswitha
Starkenborn, und das Gut ist Ellerbach.«
Da sprang er auf und packte ihre Hände, daß sie aufschrie.
»Mein Gott, mein Gott«, murmelte er ein über das andere
Mal. »Ich werde noch verrückt, bis ich das alles begriffen
habe.«
»Nur ja nicht!« rief sie entsetzt. »Lassen Sie lieber erst mal
meine Hände los, und nehmen Sie Platz, damit ich Ihnen
alles der Reihe nach erklären kann.«

Sie erstattete ganz genau Bericht, und als sie geendet hatte,
bemerkte sie Tränen in seinen Augen.
»Daß es so etwas gibt in dieser Zeit«, sagte er leise, und
dann wollte er wieder ihre Hände fassen.
»Lieber nicht!« lachte sie. »Sie packen gar zu fest zu. Wir
müssen übrigens heute abend noch mancherlei
besprechen.«
»Und zu welcher Stunde soll ich mich bereithalten?«
»Um zehn Uhr.«
»So spät?« meinte er bedenklich.
»Ja, früher geht es leider nicht. Ich muß mich noch von
Königsgnade fortstehlen. Und das kann ich nur, wenn alle

schlafen. Migräne vortäuschen, das hat auch keinen Zweck.
Denn dann stellt Odalrich vor lauter Besorgnis das Haus
auf den Kopf, und ich komme überhaupt nicht mehr los.«
»Wollen wir nicht lieber mit offenen Karten spielen,
Gräfin? Heute noch nach Königsgnade fahren und dort
alles sagen?«
» – und mir die ganze Überraschung verderben, auf die ich
mich wie ein Spitzbube freue? Nein, auf keinen Fall! Wenn
alle Formalitäten erledigt sind, dann rücken Sie mit
Zylinder und Rosenstrauß im Schloß an: ›Gnädigste Gräfin,
ich bitte gehorsamst um die Hand der verehrten Enkelin‹

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und so weiter. Und diesen Spaß soll ich mir verderben
lassen? – Ausgeschlossen!«

Er mußte über ihre drollige Art von Herzen lachen –
konnte, durfte es jetzt endlich wieder.
Und alles verdankte er diesem kindhaft jungen,
bezaubernd schönen Weibe.
Ein Gefühl der Ehrfurcht ergriff ihn, und er mußte an sich
halten, um Roswitha nicht so zu danken, wie sein Herz es
gern getan hätte.
»Jetzt muß ich aber zusehen, daß ich nach Königsgnade
komme«, sagte sie. »Nur gut, daß die Heimlichtuerei nun
ein Ende hat. Ich habe nämlich in den letzten Wochen so
viel schwindeln müssen, wie mancher sein Leben lang es
nicht tut. Begleiten Sie mich zum Wagen, Graf?«

»Aber mit dem größten Vergnügen, Gräfin.«
Sie lachten beide wie die Kinder und begaben sich zu dem
Hotel, wo Roswitha ihren Wagen untergestellt hatte. Es gab
noch vielerlei zu besprechen, und in ihrem Eifer hatte
Roswitha zutraulich ihren Arm in den ihres Begleiters
gehängt.
Als Roswitha im Wagen saß, zog sie ihn zu sich heran, um
ihm etwas zuzuflüstern.
»Odalrich, findest du nicht auch, daß unsere Kleine seit
drei Wochen recht viel unterwegs ist?« fragte die
Großmutter den Enkel.
»Was heißt ›viel unterwegs‹? Ihre Schwägerin bedarf ihrer«,

entgegnete er kurz, »sie ist doch keine Sklavin, die über
jeden Schritt, den sie tut, Rechenschaft abzulegen hat.«
Das klang gereizt, und die Mutter streichelte seine Hand.
»Du leidest am meisten darunter, mein Junge«, sagte sie
leise.
Das konnte er nicht ertragen. Er sprang auf und lief mit
großen Schritten im Zimmer auf und ab.
»Ja, wer vollkommen auf Flitterwochen eingestellt ist, der
empfindet es bitter, wenn sie zu Ende sind«, meinte die alte
Gräfin so spitz wie nur je. »Du wünscht, daß die kleine
Frau dir überhaupt nicht mehr von der Seite weicht, und

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am liebsten möchtest du sie, wie eine Negermutter ihr
Kind, immer auf dem Rücken herumschleppen. Doch

unsere kleine Dollarprinzessin ist eben anderer Ansicht. Sie
meint, daß vier Monate himmelstürmender
Flitterwochenzeit hinreichend genug sind.«
Ohne ein Wort zu erwidern, eilte der Graf hinaus, und
Gräfin Wilhelma sah ihre Schwiegermutter vorwurfsvoll an.
»Ein dummer Junge ist er!« brauste sie auf. »Die Kleine ist
wirklich viel vernünftiger als er. Diese ewige Schnäbelei war
ja wirklich nicht mehr schön. Odalrich benimmt sich nicht
wie ein reifer Mann, sondern wie ein verliebter Primaner.«
»Tue doch nicht so empört, Mutter«, lächelte Gräfin
Wilhelma. »Dir selbst geht es ja auch nahe, daß das
jauchzende Glück der Kinder so kurze Zeit währte.«

»Du mußt es ja wissen«, murrte die Greisin, erhob sich mit
schroffer Gebärde und verließ das Zimmer.
Am Spätnachmittag trat Odalrich wieder zu den Damen,
die wie früher stumm und steif beieinandersaßen.
»Erdmuthe, willst du mich in die Stadt begleiten?« fragte er
die Schwester, »ich habe verschiedene Dinge zu erledigen;
zum Abendessen sind wir wieder zurück.«
Nur zu gern war Erdmuthe dazu bereit. Und so saßen die
Geschwister bald darauf im Fuhrwerk. Das Auto benützte
man nur zu größeren Fahrten und bei schlechtem Wetter.
Die Besorgungen des Grafen waren bald erledigt. Als es Zeit
war, an den Heimweg zu denken, meinte Odalrich so ganz

nebenbei: »Wir könnten ja rasch einmal in der Villa
Hartmann vorsprechen. Vielleicht fährt Roswitha mit uns
zurück. Gleichzeitig können wir uns nach Angelas Ergehen
erkundigen. Ich hätte es eigentlich schon längst tun
müssen.«
Erdmuthe war es recht. Und so suchten sie Frau Angela auf,
die sie freudig empfing. Sie sah aber gar nicht kränklich aus
– im Gegenteil, sogar sehr gut.
»Endlich läßt sich mal wieder einer aus Königsgnade
sehen«, lachte sie und führte die Gäste in ihr Wohnzimmer.
»Gisbert ist leider nicht zu Hause, er muß aber jeden

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Augenblick eintreffen. Du siehst aber gar nicht gut aus,
Odalrich. Bist du krank gewesen?« meinte sie mit einem

forschenden Blick.
»Danke – nein. Ist Roswitha schon lange fort?«
»Roswitha?« fragte Angela erstaunt. »Sie ist schon seit
mindestens vier Wochen nicht mehr hier gewesen. Mein
Gott, Odalrich, was hast du denn?!« rief sie aus, als sie sah,
wie sein Antlitz sich verfärbte.
Und Erdmuthe?
Auch sie war erschreckend bleich geworden.
Da kam Angela blitzartig eine Ahnung.
»Mein Gott«, sagte sie verstört.
Der Graf erhob sich, seine Gestalt straffte sich.
»Ich muß mich leider verabschieden«, sagte er. Seine

Stimme klang hart und rauh. Wie aus Erz gegossen erschien
sein Gesicht, und die Augen flackerten unstet wie bei
einem Schwerkranken.
Angela hielt die beiden nicht zurück. Sie war froh, daß sie
gingen, weil sie so seltsam verstört waren. Sie begleitete
den Besuch hinaus und eilte dann in ihr Wohnzimmer
zurück, wo sie in leises Weinen ausbrach.
Schweigend gingen die Geschwister zu dem Hotel, wo sie
ihr Fuhrwerk eingestellt hatten.
Plötzlich blieb der Graf stehen und packte Erdmuthes Arm
so heftig, daß sie erschrocken zusammenfuhr.
»Nicht weitergehen«, raunte er und deutete mit einer

Kopfbewegung zu Roswitha hin, die eben dem Grafen
Ellern die Hand aus dem Auto entgegenstreckte und ihn
nahe an sich heranzog.
Odalrich sah, wie beide miteinander lachten, mit welcher
Vertraulichkeit Ellern Roswitha die Hand küßte, sah ihre
glückstrahlenden Mienen und hörte, daß seine Frau den
Grafen nach Königsgnade bestellte.
Wie zwei Nachtwandler schritten die Geschwister zu ihrem
Wagen. Und hätte man sie später gefragt, wie sie überhaupt
nach Hause gekommen seien – sie hätten es nicht zu sagen
vermocht.

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Als Odalrich das Speisezimmer betrat, in dem er Roswitha
lachend bei den Seinen vorfand, hatte er das Gefühl, als

würde ihm das Herz aus der Brust gerissen.
Seine Hände fuhren zum Kopf, er schrie auf wie ein
gequältes Tier und stürzte aus dem Zimmer.
»Erdmuthe, was bedeutet das?« fragte die Großmutter mit
bleichen, zuckenden Lippen.
Die Enkelin schwieg, sah Roswitha schmerzlich und
vorwurfsvoll an und verließ dann ebenfalls das Zimmer.
»Roswitha, wie soll ich das verstehen?« fragte die Greisin.
Ihre Stimme schnitt scharf wie ein Messer.
»Das weiß ich selbst nicht«, entgegnete sie und hob die
Schultern an.
»Dann können wir uns wohl alle zurückziehen und

brauchen nicht auf das Abendessen zu warten, da uns allen
vermutlich der Appetit vergangen sein dürfte.«
Nach einem forschenden Blick auf Roswitha entfernte sich
die alte Gräfin, und ihre Schwiegertochter folgte ihr.
Roswitha fühlte sich mit einem Mal sterbensbang. Wie
aufgeregte Vögel jagten ihre Gedanken hin und her.
Sie eilte zu dem Zimmer des Gatten. Hier fand sie die Tür
verschlossen. Da zog auch sie sich in ihre Gemächer
zurück. Und das Herz wurde ihr noch schwerer. Was war in
Königsgnade während ihrer Abwesenheit geschehen?
Doch wie sie auch sann und grübelte – Odalrichs Verhalten
blieb ihr unbegreiflich.

Die zehnte Abendstunde rückte immer näher heran.
Roswitha verspürte nun gar keine Lust mehr, Graf Ellern
aufzusuchen.
Aber einmal Begonnenes mußte auch zu Ende geführt
werden, schon deshalb, um vor sich selbst bestehen zu
können.
So raffte sie sich auf und hastete aus dem Schloß, obwohl
noch einige Minuten bis zu der verabredeten Zeit fehlten.
Wie ein Dieb schlich sie sich hinweg und stieg in das Auto,
das bereits wartete.
Als die Schloßuhr mit dumpfen Schlägen die zehnte

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Stunde verkündete, huschten zwei Gestalten den Parkweg
entlang, der kleinen Pforte zu.

Der Schloßherr und, einige Meter hinter ihm, Erdmuthe.
Als er jedoch am Zaune anlangte, fuhr das Auto gerade
davon. Erst machte er Miene, ihm nachzueilen, besann sich
jedoch und blieb zurück.
»Odalrich!« Er fuhr herum und sah in die
schreckgeweiteten Augen der Schwester. »Ist sie wirklich
mit ihm fort?« Das klang wie ein Wimmern.
Er antwortete nicht, nickte nur müde, ergriff die Hand der
Schwester und zog sie mit sich fort. Auf einer Bank ließen
sie sich nieder.
»Willst du warten, bis sie zurückkommt, Odalrich?«
»Ja.«

Da setzte sie sich neben ihn und sah ebenso starr vor sich
hin wie er. Nur einmal sprach er – und es klang unendlich
bitter:
»Wie sollte es auch möglich sein, daß ein Starkenborn
glücklich werden kann durch die Liebe?«
Erdmuthe schluchzte leise auf.
Zwei volle Stunden saßen sie nebeneinander. Kein Laut
unterbrach die Stille. Nur ab und zu kam ein Stöhnen aus
des Grafen Brust.
Plötzlich fuhren sie auf und saßen kerzengerade. Ein Auto
hatte an der Gartenpforte gehalten. Diese wurde geöffnet,
und nun hörte man ganz deutlich Ellerns und Roswithas

Stimmen.
»Selbstverständlich werde ich gut schlafen«, klangen der
jungen Gräfin Worte durch die Nacht.
Dann fuhr das Auto davon.
Als Roswitha die Allee entlangeilte, wich sie auf einmal
erschrocken zurück.
»Odalrich – du?«
»Ja – ich.«
Diese beiden Worten drangen ihr bis ins Mark. Ohne sich
auch nur einmal umzuwenden, hastete sie davon und
hörte mit Schrecken, daß der Gatte ihr folgte.

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Ganz atemlos vom Lauf langte sie in ihrem Wohnzimmer
an.

Gleich darauf stand auch Odalrich auf der Schwelle.
Die blauen Augen auf ihn gerichtet, blickte sie ihn
angstvoll an.
Er bemühte sich, ruhig zu bleiben. Aber als er daran
denken mußte, daß sie so ganz, ganz anders sei, als sie
schien, daß nun all sein Glück in Trümmern liege, da
packte ihn der Schmerz mit rasender Gewalt.
»Lüge! Lüge ist alles!« schrie er fast sinnlos vor Qual.
Entsetzt wich sie zurück.
»Du, du – jetzt kenne ich dich!« sagte er mit dumpfer,
schwerer Stimme. »Jetzt weiß ich, daß deine unschuldsvolle
Miene nichts weiter ist als Verstellung. Alles an dir ist Lug

und Trug! Solange der Mann, den du jetzt zu lieben glaubst
und den du nach Monaten genauso betrügen wirst wie
mich, in der Ferne weilte, brauchtest du ein Spielzeug. Und
dafür war ich dir gut genug. Und ich? Was gab ich dir
dafür? Meine Seele! Mein Herzblut, mein ganzes Sein!«
Die letzten Worte schrie er förmlich heraus. Packte dann
Roswitha, die an allen Gliedern zitterte, bei den Schultern,
krallte seine Nägel fest in ihr zartes Fleisch und schüttelte
ihren Körper mit brutaler Gewalt hin und her.
»Du – du – du!« stieß er außer sich vor Zorn und Schmerz
immer wieder hervor.
Die Frühlingssonne stahl sich in das Zimmer, in dem die

blasse Roswitha in den spitzenbesetzten Kissen lag.
Jetzt klopfte es leise an die Tür. Ebenso leise erhob Frau
von Wilde sich, öffnete und sah die Zofe fragend an, die
mit ängstlichem Gesicht vor ihr stand.
»Erlaucht wünschen Frau von Wilde zu sprechen«, bestellte
das Mädchen und begann zu weinen. »Gnädige Frau, oh,
wie sieht Erlaucht aus, wie ein Schwerkranker! Er hat nicht
eine Minute geschlafen, sondern ist die ganze Nacht mit
dem Pferd unterwegs gewesen.«
»Wo befindet sich Erlaucht jetzt?« fragte Frau von Wilde.
»In seinem Arbeitszimmer.«

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»Es ist gut. Ich komme.«
Sie fand ihn in einem Sessel, ganz in sich

zusammengesunken.
Bei ihrem Eintritt erhob er den Kopf. Und sie erschrak über
den Ausdruck tiefster Qual, der auf seinem Gesicht lag.
Er sprang auf, holte einige Male tief Atem, reckte sich in
den Schultern und wandte sich dann Frau von Wilde zu.
»Frau von Wilde, ich appelliere in dieser Stunde an Ihre
Treue, die Sie für unser Haus haben. Ich bitte Sie, sich
durch nichts von meiner Gattin bestechen zu lassen und
etwas zu tun, was gegen Ihre Ehre und Gewissen geht. Sie
darf ihre Zimmer nicht früher verlassen, bis ich nicht selbst
– wohlverstanden, Frau von Wilde – bis ich nicht selbst die
Erlaubnis dazu gebe. Sie darf weder Briefe wegschicken

noch empfangen. Und will sie sich nicht fügen, dann bitte
ich Sie, mir Nachricht zukommen zu lassen. Wollen Sie
mir Ihre Hand darauf geben, Frau von Wilde?«
Doch sie schüttelte den Kopf und sah ihn traurig an.
»Nein, Erlaucht, ich gebe kein derartiges Versprechen«,
entgegnete sie mit tränenerstickter Stimme. »Ich weiß, daß
meine Herrin niemals etwas tat, was eine solche
Behandlung rechtfertigt. Was vorgefallen ist, weiß ich nicht.
Doch ich erlaube mir zu sagen, daß manchmal der Schein
trügt.«
Zuerst sah er sie verständnislos an, doch dann lachte er hart
auf.

»Selbstverständlich! Hätte mir eigentlich denken können,
daß Sie sich auf die Seite Ihres Abgottes stellen würden!
Lassen Sie sich jedoch gesagt sein, daß…! Ach, wozu
noch?«
Mit müder Gebärde winkte er ab. Die Verzweiflung, die in
dieser Bewegung lag, sagte mehr, als Worte es vermocht
hätten, wie es in seinem Innern aussah, wie sehr er litt.
»Es ist gut, Frau von Wilde.«
Damit war sie entlassen. Schwereren Herzens, als sie
gekommen war, kehrte sie zu Roswitha zurück.
Die junge Frau war inzwischen erwacht. Ganz still lag sie

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da. Sie mochte nicht aufstehen, nichts genießen. Sie war
seelisch genau wieder so niedergebrochen wie nach dem

Tod der Eltern. Und der Graf brauchte nicht zu befürchten,
daß sie ihre Zimmer verlassen würde. Sie hatte weder Lust
noch Kraft dazu.
Schon in den ersten Morgenstunden übergab sie Frau von
Wilde einen Brief mit der Weisung, ihn sofort bestellen zu
lassen. Als diese einen Augenblick zögerte, sah Roswitha sie
mit einem so stolzen, offenen Blick an, daß die alte Dame
unwillkürlich die Augen senkte. Sie nahm den Brief an sich
und ließ ihn in aller Heimlichkeit durch den Chauffeur
bestellen.
In dem Brief, der nur wenige Worte enthielt, bat Roswitha
den Grafen Ellern, die letzten Formalitäten mit Vater

Quendlin allein zu erledigen, da sie leicht erkrankt sei und
in den nächsten Tagen nicht zur Stadt kommen könne. Er
möchte jedoch sofort, wenn alles in Ordnung sei, seine
Werbung in Königsgnade vorbringen.
Von all dem Schrecklichen, das sich auf dem Schloß
zugetragen hatte, schrieb sie kein Wort. Warum sollte sie
den Mann, der schon so viel in seinem Leben gelitten hatte,
beunruhigen? Helfen konnte er ihr ja doch nicht!
Der Brief gelangte an seine Adresse. Doch der, den Graf
Ellern darauf als Antwort schrieb, erreichte Roswitha nicht.
Er wurde von ihrem Gatten abgefangen und lag wie eine
stumme Anklage ungeöffnet auf dessen Schreibtisch.

Aus diesem Grunde erfuhr Roswitha nicht, daß Graf Ellern
einige Tage verreist war, und aus diesem Grunde traf auch
der Graf ihn nicht an, als er ihn aufsuchte, um sich mit ihm
auseinanderzusetzen.
Eine Woche war vergangen. Die Stimmung in Königsgnade
wurde immer bedrückender und verzweifelter. Der Graf
ließ sich nur noch höchst selten im Schloß sehen, kam
kaum noch vom Pferd herunter und verbrachte die Nächte
in der Stadt, aus der er immer erst, schwer berauscht, gegen
Morgen zurückkehrte, um dann bis zum Mittag zu
schlafen.

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Er, der den übermäßigen Genuß von Alkohol bisher als
eines Mannes unwürdig verachtet hatte, trank nun selbst,

um die Qualen seines Innern zu betäuben.
Gräfin Wilhelma und Erdmuthe hatten jeden Morgen
verweinte Augen, und die alte Gräfin kommandierte in
einer Weise im Haus herum, daß es kaum noch zum
Aushalten war.
In der Einsamkeit ihrer Gemächer sah und hörte Roswitha
nichts von alledem. Vielleicht hätte sie sonst ihren Trotz
fallenlassen und die nötigen Aufklärungen gegeben.
Auf Krönchens und Frau von Wildes bittende Worte hatte
sie nur eisige Ablehnung, und Gisbert und Angela, die sie
aufsuchen wollten, ließ sie nicht einmal vor.
Traurig und bedrückt mußten diese nach Hause

zurückkehren und waren um nichts klüger als auf der
Hinfahrt. Denn auch von dem Grafen hatten sie nichts
erfahren können, was ihnen über die veränderten
Verhältnisse im Schloß hätte Aufschluß geben können.
»Der arme Odalrich dauert mich von Herzen«, sagte
Gisbert tiefbekümmert. »Er leidet furchtbar und geht
zugrunde, wenn das nicht bald anders wird. Wenn unsere
kleine Ita nur nichts angestellt hat, dessen Tragweite sie
sich in ihrer Naivität gar nicht bewußt war. Sie dauert mich
lange nicht so wie Odalrich. Daß ein so charakterfester
Mann wie er sich von einer Frau derartig aus der Bahn
werfen läßt, ist mir ein Rätsel. Es wird schon stimmen, daß

die Liebe Männer seiner Art dann am stärksten packt, wenn
sie um ihretwillen leiden müssen.«
Das alles hätte sich Roswitha eigentlich selbst sagen
müssen. Aber dazu war sie nicht, in der Lage. Es war alles
in ihr so wund und wehe, so aufgewühlt bis zum tiefsten
Herzensgrund, daß sie gewiß nicht weniger litt als der
Gatte.
Das also war ihres Mannes Liebe, die heiße, große,
unsterbliche Liebe, die lediglich nach dem Schein urteilte
und verdammte!
Was war für sie Liebe ohne Vertrauen! Was konnte es ihr

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später noch nützen, wenn er, nachdem alles geklärt war,
reuig und zerknirscht zu ihr käme!

Ach, ihr Glück, ihr jauchzendes, großes Glück war tot. Von
allem, was einst war, blieb ihr bestenfalls nichts weiter als
ein Durchschnittsglück, wie es die meisten ihrer Schwestern
hatten.
Nach einer Woche bitterster Qual hatte der Himmel
endlich ein Einsehen und schickte sich an, die Bewohner
von Königsgnade aus den Banden, in die sie sich verstrickt
hatten, zu lösen.
Eines Tages erschien Graf Ellern im Schloß, in feierlichem
Anzug, mit Zylinder und Blumenstrauß.
Was wollte Ellern hier? Woher nahm er den Mut, diese
Schwelle zu überschreiten? Was bedeutete der strahlende

Blick, mit dem er umherschaute und der jeden einzelnen
der Starkenborn zu suchen schien?
Er verneigte sich, kam näher und blieb vor der alten Gräfin
stehen.
»Gnädigste Gräfin, ich habe die Ehre.«
»Schon gut, Graf Ellern«, winkte die Greisin müde ab, denn
sie war schon ganz zermürbt von all dem Leid der letzten
Tage.
»Dann wissen gnädigste Gräfin -?«
»Allerdings«, entgegnete sie, und auf einmal lag wieder all
ihr Stolz in Haltung und Ton. »Und, offen gestanden, ich
bewundere Ihren Mut, Graf Ellern.«

»Ja, ich weiß nicht«, sagte er nun ratlos, »hat Gräfin
Roswitha nicht…?«
Er hielt verdutzt inne, denn der Schloßherr, der bisher
regungslos in seinem Sessel gelehnt hatte, fuhr so heftig
auf, als wollte er sich auf den Besucher stürzen.
Und Erdmuthe, warum sah sie ihn mit so starren, beinahe
erloschenen Augen an?
»Gnädigste Gräfin«, nahm Ellern wiederum das Wort,
»meine Verhältnisse erlauben es mir endlich, um die Hand
der Gräfin Erdmuthe anzuhalten. Aber, wo ist Gräfin
Roswitha?«

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»Hier«, ertönte es von der Tür her.
Soeben war die jüngste Gräfin Starkenborn eingetreten.

Stolz, hochaufgerichtet stand sie da. Ihre flammenden
Blicke gingen von einem zu anderen.
Sie trat auf Ellern zu und ergriff seine Hände.
Als Odalrich das gewahrte, schien er sich auf ihn stürzen zu
wollen. Und wer weiß, was geschehen wäre, hätten Mutter
und Großmutter ihn nicht mit Aufbietung aller Kraft
zurückgehalten.
»Roswitha, verlaß auf der Stelle das Zimmer«, rief die alte
Gräfin gebieterisch. »Hast du kein Herz in der Brust, daß
du dies alles ruhig mit ansehen kannst, daß du…«
»Bitte, kein Wort weiter«, unterbrach Roswitha sie kalt.
»Hier, Erdmuthe«, sie wandte sich an die Schwägerin, die

sie mit starren Augen ansah, »hier bringe ich dir den Mann,
den du liebst und der dich zur Gattin begehrt; er ist in der
glücklichen Lage, dich auf das Erbe seiner Väter führen zu
können.«
Sie fuhr unwillkürlich herum, denn Odalrichs Brust
entrang sich ein qualvolles Stöhnen, das sie bis ins Mark
erschütterte, und zugleich erblaßte sie unter seinem Blick.
»Roswitha!«
Es war der Schrei eines fast schon zu Tode gehetzten
Menschen, der endlich Aussicht auf Rettung sieht.
»Laß nur, später!« winkte sie ab, denn sie wollte nicht
weich werden, um keinen Preis. »Graf Ellern wird euch

alles auseinandersetzen. Ich, ich bin wirklich nicht in der
Lage dazu.«
Ein hochmütiges Kopfneigen. Dann ging sie davon, in
einer so stolzen Haltung, daß niemand mehr daran
zweifeln konnte, wie sehr sie eine echte Starkenborn war.
»Ja, was hat das zu bedeuten«, fragte Graf Ellern ratlos. Und
als Erdmuthe, die als erste aus ihrer Erstarrung erwachte,
ihm hastig alles erklärte, da mußte er sich in einen Sessel
sinken lassen, denn er konnte sich kaum noch
aufrechthalten.
»Odalrich, wie konntest du das nur glauben?« fragte er

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vorwurfsvoll den Schloßherrn, der den Kopf in die Hände
gestützt hatte und regungslos dasaß.

»Wenn so viel Süße und Reinheit, wie deine Gattin sie ihr
eigen nennt, täuschen sollten, dann wäre diese Erde nicht
wert, daß man nur noch eine Minute auf ihr verweilte. Sie
half aus gütigem Herzen heraus und erhält solchen Dank
dafür!«
In kurzen Worten schilderte er nun, wie er Roswitha
kennengelernt, wie sie ihm ihre Hilfe angeboten und wie
sehr sie sich gefreut habe, ihre Lieben mit dem, was sie
getan hatte, überraschen zu können.
Er war zu Ende.
Die despotische alte Gräfin weinte fassungslos.
Odalrich, der die ganze Zeit, ohne sich zu bewegen,

dagesessen hatte, sprang plötzlich auf und eilte mit solcher
Hast davon, als gelte es, seine Seligkeit zu retten.
Er stürmte die Treppen hinauf in das Wohnzimmer seiner
Gattin. Dort sank er ihr stumm zu Füßen und barg seinen
Kopf in ihrem Schoß.
Ein heftiges, stoßweises Schluchzen brach aus seiner Brust,
daß sein ganzer Körper bebte.
Roswitha saß stumm und steif da, kämpfte mit dem
bitteren Schmerz, der sie vollständig beherrschte, und hatte
für den Mann zu ihren Füßen kein gutes Wort.
Plötzlich hob er den Kopf, und sie sah in sein
qualverzerrtes Gesicht.

»Roswitha, ich werde wahnsinnig, wenn du nicht
verzeihst!«
Da lächelte sie traurig und weh.
»Doch, Odalrich, ich verzeihe dir. Nur, wie es früher war,
kann es nun nicht mehr sein. Zu tief hast du mein Herz
verwundet. Was nützt mir deine Liebe ohne dein
Vertrauen?«
Wieder das qualvolle Stöhnen, das ihr die Seele zerriß.
»Roswitha, ich will ja warten, still und geduldig, bis du mir
ganz verzeihst«, stieß er hervor. »Ich weiß ja, wie schuldig
ich bin, und will alles tun, um gutzumachen. Nur darfst du

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mir nicht die Hoffnung nehmen, daß alles noch einmal so
zwischen uns werden wird wir früher! Anders ertrage ich es

nicht, ich gehe sonst zugrunde.«
Roswitha wußte wohl, wie inhaltsschwer seine Worte
waren.
»Odalrich, wir werden uns eine Zeitlang trennen«, sagte sie
leise und begütigend.
Doch da fuhr er auf, als habe ihn ein Schlag getroffen. Er
umfaßte sie mit beiden Armen, als müßte er sie festhalten.
»Nein, Roswitha, nein, das darfst du mir nicht antun!«,
flehte er. »Ich gebe dir mein Ehrenwort, daß ich dich
niemals belästigen, daß ich nie etwas tun werde, was dich
quälen oder verstimmen könnte. Doch ich muß dich
sehen, täglich, stündlich. Ich liebe dich so, daß ich ohne

dich nicht mehr leben kann. Geh nicht von mir, Roswitha,
bitte, geh nicht von mir!«
Endlich gab sie nach. »Nun gut, ich bleibe.«
Da legte er seinen Kopf in ihren Schoß und wurde
innerlich ganz ruhig.
Wie der Graf seiner jungen Gattin in den nächsten Wochen
begegnete, mit solcher Zartheit, solcher Geduld, so war
wohl selten eine Frau von einem Manne umworben
worden.
Roswitha nahm alles das mit leisem, wehem Lächeln hin,
das, neu wie es an ihr war, sie vollends unwiderstehlich
machte. Sie war immer gleichmäßig freundlich, doch

weiter auch nichts. Man wetteiferte förmlich miteinander,
sie zu verwöhnen, ihr Liebes zu erweisen. Sie ließ es sich
lächelnd gefallen und hatte auf die herzlichen Bitten aller,
sie möge Odalrich doch verzeihen, stets nur die eine
Antwort, daß sie ihm schon längst verziehen habe.
Aber niemand wollte ihr das glauben.
»Ita, sei doch wieder lieb zu Odalrich«, bat Erdmuthe auch
heute, als der Bruder traurig aus dem Zimmer gegangen
war. »Was er verschuldet hat, ist doch wirklich nicht
unverzeihlich. Er war ja sinnlos in seinem Schmerz und
wurde daher ungerecht. Schau nur, Ita, selbst ich habe an

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deine Schuld geglaubt, so sehr war der Schein gegen dich.
Ich kann wirklich nicht so glücklich sein, wie ich es

möchte, solange zwischen dir und Odalrich nicht wieder
alles so ist wie einst. Denn ich muß mir immer wieder
sagen, daß letzten Endes ich die Veranlassung zu eurer
Entfremdung gewesen bin.«
»Das ist ja Unsinn«, fuhr Ita auf.
Aber Erdmuthe ließ sich nicht abweisen. »Italein«,
schmeichelte sie, »wenn du Odalrich jetzt nachgingest,
deine Arme um seinen Hals legtest und ihn freiwillig
küßtest, ich glaube, er wäre ganz närrisch vor Freude.«
»Wird auch einmal wiederkommen, Erdmuthe. Doch jetzt,
nein, jetzt kann ich es noch nicht«, entgegnete Roswitha.
»Laß aber nicht mehr allzuviel Zeit darüber verstreichen,

Ita, denn Odalrich leidet schwer.«
Und so ging es weiter. Hatte sie einen vertröstet und lief
dann einem anderen in den Weg, so konnte sie gewiß sein,
daß das Betteln von neuem anfing. Krönchen sah sie jeden
Tag vorwurfsvoller an, und Frau von Wilde war sehr
niedergedrückt.
»Ita, Herzkind, so nachtragend darf man wirklich nicht
sein«, warnte das treue Krönchen. »Auch du hast Schuld,
mein Liebling. Wenn du es auch gut gemeint hast, eine
Täuschung war es doch. Du willst nicht nachgeben,
verschanzt dich immer mehr hinter deinem Stolz, wie du es
nennst, aber der ist nichts weiter als Trotz. Höre auf mich,

es könnte sonst eine Zeit kommen, da du für dein Leben
gern deinen Fehler gutmachen möchtest. Vielleicht ist es
dann aber zu spät, und du wirst bitterlich weinen!«
»Womit deine schreckliche Moralpauke hoffentlich
beendet ist«, lächelte Roswitha und streichelte der treuen
Alten zärtlich die Wange. »Ich weiß nicht, was ihr alle von
mir wollt? Führen wir nicht eine friedliche Ehe?«
»Ja, nur daß der eine Teil langsam aber sicher dabei
zugrundegeht«, entgegnete Krönchen. »Das hätte dein Papi
erleben müssen! Er würde sich darüber zuschanden
gegrämt haben.«

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»Ach ja, mein lieber Papi«, seufzte Roswitha, und ihre
Augen füllten sich mit Tränen, »morgen ist sein Sterbetag.«

Als sie am anderen Morgen zum Grabe der Eltern ging, um
den Hügel mit Blumen zu schmücken, traf sie dort schon
Odalrich an. Das Grab verschwand fast unter Blumen, und
Roswitha hatte Mühe, die ihren noch unterzubringen.
Wie weh ihr zumute war! Wie vieles hatte sie, seitdem die
Eltern von ihr gegangen waren, erlebt und erlitten!
Ihr Blick streifte den Gatten, der in Gedanken versunken
dastand. Sein Schmerz, mit dem er der Toten gedachte, war
aufrichtig. Diese Gewißheit machte Roswitha zugänglicher.
Sie wehrte seinen Arm nicht ab, den er um ihre Schultern
legte, ließ sich gutwillig nach der Bank führen und saß still
neben ihm. Tiefer Friede herrschte ringsum; wie schön war

alles hier!
Da legte Roswitha ganz sacht den Kopf an des Gatten Brust,
und er drückte sie fest an sein Herz.
»Ita, meinst du nicht auch, daß wir so treu
zusammenhalten müßten wie die lieben Toten da unten?«
begann er behutsam. »Meinst du nicht auch, daß es im
Leben der beiden ebenfalls Differenzen gegeben hat, die
ihre große Liebe zueinander immer wieder siegreich zu
überwinden vermochte?«
»Odalrich, du hast mir doch versprochen…«
Er schrak zusammen.
»Wohl, wohl, Roswitha«, sagte er schnell, »wie du bist, so

bin ich mit dir zufrieden. Ich habe ja die Gewißheit, daß
du mir gehörst, und daß keine Macht auf Erden uns
auseinanderreißen kann. Wären wir nicht so fest
miteinander verwachsen, wie wir es sind, dann könnten wir
beide nicht so um unsere Liebe leiden, wie wir es tun. Aber
sieh nur, wer jetzt alles kommt, um deinen Eltern einen
Gruß zubringen.«
Lächelnd deutete er auf die beiden Gräfinnen, Erdmuthe
und deren Verlobten. Sie alle wollten den beiden Toten,
denen sie alle viel, sehr viel verdankten, Blumen bringen.
Später stellten sich auch noch Gisbert und Angela ein, und

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als gar noch Vater Quendlin daherkam, mußten alle
unwillkürlich lachen, so wenig ihnen danach zumute war.

»Ja, da glaubte wohl jeder, allein zu sein«, schmunzelte der
alte Herr. »Haben ein verflixt hübsches Plätzchen erwischt
für ihren langen Schlaf, unser lieber und verehrter Herr
Kommerzienrat und seine gütige Frau.«
Er legte seine Blumen zu Füßen des Hügels nieder, weil auf
diesem selbst kein Platz mehr war. Dann ging sein Blick zu
Roswitha, die an des Gatten Seite stand.
»Nun, kleine Gräfin, haben wir den Herrn Verwalter schon
tüchtig bei den Ohren genommen?« scherzte er, und da
mußte sie lachen.
»Der läßt sich auch schon bei den Ohren nehmen, Vater
Quendlin! Sehen Sie nur, wie er mich auslacht!«

»Anlacht«, widersprach Graf Ellern und blickte sie herzlich
an.
Die gedrückte Stimmung begann sich langsam zu heben,
und man war schon wieder ganz vergnügt, als man
einträchtig dem Schlosse zuschritt.
Wieder war die Zeit herbeigekommen, die den Jägern die
liebste des ganzen Jahres ist.
Graf Starkenborn hatte zwar die Jagdleidenschaft niemals
so über sich Herr werden lassen, um vollkommen von ihr
unterjocht zu werden, allein er ging gleichwohl gern auf die
Jagd.
Seit einigen Tagen war er einem Bock auf der Spur. So war

er denn viel auf der Pirsch. Aber das war Roswitha ganz
und gar nicht recht. Die Jagd schien ihm wirklich näher am
Herzen zu liegen als sie! Doch sie ließ es ihn nicht merken,
wie sehr sie ihn vermißte. Eines Tages war Odalrich bereits
am Nachmittage fortgegangen. Als er um Mitternacht noch
nicht zurückgekehrt war, packte Roswitha heftige, fiebernde
Angst. Es war doch schon oft genug vorgekommen, daß ein
Mann auf der Jagd verunglückt war.
Wenn Odalrich nun etwas zugestoßen wäre?
Sie hielt es im Bett nicht mehr länger aus. Sie erhob sich,
öffnete das Fenster und lauschte in die Nacht hinaus.

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Und je länger sie dort stand, desto größer wurde ihre Angst.
Krönchens Worte kamen ihr in den Sinn. Wenn sie nun

gutmachen wollte und wäre nicht mehr imstande dazu?
Was die junge Gräfin in diesen wenigen Stunden zwischen
Mitternacht und Morgengrauen durchlitt, dagegen
verblaßte alles bisher Erduldete. Sie merkte trotz ihres
leichten Gewandes nicht, wie kühl die Nacht war. Sie
zitterte am ganzen Körper, und es hätte sich schwer sagen
lassen, ob vor Seelenangst oder vor Kälte.
Als sie endlich ein Geräusch hörte, war alles Leid vergessen.
So schnell die Füße trugen, eilte sie in das Nebenzimmer,
wo der Gatte gerade die Büchse von der Schulter nahm.
»Roswitha«, rief er erschrocken und zog sie an sich.
Zitternd schmiegte sie sich an ihn und fuhr ihm mit beiden

Händen über das Gesicht.
»Odalrich, oh, ich habe große, unbeschreibliche Angst
gehabt, dir könnte etwas zugestoßen sein.«
Er führte sie behutsam zu einem Sessel, ließ sich in ihn
nieder und zog sie auf seinen Schoß.
Er wagte es nicht, sich zu rühren. Er hatte das Gefühl, als
solle es ihm die Brust zersprengen, so rasend klopfte sein
Herz.
Würde es nun doch wiederkommen, das Glück, das
jubelnde, jauchzende Glück?
Kaum, daß er sich zu atmen getraute, um nicht zu
verscheuchen, was wie ein köstlicher Traum war.

Ach, daß es mehr wäre als nur ein Traum!
Immer heftiger köpfte sein Herz.
Auf einmal hob Roswitha den Kopf und sah in seine
Augen.
»Odalrich, nicht wieder fortgehen«, bettelte sie, »ich will
nicht noch einmal so große Qualen um dich erdulden wie
heute nacht.«
»Roswitha?« fragte er atemlos, und sie nickte.
»Ich hab’ dich sehr, sehr lieb, Odalrich.«
Da stieß er einen so jauchzenden Schrei aus, daß sie
erschrocken zusammenfuhr.

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Sehr lange währte es, bis er sich einigermaßen beruhigt
hatte.

»Oh, wie glücklich ich bin! Gehst du nun auch nicht
wieder so lange von mir fort?« fragte sie, und er lachte
glücklich.
»Ich werde mich hüten, mein Liebling. Wenn ich nur
geahnt hätte, wie sehr du mich erwartetest, wäre ich zu dir
gelaufen, was nur die Beine hergegeben hätten; doch ich
saß ahnungslos beim Förster, wo wir den erlegten Bock
begossen.«
»Hätte ich nur gewußt, wo du bist, ich wäre durch die
Nacht zu dir gelaufen.«
»So lieb hast du mich, kleine Ita?« fragte er leise, und ihm
wurden die Augen feucht. »Oh, dann ist mir nicht mehr

bange um mein Glück. Denn immer und für alle Zeit wirst
du die Sonne meines Lebens sein. Wie sehr werden alle
hier im Hause sich freuen, und wie sehr dich verwöhnen.
Ganz Königsgnade hast du auf den Kopf gestellt mit deiner
zauberischen Süße! Sie und das Holdselige, das Strahlende
deines Wesens habe ich einmal für Lug und Trug gehalten!
Ach, Liebling, wenn du wüßtest, was ich in den letzten
Wochen gelitten habe, weil ich glaubte, im Recht zu sein.
Kannst du dich nicht ein wenig in meine Seele
hineinversetzen?«
»Odalrich, bitte, sei nicht mehr traurig«, bettelte ein süßes
Stimmchen. »Auch ich habe Schuld, weil ich dir etwas

verbarg. Doch nie, nie mehr will ich ein Geheimnis vor dir
haben, Liebster; zu schwer habe ich darunter leiden
müssen.«
Da lächelte er schon wieder.
»Daß dein Herzchen so voll Liebe und Güte ist, das haben
alle hier erfahren dürfen. Du hast nicht nur mich glücklich
gemacht, sondern auch Erdmuthe. Hast den alten Herren
und Damen in der Ahnengalerie bewiesen, daß du eine
echte Starkenborn bist, so aufrecht und stolz, wie kaum
jemals eine unseres Geschlechts war.«

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-ENDE-


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