KRAFFT VON BROEDE
Roman von Leni Behrendt
Ilse-Sybille hat in ihrer Kindheit bitter leiden müssen unter
der unglücklichen Ehe ihrer Eltern. Als Vater und Mutter
gestorben sind, kommt das junge Mädchen zu einer Tante,
bei der es sich auch nicht wohl fühlen kann. Wie ein
tröstlicher Stern steht über dem freudlosen Leben die
Erinnerung an einen Unbekannten, dem Ilse-Sybille auf der
Reise zu ihrer Tante begegnet ist und der in ritterlichzarter
Weise für sie sorgte, um dann spurlos zu verschwinden. Sie
wünscht sich brennend, diesen Mann einmal
wiederzusehen. Doch als der Wunsch eines Tages wirklich
in Erfüllung geht, geschieht nichts von alledem, was das
Mädchen sich erträumt hat. Im Gegenteil, es kommt nun
für Ilse-Sybille eine Zeit voller Mißverständnisse, Kummer
und innerer Qual; sie liebt und darf es nicht zeigen, weil
Stolz und Selbstachtung es ihr verbieten.
Diese Ausgabe erscheint alle 4 Wochen im Martin Kelter Verlag (GmbH & Co.),
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Abgebildete Personen auf dem Umschlag stehen in keinem Zusammenhang mit dem Roman.
Diese Ausgabe darf weder in Leihbüchereien noch in Lesezirkeln geführt oder zum gewerbsmäßigen
Umtausch bzw. Wiederverkauf verwendet werden.
Herr Schmehlich, der Besitzer des vielbesuchten
Nervensanatoriums Seelenruh, saß gedankenverloren in
einem tiefen Sessel seines Arbeitszimmers. Er zog an einer
dicken Zigarre und rauchte wie ein Schlot.
Herr Schmehlich kam nur einmal in der Woche nach
Seelenruh, um sich darin umzusehen. Er hatte noch weitere
Unternehmungen, war ein gewiegter Geschäftsmann, der es
zu großem Reichtum gebracht hatte.
Heute war er auf einen Brief Dr. Meders hin hergekommen.
Und was er vorhatte, das mußte ernstlich und reiflich
erwogen werden.
Endlich schien er zu einem Entschluß gekommen zu sein;
denn er richtete sich im Sessel auf und rief den Diener
herbei.
»Sagen Sie Fräulein Rainer, ich ließe sie zu einer
Unterredung hierher bitten.«
Gleich darauf stand die gewünschte Dame vor Herrn
Schmehlich. Ein wohlgefälliges Lächeln huschte über sein
rotes Gesicht, in seinen verschwommenen Äuglein zuckte
es begehrlich auf.
So ein wunderschönes Geschöpf bekam er aber auch nicht
alle Tage zu sehen! Der begehrliche Herr mußte wieder
einmal feststellen, daß das Mädchen von einer
bestrickenden Süße war, die selbst auf kühle, sachliche
Menschen verwirrend wirken mußte. Die lässige Haltung
des biegsamen, gepflegten Körpers, das stolzgetragene
Köpfchen, um das sich wunderbares Blondhaar bauschte
und wellte. Und dann die Augen – diese rätselhaften
Märchenaugen von weichem, dunklem Grau! Dunkel
umsäumten sie lange, seidige Wimpern.
»Nehmen Sie Platz, mein Fräulein«, forderte er die junge
Dame auf, die erwartungsvoll auf ihn schaute. »Ich habe
Ihnen eine Eröffnung zu machen. Zuerst will ich Ihnen
erklären, weshalb Sie so lange in meinem Sanatorium
weilen mußten, dessen Aufsicht und Pflege Sie nur kurze
Zeit nötig hatten. Doch Ihr Vater verlangte Ihr Bleiben, weil
er sich mit einer jungen Dame verheiratete und ihm die
erwachsene Tochter daher unbequem war. Und da Sie sich
hier wohl fühlten und das Pensionsgeld auch
einigermaßen pünktlich gezahlt wurde, machte Ihr Bleiben
auch weiter keine Schwierigkeiten. Aber seit zwei Monaten
blieb die Bezahlung aus, und sie wird auch fernerhin
ausbleiben, da Ihr Vater nicht mehr unter den Lebenden
weilt. Seine eifersüchtige Gattin hat ihn und sich nach
einem heftigen Streit erschossen. Die Villa fiel in die Hände
der Gläubiger und Sie, mein Kind, sind nun allein und
bettelarm. Nachdem die Verhältnisse sich so gestaltet
haben, ist Ihres Bleibens hier nicht länger.«
Forschend sah er zu dem Mädchen hin, das seine
Eröffnung nicht erregt zu haben schien. Vielleicht war das
hochmütige Antlitz etwas blasser als sonst. Da es jedoch
immer von durchsichtiger Zartheit war, ließ sich das schwer
feststellen.
Als sie nicht antwortete, räusperte der kleine Dicke sich:
»Haben Sie mir nichts zu antworten, Fräulein Rainer? Geht
Ihnen die Tragödie Ihres Vaters denn gar nicht zu Herzen?«
»Nein!«
Kalt, schroff klang es, man hätte der weichen Stimme einen
solchen Ton nicht zugetraut.
Schmehlich sah sie betroffen an.
»Aber ja – aber – « meinte er ratlos.
Da erschien ein Lächeln auf dem zarten Antlitz, das den
guten Dicken ganz und gar betörte.
»Ich kann um meinen Vater nicht trauern, da er mir nie
nahestand. Er hat sein Unglück selbst verschuldet. Daß ich
arm bin, weiß ich. Auch daß ich die Betreuung hier längst
nicht mehr nötig hatte. Warum mein Vater mich trotzdem
im Sanatorium ließ, darüber habe ich mir wohl manchmal
den Kopf zerbrochen, forschte aber nicht weiter nach, da es
mir hier gut ging. Nun allerdings muß ich diese friedliche
Stätte verlassen. Schade!«
Jetzt war der Augenblick für Herrn Schmehlich gekommen.
Er setzte sich in Positur, legte sein fettes Gesicht in wichtige
Falten und sah mit herablassendem Wohlwollen das
Mädchen an.
»Tja – « meinte er salbungsvoll. »Über diesen Punkt möchte
ich mit Ihnen reden, meine liebe, verehrte Ilse-Sibylle.
Ihretwegen bin ich heute hierher gekommen, obgleich ich
viel Geschäftliches zu erledigen habe. Ich habe mir die
Sache reiflich überlegen müssen. Sie sind immerhin das
Kind Ihres leichtsinnigen Vaters, und für Künstler habe ich
nie viel übrig gehabt. Trotzdem habe ich mich
entschlossen, Sie zu heiraten. Hoffentlich erkennen Sie das
Glück, das ich Ihnen zu geben imstande bin, auch
genügend an.«
So, nun war es heraus. Herr Schmehlich blähte sich
ordentlich auf vor Edelmut und Selbstgefälligkeit. Er
wappnete sich, um mit Würde die Dankesbezeugungen des
Fräuleins entgegenzunehmen.
Allein, es sah ja fast so aus, als kämpfe sie mit einem
Lachen! Und auch ihre Stimme klang ganz danach:
»Ihr Opfermut ist sehr anerkennenswert, Herr Schmehlich.
Daher verzeihen Sie meine Undankbarkeit. Wie mich Ihr
Antrag auch ehrt, ich muß ihn dennoch ablehnen.«
»Was – ablehnen?« wiederholte er, als hätte er nicht recht
gehört.
»Leider.«
Das genügte, um den Herrn aus seiner selbstgefälligen
Ruhe zu reißen. Er schnappte nach Luft, sein Gesicht wurde
dunkelrot.
»Was wollen Sie denn anfangen?«
»Mir eine Stellung suchen.«
»So sehen Sie aus!« erboste er sich immer mehr. »Für
derartige Angestellte wie Sie bedankt sich jeder. Sie haben
bestimmt keine Veranlassung, sich aufs hohe Pferd zu
setzen. Arm wie eine Bettlerin, aus so verlotterter Familie –
«
»Das gehört nicht hierher«, unterbrach sie ihn hochmütig.
»Meine Verhältnisse gehen Sie nichts an, da ich Ihren
Antrag ablehne und noch heute Ihr Sanatorium verlassen
werde.«
Ihr stolzer Blick streifte seine Gestalt, die klein und dick vor
ihr saß. Sie sah das Mopsgesicht, den großen kahlen
Schädel, über den einige Härchen mit Sorgfalt gebürstet
waren, und schon kämpfte sie wieder mit einem Lachen.
»Nichts für ungut!« meinte sie tröstend, indem sie sich
erhob und der Tür zuging.
»Sie werden es noch einmal bitter bereuen!« rief er ihr
nach.
»Ich glaube nicht«, gab sie lachend zurück. Dann ging sie,
den abgewiesenen Freier in heller Wut zurücklassend.
Daß ihm das passieren mußte – ihm, Eduard Schmehlich!
Dazu noch von so einem grünen Ding, das mit seinen
dreiundzwanzig Jahren wie ein Backfisch aussah.
Mit gewichtigen Schritten suchte er Dr. Meder auf, um sich
seinen Ärger von der Leber zu wettern.
Der Arzt sah erschrocken seinem Gebieter entgegen, der
hochrot im Gesicht anpustete.
»Unerhört!« polterte er ohne Einleitung los. »Was man sich
so alles bieten lassen muß! Auf den Knien müßte sie mir
danken, daß ich sie zu meiner Frau machen will. Sofort
verläßt das impertinente Mädchen das Sanatorium!«
Dr. Meder war sofort im Bilde. Oh, wie gern hätte er
herzlich gelacht! Da das nicht anging, beschwichtigte er
den erbosten Herrn.
»Lassen Sie doch, Herr Schmehlich«, redete er dem in
seiner Eitelkeit getroffenen Herrn gut zu. »Sie wird die
Folgen ihrer Handlungsweise allein tragen müssen.«
»Die und in Stellung gehen!« konnte Schmehlich sich nicht
beruhigen. »Die hochnäsige Person setzen die Leute gleich
nach den ersten Tagen vor die Tür!«
»Das soll Ihre Sorge nicht sein, Herr Schmehlich.« Dieser
brummte noch ein Weilchen vor sich hin, gab sich dann
jedoch zufrieden und trollte sich.
Unterdessen war Ilse-Sibylle in ihr trauliches Stübchen
geeilt, in dem sie zwei Jahre hindurch so sorglos gelebt
hatte.
Es war ihr gut gegangen in dem stillen, vornehmen Hause.
Und nun mußte sie in die Welt hinaus, vor der ihr graute.
Wohin sollte sie überhaupt gehen, bis sie eine Stellung
gefunden hatte? Welcher Art sollte diese Stellung sein? Sie
besaß nichts als die Bildung der sogenannten höheren
Tochter. Daß sie mehrere Sprachen beherrschte und
außergewöhnlich musikalisch war, konnte ihr allein nicht
viel nützen.
Nun kamen ihr die Tränen, als sie ihre Habseligkeiten
zusammenpackte. Viel war es nicht. Von dem kleinen
Taschengeld hatte sie sich nichts anschaffen können, daher
war es nicht viel, was sie an Kleidung besaß, und außerdem
recht abgetragen.
Hätte sie den Antrag des vortrefflichen Herrn nicht doch
lieber annehmen sollen? Dann wäre sie jetzt aus aller Sorge
und Not.
Doch bei dem Gedanken lachte sie wieder, während ihr die
Tränen noch über das Gesicht liefen.
Schnell packte sie zu Ende und ging dann in die
Privatwohnung Dr. Meders, um sich von den ihr
liebgewordenen Menschen zu verabschieden.
Der Arzt sah ihr lachend entgegen.
»Hallo, Klein Ilsibyll, da haben Sie ja was Schönes
angerichtet! Wie kann man bloß die Hand eines Herrn
Schmehlich ausschlagen!«
»Sie wissen schon?«
»Und ob! Wutschnaubend erschien der gute Dicke bei mir
– die personifizierte Empörung! Er hatte es sich doch so
schön gedacht, als Märchenprinz bei Ihnen zu erscheinen.«
»Sie sind ein großer Spötter.«
»Ilsibyllchen, es wäre doch so nett gewesen, Sie als Chefin
zu haben. Die Vorteile, die mir daraus erwachsen wären!
Na, Scherz beiseite. Jedenfalls ist Herr Eduard Schmehlich
nicht schüchtern. Da möchte man fast singen: Nichts ist so
traurig, nichts macht so betrübt, als wenn sich ein
Kohlkopf in ’ne Rose verliebt.«
Doch dann wurde er tiefernst.
»Was soll nun aus Ihnen werden, gnädiges Fräulein?«
»Etwas bestimmt«, entgegnete sie achselzuckend. »Ich muß
versuchen, irgendwo unterzukriechen, bis ich eine Stellung
gefunden habe. Wenn ich nur wüßte, wo das sein könnte.
Die Verwandten meines Vaters kenne ich nicht und würde
auch nicht zu ihnen gehen. Und die Verwandten meiner
Mutter verstießen sie, weil sie einen Gegenkünstler
heiratete. Nur eine Schwester hat sich ab und zu um sie
gekümmert. Ich sah sie einmal bei uns – sehr vornehm,
sehr kühl, ganz die Oberstengattin. Das wäre also die
einzige Verwandte, an die ich mich wenden könnte. Nur
weiß ich nicht, ob sie noch in Arnsburg lebt.«
»Danach kann ich mich erkundigen«, sagte Meder lebhaft.
»Mein Vater ist Arzt in Arnsburg. Vielleicht kennt er die
Dame.« – Als er den Vater fernmündlich sprach, stellte sich
heraus, daß besagte Dame zu seinen Patienten zählte.
Meder notierte ihre Anschrift und ging dann
freudestrahlend zu Ilse-Sibylle zurück, die ihm für die
Auskunft herzlich dankte.
Ilse-Sibylle Rainer stand in der Bahnhofshalle vor dem
Fahrkartenschalter.
Wenn das Geld für die Karte nach Arnsburg nicht reichte,
dann wußte sie sich keinen Rat. Wohl hätten Meders ihr
mit einer Summe ausgeholfen, doch bitten zu müssen, war
der stolzen Ilsibyll ein Greuel.
Gottlob, das Geld genügte. Es blieb ihr sogar noch eine
Kleinigkeit, um sich unterwegs eine Erfrischung zu kaufen.
Auf dem Bahnsteig staute sich eine dichte Menschenmenge.
Es war Herbstferienanfang und die Reiselust bei dem
herrlichen Wetter besonders groß.
Sie war dem Gewoge gegenüber machtlos und ließ sich
immer wieder zurückstoßen, bis ein freundlicher junger
Schaffner sich ihrer annahm.
»Erster Klasse, gnädiges Fräulein?« fragte er höflich.
»Nein, zweiter.«
»Da wird schwer was zu machen sein«, musterte er sie
überrascht. »Wohin soll die Reise gehen?«
»Nach Arnsburg.«
»Bis dahin begleite ich den Zug. Werde Ihnen also einen
Platz Erster besorgen. Das verantworte ich schon.«
Er führte sie zu einem Wagen, in dem nur noch ein Herr
saß. Ilse-Sibylle dankte ihm, und befriedigt ging er davon.
Sie musterte nun ihren Mitreisenden verstohlen. Viel sah
sie allerdings nicht von ihm. Ein Paar lange Beine, die von
einer tadellos gebügelten Hose umspannt waren; schmale
Füße, die in eleganten Schuhen steckten. Der übrige
Mensch war von einer Zeitung besonders großen Formats
verdeckt. Auf ihren leisen Gruß senkte sich das Blatt, und
sie sah flüchtig einen gutgekleideten Herrn, der sich knapp
verneigte. Dann entzog die Zeitung ihr seinen Anblick
wieder.
Sie wählte nicht den Fensterplatz ihm gegenüber, sondern
drückte sich in die Ecke an der Tür. Wie menschenscheu sie
doch geworden war! So ganz anders als früher, da sie mit
Mutter und Bruder viel gereist war.
Ganz still saß sie da, um den Herrn nicht auf sich
aufmerksam zu machen. Als jedoch eine gute Weile
verging, in der er keine Notiz von ihr nahm, atmete sie
erleichtert auf. Schaute zum Fenster hinaus und gab sich
ihren quälenden Gedanken hin.
Ob die Tante sie überhaupt aufnehmen würde?
Sie mußte an eine Begebenheit denken, die zehn Jahre
zurücklag. Die Tante, die zu kurzem Besuch in ihrem
Elternhause geweilt, hatte die damals Dreizehnjährige
scharf gemustert und dann zu ihrer Schwester gesagt:
»Das Kind sieht deinem Gatten sehr ähnlich. Hoffentlich
beschränkt sich diese Ähnlichkeit nur auf das Äußere. Es
wäre schade, wenn das schöne Geschöpf den Charakter
seines Vaters geerbt hätte.«
»Weshalb wohl nicht?« hatte die Mutter ruhig, doch mit
einem drohenden Unterton gefragt. Darauf hatte die
andere nichts erwidert.
Diese Erinnerung ließ Ilse-Sibylle immer mutloser werden.
Wenn sie nur mehr über die Verhältnisse der Tante wüßte!
So war ihr nur bekannt, daß sie mit Gatten und Sohn auf
großem Fuß lebte.
Das Ungewohnte der heutigen Reise, dazu das angestrengte
Grübeln und Sorgen erschöpften die zarte Ilse-Sibylle. Sie
legte sich müde in die Polster zurück, ließ sich von dem
gleichmäßigen Rattern des Zuges einlullen und schlief fest
ein.
Bis eine laute Stimme sie aufschreckte.
Verständnislos sah sie auf den Schaffner, der auf sie
einredete:
»Sie sind zwei Stationen zu weit gefahren. Ware ich nicht
zufällig hergekommen, dann hätten Sie wohl bis zur
Endstation friedlich geschlummert.«
Jetzt hatte sie begriffen und erblaßte bis in die Lippen.
»Deshalb brauchen Sie nicht so zu erschrecken, gnädiges
Fräulein«, meinte er lachend. »Es geht bald ein Zug nach
Arnsburg zurück. Halten Sie sich bereit, die nächste Station
ist in fünf Minuten erreicht.«
Damit entfernte er sich eilig.
Ilse-Sibylle sah ihm wie erstarrt nach. Woher sollte sie das
Geld nehmen, um nach Arnsburg zurückzufahren?
Außerdem kam sie dort so spät an, daß sie das Haus der
Tante verschlossen vorfinden würde.
Ihr Blick ging zu dem Mitreisenden hin, der jetzt nicht
mehr las, sondern schlief.
Da zog sie ihr Geldtäschchen hervor, zählte mit zitternden
Händen die Barschaft, die nicht einmal eine Mark
ausmachte.
Sie konnte es nicht hindern, daß ihr vor Aufregung die
Zähne zusammenschlugen und die Tränen über das
Gesicht liefen.
Doch als jetzt der Herr sich zu rühren begann, riß sie sich
zusammen.
Während er den Mantel anzog, musterte sie ihn unauffällig.
Sah im Profil das harte, scharfe Gesicht, das wie aus Erz
geformt zu sein schien. Sehnig und kraftvoll die hohe
Gestalt, mit der lässigen, vornehmen Haltung des
Weltmannes.
Und ganz unerwartet sah er zu ihr hin. Der Blick aus den
graugrünen Jägeraugen traf sie durchdringend und kühl.
Sie senkte die Augen, errötete bis zur Stirn hinauf. Ihr Herz
klopfte wie rasend. Wie gut, daß eben der Zug hielt, daß sie
aus dem Bann dieser zwingenden Augen kommen konnte!
Hastig raffte sie ihre Sachen zusammen und verließ
fluchtartig das Abteil. -
Nun stand sie auf dem Bahnsteig, wußte nicht, was
beginnen. Die Menschen hasteten an ihr vorbei.
Schließlich stand sie ganz allein da.
Es blieb ihr nichts anderes übrig, als zum Stationsvorsteher
zu gehen und ihm die Notlage zu schildern. Wie schwer fiel
das der stolzen Ilse-Sibylle! Betteln müssen welch ein
entsetzlicher Gedanke!
Als sie sich verzweiflungsvoll dem Stationsgebäude
näherte, wobei sie das Gefühl hatte, als schleppte sie Blei
an den Füßen, trat ein Bahnbeamter auf sie zu, der ihr eine
Karte reichte.
»Ich soll die Karte dem gnädigen Fräulein abgeben und
glückliche Reise wünschen.«
Fast unbewußt griff sie nach der Fahrkarte, die bis Arnsburg
gelöst war. Sie nahm sich zusammen, um dem Beamten,
der sie neugierig musterte, ihre Überraschung nicht zu
zeigen.
»Ich danke Ihnen – « sagte sie höflich, und da eilte der
Mann davon.
Sie ging hastig in den Warteraum.
Wer hatte ihr die Karte geschickt – wer hatte ihre Not
erkannt?
Sie sah die hohe, ritterliche Gestalt des Fremden vor sich,
der stundenlang ihr Mitreisender gewesen war. Nur er
konnte es gewesen sein!
Müde kam Ilsibyll in Arnsburg an. Lohnte es überhaupt
noch, die Tante zu so später Stunde aufzusuchen? Aber
versuchen mußte sie es trotzdem.
Also machte sie sich in trostloser Verfassung auf den Weg.
Fragte sich zur Lindenstraße durch, bis ihr Ziel erreicht war.
Doch ihre Ahnung hatte nicht getrogen. Das Haus lag im
Dunkel, und die Tür war verschlossen.
Und was nun? Also, zum Bahnhof zurück. Vielleicht
konnte sie im Warteraum übernachten. Wie gräßlich das
alles war, wie das an ihrem Stolz zerrte und riß!
Durchgefroren, hungrig und erschöpft kam sie am Bahnhof
an. Es war kalt in dem Warteraum, dazu eine spärliche
Beleuchtung.
Sie bestellte eine Tasse Kaffee, die der Ober ihr mit
mißmutigem Gesicht hinschob. Und diesen
unfreundlichen Menschen sollte sie fragen, ob sie hier
übernachten dürfte?!
Mit den Tränen zusammen würgte sie den Kaffee hinunter,
der schlecht und nur mäßig warm war.
Kaum hatte sie die Tasse geleert, als ein Hoteldiener auf sie
zukam, sich höflich vor ihr verbeugte.
»Ich soll dem gnädigen Fräulein bestellen, daß das Zimmer
reserviert ist«, meldete er in strammer Haltung. Ehe sie
noch fragen konnte, was das bedeute, hatte er schon ihre
Tasche ergriffen und entfernte sich. Ihm schien das
selbstverständlich zu sein.
Ilse-Sibylle folgte ihm in halber Betäubung.
Das war doch sicherlich wieder der Fremde, der so für sie
sorgte.
Plötzlich stieg unsinnige Angst in ihr auf. Was wollte er,
was bezweckte er mit seinen Wohltaten?
Sie hatte schon oft einmal davon gehört, daß junge,
verlassene Mädchen in eine Falle gelockt wurden.
Allein, trotz ihrer wahnsinnigen Angst bestieg sie das Auto,
das vor dem Bahnhofsgebäude stand und den Namen eines
Hotels trug. Sie hätte sterben mögen, so verzweifelt war sie.
Das Auto hielt vor einem großen Hotel, das einen feudalen
Eindruck machte.
Ehe Ilse-Sibylle so recht zur Besinnung kam, befand sie sich
in einem elegant ausgestatteten Zimmer.
Ein Mädchen erschien mit einem auserlesenen Abendessen,
servierte es, als wäre die Dame ein vornehmer Gast, legte
einen Brief neben das Gedeck und entfernte sich knicksend.
Nun war Ilse-Sibylle allein. Sie wagte sich nicht zu rühren,
wagte nicht zu essen, obgleich der Hunger sie plagte. Sie
wartete – wartete auf etwas Schreckliches, Unfaßliches.
Denn irgend etwas mußte doch nun kommen. So viel
Edelmut
un
d Ritterlichkeit konnte es doch gar nicht geben,
daß ein Mann einem wildfremden Mädchen in so zarter
Weise half – ohne Vorteile!
Sicherlich stand in dem Brief etwas Grauenvolles. Sie
öffnete ihn mit lautklopfendem Herzen und bebenden
Händen, las:
Mein gnädiges Fräulein!
Befürchten Sie nichts. Nehmen Sie alles ruhig an, was Ihnen in
dem Hotel geboten wird. Ich bin weder ein Hochstapler noch ein
Mädchenhändler. Das Haus, in dem Sie sich befinden, ist ein
bekanntes und gernbesuchtes, das nichts Dunkles in sich duldet.
Ein Fremder.
Ilse-Sibylle schämte sich. Als ob der Fremde ihre törichten
Gedanken erraten hätte!
»Daß es so etwas gibt – daß es so etwas gibt!« flüsterte sie
immer wieder vor sich hin.
Sie sah ihn deutlich vor sich, den ritterlichen Mann. Heiß
stieg es in ihrem Herzen auf.
Daß ihr musikalisches Talent doch ein zeichnerisches wäre,
damit sie diesen Mann zeichnen und so sein Bild festhalten
könnte!
Jetzt wurde sie ganz ruhig. Sie aß mit Genuß und legte sich
dann ins Bett.
Als sie am anderen Morgen erwachte, war es schon spät.
Kaum daß sie angekleidet war, erschien das Mädchen, das
sie gestern bedient hatte, mit dem Frühstück. Bevor es sich
zurückzog, fragte es, zu welcher Zeit das gnädige Fräulein
das Auto wünschte, worauf Ilse-Sibylle antwortete, daß sie
Bescheid geben würde.
Ach, sie wunderte sich jetzt über nichts mehr, sondern
begann sich daran zu gewöhnen, daß in so geheimnisvoller
Weise für sie gesorgt wurde.
Und als sie eine halbe Stunde später durch das Vestibül
schritt, dienerte das Hotelpersonal, so devot, als wäre sie
der vornehmste Gast. Wie gern hätte sie nach dem Namen
des Herrn gefragt, der alles für sie bezahlt hatte!
Das Auto, in dem Ilse-Sibylle zu ihrer Tante fuhr, hielt vor
dem Hause, vor dem sie gestern so niedergeschlagen
gestanden hatte.
Nachdem sie ausgestiegen war, fuhr der Chauffeur mit
respektvollem Gruß davon, auch hier mußte der Fahrpreis
bereits bezahlt sein.
Scheu ging ihr Blick an dem Gebäude empor, das noch im
vornehm gediegenen Stil der Vorkriegszeit erbaut war. Und
als sie dann die teppichbelegte Treppe zum ersten
Stockwerk emporstieg, klopfte ihr das Herz bis zum Hals.
Die Beine zitterten ihr so heftig, als wollten sie den Dienst
versagen.
Wie ein Dieb schlich sie zu der schweren Eichentür hin,
bückte sich, um den Namen darauf zu lesen.
Oberst von Bruckheim, also sie war am Ziel. Die Hand,
welche die Glocke in Bewegung setzte, flatterte.
Kurz, schrill durchschnitt der Schall die vornehme Ruhe
des Hauses. Dann eilige Schritte, und vor der
Einlaßbegehrenden stand ein Mädchen in koketter Schürze
und Häubchen.
»Sie wünschen?«
»Ich bin Ilse-Sibylle Rainer und möchte zu meiner Tante,
der Frau Oberst von Bruckheim«, brachte sie mit einer
Stimme hervor, die ihr kaum gehorchen wollte.
Aus den Augen des Mädchens traf sie ein verwunderter,
prüfender Blick. Zögernd führte es den Gast in ein Zimmer.
»Ich werde die Dame der Frau Oberst melden«, zog es sich
dann zurück.
Ilse-Sibylle erschien es wie eine Ewigkeit, bis das Mädchen
wiederkam und sie in ein anderes Gemach führte.
Und dann stand sie der Tante gegenüber. O nein, so stolz
hatte sie diese nicht in Erinnerung, auch nicht mehr so
jung, so schön. Wie sollte sie vor dieser großen Dame
bestehen?
Ganz klein fühlte sie sich plötzlich – winzig klein. Bei dem
wahnsinnigen Herzklopfen konnte sie gewiß nicht
sprechen, senkte den Kopf wie schuldbeladen.
Bis ihr dann Frau von Bruckheim zu Hilfe kam. Sie streckte
ihr die Hand entgegen, eine schmale, weiße Hand, über die
das Mädchen sich artig beugte.
»Ich bin überrascht, dich bei mir zu sehen, Ilse-Sibylle«,
hörte sie eine wohlklingende, doch sehr kühle Stimme
sagen. »Zuerst lege einmal ab, und dann erzähle mir, was
dich zu mir führt.«
Dasselbe Mädchen, das sie ins Zimmer geführt, trat wieder
ein und nahm ihr Mantel und Hut ab.
Frau von Bruckheim setzte sich, bat die Nichte, ihr
gegenüber Platz zu nehmen. Es dauerte Sekunden, bis diese
sprechen konnte.
»Ich komme zu dir, Tante Marianne, um dich für kurze Zeit
um Unterkunft zu bitten«, würgte sie mühsam hervor.
Dann eine Pause, die dem Mädchen entsetzlich war.
»Und weiter, Ilse-Sibylle?« klang dann der Tante kalte
Stimme durch das Schweigen.
»Bis – ja, bis ich eine Stelle gefunden habe. Ich konnte
nicht länger im Sanatorium bleiben – mein Vater ist tot – «
»Ich weiß es.«
Wieder der abwartende Blick von Frau von Bruckheims. Mit
keinem Wort kam sie der gequälten Nichte zu Hilfe.
»Ich mußte das Sanatorium verlassen, weil das
Pensionsgeld nicht mehr für mich gezahlt wird – und weil
– «
Sie senkte den Kopf tief, weil es ihr nicht möglich war, dem
kühl beobachtenden Blick standzuhalten.
»Und weil -? Sprich weiter, Ilse-Sibylle. Wenn ich dich bei
mir behalten soll, dann muß ich volle Klarheit haben.«
»Weil der Besitzer des Sanatoriums mir einen Heiratsantrag
machte, den ich nicht annehmen konnte«, flüsterte das
Mädchen kaum hörbar.
»Und weshalb konntest du das nicht?« sprach die kalte
Stimme tadelnd. »Du bist arm und allein, darfst daher
keine hohen Ansprüche stellen. Der Mann ist, soviel ich
weiß, reich und unabhängig.«
Nun vergaß Ilse-Sibylle, daß sie als Bittende vor der Tante
saß. Ihr Blick sprühte, der Kopf fuhr in den Nacken mit
hochmütiger Gebärde.
»Reich und unabhängig – doch auch gewöhnlich und
häßlich!« rief sie erbittert, während Tränen ihre Augen
verdunkelten. »Ich mag derartige Menschen nicht – «
Jetzt erst kam ihr zu Bewußtsein, wie sehr sie sich vergessen
hatte. Unwillkürlich duckte sie sich, um den tadelnden
Worten besser standhalten zu können. Horchte überrascht
auf, als die Tante sagte:
»Das ändert die Sache. Nun möchte ich dich noch fragen,
ob du die Aufsicht und Pflege des Sanatoriums noch nötig
hast.«
»Nein, Tante Marianne, die hatte ich nur kurze Zeit nötig.
Daß ich trotzdem so lange blieb, geschah, weil ich meinem
Vater im Wege war.«
»Ah – armes Kind. Doch nun weiter. Welcher Art soll die
Stellung sein, die du dir zu suchen gedenkst?«
»Gesellschafterin oder Kinderfräulein.«
Ein kaum merkliches, feines Lächeln erschien auf dem
Antlitz der Dame, das die Nichte nicht zu deuten wußte.
»Ja, liebe Ilse-Sibylle, du magst ja den guten Willen haben,
dich tapfer durchs Leben zu schlagen. Doch bei deinem
Aussehen dürfte das nicht so einfach sein. Deswegen wirst
du immer wieder auf Schwierigkeiten stoßen.«
»Aber warum denn nur? Dr. Meder und Herr Schmehlich
sagten übrigens dasselbe. Warum sollte ich, gerade ich
keine Stellung finden, da es Tausenden von Mädchen
gelingt?«
Wieder das feine Lächeln der Tante.
»Weil du das Benehmen und Aussehen eines Fürstenkindes
– und nicht das eines stellensuchenden Mädchens hast.
Dabei siehst du noch so sehr jung aus, daß man dir keine
ernstliche Pflichterfüllung zutraut. Doch ich will dir das
Herz nicht schwer machen, du armes Kind. Es ist ja nicht
dein Verschulden, daß es dir so geht. Du kannst vorläufig
bei mir bleiben. Für die Tochter meiner Schwester habe ich
immer Platz. Ich kenne dich nicht, will dir daher keine
Versprechungen machen. Aber sollte deine Person mir
zusagen, dann kannst du immer bei mir bleiben. Ich habe
nicht viel, muß mich sogar recht einschränken, doch mit
gutem Willen wird es schon gehen. Was meinst du zu
meinem Vorschlag, Ilse-Sibylle?«
Also doch eine Aschenputtelrolle, die mir alles andere als
liebenswürdig zugeteilt wird! dachte das Mädchen bitter.
Aber ich muß sie wohl annehmen, weil mir keine andere
Wahl bleibt.
Es klang sehr niedergedrückt, als sie sagte:
»Ich danke dir, Tante Marianne. Du mußt mir nur sagen,
wenn ich dir lästig falle.«
Sie gingen ins Wohnzimmer, und Tante Marianne setzte
sich auf den Fensterplatz, wo rundum herrliche Blumen
blühten. Ilse-Sibylle wurde bedeutet, sich gegenüber
niederzulassen.
»Nun erzähle von zu Hause, Ilse-Sibylle.«
»Ich weiß nicht, wie weit du unterrichtet bist-« begann das
Mädchen zögernd.
»Ziemlich genau, mein Kind. Zuerst erzähle von deiner
Kindheit.«
»Die hätte sehr schön sein können, wenn mein Vater sie
mir nicht verdorben hätte. Es gab seinetwegen viel Streit
bei uns, meine Mutter weinte sehr oft. Und ich liebte
meine Mutter. Vater war selten zu Hause; und wenn, dann
war es mit Frieden und Ruhe vorbei.
Bis zu meinem achtzehnten Lebensjahr lebten wir nicht
gerade üppig, doch ohne Sorge. Dann verspielte Vater fast
das gesamte Vermögen, so daß wir fortan darben mußten.
Es wurde besser, als mein kleiner Bruder soweit war, um
durch sein Talent Geld zu verdienen. Das Kind unterhielt
die ganze Familie – und den größten Teil der Einnahme
verbrauchte der Vater für sich.
Arnulf war ein schöner, hochbegabter Knabe – ganz seines
leichtsinnigen Vaters Ebenbild. Er war der Mutter Stolz und
vergötterter Liebling. Sie sah nicht, wie schädlich es für den
Jungen war, daß man ihn in seinem zarten Alter von
Konzertsaal zu Konzertsaal schleppte, wie selbstbewußt
und eingebildet er durch die Schmeicheleien der Menschen
wurde. Ein kleiner blasierter Bengel, dem kaum mehr etwas
Freude machte. Blendend schön sah er aus, wenn er mit der
Geige im Arm dastand und für die Begeisterung des
Publikums nur ein selbstgefälliges Lächeln hatte.
Meine Mutter begleitete ihn stets, konnte sich von ihrem
Abgott keine Stunde trennen. Ich blieb mir selbst
überlassen, man kümmerte sich nicht um mich. Und da ich
viel Zeit hatte, fuhr ich öfter mit der Mutter und dem
Bruder.
Eine solche Fahrt war es auch, als das Unglück geschah.
Arnulf war mit Süßigkeiten und Spielzeug förmlich
überschüttet worden und fuhr recht befriedigt mit Mutti
und mir im Auto nach Hause.
Es war ein stürmischer Spätherbstnachmittag. Zum
Überfluß setzte noch ein ungewöhnlich starkes
Schneetreiben ein, das die Landstraße glitschig machte.
Ich fühlte nur, wie ich plötzlich mit dem Kopf hart
aufschlug – und dann nichts mehr.
Als ich wieder richtig zu mir kam, war es mittlerweile
Frühling geworden, und ich befand mich im Sanatorium
Seelenruh. Schonend brachte man mir bei, daß Mutti,
Arnulf und der Chauffeur bei dem Unfall ums Leben
gekommen wären. Das Auto sauste einen Abhang hinab,
überschlug sich, schleuderte die drei Personen gegen einen
Baum -
während ich auf weiches Ackerland flog. Und hätte da
nicht ein spitzer Stein gelegen, so wäre mir überhaupt
nichts passiert. So bekam ich oberhalb der Schläfe die
gefährliche Wunde, die meine Krankheit verursachte.
Ich führte in dem Sanatorium ein stilles, friedliches Leben.
Wohl wunderte ich mich, daß ich noch dort blieb, als ich
längst schon genesen war. Doch weil es mir gut ging,
unterließ ich jegliches Forschen.
Den Schmerz um Mutti und Arnulf empfand ich nicht so
heftig, wie es der Fall gewesen wäre, wenn ich bei ihrem
Begräbnis hätte dabei sein müssen. Von meinem Vater
wußte ich nichts – wollte auch nichts wissen. Nun, da
Mutter und Bruder tot waren, verband uns nichts mehr.
So lebte ich bis zum gestrigen Tage. Da erst erfuhr ich von
seiner Verheiratung und seinem Tod, erfuhr auch, daß ich
auf seinen Wunsch so lange hatte im Sanatorium bleiben
müssen, weil ihm die erwachsene Tochter im Wege war.
Und so kam ich dann zu dir, Tante Marianne.«
Ilse-Sibylle schwieg und senkte den Kopf wie
schuldbeladen.
Frau von Bruckheim sah auf das Köpfchen nieder, das die
schimmernden dicken Ringellocken fast zu erdrücken
schienen. Sah das durchsichtige, weiße, wundersüße
Antlitz, die traurigen Augen, und lächelte.
»Recht, daß du das tatest, mein Kind. Wie kamst du auf den
Gedanken?«
Nun hob sie den Kopf, sah die Tante mit unergründlichen
Augen an, in denen die Tränen standen.
»Weil du die einzige Verwandte bist, von der ich etwas
weiß«, entgegnete sie mit zuckenden Lippen.
»Von den anderen Verwandten hat deine Mutter nie
gesprochen?«
»Nein. Von dir wußte ich auch nur, daß du einen Oberst
zum Gatten und einen Sohn hast.«
»Der schon seit drei Jahren tot ist und dessen Vater im
Kriege fiel.«
»Oh, das wußte ich nicht, Tante Marianne«, sagte das
Mädchen erschüttert. »Und nun bist du ganz allein?«
»Ja, kleine Ilse-Sibylle. Und daher ist es mir nicht
unangenehm, daß du den Weg zu mir gefunden hast.
Schade, daß ich dich so wenig kenne. Doch das liegt nicht
an mir. Deine Mutter war sehr stolz, hat jede Annäherung
der Verwandten schroff zurückgewiesen, weil sie dagegen
waren, daß sie den schönen und leichtsinnigen Geiger
heiratete. Nicht darum, weil er bürgerlich war, sondern
weil sie den Verlauf der Ehe voraussahen. Als dein Vater
das große Vermögen, das meine Eltern ihrer ungehorsamen
Tochter trotzdem auszahlten, vergeudet hatte, boten wir ihr
unsere Hilfe an, die sie jedoch kurz ablehnte. Wäre sie
glücklich geworden, hätte sie wahrscheinlich den Weg zu
ihrer Familie zurückgefunden. Doch so verkroch sie sich in
ihrem Leid, das sie selbst verschuldet hatte.
Nun hast du ganz das Äußere deines Vaters, Ilse-Sibylle.
Daher muß ich mich erst an dich gewöhnen. Wir wollen
beide versuchen, uns näher zu kommen. Wollen die trüben
Jahre vergessen und ein neues Leben beginnen.«
Darauf zog das Mädchen die feine Frauenhand stumm an
die Lippen.
An einem Morgen, als Ilse-Sibylle zur gewohnten Stunde
an den Frühstückstisch trat, fand sie die Tante noch nicht
vor. Das war in den Wochen ihrer Anwesenheit hier noch
nicht vorgekommen.
Doch den Grund sollte sie gleich erfahren.
Die alte Berta erschien im Zimmer, traurig, mit verweinten,
Augen. Schlich über den schweren Teppich, als müßte sie
auch da noch die Tritte dämpfen. Flüsterte Ilse-Sibylle zu,
daß sich heute der Todestag des jungen Herrn zum dritten
Mal jährte. Das gnädige Fräulein möchte nur essen, es wäre
unbestimmt, wann die gnädige Frau zum Vorschein käme.
Zuletzt gab sie ihr noch den Rat, ja nicht über den jungen
Herrn zu sprechen, und entfernte sich dann ebenso lautlos,
wie sie gekommen war.
Doch kaum hatte Ilse-Sibylle mit dem Frühstück
begonnen, da erschien die Tante ruhig und kühl wie
immer.
Das Mädchen saß ihr gegenüber, würgend an jedem Bissen.
Wie furchtbar das doch alles war!
Dann ging Frau von Bruckheim aus, ohne die Begleitung
der Nichte zu wünschen. Zweifellos besuchte sie das Grab
des Sohnes.
Zum Mittagessen war sie wieder da.
Mühsam schleppten sich die Stunden dahin. Die Damen
saßen handarbeitend auf ihrem Fensterplatz und
wechselten kaum ein Wort miteinander.
Als es zu dunkeln begann, legte Ilse-Sibylle ihre Handarbeit
zusammen und schaute in den strömenden Regen hinaus.
Dabei geriet sie ins Träumen und schrak zusammen, als die
Tante sie ansprach.
»Ilse-Sibylle, du mußt da draußen doch einen Gegenstand
haben, der dein Interesse erweckt«, meinte sie lächelnd.
»Schon oft habe ich das bemerkt. Darf ich erfahren, was
dich so interessiert?«
»Es ist der Wald«, gab sie verwirrt Antwort. »Ich liebe die
waldigen Stätten sehr und habe oft große Sehnsucht
danach.«
»Diese bescheidene Sehnsucht kann gestillt werden«,
entgegnete die Tante in freundlicherem Ton, als sie sonst
zu sprechen pflegte. »Wir mieten uns an einem schönen
Tag einen Wagen und fahren in den Wald. Aber nicht nach
dem hier drüben, sondern nach dem gegenüberliegenden.
Denn den du vom Fenster aus sehen kannst, möchte ich
nicht mehr betreten.«
»O bitte!« wehrte das Mädchen erschrocken. »So war das
nicht gemeint. Du wirst dir doch meinetwegen nicht eine
anstrengende Wagenfahrt zumuten.«
»Komme ich dir denn schon so gebrechlich vor?«
»Aber Tante Marianne, ich bitte dich!«
Das klang so entrüstet, daß die andere lächelte.
»Na, siehst du. Ich biete dir so wenig, daß du eine kleine
Abwechslung nur begrüßen kannst. Du bist für ein junges
Mädchen viel zu still. Warst du immer so?«
O nein, Ilse-Sibylle war früher bestimmt nicht so gewesen.
Hier wurde sie aus Furcht, etwas zu tun, was die Tante
stören könnte, dazu gezwungen. Ihre Fröhlichkeit war
einem scheuen Ernst gewichen.
Bevor sie noch antworten konnte, sprach die Tante schon
weiter:
»Hinter dem Wald liegt die Ostsee. Weißt du das?«
»Nein.«
Eine Weile war es wieder still, bis die Frage kam:
»Weißt du, daß heute Burkhards Todestag ist?«
»Berta sagte es mir.«
Erneut klang die Frauenstimme auf, schwer und dunkel vor
verhaltenem Schmerz.
»Dort hinter dem Wald, dem deine Sehnsucht gilt, liegt
Schloß Dünentrutz nebst dem riesengroßen Gut gleichen
Namens. Der glückliche Besitzer ist ein Baron von Broede.
Es gab eine Zeit, wo ich oft in Dünentrutz weilte und den
Krafft von Broede wie einen Sohn liebte.
Mit meinem Jungen verband ihn eine Freundschaft, wie sie
selten ist im Leben. Krafft war ein schöner, aufgeweckter
Knabe, der meinen Burkhard in den Schatten stellte,
obgleich auch mein Sohn sich sehen lassen konnte.
Je älter die beiden wurden, um so fester wurde ihre
Freundschaft. Burkhard blieb ernst und bedachtsam, Krafft
der liebenswürdige Schwerenöter, der mit den Mädchen
flirtete und von ihnen vergöttert wurde.
Dann kam der Krieg. Sie zogen hinaus, blutjung, von der
Universität hinweg. Sie schlugen sich tapfer, holten sich
Auszeichnungen mancher Art. Krafft noch mehr als mein
Junge. Denn jener war tollkühn und verwegen. Er rückte in
seinen jungen Jahren zum Rittmeister auf, während
Burkhard Leutnant blieb.
Dann kamen sie beide aus dem furchtbaren Krieg zurück,
während mein Mann auf dem Schlachtfeld blieb. Beide
bezogen wieder die Universität.
Krafft von Broede hatte auch eine Schwester. Ein
Geschöpfchen von engelhafter Schönheit, ganz der sanften
Mutter Ebenbild. Sie liebte Burkhard, und ihre Eltern wie
auch ich hätten eine Verbindung beider nur zu gern
gesehen.
Doch da tauchte plötzlich ein Mädchen auf, dessen
Herkunft genauso dunkel war wie die ganze Persönlichkeit.
Und in dieses Mädchen verliebte sich mein Junge. Solch
eine Schwiegertochter war mir gewiß nicht recht. Allein es
ging um das Glück meines Kindes – da gab ich nach. Er
hatte meine Einwilligung, durfte um sie werben und
verschob es von Tag zu Tag. Bis ich dann hörte, daß auch
Krafft von Broede das Mädchen liebte und bereits einig mit
ihm war. Der Verlobungstag wurde bekanntgegeben.
Und am Abend vorher brachte man mir meinen Jungen ins
Haus – mit durchschossener Brust.
Noch ein weiteres Unglück geschah an dem Abend. Krafft
hatte seine Eltern und seine Schwester zur Stadt gefahren.
Auf dem Rückweg verunglückte er mit dem Auto, verlor
seine drei Angehörigen dabei, er allein blieb unverletzt.
Er war natürlich wie ein Wilder gefahren, was er immer tat
und auch noch tut.
Und als seine Braut zu ihm eilte, jagte er sie von der
Schwelle wie einen räudigen Hund.
Als er dann zu mir kam, war ich sinnlos vor Schmerz. Wies
ihm die Tür. Er konnte sich nicht rechtfertigen – er ging.
Seit dem Tage habe ich ihn nie mehr gesprochen. Bin
jedoch dazu verurteilt, ihn oft in der Stadt zu sehen.
Erfahre auch von seinem Leben und Treiben. Daß er
ungerührt über den Tod der Seinen hinwegging. Daß der
sonnige, übermütige Schwerenöter ein arroganter,
ironischer Weltenbummler wurde, dem nichts heilig ist.
Der die Frauen in unerhörter Weise verspottet und verlacht.
Der sich nimmt, was er bekommen kann, ohne sich ein
Gewissen daraus zu machen.
Und die Mütter, die ihre Töchter vor diesem Menschen
schützen sollten, drängen sie ihm direkt auf. Nur weil er
Geld hat, außerdem über eine seltene Persönlichkeit
verfügt, machen sie ihn zum Halbgott. Finden bei ihm
originell und interessant, was sie bei einem anderen rügen
würden.«
Die leise, erregte Stimme schwieg. Sehr still war es nun im
Zimmer.
Ilse-Sibylle war so erschüttert, daß sie kein Wort
hervorbringen konnte.
Es kamen noch einige schöne Herbsttage.
Eines Tages fühlte sich Frau von Bruckheim nicht wohl.
Legte sich daher zum Mittagsschläfchen nieder, was sie
sonst nicht zu tun pflegte.
Ilse-Sibylle erhielt die Erlaubnis zu einem Spaziergang.
Freudig machte sie sich auf den Weg. Lenkte ihre Schritte
zum Wald. Die wenigen Kilometer schaffte sie als gute
Fußgängerin mit Leichtigkeit. Dachte nicht daran, daß sie
für den Hin- und Rückweg immerhin Stunden brauchte,
und daß es früh dunkelte. Mit magnetischer Kraft zog der
Wald sie zu sich hin.
Fabelhaft jung sah sie in der schicken Jacke, einem
Geschenk der Tante, und dem dazu passenden Mützchen
aus – jung und sinnverwirrend. Unbekümmert schritt sie
dahin. Achtete nicht der vielen Blicke, die man ihr
nachschickte. Daran war sie gewöhnt.
Rüstig wanderte sie dahin, dabei nicht merkend, wie die
Zeit verrann.
Erst als sie am Waldrand war, atmete sie auf. Blickte zu den
Baumriesen empor mit schönheitstrunkenem Blick.
Und da hinten, da sollte die See liegen. Dahin mußte sie,
koste es, was es wolle!
Oh, wieviel hatte sie zu schauen, wie hob sich die Brust in
seliger Wanderlust! Sie vergaß dabei alles. Ihre traurige
Vergangenheit und die ebenso traurige Gegenwart.
Und stand dann plötzlich wie gebannt. Der Wald lichtete
sich, zog sich im Halbkreis an den Dünen entlang.
Und unten lag die See, ruhig und erhaben im Sonnenlicht
des frischen Herbsttages. Weiß leuchteten die Dünen,
streckten sich in unendlicher Weite.
Ilse-Sibylle wagte nicht, sich zu rühren. Ließ sich
überwältigen von dem hehren Anblick.
Lange stand sie da, dunkel und verträumt war ihr Blick.
Erst als sie mit ihren Gedanken zur Wirklichkeit
zurückkehrte, bemerkte sie die hereinbrechende
Dunkelheit und erschrak. Noch einen langen Blick warf sie
auf das weite Meer, dann eilte sie die Dünen hinauf.
Sie mußte den Wald durchqueren, bevor es ganz finster
wurde. Denselben Weg wollte sie zurückgehen, den sie
gekommen war.
Doch soviel sie auch spähte, sie konnte den Pfad nicht
finden. Immer weiter eilte sie am Waldrand entlang, und
ehe sie es glauben konnte, war es dunkel geworden.
Nun beschlich die beherzte Ilse-Sibylle doch bange Furcht.
Schwarz lag der Wald zu ihrer Rechten, zu ihrer Linken tief
unten tobte und brandete die See, aufgepeitscht durch den
Sturm, der sich ganz plötzlich erhoben hatte.
Zusammenschauernd sah sie die hohen Wellen, deren
Schaumkronen weiß aufspritzten.
Der Sturm jagte ihr den Dünensand ins Gesicht, so daß sie
die Augen schließen mußte. Dazu begann es noch zu
regnen. Was waren das überhaupt für Tropfen, sie schnitten
ins Gesicht wie spitze Messer!
Aber noch verließ der Mut sie nicht. Wenn sie auch nicht
den Waldweg fand, so mußte sie doch endlich zu einer
menschlichen Behausung kommen.
Mit aller Kraft kämpfte sie sich durch den Sturm, der sie
umzuwerfen drohte. Sein Heulen, vermischt mit dem
Brausen der See und dem Rauschen der Bäume, klang
unheimlich und schauerlich. Der Regen drang ihr bis auf
die Haut, das Gesicht brannte wie Feuer von den
peitschenden Tropfen, die sich mit den Tränen
vermischten, die ihr vor Angst und Entsetzen über die
Wangen liefen. Sie hielt sich verzweifelt die Ohren zu,
rannte davon, so schnell der Sturm es nur zuließ.
Sie wußte nicht, wie lange sie so dahingetaumelt war, ihr
erschien es wie eine Ewigkeit.
Da, endlich ein Lichtschein! Sie nahm ihre letzte Kraft
zusammen, strebte ihm zu – bis dann doch die Kräfte sie
verließen und sie in tödlicher Erschöpfung auf den
Dünensand sank. Ihr banger Blick ging zu dem Gebäude
hin, das sich gespensterhaft aus dem Dunkel hob. Nur
einige Fenster in der langen Front waren erhellt.
Daß es ein Schloß war, erkannte sie an den Türmen. Wie
glücklich mußten die Menschen sein, die darin leben
durften, die es ihre Heimat nannten! Wie groß und gut
mußte solch ein Geschlecht heranblühen, das Meer- und
Waldesrauschen zum Schlummerlied hatte!
Sie wollte sich hoch ein wenig erholen und dann die
Menschen dort bitten, ihr den Weg in die Stadt zu weisen.
Am liebsten hätte sie sich ja lang auf den Dünensand
gestreckt. Sie war müde zum Vergehen. Kopf und Augen
brannten, als wären sie im Feuer.
Plötzlich schoß ein dunkles Etwas aus dem Walde heraus,
raste auf sie zu. Da sprang sie auf, taumelte davon mit
verzweiflungsvollen Schreien, die das Sturmgetöse
verschlang.
Sie lief so lange, bis die noch einmal aufgepeitschten Kräfte
erschlafften. Keuchend stürzte sie zu Boden, fühlte mit
Grausen, wie das dunkle Etwas sich auf ihren Rücken legte.
Dann schwanden ihr die Sinne, die eine Stimme wieder
wachrief. Sie mußte ganz nah sein, da sie den Sturm
übertönte.
»Harras, was fällt dir ein?!« hörte sie eine dunkle, herrische
Männerstimme.
Der Druck wich von ihrem Rücken, sie fühlte sich
emporgehoben, das grelle Licht einer Taschenlampe
blendete ihre Augen.
Und plötzlich überkam sie eine wohlige Ruhe. Wer der
Fremde auch sein mochte, er kam als Retter in der Not.
Auch daß er sie auf seinen Armen davontrug, wie sie an
den schaukelnden Bewegungen spürte, war ihr gleichgültig.
Nur ruhen, schlafen! Nur dieses Kältegefühl loswerden, das
sie erschauern ließ!
Fest legte sie ihren Kopf an die Brust des Fremden, hörte
einen raschen Herzschlag.
Dann wurde Ilse-Sibylle auf etwas Weiches gelegt, warm
und mollig zugedeckt. Wie gut es sich da ruhte!
Im Halbschlaf duselte sie vor sich hin, öffnete erst mühsam
die Augen, als ein Arm sich unter ihren Nacken schob, den
Oberkörper aufrichtete und ein Glas an ihre Lippen hielt.
Doch kaum daß sie einen Blick in das Gesicht ihres Retters
getan hatte, schrak sie heftig zusammen.
Und schloß die Augen wieder schnell. Nur das Bild
festhalten, das sie nun so deutlich vor sich sah, deutlicher
als je zuvor, da das geliebte Bild durch ihre Träume glitt!
Ein süßes, betörendes Lächeln erschien auf dem bleichen
Antlitz, das so zart und durchsichtig war wie ein
Blumenblatt. Mit geschlossenen Augen schlürften sie den
erwärmenden Trank. Nur sie jetzt nicht öffnen und
vielleicht in ein ganz fremdes Gesicht schauen – träumen –
träumen -.
Müde fiel der Kopf zur Seite. Ilse-Sibylle träumte
lächelnden Mundes. Von dem Schloß an Wald und Dünen,
von dem fremden Mann, um den sich ihr Denken wob.
Träumte, ihr würde die Hand geküßt von warmen, weichen
Lippen und wachte darüber auf. Wandte den Kopf, sah in
die treuen Augen eines Hundes hinein, der ihre Hand
leckte.
Ilse-Sibylle lächelte. Also daher der Handkuß im Traum!
Wie töricht von ihr, vor diesem Tier davonzulaufen!
Sie versuchte das Halbdunkel, das im Raum herrschte, mit
den nun wachen Augen zu durchdringen. Erspähte einen
Ofen, in dem ein Feuer lustig flackerte und wohltuende
Wärme verbreitete. Die Einrichtung war die eines
Herrenzimmers. Die Wände schmückten Geweihe aller Art.
Wahrscheinlich war sie in ein Forsthaus geraten.
Jetzt bemerkte sie auch eine Gestalt, die unweit von ihr
verharrte. Da sprang sie hastig auf. Ein Arm langte zur
Hängelampe empor, und sofort leuchtete diese hellauf.
Die Gestalt kam auf sie zu – und da versagten Ilse-Sibylle
die Beine wieder den Dienst, so daß sie auf ihre Lagerstatt
zurücksank.
Vor Ilse-Sibylle Rainer stand der Fremde, der damals ihr
Mitreisender gewesen war.
»Nun, mein gnädiges Fräulein, wieder wohlauf?« fragte er
lächelnd. »So feiern wir heute ein Wiedersehen, auf das wir
beide nicht gehofft haben, nicht wahr?«
Ihr Antlitz überzog sich mit heißer Glut. Wie sie sich vor
dem Mann schämte! Was mußte er für eine Meinung von
ihr haben, weil sie sich damals auf der Reise so ohne
weiteres von ihm hatte helfen lassen?
Wie hatte sie sich nach seinem Anblick gesehnt, mit
welcher Dringlichkeit gewünscht, ihn wiederzusehen!
Doch nicht so Auge in Auge – o nein, nur aus der Ferne,
ohne selbst bemerkt zu werden. Nun mußte sie erneut
seine Hilfe in Anspruch nehmen und geriet dadurch immer
mehr in seine Schuld.
»Ich – ich muß Ihnen – danken, mein Herr«, würgte sie
hervor. »Ihre Wohltaten – «
»Welch ein unerhörtes Wort!« unterbrach der Fremde sie.
»Quälen Sie sich doch nicht mit einem Dank, der Ihnen
schwerfällt! In welche Situationen Sie aber auch geraten,
Sie unglückseliges Kind! Haben Sie denn keine
Angehörigen, die auf Sie achten? Wie könnten Sie sonst
wohl um diese Stunde und bei diesem Wetter auf die
Dünen geraten!«
»Ich verirrte mich auf einem Spaziergang«, entgegnete sie
leise.
»Das ist keine Entschuldigung. Eine junge Dame, noch
dazu mit Ihrem Aussehen, sollte nie allein im Wald
Spazierengehen. Zumal nicht auf Wegen, die sie nicht
genau kennt.«
Ilse-Sibylle sah erschrocken zu ihm auf; denn seine
herrische Stimme flößte ihr Furcht ein.
Er bemerkte es und lächelte wieder.
»Ich werde Ihnen Ihre Sachen bringen, die ich zum
Trocknen an den Ofen hängte, während Sie Ihr Schläfchen
hielten.«
Er ging zum Ofen, immer noch redend im weltgewandten
Plauderton.
Ilse-Sibylle lauschte mit Entzücken dieser Stimme mit dem
dunklen, herrischen Klang.
Ob er wohl verheiratet war? Verstohlen musterte sie seine
schlanken, kräftigen Hände, die ihr die Kleidungsstücke
reichten. Doch nur zwei schwere Siegelringe schmückten
sie, von denen der eine unverkennbar ein Wappen trug.
Während sie sich die jetzt trockenen Schuhe und Strümpfe
sowie die Jacke anzog, verließ er das Zimmer. Nebenan
hantierte er herum, dabei leise vor sich hin pfeifend. Als er
dann wieder erschien, überreichte er ihr ein Glas
Glühwein.
»Trinken Sie, mein gnädiges Fräulein. Der Trunk wird
Ihnen guttun und hoffentlich verhindern, daß Sie krank
werden und somit Ihren Leichtsinn doppelt büßen
müssen.«
Ilse-Sibylle trank mit Behagen. Fühlte, wie sich der Körper
erwärmte, wie das Blut durch die Adern rann. Das bleiche
Antlitz bekam langsam Farbe, bis es zuletzt purpurn
erglühte.
»Ein Glück, daß ich um diese Zeit noch draußen war«, sagte
ihr Gastgeber. »Sonst bin ich zu dieser Stunde längst zu
Hause. Doch das Wetter reizte mich und meinen treuen
Kameraden, den Harras. Schauen Sie nur, wie er Sie
anhimmelt, der dreiste Kerl! Er verlangt sicherlich einen
Extradank dafür, daß er Sie aufspürte, wenn auch etwas
stürmisch.
Aber nun wollen wir überlegen, wie Sie nach Hause
kommen, gnädiges Fräulein. Sind Sie aus der nächsten
Stadt?«
»Ja. Wenn Sie so freundlich wären, mir den Weg dorthin zu
zeigen, dann möchte ich nun aufbrechen. Ich bin erwärmt
und gekräftigt.«
»Daraus wird nichts. Wie sollte ich es wohl verantworten,
wollte ich Sie schutzlos in den finstern Abend
hinausschicken. Ich werde vielmehr von meinem Gut ein
Fuhrwerk bestellen.«
»Sind Sie denn nicht hier zu Hause?« fragte sie verwundert.
»Ich hielt Sie für einen Forstmann – «
»Der ich im gewissen Sinne auch bin«, war die lächelnde
Erwiderung. »Diese kleine Bude ist nicht mein Zuhause,
wohl aber meine Jagdhütte, die heute wieder einmal gute
Dienste geleistet hat.«
Ilse-Sibylle musterte den Raum mit lebhaftem Interesse. Sie
hatte viel von Jagdhütten gehört, sich diese jedoch viel
primitiver vorgestellt.
Der Fremde riß sie aus ihrem Grübeln.
»Nun, gnädiges Fräulein, gefällt es Ihnen hier?«
»Sehr. Man kommt sich hier wie verwunschen vor, wie von
aller Welt abgeschnitten, so romantisch wirkt der Raum.
Nur der Fernsprecher auf dem Schreibtisch stört die
Romantik.«
»Ist jedoch praktisch und von großem Wert. Wie zum
Beispiel jetzt. Durch ihn bin ich in der Lage, Dünentrutz
anzurufen und einen Wagen zu bestellen.«
Er sprach nicht weiter, weil Ilse-Sibylles Gebaren ihn
überraschte. Sie sprang auf, wobei ihr jeder Blutstropfen
aus dem eben noch so glühenden Antlitz wich. Ihre Augen
starrten ihn an mit fast irrem Blick.
»Dünentrutz?« fragte sie mit versagender Stimme.
»Allerdings – «, entgegnete er befremdet.
»Dann sind Sie –?«
»Krafft von Broede.«
Ein Laut kam über ihre Lippen, so ächzend und weh, daß
der Mann erschrak.
Er wollte nach ihren Händen greifen, die ebenso bebten
wie der ganze Körper, doch sie wich bis in die äußerste
Ecke des Raumes zurück. Die Augen sprühten in dem
weißen Gesicht.
»Rühren Sie mich nicht an!« schrie sie auf. »Ich – ich
verabscheue Sie! Ich fürchte mich vor Ihnen – vor dem
Mann – vor dem die Mütter ihre Töchter schützen sollten!«
Er wich zurück. Langsam stieg ihm die Zornesröte bis in die
Stirn hinauf. Kalt und drohend lag sein Blick auf dem
Antlitz des Mädchens, das todblaß an der Wand lehnte.
»Darf man fragen, gnädiges Fräulein, wer Ihnen das Recht
gibt, mir derartiges zu sagen?« klang seine Stimme so eisig
durch das Schweigen, daß Ilse-Sibylle erschauerte. »Nun Sie
meinen Namen wissen, bin ich neugierig, auch den Ihren
zu erfahren. Absichtlich verschwieg ich Ihnen den meinen,
damit Sie sich nicht von meinen Gefälligkeiten, die Sie ja
großartig mit ›Wohltaten‹ bezeichnen, bedrückt fühlen
sollten. Nun aber frage ich: Wer sind Sie, daß Sie mich
beleidigen dürfen?«
Ilse-Sibylle hatte unter seinem kalten Blick ihre
Beherrschung wiedergefunden. Ihr Kopf flog in den
Nacken.
»Ich kenne Sie, Herr Baron von Broede – allerdings nur
vom Hörensagen. Ich bin Ilse-Sibylle Rainer – die Nichte
der Frau Oberst von Bruckheim.«
Augenblicklang blitzte es in seinen Augen auf. Dann
senkten sie sich in die Augen des Mädchens – zürnend,
drohend.
»Das ist allerdings eine Überraschung«, sagte er sehr
langsam, sehr eisig.
Aus der Tasche seiner Jagdjoppe zog er ein Etui. Die Hand,
mit der er ihm eine Zigarette entnahm und sie in Brand
steckte, zitterte. Hastig stieß er einige Male den Rauch
durch die Nase. Ging dann zum Fernsprecher und bestellte
einen Wagen mit Pelz und warmen Decken darin.
Ilse-Sibylle lehnte noch immer an der Wand. Sie war wohl
ruhiger geworden, doch immer noch erschreckend blaß.
Fast schwarz flackerten die Augen in dem weißen Gesicht.
»Ich möchte nach Hause«, stieß sie hervor in fliegender
Hast. »Möchte nicht immer noch mehr Ihre Hilfe in
Anspruch nehmen.«
Er sah sie an, herben Spott in dem arroganten Gesicht.
»Vielleicht hätte ich Sie im Dünensand liegen lassen und
Sie damals auf dem Bahnhof Ihrem Schicksal überlassen
sollen.«
Unter diesem unerträglichen Blick senkte sie den Kopf wie
schuldbeladen. So wie heute hatte sie sich noch nie
benommen. Wie kam sie überhaupt dazu, den Mann so
unerhört zu beleidigen?
Ilse-Sibylle hatte keine Ahnung, wie zauberhaft schön sie
war, als sie so weltentrückt an der Wand lehnte, geschüttelt
von Qual und Herzensnot.
Sie schrak zusammen, als der Mann nun wieder sprach.
Unerträglich ironisch klang seine Stimme.
»Sie dürfen ruhig aus dem Winkel hervorkommen, mein
eigenwilliges Kind. Ich bin nämlich nicht ganz so zu
fürchten, wie die Wegelagerer, denen Sie bei Ihrem
gewagten Waldspaziergang leicht hätten in die Hände
fallen können.«
Sie rührte sich immer noch nicht. Stand mit gesenktem
Kopf und hängenden Armen da. Erst als sie das Nahen des
Wagens vernahm, trat sie hastig aus der Ecke hervor.
»Ich werde mich erkundigen, Herr Baron, was Sie damals
für mich ausgelegt haben, und werde Ihnen dann die
Kosten zurückerstatten.«
Es zuckte in dem harten Männerantlitz – doch nur einmal,
blitzschnell. Dann verbeugte er sich vor ihr, grausame
Ironie in den glitzernden Augen.
»Dann vergessen Sie nur nicht, gnädiges Fräulein, auch
diese Fahrt mit einzurechnen – und den Wein, den Sie
tranken«, sagte er in einem Ton, der ihr das Blut ins Gesicht
trieb. »Vielleicht fällt noch obendrein ein Trinkgeld für
mich ab. Es bemüht sich keiner gern umsonst – «
O ja, der Hieb saß! Sie zuckte unter ihm zusammen in
glühheißer Scham. Wie kam sie auch dazu, den Mann in
seinen vier Wänden zu beleidigen, immer wieder aufs
neue? War sie denn überhaupt noch zurechnungsfähig?
Sie hastete davon, um nur aus seiner Nähe zu kommen.
Stand draußen, hell beschienen von den Wagenlaternen.
Weiß und fein hob sich das zarte Antlitz aus dem dunklen
Pelzkragen. Wirr hingen ihr die lichtblonden Ringellocken
um den unbedeckten Kopf, den sie nun gegen den Mann,
der neben ihr stand, neigte, als verabschiede eine Königin
ihren Vasallen.
Und er verbeugte sich, sehr höflich, tadellos, half ihr in den
Wagen und hüllte sie in weiche Decken.
»Sie richten sich nach den Wünschen des gnädigen
Fräulein, Fritz«, wandte er sich dann an den Kutscher.
Noch ein stummer Gruß hüben und drüben, dann zogen
die Pferde an.
Ilse-Sibylle hatte das Gefühl, als träumte sie einen
herzquälenden Traum. Sie fror trotz des Pelzes, der sich
weich um ihren Körper schmiegte. Der Gedanke, was die
Tante wohl sagen würde, stieg wohl in ihr auf, ließ sie
jedoch kalt. Wenn sie auch noch so böse sein würde – was
wäre das alles gegen das andere, das sie so leiden ließ?
Welche Freude hätte sie sonst bei der flotten Fahrt
empfunden! Doch nun saß sie zusammengekauert da,
zerquälte sich Herz und Hirn mit trostlosen Gedanken.
Schrak auf, als der Wagen hielt.
Die Beine wollten ihr kaum gehorchen, als sie die Treppe
zur Wohnung der Tante emporstieg.
Man schien sich noch nicht um sie zu ängstigen; denn
hinter der Eichentür war alles still.
Wie kam sie überhaupt auf den Gedanken, daß die Tante
sich um sie ängstigen könnte – um sie, die arme, geduldete
Nichte?
Ein Bitterkeitsgefühl stieg in ihr auf, wie sie es ähnlich noch
nie empfunden. Am liebsten wäre sie gar nicht mehr da
hineingegangen, wo alles so steif, so freudlos zuging. Aber
wo sollte sie sonst hin?
Mit zitternder Hand drückte sie auf den Klingelknopf. Ein
rascher Schritt und schon stand die Tante vor ihr. Zog sie
an beiden Händen hinein in das kleine Gemach. Dort ließ
Ilse-Sibylle sich müde auf den nächsten Stuhl fallen, sah
zur Tante auf mit flehendem Blick.
»Tante Marianne – verzeih – ich verirrte mich im Wald – «
murmelte sie. Senkte den Kopf und wartete auf die
Vorwürfe, die mit Recht auf sie niederprasseln würden,
wegen Ungehorsam, Rücksichtslosigkeit, Undankbarkeit.
Doch nichts von alledem geschah. Undurchdringlich blieb
das Antlitz der Tante, die sich mit Hilfe Bertas um die
Nichte bemühte.
Als es ihr ein wenig besser ging, erzählte sie ihr Erlebnis im
Wald. Erwähnte jedoch Krafft von Broede mit keinem
Wort. Sagte, daß ein Fuhrwerk sie mitgenommen hätte.
Weihnachten stand vor der Tür, und die Vorfreude belebte
selbst die stille Ilse-Sibylle. Sie hatte das karge Taschengeld,
das sie von der Tante erhielt, sorgsam zur Seite gelegt, um
nicht am Weihnachtsfest mit leeren Händen vor ihr zu
stehen. Wünsche hatte die Tante nicht, doch es gab schon
Kleinigkeiten, die ihr Freude machen würden.
Es hatte tüchtig geschneit und dann Frost eingesetzt. Und
endlich war der ersehnte Tag da. Es begann leise zu
dämmern, und hier und da strahlten hinter den Fenstern
schon die Weihnachtskerzen auf.
»Ilsibyll, lauf doch mal zum Bäcker hinüber und frage ihn,
ob er unseren Kuchen zu schicken vergessen hat«, sagte
Frau von Bruckheim. »Bleibe aber nicht lange fort. Nach
deiner Rückkehr stecken wir sofort die Kerzen an.«
Ilse-Sibylle freute sich. Vergebens hatte sie nachgedacht,
wie sie wohl fortkommen könnte, um noch einen
wichtigen Einkauf zu machen. Nun paßte das
wunderschön.
Rasch zog sie den Mantel an und verließ vergnügt die
Wohnung.
Zuerst ging sie zu dem Bäcker, richtete die Bestellung aus
und eilte dann die ruhige Straße hinunter, um zur
Hauptstraße zu gelangen. Nun konnte sie doch noch die
Kleinigkeit besorgen, die zum Geschenk für die Tante
fehlte.
Die Menschen, die ihr entgegenkamen, waren alle so eifrig
wie sie selbst.
Der Weg erschien ihr heute besonders lang. Auf keinen Fall
durfte sie die Tante warten lassen.
Endlich – da drüben war das Geschäft, in das sie wollte.
Nun hieß es nur noch den Fahrdamm überschreiten. Allein
das war nicht so einfach. Autos, Straßenbahn, Wagen und
Schlitten stauten sich wie sonst nie.
Ilse-Sibylle kribbelte es förmlich in den Füßen. Noch eine
Verzögerung, mit der sie nicht gerechnet hatte.
Doch nun wartete sie nicht länger. Das Auto, das da so
gemächlich daherkam, erreichte sie gewiß nicht mehr.
Hastig lief sie über den Damm, glitt auf dem
hartgefrorenen Schnee aus, fühlte einen erschütternden
Stoß am Kopf und dann nichts mehr.
Im Nu war eine große Menschenmenge versammelt, die
erregt und gestikulierend durcheinanderschrie. Ilse-Sibylle
lag, lang hingestreckt, quer über dem Fahrdamm, dicht
neben ihrer Schläfe war das Vorderrad eines Autos.
Die Insassen des Wagens, ein Herr und sein Chauffeur,
stiegen eilig aus. Die hohe Gestalt im kurzen Pelz beugte
sich über das Mädchen.
Nur augenblicklang verharrte er wie erstarrt, dann hob er
die Verunglückte behutsam hoch. Blut rieselte von der
Schläfe über das todblasse Antlitz, verlor sich im Schnee.
»Bitte, mein Herr, Ihre Personalien!« wandte der junge
Schupo sich sachlich und scharf an den Mann, der, das
Mädchen im Arm, sein Auto besteigen wollte.
Der Angesprochene wandte den Kopf, und betroffen sah
der Beamte in ein fahles, zuckendes Gesicht.
»Notieren Sie meine Nummer«, war die hastige
Entgegnung. »Die junge Dame braucht dringend ärztliche
Hilfe. Benachrichtigen Sie Sanitätsrat Meder. Er möchte auf
schnellstem Wege nach Lindenstraße 12, zu Frau Oberst
von Bruckheim kommen.«
»Jawohl, Herr Baron«, stand der Schupomann stramm, der
jetzt erst die stadtbekannte Persönlichkeit erkannt hatte. Er
entfernte sich eilig, und auch die Menschenmenge
zerstreute sich, da es ja nun nichts mehr zu sehen gab.
Scheu gingen sie um das Blut herum, das sich im Schnee
verlaufen hatte. Und alle waren sie einer Meinung, daß den
Autolenker keine Schuld träfe, da er so langsam gefahren
war, daß er auf der Stelle halten konnte.
Nun fuhr der Wagen schneller dahin. Der Herr hatte Ilse-
Sibylle mit dem einen Arm umfaßt, mit der anderen Hand
preßte er sein Taschentuch auf die Schläfe, aus der Blut
hervorsickerte.
Durch die schaukelnden Bewegungen des Autos und durch
den leisen Schmerz, den sie im Kopf spürte, kam Ilse-
Sibylle Nieder zu sich. Sie schlug die Augen auf, sah
verwundert in das blasse, zuckende Männerantlitz.
Ihr setzte fast der Herzschlag aus vor Schreck – Krafft von
Broede!
Aber das durfte doch nicht sein, daß er sie im Arm hielt!
Sie nahm ihre letzte Kraft zusammen, versuchte, sich aus
der Umschlingung des Mannes zu lösen.
»Ruhig, Kind, ruhig – ich bitte Sie!« hörte sie eine flehende,
beschwörende Männerstimme. Aufseufzend schmiegte sie
sich fester in seinen Arm. Ach ja, – diese Stimme war
schön. So dunkel, so weich, so aus herzzitternder Tiefe
kommend. Diese Stimme hören dürfen – immer –
immerzu -.
Dann hielt das Auto vor dem vornehmen Haus in der
Lindenstraße. Der Herr trug behutsam das nun wieder
bewußtlose Mädchen die Treppe hinauf und klingelte an
der Tür der Frau von Bruckheim.
Das Stubenmädchen öffnete – schrie gellend auf, obgleich
der Herr es ihr mit gebieterischer Miene untersagte.
Und dann stand Frau von Bruckheim selbst an der Tür.
Eilte mit herzerschütterndem Schrei auf die Nichte zu, die
einer Toten glich.
Der Mann kannte die Zimmer der Wohnung – ach, wie
genau! Schritt an der fassungslosen Frau vorbei, betrat das
Wohngemach, in dem der geschmückte Tannenbaum
seiner Bestimmung harrte. Behutsam legte er die leichte
Gestalt auf den Diwan nieder.
»Ein kleiner Unfall, gnädige Frau«, wandte er sich dann an
Frau von Bruckheim, die ihm gefolgt war. »Die junge Dame
wäre fast unter mein Auto geraten. Der Arzt wird bald hier
sein.«
Frau Marianne beachtete ihn nicht, schien seine Worte
kaum zu hören. Ihr Blick hing an der regungslosen Gestalt
der Nichte. Immer wieder fuhr ihre zitternde Hand über
das weiße, stille Antlitz der Bewußtlosen. Rot färbte sich
das weiße Seidenkissen von dem Blut, das immer noch aus
der Wunde sickerte.
Ganz plötzlich schlug dann Ilse-Sibylle die Augen auf. Sie
blieben zuerst an dem Gesicht der Tante haften, wanderten
dann weiter, zu dem Mann hin, der unbeweglich dastand –
abseits, wie ausgestoßen.
Nein, der durfte doch nicht hier sein, durfte nie wieder mit
der betörenden Stimme zu ihr sprechen und damit ihr
Herz in Aufruhr bringen – sie verachtete ihn doch!
»Nein!« schrie sie mit angstbebender Stimme. »Krafft von
Broede, ich fürchte mich vor ihm!«
Da wandte sich Frau von Bruckheim dem regungslos
dastehenden Mann zu. In ihrer Verzweiflung fiel es ihr gar
nicht auf, daß er der Nichte bekannt war.
»So gehen Sie doch!« rief sie außer sich vor Schmerz.
»Hören Sie denn nicht, daß das Kind sich vor Ihnen
fürchtet? Alles Unglück kommt durch Sie. Zuerst nahmen
Sie mir meinen Jungen – und nun auch noch das Mädchen,
an dem mein ganzes Herz hängt. Gewiß sind Sie wieder
gefahren wie einer, der Menschenleben nicht achtet. So
gehen Sie doch endlich! Hören Sie nicht, Herr Baron von
Broede?!«
Halb sinnlos vor Schmerz stand die Frau vor dem Mann,
den sie einst fast so geliebt hatte wie den eigenen Sohn.
Hatte vergessen, daß sie das trauliche Du mit ihm
getauscht.
Krafft von Broede zuckte wieder zusammen – wie damals,
als sie ihn schon einmal von der Schwelle gewiesen.
Und diesmal ging er wortlos hinaus, nur ein wenig wankte
die hohe Gestalt, alles genauso wie damals.
Auf der Treppe kam ihm Sanitätsrat Meder entgegen.
»Um Himmels willen, Herr Baron, wie sehen Sie aus!« rief
er erschrocken. »Was ist denn geschehen?«
Müde kam die Antwort, müde und rauh:
»Die Nichte der Frau Oberst von Bruckheim wäre fast unter
mein Auto geraten. Sehen Sie bitte nach ihr, Herr
Sanitätsrat, und geben Sie mir dann fernmündlich
Bescheid. Die Kosten der Behandlung trage ich.«
»Gewiß, gewiß, Herr Baron, wird alles nach Wunsch
geregelt. Ist ja scheußlich peinlich, so eine Geschichte!«
Hastig verabschiedete er sich und stand dann in dem
vornehmen Gemach.
Frau von Bruckheim kniete vor dem Diwan, hatte das
Gesicht an die Brust der Nichte gepreßt und weinte
herzzerbrechend.
Ganz verdutzt schaute der alte Herr auf die fassungslose
Frau. War es möglich, daß diese kühle, selbstsichere Dame
so weinen konnte?
Ach ja, man kannte sich oft in den Menschen überhaupt
nicht aus.
Er räusperte sich, worauf sie den Kopf wandte. Stumm
machte sie ihm Platz.
Als er nun die regungslose Gestalt auf dem Diwan sah,
konnte er nicht verhindern, daß ein entsetzter Ausdruck in
sein Gesicht trat, der Frau von Bruckheim nicht entging.
Dann untersuchte er die Verletzte sehr sorgfältig. Und als er
sich dann wieder Frau Marianne zuwandte, schmunzelte er.
»Ist bestimmt nicht so schlimm, wie es aussieht, gnädige
Frau. Eine leichte Wunde, gar nicht tief. Der Blutverlust ist
allerdings ein wenig bedenklich. Aber so zarte Naturen sind
oft widerstandsfähiger als die robusten.
Ah, da sind wir ja schon wieder!« lachte er, als Ilse-Sibylle
die Augen aufschlug. »Schönen Schreck gekriegt, was? Wie
konnte der Unfall nur kommen, gnädiges Fräulein? Der
Baron von Broede pflegt doch sonst gut und sicher zu
fahren.«
»Ihn trifft keine Schuld«, entgegnete sie, nun voll bei
Bewußtsein. »Weil er eben so sicher fuhr und auf der Stelle
halten konnte, ist größeres Unglück verhütet worden.
Obgleich ich das Auto kommen sah, wollte ich noch rasch
über den Fahrdamm, glitt aus, fiel – mehr weiß ich nicht.«
»Soso – «, nickte der Arzt sichtlich befriedigt. »Ich traf den
Baron auf der Treppe, die Sache scheint ihm verdammt
nahe gegangen zu sein. Doch nun wollen wir einen
Verband anlegen.«
Als der Sanitätsrat gegangen war, suchte Ilse-Sibylles Blick
die Tante, die noch immer sehr blaß war. Bittend streckte
sie ihr die Hände entgegen.
»Sei mir nicht böse, Tante Marianne, daß ich dir so viel
Unruhe ins Haus bringe.«
Weiter kam sie nicht, weil Frau von Bruckheim sich zu ihr
setzte und sie fest in die Arme schloß. Die Tränen tropften
auf den Verband, der den Kopf der Nichte umgab. Und
tränenerstickt klang auch ihre Stimme, als sie sagte:
»Ilsibyll, wie hätte ich es ertragen sollen, wenn auch du mir
noch genommen worden wärest! Seitdem du hier bist,
weiß ich erst, wie einsam und freudlos ich war seit mein
Junge tot ist.«
Ilse-Sibylle sah sie an – ungläubig. Und dann schlang sie
mit einem glückseligen Lächeln die Arme um den Hals der
Tante.
Hoch und wuchtig ragt Schloß Dünentrutz über den
Dünen empor, umrauscht von dichtem Wald und der
Ostsee, die tief unten brandet. Frei und stolz steht es da,
das Ahnenschloß der Broede, fest und trutzig, wie für die
Ewigkeit erbaut.
Und frei und stark war auch das Geschlecht der Broede
stets gewesen. Krafft von Broede – kein anderer Name hätte
zu dem letzten stolzen Sproß besser gepaßt. Noch höher
wirkte seine Gestalt, noch stolzer seine interessante
Persönlichkeit, wenn er das Schloß seiner Väter
durchschritt mit festem Schritt.
Einstmals hatte dieses jetzt so düstere, harte Antlitz im
Übermut gestrahlt. Immer um die Wette hatte sein Lachen
mit dem der liebreizenden Schwester durch das Schloß
gehallt. Das war nun dahin, seitdem man ihm die Eltern
und die so zärtlich geliebte Schwester tot ins Haus
gebracht.
Seitdem war es still in Dünentrutz – unheimlich still. Die
Dienerschaft schlich leise umher, als wäre jedes Geräusch
verboten.
Heute war man noch behutsamer als sonst. Denn der Herr
war aus der Stadt zurückgekehrt, mit einem Gesicht wie
Stein, so hart und starr.
Und heute war doch Weihnachten, das Fest der Freude!
Schüchtern nahmen die Großen sowie die Kleinen ihre
Gaben in Empfang, und erst als sie den Saal verlassen
hatten und die düstere Persönlichkeit des freigebigen
Spenders nicht mehr sahen, brach der Jubel über die
reichen Geschenke los.
Mit bitterem Lächeln sah er ihnen nach. Er stand nun ganz
allein in dem prächtigen Saal. Hatte für so viele Menschen
Gaben aufgebaut, ihnen heimliche Wünsche erfüllt. Er war
in ganz Dünentrutz der einzige, der leer ausging. Denn er
hatte ja niemand, der ihm etwas schenken konnte. Stand
auch heute allein, wie er immer allein stand.
Ein leiser Seufzer ließ ihn herumfahren. Und da entdeckte
er Frau Lina, die weibliche Beherrscherin des Schlosses, die
neben ihren Gaben stand und ihn mit traurigen Augen
ansah. Sie war nicht die richtige Repräsentantin für
Dünentrutz, das wußte ihr Herr sehr wohl.
Aber sie war die Betreuerin seiner Kinderjahre gewesen,
hatte ihn und das Schwesterchen liebevoll umhegt. Ihre
Treue war so vielfach erprobt, daß man sie, als die Kinder
ihrer Obhut entwachsen waren, nicht 4ort ließ, sondern sie
mit dem Amt der Beschließerin betraute, das sie vorbildlich
versah. Und als das Unglück über Dünentrutz hereinbrach,
machte Krafft sie zur ersten Angestellten des Hauses.
Sie hatte ihm auch treu zur Seite gestanden, als er damals,
überwältigt von Schmerz, der Verzweiflung nahe gewesen.
Vor ihr ließ er auch öfter einmal die Maske fallen, die er
stets zu Schau trug, deshalb kannte sie ihn so gut wie kein
anderer Mensch.
Als sie nun so vor ihm stand, den tränenschweren Blick auf
ihn geheftet, ging ein Ausdruck der Rührung über sein
Gesicht. Zart liebkoste er ihre Wange.
»Nun, Frau Lina, du bist also die einzige, die nicht vor mir
davonläuft. Natürlich willst du wieder einmal gesehen
haben, daß mich etwas quält. Sieh nicht immer Gespenster,
mein gutes Altchen! Laß dir dein Weihnachtsfest nicht
trüben durch mich bösen Gesellen, mit dem du deine liebe
Not hast. Ich passe nun einmal nicht unter fröhliche
Menschen, muß daher für mich allein bleiben. Sorge dafür,
daß die Weihnachtskerzen gelöscht werden, und sei dann
fröhlich mit den Fröhlichen! Versprichst du mir das?«
»Brauche ich mir auch wirklich keine Sorgen zu machen?«
»Nein, du gutes Linchen. Ich war verstimmt – aber jetzt ist
schon alles vorüber.«
Noch einmal streichelte er ihre Wange und ging dann in
sein Arbeitszimmer, in dem vier große Gemälde hingen.
Das erste stellte einen stolzen Mann dar, unverkennbar den
Vater des Schloßherrn. Das zweite zeigte eine feine,
vornehme Frauengestalt und das dritte ihr verjüngtes
Ebenbild, ein zartes Menschenkind von sinnverwirrender
Süße.
Dann das letzte Bild. Verträumt schauten die dunklen
Augen aus einem Männerantlitz von feiner* edler Form.
Schwer lockte sich das dunkle Haar auf der Stirn.
Vor diesem Gemälde blieb Krafft am längsten stehen. Es
war wie die anderen von Frau Lina mit Tannenreis und
zarten Blumen geschmückt worden.
Lange schaute der einsame Mann in das schöne Gesicht.
Liebkosend fuhr seine Hand darüber hin.
»Schlaf ruhig, Burkhard«, murmelte er. »Ich halte, was ich
dir versprach.«
Der Fernsprecher schlug an. Es meldete sich Sanitätsrat
Meder. Froh klang seine Stimme, als er sagte, daß die
Verletzung Fräulein Rainers nur ungefährlich sei. Am
nächsten Tag wollte er in Dünentrutz vorsprechen, um
genauen Bericht zu erstatten.
Da hob ein befreiter Atemzug des Mannes Brust. Das
düstere Gesicht erhellte sich. Rastlos wanderte er im
Zimmer umher.
Am anderen Tag erschien dann Dr. Meder und erstattete bei
einer Flasche Wein Bericht.
»Tja, erschrocken war ich schon, als ich gestern das junge
Mädchen so unheimlich bleich auf dem Diwan liegen sah«,
begann er in seiner frischen Art. »Im ersten Augenblick
hätte ich keinen Heller für ihr Leben gezahlt. Doch nach
sorgfältiger Untersuchung erwies sich die Wunde als
ungefährlich. Bedenklich war nur die Narbe, die von einer
sehr gefährlichen früheren Wunde herrührt und die nur
wenige Millimeter unter der neuen liegt. Sie hat das zarte
Menschenkind damals ein halbes Jahr lang zwischen Leben
und Tod schweben lassen.«
Genießerisch tat er einen langen Zug aus dem Glas und
fuhr dann fort:
»Ich kenne Fräulein Rainer nämlich aus den Briefen meines
Sohnes, der Leiter des Sanatoriums ist, in dem sie sich zwei
Jahre lang aufhielt. Sie ist die Tochter des Geigenkünstlers
Rainer, der Ihnen, Herr Baron, ja nicht unbekannt ist. Mein
Sohn beteuert, daß das Künstlerkind nur die Schönheit und
das Talent vom Vater geerbt hat, alles andere jedoch von
der Mutter, die einem alten Adelsgeschlecht entstammt.«
Krafft, der interessiert zugehört hatte, stellte nun die Frage:
»Dann ist Fräulein Rainer die Schwester des kleinen
Wunderknaben, der mit seiner Mutter und dem Chauffeur
bei einem Autounglück ums Leben kam?«
»Jawohl, Herr Baron. Ist Ihnen die Tragödie bekannt?«
»Ziemlich genau. Auch die andere kenne ich, der Meister
Rainer zum Opfer fiel. Unklar ist mir nur, warum Fräulein
Rainer zwei Jahre in dem Sanatorium blieb, dessen
Betreuung sie nur ein halbes Jahr nötig hatte.«
»Weil die Tochter dem Vater in seiner zweiten Ehe
unbequem war.«
»Unglaublich – « schüttelte Krafft den Kopf. »Und weshalb
verließ Fräulein Rainer jetzt das Sanatorium?«
»Weil nach dem Tode des Vaters die Kosten nicht mehr
entrichtet wurden – und weil sie den Heiratsantrag des
Besitzers von Seelenruh ablehnte. So flüchtete sie zu der
Schwester ihrer Mutter, Frau von Bruckheim. Diese soll als
einzige mit Frau Rainer, die gegen den Willen der Familie
heiratete, in Verbindung gestanden haben.
Ferner wäre noch zu sagen, daß Fräulein Rainer ihrem
Vater feindlich gegenüber gestanden hat. Daher berührte
sein tragisches Ende sie kaum. Viel kann ja auch an ihm
nicht gewesen sein, sonst hätte er es nicht fertigbringen
können, das große Vermögen seiner Frau, das die Eltern ihr
trotz allem auszahlten, zu vergeuden und das Geld noch
dazu, das sein kleiner Sohn verdiente. Jedenfalls soll
Fräulein Rainer ganz den stolzen, vornehmen Charakter
ihrer Mutter geerbt haben. Mein Sohn wie seine Frau
schwärmen förmlich von der schönen, feinen Ilse-Sibylle
und bedauern ihren Unfall, den ich ihnen sofort mitteilte,
tief. Und somit wäre über die junge Dame alles gesagt, was
zu sagen ist.«
»Wird die neue Wunde wieder eine Nervenschwäche
hervorrufen?« erkundigte Krafft sich gespannt, worauf der
Arzt lebhaft abwinkte.
»Gott sei Dank nicht. Als ich sie heute besuchte, war sie
munter und wohlauf. Die Tante ist rührend besorgt um sie.
Ich hätte es nicht für möglich gehalten, daß die kühle,
ausgeglichene Frau so die Fassung verlieren könnte, wie es
gestern der Fall war. Also muß sie die Nichte sehr in ihr
Herz geschlossen haben. – So, jetzt muß ich aber machen,
daß ich fortkomme, die Pflicht ruft. Für mich gibt es eben
keinen Feiertag.«
Die Herren erhoben sich, reichten sich die Hände.
»Ilsibyll, nun wird es allmählich Zeit, daß ich dich
ausführe. Du bist jung und hast ein Anrecht auf
Zerstreuung.«
»Wozu das, Tantchen? Ich fühle mich sehr wohl in unserer
traulichen Abgeschiedenheit.«
»Wenn schon. Sträube dich nicht, mein Entschluß steht
fest. Morgen schon gehen wir zum Ball. Ich habe ein
entzückendes Kleidchen in einem Modehaus gesehen, das
sollst du haben.«
»Tante Marianne, ich bitte dich!« rief das Mädchen
erschrocken. »Du willst dir wohl alles entziehen und mir
zustecken! Meine Krankheit hat doch schon so viel Geld
gekostet. Ich hab mir nie etwas aus Festen gemacht.«
Die Tante lächelte und setzte ihren Willen durch.
So stand denn Ilse-Sibylle am nächsten Abend im Festkleid
vor ihr, deren Augen mit Stolz an der zaubersüßen
Erscheinung hingen. Mit einem solchen Schützling Feste
besuchen, das mußte Freude machen.
Als sie dann mit der Nichte den Festsaal betrat, bemerkte
sie mit heimlichen Vergnügen die bewundernden Blicke,
die ihnen entgegen – und nachsahen.
Ilse-Sibylle schien das nicht zu bemerken. Sie schritt an der
Seite der Tante ruhig dahin, den feinen Kopf mit der
duftigen Lockenfülle hocherhoben. Weich schmiegte sich
das weiße Seidenkleid um den grazilen Körper. Arme und
Hals erschienen wie Blumenblätter so fein und zart. Um
den Nacken schlang sich eine Perlenkette von großem
Wert. Sie war ein Schmuckstück der Tante, das diese selbst
getragen.
So lange schritt Ilse-Sibylle gelassen durch den Saal, bis sie
einen Herrn erspähte, dessen Augen genauso an ihr hingen
wie die der anderen. Die ihren aber weiteten sich in jähem
Schreck.
Krafft von Broede.
Ihr Herz krampfte sich zusammen in unerträglichem
Schmerz. Sie hatte sich so auf das Fest gefreut – und nun
wäre sie am liebsten geflohen.
Die Tante schien den Baron nicht zu sehen. Sie grüßte zu
Bekannten hin und wählte den Platz ausgerechnet ihm
gegenüber.
Ilse-Sibylles Herz erlitt die grausamsten Qualen, als sie sah,
wie die Damen sich um Krafft von Broede scharten, wie sie
ihn anstrahlten und wie seine Augen funkelten vor
Ergötzen und Spott. Wer diesen Mann fesseln wollte, der
mußte schon etwas Besonderes sein. Und gerade sie, die
arme, unbedeutende Ilse-Sibylle Rainer, mußte ihr Herz an
ihn verlieren!
Das sollte nun ein Vergnügen sein, dazusitzen und den
Mann herumflirten zu sehen, den sie mit ganzer Inbrunst
liebte!
Es fehlte ihr an Tänzern nicht, o nein. Man bevorzugte den
neuen Stern, der so plötzlich am Ballhimmel aufgetaucht
war. Doch was waren sie alle gegen den, der sie überhaupt
nicht zu sehen schien?
Bei dem einen Tanz kam er ganz dicht in ihre Nähe. Er
tanzte mit einer reizenden jungen Dame, die ihm über
irgend etwas Vorwürfe zu machen schien. Nur ganz wenig
hatte er sich zu ihr geneigt, seine Haltung war tadellos, und
doch fand die empfindsame Ilse-Sibylle etwas darin, was
ihr mißfiel.
»Aber meine Gnädigste, wer wird denn so böse sein!« hörte
sie ihn spöttisch sagen. »Sie vernichten mich ja mit Ihrem
Zorn.«
So sprach er wohl mit allen Damen, nahm keine ernst.
Hatte wohl nichts, was ihm heilig war.
Doch sie tat ihm sicherlich unrecht. Wie sollte er sich vor
so viel Entgegenkommen anders schützen und wehren?
Ilse-Sibylle war froh, als der Tanz beendet war und ihr
Partner sie zu der Tante führte. Gerade wollte sie diese
bitten, mit ihr das Fest zu verlassen, als Frau von
Bruckheim sagte:
»Ich habe in dem kleinen Zimmer, das dicht am Eingang
liegt, alte Bekannte entdeckt, mit denen ich plaudern
möchte. Kommst du mit, IIsibyll?«
Ehe diese bejahen konnte, verneigte sich ein Herr vor ihr
und bat um den eben beginnenden Tanz.
»Ich komme nach, Tante Marianne – «
»Gut, mein Kind.«
Nach dem Tanz machte Ilse-Sibylle sich sofort auf den
Weg, um zur Tante zu gelangen. Dazu mußte sie durch den
Wintergarten gehen, der in seiner magischen Beleuchtung
still dalag. Doch kaum hatte sie einige Schritte getan, als
zwei Hände nach ihr griffen und sie hinter eine
Pflanzengruppe zogen. Zwei Augen funkelten ganz nahe in
die ihren, ein heißer Atem streifte ihr Gesicht.
»Lassen Sie mich los!« sagte sie empört zu der ihr gänzlich
fremden Dame, deren heiße Hände sich immer fester um
die ihren preßten.
»Das könnte dir so passen, du hochmütiges Geschöpf mit
dem gleißenden Lärvchen und dem vornehmen Getue!«
zischte ihr die Fremde ins Gesicht. »Nun weiß ich endlich,
wer du bist. Hatte dich seit dem Abend im Wald, an dem
du mit Krafft von Broede in seiner Jagdhütte warst, aus den
Augen verloren. Scheinst noch ein Neuling in bezug auf
Liebesabenteuer zu sein, sonst hättest du dich nicht so
sorglos in das helle Licht der Wagenlaternen gestellt. So ein
Frätzchen prägt sich einem ein. Trotzdem nahm ich die
Sache nicht tragisch, da du ja nicht die einzige bist, die in
Krafft von Broedes bewegtem Leben eine Episode spielt.
Nun ich aber weiß, wer du bist, interessiert mich deine
Person ungeheuer. Die hochnäsige Tante wird große Augen
machen, wenn man nächstens mit Fingern auf ihre Nichte
zeigen wird. Denn es soll mir eine Wonne sein, dieses
pikante Geschichtchen zu verbreiten.
Im übrigen tröste dich. Du bist nicht die einzige, die dem
gefährlichen Don Juan in das Häuslein gefolgt ist, das wohl
den harmlosen Namen Jagdhütte trägt, in Wirklichkeit
jedoch ein Nest für seine galanten Liebesabenteuer ist – «
»Womit Ihre wirklich nette Rede nun beendet sein dürfte.«
Sie fuhr herum.
Vor ihr stand Krafft von Broede in lässiger Haltung,
umgeben mit einem Wall eisiger Kälte. In seinen Augen lag
ein gefährliches Drohen.
»Zuerst lassen Sie einmal die Hände der Dame
los!«forderte er kurz und scharf. »So – und nun werde ich
sie aus Ihrer Nähe bringen, die alles andere als einwandfrei
ist.«
Er bot Ilse-Sibylle den Arm, die mit entsetzten Augen zu
ihm aufsah.
»Machen Sie mit, es geht um Ihren Ruf!« sagte er leise, aber
bestimmt.
Da legte sie willenlos ihre Hand auf seinen Arm und ließ
sich von ihm fortführen, zur Tante hin, die gerade aus dem
kleinen Zimmer trat.
Als sie die Nichte am Arm des Barons sah, blieb sie wie
erstarrt stehen.
»Ich bringe Ihnen Ihre Nichte, gnädige Frau«, sagte er
frostig. »Fahren Sie mit ihr nach Hause, sie scheint
ruhebedürftig zu sein. Ich werde mir erlauben, morgen im
Laufe des Vormittags bei Ihnen vorzusprechen.«
Eine förmliche Verbeugung, dann ging er. Und zwar zu der
Dame zurück, die noch immer auf der Stelle stand, wo er
sie verlassen hatte. Seine Stimme klirrte, als wenn Eisen auf
Eisen schlägt.
»Gnädigste – ich warne Sie! Sonst verstehe ich ja reichlich
viel Spaß und bin bestimmt kein Spielverderber. Doch in
Sachen, die meine Braut betreffen, hört für mich jeder Spaß
auf.«
Mit seltsam erloschenen Augen sah sie ihm in das
arrogante Gesicht.
»Ihre – Braut?«
»Ja, meine Braut. Haben Sie etwas dagegen?«
»Ja – ja!« schrie sie auf.
»Ich muß Sie sehr bitten, ein wenig leiser zu sein. Die
Menschen nebenan könnten sonst aufmerksam werden.
Nun noch die Frage: Finden Sie etwas dabei, wenn meine
Braut mich in meiner Jagdhütte besucht?«
»Diese Verlobung können Sie jemand anderem vorlügen!«
höhnte sie. »Nicht einmal haben Sie heute mit ihr getanzt.
Haben getan, als ob Sie die Dame gar nicht kennten. Kein
Mensch weiß um diese Verlobung.«
»Was eigentlich unerhört ist«, lächelte er mit grausamer
Ironie. »Aber wenn es Sie beruhigt: Bald wird die von
Ihnen angezweifelte Verlobung fettgedruckt in der Zeitung
unseres Städtchens stehen. Und weshalb ich heute meine
Braut nicht kennen wollte? Gnädigste sind in der Liebe
doch so bewandert wie kaum eine zweite Evastochter.
Daher werden Sie sicher wissen, was heimliche Liebe ist.
Und nun will ich Ihnen mal etwas sagen: Sollte ich
irgendwo hören, daß Sie mit Ihren Lügen herumhausiert
haben – oho, Gnädigste, dann sollen Sie mich
kennenlernen! Dann werde ich über Sie die Wahrheit
sagen. Aber gründlich!
Ferner möchte ich Sie bitten, Ihre Streifzüge zu unterlassen
und mir nicht auf Schritt und Tritt nachzuspionieren. Ich
brauche wirklich kein Kindermädchen mehr, das um mein
Seelenheil beunruhigt sein muß. Nebenbei möchte ich
noch bemerken, daß unser Städtchen eine ausgezeichnete
Polizei hat, an die ich mich wenden werde, wenn Sie mir
gar zu lästig fallen.
Hoffentlich haben Sie mich richtig verstanden? Wenn
nicht, sollte es mir für Sie leid tun.«
Damit wollte ergehen, als sie aufschrie, wimmernd,
klagend, wie ein verwundetes Tier:
»Oh, Krafft von Broede, wie bist du grausam!«
»Nicht grausamer, als Sie es verdienen, mein schönes Kind.
Ich habe heute nur so ein wenig die Rechnung für meinen
Freund beglichen.«
Gelassen wandte er sich ab und ging davon.
Am nächsten Vormittag erschien Krafft von Broede. In
stolzer Gelassenheit stand er vor den Damen.
»Hat Fräulein Rainer Ihnen alles erzählt?«
»Ja – alles.«
»Dann bitte ich um die Hand Ihrer Nichte, gnädige Frau.«
Das hatte diese nicht erwartet. Ihre Gestalt umgab sich mit
kalter Unnahbarkeit.
Und Ilse-Sibylle, die im Sessel saß, schnellte empor.
»Nein!« schrie sie auf. War mit wenigen Schritten bei der
Tante, umklammerte hilfesuchend deren Hals.
Frau von Bruckheim sah den Mann drohend an, der in aller
Gelassenheit dastand.
»Weißt du auch, Krafft von Broede, was du da von mir
verlangst? Dieses Kind ist meinem Herzen teuer wie sonst
nichts mehr auf der Welt. Ich werde nicht dulden, daß du
es unglücklich machst, es dir zum Spielzeug erwählst, aus
einer Laune heraus!«
»Leider kann ich Ihre Nichte nicht anders schützen,
gnädige Frau«, entgegnete er ruhig. »Daß Frau Börne zu
allen Schandtaten fähig ist, hat sie schon oft bewiesen.
Wenn meine Person Fräulein Rainer so widerwärtig ist –
dann soll es eine Scheinehe werden, die ihr Ende finden
soll, sobald Gras über die heikle Angelegenheit, in der sie
jetzt steckt, gewachsen ist. Es wird dem gnädigen Fräulein
kein Mensch verdenken, wenn es mit einer so verrufenen
Persönlichkeit, wie ich es bin, auf die Dauer nicht leben
mag. Wenn Sie jedoch einen anderen Ausweg wissen,
gnädige Frau – ich stehe zur Verfügung.«
Diesen Ausweg wußte sie allerdings auch nicht. Eine Weile
war es beklemmend still, bis Frau von Bruckheim dann
fragte:
»Könnte nicht die Verlobung kurze Zeit bestehen und dann
wieder gelöst werden?«
Ein Lächeln erschien auf dem harten Männerantlitz – leise,
kaum merklich.
»Eine gelöste Verlobung – mit mir? Ich glaube, das gäbe
Frau Börne erst recht Oberwasser.«
Ilse-Sibylle hatte sich jetzt beruhigt, war jedoch
erschreckend blaß.
»Wozu sich da viel den Kopf zerbrechen?« meinte sie
hochmütig. »Ich gehe fort von hier, und dann werden sich
die Menschen schon beruhigen.«
Wieder lächelte der Mann.
»Da haben Sie aber nicht mit Frau Börnes Rachedurst
gerechnet, mein gnädiges Fräulein. Deren Zunge ist sehr
spitz und – lang. Die würde Sie überall erreichen.«
»Ich will Sie aber nicht heiraten!« schrie das Mädchen
verzweifelt.
»Wenn Ihr Starrsinn größer ist als Ihre Vernunft – bitte.«
»Laß uns einmal ruhig darüber sprechen, Ilsibyll«, lenkte
die Tante ein. »Du bist viel zu unerfahren, um die Folgen,
die Frau Börnes Gerede haben würde, zu ermessen. Wenn
ich einen anderen Ausweg wüßte, würde ich ihn dir mit
Freuden nennen. Aber so wirst du Krafft von Broedes Hilfe
annehmen müssen.«
»Das rätst du mir, Tante Marianne – du?!«
»Sei vernünftig, mein Kind.«
»Ahnt ihr denn nicht, wie mir zumute ist?« rief Ilse-Sibylle
außer sich vor Erregung. »Ich kann das Opfer nicht
annehmen, wirklich nicht! Was ich mir schon aus dem
Gerede der Leute mache!«
»Sie scheinen sehr egoistisch zu sein, mein Fräulein«,
lächelte der Mann ironisch. »Vielleicht denken Sie ein
wenig an Ihre Tante, die noch von altem Schlage ist, die
nur in reiner Atmosphäre atmen kann. Und das Gerede
Frau Börnes würde Schmutz mit sich schleifen.«
Frau von Bruckheims Blick ging über den Kopf der Nichte
hinweg zu dem Mann hin – prüfend, forschend. Er hielt
den Blick aus, kühl und frei. Sie konnte einer Bewunderung
nicht wehren, daß er um dieser Sache willen seine ganze
Person in die Schanze schlug.
»Sage mir, Krafft von Broede, warum demütigst du dich
hier? Dir würde der Klatsch doch nichts schaden. Im
Gegenteil! Er würde dich noch interessanter in den Augen
der Menschen machen.«
Ruhig sah er sie an.
»Weil es sich um Ihre Nichte handelt, gnädige Frau. Und
weil es einmal eine Zeit gegeben hat – nun, kurz und gut:
Ich vergesse nicht so leicht Güte und Liebe.«
Da löste sich etwas im Herzen der Frau, die Jahre hindurch
nur in Erbitterung an diesen Mann gedacht hatte. Aus
diesem Gefühl heraus streckte sie ihm die Hand hin.
»Um dieser Stunde willen möchte ich vergessen lernen,
Krafft von Broede. Diese selbstlose Tat löscht manches aus.
Wollen wir versuchen, es wieder so werden zu lassen, wie
es einst war?«
Er beugte sich über die feine weiße Hand mit tadelloser
Verneigung. Immer noch ruhig blieb das rassige Antlitz.
»Wie du wünschest, Tante Marianne.«
Jetzt sah Ilse-Sibylle ein, daß ihr alles Sträuben nichts
nützen würde.
Die Verlobungsanzeige schlug sozusagen wie eine Bombe
ein. Man wollte es sich nicht verzeihen, daß man diese
Verlobung nicht vorausgeahnt hatte. Die Nichte der Frau
Oberst von Bruckheim hatte das Herz dieses arroganten
Weltmannes bezwungen. Mußte also die Verstimmung, die
zwischen der stolzen Frau und ihm geherrscht, endlich
behoben sein.
Die Zeit eilte dahin, trotz Angst und Not. Der Hochzeitstag
kam heran, der fünf Wochen nach der Verlobung
festgesetzt war. Die Menschen waren der Meinung, daß der
Baron doch toll verliebt sein müßte, da es ihm mit der
Hochzeit so eilte.
Nach der standesamtlichen Trauung fuhr Krafft nach
Dünentrutz, die Damen folgten eine Stunde später.
Betroffen ging Ilse-Sibylles Blick über das Schloß hin. Nein,
so feudal hatte sie es sich trotz hoher Erwartungen denn
doch nicht vorgestellt!
In der Halle kam der Schloßherr ihnen entgegen. Und hatte
seine Erscheinung schon immer einschüchternd auf Ilse-
Sibylle gewirkt – hier, in seinem Reich, das er gebieterisch
durchschritt, fürchtete sie ihn. Ihre Hand, die er an die
Lippen führte, war eiskalt.
»Gott segne deinen Eingang, Ilse-Sibylle«, sagte er einfach.
»Hoffentlich bringst du unserem Dünenschloß die Sonne
mit, die schon seit Jahren aus ihm gewichen ist.«
Darauf bot er ihr den Arm, führte sie in ihr Reich, das mit
all dem Luxus eingerichtet war, wie eine verwöhnte Dame
es nur wünschen konnte.
»Ich habe eigenmächtig gehandelt, Ilse-Sibylle«, sagte er in
seiner gelassenen Art. »Habe deine Gemächer ausgestattet,
ohne nach deinem Geschmack zu fragen. Hoffentlich bist
du nicht enttäuscht?«
Die junge Frau bekam kein Wort heraus, so würgte es sie
im Halse. Was verstand sie schon von all der Pracht! Sie
war nicht gerade in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen,
aber so viel Wunderbares zu schauen, hatte sie noch nie
Gelegenheit gehabt.
»Deine Zofe erwartet dich im Ankleidezimmer«, sprach der
Gatte schon wieder weiter. »Tante Marianne, du bist wohl
so gut, unserer Kleinen beim Ankleiden behilflich zu sein.
Die Zofe soll ja wohl erstklassig sein, aber ich bin
mißtrauisch. Also, bis nachher!«
Wie im Traum betrat Ilse-Sibylle das Ankleidezimmer, das
ganz licht und traut war. Willenlos ließ sie alles über sich
ergehen, was mit ihr geschah. Nur als die Zofe über ihre
wunderbaren Locken in Begeisterung geriet, lächelte sie
unsagbar traurig.
Als sie dann angekleidet war, schaute sie betroffen in den
Spiegel.
Das sollte sie sein? Kaum glaublich! Wie so eine glanzvolle
Aufmachung den Menschen doch verändern konnte!
Sie verstand die Tante nicht, die bei ihrem Anblick mit der
Rührung kämpfte. Verstand auch die bewundernden Blicke
der Zofe nicht.
Und auch nicht die aufleuchtenden Augen Krafft von
Broedes, der eintrat, um sie abzuholen. In der Hand trug er
eine Kassette. Als er sie öffnete, glänzte und gleißte es ihr
entgegen.
»Der Familienschmuck der Broede«, wurde ihr erklärt.
Als Krafft ihr eine Kette um den Hals legen wollte, wich sie
erschrocken zurück.
»Nein, bitte nicht, das kommt mir nicht zu.«
Er sah sich hastig um. Als er jedoch bemerkte, daß die Zofe
den Raum verlassen hatte, sagte er achselzuckend:
»Es tut mir leid, dich quälen zu müssen, Ilse-Sibylle. Doch
auch das gehört zur Tradition unseres Hauses, daß die
Braut zur kirchlichen Trauung den Familienschmuck trägt.
Du gibst mir wohl deinen Nacken frei? Wir dürfen den
Pfarrer nicht warten lassen.«
Mutlos ließ sie die Hände sinken, die den Hals
umklammert hielten. Schon ganz gottergeben ließ sie auch
diese Schmückung noch über sich ergehen.
»Das Diadem finde ich höchst überflüssig«, bemerkte er,
das glitzernde Schmuckstück in der Hand wendend. »Es
paßt nicht zur Myrtenkrone, die an diesem Tag der größte
Schmuck des reinen Weibes sein soll. Aber es muß wohl in
unserer Sippe prunkliebende Leute gegeben haben.
Vielleicht setzt du dich, Ilse-Sibylle, damit ich das Diadem
so befestigen kann, daß es nicht ganz den Myrtenkranz
überstrahlt.
So, nun kannst du noch einen Blick in den Spiegel werfen.
Du willst nicht? So wenig eitel bist du törichtes Kind?«
Ilse-Sibylle hatte das Gefühl, als verbrenne der Schmuck ihr
Hals und Arme.
Nehmt mein Geschmeide,
es gleißt wie Licht,
die Braut im Leide
begehrt es nicht –
schoß es ihr durch den Sinn. Sie schluchzte auf – nur
einmal – doch sie glaubte, das Herz ginge ihr dabei in
Stücke.
»Ilsibyll, Liebling, jetzt doch nicht weinen!« bat die Tante.
Da riß sie sich zusammen. Ihr Blick ging zu Krafft von
Broede hin, der ruhig abwartend dastand. Die hohe Gestalt
wirkte in der feierlichen Kleidung noch stolzer, noch
unnahbarer denn je.
Und diesem Mann hatte sie in der Jagdhütte ihre
Verachtung gezeigt – sie, das unscheinbare Mädchen, das
nichts hatte und nichts war!
»Ilse-Sibylle, wir müssen zur Kapelle – «
Da hob sie den Kopf mit der ihr eigenen stolzen Gebärde.
Nun gut, wenn es schon sein mußte, dann wollte sie sich
wenigstens mit all dem Stolz wappnen, der ihr zu Gebote
stand.
Der half ihr denn auch, alles würdig zu überstehen. Die
Trauung, die glänzende Feier danach.
Wozu die überhaupt? Um so größer würde die Sensation
sein, wenn das jetzt so glänzend gefeierte Paar in Bälde
auseinanderging.
Unten in der Halle traf Frau von Bruckheim Krafft von
Broede. Er lehnte am Kamin, dem eine mollige Wärme
entströmte. Als er die Tante erblickte, legte er die Zigarette
fort und ging ihr entgegen.
»Nun, schläft Ilse-Sibylle?«
»Sie liegt jedenfalls im Bett. Ich finde, daß du sie zu sehr
verwöhnst, Krafft. Mit dem Luxus, mit dem du sie umgibst,
könnte ein Fürstenkind zufrieden sein. Solange sie diesen
Luxus nicht kannte, war sie auch so zufrieden. Doch an
Annehmlichkeiten gewöhnt sich der Mensch schnell. Was
soll daraus werden, wenn sie nicht mehr deine Frau ist?
Dann ist sie wieder auf das angewiesen, was ich ihr geben
kann. Und das ist gewiß nicht viel.«
»Darüber mache dir keine Gedanken«, wehrte er ab. »Ich
werde dafür sorgen, daß Ilse-Sibylle stets ein behagliches
Leben führen kann – auch wenn sie nicht mehr meine Frau
sein sollte.«
»Das wird sie nicht annehmen, Krafft. Sie ist nämlich sehr
stolz. Jetzt ist sie noch durch inneren Zwiespalt zerrissen.
Sobald sie sich jedoch wiedergefunden hat, wirst du diesen
Stolz schon noch kennenlernen. Du mußt niemals
vergessen, unter welchen Umständen eure Ehe geschlossen
wurde. Wenn du das mit der Zeit vergessen solltest, um so
mehr wird Ilse-Sibylle dessen gewärtig sein – «
Ilse-Sibylle lag in ihrem kostbaren Bett. Redete sich immer
mehr ein, daß sie sich verachten müßte, weil sie den Antrag
Krafft von Broedes angenommen hatte. Es konnte nicht als
Entschuldigung gelten, daß sie in den letzten Wochen
kaum zurechnungsfähig gewesen war. Sie hatte einfach
gewissenlos gehandelt.
Was sollte das überhaupt für ein Ende nehmen? Hätte er
nur eine Ahnung, wie sie für ihn empfand! Vielleicht
würde er in seiner Großmut so weit gehen, sich für alle Zeit
an sie zu fesseln. Also durfte er das niemals erfahren. Ihren
ganzen Stolz mußte sie zur Hilfe nehmen, um ihm ihre
Liebe verheimlichen zu können.
Wie er alles für sie hergerichtet hatte! Als wäre sie seine
rechtmäßige Frau. Und er hatte sie doch nur geheiratet, um
ihren Ruf zu schonen, den eine gehässige Person
untergraben wollte. Aber nein, er hatte es bestimmt nicht
ihretwegen getan, sondern nur, weil sie die Nichte der Frau
von Bruckheim war.
Frau von Bruckheim weckte die Nichte aus dem tiefen
Schlaf, indem sie liebkosend über deren Wange strich –
und schon war sie wieder mittendrin in ihrer Pein, die sich
in eine tiefe Gereiztheit hineinsteigerte. Mißmutig drehte
sie sich auf die Seite und schickte sich an, ihren Schlummer
fortzusetzen.
»Ilsibyll, Liebling, du mußt aufstehen«, schmeichelte die
Tante. »In einer Stunde wird gespeist, dabei darfst du nicht
fehlen. Du bist nicht mehr Herrin deiner selbst, hast
Pflichten übernommen – «
Nun fuhr Ilse-Sibylle herum, sah die Tante trotzig an.
»Gar keine Pflichten habe ich!« entgegnete sie immer mehr
gereizt. »Ich bin hier weiter nichts als eine Staffage! Ach – «
Schluchzend drückte sie das Gesicht in die Kissen, und
ratlos sah die Tante auf sie nieder. Was war nur in das Kind
gefahren, es war doch bisher immer so folgsam gewesen.
Doch so durfte es sich nicht gehen lassen – wohin sollte
das führen!
»Sei vernünftig, Ilse-Sibylle«, verlangte sie in so strengem
Ton, wie sie noch nie mit ihr gesprochen hatte. »Alle im
Schloß sehen in dir die Herrin. Betrage dich nicht so, daß
Krafft sich deiner schämen muß. Das hat er wahrlich nicht
um dich verdient. Denke nicht immer nur an dich, sondern
auch an ihn, dem diese Scheinehe gewiß kein Vergnügen
sein wird.«
»Er hat es ja so haben wollen«, trotzte Ilse-Sibylle. »Ich
habe mich ihm gewiß nicht aufgedrängt. In alle Welt werde
ich hinausschreien, warum ich Baronin Broede wurde, die
Gattin des Mannes, dem die Frauen gerade gut genug sind,
um ihm die Langeweile zu vertreiben!«
»Du bist ungezogen, Ilse-Sibylle«, entgegnete die Tante
ärgerlich. »Und undankbar obendrein. Wäre dir vielleicht
wohler, wenn die Menschen hinter dir herreden würden,
daß du zu einer Abendstunde in der Jagdhütte Krafft von
Broedes Spielzeug warst? Was du dir da in deinen
eigenwilligen Kopf gesetzt hast, sind weiter nichts als
Hirngespinste.«
Ohne noch einen Blick auf die Nichte zu werfen ging sie
hinaus.
Ilse-Sibylle sah ihr erbittert nach. Die Tante verstand sie
nicht, ganz allein war sie in ihrer Not.
So recht unzufrieden mit sich und der ganzen Welt erhob
sie sich. Wollte sich ankleiden. Doch soviel sie auch
Umschau hielt, sie konnte kein Kleidungsstück zu
entdecken.
Ach ja – sie war ja nun die Baronin Broede, deren Wink ein
ganzer Dienertroß gehorchte. Welch ein beneidenswertes
Geschöpf sie doch war! Direkt vom Glück verfolgt!
Ja – zuerst mußte sie wohl in das Ankleidezimmer gehen.
Als sie dort den Schrank öffnete, der die ganze Wand
einnahm, fand sie ihn mit Kleidern gefüllt, die sie noch nie
gesehen hatte. Als sie die zweite Tür aufmachte, fiel ihr
Blick auf zarte, hauchdünne Wäsche.
Da stieg ihr heiße Scham ins Gesicht. Hastig warf sie die
Tür zu.
Nun, wenn sie dieses Spiel mitmachen sollte – dann aber
gründlich! Trotzig drückte sie auf den Klingelknopf, und
wie hergezaubert stand die Zofe vor ihr, sie aus
erwartungsvollen Augen ansehend.
Ob wohl sämtliche dienstbaren Geister so erscheinen
würden, wenn sie immer wieder auf den Knopf drückte?
»Wann wird zu Mittag gegessen, Lilly?«
»Für gewöhnlich um zwölf Uhr. Heute jedoch wird es
später werden, da auf das Erscheinen der Frau Baronin
gewartet wird.«
Ei, sieh mal einer an, welche Macht sie hier besaß, da man
sich sogar mit dem Essen nach ihr richtete! Sie wollte sich
wieder in hohnvolle Betrachtungen verlieren, als die Zofe
schüchtern sagte, daß das Bad bereitet wäre.
Schön, ging sie eben baden, bestimmte dann die Sachen,
die sie anzuziehen wünschte. Sie waren sämtlich
Geschenke der Tante, daher nicht so märchenhaft wie die,
die im Schrank prunkten und wohl eine Hochzeitsgabe des
Gatten bedeuten sollten, aber immer noch schön genug,
um ein Aschenputtelchen in eine Prinzessin zu
verwandeln.
Als sie dann einen Blick in den großen Spiegel warf, kam
sie sich selbst fremd vor. Seit wann besaß sie ein so zartes
Gesicht wie milchiges Glas? Und seit wann waren ihre
Augen so groß und dunkel, die Haare glänzend und weich
wie gesponnene Seide?
Ach ja, sie war verwandelt, seitdem sie sich aus den
seidenen Kissen ihres Lagers erhoben hatte -
Dann schritt sie über dicke Teppiche, durch hohe Räume,
bis sie endlich das Speisezimmer erreicht hatte.
In den bequemen Sesseln vor dem mächtigen Kamin saßen
plaudernd die Tante und Krafft. Bei Ilse-Sibylles Eintritt
sprang er auf, ging ihr entgegen und begrüßte sie.
Seine Augen glitten über sie hin mit prüfendem Blick. Die
Musterung schien zur Zufriedenheit ausgefallen zu sein,
nichts von Mißbilligung zeigte sich in seinem Gesicht.
»Wie hast du geschlafen, Ilse-Sibylle?«
»Danke – ausgezeichnet«, log sie, wie sie fortan immer
lügen würde. Begrüßte dann die Tante, die ihr herzlich
zulächelte. Also schien sie ihr nicht mehr böse zu sein –
Gott sei Dank!
Und dann lernte sie kennen, wie man in Dünentrutz
speiste. Lautlos huschten die Diener umher, reichten die
Speisen, waren jedes Winkes gewärtigt.
Ilse-Sibylle beneidete die Tante, die so zwanglos dasaß und
sich äußerst wohl zu fühlen schien. Diese hatte schon
heimlich davor gebangt, wie sich die Nichte in der feudalen
Umgebung zurechtfinden würde. Sie kam zwar nicht aus
ärmlichen, so doch aus schlichten Verhältnissen. Und es
war nicht so einfach, Herrin auf Dünentrutz zu sein. Krafft
gab viel auf Äußerlichkeiten, vornehme Lebensart war ihm
Bedürfnis.
Nun, an Ilse-Sibylles Benehmen war gewiß nichts
auszusetzen. Sie erschien so selbstsicher, als war ihr das
alles selbstverständlich.
Als man später im Nebenzimmer den Mokka trank, sagte
Krafft:
»Falls du irgendwie eine Änderung wünschest, Ilse-Sibylle,
so wende dich an Frau Lina. Ich möchte dich bitten, sie als
zur Familie gehörig zu betrachten. Sie ist eine treue Seele
und zehr zartfühlend.«
Erstaunt sah sie ihn an.
»Ich – Änderungen wünschen, Baron von Broede? Wie
käme ich denn dazu!«
»Nun, die Pflichten, die du hier hast – «
Sie warf den Kopf in den Nacken mit der ihr eigenen
stolzen Gebärde.
»Pflichten habe ich meiner Ansicht nach nicht hier. Ich bin
ein Gast und werde es bleiben. Vielleicht bringen Sie das
der Dienerschaft bei.«
»Ich soll doch womöglich nicht deine törichten Worte ernst
nehmen, mein Kind?« spottete er. »Ich werde mich hüten,
mich vor meinen eigenen Leuten bloßzustellen. Und dir
würde ich raten, das fremde ›Sie‹ nun endlich zu lassen.
Vielleicht denkst du einmal darüber nach, wie sonderbar
das auf die Umgebung wirken muß.«
»Wozu ich bitte, mich zurückziehen zu dürfen«, war die
gereizte Erwiderung. Ein unnachahmlich stolzes
Kopfneigen, dann verließ sie das Zimmer.
»Donnerwetter – das ist ja ein ganz gefährliches Hexchen!«
sagte Krafft ebenso verblüfft wie anerkennend, und die
Tante lachte.
»O ja, sie hat Krallchen, unsere Kleine. Ich habe immer
gefürchtet, daß sie der schwierigen Aufgabe, Herrin hier zu
sein, nicht gewachsen sein könnte.«
»Daran habe ich nie gezweifelt«, warf er ein. »Sie ist eben
deine Nichte, Tante Marianne.«
Die Zeit eilte dahin. Die Frühlingsstürme brausten über
Wald und Meer. Ilse-Sibylle wurde nicht müde, am Strand
zu stehen und dem gewaltigen Treiben zuzuschauen. Sie
merkte nicht, wie die Heimatliebe in ihr emporwuchs, wie
sie immer mehr Besitz von ihr ergriff.
Überraschend schnell hatte sie sich in ihr neues Leben
hineingefunden, war dem Dünenschloß eine Herrin
geworden, wie man sie sich nicht besser wünschen konnte.
Die Dienerschaft führte Wünsche aus, bevor sie noch so
recht ausgesprochen waren. Selbst Harras wurde seinem
Herrn untreu, wenn er Frauchen auf ihren Spaziergängen
begleiten durfte, die sie jedoch nie weit ausdehnte, weil
Krafft es nicht wünschte.
Der schwermütige Ernst, der die früher so lebensfrohe Ilse-
Sibylle immer noch gefangenhielt, nahm täglich zu. Nie
wieder hatte sie sich so vergessen wie an dem Tag der
Hochzeit. Sie ließ alles wortlos über sich ergehen, hatte
höchstens einmal ein spöttisches, mit Bitterkeit
durchtränktes Lächeln.
Nur nachts, wenn sie die Maske fallen lassen durfte, weinte
sie sich oft in den Schlaf.
Die Liebe zu ihrem Mann wurde immer heißer, immer
tiefer. Was half es, daß sie krampfhaft nach Fehlern suchte,
um seine Person vor sich selber herabsetzen zu können, –
sie fand keine. Die Erfahrungen, die Tante Marianne mit
ihm gemacht haben wollte, zweifelte sie schon längst an.
Wer konnte wissen, wie alles gewesen war!
Sie sah ihn doch täglich vor sich, den selbstsicheren Mann.
Mochte er manchmal auch noch so arrogant und spöttisch
sein – doch ehrlos, nein, das war er bestimmt nicht. Was
konnte er dafür, daß ihn das bevorzugte Leben, das er
führte, zu dem gemacht hatte, was er jetzt war? Wie sollte
er an Frauenreinheit und Frauenliebe glauben, da man ihm
so entgegenkam?
An einem Frühlingstag, als die Veilchen den Wald
durchdufteten, Frühlingsstürme das Meer aufpeitschten zu
brausenden Wellen, erklärte Krafft so nebenbei, daß er zu
verreisen gedächte. Wie lange er fortbleiben würde, wüßte
er noch nicht.
Ilse-Sibylle setzte fast der Herzschlag aus vor Schreck. Jetzt
konnte er Verlangen nach einer Reise haben, wo es
nirgends schöner sein konnte als in dem waldumrauschten
Dünenschloß? Besaß der Mann denn wirklich weder Herz
noch Gemüt? Konnte er sich für nichts erwärmen – auch
für seine wunderschöne Heimat nicht?
Fort wollte er, vielleicht für lange Zeit. Das machte ihr Herz
bitter schmerzen. Sie verkrampfte die zitternden Hände im
Schoß, um nicht die Erregung zu verraten, die in ihr tobte.
Sie sollte ihn nicht mehr sehen, wochenlang, gar
monatelang? Sollte seine dunkle, herrische Stimme nicht
mehr hören, seine stolze Gestalt nicht mehr sehen.
Das würde sie ja gar nicht ertragen können!
Sei doch zufrieden! spottete der Verstand. Du hast dich
doch oft von ihm fortgesehnt. Nun er geht, ist es auch
nicht recht. Hast es ja arg genug getrieben.
Hat dieser Mann es nötig, sich von dir schlecht behandeln
zu lassen? Da geht er doch lieber dahin, wo das Leben
lacht, die Liebe winkt. Wird im Lebensstrudel untertauchen
und sehr bald vergessen, daß es eine Ilse-Sibylle gibt mit
ihrem nonnenhaften Wesen.
»Bleib hier, geh nicht fort!« hätte sie rufen mögen. »Sei
doch, wie du willst, nur bleib hier!«
Doch sie schwieg. Hatte immer noch nicht gelernt, ihren
Stolz zu bezwingen.
Wie im Traum hörte sie die Tante sprechen, die wissen
wollte, wohin die Reise gehen sollte.
Die nordischen Länder wollte er durchstreifen, die er nur
flüchtig kannte. Er könnte sich das jetzt leisten, da er den
Betrieb hier bei Herrn von Lürstädt in den besten Händen
wüßte. Zum Schluß bat er noch die Damen, nicht von
Dünentrutz zu gehen, ihm sein Haus zu verwalten.
Und er fuhr wirklich. Mit verweinten Augen starrte Ilse-
Sibylle in das Morgengrauen hinaus, dessen Stille die Hupe
des Autos zerriß. In ihm fuhr der Gebieter davon, um die
Schönheiten der Welt zu genießen, die gewiß nicht schöner
sein konnten als die der Heimat.
»Da schlag einer lang hin! Lo, du kleiner Racker, willst du
wohl! Wirst mir wohl eines Tages als Kunstreiterin durch
die Lappen gehen, wie? Doch vorher brichst du dir Hals
und Bein, verlaß dich drauf!«
Herr Julius Rainer stand auf dem Hof seines großen Gutes
Unruh und drohte seiner Tochter, die auf dem
galoppierenden Gaul rundum jagte. Aus den Stalltüren
lugten die lachenden Gesichter der Gutsleute.
Die zierliche, unendlich grazile Gestalt der jungen Dame
stand in gelassener Ruhe auf dem Rücken des Pferdes, als
stünde sie auf der Erde. In dem Gesicht des Vaters
wetterleuchteten die klarblauen Augen in frohem Stolz. Die
hünenhafte Gestalt spannte sich, um die Tochter
aufzufangen, die vom Gaul direkt in seine Arme sprang.
Augenblicklang hielt er das zarte Figürchen an seiner
breiten Brust fest. Dann stellte er es auf die Erde und lachte
in seinem dröhnenden Baß.
»Bist doch ein kleiner Teufel, Marjellchen! Daß du nicht als
Junge geboren bist, das kann ich bis heute noch nicht
begreifen.«
»Das ist allerdings sehr betrüblich«, meinte sie ungerührt.
»Aber dafür bin ich auch weniger dumm und arrogant.«
»Doch um so schnippischer«, versuchte der Vater sich zu
entrüsten, wobei jedoch ein Schmunzeln über sein
wetterhartes Antlitz glitt. »Ein unglaublicher Racker bist du,
den ich von vornherein besser an die Strippe hätte nehmen
sollen.«
»Da du es unterlassen hast, mußt du nun für die
Unterlassungssünde büßen«, war die seelenruhige Antwort.
»Paß auf den ›Irrwisch‹ auf, er ist erhitzt!« rief sie über der
Schulter dem Stallburschen zu, der das Pferd fortführte.
Dann hakte sie sich in den Arm des Vaters und ging mit
ihm gemächlichen Schrittes dem Herrenhaus zu. Ihre
mittelgroße Gestalt verschwand fast neben seiner
hünenhaften.
Einträchtig betraten sie die weite Halle, die den Wohlstand
des Hauses verriet. Eine der schweren Eichentüren öffnete
sich, und die Herrin erschien, noch zarter und zierlicher als
die Tochter.
»Lo, Mädel, du wirst dir wirklich noch Hals und Beine
brechen!« rief sie lachend.
»Was ich ihr auch schon prophezeit habe«, bestätigte der
Gatte.
Man hatte gelacht, als der Riese das elfenhafte Wesen zur
Frau nahm. Doch er hatte ernsthaft gemeint, um so besser
wäre er in der Lage, sein Frauchen auf den Händen durchs
Leben zu tragen. Und das hatte er auch getan. Wohl selten
wurde eine Frau von ihrem Mann so vergöttert wie Frau
Felicitas Rainer. Und wohl selten dankte es eine Frau dem
Mann so, wie diese es tat.
Zwar glich die Tochter der Mutter, hatte jedoch noch etwas
Fremdes in ihrer Erscheinung, das nicht von den Eltern
stammte.
Wenn man das bestrickende Persönchen sah, dessen
Köpfchen mit den strahlenden Unschuldsaugen einem
Engelsbilde glich, dann nahm man an, daß es die Sanftmut
selbst sein müßte. Doch das war absolut nicht der Fall. Der
Vater hatte schon recht, wenn er das Töchterlein einen
kleinen Racker nannte.
Mutter und Tochter sahen wie Schwestern aus. Ihr
Verhältnis zueinander war das denkbar innigste.
»Zieh dich um, mein Lolokind«, sagte Frau Felicitas nun.
»Du siehst wie eine kleine Wilde aus.«
»Wird prompt besorgt, Gebieterin des Hauses«, wurde
vergnügt erwidert. Pfeifend sprang sie die Treppe hinauf
und verschwand in ihrem Zimmer. Die Gatten sahen sich
lachend in die Augen.
»Ist ein Prachtmarjellchen, unsere Lo«, schmunzelte der
Vater. »Wächst mir leider jetzt übern Kopf.«
»Als ob das jemals anders gewesen wäre!« lachte die Gattin
ihr warmes, herzliches Lachen, und der Baß des Eheherrn
fiel dröhnend ein.
Eng umschlungen betraten sie das Speisezimmer, in dem
sich der verfeinerte Geschmack der Herrin bemerkbar
machte, wie in den anderen Räumen auch. Im Unruher
Herrenhaus war alles vornehm, licht und traut – genauso
wie der Charakter der Frau Felicitas.
Auf dem runden Speisetisch summte die Kaffeemaschine.
Die Frühlingssonne warf ihre Strahlen über das schneeige
Gedeck, das hauchdünne Porzellan. Die Gatten ließen sich
an diesem einladenden Tisch nieder, und die Herrin des
Hauses schenkte den duftenden Trank in die feinen
Schalen. Der Gatte hielt ihre Hand liebkosend fest, als sie
ihm die seine reichte. Zärtlich gab sie seinen Blick zurück.
Die Tochter trat ein. Wirkte in dem eleganten Kleid noch
entzückender, als in dem Reitanzug. Unglaublich reizend
war die kleine Person, von dem lichtblonden
Lockenköpfchen angefangen bis zu den winzigen Füßchen
hinab. Vergnügt nahm sie Platz und ließ sich Kaffee und
Kuchen gut schmecken.
»Hör mal, Papsi«, ließ sich ihre weiche, einschmeichelnde
Stimme vernehmen.
Der Vater horchte auf. Wenn die Kleine so anfing, dann gab
es immer etwas Besonderes.
»Nun, was gibt’s?« brummte er.
»Wir verreisen doch im Sommer, nicht wahr?«
»Wenn du mit der Mutter reisen willst, habe ich nichts
dagegen. Ich kann nicht mit, weil ich den Bau der neuen
Scheune vorhabe.«
»Wenn du nicht mitkommst, dann bleibe ich auch hier«,
sträubte Frau Felicitas sich. »Was fällt dir überhaupt ein,
Lo? Kann es irgendwo noch schöner sein als bei uns, wo
wir Wald und See sozusagen vor der Tür haben? Wenn du
das Badeleben mitmachen willst, ist es nur ein
Hasensprung nach den Kurorten. Wozu hast du denn das
Auto, das der Vater dir unbedingt schenken mußte? Das
kannst du nun gut gebrauchen. Wir fahren im Winter,
wenn unser lieber Paps uns begleiten kann.«
»Ich möchte aber im Sommer fort«, trotzte Lo. »Glaubst du,
mir macht es Vergnügen, zu Hause zu sitzen, während
jeder Grasäff eine Sommerreise macht!«
»Elisabeth-Charlotte, ich finde – «
»Ach, laß doch, alter Herr!« unterbrach sie den Vater.
»Wenn du feierlich wirst, das steht dir nicht.«
Als eine Falte auf seiner Stirn, sichtbar wurde, sprang sie
auf und schmiegte sich wie ein Kätzchen auf seinen Schoß,
legte ihre weiche Wange an seine wetterharte.
»Sei lieb, Julius!« schmeichelte sie. »Ich bin ja doch ein
hoffnungsloser Fall. Du fängst viel zu spät mit deinem
Erziehungswerk an. Das ist so, als wolltest du einem Esel
das Seiltanzen beibringen.«
In seinem Gesicht zuckte es, halb ärgerlich, halb amüsiert.
»Lo, du bist furchtbar frech«, tadelte die Mutter, sich zu
einem ernsten Ton zwingend. »Man nennt seinen Vater
nicht beim Vornamen. Sieh dir andere Kinder an. Keines ist
so respektlos wie du.«
»Es hat auch keines seinen Vater so lieb wie ich meinen
guten Papsi«, entgegnete das Mädchen ungerührt, und da
wurde die Mutter ernstlich böse.
»Lo, wenn dich jemand hört! Wofür müssen uns die
Menschen halten!«
»Die Menschen können uns den Buckel herunterrutschen,
alte Dame – «
Jetzt lachte Herr Rainer los, laut und herzlich.
»So bist du nun, Julius!« schalt die Gattin. »Wenn ich noch
einmal durchgreifen will, dann verdirbst du mir alles. Das
Gör ist bodenlos verzogen. Beträgt sich nicht wie ein
zweiundzwanzigjähriges Mädchen, sondern wie ein
ungezogenes Baby!«
Ihre Entrüstung fand absolut kein Gehör, sie wurde
herzlich ausgelacht. Und schließlich mußte sie halb
widerwillig mitlachen.
Der Vater bekam seine Tochter bei den rosigen Öhrchen zu
fassen.
»Frech bist du Balg allerdings fürchterlich«, schmunzelte er.
»Zur Strafe müßte ich dir die Neuigkeit vorenthalten, daß
du eine Base hast.«
»Wann habe ich die denn bekommen?« fragte Lo verblüfft.
»Bis jetzt war ich doch immer das einzige Prachtstück in
der Familie. Du hattest doch nur einen Bruder, Mutti war
einziges Kind. Und Ilse-Sibylle und Arnulf Rainer sind bei
einem Autounfall tödlich verunglückt.«
»O nein, Ilse-Sibylle lebt!«
Sekundenlang weidete er sich an den fassungslosen Blicken
seiner Lieben, bis er dann weitersprach:
»Die Tochter meines verstorbenen Bruders ist die Baronin
Broede -Herrin auf Dünentrutz«, meldete er feierlich.
Lo glitt von seinem Schoß und stand nun erregt vor ihm.
»Vater – wenn du damit einen Scherz treibst –?!«
»Fällt mir gar nicht ein, Marjellchen«, winkte er gemütlich
ab. »Ich werde dir erzählen, wie ich deine totgeglaubte Base
entdeckte.
Also: Ich traf heute vormittag mit einigen Herren
zusammen, deren Unterhaltung sich um den Baron von
Broede und seine schöne Frau drehte. Der eine der Herren
meinte, der standesstolze Broede müsse doch toll verliebt
sein, weil er eine Bürgerliche geheiratet hat. Ich wurde nun
auch neugierig, wollte den Mädchennamen der
Vielgeliebten wissen. Den konnte man mir nicht nennen.
Man wußte nur, daß sie eine Nichte der Frau Oberst von
Bruckheim wäre und Ilse-Sibylle hieße.
Nun wurde ich stutzig. Zufällig lief mir gleich darauf der
Lürstädt in die Arme, den ich dreist und gottesfürchtig nach
dem Mädchennamen seiner Herrin fragte. Und siehe da:
Ilse-Sibylle Rainer, die Tochter des verstorbenen
Geigenvirtuosen. Na, was sagst du nun?«
Vorläufig sagte Lo gar nichts. Doch dann stellte sie die
berechtigte Frage:
»Und warum hält Ilse-Sibylle sich von uns fern?«
»Wahrscheinlich hat sie keine Ahnung, daß wir ihre
Verwandten sind. Ihre Mutter war eine standesstolze Frau,
obgleich sie einen Bürgerlichen heiratete. Da hat sie es
nicht für nötig befunden, ihren Kindern von uns zu
erzählen. Kann man wissen, ob die Ilse-Sibylle nicht
ebenso ist? Immerhin hat sie die überkandidelte Frau
Oberst zur Tante und den arroganten Broede zum Mann.
Nee, Kinderchen, da wollen wir uns die Nase nicht
verbrennen, sondern hübsch abwarten.«
Mutter und Tochter waren damit zwar nicht einverstanden,
mußten sich jedoch zufriedengeben.
Lo fragte nun:
»Sag Paps, ist Herr von Lürstädt nicht der Mann, der die
Güter des Barons verwaltet?«
»Ja. Nebenbei ist er noch genauso ein hochnäsiger,
arroganter Bengel wie sein Herr. Bildet sich auch ein, eine
Extrawurscht vom lieben Herrgott verlangen zu dürfen.«
»Er soll aber ein schöner Mann sein.«
»Weiß ich nicht. Sieht genauso aus wie andere Menschen.
Hat die Nase lang, den Mund quer. Aber was dran muß
schon an ihm sein, weil die Erbtöchter hinter ihm her sind.
Nun ihnen der Broede durch die Lappen gegangen ist,
angeln sie nach dem zweiten von der Sorte. Wird sich eines
Tages schon ein Goldfischchen holen und mit dessen Gold
seine zerrütteten Finanzen auffrischen. Seine Verwandten
haben es nämlich fertig bekommen, sein Gut zu
verwirtschaften, während er sich mit den Feinden
herumschlug. Er war Oberleutnant in Broedes Schwadron.
Daher setzte dieser ihn aus alter Kameradschaft als
Verwalter über seine Güter.«
Der Gedanke, daß ihre Base in der Nähe wohnte, verfolgte
Lo unablässig. Sie ließ dies nicht laut werden, weil der
Vater das nicht wünschte. Man war in Unruh daran
gewöhnt, den Willen des Herrn zu respektieren. Wenn sie
Ilse-Sibylle nur einmal erwischen könnte!
Und das sollte bald geschehen.
Dünentrutz und Unruh waren Nachbargüter. Lo liebte
Wald und See ebenso wie ihre Base. Auch sie konnte
stundenlang am Strand verweilen.
Als sie nun eines Tages dort entlangschlenderte, kam ihr
Ilse-Sibylle entgegen. Sie stutzten – sahen sich wie
entgeistert an, weil jede fast sich selbst zu sehen glaubte –
und da packte Lo die Gelegenheit beherzt beim Schopf.
»Guten Tag, Ilse-Sibylle!« sagte sie vergnügt. Lachte hellauf,
als sie die abweisende Miene der anderen sah.
»Brauchst mich nicht in die Schranken zu weisen mit Blick
und Gebärde, Frau Baronin. Ich bin nämlich deine ganz
richtige Base. Weißt du wirklich nicht, daß du in der Nähe
Verwandte hast?«
»Ich soll Verwandte hier haben?«
»Natürlich. Dein Vater war der Bruder des meinen.
Elisabeth-Charlotte Rainer ist mein werter Name. Ach, Ilse-
Sibylle, ich freue mich ganz närrisch, daß ich dich endlich
erwischt habe! Und nun schere dich nicht um Anstand und
Sitte – komm gleich mit mir nach Unruh, damit du meine
prächtigen Eltern kennenlernst!
Oder willst du nicht? Bist du ebenso adelsstolz wie deine
Mutter? Dann verzeih!«
»Elisabeth-Charlotte, welch eine törichte Annahme! Ich
trug bis vor einigen Wochen den Namen Rainer. Ich will
gern mit dir kommen.«
Plaudernd wanderten sie am Strand entlang, als kennten
sie sich schon lange. Ilse-Sibylle, die sich nur schwer einem
Menschen anschloß, fühlte sich zu der Base sogleich
hingezogen.
Als sie Unruh erreicht hatten, ließ die junge Baronin ihre
Augen entzückt umherschweifen.
»Wie schön ist das hier!«
»Nicht wahr?« entgegnete Lo erfreut. »Meine Heimat ist
wunderschön. Ich glaube, ich würde sterben, wenn ich sie
verlassen müßte.«
Sie betraten die Halle, gingen durch einige Zimmer, bis sie
die Terrasse erreicht hatten, auf der Los Eltern beim
Nachmittagskaffee saßen. Beim Anblick der fremden Dame
sprang Herr Rainer auf.
»Das ist Ilse-Sibylle«, erklärte das Mädchen vergnügt und
lachte dann übermütig über die verdutzten Gesichter der
Ihren.
Ilse-Sibylles Blick ging an dem Hünen hoch, der so gar
keine Ähnlichkeit mit ihrem verstorbenen Vater hatte.
»Guten Tag«, lächelte sie. »Ich hatte bis vor einer Stunde
zwar noch keine Ahnung, daß ich in der Nähe einen Onkel
habe – aber jetzt freue ich mich.«
Diese schlichten Worte genügten, um das Herz des
gutmütigen Mannes zu gewinnen.
»Gott sei Dank, Marjellchen!« lachte er. »Und dies ist
meine Frau.«
Die Damen musterten sich kritisch, und dann wurde der
Gast in die Arme gezogen.
»Ich habe dich schon jetzt lieb, Ilse-Sibylle, weil du meiner
Lo so ähnlich siehst. Ihr könntet beide als Schwestern
gelten.«
»So schön soll ich sein?!« rief Lo begeistert. »Da bin ich
aber stolz!«
»Bilde dir man keine Schwachheiten ein!« dämpfte der
Vater. »Die Mutter sieht durch eine rosarote Mutterbrille.
Fehlt nur, daß sie dich noch schöner findet. Fertig kriegt sie
das schon.«
Da lachte Ilse-Sibylle herzlich. Seit Monaten hatte sie nicht
mehr so gelacht.
Und dann kam eine gemütliche Kaffeestunde. Der Gast
mußte von sich erzählen und hatte dabei teilnehmende
Zuhörer.
Ilse-Sibylle wurde das Herz bitter schwer. Warum habe ich
von diesen Menschen nichts gewußt? grollte sie mit ihrem
Geschick. Ich wäre hierher geflüchtet, hätte bei diesen
lieben Menschen eine Zuflucht gefunden. Hätte Krafft von
Broede nicht kennengelernt – und damit nicht das Leid
meines Lebens.
Als sie sich verabschiedete, mußte sie versprechen, bald
wiederzukommen.
Lo fuhr sie in ihrem Auto nach Dünentrutz. Neugierig
musterte sie das Schloß.
»Das sehe ich heute zum erstenmal aus der Nähe, obgleich
die Broedes und wir Nachbarn sind. Sehr hochmütige
Leute waren das, selbst die engelhafte Baroneß. Aber schön
ist es hier, Ilse-Sibylle. Du bist ja die reinste
Märchenprinzeß.«
»Deine Heimat ist wohl weniger schön, Lo?« lenkte die
Bewunderte ab, der bei der Base Worten das Herz weh tat.
»Gewiß nicht. Unruh ist für mich sogar noch viel schöner,
weil es meine Heimat ist. Also dann, auf baldiges
Wiedersehen, Ilse-Sibylle!«
»Willst du nicht mit mir kommen, Lo?«
»Heute nicht. Deine Tante könnte es ungezogen finden,
wenn ich so formlos bei euch erscheine.«
Fröhlich winkend fuhr sie davon, und Ilse-Sibylle suchte
die Tante in deren Wohnzimmer auf. Sie war so froh
bewegt wie schon lange nicht mehr.
»Tante Marianne, wußtest du, daß ich hier in der Nähe
Verwandte habe?« rief sie ohne jede Einleitung.
»Du hast hier Verwandte?«
»Ja, denke dir nur! Ganz zufällig traf ich meine Base
Elisabeth-Charlotte Rainer am Strand. Sie nahm mich
gleich nach Unruh mit und machte mich mit ihren Eltern
bekannt. Sind das herzliche, liebe Menschen!«
»Ilse-Sibylle, was ist das für ein konfuses Zeug! Sprich mal
vernünftig!«
Nun begann sie ausführlich zu erzählen. Doch je länger sie
sprach, um so weniger schien die Tante ihre Freude zu
teilen. Zu deutlich spiegelte sich ihr Empfinden in ihrem
Gesicht wider.
»Tante Marianne, was hast du denn? Sind dir die Menschen
etwa nicht gut genug?«
»Was für ein törichter Einfall, Ilsibyll! Aber – verstehe mich
nur richtig, mein Herz – ich habe dich so lieb, daß ich
ungern teilen möchte.«
Da legte sie schmeichelnd ihre Arme um den Hals der
Betrübten.
»Tante Marianne«, sagte sie vorwurfsvoll, während Tränen
ihren Blick verdunkelten, »hältst du meine Gefühle denn
für so wankelmütig? Dich liebte ich früher als meine
Verwandten – «
Erregt zog Frau von Bruckheim sie an sich.
»Ilsibyll, Liebling, du bist ja das einzige, was mir geblieben
ist – du – und der Krafft!«
Jetzt schämte Ilse-Sibylle sich, daß sie vor einer Stunde
noch gewünscht hatte, lieber zu den Unruher Verwandten
als zu dieser Tante gekommen zu sein.
Sie war nun fast täglich in Unruh, während die Verwandten
ihren Besuch in Dünentrutz noch nicht gemacht hatten. Bis
die Tante sie aufmerksam machte, daß sie die ihr so lieben
Menschen einladen müßte.
»Wie käme ich denn dazu, mir da Gäste einzuladen, wo ich
selbst nur Gast bin?« fragte Ilse-Sibylle abweisend.
»Da stehst du auf einem ganz falschen Standpunkt, mein
Herz. Was sollen deine Verwandten denken.«
»Vielleicht das Richtige!« warf Ilse-Sibylle erregt ein. »Ich
glaube nicht, daß es Krafft angenehm wäre, wenn ich ihm
fremde Menschen ins Haus brächte.«
»Mein liebes Kind, ist dir denn schon jemals ein Mensch
vorgekommen, der taktvoller und großmütiger wäre als
dein Mann?«
»Jawohl – großmütig!« lachte sie bitter auf. »Seine
Großmut geht so weit, daß er eher aus seinem Hause flieht,
als mich gehen heißt. Überall wundert man sich, daß
gerade Krafft von Broede eine Bürgerliche zur Frau nahm.
Daraus kannst du ersehen, wie groß das Opfer war, das er
brachte – dir, Tante Marianne, nicht mir. Frage nur Herrn
von Lürstädt, der kennt Krafft sehr gut und weiß, wie sehr
er an Dünentrutz hängt. Er erzählte mir auch, wie ungern
sein Herr reist, und wundert sich, wie lange er diesmal in
der Ferne aushält. Oh, hätte der taktvolle Freiherr von
Lürstädt nur geahnt, wie sehr mich seine Worte trafen, wie
sie mir bestätigten, was ich längst ahnte – er hätte sich eher
die Zunge abgebissen, als sie zu sprechen.«
Der Tante wurde das Herz schwer. Da hatte sie geglaubt,
daß die Nichte sich mit ihrem Schicksal abgefunden hätte;
doch wie weit sie noch davon entfernt war, zeigte die tiefe
Bitterkeit, mit der sie sprach.
Trotzdem setzte Frau von Bruckheim durch, daß Familie
Rainer nach Dünentrutz eingeladen wurde. Auch sie fand
Gefallen an den vornehmen, herzlichen Menschen und war
sehr dafür, daß zwischen Unruh und Dünentrutz ein reger
Verkehr begänne.
Der Herbst kam mit seinem stürmenden Wetter. Und
immer noch weilte Krafft von Broede in der Fremde. Er
hatte noch nicht einmal geschrieben. Hätte er nicht mit
seinem Verwalter in geschäftlichem Briefwechsel
gestanden, so hätte man gar nicht gewußt, wo er sich
aufhielt. Und als Lürstädt eines Tages gar sorgenvoll
bemerkte, wie rastlos sein Herr diesmal in der Welt
umherhastete, bald hierhin, bald dorthin, da wurde es Ilse-
Sibylle zur Gewißheit, daß es ihretwegen geschah.
Sie hatte noch nie die Zimmer des Gatten betreten. Und
seitdem er fort war, hielt Frau Lina sie unter Verschluß. Als
sie nun an einem Tag den Arbeitsraum säuberte, ging Ilse-
Sibylle vorüber und trat nach längerem Zaudern durch die
weit geöffnete Tür. Frau Lina, die gar nicht erstaunt war,
ihre Herrin hier zu sehen, nickte ihr freundlich zu. Ein
frischer, herber Duft durchwehte das weite Gemach,
welcher auch der Person des Eigentümers anhaftete. Ilse-
Sibylle ließ ihre Blicke umherschweifen, bis sie dann an
den vier Bildern haften blieben.
In dem Augenblick meldete sie sich auf den Ruf der Tante,
die gleich darauf eintrat.
»Ilsibyll, wo steckst du?«
Das Wort erstarb ihr im Mund, als sie der Gemälde
ansichtig wurde. Ihr Gesicht überzog sich mit fahler Blässe,
die Frau Lina nicht entging.
»Ja, ja, die beiden gehören zusammen«, zeigte sie auf die
Baroneß und dann auf Burkhard. »Das sagt auch der Herr
Baron. Ich kann es bis heute noch nicht vergessen, als man
die vier tot ins Schloß brachte – und die Verzweiflung des
Herrn – «
Augenblicklang herrschte beklemmende Stille, die dann die
tonlose Stimme Frau von Bruckheims unterbrach:
»Liebe Frau Lina – wollen Sie mir nicht erzählen, wie das
damals alles war?«
Dazu war diese nur zu gern bereit. Unendlich traurig und
tränenerstickt sprach sie:
»Es war an einem stürmischen Herbsttag vor fast vier
Jahren. Weil unser Baroneßchen seit Wochen schon gar
nicht lachen wollte, schenkte der Herr Baron ihr ein Auto,
das sie sich schon lange wünschte. Darüber freute sie sich,
machte die Fahrprüfung, lenkte dann das Auto selbst und
fuhr sich und die Eltern damit in den Tod, und der Herr
Burkhard folgte ihr.«
Frau Marianne, die sich kaum noch aufrecht halten konnte,
fragte erregt:
»War eigentlich noch jemand dabei, als das – Unglück
geschah?«
»Ja. Der Freiherr von Lürstädt. Und dann noch ein Herr
Schwerling, der in der Stadt ein Goldwarengeschäft
besitzt.«
Ilse-Sibylle, welche die Not der Tante spürte, zog sie von
dieser traurigen Stätte fort, drückte sie in dem
Wohnzimmer in einen Sessel. Kniete vor ihr nieder und
umfaßte sie in heißer Herzensangst.
»Tante Marianne, liebe, liebe Tante Marianne!« flehte sie.
»Sag mir doch, warum du so entsetzlich leidest!«
»Noch nicht – « kam die Antwort rauh und gepreßt. »Zuerst
muß ich volle Gewißheit haben. Geh, mein Herz, schicke
mir Herrn von Lürstädt.«
Zehn Minuten später stand er vor ihr. Sie musterte seine
rassige Reitergestalt erregt.
»Herr von Lürstädt, ich wende mich an Sie in meiner Not.
Waren Sie damals dabei als das Unglück geschah, als man
auch meinen Sohn hierher brachte?«
»Ja, gnädige Frau.«
»Wollen Sie mir bitte genau erzählen, wie alles
zusammenhing?«
»Bedaure sehr. Ich kann darüber nicht sprechen – ich gab
mein Wort.«
»Ich habe aber ein Recht, es zu erfahren!«
»Ich darf nicht sprechen, gnädige Frau.«
»Wollen Sie denn zulassen, daß ich noch immer mehr
Schuld auf mich lade?«
»Ich kann nicht anders.«
Nun sah sie ein, daß sie den Mann nie und nimmer zum
Sprechen bewegen konnte. Prüfend hing ihr verzweifelter
Blick an ihm, der in gestraffte Haltung vor ihr stand.
»So – dann nichts für ungut, Herr von Lürstädt.«
Er schlug die Hacken zusammen, verharrte einen
Augenblick in tadelloser Verbeugung, dann ging er. -
Ohne Ilse-Sibylle vorher zu sprechen, fuhr Frau von
Bruckheim zur Stadt. Ihr Ziel war das große
Juweliergeschäft, in dem sie ihren Schmuck verkauft hatte,
um der Nichte eine gute Garderobe anschaffen zu können.
Sie bat den Inhaber um eine Unterredung, der sie höflich
in sein Arbeitszimmer führte. Dort bot er der Dame einen
Sitz, während er vor ihr stehen blieb.
Prüfend musterte sie seine elegante, vertrauenerweckende
Erscheinung.
»Dürfen Sie vielleicht auch nicht sprechen?« begann sie
ohne jede Einleitung in bitterem Ton, worauf ein
überraschter Ausdruck über sein Gesicht flog. Er war jedoch
sofort im Bilde.
»Gewiß werde ich sprechen, gnädige Frau – doch nur dann,
wenn ich darf.«
»Natürlich, nur wenn Sie dürfen«, wiederholte sie in immer
größer werdender Bitterkeit. »Also kann ich unsere
Unterredung als beendet betrachten, bevor sie noch
begonnen hat.«
»Vielleicht kann ich Ihnen doch helfen, gnädige Frau.«
»So. Dann zuerst die Frage: Gaben Sie Ihr Wort, über die
Angelegenheit, die meinen Sohn betrifft, zu schweigen?«
»Nein, mein Schweigen wurde nicht verlangt, was ich
sowieso als Ehrensache betrachte.«
»Dann wollen Sie sprechen?«
»Ja – «, erwiderte er fest. »Und zwar werde ich es tun, weil
es mir nötig erscheint. Werde mir dadurch sicherlich die
Ungnade des alten Herrn von Broede zuziehen, aber das
muß ich dann schon in Kauf nehmen. Aber ich muß Sie
darauf aufmerksam machen, gnädige Frau, daß es weh tun
wird, wenn ich spreche.«
»Gleichviel, ich muß endlich Gewißheit haben! Waren Sie
damals in Dünentrutz während der Tragödie?«
»Ja. Der Herr Baron hatte mich zu sich bestellt, um eine
Sache richtigzustellen.«
»Und was war das?«
Nun zögerte er doch mit der Antwort. Sein Blick hing
teilnehmend an der Frau.
»Reden Sie nun endlich, verschweigen Sie mir nichts!«
forderte sie aufs höchste erregt.
»Wie Sie wünschen, gnädige Frau. Es wurde wertvoller
Schmuck bei mir gekauft, im Auftrage des Barons von
Broede. Ich lieferte ihn ohne Bedenken aus, da ich den
Beauftragten als guten Freund des Barons kannte. Und
diesen Schmuck trug eine Dame, von der man nicht so
recht wußte, woher sie kam und wer sie war.
Diese liebte nun den Baron von Broede – er sie jedoch
keineswegs. Da benutzte sie seinen Freund als Werkzeug,
der das Unglück haben mußte, sich in eine Leidenschaft zu
der Dame zu verrennen. Da sie Schmuck sehr liebte,
überschüttete er sie damit. Und als sein Geld nicht mehr
ausreichte, kaufte er weiter im Namen seines Freundes.
Dieser setzte alles daran, um seinen Intimus von seiner
krankhaften Leidenschaft zu heilen. Allein die Dame war
ein Teufel in ihren Künsten.
Und um diesen Mann litt ein rührend feines
Menschenkind, litt Qualen einer unerwiderten Liebe. Wie
konnte die junge Dame auch ahnen, daß sein Herz von der
Leidenschaft unberührt blieb, daß es ihr nach wie vor
gehörte!
Kurz und gut: Es kam der Tag, der dem verblendeten Mann
ein böses Erwachen brachte. An dem ihn der Ekel vor sich
selbst würgte. Reumütig wollte er sich dem Mädchen
wieder nähern, um Verzeihung zu erflehen.
An dem Abend war ich gerade beim Herrn Baron. Ich hatte
ihm eine Rechnung über die von seinem Freund gekauften
Schmuckstücke geschickt – weil allmählich Mißtrauen in
mir aufstieg. Daraufhin erhielt ich einen Brief, der mich
nach Dünentrutz beorderte. Ruhig hörte er mich an, um
dann in seiner gelassenen Art zu sagen: Ich bin ein
Dummkopf, Herr Schwerling. Selbstverständlich habe ich
den Schmuck durch meinen Freund besorgen lassen. Wie
kann man nur so vergeßlich sein!
Dann überreichte er mir einen Scheck über die Summe, die
ein kleines Vermögen ausmachte.
Als ich mich gerade verabschiedet hatte, trug man des
Barons Eltern und Schwester ins Schloß – tot.
Und noch einen brachte man. Er konnte nicht früher
sterben, bevor er dem Freund seine Schuld gebeichtet hatte.
Bat, ihm nicht zu zürnen, da er unzurechnungsfähig
gewesen sein müßte. Nachdem er wieder klarblickend
geworden war, wollte er zum Freund flüchten, nicht daran
zweifelnd, daß er bei ihm Verständnis finden würde – in
jeder Beziehung. Wollte sich die Baroneß zurückerobern, in
treuem, stetem Werben.
Doch auf dem Weg nach Dünentrutz nahte sein Verhängnis
in Gestalt der Frau, die er nun verabscheute, seitdem sein
Rausch verflogen war. Er wies sie von sich. Allein sie hängte
sich an seinen Hals.
Und gerade da mußte das Auto kommen, das die Baroneß
steuerte. Sie sah die Frau am Hals des geliebten Mannes,
das vertrug ihr Herz nicht. Sie wurde vor Schmerz halb
ohnmächtig, konnte das Lenkrad nicht mehr halten – sie
fuhr in den Abgrund.
Der Mann stürzte dem Auto nach – und als er das Mädchen
tot fand, schoß er sich eine Kugel in die Brust.
Nachdem seine Beichte beendet war, bat er den Freund, der
Mutter gegenüber Stillschweigen zu bewahren. Das waren
seine letzten Worte.
Gnädige Frau, das erschütternde Unglück geschah vor vier
Jahren, doch die Verzweiflung des Barons steht mir immer
noch vor Augen.
Auch Herr von Lürstädt, der gleichfalls anwesend war, wird
sie nicht vergessen können.
Wie ein gefällter Baum fiel Krafft von Broede zu Füßen des
toten Freundes nieder.
Deshalb konnte er auch nicht gleich zu Ihnen eilen,
gnädige Frau. Konnte Ihnen Ihren Sohn nicht selbst
bringen, da er stundenlang besinnungslos lag. Und als
dann, nachdem er gerade das Bewußtsein wiedererlangt
hatte, die Frau vor ihm stand, um die all das Furchtbare
geschehen war, ließ er sie durch den Diener hinausweisen.
Seit der Tragödie ist der Baron ein anderer geworden, dem
keine Frau mehr heilig ist. Der sie nimmt, wie sie sich ihm
geben. Der den Freund rächt, indem er die Herzen der
Frauen bricht.
So – nun bin ich am Ende, gnädige Frau. Gott verzeihe mir,
wenn ich durch meine Erzählung Unheil angerichtet habe.«
In sich zusammengesunken saß die sonst so stolze Frau da
– lange. Endlich hob sie den Kopf und sah ihn mit einem
Blick an, daß ihm das Herz weh tat. Dann reichte sie ihm
die Hand.
»Ich danke Ihnen, Herr Schwerling. Sie haben nur recht
gehandelt. Mein armer, verblendeter Junge kann in meinen
Augen nicht herabgesetzt werden. Allein ich bin nun in der
Lage, eine Schuld zu sühnen. Darf wieder ohne Bedenken
den Menschen lieben, der mir ein zweiter Sohn war. Darf
wieder da lieben, wo ich glaubte, verachten zu müssen.
Nun noch eine Frage, Herr Schwerling: Hatte Krafft von
Broede nicht schon seinen Verlobungstag festgesetzt?«
»Kein Gedanke, gnädige Frau! Alles leeres Gerede. Der
Baron ahnte nichts von dem Glück, das ihm bevorstand.«
»Nur ich fiel auf das Gerede herein. Wühlte im Schmerz,
statt mir Gewißheit zu verschaffen. Sie würden mich
verachten, wenn Sie wüßten – «
»Ich weiß alles. Deshalb sprach ich ja auch, um Ihnen die
Augen zu öffnen. Schmerz macht egoistisch, gnädige Frau.
Sonst hätten Sie längst sehen müssen, daß der Mann litt,
der Ihre Liebe verlor.«
»Und ich habe gewiß noch mehr gelitten, indem ich Jahre
hindurch einsam dahinlebte. Bis meine Nichte kam, da
wurde es besser. Also nochmals meinen herzlichsten Dank,
Herr Schwerling!«
Als Frau von Bruckheim nach Hause kam, lief ihr Ilse-
Sibylle angstvoll entgegen. Und oben im lauschigen
Gemach, das einst Krafft von Broedes Mutter bewohnt
hatte, sprach Frau Marianne zu ihrer Nichte von der Not
und dem Leid vergangener Jahre. Gab alles wieder, was sie
von dem Juwelier gehört.
Ilse-Sibylles Augen weiteten sich vor Entsetzen. Sie
umschlang die bewegte Frau mit beiden Armen.
»Arme, liebe Tante Marianne!« stammelte sie unter Tränen.
Fest zog diese die Nichte an sich, mit glückhafter Gewißheit
fühlend, daß sie nicht mehr einsam war.
Die See schien bis auf den Grund aufgepeitscht zu sein, so
hoben und schoben sich die Wellen empor. Immer
mächtiger brausten sie zum Strand, wenn der Sturm sein
hohnlachendes Spiel mit ihnen trieb. Die Bäume des
Waldes ächzten unter der Gewalt des rohen Gesellen,
empörten sich in mächtigem Rauschen. So ging es schon
tagelang.
Herbststürme! Die liebte Ilse-Sibylle. Hatte das Gefühl, als
müßten sie alles hinwegwehen, was ihr das Leben
verbitterte. Zum Strand hinuntereilen, sich dort fast
umwerfen lassen. Dann mit roten Backen und zerzausten
Haaren zurück ins Schloß. Rasch umkleiden, zur Tante
stürmen, die schon auf sie wartete im wohlig
durchwärmten Zimmer, auf dessen rundem Tisch die
Kaffeemaschine traulich sang.
Ach ja, diese Stunden waren schön. Sie erschienen Ilse-
Sibylle lebenswert.
Ebenso wie die, in denen sie mit Lo musizierte. Diese hatte
der Base ihre Geige zur Verfügung gestellt, was sie
beglückte.
Los Geige war wohl nicht sehr kostbar, aber immerhin gut
genug, um mit Freude darauf spielen zu können.
Ilse-Sibylle übte fleißig und brachte es bald zu einer
Fertigkeit, welche die Base anstaunte. Sie begleitete das
Spiel oft auf dem Klavier, seufzte immer herzerbrechend,
wenn Ilse-Sibylle unzufrieden mit ihr war. Lehnte sich auch
manchmal gegen die bestimmte Art auf, mit der sie belehrt
wurde. Wenn sich dann jedoch Frau von Bruckheim und
der Verwalter als Zuhörer einfanden, nahm sie sich
zusammen.
Winfried von Lürstädt hatte immer nur das Schloß
betreten, wenn sein Herr ihn zu wirtschaftlichen
Besprechungen hinbestellte. Obgleich sie im Krieg Seite an
Seite gekämpft hatten, waren sie sich innerlich fremd
geblieben, da sie sich beide nur schwer an Menschen
anschließen konnten. Krafft von Broede suchte keine
Freundschaft, und Winfried von Lürstädt war zu stolz, um
sich aufzudrängen.
Als der Baron abgereist war, betrat Lürstädt das Schloß
überhaupt nicht mehr. Doch Frau von Bruckheim hatte
eine Schwäche für den ernsten Verwalter. Immer wieder lud
sie ihn ins Schloß ein und setzte dann durch, daß er die
Mahlzeiten dort einnahm und die Abende in Gesellschaft
der Damen verbrachte. So kam es, daß er auch bei den
musikalischen Darbietungen der Basen meist zugegen war.
An einem Herbsttag trieb der Sturm es besonders arg.
Heulend durchwühlte er die See, schüttelte die Kronen der
knorrigen Waldbäume, erschütterte das Geäst.
Nur das alte, festgefügte Schloß erschütterte er nicht. Es
trotzte dem wilden Gesellen, sah verächtlich auf sein
nutzloses Beginnen. Hatte schönere Musik in seinen
Räumen als das wilde Lied da draußen.
Die junge Herrin des Dünenschlosses, schöner noch
geworden denn je zuvor, stand gegen den Flügel gelehnt
und führte den Geigenbogen mit zarter Hand.
An dem kostbaren Instrument saß die wilde Lo, jetzt eifrig
in ihr Spiel vertieft, doch für die Begriffe der Base immer
noch nicht aufmerksam genug. Sie ließ den Bogen sinken,
sah sie an mit unwilligem Blick.
»Lo, paß bitte besser auf! Du mit deinem großen Talent
glaubst flüchtig werden zu dürfen. Dir kommt es nicht
darauf an, wenn du einige Noten ganz einfach
überspringst. Wenn du so weitermachst, kommen wir über
die einfachen Volksweisen nicht hinweg.«
Lo ließ die Strafpredigt mit bewundernswerter Sanftmut
über sich ergehen. Seufzte nur tief auf, schlug die Augen
empor mit Märtyrerblick.
»Brahms, Schubert, Mozart, Mendelssohn – das nennt das
unschuldvolle Kind einfache Volksweisen!«
Die beiden Zuhörer lachten amüsiert. Lo sah zu ihnen hin,
anklagend, mitleiderregend – dann zwang sie sich zur
gewünschten Aufmerksamkeit. Ließ sich von dem
künstlerischen Spiel der Base mitreißen. Voll und weich
durchhallten die Töne das Schloß, zogen Spieler und
Zuhörer in ihren Bann.
Und draußen tobte der Sturm. Regen klatschte gegen die
Fensterscheiben mit dicken, peitschenden Tropfen.
Die vier Menschen hörten nicht, wie es laut wurde im
Schloß. Denn der Gebieter war heimgekehrt,
sturmzerzaust, triefend naß, doch mit lachendem Gesicht.
»Mach schnell, daß ich ins Bad komme«, wandte er sich an
einen alten Diener. »Heinrich ist noch nicht hier.«
Der Ermunterte eilte davon, um seinen Kollegen, der den
Herrn sonst bediente und ihn stets auf seinen Reisen
begleitete, zu vertreten.
Als dann der Heimgekehrte wieder in trockener Kleidung
steckte, ließ er Frau Lina kommen, die angesichts ihres
vergötterten Herrn die Rührung übermannte.
»Gott sei Dank, daß der Herr Baron wieder zu Hause sind!«
stammelte sie unter Tränen.
Er sah sie forschend an.
»Hat man dir etwas zuleide getan, Frau Lina?«
»I bewahre, Herr Baron! Die Frau Oberst ist die Güte selbst
und unsere Frau Baronin einfach ein Engelchen. Nur so
traurig ist sie immer und so zart, daß Gott erbarm. Die Frau
Oberst macht sich Sorge um sie, obgleich sie das nicht
offen zeigt. Eine Zeitlang war es besonders schlimm, bis
dann das Fräulein Lo kam. Da wurde es besser. Der Herr
Baron sollten nicht mehr auf so lange Zeit verreisen.«
In seinen Augen blitzte es auf.
»Hast recht, Frau Lina, es war verkehrt, was ich tat. Doch du
sprachst von einem Fräulein Lo? Wer ist das?«
»Richtig, der Herr Baron weiß ja noch nichts. Herr Julius
Rainer auf Unruh ist der Onkel von unserer Frau Baronin,
und das Fräulein Lo ist seine Tochter. Die Basen sehen sich
ähnlich wie Schwestern.«
Diese Eröffnung überraschte Krafft. Himmel ja, der
Unruher Rainer, daß er da nicht gleich eine Verwandtschaft
Ilse-Sibylles vermutet hatte!
Ihm konnte es recht sein. Er schätzte den aufrechten,
biederen Menschen genauso wie den tüchtigen Landwirt in
ihm. Die Frau war vornehm, die Tochter wirklich reizend.
»Wo ist die Frau Baronin?« erkundigte er sich.
»Im Musikzimmer. Sie musiziert mit Fräulein Lo.«
Er fragte noch verschiedenes, dann nickte er der Guten
freundlich zu und ging zum Musikzimmer.
An der Tür blieb er überrascht stehen. Da war ja ein
wundervolles Bild, das sich seinen Augen bot.
Ilse-Sibylle stand am Flügel, weltentrückt. Weich und
dunkel war der Blick ihrer unergründlichen Augen, die
sehnsuchtsvoll über das Notenblatt hinwegschauten. Schön
war sie geworden, schöner noch als je zuvor.
Und am Flügel saß das entzückende Engelsköpfchen, mit
geröteten Wangen, strahlenden Augen, die in ergriffenem
Eifer auf das Blatt gerichtet waren.
Eine Ähnlichkeit zwischen den Basen war vorhanden,
zweifellos. Und doch, Ilse-Sibylle war anders. Wie zart ihre
Gestalt wirkte, fast zerbrechlich! Und wie jung sie aussah –
unglaublich! Aber ein Zug in dem feinen Antlitz war ihm
noch unbekannt. Er sprach von Herzensnot und Leid.
Und wie beide spielten! Mit gottbegnadetem Talent und
feiner Seele.
Die Augen des Mannes hingen an dem bezaubernden Bild
mit trunkenem Blick. Da war er in der Welt umhergeirrt,
Schönheit und Freude suchend. Glaubte auch oftmals
beides gefunden zu haben, bis ihm dann plötzlich wieder
alles so schal und leer erschien.
Oh – was waren alle Schönheiten da draußen gegen dieses
Bild!
Heimat – o Heimat!
Still stand er, regungslos. Ließ sich von den süßen Tönen
einspinnen, bezaubern. Man merkte ihn nicht, der da an
der Tür lehnte und unverwandt auf die wunderfeinen
Geschöpfe schaute, die dem Märchenland entstiegen zu
sein schienen.
Erst als die Weisen verstummten, Ilse-Sibylle wie aus einem
Traum erwachend den Geigenbogen sinken ließ, da
applaudierte er leise.
Vier Augenpaare flogen zu ihm hin.
»Krafft!«
Frau von Bruckheim sprang auf, streckte ihm die Arme
entgegen, war nicht fähig, sich von der Stelle zu rühren.
Krafft von Broede eilte zu ihr, ließ sich umarmen, staunte
über so viel liebevolles Entgegenkommen – wo er doch bis
vor Jahresfrist Verachtung und dann kühl-freundliche
Höflichkeit erfahren hatte. Er küßte die feinen Hände, die
ihm zärtlich über Kopf und Gesicht streichelten.
Dann ging sein Blick zu Ilse-Sibylle hin. Entsetzen stand in
ihren Augen, weiß war das Antlitz, ohne einen Blutstropfen
darin. Er zog die eiskalten Hände an die Lippen, sah sie
forschend an.
»Ilse-Sibylle, entsetzt dich denn mein Anblick so sehr?«
»Nein – o nein, Krafft. Ich bitte dich – «
Aufs bitterste enttäuscht wandte er sich ab.
Hier war keine Freude über seine Wiederkehr, kein
herzliches Willkommen für den fremdemüden Wanderer.
Heimat – o Heimat!
Augenblicklang stand er regungslos, als müßte er sich erst
sammeln.
Dann wandte er sich an die junge Dame, die ihn in
unverhohlener Neugierde betrachtete.
Hastig machte Ilse-Sibylle sie miteinander bekannt:
»Das ist meine Base, Elisabeth-Charlotte Rainer, der
Einfachheit halber Lo genannt. Ihr Vater ist der Bruder des
meinen. Ihm gehört Unruh.«
Krafft zog das Händchen der neuen Base an die Lippen.
»Das ist ja ein allerliebster Verwandtenzuwachs,
entzückendstes aller Bäschen. Hoffentlich sehen wir dich
recht oft in Dünentrutz, Lo. Ich darf dich doch so nennen?«
»Aber natürlich!« rief sie begeistert. »Ich habe nicht
geglaubt, daß Sie so prima sind.«
»Du – wenn ich bitten darf.«
»Du – entzückend finde ich das! Weißt du auch, Krafft von
Broede, daß es eine Zeit gab, wo ich dich bis zum Sterben
heimlich liebte?«
»Liebte – kleine Lo?«
»Selbstverständlich nur noch Vergangenheit.«
»Wie schade!« bedauerte er.
»Das kann ich nicht finden. Was sollte ich wohl mit dieser
höchst überflüssigen Liebe auf die Dauer anfangen?
Außerdem würde mir Ilsibyll vor Eifersucht die Augen
auskratzen.«
Eine ironische Bemerkung lag ihm auf der Zunge, die er
jedoch unterdrückte, als er der Gattin blasses Gesicht sah.
Er begrüßte nun den Verwalter.
»Nun, mein Getreuer, hat man mich sehr vermißt?« fragte
er spöttisch.
»Doch, Herr Baron«, kam die Antwort tiefernst. »Wo der
Herr fehlt, sind die Herzen verwaist.«
Durchdringend ruhte Kraffts Blick auf ihm, dem Winfried
offen und frei standhielt.
Nur zögernd folgte der Baron der Bitte der Tante, sich an
ihre Seite zu setzen.
»Krafft, Junge, wo kommst du so plötzlich her? Wir hatten
keine Ahnung, daß wir dich jetzt schon erwarten durften.«
»Sonst hätten wir Girlanden geflochten zum Willkomm«,
warf er mit einer Stimme ein, in der unverkennbare
Bitterkeit mitschwang. »Aber mir ist ein herzliches Wort,
ein lieber Blick mehr wert als jede mühevoll geflochtene
Girlande. Na ja – « sprach er dann in gewohnter
Gelassenheit weiter. »Ich verspürte in der
Sommerherrlichkeit da draußen plötzlich unbezähmbare
Sehnsucht nach unseren Herbststürmen. Unverzüglich trat
ich die Heimreise an. Und je näher ich meinem Ziel kam,
um so ungeduldiger wurde ich. Auf unserer Bahnstation
verließ ich den Zug, um den Weg nach Dünentrutz zu Fuß
zurückzulegen. Herrlich war es, sich wieder einmal von
dem herzerquickenden Sturm durchschütteln zu lassen.
Geregnet hat es auch dabei. Ich sage euch, wenn man
monatelang in der Fremde war, dann weiß man die Heimat
erst richtig zu schätzen.«
Wie unbeabsichtigt sah er zu Ilse-Sibylle hin, die sich nun
so weit gefaßt hatte, daß sie ruhig erscheinen konnte.
Wenigstens äußerlich; denn in ihrem Inneren tobte und
brandete es wie die aufgewühlte See draußen.
Nun er wiedergekehrt war, sie seine bestrickende
Persönlichkeit vor sich hatte, seine tiefe, herrische Stimme
hörte -.
Nein, mit ihrer Liebe wurde sie nie mehr fertig! Es war für
sie schon ein Glücksgefühl ohnegleichen, dieser dunklen
Stimme zu lauschen.
Früher als sonst zog man sich heute zurück. Doch Frau von
Bruckheim suchte dann Krafft in seinem Arbeitszimmer
auf, der gerade vor den Bildern stand, als sie eintrat.
Sie war so bewegt, daß sie zuerst nicht sprechen konnte,
ihm nur beide Hände entgegenstreckte. Er ergriff sie in der
zarten Art, die man nicht oft an ihm zu sehen bekam.
Wieder trat der verwunderte Ausdruck in sein Gesicht.
»Krafft – daß ich noch einmal so vor dir stehen würde,
hätte ich nie gedacht«, brachte sie endlich mühsam hervor.
»Wie soll ich das verstehen, Tante Marianne?«
»War das richtig, mein Junge, daß du mich bei der Tragödie
vor vier Jahren im unklaren ließest – meine Verachtung
stillschweigend duldetest? Wie stehe ich nun vor dir da!«
Tiefes Erschrecken zuckte in seinen Augen auf. Die Falte des
Unwillens grub sich in seine Stirn.
»Ganz verstehe ich dich immer noch nicht, Tante
Marianne. Ahne jedoch – «
»Und ahnst gewiß richtig, Krafft. Während deiner
Abwesenheit erfuhr ich Ausführliches über Burkhards Tod.«
»Wer hat es gewagt, darüber zu sprechen?! Soviel ich weiß,
ist nur Lürstädt noch eingeweiht. Er gab mir sein Wort.«
»Das er auch gehalten hat«, warf sie beschwichtigend ein.
»Ich habe wohl versucht, den wahren Sachverhalt von ihm
zu erfahren. Doch er bedauerte, nicht sprechen zu dürfen,
da sein Wort ihn binde. Ich glaube, ich hätte eher einen
Stein erweichen können als den Mann. Aber ein anderer
wußte auch noch Bescheid, der sich nicht zum Schweigen
verpflichtet hatte.«
Krafft atmete erleichtert auf, doch dann wurde er wieder
ärgerlich.
»Dann kann es nur Herr Schwerling sein, dem ich sein
Wort allerdings nicht abnahm. Wie hätte ich auch ahnen
können, daß dieser sonst so korrekte Mann nicht den
Mund halten könnte!«
»Du tust ihm unrecht, mein Junge. Er sprach nur, weil er
einsah, daß nur die volle Gewißheit mir meine Unruhe
nehmen könnte.«
Heftig fuhr er auf.
»Schöne Beruhigung, wenn man einer Mutter von ihrem
toten Sohn Dinge erzählt, die sie kränken, ihr weh tun
müssen!«
»Und doch hat es mich beruhigt, Krafft. Mein armer Junge
kann dadurch in meinen Augen nicht herabgesetzt werden,
da kennst du ein Mutterherz schlecht. Die Aufklärung gab
mir jedoch die Möglichkeit, gutzumachen, wo ich mich
schwer versündigte.«
»Tante Marianne, ich bitte dich!« unterbrach er sie wieder
mit rauher, gepreßter Stimme. »Es fehlt nur noch, daß du
mich um Verzeihung bittest.«
»Was ich tun muß und tun werde.«
»Quäle mich doch nicht so entsetzlich!« stieß er zwischen
den Zähnen hervor. »Ich kann dich nicht so vor mir sehen.
Du ahnst ja nicht, was du meinem Herzen warst und noch
immer bist.«
»Krafft, ich war feige, vier Jahre hindurch. Jetzt muß ich
wenigstens den Mut aufbringen, diese erbärmliche Feigheit
zu bekennen. Ohne den richtigen Sachverhalt zu kennen,
verurteilte ich dich, marterte durch unnachsichtige Strenge
mein Herz, das noch immer für dich schlug. Das sich an
dich klammern wollte, der du mir ein zweiter Sohn warst.
Glaube mir, mein geliebter Junge, es ist bitter schwer, da
plötzlich verachten zu sollen, wo man einst liebte. Ich
zwang mich zu dieser Verachtung, stachelte meinen
Schmerz fanatisch auf. Machte mich dadurch einsam,
steigerte mich in eine unglaubliche Bitterkeit hinein.
So ging es, bis Ilse-Sibylle kam. Ich nahm das mir damals
fremde Mädchen auf, weil ich nicht haben wollte, daß die
Tochter meiner Schwester sich in untergeordneter Stellung
ihr Brot verdiente. Sehr mißtrauisch war ich zuerst, weil
Ilsibyll ihrem leichtsinnigen Vater so sehr ähnlich sieht.
Doch je länger ich sie um mich hatte, um so lieber wurde
sie mir. Ohne es zu wollen, klopfte dieses feine, sensible
Kind so lange an mein Herz, bis die harte Kruste, die
Schmerz und Bitterkeit darum geschmiedet, zu schmelzen
begann.
Fortan wurde ich weicher, versöhnlicher. Ich beschäftigte
mich in Gedanken viel mit dir. Zweifel stiegen auf,
verdichteten sich.
Ach, Krafft, wieviel habe ich dir abzubitten! Du kannst mir
ja unmöglich verzeihen.«
Flehend sah sie zu ihm auf, der nun ihre Hände ergriff und
sie gegen seine Augen preßte. Seine kräftige Gestalt zitterte
vor Erregung.
»Tante Marianne, wenn du glaubst, gutmachen zu müssen,
dann laß es genauso zwischen uns werden, wie es erstmals
war. Willst du das?«
Mit Tränen in den Augen zog sie ihn an ihre Seite auf das
Sofa nieder. Streichelte seinen Kopf, küßte sein Gesicht,
konnte nicht genug tun, ihm ihre Liebe zu zeigen.
Dann plauderten sie miteinander lieb und vertraut. Bis er
dann fragte:
»Was ist mit Ilse-Sibylle, Tante Marianne? Vor meiner Reise
war sie schon unzugänglich, doch jetzt erscheint sie mir
völlig unnahbar. Dazu ist sie von erschreckender Zartheit.«
»Auch daran bin ich schuld«, seufzte sie. »Am dritten
Todestag Burkhards sprach ich mit ihr über dich ganz so,
wie meine Verbitterung es mir eingab. Danach fiel mein
Urteil über dich aus.
Wie mir Ilsibyll am Abend nach dem Ball erzählte, hat sie
dir dann in der Jägerhütte ihre Verachtung gezeigt, dich
unerhört beleidigt. Und darüber kann sie nun nicht
hinwegkommen. Es ist ihre feste Überzeugung, daß du sie
nur geheiratet hast, weil sie meine Nichte ist, und sie
bezeichnet nun alles, was sie von dir erzählt, als Almosen.
Fühlt sich immer noch als Gast, nicht als rechtmäßige
Herrin von Dünentrutz – weil eure Ehe ihrer Ansicht nach
nichts weiter als eine – Farce ist.«
»Ich glaube nicht, daß ich ihr jemals Veranlassung dazu
gegeben habe, derartiges anzunehmen«, entgegnete er
unwillig. »Einesteils hat sie allerdings recht. Wäre sie nicht
deine Nichte, hätte ich von dieser Heirat trotz allem
absehen müssen. Denn ich bin ja nicht eigener Herr in
meinen Entschlüssen. Bin an Traditionen gebunden. Aber
da sie nun meine Frau ist, darf sie sich nicht mit
Hirngespinsten herumschlagen, sondern soll lieber ihrer
Herrenpflicht nachkommen, wie ich sie von ihr verlange.
Zum Kuckuck, geht es ihr hier nicht gut? Ein besseres Leben
kann ihr so bald kein anderer Mann bieten!«
»Ich verstehe deinen Unwillen, Krafft«, meinte die Tante
bedrückt. »Wäre es da nicht besser, wenn ihr euch jetzt
schon trennen wolltet?«
»Damit auch du noch Dünentrutz verläßt!« lachte er bitter
auf. »Ich bin glücklich, dich endlich bei mir zu haben.«
»Und ich bin glücklich, hier zu sein, mein lieber Junge.
Aber ich darf Ilse-Sibylle nicht im Stich lassen. Verstehst du
das?«
»Nein!«
Das kam so schroff heraus, daß sie hastig das Gespräch
wechselte. Sie fragte nach seinen Reiseerlebnissen, doch da
er keine Lust zu haben schien, darüber zu sprechen,
wünschte sie ihm bald eine gute Nacht und zog sich in ihre
Zimmer zurück.
Krafft durchschritt sein Schlafzimmer und betrat das der
Gattin. Das matte Licht einer Ampel erhellte den
luxuriösen Raum. Und auf dem Bett lag Ilse-Sibylle, hatte
das Gesicht in die Kissen gedrückt und schluchzte
verzweifelt.
Sie war so aufgelöst in ihrem Jammer, daß sie nicht
bemerkte, als der Gatte das Gemach betrat. Erst als sie
emporgehoben wurde, schrak sie zusammen – wich
entsetzt zurück.
»Krafft, du versprachst – «
»Selbstverständlich, ja – «-winkte er unwillig ab. »Und was
ich verspreche, das pflege ich auch zu halten. Es steht
jedoch nicht in unserer Vereinbarung, daß ich deine
Zimmer nicht betreten darf. Ich werde es immer wieder
tun, wenn ich dich so verzweifelt schluchzen höre. Du tust
ja so, als wärest du das unglücklichste Geschöpf unter der
Sonne. Fehlt dir etwas? Sage doch dann zum Donnerwetter,
was dich quält! Hast du ein Leid, eine verlorene Liebe? Bin
ich nicht lange genug fortgewesen, soll ich noch einmal
von hier gehen?«
Mit gesenktem Kopf hatte sie seine ärgerlichen Worte über
sich ergehen lassen. Doch bei den letzten hob sie ihn
hastig.
»Wie käme ich wohl dazu, dich aus deinem Hause zu
vertreiben?« stammelte sie.
»Das tust du aber, wenn du dich weiter so benimmst.
Glaubst du etwa, daß es ein angenehmes Gefühl für mich
ist, zu wissen, daß meine Frau sich unglücklich an meiner
Seite fühlt?«
»Krafft, du beurteilst mich falsch.«
»Ja, um Himmels willen, wie soll man dich wohl richtig
beurteilen, wenn du dich so verschließt? Hast du einen
Wunsch?«
»Ich – ich möchte fort von Dünentrutz.«
Es zuckte in seinem Gesicht, doch nur augenblickslang.
»So. Und dürfte man fragen, warum?«
»Das fragst du wirklich?« rief sie atemlos.
»Ja, weil ich deinen Launen nicht folgen kann.«
Sein fatales, nachsichtiges Lächeln brachte sie um ihre
mühsam aufrechterhaltene Ruhe. Sie sprang auf, stand nun
vor ihm, erzürnt und sinnverwirrend schön. Die Augen
sprühten in dem weißen Antlitz.
»Mach dich auch noch über mich lustig!« rief sie in
leidenschaftlicher Heftigkeit. »Als wenn du nicht wüßtest,
daß ich von dir, gerade von dir, keine Wohltaten
entgegennehmen mag! Ich will nicht von jenem Reisetag
sprechen, obgleich nicht jeder so vornehm gehandelt
haben würde wie du. Auch nicht von der Stunde, da du
mich von den Dünen auflasest – und als Dank dafür dich
schweigend von mir beleidigen ließest. Das sind Lappalien
gegen das, was nachher kam. Deine ganze Person setztest
du ein, um meinen Ruf zu retten – weil ich die Nichte Frau
von Bruckheims bin. Zuerst glaubte ich, daß du mit dieser
großmütigen Tat ein wenig Schuld gegen sie sühnen
wolltest. Aber seitdem ich den Irrtum der Tante kenne,
weiß ich, daß du dieser verehrten Frau noch ganz andere
Opfer bringen würdest. Weil dir nun das Leben an meiner
Seite unerträglich wurde, flohest du aus deinem eigenen
Heim.
Ahnst du denn gar nicht, wie mich das alles demütigen
muß?!«
Er schaute zu ihr hin, unentwegt, während sie die Worte
hervorstieß in bebender Hast. Dann griff er nach ihren
eiskalten, zitternden Händen und zog sie daran zu sich auf
den Diwan, auf dem er saß.
»Wie du dich erregst, du hochmütiges Kind!« sagte er
grollend. »Was soll ich denn ahnen? Deine
Überempfindlichkeit? Die ahne ich nicht nur, die
bekomme ich recht deutlich zu spüren.
Und nun werde endlich einmal vernünftig und bezeichne
nicht das, wozu ich dir gegenüber verpflichtet bin, mit dem
unerhörten Wort ›Wohltaten‹. Vergiß vor allen Dingen die
sogenannten Beleidigungen, die du mir damals zugefügt
haben willst. Das sprach nämlich nur für dich, mein
eigenwilliges Kind. Denn einen solchen Mann, wie ich es
nach deiner Annahme sein sollte, hätte auch ich verachtet.
Da also war eine – Wohltat. Und die nächste, die dich zur
Herrin von Dünentrutz machte? Daß du die Nichte der
Frau von Bruckheim bist, erleicherte den Fall allerdings
erheblich. Denn jedes Mädchen könnte ich der Tradition
unseres Hauses gemäß nicht heiraten.
Nun Wohltat Nummer drei: Ich floh vor dir aus meinem
eigenen Hause? Ich wünschte, daß ich so zartfühlend und
rücksichtsvoll sein könnte. Beruhige dich nur, so leicht
laufe ich nicht davon. Es sei denn, meine Frau wäre häßlich
wie die Nacht, was du von dir beim allerbesten Willen
nicht behaupten kannst.
So, das wären also drei Wohltatspunkte, die mir bei jeder
Gelegenheit vorgehalten werden bis zum Überdruß. Und
was die jetzigen Wohltaten anbetrifft -
Liebes Kind, du bist meine Frau, das wenigstens wirst du
nicht ableugnen können. Fahre nicht auf, kleine Mimose!
Ich weiß schon, was du sagen willst, von wegen nur zum
Schein, und so weiter. Das ändert jedoch die Tatsache
nicht, daß ich für dich zu sorgen verpflichtet bin. Verstehe
recht, du stolzes Kind – verpflichtet. Wenn du das nicht
glauben willst, lies im Bürgerlichen Gesetzbuch nach,
Paragraph soundsoviel. Ist dir nun alles klar? Nein? Warum
nicht?«
»Mir ist nur klar, daß ich auf die Dauer nicht weiter so
leben kann. Daß irgend etwas geschehen muß, um diesen
haltlosen Zuständen ein Ende zu setzen. Willst du mir
vielleicht sagen, wie langes du diese Ehe aufrecht zu
erhalten gedenkst?«
»So lange, bis du mir mit stichhaltigen Gründen kommst,
die eine Lösung der Ehe rechtfertigen.«
»Sind meine Gründe etwa nicht stichhaltig genug?«
»Nein. Die du anführst, sind nichtig und kleinlich. Wenn
du von mir gehst, was willst du denn beginnen? Du kennst
doch Tante Mariannes Verhältnisse und weißt daher, daß
sie von den Mitteln, die ihr zur Verfügung stehen, allein
nur schlecht und recht leben kann. Wenn sie dich noch mit
unterhalten muß, wird es ein Dasein voller Entbehrungen.«
»Ich brauche ja nicht bei Tante Marianne zu bleiben«,
entgegnete sie abweisend. »Ich kann mir meinen
Lebensunterhalt recht gut allein verdienen.«
»Womit?«
»Als Gesellschafterin.«
Er lachte so amüsiert, daß Empörung in ihr hochstieg.
»Dich scheint ja sehr zu erheitern, was andern Menschen
schlaflose Nächte verursacht!« rief sie aufgebracht.
»Sei mir nicht böse, Ilse-Sibylle«, sagte er, immer noch
lachend. »Ich stelle mir nur vor, wie du dich in solcher
Stellung ausnehmen würdest. Schon dein Äußeres würde
sich vortrefflich dazu eignen. Außerdem ist die Baronin
Broede auf Dünentrutz auch dazu da, um sich von
schrulligen Dämchen schlecht behandeln zu lassen.«
Unter seinem spöttischen Blick errötete sie heiß. Wohin
verirrte sie sich nur in ihrer Haltlosigkeit! Sie wußte ja
selbst am wenigsten, was sie eigentlich wollte.
Gewaltsam würgte sie die Tränen hinunter, die aufsteigen
wollten aus angsterfülltem Herzen. Wie sie sich verachtete,
daß sie gegen dieses Herz nicht aufkommen konnte!
Willenlos ließ sie ihm ihre Hände, die er erneut ergriff.
»Höre einmal genau zu, was ich dir sagen werde, du
törichtes Kind«, sprach er mit seiner dunklen Stimme, die
ihr Herz ganz und gar in Aufruhr brachte. »Ich war einsam
über drei Jahre, Ilsibyll. Wenn ich durch das Schloß ging,
hörte ich meine eigenen Schritte in der tiefen Einsamkeit.
Ich setzte mich allein an den Tisch, saß abends allein in
meinem Zimmer. Ich lebte niemand zur Freude, niemand
brauchte mich. Wenn ich auch nicht der Mensch bin, der
daran zugrunde gegangen wäre, so bin ich jedoch nicht
ganz gefühllos, weiß ein trautes Familienleben wohl zu
schätzen.
Wenn ich sonst von meinen Reisen zurückkehrte, empfing
mich tiefste Einsamkeit. Niemand war da, den meine
Rückkehr freute.
Wie anders war es heute, und wie anders ist es überhaupt,
seitdem du in Dünentrutz weilst! Nun habe ich doch
jemand, den ich verwöhnen kann, der zu mir gehört. Willst
du mich nun wieder in die Einsamkeit zurückstoßen, die
ich jetzt doppelt schmerzlich empfinden müßte?«
»Gewiß nicht, Krafft«, entgegnete sie hastig. »Das hast du
wahrlich nicht um mich verdient.«
»Ich spreche nicht von Verdienst, Ilsibyll. Wenn du mir
durchaus danken willst für das, was ich für dich tat, dann
fühle dich in meinem Hause wohl. Bringe Dünentrutz die
Sonne und den Frohsinn wieder, die aus ihm geschwunden
sind. Dann vergiltst du mir alles zehnfach – nein,
tausendfach.
Sieh, du eigenwilliges Kind, von mir willst du nichts
annehmen. Verschmähst das Geld, das du als meine Frau
zu beanspruchen hast. Trugst noch nie eines der Kleider,
die ich dir schenkte. Wo ich dir doch von meinem
Überfluß gebe, während du dir Tante Mariannes Opfer mit
Selbstverständlichkeit gefallen läßt.«
»Opfer?«
»Ja, Ilsibyll. Um dir eine gute Garderobe zu verschaffen,
verkaufte sie ihren Schmuck, der ihr doppelt wertvoll war,
da sich Erinnerungen daran knüpften – «
Sie sah ihn so entsetzt an, daß er beschwichtigend über ihre
Augen strich.
»Krafft, du mußt mir glauben, wenn ich dir sage, daß ich
von dem Opfer nichts gewußt habe!« flehte sie, und er
atmete tief auf.
»Das sagte mir schon die Tante. Sonst – ja, sonst hätte ich
irre an dir werden müssen. Zum Glück kam ich hinter ihre
selbstlose Tat und habe die Sachen immer gleich
zurückgekauft. Also, Ilse-Sibylle, laß dir von Tante
Marianne nicht so viel schenken. Sie tut es unter
Zurücksetzung der eigenen Person.«
»Oh, Krafft, wie schrecklich ist das alles!« stammelte sie,
erschüttert über so viel Selbstlosigkeit. »Welche Sorge
mache ich nur der Tante und auch dir!«
»Nun, ich werde mit deinem schwierigen Charakter schon
fertig. Aber die Tante – ja, die macht sich wohl Sorgen um
mich. Daher mußt du weniger an dich, sondern mehr an
sie denken. Darfst nicht zur Egoistin werden durch dein
uns unbekanntes Leid. Ich habe sie heute gebeten, ganz in
Dünentrutz zu bleiben, was sie mit Freuden annehmen
würde, wenn die Sorge um dich sie nicht quälte. Wenn du
von hier gehst, dann geht sie mit dir. Denn sie liebt dich
mehr, als dir dienlich ist, mein Kind.«
Ilse-Sibylle senkte den Kopf. Tränen liefen über ihr Gesicht,
tropften auf die im Schoß verschlungenen Hände. Sie kam
sich schlecht und undankbar vor. Hatte sie denn so viel
Nachsicht verdient? Nein, gewiß nicht!
»Nun, Ilse-Sibylle«, klang nun seine dunkle, weiche
Stimme wieder auf. »Waren meine Worte umsonst
gesprochen? Willst du immer noch fort von Dünentrutz?«
Zaghaft hob sie den Kopf. Ihre tränenverdunkelten Augen
suchten die seinen, in denen nun ein so weicher Ausdruck
lag, der ihr Herz aufwühlte bis in die tiefsten Tiefen. Sie
mußte ihren Blick aus dem seinen lösen, wenn sie sich
nicht verraten wollte.
Unendlich traurig klang es, als sie sagte:
»Wenn es so ist, dann bleibe ich natürlich – bis – ja, bis du
mich selbst gehen heißt. Denn auch du darfst nicht so
selbstlos sein, Krafft. Mußt auch an deine Pflichten denken,
die du Dünentrutz gegenüber hast. Darfst sie aus
Ritterlichkeit nicht übergehen. Willst du mir versprechen,
offen und ehrlich zu sagen – wenn – wenn ich gehen soll?«
»Das verspreche ich dir, Ilse-Sibylle«, entgegnete er fest.
»Ilse-Sibylle, nun wird es langsam Zeit, daß wir mit unserer
Besuchstour beginnen. Wir sind schon länger als ein halbes
Jahr verheiratet, und immer noch nicht habe ich dich
ausgeführt. Man hat mich im Verdacht, daß ich dich
barbarisch knebele und knechte, dich von der Welt
abschließe in toller, blinder Eifersucht. Da muß ich mich
doch zu rechtfertigen versuchen. Meinst du nicht auch?«
Ilse-Sibylle sah unangenehm berührt von ihrem Buch auf.
Was kam nun schon wieder? Daß sie gegen seinen Spott
doch immer gewappnet sein mußte, sich nicht daran
gewöhnen konnte!
»Wenn du meinst, daß es erforderlich ist, Besuche zu
machen, dann füge ich mich selbstverständlich«, sagte sie.
»So – ach! Eigentlich habe ich doch eine fügsame Frau. Nie
lehnt sie sich gegen meine Wünsche auf geht jeder
Meinungsverschiedenheit aus dem Wege. Mehr kann ich
doch wirklich nicht verlangen. Nicht wahr, Tante
Marianne?«
»Kannst du auch nicht«, bestätigte diese lächelnd. »Nur
finde ich zu viel Fügsamkeit unklug. Sie verdirbt den
Charakter des Partners, macht ihn selbstbewußt in
übertriebenem Maße und herrschsüchtig.«
»Womit du mich doch nicht womöglich meinst?«
protestierte Krafft lachend.
»So ein wenig doch«, war die neckende Erwiderung. »Aber
beruhige dich, es fällt bei dir nicht auf.«
Ilse-Sibylle hörte das alles mit Erbitterung. Warum konnte
sie ihm niemals denselben Umgangston bieten wie die
Tante? Wie einfach wäre dann alles gewesen, wie schön
und leicht!
Jetzt sprach er wieder zu Ilse-Sibylle, wobei der Spott in
seinen Augen blitzte:
»Also wollen wir uns morgen auf den Weg machen, um die
Neugierde unserer Mitmenschen nicht immer weiter so
grausam auf die Probe zu stellen. Sie brennen nämlich
darauf, meine blendend schöne, entzückend feine,
unerhört charmante, königlich stolze, lilienzarte Gattin aus
der Nähe bewundern zu dürfen – «
»Höre endlich auf!« ließ sich ihre Empörung nun nicht
mehr meistern.
»Aber nicht doch, Kindchen!« sprach er lächelnd weiter.
»Meine Worte dürfen dich gar nicht entrüsten. Alle die
soeben gesagten netten Sachen sind Komplimente, die ich
laufend über meine Frau zu hören bekomme. Vielleicht
haben die Menschen gar nicht unrecht, wenn sie mich für
einen vom Glück verfolgten, vom Schicksal unerhört
bevorzugten Mann halten.«
»Krafft, wenn du jetzt nicht aufhörst, dann treibst du mich
aus dem Zimmer!«
Immer mehr drohte Ilse-Sibylle ihre Beherrschung zu
verlieren. Fast schwarz erschienen die Augen mit dem
zürnenden Blick. Die Nasenflügel vibrierten vor
unterdrücktem Weinen.
So durfte er sie doch nicht verspotten – so doch nicht! Das
hielt sie einfach nicht aus! Hochmütig warf sie den Kopf in
den Nacken.
»Wer kann dafür, daß deine Ehe nicht so ist, wie die
Menschen vermuten? Ich gewiß nicht! Ich hätte schon
längst einer anderen Platz gemacht, mit der du glücklich
werden könntest. Aber du hältst mich ja – «
»Und ich werde dich auch weiter halten, mein hochmütiges
Kind, verlaß dich drauf!«
»Dann beklage dich nicht und spotte nicht in dieser
unerhört arroganten Weise!« zitterte sie vor Erregung, die
sie krampfhaft zu unterdrücken versuchte. Wenn er doch
endlich schweigen wollte! Aber da sprach er bereits wieder:
»Ich habe bei dem weiblichen Geschlecht fast immer die
Beobachtung machen müssen, daß es sich überschätzt. Bei
dir jedoch fehlt diese Eigenschaft vollkommen – du
unterschätzt dich.
Also, abgemacht, fangen wir denn morgen mit den
Besuchen an. Und wenn wir sie hinter uns haben, geben
wir anschließend ein Fest. Du brauchst mich nicht so
entsetzt anzusehen. Deine Befürchtung, dieser Aufgabe
nicht gewachsen zu sein – übrigens wieder eine
Unterschätzung deiner Person – ist unnötig. Du hast weiter
nichts zu tun, als durch deine Anwesenheit dem Fest die
rechte Weihe zu geben. Dazu bist du da. Denn
Herinnenwürde umschließt auch Herinnenpflichten.«
Das klang so fest und abschließend, daß sie darauf nichts
mehr zu erwidern wagte. Außerdem warnten seine Augen,
die wie bläuliches Eis glitzerten, ihn nicht noch mehr zu
reizen.
Frau Marianne bangte vor der Stunde, in der Krafft erklären
würde, daß er sich eine andere Gattin erwählt hätte. Dann
würde Ilse-Sibylle erst ermessen können, was sie verloren,
wieviel sie sich durch ihren Starrsinn verscherzt hatte.
Mochte sie zehnmal einen anderen lieben, besser als Krafft
von Broede konnte er bestimmt nicht sein.
Sie schrak zusammen, als der Fernsprecher anschlug. Krafft
nahm das Gespräch entgegen und lachte, als er den Hörer
auf die Gabel legte.
»Lo kommt mit ihren Eltern zu einem Plauderstündchen.«
Ilse-Sibylle atmete auf. Kraffts Verstimmung war vorüber.
Kaum hatte Lo das Schloß betreten, war es auch schon mit
Frohsinn und Lachen erfüllt und alle Schatten waren
gewichen.
Schloß Dünentrutz erstrahlte im hellen Lichterglanz, wie
zu Zeiten, als das Unglück noch keinen Einlaß darin
gefunden hatte.
Krafft von Broede hatte es schon immer verstanden, Feste
zu feiern, doch diesmal übertraf er sich selbst. Er kümmerte
sich bei der Vorbereitung um jede Kleinigkeit, so daß für
Frau Marianne und Ilse-Sibylle kaum etwas zu tun
übrigblieb.
Frau Lina war ganz in ihrem Element. Sie schwang ihr
Zepter resolut in Küche und Keller. Gottlob, es wurde
wieder so wie zu Zeiten der seligen Herrschaften! Kein
Leben war es in all den Jahren gewesen, in denen ihr
Krafftchen sich von allem Verkehr abgeschlossen hatte. Er
war ja immer noch nicht wie früher, o bewahre! Aber er
konnte doch wenigstens schon wieder lachen. Und das
hatte die Frau Baronin zuwege gebracht. Dafür schloß Frau
Lina sie immer fester in ihr gutes Herz.
Sie könnte freilich anders sein, nicht so ernst. Ob ihr etwas
fehlte? Denn so ein junges, schönes Blut, dazu Herrin von
Dünentrutz, einen so seelenguten, vornehmen Gemahl. Ein
so bevorzugtes Menschenkind mußte sich nach Frau Linas
Ansicht freuen wie ein Vöglein auf dem Ast, mußte singen
und jubilieren den ganzen Tag.
Ilse-Sibylle hatte keine Ahnung, daß dieses von ihr verlangt
wurde. Eben befand sie sich wohl schon eine Stunde unter
den Händen der Zofe, die ihren Ehrgeiz darein setzte, die
Herrin noch schöner als schön herauszustaffieren.
Diese ließ das alles geduldig über sich ergehen. Ihr war es
wirklich gleichgültig, wie sie aussah. Aber Krafft nicht. Und
das war ausschlaggebend.
Endlich hatte Lilly ihr ehrgeiziges Werk geschafft und
berauschte sich nun förmlich an dem Anblick ihrer
wunderschönen Herrin.
Als der Herr eintrat, hingen die Augen des Mädchens bang-
fragend an seinem Gesicht. Doch als er, nachdem er die
Gattin scharf gemustert, ihm freundlich zunickte, trollte es
beglückt von dannen.
Nun trat er zu Ilse-Sibylle, zog ein Etui aus der Tasche
seines Fracks, ließ es aufspringen, und die junge Frau sah
wie gebannt auf das herrliche Schmuckstück. Sie muckte
nicht, als er es ihr um den Hals legte, hatte sich schon
längst abgewöhnt, gegen seine Geschenke zu protestieren,
weil es einfach nicht gehört wurde.
Galant reichte er ihr den Arm.
»Komm, kleine Mimose, stifte heute nicht zu viel Unheil!
Hab Erbarmen mit armen, schwachen Männerherzen!«
An seiner Seite betrat sie den prunkvollen Saal, wo die
Tante bereits anwesend war. Ungemein distinguiert wirkte
die hohe Gestalt, dazu viel jünger als ihre Jahre.
Ilse-Sibylle wunderte sich, wie schon so oft, daß die Tante
nicht wieder geheiratet hatte. Sie konnte es gewiß noch mit
mancher Jungen aufnehmen.
Die Augen Frau von Bruckheims hingen wiederum an der
Nichte. Wie sinnverwirrend schön das Kind war! Ihr
schwoll das Herz vor Stolz. Sie konnte Krafft nicht
begreifen, der von so viel zaubersüßer Schönheit unberührt
zu sein schien.
Die Gäste trafen nun nacheinander ein. Ilse-Sibylle
begrüßte sie in vorbildlicher Haltung. Wie diese Menschen
sie kalt ließen, deren diskret-neugierige Blicke sie über sich
ergehen lassen mußte!
Doch plötzlich strahlten ihre Augen auf in heller Freude.
Ein Herr war eingetreten, der sofort umringt wurde, bis der
Gastgeber ihn protestierend befreite und ihn der Gattin zur
Begrüßung zuführte.
»Hier bringe ich dir einen berühmten Gast.«
»Hartmut!«
»Ilsibyll!«
Es war eine Wiedersehensfreude, die ihnen nur so aus den
Augen lachte. Die Art, wie er ihre Hand an die Lippen
führte, ließ auf Vertrautheit schließen.
»Ilsibyll, liebes, süßes Mädchen, wie kommst du in diese
feudale Umgebung?« hielt er noch immer ihre Rechte fest,
die sie ihm hastig entzog.
»Mein Mann-«, zeigte sie auf Krafft, der neben ihr stand
und sich sehr ablehnend verhielt.
In Dr. Vehrs Augen blitzte es überrascht auf, dann neigte
sich seine sehnige Gestalt formell.
»Oh, Verzeihung, Frau Baronin, ich wußte nicht – «
»Aber Hartmut, ich bitte dich!« unterbrach sie ihn lachend.
»Das ändert doch nichts an unserer Freundschaft. Du mußt
mir nachher erzählen, wo du so plötzlich herkommst. Ich
hielt dich für verschollen.«
Nun lachte der Mann auf, ein warmes Jungenlachen.
»Das war dumm von dir, Ilsibyll. Du kennst mich doch
und mußt daher wissen, daß ich nicht so leicht
totzukriegen bin.«
Krafft von Broede stand dabei und wunderte sich über
seine Frau. Sie war ja gar nicht wiederzuerkennen! Ihre
Augen strahlten, ihr Mund lachte. Dabei sprach sie so
lebhaft, wie er es noch nie von ihr gehört.
Ebenso verwundert waren Frau von Bruckheim und
Rainers. Den anderen fiel die plötzliche Veränderung nicht
auf, da sie die Gastgeberin ja nicht kannten.
»Sieh nur, Tante Marianne, das ist Hartmut Vehr«, erklärte
sie ihr, die beunruhigt näher trat. »Die Häuser unserer
Eltern lagen nebeneinander, wir waren unzertrennlich.«
»Was uns nicht abgehalten hat, uns ab und zu gehörig zu
prügeln«, ergänzte er fidel, sich dabei vor der Dame
verbeugend in seiner weltgewandten Art. »Ilsibyll war
nämlich eine Tyrannin, und wenn ich unter ihrem Joch
rebellisch werden wollte, dann verprügelte sie mich.«
»Glaube ihm das doch nicht!« lachte Ilsibyll hellauf. »Er
übertreibt von jeher schrecklich, scheint sich in der
Beziehung nicht geändert zu haben.«
»Auch du hast dich nicht verändert«, stellte er fest. »Bist
immer noch der lustige Kobold geblieben. Hätte ich jedoch
gewußt, daß du eine so sinnverwirrende Schönheit werden
würdest, ich hätte – «
»Nun, was hättest du?«
»Sag ich nicht!« neckte er.
Ein Diener, der meldete, daß angerichtet war, machte
dieser frohen Unterhaltung ein Ende. Darüber war Ilse-
Sibylle gar nicht entzückt. Nun mußte sie unter fremden,
gleichgültigen Menschen sitzen und hätte dem Freund
doch so viel zu erzählen gehabt!
Doch sie hatte Glück. Dr. Vehr saß ihr schräg gegenüber, so
konnte sie wenigstens sein lachendes Gesicht sehen.
Auch Krafft von Broede saß ihr gegenüber. Doch heute fiel
ihr gar nicht auf, wie hart und undurchdringlich sein
Gesicht war. Sie hatte auch keinen Blick für die Tante, die
sie scharf beobachtete.
Von allem merkte Ilse-Sibylle nichts. Ihre Blicke kreuzten
sich immer wieder mit denen des Jugendfreundes.
Dabei vergaß sie jedoch ihre Herrinnenwürde nicht. Man
war allgemein entzückt über so viel Schönheit, Grazie und
angeborene Vornehmheit.
Sehr ernst und verschlossen sollte sie sein? Das konnte
doch kaum stimmen. Unnahbar, ja, das war sie wohl. Sie
hatte etwas in ihrer Art, das eine unsichtbare Schranke um
sie bildete, sofern sie es wünschte.
Man fand auch, daß sie mit dem berühmten Forscher recht
oft tanzte. Doch schließlich waren sie Kindheitsgespielen.
Warum sollte sie nicht? Zumal ihr Mann sich ja auch sein
Vergnügen suchte. Der Schwerenöter blieb doch immer auf
der Höhe! Während er es außerhalb seines Hauses arg und
toll trieb, wählte er sich eine schneeweiße Lilie als Hüterin
seines Heims und Herdes.
Auch Lo war heute unglaublich reizend. Sie wiederum
tanzte viel mit ihrem Tischherrn, Freiherrn von Lürstädt.
Plauderte dabei in ihrer herzerquickenden Art frisch
drauflos, so daß der ernste Mann immer wieder herzlich
lachen mußte. Sie hatten beide mehr dem Sekt
zugesprochen, als es dienlich sein konnte. Daher kam es
wohl, daß der sonst so zurückhaltende Mann seine
Tanzpartnerin fester an sich zog, als er es sonst zu tun
pflegte, und sie sich enger als schicklich in seinen Arm
schmiegte. Daß ihre Blicke sich oft dabei trafen, ließ sich
nicht vermeiden.
Zuerst gab Lo den Blick offen und frei zurück, wodurch sie
ihm die Gelegenheit bot, sich in den Anblick der blauen
Augensterne zu vertiefen – und sie sinnverwirrend schön zu
finden. Dabei redeten die seinen eine so deutliche Sprache,
die Lo nur zu gut verstand. Allein sie nahm ihm seine
Kühnheit durchaus nicht übel, sondern stellte bei sich fest,
daß dieses Fest so wunderbar wäre, wie sie ein ähnliches
noch nie mitgemacht.
Als die ersten Gäste zum Aufbruch rüsteten, fand sie das
recht rücksichtslos von ihnen. Wenn nämlich erst der
Anfang gemacht war, folgten auch die übrigen bald.
Bei passender Gelegenheit huschte sie hinaus, ohne sich
einen Mantel überzuziehen.
Ach ja – so war es schön. Die herbe Nachtluft kühlte Kopf
und Herz. Der Mond warf sein weißes Licht auf die See,
ließ sie aufblitzen wie Silber. Hell jauchzte sie auf in
unbändiger Lebensfreude.
Und schrak dann zusammen, als eine dunkle Gestalt sich
ihr näherte. Nun klopfte ihr Herz in banger Furcht.
»Gnädiges Fräulein, welch ein Leichtsinn!« hörte sie da
eine dunkle, ihr nur zu bekannte Stimme. »So erhitzt, wie
Sie vom Tanz sind, laufen Sie hinaus!«
»Ich hatte plötzlich eine unbezwingbare Sehnsucht nach
Himmel, Wald und See«, lachte sie beklommen zu ihm
auf, während ihr das Herz bis zum Hals schlug. »Ihnen
erging es wohl ebenso?«
»Allerdings. Nur war ich nicht ganz so leichtsinnig und
stürmisch. Nahm mir Zeit, den Mantel anzuziehen, der
jetzt übrigens gute Dienste leisten wird.«
Damit hüllte er das Mädchen in den Mantel, was es sich
gern gefallen ließ.
»So, mein Fräulein Leichtsinn. Sie als Seemöwe müßten
doch wissen, daß an diesem herrlichen Gewässer stets ein
kühles Lüftchen weht, das unbedachten jungen Damen
Schnupfen und damit ein rotes Naschen bringen kann.«
»Brrr, Herr von Lürstädt, das wäre nicht schön!«
»Nicht wahr, so ein entzückendes Naschen!«
»Oh, mein gestrenger Herr, seit wann machen Sie
Komplimente?« neckte sie, worauf er sich so tief zu ihr
beugte, daß sein Mund fast ihr Ohr berührte.
»Seitdem ich tief, tief in zwei unerhört schöne Blauaugen
geschaut habe«, flüsterte er.
Heiß stieg ihr Blut ins Gesicht. Sie war so verwirrt, wie
noch nie zuvor in ihrem Leben.
»Sie lieben wohl auch die See?« fragte sie hastig, um nur
etwas zu sagen.
»Ja, sehr – «, entgegnete er warm. »Ich wünschte, ich
brauchte nie mehr von ihr fort.«
Lo fühlte die Augen des Mannes wie eine heiße Flamme auf
ihrem Gesicht. Beharrlich hielt sie die Augen gesenkt. Und
als sie diese dann doch zu ihm aufschlug, wie von einer
fremden Macht getrieben, verrieten sie viel, sehr viel – alles.
Der Mond beschien das süße Antlitz, in dem nur diese
Augen zu leben schienen, schwarzblau wie die See im
Sturm.
Machte es der reichlich genossene Sekt, machte es die
traumhafte Stimmung um sie her – ganz unerwartet
schlang sie die Arme um seinen Hals mit leidenschaftlicher
Heftigkeit.
Zuerst wollte der überraschte Mann sich zart aus der
Umschlingung lösen, doch dann preßte er die bebende
Gestalt an sich in heißem Glücksgefühl.
Und um sie her brandete die See, rauschte der Wald – und
ebenso gewaltig brandete es in ihren Herzen. Heiß preßten
sich seine Lippen auf die ihren.
»Oh, du Liebste mein, du Heißersehnte, Erträumte!« raunte
die Männerstimme in ihr Ohr.
Sie hielten sich umschlungen, als wollten sie sich nicht
mehr voneinander lösen.
Erst als in der Nähe Stimmen laut wurden, machte sie sich
frei. Noch ein Kuß, heiß, heftig – dann eilte sie einen
Nebenweg zum Schloß hinauf.
Atemlos erreichte sie den Saal. Gottlob, ihre Eltern hatten
sie noch nicht vermißt!
Aufatmend ließ sie sich an Ilse-Sibylles Seite auf das kleine
Sofa fallen.
»Bist du nicht mit an die See gegangen, Lo?« fragte diese
erstaunt. »Die Gäste bekamen plötzlich Lust, den
Mondzauber zu genießen. Wollen wir ihnen nachgehen?«
»Ich mag nicht, Ilsibyll.«
»Und warum nicht, entzückendstes aller Bäschen?«
Sie fuhr herum und lachte Krafft von Broede an, der hinter
sie getreten war.
»So eine Mondschwärmerei in Massen ist doch recht
erhebend«, spottete er. »Aber wie wär’s mit uns beiden?
Wollen wir ganz allein schwärmen gehen?«
»O nein, vieledler Schloßherr, das wäre zuviel Ehre für
mich Erdenwurm. Überhaupt ein sträflicher Leichtsinn, mir
derartiges anzubieten, wo deine Frau dabeisitzt. Da muß
ich doch schon aus Anstand danken.«
Krafft sah zu Ilse-Sibylle hin, die ihre rosige Laune verloren
zu haben schien. Kunststück, der Jugendfreund war ja auch
nicht sichtbar! Er schwärmte sicherlich auch am Strand den
Mond an.
Doch nein, dort tauchte er auf, näherte sich jetzt. Hm, gar
nicht so übel. Wie geschaffen, Frauenherzen zu betören.
Etwas Verwegenes lag über der sehnigen Gestalt, dem
hageren Gesicht mit den lustigen, klugen Augen darin.
Und siehe da, Ilse-Sibylle lachte schon wieder!
Krafft entfernte sich.
Zu Hause stürmte Lo zu ihrem Zimmer hinauf, sank in die
Knie schluchzend vor Glück. So also sah das Glück aus, das
sie schon lange erträumt! Wie war sie bisher gleichgültig
über das Werben der Männer hinweggegangen – doch
dieser – ja, der hatte sie bezwungen von Anfang an.
Wer konnte dabei schlafen?
Wohl entkleidete sie sich, ging zu Bett – aber einschlafen
konnte sie noch lange nicht.
Sie erwachte auch früher als zur gewohnten Stunde. Bis die
Eltern heute, am Sonntag, aufstehen würden, das konnte
noch gut zwei Stunden dauern. In der Zeit wollte sie einen
Ritt unternehmen. Vielleicht begegnete sie Winfried
unterwegs.
In dieser frohen Erwartung machte sie sich auf den Weg.
Ihr Ziel war Dünentrutz. Immer wieder umkreiste sie es,
doch so scharf sie auch umherspähte, der Ersehnte war
nirgends zu erblicken.
So entschloß sie sich, den Verwandten einen
Morgenbesuch zu machen. Hoffentlich war man schon auf.
So platzte sie denn mit frischfröhlichem Gruß in das
Frühstückszimmer, wo man gerade mit der Mahlzeit fertig
war und nun ein behagliches Eckchen aufsuchte, um sich
dort niederzulassen.
Krafft war entsetzlich übler Laune, und die Damen sahen
verstimmt und angegriffen aus.
Los Erscheinen wirkte wie ein Sonnenstrahl, der durch
düsteres Gewölk bricht. Kraffts finstere Miene hellte sich
auf.
»Sieh mal einer an, die süße Lo! Schon so früh auf den
entzückenden Beinchen?«
»Warum nicht?« lachte sie. »Ich bin ein Landkind und
daher Frühaufsteherin.«
»Na – um fast elf Uhr!« spottete er.
»Bitte sehr, ich habe bereits einen stundenlangen Ritt
hinter mir.«
»Demnach scheint dir das Fest ausgezeichnet bekommen
zu sein.
Wie machst du es eigentlich, daß du stets so prächtiger
Laune bist?
Kannst du das Rezept nicht deiner Base geben und es ihr
zur Benutzung warm empfehlen?«
»Nun, deine Laune scheint auch nicht gerade rosig zu sein«,
meinte Lo trocken. »Aber das bringt ein Fest so mit sich, die
berühmte Katerstimmung nämlich. Da will ich euch einen
Vorschlag machen, wie wir den Misepeter in die Flucht
schlagen können. Wir veranstalten eine gemütliche
Nachfeier. Einverstanden?«
»Kleine Lo, wie bist du klug und reizend!« lobte er. »Ich bin
sehr dafür, deinen Vorschlag zu akzeptieren. Doch die
gestrenge Gebieterin meines Heims und Herdes – «
»Ich bin sehr damit einverstanden«, unterbrach sie ihn
gereizt. Gut, daß der Diener in diesem Augenblick eintrat.
»Herr Dr. Vehr läßt die Frau Baronin fragen, ob er am
Nachmittag seine Aufwartung machen darf.«
»Selbstverständlich!« entgegnete sie lebhaft. Müdigkeit und
Verstimmung waren mit einem Schlage von ihr gewichen.
In die eben noch so kühlen Augen trat ein Leuchten.
»Sagen Sie dem Herrn Doktor – doch nein, ich gehe selbst
an den Apparat.«
Krafft sah ihr mit einem eigentümlichen Blick nach, und
das Antlitz der Tante überzog sich mit der Röte des
Unwillens.
Lo wurde es schwül. Sie überlegte, ob es nicht besser wäre,
Reißaus zu nehmen, doch da kam Ilse-Sibylle wieder, froh
und lachend.
»Ich habe ihn zum Nachmittag hergebeten. Du hast doch
nichts dagegen, Krafft?«
»Oh – bitte sehr!«
Lo sah betroffen zu ihm hin. Eisig war der Klang seiner
Stimme, stahlhart der Blick der graugrünen Augen. Wie
konnte Ilse-Sibylle nur so gelassen dabei bleiben!
Daß zwischen den Gatten etwas nicht stimmte, war ihr
schon längst klar. Doch wer trug die Schuld daran? Das zu
ergründen war ihr noch nicht gelungen, weil beide sie nicht
in ihr Fühlen und Denken blicken ließen.
»Lo, ich komme mit dir zu Pferde nach Unruh«, riß die
Base sie aus ihren Grübeleien. »Ich esse bei euch zu Mittag
und kehre in eurer Gesellschaft nach Dünentrutz zurück.«
»Was ich dir verbiete!« warf der Gatte in kalter Ruhe ein.
»Du bist immer noch nicht so sicher auf dem Pferd, daß du
dich in Los Gesellschaft vom Hof wagen kannst. Und ich
habe keine Zeit, um dich zu begleiten.«
»Ich bin aber bereits sehr sattelfest. Frage nur Lo.«
»Los Urteil ist mir nicht maßgebend. Sie ist eine so
verwegene Reiterin, daß sie für Anfänger kein Verständnis
haben kann. Schlage dir also deinen unvernünftigen
Wunsch nur aus dem Köpfchen.«
»Ich will aber!« warf sie den Kopf in den Nacken.
»Will – ach, du lieber Himmel, ich will auch so manches«,
gab er ungerührt zurück. Er schien ruhig. Allein in seinen
Augen drohte und warnte etwas, ihn nicht zu reizen.
In Lo stieg ein banges Gefühl auf.
»Ilsibyll, gib doch nach!« redete sie ihr zu. »Krafft will dich
doch nicht schikanieren. Er fürchtet, daß dir bei dem Ritt
etwas zustoßen könnte.«
»Ach, sieh mal an, kleine Lo, das hast du gemerkt?«
Nach diesen ironischen Worten trat eine schwüle Stille ein,
in die Winfried von Lürstädt hineinkam.
Und da vergaß Lo alles: Ilse-Sibylle, Krafft von Broede, die
beklemmende Atmosphäre im Dünenschloß.
Sie griff nach ihrem Herzen, als müßte sie es festhalten, so
rasend klopfte es. Die Augen brannten in dem vor Erregung
erblaßten Gesicht. Die Hand, die sie ihm zur Begrüßung
entgegenstreckte, war eiskalt. Er nahm sie mit tadelloser
Verbeugung. Doch kein Druck erfolgte, nicht das kleinste
vertrauliche Zeichen.
Herrgott, warum krampfte sich plötzlich ihr Herz
zusammen in nie geahnter Qual?
Nur gut, daß die Herren in ein lebhaftes Gespräch kamen,
an dem sich auch Frau von Bruckheim beteiligte. So blieb
Lo unbeobachtet. Ilse-Sibylle, die sich still verhielt, hatte
sie nicht zu fürchten. Die war selbst in sich versunken.
Ganz unerwartet sprach sie dann den Verwalter an:
»Herr von Lürstädt – «
»Frau Baronin?«
»Haben Sie Zeit?«
»Ich stehe zu Diensten.«
»Dann bitte ich Sie, meine Base und mich zu Pferde nach
Unruh zu begleiten. Mein Mann will mich ungern allein
reiten lassen, und er selbst ist verhindert – «
Lo blickte Ilse-Sibylle erschrocken an. Großer Gott, was
wagte sie! Sich dem ausdrücklichen Befehl des Gatten so
hochmütig zu widersetzen!
Und dann die Stimme, mit der er dem Verwalter Bescheid
gab, der ihn fragend ansah! Lo schauerte unter ihr
zusammen.
»Tun Sie meiner Frau nur den Gefallen, Herr von Lürstädt.«
Lo bewunderte den Mann, der solche Gewalt über sich
hatte. Ein Glück für Ilse-Sibylle, die sich ihrer Meinung
nach unerhört benahm. Diese Ansicht schien übrigens Frau
von Bruckheim mit ihr zu teilen. Denn der Blick, mit dem
sie die Nichte musterte, Heß deutlich Mißbilligung
erkennen. -
Und da konnte Lo feststellen, daß die Base sattelfest war.
Wunderbar hatte sie den rassigen Gaul unter der Faust.
Galoppierte dahin mit Schick und Schneid.
»Herrlich!« lachte sie zu Lürstädt hin, der sie nicht aus den
Augen ließ. »Bei Ihnen kann ich wenigstens nach
Herzenslust dahinjagen. Mein Mann läßt mir nie so den
Willen. Wenn ich mit ihm reite, hat er ständig etwas zu
kritisieren.«
»Womit der Herr Baron recht tut«, war die ruhige
Entgegnung des Verwalters. Er lächelte leicht, als sie ihn
verblüfft ansah.
»Ich meine, daß Frau Baronin sonst in so kurzer Zeit nicht
eine so vorzügliche Reiterin geworden wären«, ergänzte er.
Ilse-Sibylle lachte und sah sich nach Lo um, die ganz gegen
ihre sonstige Gewohnheit gemächlich ritt. Stets blieb sie
hinter ihnen zurück. Absichtlich, denn sie fürchtete, ihre
Beherrschung zu verlieren. Keinen Blick hatte der Mann für
sie, was ihr Herz bitter schmerzen machte. Gewiß, Krafft
hatte ihm seine Frau anvertraut, daher mußte er auf sie
achten. Und doch hätte er ihr einmal einen verstohlenen
Blick, ein vertrautes Wort schenken können.
Am Nachmittag wird es besser werden, tröstete sie sich.
Dann hat er Zeit, sich mir zu widmen.
Allein es wurde nicht besser. Natürlich war Lürstädt bei der
kleinen Nachfeier zugegen. Die Zeiten waren dahin, wo er
nur zu geschäftlichen Besprechungen das Schloß betrat.
Dafür sorgten schon die Damen, daß er nun zwanglos
darin aus- und einging. Das hatte Krafft, als er von seiner
Reise zurückkehrte, nicht wenig erstaunt. Lachend hatte er
gesagt:
»Was für ein böser Mensch Sie doch sind, Herr von
Lürstädt! Solange ich allein war, fiel es Ihnen nicht ein, mir
Einsamem Gesellschaft zu leisten. Nun aber die Damen
hier sind – «
»Ich wußte ja nicht, Herr Baron – «
»Schon gut«, hatte dieser abgewinkt. »Ihre
Unzugänglichkeit ist mir ja bekannt.«
Lo war heute von einer Lustigkeit, die fast übertrieben
anmutete. Nur nicht zur Besinnung kommen! Sonst hätte
sie die Qual hinausschreien müssen, die ihr Herz
umkrallte. Wie beneidete sie Ilse-Sibylle, die mit dem
Jugendfreund plauderte und lachte, sich unbeschwert dem
Zusammensein mit ihm hingab!
Doch diese frohgemute Stimmung war mit einem Schlage
dahin, als es ans Abschiednehmen ging. Mit
tränenverdunkelten Augen sah sie auf den Mann, der sich
über ihre Hand beugte.
»Leb wohl, Ilsibyll, morgen muß ich wieder fort. Ich kann
noch nicht seßhaft werden, habe noch zu unruhiges Blut.«
»Morgen schon?« fragte sie leise. »Gibt es denn keinen
Menschen in der Heimat, der dich halten könnte?«
»Du hättest es gekonnt«, entgegnete er in ungewohntem
Ernst. »Aber du bist ja nicht mehr frei. Bist die Gattin eines
Mannes, der dir viel mehr bieten kann als ich. Es ist gut,
daß du ihn erwähltest, Ilsibyll. Er paßt vortrefflich zu dir.
Und ich will weiterwandern. Nach Schmetterlingsart von
allen süßen Blüten naschen – und dabei vergessen, daß es
eine Ilsibyll gibt, die schön wie ein Traum ist.«
Ehe sie etwas erwidern konnte, ging er davon.
Als sie sich umwandte, stand Krafft hinter ihr.
Auge ruhte in Auge, bis er dann langsam sprach:
»Wenn du dir das nächste Mal so fabelhafte Komplimente
machen läßt, dann laß deinen Anbeter wenigstens auf mich
Rücksicht nehmen – «
Hochmütig warf sie den Kopf zurück, ihren Mund
umspielte ein geringschätziges Lächlen.
»Dann stehe du ein andermal nicht in den Ecken herum.«
»Oh, bitte sehr, in meinem Hause.«
»Kannst du tun und lassen, was du willst. Aber beruhige
dich nur: Ilse-Sibylle Rainer – «
»Broede wolltest du wohl sagen.«
»Nein, Rainer! Also – Ilse-Sibylle Rainer weiß sehr wohl,
wie weit sie gehen kann.«
»Fabelhaft beruhigend für mich.«
»Na also!«
Wieder flog der Kopf in den Nacken. Sie wandte sich ab,
ließ ihn einfach stehen.
Dieser Vorgang war von niemand bemerkt worden. Alle
lauschten den launigen Worten Dr. Vehrs, der eine
Abschiedsrede hielt.
Langsam näherte Ilse-Sibylle sich der Gruppe.
Welch eine einnehmende Persönlichkeit der Freund doch
war! Etwas herzerquickend Frisches ging von ihm aus.
Hätte sie ihn doch lieben können! Lachenden Mundes
wäre sie vor Krafft von Broede hingetreten, hätte frei und
froh bekannt: Sieh her, ich liebe diesen Mann. Habe also
stichhaltige Gründe, mich von dir zu trennen.
Und wäre dem anderen gefolgt über Länder und Meer,
durch Not und Tod.
Sicherlich hätte sie den Jugendgespielen lieben können,
wenn ihr nicht Krafft von Broede begegnet wäre. Wäre
Hartmut gekommen, bevor das Schicksal sie ereilte.
Nun kam sie nicht mehr von ihm los. Oh, Krafft von
Broede!
Augenblicklang war es ihr, als müßte sie zu Dr. Vehr eilen,
ihn bitten: Nimm mich mit dir, schütze mich vor meinem
eigenen Herzen, sonst muß ich versinken in einer Liebe -.
Und wäre doch langsam zugrunde gegangen ohne Krafft
von Broede!
Nachdem Vehr gegangen war, wollte unter den
Zurückbleibenden keine rechte Stimmung mehr
aufkommen. So brachen Rainers denn auch bald auf.
Wie anders war für Lo diese Heimfahrt! Sterbenselend
fühlte sie sich und durfte sich doch nicht gehenlassen, um
die Eltern nicht zu beunruhigen.
Oh, wenn sie wüßten – sie hätten mit ihr gelitten!
Und konnte Lo in der Nacht vorher vor Glück nicht
schlafen, so konnte sie es in dieser Nacht nicht vor
herzblutendem Jammer.
Wie zerbrochen erhob sie sich am Morgen. Trotzdem war
eine eiserne Entschlossenheit in ihr. Sie mußte sich
Gewißheit verschaffen! War nicht gewillt, sein sonderbares
Verhalten still und ergeben über sich ergehen zu lassen. Sie
wollte und mußte ihn zur Rede stellen!
So ritt sie dann stundenlang im Dünentrutzer Gelände.
Irgendwo mußte sie ihm begegnen.
Und endlich kam er ihr vom Wald aus entgegengeritten.
Stutzte, als er sie so unerwartet vor sich sah, zog höflich
den Hut und wollte an ihr vorüber.
»Guten Morgen, Herr von Lürstädt«, sprach sie ihn an, so
daß er notgedrungen sein Pferd zügeln mußte.
»Guten Morgen, gnädiges Fräulein. Wie ist Ihnen der
gestrige Abend bekommen?«
Lo sah scharf zu ihm hin. Wollte er sich gar über sie lustig
machen? Doch nein, sein Gesicht war ernst und
verschlossen.
O ja, er war wohl jeder Situation gewachsen, der Freiherr
von Lürstädt! Sicher und weltgewandt plauderte er,
während die Pferde nebeneinander dahintrabten. Sprach
von allem möglichen, nur nicht von dem, worauf sie
herzklopfend wartete.
Eine ganze Weile hörte sie sich das mit an, dann konnte sie
es nicht mehr ertragen. Heiß stieg es in ihren Augen,
schmerzend, aus qualzerrissenem Herzen empor.
»Winfried!«
Leise, bebend kam sein Name über ihre zuckenden Lippen,
die ebenso weiß waren wie das Antlitz. An dem seinen
hingen flehend ihre Augen, aus denen nun schwere Tränen
tropften.
Sein Pferd warf nervös den Kopf zurück, als würde der
Zügel zu fest angezogen.
Das dauerte nur einige Atemzüge lang. Dann neigte er sich
ihr höflich zu.
»Wie meinen gnädiges Fräulein?« fragte er ruhig.
Da zerbrach etwas in ihr.
Das ließ sich nun wirklich nicht mehr ertragen, nein, gewiß
nicht! Jetzt erst schwand alle Hoffnung dahin, daß ein
Mißverständnis zwischen ihnen liegen könnte. Noch ein
Blick traf ihn, in dem Qual, Bitterkeit und tiefverletztes
Empfinden vereint stand.
Dann gab sie ihrem Pferd die Sporen und jagte davon.
Schneller, immer schneller, nicht achtend, daß das zierliche
Tier es kaum schaffte. Erst als es stehenblieb, zitternd und
mit Schaum bedeckt, da kam sie zur Besinnung.
Liebkosend klopfte sie seinen Hals.
»Irrwisch, armer Kerl!« sagte sie leise. »Du mußt büßen,
was andere verbrachen.«
Tränen tropften auf des Pferdes Mähne, das nun
gemächlich weitertrabte. Oh, diese Schmach – diese
entsetzliche Schmach!
Da hatte sie manch einen Freier abgewiesen, war verrufen
in der Umgegend, daß ihr kein Mann gut genug wäre. Daß
sie wahrscheinlich auf einen Märchenprinzen wartete.
Und nun – hier, wo sie von ganzem Herzen liebte, bot sich
ihr verletzende Gleichgültigkeit nach Minuten süßer
Tändelei!
Wenn er nicht der Edelmann ist, für den sie ihn hält, dann
pfeifen es die Spatzen bald vom Dach, daß sie, Elisabeth-
Charlotte Rainer, sich einem Mann an den Hals geworfen
hat.
Sie ritt langsam Schritt für Schritt, während ihr Herz sich
wand in Qual und Pein. Wenn sie sich doch
zusammenreißen könnte, damit die Eltern von ihrem
Jammer nichts merkten! Ihre zärtliche Sorge würde Lo
vollkommen haltlos machen.
Als sie Unruh erreicht hatte, saß sie am Pferdestall ab,
übergab das Pferd einem Knecht und schritt langsam dem
Herrenhaus zu.
Ihr erschien es kaum möglich, daß sie vor wenigen Tagen
noch wie ein wilder Cowboy über den Hof gejagt war. Ein
ganzes Menschenleben schien ihr dazwischen zu liegen,
voll Herzeleid und Schmach.
Als sie am Speicher vorüberging, scholl ihr Gesang daraus
entgegen.
Die Gutsmädchen sangen bei ihrer eintönigen Arbeit. Lo
mochte diese schlichten Weisen sehr gern, die so viel
schmerzlichsüße Verträumtheit in sich bargen, die von der
Liebe Lust und Leid erzählten:
»Ich liebte dich so heiß, so innig,
ich dacht, dein Herz war’ ewig mein.
Du aber machst mir nichts als Schmerzen,
du aber machst mir nichts als Pein – «
Lo lief davon, um das traurige Lied, das so gut zu ihrer
trostlosen Verfassung paßte, nicht länger mit anhören zu
müssen.
Doch als sie in ihr Zimmer kam, drang der Gesang durch
die geöffneten Fenster deutlich zu ihr herein.
»So leb denn wohl, du Heißgeliebter,
nie wirst du, nie, mich wiedersehn – «
Da machte sie das Fenster zu und weinte verzweifelt.
Die Tage gingen dahin, und Weihnachten stand vor der
Tür.
Ilse-Sibylle vergaß ihre Herzensnot, schaffte eifrig Berge
von Geschenken herbei. Immer wieder erbat sie von Krafft
Geld, das er ihr lächelnd gab.
Schon am frühen Morgen des Weihnachtstages arbeitete sie
in dem großen Saal, in dem den Gutsleuten und deren
Kindern beschert werden sollte.
»Krafft, du mußt mir helfen!«
Er trat ein, schloß die Tür und schaute lächelnd auf das
entzückende Bild, das sich seinen Augen bot. Dann setzte
er sich zu ihr auf den Boden, die langen Beine von sich
streckend.
Sie lachte ihn an mit strahlenden Augen. Ihre Wangen
glühten vor Eifer.
»Schau mal her, Krafft, dieser dicke, süße Bengel muß das
Pferdchen haben, nicht wahr?«
»Selbstverständlich«, bestätigte er, während seine Augen
Bild und Pferd nicht erfaßten, die sie ihm unter die Nase
hielt, sondern an ihrem heute so frohen Gesicht hingen.
»Und diese Puppe bekommt die Kleine mit dem dunklen
Köpfchen, meinst du nicht auch?«
»Gewiß.«
»Aber Krafft, du siehst ja gar nicht hin!« rief sie unmutig.
»Doch, kleine Frau, sprich nur immer weiter.«
Er bemühte sich, fortan aufmerksam zu sein, und wurde
ihr eine brauchbare Hilfe.
Es war schon um die Mittagszeit, da waren sie immer noch
eifrig bei der Sache. Sie wurde allmählich nervös, klopfte
ihm auf die Hand, wenn er etwas verkehrt machte. Dann
lachte er, hielt die strafende Rechte fest und küßte die
rosigen Fingerspitzen. Nicht einmal Mittag wollte sie essen,
doch da sprach er ein Machtwort.
Während Ilse-Sibylle aß, überlegte sie, wie sie alles am
praktischsten einteilen könnte. Sie hörte nicht darauf, was
die anderen sprachen. Gab daher öfter verkehrte Antworten
und mußte sich gefallen lassen, daß man sie auslachte.
Dann fiel ihr etwas ein, das sie gleich in Worte faßte:
»Herr von Lürstädt«, wandte sie sich an ihn. »Mein Mann
sagte mir, daß Sie vorige Weihnachten fort waren. Wollen
Sie womöglich heute wieder verreisen?«
»Gewiß, Frau Baronin. Es ist doch so üblich, daß die
unverheirateten Beamten an den Festtagen verreisen.«
Ȇblich? Wie soll ich das verstehen? Haben Sie Verwandte,
die sich auf Ihr Kommen freuen?«
»Nein, Frau Baronin. Ich habe weder Eltern noch
Geschwister.«
»Dann wollen Sie sich unter Fremden herumtreiben?
Daraus wird nichts! Nicht wahr, Sie bleiben hier?«
Mit einem entzückenden Lächeln streckte sie ihm die Hand
hin, die er an die Lippen zog. In seinem Gesicht zuckte es.
»Ich bleibe gern, Frau Baronin.«
»Also dann verreisten Sie im vorigen Jahr nur, weil es ›so
üblich‹ ist, und ließen mich hier allein sitzen?« fragte
Krafft.
»Ich wußte nicht, ob ich bleiben durfte, Herr Baron. Dazu
aufgefordert wurde ich nicht.«
»Oh, über diesen unzugänglichen Menschen! Ein Glück,
daß meine Frau darauf kam, Sie aufzufordern. Sonst wären
Sie aus lauter ›Üblichkeit‹ auch heute abgedampft. Wohin
sollte die Reise gehen?«
»Wahrscheinlich in die Berge.«
»Sonderbarer Mensch! Wenn Sie klettern wollen, dann
können Sie das auch hier tun. Und zwar die Trittleiter zum
Weihnachtsbaum hinauf, der noch geschmückt werden
muß. Meine Frau kann noch sehr gut eine Hilfe brauchen.«
So wurde denn auch er noch von Ilse-Sibylle angestellt,
ebenso Frau von Bruckheim. Es wurde tüchtig geschafft,
dabei auch gescherzt und gelacht.
Um die Kaffeezeit kam Lo. Ihr Lächeln erstarrte, als sie
Lürstädt sah, den sie hier bestimmt nicht vermutet hatte. Er
war dabei, vergoldete Nüsse an den Baum zu hängen.
»Kommst du auch noch helfen, Lo?« fragte Ilse-Sibylle
fröhlich.
»Hast du eine Ahnung! Ich habe zu Hause noch reichlich
zu tun. Habe noch eine wichtige Besorgung in der Stadt
gemacht und wollte eben nur schnell mal hereingucken.
Du hast doch wahrhaftig Hilfe genug. Mir hilft nur die
Mutti. Mein Vater ist beim Baumschmücken nicht zu
gebrauchen. Wo der hinfaßt, da kracht gleich alles.«
Mein Vater – wie das aus ihrem Mund klang! Wo war die
Zeit, da sie ihn Julius genannt hatte in Übermut und
Schelmerei? O ja, Lo hatte sich sehr verändert.
»Vielleicht ist deine Hilfe mehr wert als meine reichliche
hier zusammen«, bemerkte Ilse-Sibylle lachend und wurde
heftig wegen böser Verleumdung bedroht.
»Denke dir nur, Lo, Herr von Lürstädt wollte heute wieder
verreisen, wie in den Jahren vorher, obgleich er gar keine
nahen Verwandten hat und daher nicht weiß, wo er
eigentlich hin soll!« sagte Ilse-Sibylle lebhaft. »Wie gut, daß
ich ihn um sein Bleiben bat!«
Lo antwortete nicht darauf. Sie sah zu dem Mann hin, der
ruhig seiner Beschäftigung nachging.
»Jetzt muß ich aber verschwinden«, sagte sie hastig. »Sonst
wird bei uns nicht alles zur Zeit fertig.«
Lürstädt erhielt den Auftrag, sie hinauszubegleiten, da
Krafft gerade eine Arbeit hatte, die er schlecht weglegen
konnte.
Lo kletterte in den Schlitten, ließ sich schweigend in die
Pelzdecke packen.
»Gnädiges Fräulein sind ohne Kutscher?«
»Wozu brauche ich den?«
»Es wird bald dunkeln. Da sind Sie dann ohne Schutz.«
»Ich beschütze mich selbst!« kam es schroff von den
hochmütig geschürzten Lippen, so daß der Mann
unwillkürlich zurückwich.
Der Schlitten schleuderte, so preschte das Pferd davon.
Wie versteinert war Winfrieds Gesicht, als er in den Saal
zurückkehrte. Es hätte auffallen müssen, wenn man Zeit
gehabt hätte, auf den Mann zu achten.
Bis Sonnenuntergang wurde noch eifrig geschafft, dann war
alles fertig. Nun noch rasch umkleiden, dann konnte die
Feier beginnen.
Ilse-Sibylle trug ein schneeweißes Kleid mit Christrosen als
Schmuck. Als sie an dem Klavier saß und »Vom Himmel
hoch, da komm ich her«, sang,
(
erschien sie den
Anwesenden, als wäre sie selbst vom Himmel
herniedergestiegen.
Krafft hörte sie zum ersten Mal singen. Die weiche, süße
Stimme erschütterte ihn. Ein Bild stieg vor seinen Augen
auf, die holdselige Gestalt vor seinem Auto liegend.
Er fuhr sich hastig über die Augen, als könnte er damit
dieses quälende Bild wegwischen.
Nun sangen auch die Kinder; Mütter und Väter fielen ein.
Wie war es heute doch alles so anders als in den
vergangenen Jahren! Und nur deshalb, weil ihre schöne
Herrin da war, die ihnen alles gab mit frohem, liebem
Lächeln. Sie kniete bei den kleinen Kindern, zeigte ihnen
ihr Spielzeug, lachte sie an. Da überwanden sie ihre Scheu,
Ärmchen streckten sich ihr entgegen.
Auch nicht einer war unter den vielen Menschen, der nicht
beglückt nach Hause gegangen wäre.
Nicht anders war es im Saal nebenan, wo den Beamten mit
ihren Familien und der Dienerschaft beschert wurde. Auch
hier war Ilse-Sibylle Hauptperson, gab auch hier mit
herzlichem Lächeln.
Dann kam die Feier im engsten Kreise. Ilse-Sibylle führte
Lürstädt an seinen Platz, hatte für jedes Geschenk eine
scherzhafte Bezeichnung. Er konnte nicht sprechen, beugte
sich nur tief über ihre Hand. Betroffen bemerkte sie den
gequälten Ausdruck in seinen Augen.
»Herr von Lürstädt – Sie leiden?« fragte sie leise. »Kann ich
Ihnen helfen?«
»O bitte – mir fehlt nichts – «
Davon war sie wohl keineswegs überzeugt, drang jedoch
nicht weiter in ihn. Sagte ihm noch einige herzliche Worte
und ging dann zur Tante, die sich soeben von Krafft
beschenken ließ. Als Ilse-Sibylle nun noch mit ihren Gaben
hinzukam, wehrte die so reichlich Beschenkte lachend.
»Kinder, ihr übertrefft euch ja! Unglaublich, wie ihr mich
verwöhnt!«
Die junge Frau umfaßte sie, sich dabei fest an sie
schmiegend. Sie hatte unter der Entfremdung, die in letzter
Zeit zwischen sie getreten war, gelitten.
»Tante Marianne, hast du mich nun wieder lieb?« fragte sie
zaghaft.
»Kind, wer soll dich wohl nicht liebhaben!« entgegnete
Frau von Bruckheim ergriffen.
Oh, Ilse-Sibylle wußte wohl, wer sie nicht liebte. Aber
darüber wollte sie sich heute nicht grämen. Heute sollte ihr
Herz ganz still sein und der Kopf nur liebe, gute Gedanken
hegen. Leicht schob sie ihre Hand unter den Arm des
Gatten und führte ihn zu seinen Geschenken.
Er sah auf die Sachen nieder, die mit Liebe für ihn
ausgesucht waren. Und als sie gar noch in drolligem Eifer
bemerkte: »Das habe ich alles von meinem ersparten Geld
gekauft!« da stieg es ihm heiß in die Augen. Er ergriff ihre
Hände, führte sie an die Lippen.
»Weißt du auch, Ilsibyll, daß dies seit Jahren die ersten
Geschenke sind, die ich erhalte? Seit Jahren hat nun wieder
jemand an mich gedacht.«
»Oh, Krafft, so arm warst du?« fragte sie erschrocken.
»Ja – so arm, Ilsibyll. Wenn ich an das vorige
Weihnachtsfest denke, so ist es mir ein Rätsel, daß ich es
überhaupt ertragen konnte. Aber jetzt bist du an der Reihe,
du unglaublich reizender Weihnachtsengel.«
Damit führte er sie zu ihrem Platz.
Zuerst war sie sprachlos über die reichen Gaben, doch
dann brach der Jubel los. Sie freute sich wie ein Kind und
hatte keine Ahnung, wieviel Dank das dem großzügigen
Spender war.
Dann erspähte sie einen länglichen Kasten.
»Das ist doch nicht etwa -??« fragte sie atemlos.
»Eine Geige, Ilsibyll.«
Mit zitternden Händen griff sie nach dem Instrument, das,
wie sie mit einem Blick erfaßte, sehr kostbar war.
Streichelte zärtlich darüber hin. Und dann spielte sie.
Vergaß alles um sich her. Weich kamen die Töne, voll
unendlicher Süße. Sie stand da wie weltentrückt.
Das Schönste und Beste hatte es von dem Vater geerbt,
dieses gottbegnadete Künstlerkind: das Talent und die
Schönheit.
Als sie den Bogen absetzte, mußte sie erst langsam wieder
zur Erde zu rückfinden. Sah die Ergriffenheit ihrer Zuhörer
und lachte dann glucksend.
Während des Abendessens herrschte eine frohe Stimmung,
wie schon lange nicht mehr. Und als man später die
Weihnachtsbowle trank, wurde man noch froher.
Es war spät, als man sich zurückzog. Ilse-Sibylle war noch
zu erregt, um zu schlafen. Es war heute zu vieles auf sie
eingestürmt.
Sie streifte das Festgewand ab, zog ein leichtes Morgenkleid
über und ging ins Wohnzimmer.
Die Ruhe, die sie umgab, legte sich wohltuend auf ihre
aufgepeitschten Nerven. Sie legte sich im Sessel zurück,
verschränkte die Hände hinter dem Kopf und sah
träumend in die Flammen. Weich war ihr Antlitz, von
bestrickender Süße.
Sie überdachte den Abend, und ein Glücksgefühl stieg in
ihr auf.
Und sie dachte an Ersehntes, Erträumtes. Lächelte süß und
traumverloren vor sich hin.
»Ilsibyll – «
Sie fuhr auf und erblaßte bis in die Lippen. Denn der
Mann, um den sich ihre träumenden Gedanken woben,
stand plötzlich vor ihr.
»Ilsibyll, habe ich dich erschreckt?«
Er ergriff ihre Hände, die sie ihm abwehrend
entgegenstreckte, küßte sie in zarter, huldigender Weise. Sie
konnte nicht sprechen, schüttelte nur den Kopf.
»Ich war noch unten im Stall, um nach einem erkrankten
Pferd zu sehen. Als ich zurückkam, sah ich Licht in deinem
Zimmer. Nahm an, daß du noch nicht schlafen könntest.
Ich möchte dir Gesellschaft leisten, Ilse-Sibylle. Doch ich
sehe schon – der abweisende, hochmütige Ausdruck in
deinem Gesicht, das leicht gekrauste Naschen – gleich wirst
du mich fortschicken.«
»Gewiß nicht, Krafft«, unterbrach sie ihn hastig. »Ich will
mir nur schnell ein Kleid überziehen, dann stehe ich dir
zur Verfügung.«
Sie wollte davoneilen, doch er hielt sie zurück.
»Bitte, Ilsibyll, du mußt so bleiben. Tu es – mir zuliebe!«
»Wie du wünschest. Aber mehr Licht werde ich machen.«
»Auch das ist nicht erforderlich, kleine Frau. Gerade bei
dieser Beleuchtung plaudert es sich am besten. Nur einen
Sessel möchte ich haben, dem deinen gegenüber, dann bin
ich – wunschlos glücklich.«
»Ach -!« versuchte Ilse-Sibylle zu scherzen, was ihr jedoch
nicht recht gelang. Ihr Herz klopfte stürmisch, wie rasend.
Was er heute nur hatte? Diese ungewohnte weiche
Stimmung beunruhigte sie ungemein.
Sie rückte ihm einen Sessel zurecht, holte Zigaretten.
»Weißt du, Ilsibyll, was ich tun werde? Ich hole uns einen
extraguten Sekt, dann trinken wir, plaudern dabei und
machen es uns gemütlich, du reizender Weihnachtsengel.
Aber du darfst indes nicht weglaufen. Versprichst du mir
das?«
»Ja, Krafft – «
Eine unerklärliche Angst preßte ihr das Herz zusammen.
Regungslos verharrte sie, bis er wiederkam.
Der Pfropfen knallte, der Sekt schäumte in die Gläser
hinein.
»Prosit, Ilsibyll! Auf das, was wir lieben!«
Er trank sein Glas in einem Zug leer und forderte Ilse-
Sibylle auf, dasselbe, zu tun. Doch sie schüttelte entsetzt
den Kopf.
Er reichte ihr die Zigaretten, hielt ihr Feuer hin und
bediente dann sich selbst. Legte sich behaglich im Sessel
zurück und sah sie lächelnd an.
»Nun, kleine Mimose, wie hat dir die Weihnachtsfeier
gefallen?«
»Sehr, Krafft. Ich wurde ja so sehr verwöhnt.«
»Wie bescheiden du bist! Denn dein sehnlichster Wunsch
ist dir doch gar nicht mal erfüllt worden.«
Sie sah ihn fragend an.
»Ich meine das Auto.«
»Ach, das ist es. Ich wünsche mir eines, gewiß – aber zu
meinen sehnlichsten Wünschen gehört es nicht.«
»Darf man die erfahren?«
»Nein, Krafft – «
Es zuckte in seinen Augenwinkeln, ein Zeichen, daß er
verletzt war. Seine Stimme klang jedoch ganz ruhig, als er
sagte:
»Ich hätte dir ja gern ein Auto geschenkt – doch der
Gedanke an meine Schwester – du weißt ja, Ilse-Sibylle – «
»Ach laß doch, Krafft. Mir genügt das gemeinsame Auto.
Für kurze Strecken habe ich das entzückende Fuhrwerk,
dann das Pferd – «
»Mit dem du nie mehr so leichtsinnig herumjagen darfst
wie neulich, hörst du? Du kannst dich immer noch nicht
mit Lo vergleichen, die sozusagen im Sattel groß geworden
ist. Ich möchte dich nicht noch einmal so vor mir sehen
wie vor einem Jahr. Weißt du noch?«
»Ja, ich weiß«, entgegnete sie leise. »Wieviel liegt
dazwischen.«
Er beugte sich so weit vor, daß sein Kopf fast den ihren
berührte.
»Und bereust du, Ilsibyll, dich mir anvertraut, dein
Geschick in meine Hände gelegt zu haben?« fragte er mit
vibrierender Stimme.
Sie schüttelte den Kopf. Wie konnte sie ihm nur entrinnen,
der heute so sonderbar war!
In ihrer Angst und Not griff sie zur Geige, die sie auf den
Flügel gelegt hatte.
»Soll ich dir etwas vorspielen?« fragte sie hastig.
Er strich sich ruckartig über die Augen und lächelte.
»Gewiß, kleine Frau. Doch zuerst trinke dein Glas leer, ich
halte mit.«
Sie kam seinem Wunsch nach, da sie ihm nicht immer
widersprechen wollte. Sah in banger Sorge, wie er das
prickelnde Naß in die Kehle goß, als müßte er sich
irgendwie Mut antrinken. Dann trat er an den Flügel.
»Nun, mein weißes Märchenbild, was wollen wir spielen?«
Zum Zeichen, daß sie ihm etwas zumuten könnte, spielte
er, leicht tändelnd, mit künstlerischem Schwung.
Sie sah ihn betroffen an, sagte jedoch nichts, sondern
blätterte in den Noten und zeigte auf ein Weihnachtslied.
Und dann spielten sie, immer weiter, immer mehr.
Vergaßen darüber Zeit und Stunde.
Ilse-Sibylle hörte zuerst auf.
»Es muß doch schon spät sein!« rief sie erschrocken. »Du
zogst mich durch dein wundervolles Spiel so in den Bann,
daß ich darüber alles vergaß.«
»So ging es mir mit dem deinen, Ilsibyll. Was scheren uns
alle Uhren der Welt? Komm, laß uns noch ein wenig
plaudern.«
Nachdem sie ihre Plätze eingenommen hatten, sagte Ilse-
Sibylle verlegen:
»Krafft, ich schäme mich, daß ich immer so sorglos vor dir
gespielt habe, da du selbst so künstlerisch spielen kannst
und daher ein guter Musikkenner sein mußt. Ich glaube,
ich habe mich entsetzlich vor dir bloßgestellt.«
»Was wieder einmal eine Unterschätzung deiner
Persönlichkeit ist, kleine Frau. Ein Wunder, daß du dir
heute zutrautest, den Weihnachtsengel zu spielen. Das war
gewiß kein leichtes Amt. Ich habe es dreimal zu verwalten
gehabt – frage mich nicht, wie kläglich ich dabei versagte!«
Er zog ihre Hände zu sich heran, küßte sie, eine um die
andere, zart und huldigend. Sie lächelte zu ihm auf, ihr
sinnbetörendes Lächeln.
Da riß er sie in die Arme – küßte sie heiß –
Sie lag an seinem Herzen, unfähig zuerst, sich zu rühren.
Doch dann machte sie sich schroff frei und stand vor ihm,
todblaß. Leuchtend rot die Lippen, sprühend der Blick.
»Das war nicht recht von dir, Krafft von Broede!« rief sie
zürnend, voll leidenschaftlicher Heftigkeit. »Hüte dich, du
– ich bin dein Spielzeug nicht! Bin nicht so leicht zu haben
wie die anderen alle, die dir zu Füßen liegen, dich anbeten
in schmachvollster Weise. Ich habe dein Wort, Krafft von
Broede! Brich es nicht im – Sektrausch! Daher weißt du
wohl nicht, was du tust – und ich will es vergessen.«
»Bitte – «
Er stand vor ihr, hochgestrafft. Unerträgliche Ironie sprach
aus seinen Augen, die ihr wie ein Schlag ins Gesicht war.
Zitternd vor Erregung rief sie:
»Nennst du es etwa keinen Grund, wenn du dich mir so
näherst – wenn…«
»… ich meine Frau küsse?« vollendete er ihren stockenden
Satz. »Wickelkindchen, dabei wird kein Mensch etwas
Unehrenhaftes finden. Zumal diese Frau so schön ist, daß
sie einem armen Mann schon die Sinne verwirren kann.«
»Ich bin ja gar nicht deine Frau!« rief sie gequält. »Hast du
vergessen, was wir vereinbarten? Glaubst du, ich lasse mich
von dir als Spielzeug benutzen und in die Ecke werfen,
wenn du meiner überdrüssig geworden bist?!«
Ilse-Sibylle sah die Adern auf seiner Stirn anschwellen, die
Augen drohend aufblitzen. Sie senkte den Kopf in Angst
und Pein. Seine eiskalte Stimme bohrte sich in ihr Herz wie
eines stumpfen Messers Schneide.
»Bist du nun fertig, Ilse-Sibylle, oder hast du noch mehr so
nette Sachen auf Lager, die du mir ins Gesicht schleudern
kannst? Dann bitte – ich bin geduldig und dickfellig.«
»Nein, Krafft, nein! Ich will ja nur fort von dir.«
»So – ach! Dann will ich dir mal etwas sagen, mein Kind:
Du bleibst! Du meinst nicht? Ich werde es dir beweisen. So
ein ganz klein wenig Recht wird mir in unserem
Eheverhältnis denn doch noch zugebilligt sein. Ich bin ein
anhänglicher Bursche, mein hochmütiges Kind – mich
schüttelst du nicht so leicht ab. Dr. Vehr mag dir ja besser
gefallen als ich, doch er ist nur dein Kindheitsgefährte. Ich
aber bin dein Gatte – und ich halte, was ich halten will –
verlaß dich drauf!«
»Warum nur?« zitterte sie nun vor Empörung. »Warum um
alles in der Welt hältst du mich? Du mußt mich ja
freigeben. Bist als Erbherr verpflichtet, eine standesgemäße
Ehe einzugehen – einen Erben zu haben – «
Sie konnte nicht weitersprechen unter seinem grausam
ironischen Blick.
»Worüber du dir nicht dein törichtes Köpfchen zerbrichst!«
Großer Gott, sie ertrug das alles einfach nicht länger. Sie
hatte das Gefühl, als müßte ihr das Herz in Stücke brechen.
Heiß weinte sie auf.
Mit knapper Verbeugung verließ er das Zimmer. -
Solange die Zofe bei ihr weilte, beherrschte Ilse-Sibylle sich
mit aller Kraft. Doch als sie im Bett lag, da konnte sie sich
gehen lassen.
Doch – halt, nein! Dann hätte sie ja laut weinen müssen
vor Ratlosigkeit und Furcht, wie ein Kind, das man im
Dunkeln allein gelassen. Und das durfte sie nicht. Krafft,
der nebenan in seinem Schlafzimmer war, würde sie hören.
Ebenso sein Diener, dieser arrogante Bursche.
Wie grausam er heute gewesen war!
Und doch sollte sie erst erfahren, wie viel grausamer er
noch sein konnte.
Wenn Krafft sie auch immer mit kühler Höflichkeit
behandelt hatte, so war sein Benehmen jedoch nie
rücksichtslos gewesen. Doch nach dem Weihnachtsabend
wurde es anders. Er sah sie überhaupt nicht. Und wenn er
sie unbedingt ansprechen mußte, dann geschah es so eisig,
daß sie jedesmal erschauerte. Darunter litt sie
unmenschlich.
An einem Nachmittag, als der Herr vom Hof geritten war,
kam Lo. Sie war traurig und bedrückt, wie stets in letzter
Zeit. Genauso wie Ilse-Sibylle auch.
»Ist Krafft zu Hause?« fragte sie schüchtern die Base, und
diese schüttelte den Kopf. Die Tränen saßen ihr in der
Kehle. So weit war es schon gekommen, daß man sich in
Dünentrutz nur einfand, wenn der Herr abwesend war!
Frau von Bruckheim begrüßte Lo herzlich wie immer.
Forschend ging ihr Blick über das blasse, traurige
Gesichtchen. Obgleich ihr selbst das Herz schwer genug
war, versuchte sie immer noch, die Basen aufzuheitern.
»Kinder, musiziert!« sagte sie in frischem Ton.
Und wie zwei gehorsame Kinder gingen die jungen Damen
ins Musikzimmer.
Ilse-Sibylle setzte sich an den Flügel und blätterte in einem
Notenbuch.
»Kennst du die Lieder, Lo?«
»Nicht alle. Dieses zum Beispiel ist mir schon unbekannt.«
Ilse-Sibylle spielte die schlichte Melodie einmal durch und
sang dann mit verhaltener Stimme den Text dazu:
»War ich geblieben doch auf meiner Heiden, dann hart’ ich
nichts gespürt von all den Leiden – «
Sie hielt inne, weil sie merkte, daß heiße Tränen auf ihren
Nacken fielen. Hastig wandte sie sich der hinter ihr
stehenden Lo zu und sah dann Krafft mitten im Zimmer
stehen. Hochgestrtafft stand er da, breitbeinig, die
Reitpeitsche in der herunterhängenden Hand. Wie
bräunlicher Marmor war sein Gesicht, die Augen kalt und
glitzernd.
»Ja, wärst du geblieben doch auf deiner Heiden – uns allen
wäre heute wohler!«
Dann ein Auflachen, so grausam und bitter, daß allen das
Blut in den Adern zu erstarren schien.
»Aber singe nur weiter – das hört sich ja sooo rührend an!«
Damit machte er kehrt, die Tür hinter sich zuschlagend.
»Ich fahre nach Hause«, sagte Lo leise.
Die Baronin hielt sie nicht zurück, begleitete sie hinaus.
Vor dem Portal stand Krafft und wandte sich den Damen
zu.
»Du willst schon nach Hause, Lo?«
Sie reichte ihm stumm die Hand. Bestieg das Auto und fuhr
davon.
Ilse-Sibylle sah ihr nach mit einem Blick, in dem deutlich
das Verlangen stand, auch so davonfahren zu können –
und somit dem allen zu entfliehen.
Da traf sie sein Blick unter halbgeschlossenen Lidern
hervor.
Davor floh sie bis in ihr Schlafzimmer. Warf sich auf den
Diwan und schluchzte verzweifelt. Das Schluchzen
verstärkte sich noch, als die Tante sich über sie beugte.
»Ilsibyll, mein armer Liebling – «
»Ach, Tante Marianne, ich halte es bestimmt nicht länger
aus! Du hast ja gehört – es wäre ihm wohler, hätte er mich
nie gesehen. Warum läßt er mich nur nicht gehen? Warum
quält er mich denn so? Mag er mich lieber töten – «
»Was auch am besten wäre!«
Wieder stand Krafft von Broede im Zimmer, aschfahl im
Gesicht.
Ilse-Sibylle klammerte sich an die Tante, die sie fest
umfaßte und vorwurfsvoll zu ihm hinsah.
»Siehst du denn nicht, daß das Kind sich vor dir fürchtet?«
sagte sie mit tonloser Stimme. »Willst du es zugrunde
richten? Denn dieses entsetzliche Leben halten die feinen
Nerven nicht mehr lange aus. Ich weiß zwar nicht, was
zwischen euch vorgefallen ist, aber so groß kann Ilse-
Sibylles Vergehen doch unmöglich sein, daß es dir das
Recht gibt, sie so unglaublich zu behandeln. Sie vergeht
wie eine Blume, der man Licht und Wasser entzieht.
Jage mich doch nicht in einen solchen Zwiespalt hinein,
Krafft! Ich liebe dich, liebe Ilsibyll – ich weiß ja gar nicht,
wessen Partei ich ergreifen soll. Ich leide mit euch. Es
zwingt dich doch niemand, die Ehe aufrechtzuerhalten –
laß sie doch endlich gehen. Sie erträgt es bestimmt eher,
wenn du dich in Güte von ihr trennst, als wenn du sie so
unmenschlich quälst.
Ich bin überhaupt irre an dir geworden, mein Junge.
Komm, sei doch wieder einmal zugänglich, und laß uns in
Ruhe besprechen, wie sich alles am besten regeln ließe.
Mein Vorschlag ist der: Ich fahre morgen mit Ilsibyll zu
einer Freundin, der ich schon lange meinen Besuch
versprochen habe. Dort versuche ich, Ilse-Sibylle
unterzubringen. Wenn ich sie geborgen weiß, kehre ich
wieder hierher zurück. Unterdessen unternimmst du
Schritte zur Scheidung. Recht so, Krafft?«
»Nein – Ilse-Sibylle bleibt hier.«
Das klang so hart und unerbittlich, daß Frau von
Bruckheim der Mut sank. Seine ganze Gestalt schien
förmlich durchtränkt von Härte und Unerbittlichkeit.
Da stieg Empörung in ihr hoch.
»Das wird sie nicht tun!« trumpfte sie auf. »Sie ist deine
Sklavin nicht. Du hast ja noch nicht einmal ein Anrecht an
sie.«
»Das können wir ja gerichtlich feststellen lassen«, war die
gelassene Erwiderung.
»Du hast gesagt, daß eure Ehe nur eine Scheinehe sein soll,
die zu jeder Zeit getrennt werden kann.«
»So, hab ich das gesagt?« fragte er achselzuckend. »Dann
habe ich es mir jetzt anders überlegt.«
»Krafft, du bist. – «
»Nicht wahr, was man nicht alles werden kann!«
unterbrach er sie zwar ruhig, doch in seinen Augen warnte
etwas davor, ihn noch mehr zu reizen.
»Ich würde dir den guten Rat geben, Tante Marianne, dieses
vertrotzte Kind nicht noch in seinem Eigensinn zu
bestärken.«
»Eigensinn nennst du das?«
»Wie denn sonst? Du weißt doch, wie der Vogel Strauß es
macht, wenn er nichts sehen und hören will. Genauso
macht es deine Nichte – natürlich bildlich genommen.
Vielleicht erzählt sie dir in einer stillen Stunde, wie
wunderbar sie Menschen quälen kann. Und nun auf
Wiedersehn, meine Damen!«
Nicht mehr wissend, was sie von alledem halten sollte, sah
Frau Marianne ihm nach. Sie konnte der Nichte nicht den
Trost geben, den diese so nötig gebraucht hätte, weil es in
ihrem Herzen selbst so trostlos aussah. Sie streichelte nur
immer wieder das lockige Köpfchen, das an ihrer Brust lag.
Ilse-Sibylle hatte die Augen geschlossen. Durch die zarten
Schläfen schimmerten blau die Adern, in denen es
hämmerte und pochte.
Da klang Klavierspiel von unten herauf, das sie bis in
tiefster Seele ergriff. Wie eine heiße Welle fluteten die Töne
über das verstörte Menschenkind hin, schienen es
versengen zu wollen, in Glut und Leidenschaft.
Ebenso wie das Spiel begonnen, riß es auch ab – jäh, mit
einem Mißklang. Gleich darauf hörten sie Krafft vor dem
Portal eine Schlagermelodie pfeifen. Dann rief er nach
seinem Pferd, bei dessen Namen Ilse-Sibylle entsetzt
auffuhr.
»Tante Marianne, der wilde Hengst!« schrie sie verzweifelt.
Lauter und deutlicher klang jetzt das Pfeifen herauf.
Unwillkürlich sprach Ilse-Sibylle die Worte mit:
»Wenn das Herz dir auch bricht,
zeig ein lachendes Gesicht – «
Die Tage vergingen. Die Wintersonne schien schon über
Mittag recht warm, hatte jedoch immer noch nicht Kraft
genug, um die feste Schneedecke hinwegzuschmelzen.
Ilse-Sibylle tummelte sich viel im Freien, um sich zu
beschäftigen, ja nicht zum Nachdenken zu kommen. Sie
rodelte mit Lo, lief zusammen mit ihr Schlittschuh. Jagte
auf dem Pferd umher, jetzt schon ebenso sicher im Sattel
wie die Base. Sie wurden beide unzertrennlich, sprachen
jedoch nie darüber, was sie so leiden ließ. Lo kam fast nie
mehr nach Dünentrutz, doch um so mehr war Ilse-Sibylle
in Unruh.
Auch Frau von Bruckheim fand den Weg sehr oft dorthin.
In dieser Zeit lernte sie die Familie Rainer so richtig
schätzen. Wohltuend war deren Teilnahme, die sich jedoch
nie in Worten äußerte.
An einem sonnenhellen Morgen rief Lo in Dünentrutz an
und verabredete mit der Base eine Skitour. Im Wald
wollten sie sich treffen.
Ilse-Sibylle machte sich sogleich auf den Weg. Nur Harras,
ihren treuen Begleiter, mußte sie heute entbehren, da er
mit Herrchen unterwegs war.
Die Sonne lachte vom blauen Himmel und machte die
Schneelandschaft zur Märchenwelt. Die reine Luft tat Ilse-
Sibylle gut, rötete ihre so fahl gewordenen Wangen.
Sie glitt dahin, pfeilgeschwind. Welch eine Freude, so leicht
und unbeschwert dahinzufliegen!
Doch als sie den Wald erreicht hatte, mußte sie
stehenbleiben, weil das Herz ihr von der tollen Fahrt wie
rasend schlug. Fest preßte sie die Hand darauf und sah sich
mit leuchtenden Augen in dem wie verzauberten Wald um.
Sinnbetörend schön war sie, als sie so dastand. Weich
umschmiegte der zartgetönte Wollpullover die ungemein
grazile Gestalt. Unter dem feschen Mützchen quollen die
sonnenhellen Locken hervor.
Gerade als sie die Hand von der Brust nehmen wollte,
durchpeitschte ein Schuß die friedvolle Stille des Waldes.
Ilse-Sibylle fühlte in der Linken einen Schlag, hob sie
erstaunt hoch -
Blut quoll aus dem Handschuh, tropfte in den Schnee.
Da packte sie unsinnige Angst. Wie gehetzt sauste sie
davon. Machte erst halt, als sie Dünentrutz erreicht hatte.
Sie löste die Schneeschuhe, so gut es mit einer Hand gehen
wollte, wickelte die verletzte Hand in den Pullover und
erreichte ungesehen die Schloßhalle, wo sie mühsam die
Treppe emporstieg. Sie konnte sich kaum noch auf den
Beinen halten. Sah mit Grauen, wie das Blut bereits den
Pullover durchtränkt hatte und nun auf die Hose tropfte.
Wie gut, daß Krafft nicht zu Hause war! Er hätte sich
bestimmt geärgert, daß sie trotz seines Verbotes wieder
einmal allein im Wald gewesen war. Und sie litt unter
seiner Kälte schon ohnehin genug.
Doch kaum hatte sie die Treppe zur Hälfte erstiegen, als er
ihr von oben entgegenkam. Ein Blick in ihr weißes Gesicht,
die angstgeweiteten Augen, auf den rotgefärbten Pullover,
und schon sprang er in langen Sätzen die Stufen herab.
Sein Arm umfaßte ihre wankende Gestalt.
»Ilsibyll, was ist geschehen?!«
Sie hörte die Angst in seiner Stimme, und es überflutete sie
freudig und weh zugleich. Sie schloß die Augen, lehnte sich
fest an die kraftvolle Brust.
»Ich – ich – ach, Krafft – nicht böse sein – «
Ohne weiter zu fragen, hob er sie auf seine Arme und trug
sie in ihr Schlafzimmer. Legte sie dort auf den Diwan,
wickelte die Hand aus und sah entsetzt darauf nieder.
»Ilsibyll, du unglückseliges Kind, das sieht ja nach einem
Schuß aus!« sagte er rauh.
Sie schlug die Augen auf, sah in sein bleiches, zuckendes
Gesicht.
»Ich kann wirklich nichts dafür«, flehte sie. »Im Wald hörte
ich einen Schuß, spürte einen Schlag gegen die Hand – «
»Merkwürdig – gerade die Hand. Wo hieltest du die denn?«
»Auf die Brust gedrückt. Ich war atemlos vom schnellen
Skilauf, hatte rasendes Herzklopfen – «
Sorgfältig untersuchte er die Hand. War dabei so blaß, daß
Ilse-Sibylle erschrak. Dann trat er an das Fenster, öffnete es
und rief einem Arbeiter zu, daß der Chauffeur auf
schnellstem Wege Sanitätsrat Meder herholen möchte.
Dann kam er zu Ilse-Sibylle zurück, und während er wieder
ihre Hand kopfschüttelnd betrachtete, brach es zürnend
aus ihm heraus:
»Was hattest du auch im Wald zu suchen?! Habe ich dir
nicht verboten, ihn allein zu durchstreifen? Aber du hörst
ja nie. Hältst alles, was ich von dir verlange, für Quälerei
und Schikane. Wenn du wenigstens Harras mitgenommen
hättest, damit er den Täter an Ort und Stelle gleich fassen
konnte. Nichts als Sorge hat man mit dir, du eigenwilliges
Kind!«
Sie duckte sich vor Angst, und er lachte bitter.
»Gewiß, ich fresse dich nächstens – «, grollte er.
Ihre Lippen zuckten, Tränen liefen über ihr blasses Gesicht.
Trotzdem war sie so glücklich wie schon lange nicht mehr.
Mochte er auch noch so zürnen, aber er sprach doch
wenigstens wieder mit ihr. Zeigte ihr seine Sorge – da
müßte sie den Schuß doch eigentlich segnen. Sie hätte
seinen Kopf streicheln mögen, der dem ihren so nahe war,
wagte es jedoch nicht. Als aber die Schere, die er aus der
Tasche gezogen, in den Pullover fuhr, hielt sie seine Hand
fest.
»Krafft, er ist doch fast neu – «
»Halt still!« sagte er unmutig. »Ich soll dir wohl noch mehr
Wolle über die geschwollene Hand ziehen, damit du dir
die schönste Blutvergiftung holst. Böse genug sieht es jetzt
schon aus.«
»Was wäre dabei?« sprach sie leise. »Uns beiden könnte
damit doch nur geholfen sein.«
Er fuhr auf, starrte sie an. Dick quollen die Adern an den
Schläfen.
»Himmeldonnerwetter, jetzt ist’s aber genug!« schrie er sie
an. »Hüte dich – du! Ich bin nämlich nur ein Mensch!«
»Sei doch nicht gleich immer so böse, Krafft!« schmeichelte
sie süß. »Ich will ja alles tun, was du willst. Sei nur wieder
so zu mir – wie du Weihnachten warst.«
Ein Ruck ging durch seinen Körper, daß er davon erbebte.
Dazu brach ein Strahl aus seinen Augen, der sie erzittern
ließ in seligem Schreck.
Doch schon wandte er sich ab. Rief die Zofe herbei, die er
anwies, ihm ein Desinfektionsmittel und Verbandszeug zu
bringen.
So behutsam wie nur möglich säuberte er die Wunde, legte
einen Verband an und richtete sich dann auf.
»So, damit wäre getan, was sich tun läßt. Nun müssen wir
auf den Arzt warten.«
Jetzt fiel Ilse-Sibylle die Base ein.
»Lo wartet auf mich an der großen Eiche. Wir hatten uns
dort verabredet.«
Wieder trat er an Fenster, öffnete es und rief den Verwalter
an, der unten vorüberging.
»Herr von Lürstädt!«
»Herr Baron?«
»Reiten Sie doch bitte sofort zu der großen Eiche am
Wildgatter. Dort wartet Fräulein Rainer auf meine Frau.
Sagen Sie ihr, daß sie nicht kommen kann, weil ein Schuß
ihre Hand verletzt hat. Nicht lebensgefährlich, doch auch
nicht unbedenklich.«
Er hatte gerade das Fenster geschlossen, als Frau von
Bruckheim eintrat.
»Kinder, was ist denn passiert?«
»Ilse-Sibylle hat im Wald ein Streifschuß getroffen.«
Sie erblaßte, zog die Nichte in die Arme.
»Aber Kind – was machst du uns für Sorge!«
»Das finde ich auch«, bekräftigte der Arzt, der soeben
eintrat. Er ließ sich den Vorgang erzählen und schüttelte
dann den Kopf. »Merkwürdige Angelegenheit!«
Nachdem er die Hand untersucht hatte, schmunzelte er.
»Frau Baronin hat Glück gehabt – wie immer. Leichter
Streifschuß, aber großer Blutverlust. Daher werde ich
Bettruhe verordnen müssen.«
Er gab noch Verhaltungsmaßregeln und verabschiedete sich
dann, weil er wie stets sehr beschäftigt war. Versprach, am
nächsten Tag wiederzukommen.
Frau Marianne brachte die Nichte zu Bett, die sich wohlig
darin streckte. Wie war sie doch müde! Und wie schön
würde sie schlafen – denn Krafft war ja wieder gut. Oh, wie
gut war er zu ihr gewesen!
Schon halb im Traum hörte sie, daß er wieder das Zimmer
betrat und leise mit der Tante sprach.
Wie schön, so umsorgt zu werden – wie wunderschön!
Lürstädt ritt zu der bezeichneten Stelle des Waldes. Schon
von weitem sah er Lo auf einem Baumstumpf sitzen.
Sie erblaßte, als er plötzlich vor ihr stand, rührte sich
jedoch nicht.
»Sie wünschen?« fragte sie hochmütig.
»Ich habe eine Bestellung auszurichten, gnädiges Fräulein.
Der Frau Baronin ist im Wald ein Unfall zugestoßen.
Jemand hat sie in die Hand geschossen. Es soll aber nicht
lebensgefährlich sein.«
Lo sprang auf.
»Das ist – ja – entsetzlich!« stammelte sie. Doch dann
nahm ihr Gesicht wieder den hochmütigen Ausdruck an.
»Ich danke Ihnen, Herr von Lürstädt. Bestellen Sie meiner
Base herzliche Grüße. Ich lasse gute Besserung wünschen.«
Sie neigte leicht den Kopf, schulterte die Schneeschuhe und
wollte sich entfernen, als er rasch aus dem Sattel glitt und
ihr den Weg vertrat.
Sie standen sich gegenüber. Lo stolz und kalt, er in tiefster
Erregung.
»Vielleicht habe ich nie mehr die Gelegenheit, Sie allein zu
sprechen, gnädiges Fräulein. Und ich muß Sie doch noch
um Verzeihung bitten.«
Lo klopfte das Herz wie rasend. Doch sie durfte sich nicht
gehen lassen – auf keinen Fall!
»Ich wüßte nicht, was ich Ihnen zu verzeihen hätte«,
entgegnete sie abweisend. »Sie haben ja nichts getan, was
eine Entschuldigung erfordert. Ich habe mich Ihnen ja an
den Hals geworfen.«
Drohend klang nun seine Stimme auf:
»Gnädiges Fräulein, ich muß doch sehr bitten!«
»Warum? Ich sprach nur die Wahrheit. Es steht Ihnen sogar
frei, allen Menschen zu erzählen – «
»Halt – nicht weiter! Mir ist die Angelegenheit zu ernst und
heilig, um eine Banalität daraus zu machen. Ich habe
schwer bereut, daß ich – «
»Das glaube ich!« lachte sie bitter dazwischen, und da lief
ein schmerzliches Zucken über sein Gesicht.
»Nicht in dem Sinne, wie Sie anzunehmen scheinen, mein
gnädiges Fräulein. Wäre ich ein Mensch, der Ihnen etwas
zu bieten hätte, noch heute würde ich um Sie werben. Aber
da ich ein Bettler bin, darf ich meine Hand nicht nach
Ihnen ausstrecken. Ich werde den Baron um meine
sofortige Entlassung bitten, damit ich Ihnen aus den Augen
komme und Sie die Ihnen so unangenehme Begebenheit
leichter vergessen können.«
Lo war wieder auf den Baumstamm gesunken und sah zu
ihm auf. Es war ein Blick, unter dem er die Zähne
zusammenbeißen mußte.
»Ja, gehen Sie nur – «
t
sagte sie mit einer Stimme, welche die
Qual ihres Herzens verriet. »Das ist sehr bequem für Sie.
Wenn ich leide, was kann Sie das interessieren? Sehen Sie
denn nicht, wie ich mich demütige!« schrie sie auf. »Ist es
nicht genug – immer noch nicht genug?!«
Jeder Blutstropfen wich aus seinem Antlitz. Wie
haltsuchend lehnte er sich gegen einen Baum. Seine Zähne
bissen sich so fest zusammen, daß die Wangenmuskeln
spielten.
»Gnädiges Fräulein – ich bitte Sie – das kann ich doch
unmöglich ertragen!« stieß er mit rauher Stimme hervor.
»Aber ich – ich soll es wohl ertragen!«
Noch beherrschte er sich mit Aufbietung aller Kraft.
»Lo – ich liebe Sie.«
Da lachte sie auf. So schmerzgequält klang das Lachen, daß
es ihm durch und durch ging.
»Oh, Sie sind doch nicht ganz so grausam, wie ich dachte,
Freiherr von Lürstädt! Sie träufeln wenigstens noch einige
süße Tropfen in den gallebitteren Trank, den Sie mir an die
Lippen setzen. Eine komische Ausrede, ein Mädchen wegen
seines Geldes zu verschmähen!«
»Nicht dieses unerhörte Wort!« bat er flehend. »Sie dürfen
mich doch nicht so mißverstehen. Ich wiederhole, daß ich
ein Bettler bin und daher meine Hand nicht nach Ihnen
ausstrecken darf. Denken Sie an Ihren Vater! Nie würde er
seine Einwilligung zu einer Heirat mit mir geben.«
»So ohne weiteres bestimmt nicht«, antwortete sie müde.
»Denn er hält Sie für hochmütig und standesstolz. Aber Sie
haben ja eine gute Position, können daher eine Frau recht
wohl ernähren.«
»Würden Sie es denn ertragen, von Unruh fortzugehen?«
»Nein, wohl kaum. Ich liebe meine Heimat – aber ich liebe
auch -Sie.«
Wie ein Hauch kamen die letzten Worte von ihren
zuckenden Lippen, und da war es um die fast
übermenschliche Beherrschung des Mannes geschehen. Er
fiel vor ihr auf die Knie, wühlte seinen Kopf in ihren
Schoß.
»Lo – du trägst die Verantwortung!« stöhnte er auf. »Wenn
dein Vater dir die Einwilligung versagt – ich habe dir nicht
mehr zu bieten als mich selbst.«
»Als ob das nicht genug wäre!« entgegnete sie leise,
während ihr die Tränen über das blasse Gesicht liefen.
Er hob den Kopf, sah ihr in die Augen, aufs tiefste
erschüttert.
»So lieb hast du mich, Lo?«
»Ja – so lieb – Winfried.«
Da sprang er auf, zog sie zu sich empor. Preßte sie fest an
sein Herz und küßte sie heiß.
Als er sie endlich aus den Armen ließ, sah sie bang zu ihm
auf.
»Und wenn du morgen schon wieder vergessen hast?«
»Kind, was sprichst du da! Ich und dich vergessen – großer
Gott! Laß uns lieber beraten, was nun werden soll. Wenn
dein Vater uns seine Einwilligung versagt – ich gebe dich
nicht mehr frei, nun ich weiß, daß du mich wirklich liebst.«
Er nahm ihr die Schneeschuhe ab, umfaßte ihre Schulter
und zog sie mit sich fort. Das Pferd folgte ihnen treu.
Drückte nur ab und zu die Nüstern an die Wange seines
Herrn, um sich in Erinnerung zu bringen.
Eine Weile gingen sie schweigend dahin, bis er das Wort
ergriff.
»Morgen komme ich zu deinem Vater, mein Lolokind.
Wahrscheinlich werde ich eine abschlägige Antwort auf
meine Werbung erhalten, da ich weiß, daß er andere Pläne
mit dir hat. Es war auf dem Fest in Dünentrutz. Ich kam
von der See herauf in den Saal zurück, das Herz bis
obenhin gefüllt mit Liebe und Glück. Da hörte ich deinen
Vater mit dem alten Herrn Rhode sprechen. Sie waren sich
darüber einig, daß du Herbert Rhode heiraten sollst.
Vielleicht kannst du dir vorstellen, was da in meinem
Herzen vorging. Ich nahm bestimmt an, daß du um diese
Pläne wüßtest und mich aus Zeitvertreib zum Narren
gehalten hättest.«
»Und quältest mich so unmenschlich, anstatt mich zur
Rede zu stellen!« unterbrach sie ihn unwillig. »Wenn ich
mich dir gegenüber auch bis zur Schamlosigkeit
gedemütigt habe, so bin ich immer noch nicht ein
Mädchen von der Sorte, die sich von einem Mann küssen
läßt und einen andern heiratet. Sehe ich denn so aus, als
ob ich mich verschachern ließe?
Wohl weiß ich um den Lieblingswunsch meines Vaters,
mich mit Herbert Rhode zu verheiraten. Die Güter liegen
so hübsch nebeneinander, und auf beiden Seiten ist Geld.
Doch daß der Mann schwindsüchtig ist, das scheint mein
Vater nicht zu wissen, sonst müßte ich ja irre an ihm
werden.«
Langsam schritten sie dahin. Und als sie Unruh erreicht
hatten, war die Mittagsstunde da. Lo hatte kaum Zeit, sich
mit Hilfe der Zofe umzukleiden, als auch schon der Gong
zur Mittagstafel rief.
Lo war wie gewöhnlich still und in sich gekehrt, so daß die
Mutter sie immer wieder bekümmert musterte. Wie lange
würde es wohl noch dauern, bis ihr Lolokind wieder lachen
konnte?
Als man sich nach dem Essen in das kleine Gemach
zurückzog, um dort den Mokka einzunehmen und noch
ein Weilchen dabei zu plaudern, richtete Lo ihre Augen fest
auf den Vater.
»Morgen kommt Freiherr von Lürstädt und wird dich um
meine Hand bitten, Vater«, sagte sie, so ruhig sie konnte.
Still war es im Zimmer, beängstigend still. Dem Hausherrn
kroch die Zornesröte ins Gesicht, seine Augen blitzten.
»Das ist allerdings eine überraschende Neuigkeit«,
entgegnete er mit einer Stimme, der man nicht anmerkte,
wie es in seinem Innern gärte.
»Eine Neuigkeit schon, aber hoffentlich keine
unangenehme«, zuckte Lo die Schultern. »Ich möchte
bemerken, daß ich meinen Verlobten bis zum Wahnsinn
liebe und niemals von ihm lassen werde. Hörst du, Vater –
niemals!«
Da war es mit Herrn Rainers Beherrschung vorbei. Er
schlug mit der Faust auf den Tisch, daß dieser erzitterte.
»Da soll doch dieser und jener -!« schrie er in heller Wut.
»Du Küken wirst heiraten, wen ich für dich bestimme!
Doch keineswegs diesen arroganten, hochnäsigen Bengel,
bei dem der Mensch erst anfängt, wenn er adlig ist. Da soll
ich mich etwa in meinen eignen vier Wänden über die
Schulter ansehen lassen, was?! Um sich ins warme Nest zu
setzen, dazu ist ihm ein simples Fräulein Rainer gut genug,
wie? Vielleicht hat er Gelüste, Unruh ebenso vor die Hunde
zu bringen, wie er es mit dem Erbe seiner Väter getan hat –
«
Er brach ab und starrte verblüfft auf seine Tochter, die nun
vor ihm stand. In dem weißen Antlitz schienen nur die
Augen zu leben, in denen eine harte Entschlossenheit lag.
»Ich verbiete dir, den Menschen zu schmähen, den ich aus
tiefster Seele liebe!« sagte sie kalt. »Merke dir, Vater – was
du ihm tust, das tust du mir. Was kann er dafür, daß er
durch gewissenlose Verschwender sein Hab und Gut verlor,
während er für das Vaterland kämpfte? Ihm ist es quälend
genug, um ein reiches Mädchen zu werben. Er würde es
auch nicht tun, wenn ich mich ihm nicht an den Hals
geworfen hätte.«
Der Vater packte ihr Handgelenk so fest, daß sie
aufstöhnte. Doch sie sah ihm furchtlos in die
zornfunkelnden Augen, während sie immer blasser wurde.
Dick schwollen die Adern auf des Vaters Stirn, seine Zähne
knirschten aufeinander.
»Das hast du getan?« stieß er hervor. »Bist du denn ganz
verrückt geworden?!«
»Es ist fast soweit«, entgegnete sie tonlos. »Denn wie ich
diese Monate gelitten habe, das konnte bestimmt bald zum
Irrsinn führen.
Doch laß bitte meine Hand los. Auf die Dauer wird mir
nämlich der Schmerz unerträglich. Wenn du für dein
Unruh fürchtest, wir werden auch ohne es auskommen.
Winfried verdient in Dünentrutz so viel, daß er eine Frau
sehr gut ernähren kann. Und Krafft von Broede ist kein
Unmensch, seiner Hilfe bin ich sicher. Aber so nebenbei
möchte ich dich aufmerksam machen, daß du auch nichts
hattest, als du um Mutti warbst. Von deinen Gütern
gehörte dir kaum noch ein Stein, so verschuldet waren sie.«
Rainer starrte seine Tochter an und hob die Hand.
Frau Felicitas warf sich mit einem wehen Aufschrei
dazwischen, doch Lo schob sie sanft zurück.
»Laß den Vater mich ruhig schlagen, Mutti. Das ist mir
nicht so schmerzlich, als wenn er morgen Winfried
beleidigt.«
Schlaff fiel seine Hand herab. Dann griff er sich in den
Kragen, als wäre er ihm zu eng. Zuckte zusammen, als Lo
sagte:
»Den Rhode heirate ich nicht. Er ist dumm, unleidlich und
außerdem noch schwindsüchtig. Ist doch rührend, so eine
Vaterliebe!«
Sie lachte kurz auf, ging zur Tür und wandte sich dort noch
einmal um.
»Vater, ich mache dich noch einmal darauf aufmerksam,
daß jede Beleidigung, die du Winfried zufügst, auch mich
trifft.«
Dann hastete sie davon nach ihrem Schlafzimmer.
Frau Felicitas umschlang den Gatten mit beiden Armen,
doch er schob sie schroff zurück.
»Geh doch zu deinem Zuckerpüppchen!« höhnte er. »Dazu
hat man so ein Gör mit Liebe großgezogen, daß es einem
nun kaltschnäuzig den Stuhl vor die Tür setzt.«
»Julius, bedenke, wie sehr das Kind gelitten hat – «
»Ach was!« fuhr er dazwischen. »Lo ist blind verliebt, sieht
und hört nichts. Die Eltern sind dazu da, um ihr
unerfahrenes Kind vor Unglück zu bewahren. Der Bengel
will ihr Geld, nichts weiter.«
»Den Eindruck eines Glücksritters macht Freiherr von
Lürstädt nicht«, entgegnete sie fest.
»Vielleicht auf dich nicht«, war die ironische Erwiderung.
»Du hast dich eben auch in den arroganten Bengel
vergafft.«
»Julius, du weißt nicht, was du sprichst – «
»Laß mich in Ruhe!« fuhr er sie an. »Mag der Bursche
morgen nur kommen! Ich sage ihm schon, was ich auf dem
Herzen habe.«
»Das wirst du nicht tun!« trumpfte sie auf. »Du wirst
vernünftig sein und uns nicht durch deinen Starrsinn unser
einziges Kind entfremden. Denk doch mal ein wenig nach
– ist unter den Familien ringsum, die Töchter zu geben
haben, eine einzige, denen Lürstädt als Schwiegersohn
nicht angenehm wäre?«
Er brummte etwas von Verrücktheit und ging hinaus.
Frau Rainer jedoch eilte zum Zimmer ihrer Tochter, stand
dann beunruhigt vor der verschlossenen Tür.
»Lo, mach bitte auf!«
»Laß mich, Mutti – «, kam die Antwort gequält. »Ich
möchte allein sein.«
»Kind, ich ängstige mich um dich.«
»Dazu hast du keine Veranlassung. Ich werde schon mit
mir fertig.«
Da ging die Mutter, Angst und Sorge im Herzen.
Lo hatte übrigens gar nichts, womit sie fertig werden
mußte. Sie wußte ganz genau, was sie zu tun hatte.
Die Stunden schlichen langsam dahin, hauptsächlich die
Nachtstunden. Doch nicht nur Lo allein warf sich ruhelos
auf ihrem Lager herum, auch die Eltern konnten keine
Ruhe finden.
Und als dann endlich die Stunde kam, wo der Freier auf
den Hof fuhr, da preßte sich Los Herz zusammen in
zitternder Angst. Nicht für sich fürchtete sie, sondern für
den geliebten Mann. In seiner Gereiztheit pflegte der Vater
nicht gerade rücksichtsvoll zu sein – und Winfried würde
seine Ehre bestimmt nicht angreifen lassen.
Wieder kam die Mutter zu ihr und fand diesmal Einlaß.
Erschüttert zog sie ihr Kind in die Arme.
»Lo, Liebling, was für ein trotziges Köpfchen du hast!
Anstatt daß du den Vater bittest, wirst du schroff. Du weißt
doch, daß er derartiges nicht vertragen kann.«
»War er etwa anders zu mir?«
»Das darfst du nicht so ansehen, Kind. Versetze dich doch
mal in seine Lage. Es ist nun mal seine Überzeugung, daß
Lürstädt nicht dich, sondern Unruh will.«
»Dann besitzt er keine Menschenkenntnis. Ist ja auch egal.
Ob er einwilligt oder nicht – ich werde Winfrieds Frau! Ich
lasse mir durch den Starrsinn meines Vaters nicht mein
Lebensglück rauben! Mich nimmt Winfried auch ohne
Unruh.«
Unterdessen stand Freiherr von Lürstädt vor Herrn Rainer.
Er hielt dem durchdringenden Blick der klarblauen Augen
offen stand.
»Also, Sie wollen meine Tochter zur Frau?« fragte er schroff.
»Ich bitte darum, Herr Rainer.«
Wieder ein Blick, der ihn zu durchbohren schien.
»Und was haben Sie meiner Tochter zu bieten?«
»Nicht viel mehr als meine Person. Die jedoch voll und
ganz.«
»Das ist wenig, mein Herr.«
»Ich weiß es, Herr Rainer. Daher hätte ich auch nie den
Mut gehabt, um Ihre Tochter zu werben, wenn sie mich
nicht brauchte, um glücklich zu sein.«
»Sie sind sehr eingebildet, Freiherr von Lürstädt.«
»Nicht eingebildet, Herr Rainer – nur unbändig glücklich,
daß Lo mich liebt. Mein Leben wäre glücklos geworden,
hätte ich auf sie verzichten müssen.«
»Und werden Ihre Ahnen sich nicht im Grabe umdrehen,
weil Sie eine Bürgerliche heiraten wollen?«
»O nein. Sie wären stolz darauf gewesen, daß ein so
liebenswertes Menschenkind ihren Namen tragen soll.«
»Hm, eigentlich gar nicht so übel. Schließlich muß ich ja
noch froh sein, daß Sie das Mädchen haben wollen, das
sich Ihnen an den Hals geworfen hat.«
Solange hatte Lürstädt dagestanden, ruhig, höflich, in
sicherer, freier Haltung. Doch jetzt straffte sich seine
Gestalt, hart und kalt wurde das Gesicht, die Augen
flammten.
»Lo ist meine Braut, Herr Rainer!«
Zwar sprach er ruhig, doch in seiner Stimme lag ein so
drohender Ton, daß der andere unwillkürlich zurückwich.
Dann lief er einige Male im Zimmer mit Riesenschritten
hin und her, blieb dann vor Lürstädt stehen und sah ihn
lange an.
»Ich werde Ihnen mal etwas sagen«, grollte dann endlich
sein Baß auf. »Nehmen Sie die Lo in Gottes Namen. Aber
machen Sie sie mir glücklich, verstanden? Sollte ich mein
Kind noch einmal so leiden sehen wie in den vergangenen
Monaten – dann – ja, dann will ich nicht zu wenig
versprechen!«
Oh, wie leuchtete es da in den Augen des Freiers auf! Über
das eben noch so kalte Antlitz glitt ein so glückseliges
Lachen, daß Rainer sich brummend abwandte. Das fehlte
gerade noch, daß er diesem vermaledeiten Schlingel zeigte,
wie ihm ums Herz war!
Er rief den Diener herbei.
»Die Damen sollen hier unverzüglich antreten!«
Gleich darauf waren sie da. Einen Blick in das Gesicht des
Vaters – und schon hing Lo ihm am Hals.
»Paps – ach, Paps – das vergesse ich dir nie!«
»Na, du borstiges kleines Frauenzimmer!« polterte er, um
seine Rührung zu verbergen. »Gestern gefährliche Krallchen
und heute Katzenpfötchen. Geh hin zu dem vertrackten
Bengel, der meine ganzen schönen Pläne über den Haufen
geworfen hat! Schau nur, was der für Augen macht!«
Da flog sie auf ihn zu.
Ilse-Sibylles Verletzung war zwar nicht gefährlicher Art,
aber der Blutverlust hatte sie geschwächt. Bis zum Abend
schlief sie fest, dann duselte sie im Halbschlaf vor sich hin.
Wie schön es war, wenn immer wieder jemand zu ihr kam,
sich vorsichtig über sie beugte!
Am häufigsten kam Krafft. Verbrachte auch die Nacht auf
dem Diwan in ihrem Schlafzimmer. Wenn Ilse-Sibylle
zwischendurch wach wurde, beobachtete sie ihn, ohne sich
zu rühren.
Ob er schlief? Wohl kaum. Denn sobald sie sich nur leicht
bewegte, war er bei ihr. Das war so schön, daß sie es
mehrmals ausprobierte, sich jedoch schlafend stellte. Dann
ging er wieder zum Diwan zurück, auf den er sich streckte
und treue Wacht hielt.
Das zu wissen, machte Ilse-Sibylle unbeschreiblich
glücklich. Nach Wochen vernichtender Kälte nun diese
Fürsorge. Wie wohl das tat, wie das beglückte! Nie mehr
wollte sie abweisend zu ihm sein. Wollte nehmen, was er
ihr gab, ohne jegliches Wenn und Aber.
Gegen Morgen schlief sie fest ein. Schlief solange, bis sie
angesprochen wurde. Sie schlug die Augen auf und sah in
Kraffts lächelndes Gesicht.
»Wie fühlst du dich, Ilsibyll? Ich mußte dich leider wecken,
weil du schon über Gebühr lange geschlafen hast und
außerdem essen mußt, damit du nicht noch schwächer
wirst.
Und dann habe ich dir etwas mitzuteilen, das dich
überraschen und erfreuen wird: Lo hat sich verlobt. Und
rate, mit wem!«
Nun war sie hellwach, richtete sich auf und lachte ihn an.
»Natürlich mit Freiherr von Lürstädt. Mit wem denn
sonst?«
»Ah, du weißt? Hat Lo mit dir über ihre
Herzensangelegenheit gesprochen?«
»Nein, dazu war sie wohl nicht fähig. Ich hab’s aber
gefühlt, wie sehr sie um den Mann litt. Um so größer wird
jetzt ihre Glückseligkeit sein.«
»Welch eine kluge Frau ich doch habe!« neckte er. »Wo alle
anderen herumrätselten, war sie im Bilde. Wir sollen
durchaus nach Unruh kommen.«
»Ich auch?«
»Natürlich. Dr. Meder, den ich anrief, wird es dir
wahrscheinlich gestatten. Er kommt gleich her, um sich
deine Hand anzusehen. Hast du noch Schmerzen?«
»Nein, Krafft. Ich habe eigentlich kaum welche gehabt. War
nur sehr müde.«
In Unruh erwartete man sie schon sehnsüchtig. Ilse-Sibylle
wurde mit so großer Vorsicht behandelt, daß sie die
Ängstlichen auslachte. Sie umfaßte Lo mit dem gesunden
Arm, drückte sie fest an sich. Ein Glückwunsch wäre ihr
banal erschienen. Sie lachten sich an – und verstanden sich
prächtig.
Unterdessen schritt Krafft zu Lürstädt hin und streckte ihm
die Hand entgegen.
»Auf gute Freundschaft, Winfried!«
Ein warmer Blick, ein fester Händedruck – und auch sie
verstanden sich.
Lo war zuerst immer noch nicht so, wie man sie früher
gekannt. Zu tief hatte sie gelitten und mußte sich jetzt erst
langsam an das Glück gewöhnen. Doch an der Kaffeetafel
taute sie allmählich auf.
»Ich habe übrigens unsere Nachbarin, Frau Börne,
getroffen«, erzählte Herr Rainer. »Sie ist seit einigen Tagen
wieder im Lande und hat sich Verehrer mitgebracht – en
gros, sage ich euch. Mit mir wollte sie ja auch schöntun,
wogegen ich wohl nichts gehabt hätte, wenn ich nicht die
neugebackene Schwiegermutter so fürchtete.«
Dabei zeigte er augenzwinkernd zu seiner Frau hin, die
aber gar nichts Schwiegermütterliches an sich hatte.
Man lachte herzlich. Und als Lo gar noch rief:
»Na, na, Julius, nur nicht so ängstlich!« brach stürmische
Heiterkeit los. Herr Rainer strahlte vor Freude.
»Winfried, du Schlingel!« schmunzelte er. »Daß Lo mich
nun wieder Julius nennt, das vergesse ich dir nie. Denn daß
sie nun wieder unser altes fideles Marjellchen ist, dürfte
allein dein Verdienst sein. Meine Freude über dich ist so
groß, daß ich dir etwas zuliebe tun möchte. Wie steht es
mit eurem Stammgut, mein Junge? Könnte man es
eventuell zurücklaufen?«
»Das ist unmöglich, Vater. Das Schloß ist abgebrannt und
das Land parzelliert. Ich habe auch schon längst
überwunden, daß meine Heimat nicht mehr ist. Ich habe
nun in Unruh eine zweite und bestimmt noch schönere
gefunden.«
Herrn Rainers Augen wurden feucht. Fest drückte er dem
Schwiegersohn die Hand.
Obgleich Ilse-Sibylle sich äußerst wohl fühlte, bestimmte
der Gatte einen frühen Aufbruch. Da half kein Zureden
und Bitten der anderen.
»Hast dir einen guten Tyrannen erzogen, Marjellchen!«
neckte der Onkel Ilse-Sibylle. »Bist viel zu nachsichtig. Läßt
dem Eheherrn zuviel den Willen.«
»Was mir bisher immer gut bekommen ist, Onkelchen.«
Zu Hause angekommen, wechselte Krafft den Verband.
»Einige Tage noch, Ilsibyll, dann kannst du den Arm aus
der Binde nehmen. Hast eine wunderbare Heilhaut. Doch
nun möchte ich dich dringend bitten, nie mehr allein in
den Wald zu gehen, überhaupt keine einsamen
Spaziergänge zu unternehmen. Wenn du Lust dazu hast,
werde ich zu deiner Begleitung stets zur Verfügung stehen.
Und sollte ich doch einmal verhindert sein, dann kannst
du dich Lo oder Winfried anschließen.
Bist du nun vernünftig, kleine Frau – oder bin ich
gezwungen, aus meiner Bitte einen Befehl zu machen?«
Er sah sie forschend an, die den Kopf gesenkt hielt und
schwieg.
»Ilse-Sibylle, du hast doch heute selbst gesagt, daß mein
Wille dir bisher immer gut bekommen ist – «
Da hob sie den Kopf und sah ihn süß lächelnd an.
»Ich tue, was du verlangst, Krafft.«
Er hatte es plötzlich sehr eilig. Küßte ihr die Hand und ging
hinaus.
Einige Tage später erhielt Frau von Bruckheim ein
Telegramm von ihrer Freundin, daß diese erkrankt wäre
und ungeduldig ihren Besuch erwartete. Schweren Herzens
mußte sie sich zu der Reise entschließen und die Nichte
zurücklassen, über deren ferneres Schicksal immer noch
nicht entschieden war. Wenn sie mit Krafft darüber
sprechen wollte, machte er mit einigen spöttischen
Bemerkungen ihr Vorhaben zunichte.
Aber jetzt wollte sie ihn zwingen, ihr klipp und klar Rede
und Antwort zu stehen. In dieser Ungewißheit konnte sie
unmöglich Dünentrutz verlassen. Sie hätte weder Rast noch
Ruh gehabt.
Also suchte sie ihn am Abend vor ihrer Abreise in seinem
Arbeitszimmer auf. Er stand mit dem Rücken am Fenster,
hielt die Arme über der Brust verschränkt und sah ihr
spöttisch entgegen.
»Ich ahne, warum du kommst, Tante Marianne.«
»Um so besser, da brauche ich erst keine langen Vorreden
zu halten. Wie steht es mit deiner Ehe, Krafft – wozu hast
du dich entschlossen? Bevor ich da nicht ganz klar sehe, ist
es mir nicht möglich abzufahren.«
»Ich verstehe dich nicht, Tante Marianne. Mehr als einmal
habe ich erklärt, daß Ilse-Sibylle meine Frau bleibt.
Nimmst du meine Worte denn nicht ernst? Wenig
schmeichelhaft für mich.«
»Willst du denn die Tradition eures Hauses brechen?«
»Durchaus nicht. Ilse-Sibylle trägt das Blut eines alten
Geschlechtes in sich.«
»Sie sehnt sich aber fort von dir, Krafft.«
»Warum? Vermißt sie hier etwas? Könnte sie hier nicht den
Himmel auf Erden haben? Daß sie lustlos und elend ist,
daran trägt sie allein die Schuld.«
»Stimmt – aber Liebe fragt nun einmal nicht.«
Es zuckte in seinen Augenwinkeln, seine Hand schloß sich
langsam zur Faust.
»Diese Liebe ist töricht, weil sie aussichtslos ist«, sagte er
hart. »Dr. Vehr ist zweifellos eine bedeutende
Persönlichkeit, ich kann Ilse-Sibylles Vorliebe für ihn recht
gut verstehen. Doch er darf, solange ihm die Unruhe im
Blut steckt und er reisen und wandern muß, keine Frau an
sich ketten. Wenn diese nicht immer allein bleiben wollte,
müßte sie ihn also begleiten. Abgesehen davon, daß ihm
das alles lästig sein müßte, wäre Ilse-Sibylle den Strapazen
nicht gewachsen. Wohl hat sie einen gesunden,
widerstandsfähigen Körper, oft genug hat sie das ja
bewiesen. Allein ihre Nerven sind sehr empfindlich und
würden bei den ungeheuren Anforderungen einer
Forschungsreise versagen. Liebte sie einen Mann, der ihr
mehr zu bieten hätte als ich, nicht eine Stunde würde ich
sie länger halten. So jedoch bleibt sie hier.«
»Und wie soll das weitergehen, mein Junge? Du kannst
doch nicht ewig in dieser Scheinehe leben. Und soweit ich
Ilse-Sibylle kenne, wird sie nur dem Mann angehören, den
Sie liebt.«
»Sie wird mich liebenlernen.«
Ganz gelassen sagte er das, als handelte es sich um eine
Selbstverständlichkeit.
In Frau von Bruckheim stieg Empörung hoch.
»Krafft, du bist ja noch arroganter als dein Ruf. Willst du sie
etwa zur Liebe zwingen?«
»Auch das – wenn es sein muß.«
»Dann nehme ich sie mit mir.«
»Nein – sie bleibt hier.«
Ja, da war sie wieder einmal am Ende. Der Mann hatte
einen so eisenharten Willen, an dem jeder andere
zerschellen mußte. Kopfschüttelnd sah sie ihn an, der bei
dieser schwerwiegenden Aussprache wie die personifizierte
Gelassenheit dastand, während sie sich erregte.
»Nun sage mir einmal, Krafft – aber bitte ohne jede
Bemäntelung: Warum hältst du Ilse-Sibylle mit einer
Hartnäckigkeit, die bewundernswert ist?«
»Tante Marianne, ich hielt dich bisher immer für eine
kluge, scharfsichtige Frau«, ironisierte er, und sie wurde
unwillig.
»Mein lieber Junge, dein Charakter dürfte nicht so einfach
zu enträtseln sein.«
»Und du glaubst gar nicht, wie einfach er ist. So wenig
kennst du mich also, Tante Marianne. Werde ich also in
Worte fassen, was du schon längst erfühlt haben müßtest.
Warum ich Ilse-Sibylle so hartnäckig halte? Das ist doch
wirklich ganz einfach. Ich bin ein nüchterner Bursche, der
keine Überschwenglichkeiten kennt. Doch wenn ich dir
nun sage, daß ich meine Frau bis zum Wahnsinn liebe,
dann ist das nicht übertrieben. Kann ich sie trotz aller
Bemühungen nicht halten, dann – ja, dann ist mein Leben
nicht wert, daß es überhaupt gelebt wird. Ist das nicht
wirklich ganz einfach?«
Zuerst herrschte eine Stille, daß einer des anderen
Herzschlag zu hören glaubte.
Dann erhob sie sich, trat zu ihm und zog seinen Kopf zu
sich herunter mit zitternden Händen.
»Junge, dann muß ja alles gutwerden«, murmelte sie. »Vehr
hält doch einen Vergleich mit dir nicht aus!«
»Du sagtest doch vorhin, Tante Marianne, daß die Liebe
nicht fragt. Und eine ruhige Zuneigung ihrerseits könnte
ich nicht ertragen, dann lieber gar nichts. Ich will alles
versuchen, um mir ihre Liebe zu erringen. Gelingt es mir
nicht, dann weiß ich allerdings nicht, wie alles enden soll.«
»Dann darfst du aber nie mehr so hart mit ihr sein, Krafft.
Sie hat eine so feine, empfindsame Seele – «
»Man behält die Zurechnungsfähigkeit nicht, wenn man
unmenschlich leidet. Da geht alle Logik flöten.«
Diese Aussprache brachte Frau von Bruckheim wohl volle
Gewißheit, nahm ihr jedoch die Unruhe nicht. Die war im
Gegenteil noch größer geworden. Vielleicht war es aber
besser, wenn sie Ilse-Sibylle allein ließ. Dann konnte sie
nicht immer zu ihr flüchten, sondern mußte zusehen, wie
sie mit ihrem Mann fertigwurde.
Und das wurde diese sehr gut. Ein Leben begann, das ihr
wie ein Traum erschien. So hart der Gatte in den
entsetzlichen Wochen zu ihr gewesen war, so zart und
rücksichtsvoll war er jetzt. Er widmete sich ihr fast den
ganzen Tag. Alles, was er mit ihr unternahm, war schön
und abwechslungsreich. Er erlaubte sich auch nicht die
kleinste Vertraulichkeit, umgab sie mit ruhiger Höflichkeit,
die jedoch viel Huldigung in sich barg. Darunter vergaß
Ilse-Sibylle ihre Zurückhaltung, wurde aufgeschlossen und
zutraulich.
Abends saßen sie fast immer am brennenden Kamin beim
gedämpften Licht der Ständerlampe. Dann erzählte er von
seinen Reisen. Nicht genug konnte sie davon hören, las
ihm förmlich die Worte von den Lippen mit leuchtenden
Augen.
An einem solchen Abend war es auch, als Ilse-Sibylle sagte:
»Wenn du erzählst, Krafft, dann muß ich immer an
Hartmut Vehr denken. Jetzt kann ich auch verstehen, daß
er herumstrolchen muß. Schon als Junge hatte er so
unruhiges Blut.«
Krafft beugte sich weit vor. Hielt vor Spannung den Atem
an, als er fragte:
»Könntest du das Leben mit ihm teilen?«
»Nein, das könnte ich nicht. Wenn ich ihn liebte, dann
sicherlich. Dann ginge ich mit ihm durch Not und Tod.
Aber da ich nicht mehr als herzliche Freundschaft für ihn
empfinde, würde dieses Gefühl nicht ausreichen, um ihm
freudig überallhin zu folgen.«
Hm Seufzer hob des Mannes Brust, wie Erlösung nach
langer Pein.
Von dem Tage an verwöhnte er die Gattin noch mehr.
Nur manchmal war er verstimmt. Und zwar, wenn sie Feste
besucht hatten, auf denen man Ilse-Sibylle sehr huldigte.
Dann bekam sein Gesicht wieder den harten Ausdruck.
Und die junge Frau, die schon längst gelernt hatte, auf die
Stimmungen des Gatten zu achten, konnte sich seine
Verstimmung zuerst nicht erklären. Bis sie einmal zufällig
dahinterkam. Mit ihrem sinnverwirrenden Lächeln sah sie
ihn an.
»Wenn dir die Menschen auf die Nerven fallen, Krafft, dann
bleiben wir ihnen doch fern. Ich bin auch viel lieber mit
dir allein.«
Ein so strahlend heißer Blick traf sie, daß sie erglühend den
Kopf zur Seite wandte.
Ilse-Sibylle lag in ihrem Schlafzimmer auf dem Diwan und
träumte vor sich hin.
Nun war es schon ein Jahr her, daß sie auf Dünentrutz
weilte. Die letzten Wochen davon waren wie ein wonniger
Traum gewesen. Ach, Krafft von Broede! Jetzt kam ihr Herz
nimmermehr von ihm los. Dünentrutz verlassen? Das wäre
schlimmer als der Tod!
Alles, alles wollte sie geduldig ertragen – seine wechselnden
Stimmungen, seine Härte, die doch noch ab und zu
durchbrach. Nur nicht fortmüssen von ihm und
Dünentrutz.
Es klopfte, und er, mit dem sich ihre Gedanken
beschäftigten, trat ein. Sie sprang auf, ging ihm entgegen.
Wurde verlegen unter seinem prüfenden Blick.
»Fühlst du dich nicht wohl, Ilsibyll?«
»Doch, Krafft. Sehr sogar. Ich lag auf dem Diwan, weil ich
nichts mit mir anzufangen wußte. Du hast mich in deiner
Gesellschaft so verwöhnt, daß ich mich ohne dich
langweile.«
»Also Langeweile«, lachte er. »Dem Übel kann abgeholfen
werden. Ich bin nämlich hier, um dich zu fragen, ob du
mich nach einem Vorwerk begleiten willst. Wir können den
Weg durch den Wald nehmen.«
»Herrlich! Weißt du was? Ich fahre dich mit meinem
Fuhrwerk, ja?«
Lächelnd sah er in ihr freudeglühendes Gesicht.
»Sag mal, kleine Frau, du siehst ja jetzt immer wie das
blühende Leben selber aus. Obgleich der zarte, ätherische
Hauch – «
»Ach, laß doch, Krafft«, unterbrach sie ihn ungeduldig.
»Meine Person ist doch viel zu uninteressant, um Worte
darüber zu machen. Ich will mich rasch umziehen.«
Sie schob ihn energisch hinaus, der lachend protestierte.
Saß dann kutschierend neben ihm im Wagen. Ihre Augen
strahlten in frohem Eifer.
Harras lief humpelnd hinter dem Wagen her, denn er hatte
sich bei einer frischfröhlichen Rauferei mit einem
Artgenossen das Bein verletzt.
»Wir nehmen ihn in den Wagen«, bettelte Ilse-Sibylle. »Er
hat Schmerzen, der arme Kerl.«
»Eigentlich sollte der Bursche nur ruhig laufen. Aber weil
meine kleine Mimose so süß bitten kann.«
Also durfte Harras in den Wagen klettern. Er wußte ganz
genau, wem er diesen Vorzug zu verdanken hatte. Streckte
sich wohlig zu Frauchens Füßen.
Wundervoll war es im Wald> die Luft herb und schwer, so
richtig frühlingsduftend. Ilse-Sibylle fuhr langsam, um die
Schönheit ringsum genießen zu können. Zwischendurch
plauderte sie froh, während der Gatte sich schweigsam
verhielt. Sein Blick hing unentwegt an der feinen Gestalt
mit dem stolzgetragenen Köpfchen.
»Sieh nur, Krafft, die ersten Schneeglöckchen!« rief sie
plötzlich. »Darf ich mir welche pflücken, oder hast du es
eilig?«
Lächelnd schüttelte er den Kopf, und Ilse-Sibylle sprang
vergnügt vom Wagen. Während sie eifrig die zarten
Glöcklein sammelte, schaute er ihr vom Wagen aus zu.
Doch plötzlich weiteten sich seine Augen, todblaß wurde
sein Gesicht. Er straffte den Körper zum Sprung, schnellte
vom Wagen und warf sich vor die ahnungslose Gattin, sie
so mit seinem Körper deckend.
Und schon knallte ein Schuß –
Ein langgestreckter Schatten sauste an ihnen vorbei –
Harras. Drohend klang sein tiefes Gebell durch den stillen
Wald.
»Ilse-Sibylle, bist du verletzt?«
Aschfahl war sein Gesicht, heiße Angst brannte in den
Augen. Verständnislos schüttelte sie den Kopf – schrie dann
auf.
»Aber du bist verletzt, Krafft!« zeigte sie auf seinen schlaff
herabhängenden Arm.
Er winkte ungeduldig ab. Umschlang ihre Schulter mit dem
gesunden Arm und zog sie mit sich fort.
Weit brauchten sie nicht zu gehen. An einen Baum gelehnt
stand eine Gestalt, vor der Harras saß, der keinen Blick von
seinem Opfer ließ. Die Dame war in Jagdkleidung, eine
Büchse lag zu ihren Füßen. Krafft hob die Waffe auf, entlud
sie und überreichte sie der Besitzerin mit spöttischer
Verbeugung.
»Das war nicht nett von Ihnen, Gnädigste. Ich bin zwar ein
alter Soldat, an Verletzungen gewöhnt – «
»Krafft – du – du?« schrie sie so verzweifelt, daß Ilse-Sibylle
zusammenzuckte. Noch fester umfaßte sie seinen Arm,
während seine Augen mit erbarmungsloser Ironie an
seinem Gegenüber hingen.
»Jawohl – ich – meine Gnädigste«, sagte, er langsam und
scharf betont. »Danken Sie Ihrem Herrgott, daß ich es nur
bin! Denn wäre es meine Gattin gewesen – « hob sich seine
Stimme nun zu schneidender Schärfe, »Himmel und Hölle,
dann hätten Sie was erleben können! Und da uns Ihre
Nachbarschaft zu aufregend ist, so möchte ich Ihnen einen
Wink geben, daß mein Onkel, der Unruher Rainer, Ihren
Besitz gern erwerben möchte. Also, beeilen Sie sich, mit
ihm einig zu werden, wenn Sie nicht wollen, daß ich Sie
der Polizei übergebe. Denn Menschen wie Sie gehören ins
Zuchthaus.«
»Krafft, das soll das Ende sein?«
»Ende-? Es hat meines Wissens überhaupt keinen Anfang
für uns gegeben. Daß Sie sich an meine Person heften, ist
einzig Ihr Privatvergnügen. Daß Sie meinen Freund
zugrunde gerichtet haben, das habe ich verwinden müssen.
Auch daß Sie schon einmal auf meine Gattin schossen.
Aber hätten Sie sie heute wieder getroffen –
Himmeldonnerwetter, das hätte Ihnen den Hals
gebrochen!« stieß er zwischen den Zähnen hervor. Die
Augen wetterleuchteten in dem blassen Antlitz.
»Also, Sie wissen Bescheid, Gnädigste. Verschwinden Sie
von hier, aber ziemlich plötzlich!«
Wieder zog er Ilse-Sibylle mit sich fort, nicht achtend, daß
die Zurückbleibende hinter ihnen herwimmerte.
»Kein falsches Mitleid, Ilsibyll«, sagte er hart, als sie den
Schritt verhalten wollte. »Das Weib ist ein Teufel!«
Ilse-Sibylle hatte jetzt auch andere Sorgen. Angstvoll hing
ihr Blick an seinem Jackenärmel, durch den Blut sickerte.
»Bist du schwer verletzt, Krafft?«
»Nur unbedeutend, Ilsibyll. Mach dir keine Sorgen.«
Sorglich war sie um ihn bemüht, als er auf den Wagen
stieg. Dann fuhr sie so schnell davon, wie es nur gehen
wollte, so daß Dünentrutz bald erreicht war.
»Sanitätsrat Meder hierher bitten!« rief sie dem Diener zu,
der vor dem Portal stand und nun eiligst verschwand.
Oben in Kraffts Schlafzimmer kniete sie vor ihm und
schnitt den Ärmel seiner Jacke auf, wie er es damals mit
dem ihres Pullovers getan. Half ihn dann zu Bett bringen
und sah voll bebender Angst auf die regungslose Gestalt.
Atmete erleichtert auf, als der Arzt ungeahnt rasch eintrat.
»Was gibt’s nun schon wieder?« schaute er betroffen auf
den Verletzten.
»Nicht fragen, Herr Sanitätsrat!« flehte Ilse-Sibylle.
»Na, schön – «, machte er sich an die Untersuchung, nach
deren Beendigung er sie beruhigen konnte.
»Nicht lebensgefährlich, Frau Baronin«, tröstete er. »So ein
Salonschuß wirft einen alten Krieger noch lange nicht um.«
»Sehr richtig – « schlug Krafft nun die Augen auf und lachte
ihn an. »Wie gut, daß ich diesmal den Schuß abbekam! Er
galt nämlich wieder meiner Frau.«
»Ja – ist das Frauenzimmer denn verrückt geworden?!«
empörte sich der Arzt.
»Welches Frauenzimmer denn?« blinzelte der Baron ihm
zu.
»So was kann doch einer aus Dummdorf kapieren.«
Ilse-Sibylle konnte nicht begreifen, daß Krafft so vergnügt
sein konnte, während ihr fast das Herz brach. Wenn die
Verletzung auch nicht lebensgefährlich war, so brachte sie
doch Schmerzen und schwächte den Körper. Vielleicht
blieb gar der Arm steif.
Und alles ihretwegen!
Sie war froh, als der Arzt sich verabschiedete. Dann sank sie
vor dem Bett in die Knie. Mochte er nun wissen, wie sehr
sie ihn liebte. Das war ihr jetzt alles ganz gleichgültig.
Sie legte ihr Gesicht auf das Kissen, ganz nahe neben das
seine. Wie blaß er war, wie erschöpft!
Bitterlich weinte sie auf. Die Tränen benetzten das bleiche
Antlitz des Verletzten.
»Ilsibyll -!«
Sie schrak zusammen.
»Ilsibyll, warum weinst du?«
Wie weich seine Stimme klang – das sollte sie nun auch
noch ertragen!
»Weil du immer mehr für mich tust, und ich dir nie danken
kann«, schluchzte sie herzzerbrechend. »In der Eisenbahn
fing es an. Dann der Abend auf den Dünen, dann die Ehe,
die dir nichts als Verdruß bringt – und nun setztest du gar
dein Leben für mich ein! Und ich – ich stehe dir gegenüber
mit leeren Händen.«
Verzweifelt drückte sie das Gesicht in die Kissen. Sah daher
nicht, wie es in seinem Gesicht arbeitete.
»Stehst du mir wirklich mit leeren Händen gegenüber?«
flüsterte er ihr ins Ohr.
Ihr Kopf ruckte hoch, die Augen flehten zu ihm hin.
»Ja, Krafft. Denn ich habe ja nichts, was ich dir zum Dank
geben könnte. Höchstens mich selbst – mit einem Herzen
voll heißer Liebe – «
Ein Ruck ging durch seinen Körper, heftig und jäh.
»Ilsibyll – weißt du auch, was du da sprichst?«
»O ja. Daß ich dich liebe – dich geliebt habe, vom ersten
Sehen an.«
»Und wolltest daher nicht mein Spielzeug sein?«
»Ach, das war damals. Da hatte ich auch noch meinen
Stolz, der jetzt gebrochen darniederliegt.«
Nun richtete er sich auf. Umfaßte sie mit dem gesunden
Arm und preßte sie an sich, daß ihr der Atem verging.
Küßte sich satt an den roten Lippen, die so verlockend zu
ihm emporblühten.
»Ilsibyll, du grausames kleines Scheusal! Auf diesen
Augenblick habe ich gewartet – gewartet! Fast irrsinnig
geworden bin ich darüber. War es denn so schwer, den
unbändigen Stolz niederzuringen? Ilsibyll!«
»Hätte ich nur gewußt, daß du mich liebst – «
»Gehörte denn so viel Scharfsinn dazu? Wie hast du mich
gequält, du grausames Kind! Meine ganze Energie und
Härte mußte ich anwenden, um dir widerstehen zu
können. Um nicht zu deinem Sklaven zu werden, du
unglaublich borstige, süße kleine Person. Hat ein
bezauberndes Engelköpfchen und dabei solch ein
ausgewachsenes Teufelchen in dem vollendet schönen
Nacken.«
Lachend schlang sie die Arme um seinen Hals. Ließ sich
küssen und kosen. Ihre Augen strahlten ihn an wie zwei
Sonnen.
»Kleine Mimose – du Abgott mein – « küßte er diese
lockenden, leuchtenden Augensterne zart.
Bis sie dann erschrocken auffuhr.
»Mein Gott, Krafft, du sitzt ja! Wenn dir das nun schadet?«
»Mach nicht so entsetzte Augen, liebste Frau. Freude hat
noch niemand geschadet, und mich wird sie bestimmt
nicht umwerfen, der ich so lange im Schatten gestanden.
Komm, erzähl mir lieber, wann du dein Herzchen an mich
verlorst.«
»Gleich beim ersten Sehen. Du wurdest mein Idealbild.
Bliebst es auch, als Tante Marianne dich so hart
beschuldigte – obwohl ich es zu beflecken versuchte – «
Immer weiter erzählte sie. Manchmal leise und stockend,
doch tapfer und wahrheitsgemäß.
Als sie geendet, fragte er erschüttert:
»Und nun, du hochmütiges Kind?«
»Nun will ich dich nur noch liebhaben dürfen.« –
Als dann Frau von Bruckheim wiederkam, fand sie zwei
glückselige Menschen.
»Da sorgte ich mich so entsetzlich um euch, kam früher
zurück, als es anging – und nun – Ach, Kinder, wie
glücklich bin ich doch!«
Als man in Unruh Hochzeit feierte, war Krafft schon wieder
hergestellt.
»Nun, alter Schlingel, wohl Flitterwochen an allen Enden?«
schmunzelte Herr Julis.
»Und was für welche!« kam die Antwort frisch, froh,
übermütig. »Nur, daß wir sie im Dünenschloß verleben,
das uns mit seiner Romantik förmlich einspinnt in unser
Glück, während Lo und Winfried es in die Welt
hinaustragen.«
»Der Not gehorchend, nicht dem eignen Triebe, mein
Jungchen. Sie werden nämlich geradezu rausgeschmissen.
Denn meine teure Ehehälfte, die dem Paar sein
Turteltaubennest einrichten will, kann es dabei nicht
brauchen. Wir wollten ihnen schon das Gut überlassen, das
mir Frau Börne für ein Butterbrot verkaufte, bevor sie
ausriß. Doch nichts zu machen – sie wollten nicht.
Schwingen große Töne von Harmonie im elterlichen Nest,
mit den Alten als Krönung ihres Glücks. So räumt ihnen
denn die rührende Schwiegermutter einen Flügel bei uns
ein. Groß genug ist der Unruher Kasten ja. Ob sie dann
selig werden? Na, laß doch das Kind das Äppelche – «
Vergnügt blinzelte er ihnen zu und eilte davon, während
beide hinter ihm herlachten.
»Als ob man mit solchen Schwiegereltern anders als gut
auskommen könnte!« sagte Krafft warm. »Ich gönne dem
Winfried sein Glück von ganzem Herzen.«
Als man nach der Feier nach Dünentrutz zurückgefahren
war und Krafft nun seiner jetzt im Glück so köstlich
aufgeblühten Frau allein gegenüber stand, zog er sie
beseligt in die Arme.
»Liebe, liebste Frau – Abgott mein – wollen wir auch in die
weite Welt hinaus?«
Erst bat sie um Gnade, daß er sie nicht erdrücken möge,
und schlang dann ihre Arme um seinen Hals.
»Nein, Krafft, noch nicht. Erst, wenn das Glück mich nicht
mehr gefangenhält. Und dann – und überhaupt – kann es
irgendwo schöner sein als in unserm herrlichen
Dünenschloß, an Wald und See? Aber wenn du willst – «
»Dann reise ohne mich, nicht wahr?« unterbrach er sie
entrüstet. »Du glaubst doch nicht etwa, daß du mich jemals
im Leben noch einmal loswirst?«
»Will ich ja gar nicht, du schrecklicher Mann! Aber wie
sagte Tante Marianne: Du kannst nicht ewig treu sein.
Denn die Treue – «
»Ist blau!« unterbrach er sie übermütig.
Sie lachten beide wie ausgelassene Kinder.
Frau von Bruckheim hörte in ihrem Zimmer dieses
herzfrohe Lachen. Ihr Blick ging hin zu den Bildern von
Gatten und Sohn. Sie konnte sie nun schon betrachten,
ohne von Schmerz geschüttelt zu werden.
Und warum?
Warm und sonnig war es in Dünentrutz, dem wald- und
meeresumrauschten. Warm und sonnig war auch die Liebe,
die sie umgab, die sie nicht einsam werden ließ.
Und stark war der Schutz, unter dem sie stand. Unter dem
Schutz des Krafft von Broede.
- ENDE-