Behrendt, Leni Kelter Grosse Ausgabe 0292 Weil es mein Herz verlangt

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Weil es mein Herz

verlangt

Roman von Leni Behrendt

Der Landarzt Albrecht Winard hat in zweiter Ehe die zarte,
feine Karola Hiltmer, eine arme Waise, geheiratet. Er liebt
sie sehr, doch das feinsinnige Wesen wird in der derben

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und einfachen Umgebung nur gequält, zumal Winard im
Hause der Mutter seiner ersten Frau lebt, die seine beiden

kleinen Mädchen zudem verhetzt. Nach einem
schrecklichen Auftritt flieht Karola zu ihrer einzigen, ihr
bisher unbekannten Tante. Hier wird die junge Karola
liebevoll aufgenommen, schenkt der kleinen Ute das
Leben. Winard, der nach einem Krankenbesuch
zurückkehrt, findet seine Frau nicht mehr vor. Als er sie
besucht, erklärt Karola ihm, daß sie nichts mehr von ihm
wissen will. Gibt es noch eine Rettung für die große Liebe?

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Wir verwenden Papier, das bis zu 70% aus Altpapier besteht. Das ist unser Beitrag zum Umweltschutz.

Diese Ausgabe erscheint alle 4 Wochen im Martin Kelter Verlag (GmbH & Co.),

Mühlenstieg 16-22, 22.041 Hamburg, Postfach 70 10 09, 22.010 Hamburg

Telefon: Sa.-Nr. (040) 68 28 95-0, Telefax (040) 68 28 95 50, Fernschreiber: 213.126

Verantwortlich: Verleger Otto Melchert. Im Verkaufspreis ist die gesetzliche Mehrwertsteuer enthalten.

Gesamtherstellung: Norhaven Rotation A/S

Für unaufgefordert eingesandte Manuskripte übernimmt der Verlag keine Gewähr.

Abgebildete Personen auf dem Umschlag stehen in keinem Zusammenhang mit dem Roman.

Diese Ausgabe darf weder in Leihbüchereien verliehen noch in Lesezirkeln geführt oder zum

gewerbsmäßigen

Umtausch bzw. Wiederverkauf verwendet werden.

Printed in Denmark.

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Bimmelnd schlängelte sich die Kleinbahn die schmalen
Schienen entlang, bis sie wieder eine der vielen Haltestellen

erreicht hatte und mit grellem Pfiff und scharfem Ruck
stehenblieb. Den beiden Reisenden blieb kaum Zeit
auszusteigen, als das Bähnlein sich auch schon wieder
prustend und stöhnend in Bewegung setzte.
Es war stockdunkel; dazu regnete es in Strömen.
»Albrecht, wo bist du?« ließ sich eine ängstliche Stimme
vernehmen. »Man kann hier ja nicht die Hand vor den
Augen sehen!«
Eine Taschenlampe blitzte auf, ihr Schein traf eine
weibliche Gestalt, die von einem Regenmantel verhüllt war.
»Fürchtest du, daß ich heimlich

,

still und leise

verschwinden könnte?« kam es neckend zurück. »Komm

nur und halte dich an meinem Rockzipfel fest. Ich kann
dich nicht führen, da ich die Koffer tragen muß.«
»Kann das nicht der Kutscher besorgen? Bring mich so
lange in den Wartesaal.«
»Den gibt es hier nicht, Kindchen. Eine Wellblechbude ist
alles, was die Haltestelle an Unterschlupf zu bieten hat.«
»Das ist ja entsetzlich! So etwas kenne ich ja noch gar
nicht.«
»Dafür bist du auch auf dem abgelegensten Lande. Wirst
dich hier noch über manches wundern müssen.«
»Albrecht, huh – ich trat eben auf etwas. Ich glaube, es war
ein Tier!«

»Natürlich! Es war sicherlich ein Wolf, wie sie bei uns hier
oben frisch und frech herumlaufen«, lachte der Mann
herzlich. Er stellte die Koffer hin und hob die leichte
Gestalt auf die Arme.
»Komm schon, du Hasenherz, bevor du dich noch ganz in
Angst auflöst.«
Sicher landete die junge Frau dann auf dem Sitz des
Wagens, dessen Halbverdeck sie vor dem Regen schützte.
Wie ein Kind ließ sie sich von dem Gatten in die Decke
hüllen. Und erst als sie warm und gut saß, eilte er in
Begleitung des Kutschers davon, um die abgestellten Koffer

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zu holen. Dann nahm er neben der, Gattin Platz, die sich
beglückt an ihn schmiegte.

»Sitzt du auch warm, mein Liebstes?« fragte er zärtlich.
»Ja!«
»Und fürchtest dich auch nicht mehr?«
»Wenn du bei mir bist, niemals. Obgleich die Dunkelheit
beängstigend genug ist. Wird der Kutscher uns auch richtig
fahren?«
»Darauf kannst du dich verlassen. Der alte Klinkeit und
sein braver Gaul finden den Weg im Schlaf. Lieber wäre ich
ja heute mit dir im Auto gefahren, weil man rascher
vorwärts kommt und auch wärmer sitzt. Aber wie mir
Klinkeit eben erzählte, ist das einzige Mietauto des Dorfes
gerade unterwegs. Wir müssen also auch so zufrieden sein.«

»Mir ist es gleich, worin ich fahre. Die Hauptsache ist, daß
du bei mir bist«, beteuerte die junge Frau zärtlich. Zwei
weiche Arme legten sich um den Hals des Mannes, der
seine ihm vor drei Tagen angetraute Frau fest umfaßte.
Sie merkten beide nicht, wie der Regen auf das Verdeck des
Wagens klatschte und von dort auf die Lederdecke rann. Sie
schraken erst aus ihrer seligen Versunkenheit auf, als der
Wagen hielt.
»Sind wir denn schon angelangt, Klinkeit?« fragte der Mann
verwundert.
»Jawohl, Herr Doktor. So schnell ist uns die Zeit wohl noch
nie vergangen«, kam es schmunzelnd zurück.

Lachend stieg der junge Arzt vom Wagen und hob dann
seine Frau herab. Ganz fest drückte er sie an sich, bevor er
sie behutsam zur Erde gleiten ließ. Klinkeit reichte die
beiden Koffer hinunter, und langsam ratterte der Wagen
über das holprige Pflaster der Dorfstraße weiter.
»Nimm bitte die Taschenlampe, Karola, und geh voran«,
bat der Gatte, der sich wieder mit den Koffern belud. »Wir
hätten doch lieber bei Tage hier ankommen sollen. Ein
Einzug bei Dunkelheit und Regenwetter dazu ist nicht
gerade erfreulich.«
Karola öffnete die Pforte, durchquerte mit wenigen

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Schritten den kleinen Vorgarten und stand dann vor dem
Hause, das fortan ihre Heimat sein sollte. Und während

Albrecht die Koffer abstellte und die Tür aufschloß, ließ sie
den Schein der Taschenlampe über das Gebäude huschen.
Sie sah schmucklose, weißgetünchte Mauern, in der Mitte
eine Tür und zu beiden Seiten je zwei Fenster. Neben der
Tür war ein weißes Emailleschild angebracht, auf dem in
schwarzer Schrift ›Doktor Albrecht Winard, praktischer
Arzt‹ zu lesen war.
Alles in allem war es ein schmuckloses, sehr nüchtern
wirkendes Haus, das die junge Frau enttäuschte.
Plötzlich, ihr selbst unverständlich, packte sie eine
unsinnige Angst, und als Winard nun die Tür öffnete und
sie über seine Schulter hinweg in den dunklen Flur schaute,

war ihr, als ob etwas Drohendes, Unheimliches sie
anspringen wollte. Zitternd schmiegte sie sich an den
Gatten, der zu ihr trat und sie in den nun erhellten Flur
zog.
»Kind, was hast du?« fragte er mit einem besorgten Blick
auf ihr blasses Gesicht. »Du zitterst ja am ganzen Körper.
Du wirst dich auf der Fahrt doch nicht etwa erkältet
haben?«
»Albrecht – ich fürchte mich!« stammelte sie hilflos – aber
er lachte sie einfach aus.
»Wovor denn, du Dummchen? Du bist doch jetzt in
deinem Heim, in dem dir bestimmt nichts Böses

widerfahren wird. Schade«, er blickte sich unangenehm
berührt um. »Wir hätten doch besser mit dem Mittagszug
eintreffen sollen, wie es vereinbart war. Wahrscheinlich hat
Klinkeit vergessen zu bestellen, daß wir erst abends
kommen wollten.«
Karola würgte an den Tränen, die ihr im Halse saßen. Und
während der Gatte ihr die triefend nassen Überkleider
abnahm, sah sie sich ängstlich im Flur um. Der Fußboden
bestand aus roten, zum Teil schon recht abgetretenen
Ziegeln. Rechts, links und in der Mitte je eine
braungestrichene Tür, an der Seite eine sehr schmale, steile

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Holztreppe und an der einen weißgetünchten Wand einige
Kleiderhaken – das war alles.

Winard hatte die Tür zur linken Hand aufgeschlossen und
ließ das Licht im Zimmer aufflammen. Langsam trat Karola
näher.
Nicht eine Spur von Behaglichkeit wies der Raum auf.
Karola, die ihre Kindheit und Jungmädchenzeit in einem
Hause verbracht hatte, in dem alles von gediegener
Vornehmheit gewesen war und die in den letzten beiden
Jahren mit ihrer Mutter in einer zwar kleinen, doch schön
und behaglich eingerichteten Wohnung gelebt hatte,
schaute mit erschrockenen Augen umher. Um ihren Mund
zuckte es wie verhaltenes Weinen. Fröstelnd zog sie die
Schultern hoch, was Winard veranlaßte, an den weißen

Kachelofen zu treten.
»Der Ofen ist anscheinend auch schlechter Laune, denn
eigentlich müßte es hier wenigstens warm sein.«
Sie sah nicht, wie seine Stirn sich umwölkte.
»Nun«, fuhr er mit etwas gezwungener Heiterkeit fort,
»dann werden wir uns heute an unserer Liebe wärmen.
Meine Schwiegermutter mußt du entschuldigen, sie scheint
doch angenommen zu haben, daß wir erst morgen
kommen würden. Aber du wirst sie noch schätzen lernen,
unsere Oma, die dir alle schwere Arbeit hier abnehmen
wird.«
»Albrecht, du hast doch gewußt – «, begann sie gekränkt.

»Daß ich ein zartes, feines und auch ein bißchen
verwöhntes Mädchen geheiratet habe, jawohl! Aber gerade
so wie es ist, liebe ich es über alle Maßen. Und du, warum
hast du mich denn genommen – gerade mich?«
»Das weißt du doch, Albrecht.«
»Sag’s doch wieder einmal, Liebste – bitte!«
»Weil es mein Herz verlangt!« flüsterten die roten Lippen,
auf denen dann seine heißen Küsse brannten. Seine
Stimme raunte liebe, zärtliche Worte. Und da vergaß die
junge, verwöhnte Karola ihre nüchterne Umgebung.
Vergaß, daß sie fror – und war glückselig, dem Mann ihrer

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Liebe so nahe zu sein und immer bei ihm bleiben zu
dürfen.

Durch ein schrilles, anhaltendes Klingeln schreckte Karola
aus tiefem Schlafe auf. Mit einem Ruck saß sie aufrecht im
Bett und sah mit Befremden, wie das Licht aufflammte und
der Gatte nach dem Hörer des Fernsprechers griff, der auf
dem Nachttisch stand. Er sprach nur wenige Worte, dann
sprang er mit einem Satze aus dem Bett.
»Albrecht, wo willst du denn hin?«
»Zu einer Kranken, Liebling.«
»Jetzt, mitten in der Nacht?«
»Gewiß doch. Deine kindische Furcht vor dem Alleinsein
mußt du endlich lassen«, entgegnete er mit leichter
Ungeduld, während er sich eilig ankleidete. Seine

Gedanken waren schon bei der erkrankten Frau, die seine
Hilfe brauchte. Und so entging es ihm, daß Karola ihn
entsetzt ansah. Er hatte bisher nur in liebevollstem Ton zu
ihr gesprochen.
Und nun – nach so wenigen Ehetagen…
Sie warf sich in die Kissen zurück und weinte heiß auf. Mit
einem verstohlenen Seufzer trat er zu ihr und strich
beruhigend über ihr Haar.
»Karola, Liebstes – nun sei einmal ganz vernünftig«, sprach
er ihr gut zu. »Du mußt dich damit vertraut machen, daß
ich manchmal auch nachts fortgeholt werde. Dafür bin ich
doch Arzt. Und ich bin der einzige Arzt hier am Ort, es ist

meine Pflicht, dem Rufe der Kranken zu folgen. Du wirst
dich auch an meine nächtlichen Krankenbesuche bald so
gewöhnt haben, daß du sie überhaupt nicht mehr merkst.
Genauso erging es Lydia.«
Er drückte einen raschen Kuß auf das blonde Gelock seiner
jungen Frau und eilte hinaus, ohne sich um ihr heftiges
Schluchzen zu kümmern. Karola starrte ihm enttäuscht
nach, und das verwöhnte Geschöpf konnte es nicht fassen,
daß es etwas geben könnte, was dem Gatten wichtiger
erschien als sie. Sie kam sich unglücklich vor, schluchzte
sich in einen unruhigen Schlaf und schreckte auf, als im

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Nebenraum gesprochen wurde.
Albrecht war immer noch nicht zurück. Bang und schwer

schlug Karola das Herz in der Brust. Sie fürchtete sich
plötzlich vor allem, worauf sie sich gestern noch gefreut
hatte; vor dem Heim des geliebten Mannes und vor seinen
Kindern, denen sie fortan die Mutter ersetzen sollte.
Eine heftige Sehnsucht nach ihrer erst kürzlich
verstorbenen Mutter stieg in ihr auf. Nach dem
behaglichen, gepflegten Heim, das sie noch vor wenigen
Wochen mit der liebsten und besten aller Mütter geteilt
hatte. Ihr tränenverdunkelter Blick schweifte im Zimmer
umher und blieb an einem Bild hängen, das eine Frau
zeigte. Das muß Lydia sein, schoß es ihr in den Sinn, die
erste Frau Albrechts, meine Vorgängerin.

Ein wenig ansprechendes Gesicht war es, mit kleinen,
ausdruckslosen Augen und einem verkniffenen Zug um
den Mund. Es war nicht schwer zu erkennen, daß diese
Frau kleinlich und engherzig gewesen sein mußte.
Es war natürlich Unsinn – aber Karola war es, als ob der
Mund sich jetzt zu einem höhnischen Lächeln verzog und
die Augen boshaft zu ihr herabblickten.
Schaudernd drückte sie das Gesicht in die Kissen und
verharrte so regungslos, bis der Gatte an ihr Bett trat.
»Schläfst du noch, Karola?« fragte er behutsam.
Da wandte sie ihm ihr blasses, übernächtigtes Gesicht zu.
»Du bliebst so lange fort, Albrecht«, klagte sie.

»Das klingt ja so sehr kläglich«, lachte er fröhlich. »Und
dabei ist das liebe, süße Fraule noch am Leben, kein böser
Nachtgeist hat es geholt und verschlungen.«
»Dein Spott tut mir weh, Albrecht.«
Da lachte er nicht mehr, sondern zog sie liebevoll in die
Arme.
»Liebstes, wie kann man nur so furchtsam sein. Und wie
kann man nur so traurige Augen haben – am vierten
Ehetag! Freust du dich denn gar nicht, zu Hause zu sein?«
»Doch – ja. Ich muß mich jedoch erst einleben – «
»Das wirst du, sobald die Möbel aus deinem Elternhause

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hier stehen werden«, tröstete er. »Dann wirst du dich sofort
heimisch fühlen. Aber jetzt hopp, heraus aus dem Bett,

kleine Langschläferin! Meine Mädel brennen darauf, ihre
neue Mutti kennenzulernen. Zieh dich rasch an, nach einer
Weile hole ich dich ab.«
Karola war nun doch auf ihre nähere Umgebung gespannt.
Sie beeilte sich mit dem Ankleiden, so daß sie dem Gatten,
der schon nach einer Viertelstunde wiederkam, in das
Nebenzimmer folgen konnte, das einen genauso
nüchternen und unbehaglichen Eindruck machte wie alles,
was sie bisher in diesem Hause gesehen hatte. Am Eßtisch
saß eine Frau, die sich bei Karolas Eintritt langsam erhob.
Und als die junge Frau der älteren ins Gesicht sah, da
wußte sie sofort, daß sie die Mutter ihrer Vorgängerin vor

sich hatte. Es war Zug um Zug das Gesicht auf dem Bild –
nur älter und der Ausdruck noch verkniffener.
»Hier, liebe Mama, bringe ich dir meine Karola«, sagte
Albrecht in herzlichem Ton. »Ersetze ihr ein wenig die
Mutter, die sie erst vor wenigen Wochen hat hergeben
müssen.«
Karola ergriff die Hand, die sich ihr widerwillig
entgegenstreckte - und die ihr sofort wieder drucklos
entzogen wurde.
»Hier sind auch die beiden Töchterchen«, erklärte Winard
fröhlich, wobei er Karola zwei Mädchen von ungefähr
sechs Jahren hinschob. Sie glichen sich so auffallend, daß

ein Fremder sie unmöglich auseinanderhalten konnte. Und
als der Vater schmunzelnd vorstellte: »Dieses ist die
Eleonore, und das die Dorothee«, schüttelte Karola
verblüfft den Kopf.
»Wie weißt du das denn, Albrecht?«
»Ich werde doch meine Kinder kennen!« lachte er herzlich.
»Und du wirst sie auch bald unterscheiden lernen, Liebes.«
»So – nun begrüßt artig die Mama«, ermunterte er die
Zwillinge, die Karola neugierig musterten. Sie hatten etwas
in den Augen, das der jungen Frau mißfiel.
Sie war von den Kindern überhaupt enttäuscht. Ihr hatten

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zwei liebreizende Geschöpfchen vorgeschwebt – und nun
standen diese beiden Kleinen vor ihr, die keine Spur von

Schönheit aufzuweisen hatten.
Hastig bückte Karola sich zu ihnen nieder.
»Ihr seid also meine Töchterchen«, sagte sie, so herzlich sie
konnte. »Werdet ihr mich auch ein wenig liebhaben?«
»Nein!« kam es ohne Zögern aus dem einen Kindermund.
»Du bist doch nur unsere Stiefmutter!«
»Dorothee!« verwies der Vater den kleinen Naseweis
entrüstet. »Ich will nie wieder eine ähnliche Bemerkung
hören!«
»Aber Albrecht, du wirst doch nicht etwa ernst nehmen,
was so ein kleines Kind sagt?« mischte sich nun die
Großmutter, Frau Boseit, ein. »Du weißt doch, daß Dorli

immer einen vorlauten Mund hat – «
»Was du natürlich entschuldigen mußt, Mama«, kam es
unwillig zurück. »Das laß die Mädel sich nur gut merken,
daß ich jede Dreistigkeit der neuen Mama gegenüber
verbiete. Habt ihr mich verstanden, Kinder?«
O ja, den Ton verstanden sie gut. Sie wußten auch, daß der
Vater ihnen nie mit leeren Drohungen kam, daß er
nachdrücklich strafte, wenn sie es verdient hatten.
»Frau Boseit sieht mich immer so böse an – und deine
Kinder – «, flüsterte Karola eines Tages.
»Das bildest du Närrchen dir nur ein«, unterbrach der
Mann sie lächelnd. »Meine Schwiegermutter ist wohl nicht

sehr liebenswürdig, aber sonst eine prachtvolle Frau. Du
wirst dich schon noch mit ihr verstehen – und das mußt du
unbedingt, Karola. Ich verdanke dieser Frau so viel, daß ich
den Dank in meinem ganzen Leben nicht abtragen kann.
Wie rackert sie sich schon allein in der Wirtschaft ab! Keine
Ruhe gönnt sie sich, immer ist sie auf dem Posten. Es ist
gewiß nicht leicht für sie, hier alles in Ordnung zu halten.«
»Es ist aber doch gar nichts in Ordnung hier«, wagte Karola
einzuwenden. »Die Zimmer sind so kahl – so – so – «
Sie schwieg verlegen unter seinem seltsamen Blick.
»Ach so, dir ist es hier nicht fein genug. Ja, Kind, wir sind

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leider nicht sehr wohlhabend, das weißt du ja. Du wirst
dich schon damit abfinden müssen, die Frau eines

schlichten Landarztes zu sein, der verflixt rechnen muß, um
allen an ihn gestellten Anforderungen gerecht zu werden«,
sagte er merklich kühl.
»Albrecht, du verstehst mich falsch.«
»Kindchen, ich verstehe dich schon richtig«, wehrte er ab.
»Ich weiß wohl, daß unser Haus alles andere als vornehm
eingerichtet ist. Schließlich bin ich von meinem
Elternhause her auch an mehr Schönheit und Behaglichkeit
gewöhnt. Aber es wäre ja töricht, wenn ich mir wegen
Dingen, die doch nicht zu ändern sind, das Leben unnötig
schwer machen wollte. Ich habe bisher eben das Geld nicht
gehabt, um mein Heim elegant einrichten zu können. Ich

habe dir ja auch nicht verschwiegen, daß in meinem Hause
gerechnet werden muß.«
»Das mußte meine Mutter doch auch«, erklärte Karola
hastig. »Und es ist auch nicht die Einrichtung des Hauses.
Ich kann dir das nicht so erklären, weißt du«, setzte sie
verlegen hinzu.
»Na, laß nur«, winkte er ab. »Ich werde schon dafür sorgen,
daß es bei uns bald besser wird. Wenn meine Schwägerin
Malve erst mit ihrem Studium fertig ist und meine
Unterstützung nicht mehr braucht, dann steht uns
beträchtlich mehr Geld zur Verfügung, das ich dann zuerst
zur Verschönerung des Hauses benützen werde. Denn eine

Schönheit wie du braucht den entsprechenden Rahmen.«
»Albrecht, so ist es doch nicht«, entgegnete sie vorwurfsvoll.
»Ich will ja auch mit allem zufrieden sein – wenn mir nur
deine Liebe bleibt.«
Frau Boseit war in der Küche mit dem Zubereiten des
Mittagessens beschäftigt, als die Zwillinge aufgeregt zu ihr
gelaufen kamen.
»Oma, komm bloß schnell mal sehen, was die Stiefmutter
gemacht hat!« schrie Lorli empört. »Wir wollten sehen, was
sie im Schlafzimmer so eigentlich macht – und – und –
und nun schläft sie und – und das Bild von unserer Mutti

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ist mit dem Gesicht nach der Wand gedreht.«
Die Kinderstimme zitterte bedenklich. Vier kleine Hände

griffen nach der Großmutter und zogen sie zum
Schlafzimmer hin.
Leise öffnete Dorli die Tür so weit, daß Frau Boseit das Bild
sehen konnte.
Um den verkniffenen Mund huschte ein böses Lächeln und
in den Augen glühte es auf. Behutsam schloß sie die Tür,
dann ging sie mit den Mädchen zur Küche zurück, wo sie
ihrer Empörung in nicht gerade gewählten Worten Luft
machte. Dann ließ sie sich auf den Küchenstuhl fallen,
drückte die Schürze vor das Gesicht und brach in lautes
Schluchzen aus.
Augenblickslang standen die Kleinen mit offenen

Mäulchen da. Doch dann liefen sie fast gleichzeitig hinaus
und zum Sprechzimmer hin, wo der Arzt gerade den
letzten Patienten entließ.
»Papa – Papa! Komm bloß einmal schnell nach der
Küche!« schrie Lorli aufgeregt. »Dort sitzt die Oma und
weint.«
»Weil die Stiefmutter das Bild von unserer Mutti umgedreht
hat!« schrie Dorli dazwischen.
»Mal sachte, Kinder«, verlangte der Vater energisch. »Wenn
ihr durcheinander schreit, kann ich nicht klug daraus
werden. Was erzählt ihr da für Märchen von einem
umgekehrten Bild?«

»Wenn du uns nicht glaubst, kannst du ja selber
nachsehen«, war Dorli gekränkt. »Die böse Stiefmutter!«
»Dorothee, ich verbitte mir diesen Ausdruck!« schrie er das
Kind an, das trotzig den Kopf zurückwarf.
»Ist sie es etwa nicht, wenn sie das Bild unserer Mutti – «
Nun weinte die Kleine, und das war für Lorli das Signal,
sofort mitzuweinen.
»Nun hau uns bloß noch«, kam es schluchzend aus dem
Kindermunde. »Das könnte der Stiefmutter noch so
passen! Sie soll wieder weg. Es war viel schöner, als sie
noch nicht hier war.«

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»Kinder, ich kann und will solche Bemerkungen nicht
mehr hören«, verwies der Vater wohl in etwas milderem

Ton, doch immer noch ernst und bestimmt. »Die Mama
bleibt hier, und ihr werdet artig und lieb zu ihr sein. Wehe,
wenn sie über euch Klage führt!
Und nun kommt, ich will einmal die Oma sprechen. Aus
eurem aufgeregten Gestammel kann ich nicht klug werden.
Mama, was ist denn geschehen?« fragte er, als er die Küche
betrat und die weinende Frau erblickte. »Du weinst, die
Kinder weinen – «
»Da soll man nicht weinen, wenn man so etwas erleben
muß!« kam es schluchzend hinter der Schürze hervor. »Das
hat meine arme Tochter doch gewiß nicht verdient, daß
nun ihr Bild –, Ach, ich sehe es schon kommen, es wird

hier bald kein Platz mehr für mich sein – wo – wo man das
Bild meines armen Kindes so verächtlich abtut.«
»Was sprichst du da eigentlich, Mama?«
»Komm!«
Sie erhob sich und ging Albrecht voran zum Schlafzimmer.
Dort öffnete sie leise die Tür und zeigte stumm auf das
Bild.
Winard warf einen Blick darauf- und wußte nun endlich
Bescheid. Ärgerlich biß er sich auf die Lippen, indem er
hastig die Tür schloß.
»Das mußt du nicht so tragisch nehmen, Mama«, sagte er
leise und eindringlich. »Karola hat dich damit bestimmt

nicht kränken wollen. Ihr hat wahrscheinlich das Bild an
sich nicht gefallen. Es ist auch tatsächlich nicht hübsch.«
»Naja«, meinte Frau Boseit, und ihre Lippen wurden noch
schmaler.
»Wie soll dich das auch kränken? Du hast Lydia eben nie
geliebt, während du dieses – Luxusgeschöpf vergötterst.«
»Mama, nun werde nicht ungerecht!« fuhr er unwillig auf.
»Die ganze Sache ist es nicht wert, daß du dich so sehr
darüber erregst. Karola wird dir nachher erklären, daß es
ihr gewiß ferngelegen hat, dich zu kränken.«
Er strich ihr über die Wange und eilte dann davon, weil die

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Flurglocke anschlug. Wahrscheinlich fand ein verspäteter
Patient sich ein.

Winard kam erst am Abend dazu, seine Frau zu sprechen.
Als er sie aufsuchte, sah sie ihm aus klaren Augen entgegen.
»Was hast du mit dem Bild Lydias gemacht, du böses
Mädchen?« fragte er vorwurfsvoll. »Hast du denn keine
Ahnung, wie sehr es meine Schwiegermutter und die
Kinder kränken muß, wenn du das Bild einfach umkehrst?«
»Es störte mich sehr«, bekannte sie kleinlaut. »Wo ist es
jetzt? Hat sie das umgekehrte Bild bemerkt?«
»Ja, Karola – und sich bitter darüber gekränkt. Das war sehr
unvorsichtig von dir, Liebes. Du kannst die Mama nicht
schwerer kränken, als wenn du an ihren Töchtern etwas
auszusetzen findest. Und gar noch an Lydia, die nun tot ist.

Sie hat für ihre beiden Mädel gehungert, damit sie ihnen
eine gute Erziehung zuteil werden lassen konnte; denn das
Gehalt, das ihr Mann als kleiner Beamter bezog, war sehr
gering. Beide Töchter sollten Ärztin werden, das hatte sie
sich nun einmal in den Kopf gesetzt. Lydia war jedoch
körperlich viel zu schwach, um das anstrengende Studium
überstehen zu können. Sie mußte schon nach dem zweiten
Semester damit aufhören.«
»Ach so – «, nickte Karola. »So war das. Und da wurde das
Geld dann zu deinem Studium verwandt?«
»Ja. Mein Vater, der als pensionierter Medizinalrat sein
Ruhegehalt bezog und mich davon unterhalten hatte, starb,

bevor ich mit dem Studium fertig war. Meine Schwester,
die damals gerade kurz vor ihrer Heirat stand,
beanspruchte für sich die Möbel, die Wäsche, kurzum die
ganze Wohnungseinrichtung. Vermögen war nicht
vorhanden – also stand ich vor dem Nichts. Ich hätte mein
Studium aufgeben müssen, wenn ich nicht von der
Universität her mit Lydia Boseit befreundet gewesen wäre.
Sie bot mir ihr Geld an und ich griff zu. Was blieb mir auch
anderes übrig? Nun mußte ich natürlich meinen bisherigen
Wunsch, einmal Schiffsarzt zu werden, aufgeben, denn
gleich nach dem Examen heiratete ich Lydia, und es hieß

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nun rasch eine Praxis gründen. Das verschlang so viel Geld,
daß auch das Kapital, welches für das Studium meiner

Schwägerin Malve bereitlag, angegriffen werden mußte. Da
ist es ja nun erklärlich, daß ich ihr Studium jetzt bezahle,
daß ich mich überhaupt ihr und ihrer Mutter zu großem
Dank verpflichtet fühle.«
Karola hatte seiner Erzählung mit Befremden gelauscht.
»Sag einmal, Albrecht, warum hast du vorher nie so
ausführlich über diese Angelegenheit mit mir gesprochen?«
»Erlaube, Karola, ich habe dich über meine Verhältnisse
gewiß nicht im unklaren gelassen, obgleich ich damit
rechnen mußte, daß du verwöhntes Persönchen Bedenken
haben würdest, meine Frau zu werden.
Karola, ich will ja schuften und arbeiten von früh bis spät,

damit ich dir recht bald ein Leben bieten kann, wie du es
von zu Hause gewöhnt bist. Aber ich mußte dich haben –
mußte!«
Der nächste Tag war ein Sonntag. Der einzige Tag in der
Woche, an dem der vielbeschäftigte Arzt sich Ruhe gönnte,
sofern es keine schwierigen Krankheitsfälle für ihn gab.
Diesen Tag benutzte Winard nun, um Karolas Möbel, die
bereits angekommen waren, mit Klinkeits Hilfe
aufzustellen. Die bisherigen Möbel wurden auf den Boden
gebracht und an ihre Stelle kamen nun die wertvollen,
gediegenen Stücke aus Karolas Elternhaus.
Bis zum Mittag war die Arbeit geschafft, und die beiden

Zimmer waren nicht wiederzuerkennen. Die Dielen waren
durch große Teppiche fast verdeckt, und die Wände füllten
die schweren, kostbaren Möbel. Auch die passenden
Gardinen, gute Bilder und die vielen Kleinigkeiten fehlten
nicht, die ein Heim erst behaglich machen. Der
Mittagstisch war mit einem feinen Damasttuch, dünnem,
teuerem Porzellan und schweren Silberbestecken gedeckt,
so daß der Hausherr lachend meinte, daß nun auch immer
dementsprechende Mahlzeiten auf den Tisch kommen
müßten.
Er sah dabei das verkniffene Gesicht seiner

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Schwiegermutter nicht - aber Karola sah es, und tiefe
Unruhe stieg in ihr auf. Sicherlich war es dieser Frau nicht

recht, daß die Möbel der zweiten Frau hier standen, wo
einst ihre Tochter gewohnt hatte.
Sie sprach darüber mit Albrecht, doch der wehrte lachend
ab:
»Kleines, hast du eine Ahnung! Stolz ist unsere Oma, daß
es nun so wunderschön bei uns ist. Nein, Kind, da
verkennst du diese biedere, ehrliche Frau ganz und gar.«
Karola war wohl anderer Meinung, allein, sie schwieg, weil
sie dem Gatten nicht zeigen wollte, wie unsympathisch ihr
Frau Boseit war.
Es tat ihr bereits leid, daß sie ihre Möbel hatte kommen
lassen, als sie die Kinder mit ihren schmutzigen Schuhen

auf den Gobelinstühlen umherklettern sah.
Allerdings wurden sie deswegen vom Vater angefahren, was
Frau Boseit nun wieder als persönliche Kränkung aufnahm.
»Dann können wir ja fortan in der Küche essen, wenn wir
uns in dem feinen Zimmer nicht zu benehmen verstehen«,
erklärte sie spitz.
»Davon kann keine Rede sein, Mama«, gab Winard
unwillig zurück. »Die Kinder müssen auf das, was sie nicht
richtig machen, unbedingt aufmerksam gemacht werden.«
»Bisher hast du an dem Benehmen der Kinder nie etwas
auszusetzen gehabt, Albrecht.«
»Na ja, ich habe mich vielleicht zu wenig um sie

gekümmert.«
Wie gottergeben senkte die alte Frau den Kopf – und da tat
sie Winard leid.
»Mama, ich mache dir doch keinen Vorwurf«, sagte er
herzlich. »Zur Kindererziehung gehört nur eine straffere
Hand, als du sie für deine geliebten Enkelchen hast. Nun
ist aber Karola da, die dich in der Erziehung der Kleinen
unterstützen wird.«
Karolas Blick suchte die Bilder ihrer Eltern, die jetzt an der
Stelle hingen, wo noch vor zwei Tagen Lydias schlechte
Aufnahme ihren Platz gehabt hatte. Nie war Karola stolzer

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auf ihre Eltern gewesen als jetzt.
Zärtlich streichelte sie über die Daunendecke aus schwerer,

glänzender Seide, kuschelte sich tiefer in die
spitzenbesetzten Kissen – bis ein leises Geräusch sie nach
der Tür, die zum Speisezimmer führte, schauen ließ. Dort
schob sich soeben ein Frauenkopf durch den Spalt, und
gleich darauf hörte sie die Stimme Frau Boseits:
»Da kannst du nicht hinein, Marie. Die Gnädige schläft bis
zum Mittag.«
»Was Sie nicht sagen!« staunte die alte Marie, die Stütze
Frau Boseits. »Schämt sich die junge Frau denn nicht?
Herrje, bis mittags im Bett liegen!
Na so was! Da hätte unser Herr Doktor doch auch wirklich
was anderes kriegen können, so wie der aussieht und was

der vorstellt. So einen Mann gibt es doch nicht zum
zweitenmal zehn Meilen im Umkreis. Wo haben die
beiden sich überhaupt kennengelernt?«
»Du weißt doch, daß der Herr Doktor einen medizinischen
Kursus mitmachte. Als er nun an einem Vormittag zur
Klinik ging, wurde eine Frau auf der Straße ohnmächtig. Er
kümmerte sich um sie, brachte sie nach Hause. Na – und
die Frau hatte eine Tochter.«
»Aha!« unterbrach Marie sie mit einem meckernden
Lachen. »Da wurde der Herr Doktor eingefangen, weiß
schon Bescheid.«
Frau Boseit, die endlich einmal Gelegenheit hatte, ihrem

Groll auf Karola Luft zu machen, sprach verbissen weiter:
»Als ihre Mutter nach einigen Wochen starb, hat er die
Tochter geheiratet. Wird sich gefreut haben über die gute
Partie. Und der Narr glaubt, daß er sie liebt.«
»So hat er Sie gar nicht vorher gefragt«, erkundigte sich
Marie in atemloser Spannung.
»Mich – gefragt -?« lachte Frau Boseit nun schrill auf. »Kurz
vor der Hochzeit bekam ich einen Brief von ihm, in dem er
mir so kurz wie möglich mitteilte, daß er sich verheiraten
wolle und dann und dann mit seiner jungen Frau hier
einzutreffen gedächte. Ich möchte doch zum Empfang alles

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ein wenig nett machen. Denk dir bloß, diese Zumutung!
Kommt so eine Hergelaufene und setzt sich hier ins warme

Nest – «
Erschrocken verstummte sie; denn die Tür zum
Nebenzimmer wurde nun ganz geöffnet, und in ihrem
Rahmen stand Karola, zitternd vor Empörung.
»Ich verbitte mir, daß Sie in einem solchen Ton von mir
sprechen, Frau Boseit!«
»Ach, Sie haben gelauscht? Sieh mal an!«
»Das habe ich nicht getan! Diese Frau da hat die Tür einen
Spalt geöffnet, da mußte ich ja jedes Wort hören. Und
wenn Sie noch einmal – «
»Na – und was ist dann?« fragte Frau Boseit, indem sie die
Arme in die Seiten stemmte und die junge Frau

herausfordernd ansah.
Da wandte sich Karola angewidert ab, warf die Tür hinter
sich zu und ließ sich schluchzend auf das Bett fallen.
Wo war sie hier hingeraten! Was waren das nur für
Menschen – ihresgleichen hatte sie ja überhaupt noch nicht
angetroffen! Wie sollte sie sich neben den beiden Frauen
behaupten? Sie weinte sich in immer tiefere Ratlosigkeit
hinein, und so kam es, daß Winard, als er nach Hause kam,
seine Frau wieder einmal in fassungslosem Jammer antraf.
»Kind, du weinst ja schon wieder!« rief er erschrocken.
»Albrecht, ich will fort von hier! Ich kann das Leben hier
nicht ertragen!«

»Na, höre einmal, Karola! Erzähle mir ausführlich, was
dich so erregen konnte.«
Also bekam er alles zu hören, was sich in den letzten
Stunden zugetragen hatte. Unwillig suchte er seine
Schwiegermutter auf und sagte ihr aus tiefem Ärger heraus
Worte, die nicht gerade abgewogen waren.
»Also merke es dir, Mama, ich will nicht, daß du dich in
Dinge mischst, die meine Frau persönlich angehen. Wie wir
uns gefunden haben und warum sie meine Frau wurde, das
sind Dinge, die meine Frau und mich allein angehen!«
schloß er seine kurze, jedoch nachhaltige Rede.

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Es war einige Tage vor Weihnachten. Karola saß auf ihrem
Fensterplatz und schaute mit traurigen Augen in das

Schneetreiben hinaus.
Wer die junge Frau in ihren Mädchenjahren gekannt hatte,
wäre über ihr jetziges Aussehen entsetzt gewesen. Da war
auch nicht mehr von der strahlendschönen,
vielumschwärmten Tochter des Majors Hiltmer
übriggeblieben. Was man jetzt sah, war eine müde,
verbitterte Frau.
Die Sehnsucht nach der Mutter wurde immer qualvoller in
ihr. Wie gern wäre sie ihr gefolgt. Denn ein Leben, wie sie
es jetzt führte, konnte sie unmöglich noch lange ertragen.
Nebenan hörte sie die scheltende Stimme Frau Boseits und
zog die Schulter fröstelnd empor. Wenn sie doch einmal so

keifen wollte, wenn Albrecht zu Hause war. Aber dann
klang ihre Stimme sanft und milde.
Oh, Karola hatte überhaupt den brennenden Wunsch, daß
Albrecht diese Frau nur einmal so sehen würde, wie sie
wirklich war, nicht wie sie sich ihm gegenüber gab!
Heute nun hatte Karola schon am frühen Vormittag das
Bedürfnis, sich niederzulegen, und ein unangenehmes
Ziehen in allen Gliedern zwang sie schließlich, diesem
Wunsche nachzugeben. Als sie die wärmende Hülle um
ihren Körper spürte, durchfuhr sie ein jäher Schreck.
Da – da war die Erkenntnis, gegen die sie sich bisher mit
aller Macht innerlich aufgelehnt hatte, und flutete ihr mit

einer heißen Welle zu Herzen. Was sie noch nicht hatte
glauben wollen, dafür sprachen nun alle Anzeichen: sie
würde ein Kind haben!
»Laß es nicht wahr sein, lieber Gott!« flehte sie mit
bebenden Lippen. »Laß es nicht wahr sein, denn das Kind
könnte hier nicht glücklich werden! So sehr ich mich in der
ersten Zeit meiner Ehe darüber gefreut hätte, jetzt - nein –
erspare uns allen das Unglück, lieber, gütiger Himmel!«
Karola hatte noch nicht lange so gelegen, als der Gatte ins
Zimmer trat.
»Du liegst schon wieder?« fragte er mißbilligend. »Kind, ich

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kann es einfach nicht begreifen, wie ein Mensch so viel im
Bett liegen kann.« Karola nahm sich sofort zusammen, und

der alte Trotz war stärker in ihr.
Oh, er konnte vieles nicht begreifen! Und sie hatte es längst
aufgegeben, ihn vom wahren Sachverhalt im Hause zu
überzeugen. Und plötzlich war der feste Entschluß in ihr,
den Gatten von ihrem Zustand nichts merken zu lassen,
sondern ihn, wenn es nicht anders gehen sollte, darüber zu
täuschen, bis - ja, bis sie dieses Haus, das ihr zur Hölle
geworden war, verlassen würde.
»Ich bringe eine frohe Botschaft«, erzählte Albrecht, wobei
er sich auf den Bettrand setzte. »Malve kommt schon
Weihnachten nach Hause. Freust du dich, Karola?«
Die junge Frau sah, wie sehr ihn diese Nachricht beglückte,

und tiefe Bitterkeit stieg in ihr auf.
»Ich mich freuen?« fragte sie müde. »Damit bekomme ich
doch nur eine Peinigerin mehr.«
»Karola, du hast wirklich eine besondere Art, mir jede
Freude zu verderben!« schalt er ärgerlich. »Malve wird
keinen Menschen quälen. Sie ist das selbstloseste
Menschenkind, das ich kenne.«
»Dann wundere ich mich nur, daß du sie nicht geheiratet
hast«, kam ihre Antwort dumpf und schwer. Er starrte sie
augenblickslang an, dann lachte er auf.
»Hast recht – es wäre besser gewesen«, sagte er hart und
verließ wieder einmal, wie schon so oft, verärgert das

Zimmer.
Karola sah ihm nach. Wo war die Zeit geblieben, da er ihre
Frage anders beantwortet hätte! Dieses beschwörende:
›Weil es verlangt mein Herz‹ – wo war es geblieben?

*

An einem Abend litt Karola besonders unter Kreuz- und
Kopfschmerzen, so daß sie sich entschloß, den Gatten, den
sie in seinem Arbeitszimmer wußte, aufzusuchen und ihn
um ein Linderungsmittel zu bitten. Als sie jedoch leise die

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Tür zu seinem Zimmer öffnete, fand sie außer ihm auch die
junge Ärztin darin vor. Sie stand neben Albrecht und hielt

seine Schulter umfaßt, während er den Kopf in die Hände
stützte.
»Wenn ich Karola so richtig gekannt hätte, dann wäre sie
nie meine Frau geworden«, hörte Karola ihn müde sagen.
»Wir sind in der Ehe beide unglücklich geworden.«
Wie gehetzt lief Karola davon, weil sie nicht weiter seine
Meinung über sie mit anhören wollte.
Und doch wäre es viel besser gewesen, wenn sie noch
einige Minuten verharrt hätte. Dann hätte sie auch seine
weiteren Worte gehört:
»Ihr Unglück ist, daß sie in unsere einfachen Verhältnisse
nicht paßt- und meines, daß ich sie noch immer liebe, daß

ich nie mehr von ihr loskommen werde, obwohl dieses
Nebeneinanderleben mir mehr und mehr zur Qual wird.
Ich möchte sie verhätscheln und verwöhnen, wie dieses
zarte Geschöpf es durch besondere Umstände von Jugend
auf gewohnt ist – und muß statt dessen hart und
unerbittlich vorgehen, weil ich schon als Arzt nicht länger
dulden kann, daß Karola immer haltloser und
teilnahmsloser wird.
Ich muß ja auch gegen ihren Trotz und ihre
unberechenbaren Launen ankämpfen wie gegen einen
bösen Feind – und mußte dafür ihr Vertrauen und ihre
Liebe einbüßen. Was ihre Mutter aus übergroßer Liebe und

vielleicht übertriebener Nachsicht gefehlt, das muß ich jetzt
büßen.
Ja, das hätte ich mir schon früher sagen müssen. Aber ich
liebte sie eben zu sehr, mein Herz verlangte zu stürmisch
nach ihr – das kann vielleicht als Entschuldigung gelten.«
Nun, hätte Karola das alles gehört – dann wäre manches
wohl anders gekommen.
So jedoch mußte sie annehmen, daß sie dem Gatten eine
Last war.
Wie schon so oft weinte sie sich in den Schlaf und hatte am
Morgen ein wahres Grauen vor den vielen Stunden, die für

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sie Unbill aller Art bringen würden. Als sie aufstand, hatte
sie zuerst einen Ohnmachtsanfall zu überwinden, war also

schon müde und matt, bevor sie an die Arbeit ging.
Heute wollte es nun der Zufall, daß, als Dorli wieder
einmal frech zu Karola war, der Vater hinzukam. Und der
fackelte nicht lange, sondern bestrafte den kleinen
Bösewicht mit einigen nachdrücklichen Klapsen auf den
vorlauten Mund.
»Geh, entschuldige dich bei der Mama!« verlangte er streng,
was die Kleine auch ohne Widerrede tat. Doch kaum hatte
der Vater den Rücken gekehrt, als die Kinder ihre artige
Haltung auch schon wieder aufgaben.
»Olle Petze!« schrie Dorli wütend, da sie annahm, daß
Karola sie beim Vater verklagt habe, weil er doch so

unvermutet aufgetaucht war und sie, ohne viel zu fragen,
bestraft hatte. Heiße Rachegedanken erwachten in der
kleinen Brust der Gemaßregelten. Sie zog die Schwester mit
fort, um heimlich mit ihr zu beraten, wie man sich rächen
konnte.
Allein, sie wurden von Karola bei ihrer Schandtat ertappt.
Denn als sie gerade dabei waren, das Bild von Karolas
Mutter mit einem Messer kurz und klein zu schneiden,
betrat die junge Frau das Zimmer.
O ja, die kleinen Schlauköpfe wußten schon, wie sie die
verhaßte Stiefmutter am wirksamsten treffen konnten!
Karola stand dann auch wie erstarrt da. Ein so heißer

Schmerz stieg in ihr auf – und ein so tiefer Groll gegen die
rüpelhaften Kinder, daß sie jede Beherrschung verlor und
der nächststehenden Lorli ins Gesicht schlug.
Der Schlag war gar nicht so hart, wie er gerechtfertigt
gewesen wäre - er hatte nur unglücklicherweise die Nase
getroffen, aus der dann auch sofort Blut lief.
Und das war nun gerade etwas für die kleinen
Sünderinnen, das wollten sie so recht ausnutzen! Ein so
ohrenzerreißendes Gebrüll aus den kleinen Kehlen stieg
auf, daß die Hausbewohner allesamt schreckensbleich ins
Zimmer gestürzt kamen.

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»Papa, die Stiefmutter hat Lorli so geschlagen, daß Blut
kommt!« schrie Dorli. »Und sie hat wirklich nichts getan!«

Damit hatte der kleine Schlaukopf ja gar nicht unrecht –
Lorli hatte auch wirklich nichts getan, denn der Streich war
ja von ihr verübt worden, während Lorli danebengestanden
hatte.
»Da siehst du es einmal mit eigenen Augen, Albrecht, wie
roh sie zu den Kindern ist!« kreischte Frau Boseit. »Das
arme Lorli! Sicherlich hat sie ihr das Nasenbein
zerschlagen! Zeig doch einmal, mein gutes Kindchen.«
Doch die Kleine hielt krampfhaft die Schürze vor das
Gesicht, weil sie fühlte, daß die Nase bereits zu bluten
aufgehört hatte. Das war nun gar nicht nach ihrem Sinn.
Albrecht sagte nichts. Ihm wich nur jeder Blutstropfen

langsam aus dem Antlitz.
Und nicht weniger blaß war Karola, die sich kaum noch
auf den Beinen halten konnte. Nicht ein Wort kam über
ihre bleichen Lippen. Mit starren Augen und ausgestreckten
Armen wich sie immer weiter vor dem Gatten zurück, der
mit erhobener Hand auf sie zuging, um sie zu stützen, weil
das geübte Auge des Arztes sofort erkannt hatte, daß die
junge Frau nahe am Zusammenbrechen war.
Man konnte diese erhobene Hand jedoch auch anders
deuten – wie es Dorli tat. Denn die tiefe Stille, die im
Zimmer herrschte, wurde von der hellen Kinderstimme
unterbrochen:

»Hau sie doch, Papa! Uns schlägst du ja auch«, erklang es
schadenfroh.
Winard trat erschrocken einen Schritt zurück – um dann
wieder rasch hinzuzuspringen, weil Karola nun auf das Bett
niedersank. Mit einem Ausdruck des Grauens in den
weitaufgerissenen Augen wehrte sie seine zugreifenden
Hände ab.
»Rühr mich nicht an!« schrie sie. »Wenn du mich schlagen
würdest - das wäre dann allerdings noch das Letzte – das
Allerletzte!«
So viel gehetzte Angst, so viel Verzweiflung und Not lag in

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dem Schrei, daß selbst die Kinder davon betroffen wurden
und sich erschrocken an die Großmutter schmiegten, die

schützend ihre Schultern umfaßte.
»Karola, Liebstes!« bat der Arzt, seine tiefe Erregung
niederzwingend. »Was hast du denn nur! Komm, Kind,
erzähle, was geschehen ist.
Komm einmal her, Lorli«, wandte er sich dann an die
kleine Tochter, die sehr langsam näher trat. Er zog die
Schürze von ihrem Gesicht und da diese rot gemustert war,
konnte man zur grenzenlosen Enttäuschung der Kinder nur
wenig von dem Blut entdecken; selbst die Nase wies keines
mehr auf.
»Was hast du denn um alles in der Welt! Warum schreist
du um nichts das ganze Haus zusammen?« fuhr Albrecht

die Kleine nun an.
»Ich – ich habe doch – nichts getan, Papa.«
»Das werde ich erst einmal feststellen!« unterbrach er die
nun jämmerlich Schluchzende. »Die Mama wird mir alles
erzählen.«
Er wandte sich nun wieder Karola zu, die gar nicht hörte,
was er sprach. Der Ausdruck des Grauens in ihren Augen
verstärkte sich noch, als er sich ihr behutsam näherte.
»Kind, du mußt nun endlich ruhig werden«, sagte er ratlos
bei ihrer angstvollen Abwehr. »Wenn du dich von mir nicht
berühren lassen willst, dann wird es meine Schwägerin tun.
Bitte, Malve«, bat er die Ärztin, die mit tieferblaßtem

Gesicht und erschrockenen Augen dem Vorgang gefolgt
war.
Doch auch sie wehrte Karola mit stummer, aber
nachdrücklicher Gebärde ab, so daß sie sich ratlos ansahen.
»Nimm die – Kinder fort«, sagte Karola endlich mit müder,
tonloser Stimme in die bedrückende Stille hinein. »Ich –
will – sie – nicht – mehr – sehen.«
Dabei überlief ihre Gestalt ein Zittern, das die Sorge des
Arztes noch steigerte. Wie hilfesuchend ging sein Blick
durch das Zimmer und blieb dann an dem zerstörten Bild
hängen.

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»Mein Gott!« murmelte er und griff sich mit beiden
Händen an die Stirn. »Das ist es also? Dann allerdings!«

Es dauerte eine ganze Weile bis er sich so weit gefaßt hatte,
um sich den Kindern zuwenden zu können, die aus Angst
förmlich in sich zusammenkrochen.
»Wer hat das getan?« fragte er hart und streng.
»Ich-«,kam die Antwort sehr kläglich von Dorlis zuckenden
Lippen. »Lorli hat bloß dabeigestanden – und gerade sie
hat die – die neue Mama so sehr doll gehauen.«
»Das nennst du doll gehauen, mein Kind?« lachte der Vater
rauh auf. »Nun, ich werde euch später zeigen, wie es ist,
wenn man wirklich doll haut. Denn das hier ist kein
harmloser Kinderstreich mehr«, und seine zitternde Rechte
zeigte auf das zerstörte Bild. »Das ist Bosheit und

Niedertracht. Hier wird sich einiges grundsätzlich ändern
müssen. Und zwar sofort!«
»Albrecht, es sind doch dumme Kinder«, versuchte Frau
Boseit ihre Enkel zu entschuldigen. Doch der
Schwiegersohn schnitt ihr kurz das Wort ab.
»Wir sprechen uns auch noch, Mama.«
»Komm, Albrecht, wir müssen jetzt fort«, mahnte Malve
leise, aber er winkte unwirsch ab.
»Ich gehe nicht früher, als bis ich Karola einigermaßen
versorgt weiß.
Bitte, Liebstes, lege dich doch wenigstens ins Bett«, bettelte
er wie ein Kind, so daß Karola nur, um ihn loszuwerden,

die Schuhe abstreifte und sich auf das Bett legte.
*
Frau Boseit zog ihre Enkelkinder aus dem Schlafzimmer
und warf in höchster Erregung die Tür hinter sich ins
Schloß.
»Na, da könnt ihr Gören ja was erleben!« lachte Marie
schadenfroh. »Aber eine gehörige Tracht Prügel habt ihr
auch verdient. Ihr seid so frech, daß es manchmal kaum
noch zum Aushalten mit euch ist.«
»Sei still!« schrie Frau Boseit sie an. »Hilf mir lieber, daß
ich mit den Kindern fort komme. Ich muß sie aus dem

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Hause bringen, damit der Vater sie heute nicht mehr sieht.
Morgen wird sich sein Ärger gelegt haben.«

»Aha!« machte Marie verständnisinnig. »Von mir aus kann
das schon so gemacht werden. Aber jetzt türme ich, das ist
mir heute zu ungemütlich hier.«
»Gut – geh – und komm morgen wieder«, entschied Frau
Boseit nach einigem Überlegen. Es war vielleicht gut, wenn
die Alte, die manchmal sehr schwatzhaft sein konnte, nicht
hier war, wenn sie dem Schwiegersohn später ein Märchen
erzählte, das sie noch ersinnen mußte. Ihr kam kein
Zweifel daran, daß er es ihr auch diesmal glauben würde.
Eilig wurden die Kinder angezogen, und schon eine halbe
Stunde später lag das Doktorhaus wie ausgestorben da.
Karola hatte im Nebenzimmer jedes Wort der Unterhaltung

zwischen den Frauen verstanden. Sie hatten ihre Stimmen
ja durchaus nicht gedämpft.
Nun, ihretwegen brauchte sie die Kinder nicht in Sicherheit
zu bringen, sie würde ihnen nie mehr im Wege sein.
Aber gut war es für ihr Vorhaben, daß sie allein im Hause
war. So konnte sie in aller Ruhe ausführen, wozu sie nach
diesem letzten Auftritt entschlossen war.
Sie konnte und wollte nicht mehr länger leben. Und wenn
sie den unerschütterlichen Willen dazu hatte, dann fand
sich im Zimmer eines Arztes immer etwas, das ihr zu
diesem Schritt verhalf – auch wenn er alle gefährlichen
Dinge noch so fest verschlossen hielt.

Wozu gab es ein Beil in der Küche, mit dem man den
Medikamentenschrank einschlagen konnte?
Es ging alles so leicht, so ganz einfach, das dünne Sperrholz
hielt den harten Schlägen nicht lange stand.
Prüfend drehte Karola die kleine Flasche mit
schmerzstillenden Tropfen in der Hand. Der Inhalt würde
gewiß genügen, um sie von der Qual und Pein, die sie seit
ihrer Verheiratung hatte erleiden müssen, zu erlösen.
Hastig eilte Karola ins Schlafzimmer zurück, wo sie die
kleine Flasche vorsichtig auf den Nachttisch stellte. Sie
zitterte am ganzen Körper vor Erregung.

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Schließlich war es ja nicht so einfach, was sie tun wollte.
Sie war doch immerhin erst zwanzig Jahre alt.

Aber ihr blieb kein anderer Ausweg. Um sich allein durchs
Leben zu schlagen, dazu fehlten ihr jegliche Kenntnisse.
Die Mutter hatte sie zwar so erzogen, daß sie sich in der
vornehmsten Umgebung tadellos bewegen konnte – aber
für das harte, nüchterne Leben war sie zu weich.
Ja, wenn sie einen Menschen auf der weiten Welt hätte, zu
dem sie jetzt hinfliehen könnte, dann würde sie ihr Leben
nicht so wegwerfen.
Jäh fiel ihr da die Tante Fritze ein, die Base ihres Vaters, an
die sie jahrelang nicht mehr gedacht hatte. Karola kannte
diese Tante zwar nicht, hatte nur viel von ihr gehört. Ein
ungeschliffenes Mannweib sollte sie sein, ohne Lebensart

und Sitte. Dazu sparsam bis zum Geiz, zänkisch und
unverträglich.
Diese Charakteristik stammte allerdings nicht von Karolas
Eltern, die zu vornehme Menschen gewesen waren, als daß
sie jemals in so gehässiger Weise hätten über einen
Menschen sprechen können. Sie hatten der Tochter immer
nur zu verstehen gegeben, daß sie mit der Tante
auseinandergekommen wären, da sie zu verschiedene
Naturen seien.
Dieses vernichtende Urteil stammte vielmehr von Tante
Fritzes Schwester. Die lebhafte, redselige Dame hatte
manchmal die Eltern Karolas besucht und von ihrer

jüngeren Schwester wahre Wunderdinge erzählt. Nun war
sie schon einige Jahre tot, und Karola hatte nichts mehr
über Tante Fritze gehört.
Nur nach dem Tode Frau Hiltmers war ein kurzes
Schreiben von der Tante an Karola gekommen, das diese
nur flüchtig gelesen und dann zu den andern
schwarzumrandeten Briefen in einen kleinen Kasten getan
hatte. Dieses Schreiben suchte Karola nun vor und hielt
bald darauf den Brief in der Hand.
Sollte sie sich feige aus dem Leben stehlen, wo es jetzt noch
einen andern Weg für sie gab? Sollte sie diesen vorletzten

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Weg nicht erst gehen, bevor sie den allerletzten antrat?
Ein Grauen packte sie plötzlich vor der kleinen Flasche, die

den Tod für sie barg. Hastig wandte sie sich ab, und es war
etwas Unerklärliches, das sie zwang, in fliegender Hast
einen kleinen Koffer zu packen. Nur die notwendigsten
Dinge, alles andere konnte ihr später nachgeschickt
werden.
Ihr Blick überflog die vielen eleganten Kleider, die im
Schrank hingen und von denen sie in diesem Hause nicht
eins zu tragen gewagt hatte, um den hämischen
Bemerkungen Frau Boseits und ihres Hausgeistes zu
entgehen. Jetzt wählte sie ein Samtkleid und passende
Schuhe und Strümpfe. Dann noch rasch den eleganten
Pelzmantel, das letzte Geschenk ihrer Mutter, übergezogen,

den schicken Hut aufgesetzt – und Karola war zur Flucht
gerüstet. Der Rest ihrer früheren Ersparnisse würde reichen,
um zur Tante zu gelangen.
Wie gut, daß sie so sparsam gewesen – und so wenig Geld
ausgegeben hatte. Jetzt war es ihr Retter in höchster Not.
Hastig zog sie ihre Handtasche vom Schrank – und da fiel
ihr das Bild Albrechts, das oben gelegen hatte, vor die
Füße.
›Weil es mein Herz verlangt‹, stand in seiner großen, steilen
Schrift quer über das Bild geschrieben. Und als Karola in
das Antlitz des Mannes sah, dem sie vor wenigen Monaten
voll grenzenlosen Vertrauens in dieses Haus gefolgt war –

und der doch so schlecht, so namenlos schlecht an ihr
gehandelt hatte, zerbrach etwas in ihr. Hastig legte sie das
Bild aus der Hand – und es war Zufall, daß es neben die
gefährlichen Tropfen zu liegen kam.
Karola merkte es nicht. Sie fieberte förmlich danach, von
hier fortzukommen. Sie steckte das Geld in die
Handtasche, griff nach dem Koffer und stahl sich wie ein
Dieb aus dem Hause, in dem sie nur Leid und
Demütigungen erfahren hatte.
Nie, nie wieder wollte sie in diese Hölle zurückkehren! Das
schwor sie sich in dieser Stunde.

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Als Karola dann auf der Dorfstraße stand, kam sie gar nicht
erst dazu, darüber nachzudenken, wie sie wohl zur Stadt

kommen sollte, um von dort aus ihre Reise mit dem Zug
anzutreten; denn ein leeres Mietauto fuhr langsam die
Straße entlang. Kurz entschlossen hielt sie es an und fragte
den Fahrer, ob er sie zur Stadt mitnehmen wollte, wozu er
gern bereit war. Er hatte Hochzeitsgäste aus der Stadt ins
Dorf gebracht und war nun froh, daß er nicht leer
zurückfahren brauchte.
Mit tiefer Befriedigung ließ Karola sich in die Polster
sinken. Das schien ja alles besser zu klappen als sie erwartet
hatte. Sie hätte es ja auch gar nicht ausgehalten, lange zu
Fuß zu gehen, denn jetzt, wo sich die fiebernde Erregung,
in der sie sich in der letzten Stunde befunden hatte, zu

legen begann, merkte sie erst, wie erschöpft sie war.
Wie ein bunter, wirrer Traum kamen ihr die Geschehnisse
der letzten Stunden vor. Noch konnte sie sich nicht klar
darüber werden, was sie mit dieser Flucht aufgab. Und das
wollte sie auch nicht. Erst einmal ruhig werden – ganz
ruhig. Erst einmal die nagenden, bohrenden Schmerzen im
Rücken und Kopf loswerden.
Ach ja – so war es schön, hier so ganz still zu sitzen, nicht
von hämischen Blicken verfolgt, von höhnenden Worten
gepeinigt. Nicht mehr die scheltende Stimme der Frau
Boseit hören, nicht mehr die ungezogenen Kinder um sich
haben – und nie mehr den Mann sehen müssen, der sie

mit seiner Ungerechtigkeit und seinem harten Willen
langsam zerbrochen hatte.
Wie eine Tote lag sie in den Polstern, so bleich und
regungslos, während es doch in Kopf und Rücken so
unbarmherzig bohrte, brannte und stach.
Viel zu früh war für Karola die Stadt erreicht. Es packte sie
tiefes Grauen vor dem, was nun kommen mußte: die
Bahnfahrt, der Weg bis zum Gut der Tante…
Ob der Mann vielleicht bereit war, sie bis dorthin zu
fahren? Sie sprach mit ihm darüber, er ließ sich den
Namen des Gutes nennen, suchte auf der großen Autokarte

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danach, und da stellte sich heraus, daß der Ort von hier
etwa hundertzwanzig Kilometer entfernt lag. Das war für

seinen schweren Wagen ja eine Spielerei, und der Verdienst
war gut mitzunehmen.
»Ich könnte Sie schon fahren«, meinte er bedächtig. »Aber
der Preis für die Fahrt ist hoch.«
»Ich zahle ihn gern«, stimmte Karola zu. »Mir liegt nämlich
viel daran, heute noch mein Ziel zu erreichen.«
»Das können wir auch bequem, gnädige Frau«, nickte der
Mann freundlich. »In zwei bis drei Stunden können wir da
sein. Dann haben wir gerade Kaffeezeit. Aber wollen Sie
nicht erst etwas essen, bevor wir weiterfahren?« fragte er
besorgt.
»Hier nicht«, wehrte sie hastig ab. »Wenn wir unterwegs ein

Gasthaus antreffen, dann wollen wir dort einkehren.«
Damit war er zufrieden. Er rechnete aus, was die Fahrt
kostete, ließ sich eine Summe darauf zahlen, tankte an der
nächsten Tankstelle und fuhr dann mit seinem
schweigsamen Gast davon.
Karola hatte sich tief in die Polster geschmiegt und duselte
vor sich hin.
Wenn Tante Fritze sie nun nicht aufnahm?
Ach, jetzt nicht daran denken, erst abwarten!
Karola schrak zusammen, als der Wagen hielt und der
Fahrer sie fragte, ob sie in dem Gasthaus, vor dem sie
standen, essen wollte.

»Bitte, gehen Sie nur hinein und lassen Sie sich etwas
geben, das Sie gern mögen«, sagte Karola hastig. »Und
wenn Sie so freundlich sein und mir eine Schnitte Brot und
eine Tasse Kaffee an den Wagen bringen würden, wäre ich
Ihnen dankbar.«
Der Mann schien nicht so recht einverstanden. Als ihn
jedoch ein bittender Blick aus den müden, umflorten
Augen traf, machte er sich kopfschüttelnd auf den Weg.
Nach kurzer Zeit kehrte er mit einer Schinkenschnitte und
einer kleinen Kanne Kaffee wieder. Er stellte das Tablett auf
den Sitz, ermunterte die junge Frau zum Essen und ging

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dann ins Gasthaus zurück, um dort seinen Hunger zu
stillen.

Es schmeckte ihm entschieden besser als Karola, die an
jedem Bissen förmlich würgte und es schließlich aufgab,
weiter zu essen. Und als der Mann nach einer Weile
wiederkam, brachte er die Kanne nebst Tasse zur Wirtin
zurück, das Brot jedoch wickelte er fein säuberlich ein und
steckte es in die Seitentasche des Wagens.
»Für unterwegs«, sagte er treuherzig. Karola gab ihm das
Geld, das er im Gasthaus ausgelegt hatte, und dann ging
die Fahrt weiter.
Die junge Frau streckte sich auf den Sitz und war bald so
fest eingeschlafen, daß der Fahrer sie am Bestimmungsort
wecken mußte.

»Wir sind angelangt, gnädige Frau«, sagte er verlegen, als er
ihre erschrockenen Augen sah, die jedoch nicht ihm galten,
sondern alldem, was nun unweigerlich für sie kommen
mußte. Rasch verließ sie den Wagen und reichte dem Mann
des Rest des Fahrgeldes.
»Warten Sie bitte noch ein wenig, ich muß erst wissen, ob
ich meine Tante zu Hause antreffe«, sagte sie hastig. Dann
schritt sie zögernd auf das Haus zu, das sie in der
Dunkelheit des Januarnachmittages nur undeutlich
erkennen konnte. Zögernd drückte sie auf den
Klingelknopf. Die Tür wurde aufgeschlossen, und Karola
stand einem Mädchen in weißer Schürze und Häubchen

gegenüber.
»Bin ich hier richtig in Allhöfen – und kann ich die
Besitzerin sprechen?« fragte Karola mit unsicherer Stimme.
»Ich glaube - ja«, kam es zögernd zurück. »Fräulein Hiltmer
ist jedenfalls zu Hause. Wollen Sie bitte eintreten und mir
vielleicht eine Karte geben?«
Karola rief dem Fahrer zu, daß sie ihn nicht mehr brauche,
bedankte sich noch dafür, daß er sie so sicher und gut
hergebracht hatte und folgte dann dem Mädchen, das sie in
eine geräumige Diele führte. Dort suchte sie aus ihrer
Handtasche eine Karte hervor, und während sich das

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Mädchen damit entfernte, ließ die junge Frau sich in den
nächsten Sessel fallen, weil die Füße sie einfach nicht mehr

tragen wollten.
Ihre Blicke hasteten in dem großen und behaglich
ausgestatteten Raum umher. Sie sah wuchtige Möbel,
bequeme Polstersessel vor dem riesigen Kamin, schwere
Teppiche. Das war die Luft, die sie von Kind auf geatmet
hatte. Hier war alles so anheimelnd, so traut…
Erschrocken fuhr sie zusammen, als hinter einer der Türen,
die es hier reichlich gab, eine Stimme laut wurde. Und
gleich darauf stand vor ihr eine Frau, die sie schweigend
betrachtete.
»Sie können gehen«, hörte Karola dann eine Stimme, die
recht gut einem Mann hätte gehören können. Das

Mädchen zog sich zurück, und dann fühlte die junge Frau
ihre Hände erfaßt und emporgezogen.
»Du siehst mir aus, mein Kind, als ob du so allerlei hinter
dir hättest«, sprach die Stimme wieder, die trotz ihrer Tiefe
etwas ungemein Beruhigendes, Tröstendes hatte.
»Tante Fritze – ich – «, würgte Karola hervor.
Und dann kamen die Tränen – heftig, unaufhaltsam!
Da fragte das energische Fräulein nicht weiter, sondern hob
die kinderleichte Gestalt der Nichte auf ihre kräftigen Arme
und trug sie in ein kleines, lauschiges Gemach, wo sie ihre
Last behutsam auf den Diwan gleiten ließ.
»Tante Fritze – ich muß ja – sterben – wenn du mich von

dir weist!« schluchzte die verzweifelte junge Frau – und da
streichelte die große Hand der Tante beruhigend über das
schimmernde Gelock, immer wieder, bis das furchtbare
Weinen allmählich verstummte.
»Karola, ich sehe dich heute zum erstenmal – kann also
nicht wissen, was dich so fassungslos gemacht hat«, sprach
die Stimme nun so behutsam und weich, daß die junge
Frau aufhorchte. Ihr Blick ging scheu zu dem derben,
frischen Gesicht und verfing sich in den klaren, blauen
Augen, die bis auf den Grund ihrer Seele zu forschen
schienen.

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Da warf das angstgequälte junge Weib ihre Arme um den
Hals der ihr bis heute fremden Tante, und diese bekam

alles zu hören, was die Nichte seit Monaten gepeinigt und
gequält hatte.
Karola war ja so froh, sich endlich einmal all die Not und
Qual vom Herzen reden zu können. Zu Tode erschöpft
sank sie dann in die Kissen zurück. Ihre Glieder zitterten
vor Erregung.
»Und wie bist du nun darauf verfallen, zu mir zu
kommen?« fragte das Fräulein behutsam, wobei sie die
eiskalten Finger in ihren großen warmen Händen behielt.
»Tante Fritze – du bist doch meine einzige Verwandte«,
erklärte Karola mit zuckenden Lippen. »Ich wollte mir ja
zuerst – das Leben - nehmen. Dann aber fielst du mir ein.«

»Und dem Himmel sei Dank dafür!« unterbrach Fräulein
Fritze sie inbrünstig. »Müssen dich ja ganz anständig
gepeinigt haben, dein sauberer Herr Gemahl und seine
Frau Schwiegermutter. Dieser Person meine Meinung zu
flöten, das muß mir unser alter Herrgott noch einmal
gewähren.
Und du, verflogener kleiner Vogel, wirst erst einmal zu Bett
gehen und gründlich schlafen. Das ist jetzt am besten für
dich. Später wollen wir dann weiter sehen.«
»So darf ich also bei dir bleiben, Tante Fritze?«
»Welche Frage, Kindchen! Ich werde doch nicht das Kind
meines Vetters, meine einzige Blutsverwandte, in den Tod

jagen! Denn falls ich dich von mir lasse, läufst du kleines
Hasenherz doch kopfüber in den ersten besten Teich.
Stimmt’s?
Himmel, Kleine, mußt du einen Trottel von Mann haben!
Ist es überhaupt möglich, daß ein Mann nicht weiß, was in
seinem Hause vorgeht? Und der Mensch besaß den
Größenwahn, ein so zartes Treibhauspflänzchen in dieses
Haus zu nehmen.
Aber nun komm, morgen sprechen wir weiter.«
Damit hob sie Karola wieder auf ihre Arme und trug sie
hinüber in ihr Schlafzimmer, wo sie die junge Frau wie ein

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Kind auskleidete und in ihr Bett legte.
»Tante Fritze, ist das dein Bett?«

»Ja. Kannst ruhig darin liegen. Es ist sauber, und krank bin
ich auch nicht.«
»Das glaube ich dir, Tante Fritze. Ich möchte dich nur nicht
verdrängen.«
»Ach was, ich werde auf dem Ruhebett hier prächtig
schlafen. Bin doch nicht ein so zartes, verhätscheltes
Püppchen wie du.
Wir haben hier ja wohl eine Menge Fremdenzimmer, aber
heute und in nächster Zeit möchte ich dich lieber unter
meiner Aufsicht behalten.«
Karola gab nun jeden Widerstand auf. Sie kam sich wieder
so geborgen vor wie in ihrem Elternhaus. Einige Minuten

später war sie fest eingeschlafen.
Fräulein Fritze nickte zufrieden vor sich hin. Nachdem sie
die Lampe ausgeschaltet hatte, schlich sie sich aus dem
Zimmer. Die Kleine hatte zwar noch nichts gegessen, aber
der Schlaf war der Erschöpften jetzt noch dienlicher als
Speise und Trank. Morgen wollte sie das arme Kind um so
mehr päppeln und pflegen.
»So – «, seufzte sie, als sie in ihrem Arbeitszimmer vor dem
Schreibtisch saß. »Nun werde ich einmal dem Herrn Dr.
Winard schriftlich mitteilen, was ich auf dem Herzen habe.
Bis morgen habe ich womöglich vergessen, was alles das
arme, gequälte Kind mir mitgeteilt hat. Und davon ist jedes

Wort wichtig als Anklage gegen diesen gewissenlosen
Ehemann und Haushaltungsvorstand.«
Schon flogen die Finger über die Tasten der
Schreibmaschine. Und da das resolute Fräulein Fritze nicht
gewohnt war, die Dinge zu umschreiben, sondern sie
immer beim richtigen Namen zu nennen, so bekam
Winard seine Sünden in unbarmherzig harten Worten
auseinandergesetzt. Es war kein Wort erdacht, war alles
genauso wiedergegeben wie Karola es geschildert hatte,
ganz richtig und wahrheitsgemäß. Und doch wirkte der
Inhalt des Briefes so vernichtend, wie Fräulein Fritze es

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wünschte.
Das energische Fräulein Fritze hätte nur sehen sollen, wie

verzweifelt der junge Doktor um die Stunde war, da sie den
geharnischten Brief schrieb – sie wäre wohl nicht so
unbarmherzig mit ihm ins Gericht gegangen, und der Brief
wäre ein wenig freundlicher ausgefallen.
Die Kranke hatte nämlich seine Hilfe länger in Anspruch
genommen, als vermutet. Und fast um dieselbe Zeit, als
Karola das Haus ihrer Tante betreten hatte, war er mit
Malve zurückgekehrt.
Müde und erschöpft von der verantwortungsvollen,
schwierigen Operation, das Herz voll Unruhe um sein
junges Weib, hatte er sich nicht einmal Zeit genommen,
Hut und Mantel abzulegen, sondern war ins Schlafzimmer

geeilt, woher ihn die Schwägerin dann in tiefer Not rufen
hörte.
Und während er sich mit einem stöhnenden Laut auf das
Bett sinken ließ, griff ihre zitternde Rechte nach der
Flasche.
»Albrecht, so beruhige dich doch, die Tropfen sind ja
unberührt«, versuchte sie zu trösten. Doch wie irr sah er zu
ihr auf.
»Und – wo – ist – Karola – dann -?«
Ja, wo war sie? Das ließ sich trotz allen Suchens und
Forschens nicht ergründen. Und Winards Unruhe wuchs
ins Riesenhafte, als er in Begleitung der Schwägerin sein

Arbeitszimmer betrat und den zertrümmerten Schrank sah.
»Malve, ich ertrag das einfach nicht!« stöhnte er. »Sie hat
sich etwas angetan – es braucht ja nicht durch die Tropfen
geschehen zu sein! - Und ich -? Großer Gott, ich trage die
Schuld daran! Ich hätte nie vergessen dürfen, wie zart, wie
empfindlich sie ist. Hätte sie mit Geduld und Nachsicht
behandeln müssen und nicht so streng mit ihr verfahren
dürfen.«
Während er sich so bitter anklagte, hatte die Ärztin die
Medikamente im Schrank mit der darinliegenden Liste
verglichen.

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»Außer den Tropfen fehlt nichts, Albrecht. Und da sie diese
nicht genommen hat – «

»Als ob es nicht auch andere Möglichkeiten gäbe!«
»Albrecht, man muß doch nicht immer gleich das Ärgste
befürchten«, versuchte sie den Mann, dessen fassungsloser
Jammer ihr ins Herz schnitt, zu beruhigen. »Sie wird zu
Verwandten gefahren sein.«
»Sie besitzt ja keine. Wenn dieser Frau etwas passiert ist –
das – das überlebe ich einfach nicht!«
Malve versuchte immer wieder zu trösten, zu beruhigen.
Und solange er sich anklagte, überhaupt noch sprach, war
es noch nicht so arg. Schier unerträglich wurd es erst, als er
nach Stunden dumpfen Vorsichhinstarrens sein
Schlafzimmer aufsuchte und Malve, die mit

angstzitterndem Herzen im Nebenzimmer saß, hören
mußte, daß er die ganze Nacht im Zimmer umherlief wie
ein gefangenes Tier.
Frau Boseit war am Abend ohne die Kinder zurückgekehrt.
Sie hätte diese ruhig mitbringen können, der Vater
vermißte sie gar nicht. Als sie jedoch von der Tochter hörte,
daß Karola das Haus verlassen hatte, wurde es ihr recht
unbehaglich zumute. Und nachdem sie den Tisch zum
Abendessen gedeckt hatte, suchte sie leise ihr Zimmer auf
und verbrachte dort die Nacht genauso schlaflos, wie es
unten Tochter und Schwiegersohn taten.
Am nächsten Tage schlich sie wie das verkörperte böse

Gewissen durch das Haus. Sie gebot den Kindern, die sie
wieder zurückgeholt hatte, sich ganz ruhig zu verhalten, am
besten gar nicht das Zimmer, das sie mit ihnen teilte, zu
verlassen. Denn sie fürchtete mit Recht, daß sehr bald ein
Gewitter losbrechen würde, an das sie alle ihr Leben lang
denken müßten.
Allein an dem Tage blieben sie alle noch davon verschont.
Es brach erst aus, als der Arzt Fräulein Fritzes Brief in
Händen hielt.
Da allerdings kam es noch ärger, als Frau Boseit gefürchtet
hatte. Mit lauter, zorngeschwellter Stimme las er ihr und

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der alten Marie, die er auch herbeigerufen hatte, den Brief
vor, und beide konnten trotz aller Ausflüchte nicht ein

Wort davon leugnen. Malve jedoch, die ja von dem
schändlichen Treiben ihrer Mutter keine Ahnung gehabt
hatte, stand todblaß dabei. Und als die Mutter ihr
angstgequält die Arme entgegenstreckte, da wandte sie sich
schaudernd von ihr ab.
»Mutter – so kannst du sein?« fragte sie nur.
»Ich – ich habe es doch nur für – dich – getan«, jammerte
Frau Boseit fassungslos. »Ich weiß doch, wie du Albrecht
liebst – ich wollte ihn doch nur frei machen – für dich –
mein Kind! Mein liebes, einziges Kind!«
»Hör bloß auf, Mutter!« stöhnte Malve verzweifelt. »Sonst
muß ich dich ja – verachten!«

Entsetzlich war die Woche, die nun folgte. Sie gingen sich
alle aus dem Wege und hatten nur den einen Wunsch, daß
dieser unerträgliche Zustand ein Ende nehmen möchte – so
oder so.
Das tat er denn auch, als Winard das Schreiben eines
Anwalts erhielt, in dem dieser kurz mitteilte, daß Frau
Karola Winard, geborene Hiltmer, ihn beauftragt hätte, sie
in ihrer Scheidungsangelegenheit zu vertreten. Zugleich
forderte er den Arzt auf, das Eigentum seiner Frau
umgehend zu verpacken und an die beigefügte Adresse zu
schicken.
Und als dann die Möbel fort waren und an ihrer Stelle

wieder die standen, die seine erste Frau ihm in die Ehe
gebracht hatte, da hielt es Winard in diesem Hause nicht
mehr länger aus. Noch an demselben Tage trat er vor die
fassungslosen Frauen mit der Erklärung, daß er verreise –
auf wie lange, wisse er selber noch nicht. Ein Kollege von
ihm sei bereit, seine Praxis zu übernehmen. Mit ihm
zusammen könne Malve dann arbeiten. Nach seiner
Rückkehr würde man dann weitersehen.
Diese Rückkehr erfolgte jedoch erst nach drei Wochen.
Scheu und bedrückt sahen Frau Boseit und Malve dem
Mann entgegen, der sich in den wenigen Wochen so

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erschreckend verändert hatte.
Höflich und kühl erkundigte er sich während der Mahlzeit

bei seinem Vertreter, ob er von seiner Arbeit befriedigt
wäre, was dieser aufrichtig bejahen konnte. Erst als der Arzt
sich zurückgezogen hatte und Winard mit Schwiegermutter
und, Schwägerin allein war, begann er mit seinen
Eröffnungen, die hauptsachlich Frau Boseit fast erstarren
ließen vor Schreck.
»Ihr wißt ja, daß es schon immer mein heißer Wunsch
gewesen ist, Schiffsarzt zu werden«, begann er ruhig und
sachlich. »Ich mußte diesen Lieblingswunsch damals
aufgeben, weil meine erste Ehe mich dazu zwang. Mich
hielt ja schließlich eine Frau in der Heimat, was jetzt
jedoch nicht mehr der Fall ist.

Nun glückte es mir durch eine gute Verbindung, eine
Anstellung als Schiffsarzt zu erhalten. Ich fahre schon in
vier Tagen und werde mindestens ein Jahr fortbleiben.«
Bis dahin hatte Frau Boseit seinen Ausführungen mit
erschrockenen Augen gelauscht. Doch sie nahmen einen
Ausdruck des Entsetzens an, als er nun weitersprach:
»Ich lasse euch alles Geld und alle medizinischen
Instrumente, die ich mir mit viel Entsagungen angeschafft
habe, zurück. So bist du in der Lage, Malve, alles
weiterzuführen, wie ich es begonnen habe. Unser Kollege
hat sich ja schon bereit erklärt, mit dir
zusammenzuarbeiten. Ich kenne ihn. Er ist klug, tüchtig

und scheut keine Mühe.
Und nun zu den Kindern. Da du die denkbar schlechteste
Erzieherin und das noch schlechtere Vorbild für sie bist,
Mama, so daß die Kleinen, die sicherlich schon durch
Veranlagung zur Bosheit neigen, zu gehässigen Geschöpfen
heranwachsen müßten, wenn sie ferner unter deiner Obhut
blieben, so sehe ich mich verpflichtet, sie deinem Einfluß
zu entziehen. Sie kommen in ein Internat, wo sie sorgfältig
erzogen werden.«
»Albrecht!« schrie die Frau gepeinigt auf. »Du kannst mir
doch die Kinder nicht nehmen! So grausam kannst du

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doch nicht sein!«
O ja, die Frau wurde für ihr Vergehen sehr, sehr hart

bestraft. Die Kinder wurden ihr genommen, die Tochter
war auf dem besten Wege, sich ihr zu entfremden.
Ganz anders ging es während dieser Zeit im Herrenhause
von Allhöfen zu. Da war es fast zu still. Denn bei Karola
kamen, da sie jetzt in Ruhe war, die Folgen aller
Erregungen nach. Sie fühlte sich so matt und schwach, daß
sie an manchen Tagen gar nicht das Bett verlassen konnte.
Mit einem stillen, dankbaren Lächeln ließ sie sich die
Fürsorge der Tante Fritze gefallen, die so ganz anders war,
als deren Schwester sie geschildert hatte.
Gewiß, sie konnte manchmal recht unwirsch und polterig
sein, aber gerade Karola hatte sehr bald erfahren, ein wie

weiches, gütiges Herz sich unter dieser Stachlichkeit
verbarg. Ihr ganzes Herz gehörte bald der Tante Fritze, die
über die Zuneigung des zarten, liebreizenden Geschöpfes
tief beglückt war.
Karola legte mit rührendem Vertrauen ihre Zukunft in die
Hände dieser tatkräftigen, lebensklugen Tante. Nur wenn
diese ihr zuredete, eine Aussprache mit dem Gatten
herbeizuführen, weil eine solche für ihre Trennung nur von
Nutzen sein könnte, stieß sie bei der sonst so gefügigen
Nichte auf hartnäckigen Widerstand.
»Nein, Tante Fritze, ich will ihn nicht mehr sehen!« erklärte
sie immer wieder fest und bestimmt. »Ich will von ihm

geschieden werden, ohne ihn noch einmal zu sprechen.«
So wandte Fräulein Fritze sich denn an einen Anwalt, der
die Sache ihrer Nichte vertreten sollte. Und so erhielt denn
Winard den Brief, in dem ihm die Trennung von seiner
Frau angetragen wurde.
Daraufhin schrieb er an Karola persönlich. Doch schon der
Anblick des Schreibens versetzte die junge Frau in so
maßlose Erregung, daß Tante Fritze es ungeöffnet an
Winard zurückgehen ließ. In einem Begleitschreiben
erklärte sie ihm knapp und klar, daß ihre Nichte sich in
einem Zustand völliger Nervenüberreizung befände. Wenn

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er seine Schuld nicht noch vergrößern wolle, so möge er sie
fortan unbehelligt lassen.

Tage darauf traf dann das Schreiben des Anwalts ein, der
die Interessen des jungen Arztes vertrat. Er teilte mit, daß
sein Klient eine Trennung von seiner Frau mit aller
Entschiedenheit ablehne. In klaren Worten setzte er
auseinander, daß dessen Schuld seiner Frau gegenüber
gesetzlich nicht ausreiche, um eine Scheidung zu
erzwingen. Schuld wäre hierfür überhaupt nicht die richtige
Bezeichnung. Es wären vielmehr zu verzeihende Fehler, die
wiedergutzumachen sein Klient bereit sei. Er wolle seiner
Frau in jeder Weise Genugtuung verschaffen, wolle dafür
sorgen, daß das, was sie in seinem Hause an Unbill
erdulden mußte, sich nie mehr wiederholen würde. Seine

Frau möge ihm erst einmal Gelegenheit geben, sich mit ihr
auszusprechen.
Das wurde natürlich schroff abgelehnt – und so kam denn
nach einigen Wochen wieder ein Schreiben desselben
Anwalts mit der Mitteilung, daß sein Klient nach wie vor
eine Scheidung der Ehe ablehne. Er sei bereit, auf eine
Trennung von einem Jahr einzugehen. Das ließe sich leicht
durchführen, da er sich für diese Zeit als Schiffsarzt
verpflichtet hätte.
»Tante Fritze, was sagst du bloß dazu?« fragte Karola,
nachdem sie den Brief gelesen hatte, bestürzt.
»Ich kann dir nur raten, darauf einzugehen, mein Kind. Da

dir der Mut zu einer zweiten Ehe vorläufig vergangen sein
dürfte, so ist es ja gleichgültig, ob du für das eine Jahr Frau
Winard bleibst oder nicht.
Vielleicht kommt er überhaupt nicht mehr wieder oder
strebt nach seiner Rückkehr von selber eine Scheidung an.
Jedenfalls ist ein Jahr eine lange Zeit, in der allerlei
passieren kann.«
Also gab Karola die Erklärung ab, daß sie mit dem
Vorschlag ihres Gatten einverstanden sei und erhielt darauf
von seinem Anwalt ein drittes und letztes Schreiben, in
dem es wörtlich hieß:

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»Da Herr Dr. Winard wünscht, daß Sie sich nach wie vor
als seine Gattin betrachten, hat er sich verpflichtet, für

Ihren Unterhalt zu sorgen. Er wird Ihnen vierteljährlich
eine Summe anweisen, von der Sie gut leben können. Das
Geld können Sie von der Bank, deren Anschrift ich beifüge,
abheben. Dort können Sie auch stets die Anschrift Ihres
Gatten erfahren, so daß ihn Ihre Mitteilungen immer
erreichen können.«
Nur, um endlich Ruhe zu haben, ging Karola auch darauf
ein, und dann wurde auch wirklich alles still. Aber nicht für
lange.
An einem Morgen nämlich, als Fräulein Fritze das Zimmer
betrat, um ihrem Schützling das Frühstück zu bringen, fand
sie die Nichte ohnmächtig im Bett vor. In heller Angst rief

sie den Arzt herbei, der jedoch bald wieder zu Fräulein
Fritze zurückkehrte. Gleich darauf trat die Tante bei Karola
ein. Umständlich setzte sie sich auf den Bettrand, die
Nichte dabei so eingehend betrachtend, als sähe sie diese
zum erstenmal.
»Nun, du kleiner Hubberspatz, ohnmächtig kannst du auch
werden? Alle Dinge, die ich kaum vom Hörensagen kenne,
führst du mir herrlich vor«, begann sie in ihrer trockenen
Art. »Fühlst du dich jetzt wohler?«
»Ja. Du hättest deswegen gar nicht den Arzt zu rufen
brauchen, Tantchen. Ich habe diese Ohnmachtsanfälle
schon öfter gehabt und weiß daher, daß sie immer bald

vorübergehen.«
»Hm – und was sagte denn dein Mann dazu?«
»Der hat mich nie dabei erwischt.«
»So – das wäre also zu seiner Berufsehrenrettung gesagt.
Sonst hätte ich dir nämlich die Eröffnung machen müssen,
daß dein lieber, verflossener Mann nicht nur ein schlechter
Gatte, sondern auch ein verflixt schlechter Arzt gewesen ist.
Es bleibt trotzdem immer noch verwunderlich genug, daß
er dir nicht angemerkt hat, wie es um dich steht.
Nun, Karola, muß ich noch weiter sprechen?«
»Oh, Tante Fritze – es ist ja so entsetzlich!« stammelte die

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junge Frau, blaß bis in die Lippen.
»Das pflegt man sonst nicht zu sagen«, meinte das Fräulein

trocken. »Aber in diesem Fall bringt die Sachlage erhebliche
Schwierigkeiten mit sich, die unsere schönen Pläne über
den Haufen werfen. Du wirst dem kleinen Wurm doch
nicht den Vater nehmen wollen?«
»Ja – und abermals ja!« rief Karola in leidenschaftlicher
Heftigkeit. »Soll ich etwa zu Winard zurückkehren, damit
nicht nur ich, sondern auch mein Kind den Bosheiten
seiner Schwiegermutter und seiner Kinder ausgesetzt sind?
Tante Fritze, du hast mir hier eine bleibende Heimat
versprochen - und meinem Kind – «
»Natürlich auch – das ist doch selbstverständlich«,
beschwichtigte die Tante die maßlos erregte Frau. »Aber du

darfst nicht vergessen, daß der Mann ebensolche Rechte an
sein Kind hat wie du.«
»Nein, das Recht hat er verwirkt! Wenn ich tot wäre, dann
hätte er ja doch auch nichts von dem Kleinen. Und ich will
lieber sterben, als mit meinem Kinde noch einmal in dieses
Haus gehen.«
Sie brach in fassungsloses Schluchzen aus, und das Fräulein
hatte nun wieder große Mühe, ihr Sorgenkind zu
beruhigen.
»Es hat keinen Sinn, daß wir uns jetzt schon darüber den
Kopf zerbrechen«, begütigte sie. »Laß das Würmchen erst
einmal da sein, dann beraten wir weiter. Hoffentlich ist es

kein Junge, was die Sache erheblich verschlimmern würde.
Denn nach den beiden Töchtern wird der Vater auf einen
Sohn kaum verzichten wollen.«
»Es wird ein Mädchen sein«, behauptete Karola mit solcher
Bestimmtheit, daß Tante Fritze nun doch lachen mußte.
»Natürlich, du Liliput stehst ja mit unserem lieben Herrgott
in besonders gutem Einvernehmen, daher mußt du das ja
wissen.
Aber zuerst sieh zu, daß du kräftiger wirst.
Und nun noch eine Frage: Teilen wir unsere neueste
Weisheit deinem Mann mit?«

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»Nein, auf keinen Fall!«
»Also gut, fügen wir uns deinem kleinen Eisenschädel. Mag

der Herr Papa von seinem Kinde erst erfahren, wenn es auf
der Bildfläche erschienen ist.«
Bis dahin verging noch eine lange Zeit, in der es viel Sorge
und unruhige Stunden im Herrenhause von Allhöfen gab.
Es stand nicht gut mit der jungen Frau, die trotz
sorgfältigster Pflege matt und schwach blieb.
Und dazu kam noch, daß sie dem Fräulein Fritze täglich
mehr ans Herz wuchs. Sie zitterte förmlich um das
wertvolle Leben und machte Karolas Eltern noch über den
Tod hinaus die bittersten Vorwürfe.
Gewiß, Karola war von Kind an immer kränklich gewesen,
hatte auch mehrmals mit schweren Erkrankungen bis auf

den Tod zu kämpfen gehabt und hatte dann später durch
ihre Anfälligkeit der anderen Jugend in manchem
nachstehen müssen. Aber die Fürsorge der Mutter war
dann, besonders nach dem Ableben des Vaters, doch viel
zu weit gegangen, aus Angst und aus einer übergroßen
Liebe zu der zarten Tochter. Sie hatte jedoch dabei nicht
bedacht, daß sich im Seelenleben des geliebten Kindes
Zwiespältigkeiten entwickeln mußten, wenn das junge
Mädchen nach der Gemeinschaft mit der Jugend ihrer
Umgebung verlangte, die der heutigen Jugend
selbstverständlich ist. Gewiß hatte der Arzt mit seinem Rat
zur Vorsicht recht gehabt, aber diese Vorsicht war von der

Mutter doch in vielen Fällen übertrieben worden. So hatte
sich das junge Mädchen von der Natur vor der anderen
Jugend zurückgesetzt gefühlt, und in ihrem zarten Körper
war eine unnatürliche Empfindlichkeit groß geworden, wie
man sie bei den meisten Menschen findet, die von der
Natur vernachlässigt wurden.
Tante Fritze sah in diesen Tagen über die Nichte ganz klar.
So sehr sie geneigt war, die Schuld an dem ehelichen
Zerwürfnis Winard zu geben, so verhehlte sie sich doch
auch nicht, daß der Arzt einen schweren Stand bei Karola
gehabt hatte, die eigentlich einen Mann hätte heiraten

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müssen, der ihr ein Leben bieten konnte, wie sie es von
Haus aus gewohnt war.

Daran war nun freilich nichts mehr zu ändern. Tante Fritze
gehörte nicht zu den Menschen, die unabänderlichen
Dingen lange nachhängen, und sie war wohl der
glücklichste Mensch unter der Sonne, als an einem Tage im
August nach Stunden qualvoller Angst und Not im
Herrenhaus ein Mädchen geboren wurde, das der zarten
Mutter wohl arg zugesetzt, aber nicht ihr Leben zerstört
hatte.
»Siehst du, Tante Fritze, es ist doch ein Mädchen«, waren
die ersten Worte, die Karola nach der Geburt des Kindes
sprach. Ihre Blicke bohrten sich förmlich in das kleine
Gesicht des Töchterchens, das da so friedlich in ihrem Arm

lag – bis sie dann den Kopf mit einem gequälten Lächeln
abwandte.
Nun mußte auch die Frage erörtert werden, wie man am
besten Winard von der Geburt seines Kindes
benachrichtigen könnte. Doch da begehrte Karola mit einer
Wildheit auf, über die Fräulein Fritze erschrak.
»Nein, nein! Das Kind gehört mir – ganz allein mir! Wage
es nicht, Tante Fritze, Winard etwa heimlich zu
benachrichtigen – das würde uns scheiden – für immer!«
Ja, was blieb dem Fräulein da wohl anders übrig, als
nachzugeben? Zumal Karola so krank war, daß jede
Erregung sie an den Rand des Grabes bringen konnte.

So geschah es denn, daß Winard von der Geburt seiner
Tochter nicht benachrichtigt wurde.
Mit behutsamen Schritten näherte sich Fräulein Fritze der
Stelle des Parkes, an der Mutter und Kind bei schönem
Wetter ihr Mittagsschläfchen zu halten pflegten. Mit
Rührung sah sie auf das rosige Geschöpfchen, das wie ein
holdes Wunder in seinem Wagen schlummerte.
Nie hätte sie geglaubt, daß ein kleines Kind so süß, so
goldig sein könnte.
Oder war die kleine Ute eine Ausnahme?
Ihr Blick wanderte zu der jungen Mutter hin, die zart und

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fein wie ein Traumbild schlief.
Und da ging ein Schatten über das eben noch so frohe

Gesicht der Tante. So prächtig das kleine Mädchen gedieh,
so sehr verfiel die Mutter.
»Ihr fehlt die Willenskraft zum Leben«, hatten die
verschiedenen Ärzte, die Tante Fritze zu der Nichte gerufen
hatte, erklärt. »Wenn sie die nicht hat, kann ihr der beste
Arzt nicht helfen.«
Und woran liegt das? Sehnte sie sich nach dem fernen
Gatten?
Oder hatte all das, was sie in seinem Hause erduldete, sie
seelisch so zerbrochen, daß sie sich nie mehr davon
erholen konnte?
So viele Fragen waren es, mit denen sich das bekümmerte

Fräulein beschäftigte – und auf die sie nie eine Antwort
fand. Da mußte wohl ein Wunder geschehen, wenn die
Nichte ihr erhalten bleiben sollte.
Und das Wunder kam – schneller noch, als Tante Fritze
gehofft hatte. Sie erkrankte nämlich. Durchaus nicht
schwer, nicht einmal bedenklich, doch diese Krankheit
wollte sie benutzen, um Karola aus ihrer
Teilnahmslosigkeit aufzurütteln. Sie kannte ja deren tiefe
Liebe zu ihrem Kinde und die Angst, daß es einmal in die
Hände des Vaters oder seiner Angehörigen fallen könnte.
Also ließ sie die Nichte an ihr Bett kommen und tat nun
wirklich so, als ob ihr letztes Stündlein geschlagen hätte.

»Sieh einmal, Karola, wenn ich nun sterben sollte, was wird
dann aus Ute?« begann sie eindringlich. »Du kannst und
willst nicht mehr gesund werden, ich bin dann auch nicht
mehr da, um das kleine Geschöpf zu erziehen – also muß
es zum Vater.«
Und was ihre liebevollen Ermahnungen und
eindringlichen Vorstellungen nicht erreicht hatten, das
brachten diese wenigen Worte zuwege.
Zuerst ergriff Karola eine bebende Angst, daß die geliebte
Tante ihr genommen werden könnte. Sie war nicht zu
bewegen, vom Bett zu gehen, so daß Fräulein Fritze sich

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schon ganz schlecht vorkam. Sie fürchtete, daß die Nichte
sich überanstrengen könnte und kürzte daher ihre

Krankheit ab. Sie stand früher auf als ratsam war.
Aber was schadete das alles? Diese kurze Krankheit hatte
das Wunder, auf das sie immer gehofft hatte, vollbracht.
Karola war aus ihrer Gleichgültigkeit dem Leben gegenüber
aufgerüttelt.
Sie dachte immer wieder mit Grauen daran, wie es sein
müßte, wenn ihr heißgeliebtes kleines Mädchen in das
Haus seines Vaters kommen würde.
Nein, sie mußte gesund werden – mußte! Und da der Wille
ja dazu imstande sein soll, Berge zu versetzen, so wirkte er
auch bei Karola wahre Wunder.
Schon nach einigen Wochen war die junge Frau kaum

wiederzuerkennen, und Fräulein Fritze schmunzelte. Sie
war schon längst wieder fest auf den Beinen, denn ihrem
kerngesunden, abgehärteten Körper konnte so eine kleine
Unpäßlichkeit gewiß nichts anhaben. Dazu war sie noch
lange nicht alt, noch nicht einmal fünfzig – also gedachte
sie noch manch ein Jahr zu leben und zu schaffen.
»Der liebe Herrgott wird mir meinen Schwindel hoffentlich
nicht übelnehmen und mich zur Strafe dafür nun wirklich
ins Jenseits befördern«, meinte sie lachend zu dem Arzt,
dem sie ihre kleine List verraten hatte.
»Bestimmt nicht, Fräulein Fritze«, bestätigte der ebenfalls
lachend. »Ihr Schwindel hat ein Wunder vollbracht, und

das ist die Hauptsache. Ganz prächtig hat sich unser junges
Frauchen, mit dem es beängstigend genug aussah, in der
kurzen Zeit erholt. Da sieht man wieder einmal, was der
Wille zum Leben zuwege bringen kann.«
Langsam begann man in Allhöfen zu vergessen, daß man
vor einigen Wochen noch um das Leben der jungen Mutter
gebangt hatte. Zwar mußte Karola sich noch immer
schonen, war jedoch schon längst kräftig genug, um sich
allein überlassen zu bleiben und für ihr Kindchen zu
sorgen.
Und je mehr sie sich zumutete, desto kräftiger wurde sie.

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Wurde überhaupt viel kräftiger und widerstandsfähiger als
je zuvor.

Fräulein Fritze sah es mit heimlichem Entzücken. Wie
frohlockte sie innerlich, wenn die Nichte Dinge
unternahm, die sie früher mit Entsetzen abgelehnt hätte.
So vergingen langsam Sommer und Herbst. Und als der
November kam und es regnete, was nur vom Himmel
kommen konnte, machte Karola an einem Sonntagmorgen
beim Frühstück der Tante den Vorschlag, ein Auto
anzuschaffen.
»Und wer soll fahren?« fragte die Tante lachend. »Ich etwa?
Nein, mein Kind! Ich würde vielleicht mit dem Teufel
Schlitten fahren, aber an das Steuer einer Benzinkutsche
kriegt mich keine Macht der Welt! Und um uns einen

Chauffeur zu halten, das tragen unsere Hufen nicht.«
»Sie würden es schon tragen«, entgegnete Karola ungerührt.
»Aber ein Chauffeur ist gar nicht nötig. Ich würde das Auto
steuern.«
Fräulein Fritze starrte sie an wie ein Weltwunder.
»Du?« fragte sie verdattert, daß die Nichte hellauf lachte
und mit diesem übermütigen herzfrohen Lachen das arme
Fräulein in immer größere Verwirrung brachte.
»Tante Fritze, soll ich einen Spiegel holen?« neckte sie.
»Na, laß nur. Ich weiß auch so, daß mein Gesichtsausdruck
nicht gerade geistreich zu nennen ist«, nickte sie immer
noch fassungslos. »Karola, ich will mich nicht wundern,

wenn du mir gleich noch erklärst, daß du in einer Rakete
zum Mond zu schießen gedenkst.«
»Tantchen, dein Vergleich ist doch ein wenig zu –
sprunghaft.«
»So sprunghaft wie deine Ansichten, mein Kind«, kam es
trocken zurück. »Vor einem Vierteljahr noch wärst du
entsetzt gewesen, wenn man dir angeboten hätte, dir ein
Auto näher anzusehen – und heute willst du es gar
steuern?«
»Damals war ich auch krank – und jetzt bin ich gesund!«
kam es in leisem Jubel von den frischen Lippen.

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Und als müsse sie diese Gesundheit beweisen, dehnte und
streckte sie die Arme, wobei sie den schlanken, biegsamen

Körper nur so hin und her schnellte.
»Gott sei Lob und Dank!« sagte das Fräulein mit Inbrunst.
»Nun haben wir es endlich geschafft!«
Und wie sie es geschafft hatten! Im Herbst lernte Karola
Autofahren, im Winter reiten – und im Frühjahr ging sie
bei dem Oberinspektor in die Lehre.
Es war gut zu leben auf Allhöfen, wo alles so großzügig
und selbstverständlich war, in der Wirtschaft wie im
Herrenhause. Überall atmete der Geist des Fräulein Fritze,
dieses zwar nicht sehr liebenswürdigen, doch durch und
durch ehrlichen und anständigen Menschen. Da war alles
sauber und durchsichtig, alles auf festem Grund und nicht

auf Tand erbaut. Und es wäre keinem auf Allhöfen
eingefallen, ihr jemals den Respekt zu versagen.
»Wat onser Frollein Fritze seggt, hat Hand on Foot«, hieß es
unter den Leuten. Und daher hielt man alles, was sie sagte
und tat, für gut und richtig.
Fräulein Fritze hatte sich auch bisher nie einen Luxus
erlaubt – das tat sie erst, seit ihre Nichte im Hause war.
Karola und ihr Kind – das waren die Schwächen des sonst
so resoluten Fräuleins. Die hätten mit den törichtsten
Wünschen zu ihr kommen können, sie hätte sie ohne
Besinnen erfüllt.
Also war es nur ein Glück, daß Karola zu vernünftig und

Ute noch zu klein war, um die Tante mit unvernünftigen
Wünschen auf die Probe zu stellen. Karola fand ohnehin,
daß sie und ihr Kind von der Tante zu sehr verwöhnt
würden und stoppte ab, so viel sie konnte.
»Laß mich doch, Herzchen«, hatte das Fräulein bei einer
Gelegenheit einmal traurig gesagt. »Wozu habe ich so viel
Geld zusammengerafft, wenn ich euch nicht eine Freude
damit machen kann?«
»Wir können dir aber doch nie im Leben vergelten, was du
an uns tust, Tante Fritze.«
»So – und die Liebe, die ihr mir entgegenbringt – ist die

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etwa nichts?« hatte sie da gepoltert. »Die kann man sich für
gewöhnlich mit dem größten Geldsack nicht kaufen.«

Liebe – allerdings, die brachten ihr die große wie die kleine
Nichte in reichem Maße entgegen. Das war schon daraus
zu ersehen, wie jetzt die kleine Ute, die auf dem Arm der
langsam näherkommenden Kinderpflegerin saß,
ungeduldig zu Fräulein Fritze strebte.
»Tata, Tatta!« zwitscherte das feine Stimmchen. Und so
drückte denn das Fräulein ihren Knotenstock dem
Inspektor in die Hand und hob das kleine Mädel auf die
Arme.
»Bist du auch nicht zu warm angezogen, mein kleiner
Schatz?« fragte sie mit einem prüfenden Blick auf die
Kleidung des Kindes, die außer weißen Leinenschuhen und

kurzen Strümpfen aus einem weißen Spitzenkleidchen und
einem leichten Hemdhöschen bestand.
»Gut so, Schwester«, nickte sie befriedigt der Pflegerin zu.
»Gestern noch hat mir der Arzt auf die Seele gebunden, ich
soll streng darauf achten, daß die Kleine bei dieser Hitze
nicht zu warm gekleidet ist.«
»Warum gerade du, Tante Fritze?« lachte Karola herauf. »Du
hast doch weiß Gott an ganz andere Dinge zu denken.«
»Das mußt du ja wissen, du Küken«, erfolgte die trockene
Antwort. »Wer ist denn nun die Mutter, du oder ich? Dich
sieht das Kind ja noch nicht einmal an.«
Das klang so recht befriedigt, und Karola lachte in sich

hinein. Sie gönnte der Tante ja von Herzen die Liebe ihres
Kindes.
Langsam näherte sich die Gruppe dem Herrenhaus, das
jetzt im vollen Sonnenschein lag. Wie ausgestorben wirkte
der langgestreckte, stattliche Bau mit seinen
heruntergelassenen Rolläden.
»Wir gehen nach der Terrasse, da ist es jetzt schattig und
kühl«, bestimmte die Hausherrin. »Zieht euch nicht erst
um, das Frühstück wird auch so schmecken. Schön machen
könnt ihr euch nachher.«
Ohne Widerrede wurde diese Anordnung befolgt. Als sie

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die Terrasse betraten, die noch völlig im Schatten lag, stand
dort der einladend gedeckte Frühstückstisch mit der

Kaffeemaschine darauf. Man ließ sich dann die köstlichen
Dinge auch gut schmecken.
»Ach so«, lachte Karola zu ihrem Töchterchen hin, das vom
Schoß der Tante zu ihr strebte. »Du willst zu mir, weil du
hier Schokolade vermutest. Das ist aber nur Schwarzbrot,
du kleiner Dummkopf.«
Sie hob die Kleine zu sich herüber und hielt ihr eine
Schnitte Brot an den Mund, worauf sich das Köpfchen
sofort zur Seite wandte.
»Mam!« zwitscherte das Stimmchen entrüstet, so daß alle
hellauf lachten.
»Angeführt, mein Fräulein Tochter!« jubelte Karola, das

Kind mit den Armen hochstemmend.
Es war ein herzfrohes Bild, diese junge, wunderschöne
Mutter mit ihrem nicht weniger schönen Kind. Sie war von
ganz besonderem Liebreiz, die kleine Ute, mit den großen
strahlenden Blauaugen und den Löckchen wie aus
Goldgespinst. Haar und Augen hatte sie von der Mutter,
aber das Gesichtchen -? Darin suchte man vergeblich nach
einem bekannten Zug.
»Sie wird ihrem Vater immer ähnlicher«, hatte Karola
einmal zur Tante gesagt und dann die Lippen fest
zusammengepreßt, als habe sie schon zuviel verraten.
Was war das überhaupt für ein Mann, der diese beiden

holden Geschöpfe, die doch ihm gehörten, so lange allein
lassen konnte?
Wo war er überhaupt? Man hatte schon sehr lange nichts
von ihm gehört.
Das war ja nicht weiter schlimm, denn Karola schien ihren
Gatten schon längst vergessen zu haben. Und die kleine
Ute hatte ihn ja nie gekannt.
Also vermißten ihn beide nicht. Aber wenn er verschollen
blieb – und Karola sich in einen andern Mann verlieben
sollte?
Heiß und kalt zugleich überlief es Fräulein Fritze, die

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gerade diesem Gedanken nachhing. Und es war gewiß kein
zufälliger Blick, der den jungen Inspektor bei diesem

Gedanken streifte.
»Komm, mein Liebchen«, sagte sie hastig, um die
Gedanken zu verscheuchen, und streckte die Arme nach
dem Kind aus. Es war allen ein Rätsel, woher sie plötzlich
die Schokolade nahm, die sie der Kleinen hinhielt.
»Die muß Utelein sich erst verdienen«, meldete sich die
Pflegerin nun, die sich bescheiden im Hintergrund
gehalten hatte. Sie hob das Kind vom Schöße der Mutter,
trug es bis zur Ecke der Terrasse und stellte es dort auf die
Füße.
»Geh, Liebling, hole dir die Schokolade«, sagte sie
ermunternd. Und schon setzten sich die drallen Beinchen

in Bewegung. Sehr unsicher und wackelnd zwar, doch ohne
großen Aufenthalt erreichte das Kind die Tante, die es
jubelnd auf die Arme hob.
»Mädel, du kannst ja laufen! Wie kommst du eigentlich
dazu?« polterte sie, um ihre Rührung zu verbergen. Das
Kind erhielt viele Küsse und die Schokolade dazu, und
unaufgefordert trippelte es noch einmal den Weg hin und
zurück.
»Und dabei wird sie doch erst in drei Wochen ein Jahr alt«,
bemerkte Frau Fritze stolz. »Das ist aber auch ein
Prachtkind! Schwester Gerda, da muß ich Ihnen meine
Anerkennung aussprechen«, wandte sie sich an die

Pflegerin, die vor Freude über das Lob errötete. »Sie sind
wirklich auf dem Posten. Aber nicht das Kind im Laufen
überanstrengen«, warnte sie gleich hinterher. »Damit unser
Schatz nicht etwa krumme Beinchen kriegt. Das wäre
abscheulich!«
»Ich passe schon auf, Fräulein Hiltmer«, versprach die
Schwester eifrig.
Klein-Ute wanderte noch einmal von Arm zu Arm, wobei
auch Elard, den sie auch in ihr Herzchen geschlossen hatte,
nicht zu kurz kam.
»Ote!« jauchzte sie, ihm mit den Händchen in das Gesicht

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patschend. Und erst, als Tante Fritze ein Machtwort sprach,
reichte er die Kleine der Pflegerin zurück, die mit ihr die

Terrasse verließ.
»Wie die Kinder seid ihr«, seufzte sie kopfschüttelnd. »Laßt
wegen dem kleinen Fratz das Frühstück im Stich. Nun aber
rasch gegessen, sonst sitzen wir noch mittags hier.«
Sie beendeten nun ihr Frühstück und streckten sich dann in
die Liegestühle, die abseits standen. Es war ja Sonntag
heute, da konnte man ohne Gewissensbisse faulenzen.
Fräulein Fritzes Augen ruhten wieder sinnend auf der
Nichte und dem Inspektor, die sich lebhaft unterhielten. Es
war ja kaum möglich, daß zwei so prachtvolle Menschen
sich gleichgültig bleiben konnten; denn Karola war gewiß
eine Frau, die einem Mann das Herz heiß machen konnte.

Und Elard sah nicht nur gut aus, er war auch sonst ein
Mensch, wie man ihn nicht oft findet. Der Herr Doktor
Winard würde sich mit diesem Mann bestimmt nicht
messen können. Schade, daß Karola kein Bild von ihm
hatte. Fräulein Fritze konnte ihn sich gar nicht recht
vorstellen. Aber nach allem, was sie von Karola über ihn
gehört hatte, mußte nicht viel mit ihm los sein.
Vielleicht war es doch nicht gut, daß sie gerade Elard zur
Unterstützung des alten Wederich nach Allhöfen geholt
hatte? Es war ja wohl ein sehr tüchtiger Landwirt und daher
für das Gut von großem Wert – aber für Karolas Seelenruhe
war er entschieden zu gefährlich.

Ja, wenn sie geschieden wäre! Einen besseren und lieberen
Neffen hätte die Nichte ihr gar nicht bringen können. Aber
nun Winard nichts von sich hören ließ…
Wahrlich, Fräulein Fritze machte sich um die Zukunft der
Nichte viel größere Sorgen als Karola selbst und dachte viel
mehr an Winard, als seine Frau es tat.
In den nächsten Wochen gab es auf Allhöfen reichliche
Arbeit. Man konnte mit dem Schneiden des Roggens
beginnen, und so wurde jede Kraft gebraucht. Fräulein
Fritze saß wie ein Feldherr auf ihrem Gaul, und ihren
scharfen Augen entging nichts. Die beiden Inspektoren und

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die Eleven kamen kaum noch aus dem Sattel, und auch
Karola konnte schon erhebliche Hilfe leisten.

»Bis Utes Geburtstag muß der Roggen unter Dach und Fach
sein«, bestimmte Fräulein Fritze. »Und dann wird doppelt
gefeiert.«
Und da es bis dahin nur noch drei Wochen waren, so
mußte man sich wacker dran halten.
Am Sonntag darauf, der eine Ruhepause in die emsige
Arbeit schob, stand Fräulein Fritze in der Küche, um mit
der Mamsell allerlei zu besprechen. Deshalb war sie nicht
gerade erfreut, als das Zimmermädchen ihr eine
Besuchskarte brachte.
»Was ist das für ein Herr?« wollte sie gerade fragen, als ihr
das Wort auch schon in der Kehle erstarb. Da sie jedoch

gewohnt war, sich zu beherrschen, so merkte niemand
etwas von dem, was in ihr vorging.
»Ist Frau Winard nicht da?« fragte sie kurz.
»Frau Winard ist mit der Kleinen und Herrn Elard zur Stadt
gefahren«, meldete sich die Mamsell.
»So – dann muß ich ja wohl gehen«, murmelte Tante Fritze
mehr für sich und begab sich in die Diele, wo der ebenso
unerwartete wie unerwünschte Besucher stand und sich
höflich vor ihr verneigte.
Fräulein Fritze bat ihn hastig in einen Raum, der mit seinen
steifen Möbeln einen recht unpersönlichen Eindruck
machte.

Und hier saßen sie sich dann gegenüber.
Das kann doch unmöglich sein, dachte das Fräulein
bestürzt. Dieser elegante, vornehme Weltmann…
»Ich nehme an, daß ich die Tante meiner Frau vor mir
habe?« hörte sie nun eine dunkle, sehr angenehme Stimme
sagen – und da war es ja kein Zweifel mehr, daß sie
wirklich Winard vor sich hatte. Augenblicklich panzerte sie
sich mit aller Abneigung und allem Groll, die sie gegen
diesen Mann hegte.
»Meine Nichte ist nicht hier – sie ist zur Stadt gefahren.«
»So werde ich warten, bis sie zurückkommt, Tante Fritze«,

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erfolgte die verblüffende Antwort, und die resolute Tante
war zum erstenmal in ihrem Leben um einen passenden

Bescheid verlegen.
Einfach Tante Fritze nannte er sie. Dieser Mensch hatte ja
eine ganz verflixte Art! Nun, die wollte sie ihm schon noch
abgewöhnen.
Sie hatte sich mehr als einmal ausgemalt, wie es sein
müßte, wenn Winard hier eines Tages auftauchen würde.
Hatte sich sogar schon die Worte zurechtgelegt, die sie für
ihn haben würde.
Nun hielt sie es jedoch für ratsam, zu schweigen – und
abzuwarten.
Und während sie das tat, musterte sie den Besucher immer
wieder verstohlen.

Karola hatte doch immer erzählt, daß ihr Gatte in
einfachen Verhältnissen lebte. Woher nahm er dann diese
auffallend elegante Kleidung? Und wie kam er überhaupt
zu diesem sicheren, weltmännischen Auftreten, wie es
sonst eigentlich nur einflußreichen Persönlichkeiten eigen
ist?
»Sie haben mich wahrscheinlich nicht mehr erwartet?«
sprach nun wieder die dunkle Stimme, bei der Tante Fritze
aufhorchte.
Der Mann hatte ja ein Organ, das sich förmlich
einschmeichelte – tief, dunkel und warm.
»Nein, Herr Doktor, wir haben Sie nicht mehr erwartet«,

bestätigte sie kühl, »weil Sie doch länger als ein Jahr
ausblieben.«
»Soso! Und warum haben Sie es nicht für nötig gehalten,
mir die Geburt meiner Tochter anzuzeigen?«
»Ja – das hielten wir wirklich für unnötig. Denn ein Mann,
der durch sein Verschulden seine Frau an den Rand des
Grabes bringt, kann für sein Kind wohl nichts übrig
haben.«
»Also geben Sie zu, mir die Geburt des Kindes absichtlich
verschwiegen zu haben?«
»Ja.«

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»Das wollte ich nur von Ihnen bestätigt haben. Danke,
Tante Fritze.«

»Was wünschen Sie eigentlich von meiner Nichte?« fragte
das Fräulein nun schroff.
»Ich bin gekommen, um meine Frau dorthin zu holen,
wohin sie nach Gesetz und Pflicht gehört.«
»Da würde ich an Ihrer Stelle doch nicht so siegessicher
sein, Herr Doktor«, spottete das Fräulein. »Meine Nichte
hat sich nämlich sehr verändert. Von der Karola von einst
ist herzlich wenig übriggeblieben. Und wenn Sie
annehmen, daß sie Ihnen vor lauter Wiedersehensfreude
beseligt in die Arme sinken wird, so werden Sie bitter
enttäuscht sein. Sie wird Ihnen im Gegenteil so viel zu
schaffen machen, daß diesmal Sie es sein werden, der eine

Scheidung anstrebt.
Also warum es noch darauf ankommen lassen? Trennen Sie
sich kurz und schmerzlos von Ihrer Frau, dann bleibt Ihnen
und uns viel Ärger erspart. Meine Nichte und ihr Kind sind
nämlich hier an ein Leben gewöhnt, das Sie ihnen nicht
bieten können.«
»Vielleicht doch«, bemerkte er mit einem Lächeln, das sie
stutzig machte.
»Nun, das käme ja darauf an«, zuckte sie mit den Achseln.
»Meine Nichte ist nämlich die Erbin von Allhöfen.
Also, Herr Doktor, kurz heraus: Ich kann und will meine
Nichte nicht wieder in Ihr Haus geben. Ich bin es gewesen,

zu der sie flüchtete in ihrer größten Not. Hätte sie sich
nicht auf mich besonnen, so wäre sie in den Tod gegangen.
Ich bin es auch gewesen, die sie später Zoll um Zoll dem
Tode abgerungen hat; denn es stand sehr, sehr ernst um
Karola, nach der Geburt des Kindes fast noch ernster als
vorher. Und da soll ich dulden, daß meine Nichte noch
einmal in Ihr Haus kommt, das von einer boshaften Frau
und ebenso boshaften Kindern beherrscht wird? Das
können Sie doch unmöglich im Ernst verlangen, Herr Dr.
Winard.«
Aha, das hat gesessen, dachte sie grimmig, als sie das

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todblasse Gesicht des Mannes sah. Sie wollte gerade zu
einem neuen Hieb ausholen, als sie in der Diele Stimmen

hörte.
Gleich darauf wurde die Tür geöffnet,und Karola und Elard,
der das Kind trug, traten ein.
»Tante Fritze, man sagt mir, daß Besuch da ist – «
Nun hatte die junge Frau den Gatten erkannt.
»Mein Gott - du -?« stammelte sie fassungslos.
Unwillkürlich suchte sie nach einem Halt und fühlte sich
von einem Arm umschlungen. Ihr Kopf sank gegen die
Schulter Elards.
Und nun standen sie da, wie zärtliche Gatten, die ihr Kind
bei sich haben. Es war ein herzerfreuendes Bild, das die
drei Menschen boten – nur dem Mann vor ihnen schien es

nicht zu gefallen. Er wurde ebenso blaß wie Karola es war,
und seine Zähne bissen aufeinander, daß die
Wangenmuskeln spielten.
Nur augenblickslang dauerte es, dann hatte Karola sich
gefaßt.
»Nehmen Sie das Kind bitte mit sich, Herr Elard«, bat sie
leise. Doch als er sich anschickte, das Zimmer zu verlassen,
trat Winard auf ihn zu und nahm ihm das Kind vom Arm.
»Gestatten Sie«, sagte er dabei mit einer Stimme, in der es
vor Kälte nur so klirrte. Die Blicke der Männer kreuzten
sich.
Da wandte Elard sich stumm ab und ging hinaus.

Unter den Zurückgebliebenen herrschte unheimliche Stille.
Winard hielt sein Töchterchen, das ängstlich von ihm
fortstrebte, so weit von sich ab, wie seine Arme reichten.
Sekundenlang sah er in das reizende Kindergesicht.
»Also du bist meine Tochter«, sagte er langsam und schwer.
»Kannst du mir schon sagen, wie du heißt? Schau einmal,
dein Papi weiß das noch gar nicht.«
»Sie heißt Ute«, sagte Karola nun hastig, indem sie auf den
Mann zutrat und nach dem Kind griff. »Sie ist ein wenig
scheu – sie fürchtet sich vor Fremden.«
»Nun, vor ihrem Vater wird sie sich nicht fürchten«, kam es

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gelassen zurück. »Nicht wahr, mein Liebchen, du fürchtest
dich nicht vor deinem Papi?«

»Ote!« sagte das Stimmchen kläglich.
»Nicht Onkel – sondern Papi! Du wirst dir das Wort
merken müssen, mein Kleines.
Wie alt ist sie überhaupt?« wandte er sich an Karola. »Es ist
ja wohl sonderbar, daß ich als Vater danach fragen muß – «
»Sie wird am fünften August ein Jahr alt«, unterbrach die
junge Frau ihn kühl.
»Also in zwei Wochen. Da muß ich dir meine Anerkennung
aussprechen, Karola. Ute ist das schönste, gepflegteste
Kind, das ich bisher gesehen habe. Auch vom ärztlichen
Standpunkt aus betrachtet, darf ich mit einem Lob nicht
zurückhalten.«

»Dafür kann ich nichts«, wies sie sein Lob schroff zurück.
»Das Kind ist gesund und hat außerdem eine
ausgezeichnete Pflegerin.«
Nun war es ihr doch gelungen, die Kleine von des Vaters
Arm zu heben. Glückselig schmiegte das Kind sich an die
Mutter, aufgeregt dabei nach dem fremden Mann zeigend.
»Ote – Ote!« plapperte der kleine Mund.
»Ja, mein Schatz, ein Onkel«, bestätigte Fräulein Fritze
nachdrücklich. »Gib mir nur das Kind, Karola, ich gehe mit
ihm schon voran.«
Doch bevor sich Klein-Ute von der Tante hinausbringen
ließ, wollte sie dem Onkel noch ihre neueste Kunst zeigen.

Sie strebte von der Tante Arm und lief mit einem
entzückend spitzbübischen Lächeln auf den Mann zu, der
sie überwältigt in seinen Armen auffing.
»Laufen kannst du auch schon, du kleines Süßes du!« sagte
er mit seltsam schwankender Stimme. »Du bist ja ein
Prachtmädel! Warte einmal, der Papi muß nachsehen, ob
er etwas für dein Leckermäulchen hat.«
Gleich darauf legte er eine Tafel Schokolade in die
ausgestreckten Händchen.
»Ote – Ote!« plapperte sie entzückt.
»Nicht Onkel, Utelein, sondern Papi!«

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»Ote -?« Das klang schon ein wenig zaghaft.
»Nein – Papi!«

»Pa – pi!«
Da war es, das inhaltsschwere Wort, das dem Wortschatz
des Kindes nun einverleibt war- und den Mann so
ungemein beglückte. Ohne sich um die zürnenden Blicke
der beiden Frauen zu kümmern, ließ er das Kind noch
einige Male den Namen nachsprechen. Und als dann
Fräulein Fritze das Kind endlich wieder auf dem Arm hatte
und mit ihm zur Tür schritt, winkte es freudestrahlend
zurück, das eben erlernte schwere Wort vor sich hin
plappernd.
Dann standen sich die Gatten allein gegenüber.
»Was willst du hier?« fragte Karola zürnend. »Des Kindes

und meine Ruhe stören? Es geht uns gut hier. Wir wollen
nie mehr von hier fort. Hörst du – nie!«
»Darüber wird mein Kind erst später entscheiden können.«
»Wer sagt dir überhaupt, daß es dein Kind ist?«
»Karola!« Man sah dem Mann an, wie er sich mit aller Kraft
zu beherrschen versuchte. Er mußte erst einige Male
schlucken, ehe er weitersprechen konnte.
»Komme mir nicht mit derartigen Ausflüchten«, sagte er
dann, so ruhig er konnte. »Sie nützen dir nichts, verfehlen
bei mir vollkommen ihre Wirkung.«
Karola sah, wie seine Hände sich zu Fäusten ballten, wie
die Adern an den Schläfen anschwollen. Sie hielt auch

seinem drohenden Blick stand – und er war der erste, der
den seinen abwandte.
»Karola, du hast eine verflixt spitze Zunge bekommen«,
sagte er mit einer Stimme, die nicht ganz klar klang. »Ich
möchte dir jedoch raten, dir einen andern Ton mir
gegenüber anzugewöhnen. Der Einfluß deiner Tante ist
anscheinend kein besonders guter.«
»Du – versuche es nicht, das Tun meiner Tante zu
kritisieren!« rief sie nun zitternd vor Erregung. »Sie ist der
beste, wertvollste Mensch, den ich kenne. Wenn sie nicht
gewesen wäre, dann stünde ich heute nicht vor dir. Dann

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wäre ich längst den Weg gegangen, auf den mich deine
Härte und die Niedertracht deiner Schwiegermutter

getrieben hatten!«
Karola sah, wie aus dem gebräunten Männerantlitz jetzt
langsam das Blut wich, und das ließ sie ruhiger werden.
»Was willst du überhaupt von mir?« fuhr sie gefaßter fort.
»Sollen ich und das Kind etwa wieder in dein Haus
zurückkehren und uns von deiner Schwiegermutter und
deinen Kindern quälen und peinigen lassen? Dann will ich
dir nur sagen, daß ich dieses Martyrium heute nicht mehr
so schweigend hinnehmen würde! Es würde hart auf hart
gehen, der Streit würde kein Ende nehmen!
Hast du denn schon alles vergessen? Ich nicht! Bis an mein
Lebensende vergesse ich nicht, was man mir in deinem

Hause angetan hat.«
»Karola, so kommen wir nicht voran«, erklärte er mit
rauher Stimme. »Du hast mir zwar keinen Platz angeboten,
aber trotzdem nehme ich ihn mir. Du setzt dich ebenfalls,
und nun wollen wir versuchen, wie vernünftige Menschen
miteinander zu reden. Das Geschehene kann ich leider
nicht mehr aus der Welt schaffen – aber ich kann
gutmachen. Und dazu bin ich gekommen, Karola.«
»Ach laß doch!« winkte die junge Frau nun müde ab,
indem sie sich in einen Sessel sinken ließ. »Ich war so
glücklich bis jetzt. Wozu bist du nur gekommen?«
»Solltest du das wirklich nicht wissen, Karola?« fragte er

leise.
»Laß uns doch all das Häßliche nicht mehr aufrühren«,
sprach sie weiter. »Laß uns doch auseinandergehen, ohne
Streit, ohne Haß. Meine Liebe zu dir ist tot – und du hast
mich ja überhaupt nie geliebt. Es würde ja doch nur ein
glückloses Nebeneinanderherleben werden und nicht nur
ich, sondern auch mein Kind würden maßlos darunter
leiden. Das kleine Geschöpf ist in diesem Hause voll Sonne
und Frohsinn geboren - und da soll es auch aufwachsen.«
»Also so ganz und gar fertig bist du mit mir?« lachte er
bitter auf. »Dann allerdings!

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Aber sag, Karola – du sprichst immer nur von meiner
Schuld. Trugst du denn gar nichts dazu bei, daß die ersten

Monate unserer Ehe so voll Kummer und Leid sein
mußten?«
»Natürlich – auch«, gab sie ehrlich zu. »Geschähe mir jetzt
das alles, dann würde ich ganz anders handeln, dann wäre
ich erst gar nicht deine Frau geworden. Denn ein so
lebensuntüchtiges, verzärteltes Geschöpf, wie ich es damals
war, paßte weder zu dir noch in dein Haus. Am
allerwenigsten zu deiner Schwiegermutter. Siehst du,
Albrecht- und darin liegt nun eben deine Hauptschuld, daß
du das wußtest – und mich der Willkür dieser Frau
ausliefertest. Du hättest wissen müssen, daß ich ihr nicht
gewachsen war.«

»Karola, ich kenne ja meine Schuld«, sagte er mühsam und
schwer. »Und ich will ja gutmachen. Ein ganzes Leben lang,
Karola!«
»Nein, Albrecht – ich kann und will nicht mehr zu dir
zurückkommen«, wehrte sie müde ab. »Wozu willst du dir
mit mir Unfriede und Ärger ins Haus holen? Ich bin jetzt
nicht mehr so duldsam wie früher. Ich würde bei dem
kleinsten Unrecht, das mir dort widerführe, Himmel und
Hölle in Bewegung setzen!
Sieh mal, Albrecht – «, sprach sie nun zuredend weiter.
»Wenn wir geschieden sind, kannst du ja deine Schwägerin
heiraten, die dich innig liebt. Sie ist dir dann außer

Mitarbeiterin auch noch Gattin. Wäre das nicht schön für
dich? Zwei Töchter hast du doch schon, was kann dir da
noch an einer dritten liegen? Ja, wenn Ute ein Junge wäre!
Aber was willst du mit drei Töchtern?«
Jetzt huschte ein Lächeln über sein blasses Gesicht.
»Gib dir keine Mühe, Karola, ich gebe dich und das Kind
nicht auf. Und wenn ich ein Dutzend Töchter hätte, so
würde ich gerade auf Ute niemals verzichten.«
»Gut – so wirst du dazu gezwungen werden!« entgegnete
sie trotzig. »Wenn ich es bisher nicht so eilig hatte, von dir
loszukommen, so werde ich jetzt alles in Bewegung setzen,

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damit es recht bald geschieht.
Gottlob ist das Kind noch so klein, daß es mir noch ganz

gehört. Dich wird es sobald nicht wiedersehen, denn
zwischen Allhöfen und deinem Heim liegt eine weite
Strecke.«
»Wenn du dich da nur nicht irrst, Karola. Ich bin nämlich
seit einigen Wochen der Leiter des Fahrleitschen
Sanatoriums.«
Karola starrte ihn wie entgeistert an.
»Nein - das nicht!« stammelte sie mit farblosen Lippen.
»Das wäre ja furchtbar!«
»Ja, Kind, da kann ich dir nicht helfen«, sagte der Mann
dumpf und schwer. »Glaubst du etwa, daß ich es gewagt
hätte, noch einmal vor dich hinzutreten, wenn ich dir nicht

mehr bieten könnte als das, woraus du einst geflohen bist?
Dann wäre ich ohne weiteres aus deinem und des Kindes
Leben verschwunden.
Doch da ich nun in der Lage bin, euch ein behagliches
Leben zu bieten und – «
»Hör auf - hör bloß auf!« rief Karola gequält. »Und wenn
du mich in Gold fassen könntest – ich komme nicht zu dir
zurück! Ich kann nicht, Albrecht – ich kann wirklich
nicht!«
»Karola, nun möchte ich ohne jede Umschweife den
wahren Grund deiner hartnäckigen Weigerung, zu mir
zurückzukehren, wissen«, sagte er drohend. »Steckt ein

anderer Mann dahinter?«
Karola wollte schon auffahren – dann jedoch blitzte es in
ihren Augen auf.
»Ja – das ist es!« antwortete sie, und es klang ordentlich
erlöst. »Und nun geh, laß es genug sein für heute. Ich muß
mit mir ins reine kommen. Wenn es soweit ist, werde ich
dich rufen.«
»Da könnte ich wohl lange warten«, kam es ironisch von
den schmalen Lippen. »O nein, du wirst mir schon
gestatten müssen, daß ich dich und mein Kind sehen kann,
wenn es mir paßt.«

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»Also Kampf?« fuhr sie auf.
»Jawohl, mein Kind - Kampf! Und der verspricht

interessant zu werden, da wir gleichwertige Gegner sind.
Doch jetzt noch eine Warnung, Karola: Laß es dir nie
einfallen, auch nur eine Sekunde zu vergessen, daß du
meine Frau bist, daß du noch immer meinen Namen
trägst!«
Noch lange, nachdem er gegangen war, sah Karola das
harte, entschlossene Männerantlitz vor sich. Eine
riesengroße Angst befiel sie vor der Zukunft.
»Nun, ist er endlich fort?« fragte die Tante gespannt, als
Karola zu ihr ins Zimmer trat. »Der Mann scheint ja sehr
viel auf dem Herzen gehabt zu haben, da er dich so lange
aufhielt.«

Statt einer Antwort warf sich Karola in einen Sessel und
weinte heiß auf.
»Ich sage ja, kaum ist dieser Mann aufgetaucht, schon geht
der Jammer wieder los!« schalt Fräulein Fritze entrüstet.
»Ich hätte dich doch nicht mit ihm allein lassen sollen!«
»Laß nur, Tantchen, es ist ja schon vorüber«, begütigte die
junge Frau, indem sie sich nachdrücklich die Tränen vom
Gesicht wischte. »Ich gedenke ja nicht wieder zu jammern
und zu plärren, wie es früher meine Art war. Ich gedenke
mich zu wehren bis zum Letzten!«
»Recht so!« lobte die Tante. »Wäre ja auch noch schöner,
wenn du dich einschüchtern lassen wolltest. Der Herr

Doktor scheint so etwas wie den Größenwahn zu haben;
man muß ihm energisch entgegentreten.«
»Ja, Tante Fritze, das dachte ich mir auch – und deshalb
habe ich ihm zuerst auch frisch und frei meinen
Standpunkt klargelegt. Aber was dann kam, das hat mich
umgeworfen. Und dir wird es genauso ergehen, paß mal
auf!«
»Daß ich nicht lache, Kindchen! So schreckhaft sind wir
nun doch wirklich nicht.«
»Nein, Tante Fritze? Auch nicht, wenn ich dir sage, daß
Winard der Leiter des Fahrleitschen Sanatoriums ist?«

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»Ach, du lieber Gott!« Der Schreck war dem Fräulein so in
die Beine gefahren, daß es sich setzen mußte.

»Siehst du, so ging es mir auch«, mußte Karola nun wider
Willen lachen.
»Ja, dann allerdings«, schüttelte Tante Fritze verblüfft den
Kopf. »Aber nun möchte ich bloß mal wissen, wie es der
Mensch angefangen hat, Leiter dieses berühmten Instituts
zu werden. Karola, ich kann mir nicht helfen, dein Mann
fängt an, mir zu imponieren.«
»Auch das noch, Tante Fritze! Das hat mir gerade noch
gefehlt!«
»Na, nun nicht gleich so mutlos sein«, versuchte die Tante
die niedergeschlagene junge Frau aufzurichten.
»Geschieden wirst du trotzdem von ihm. Wir werden uns

einen tüchtigen Anwalt suchen, der die Sache fein
deichseln wird. Auf dem Kerbholz hat der Herr Doktor
genug, davon wäscht ihn auch seine jetzige Würde nicht
rein.«
Und tatsächlich suchte das resolute Fräulein Fritze,
obgleich es in der Erntezeit viel Arbeit für sie gab, einen
Anwalt auf, um ihm die Sache ihrer Nichte vorzutragen.
Doch zu ihrer grenzenlosen Enttäuschung mußte sie
erfahren, daß die Schuld Winards nicht ausreichte, um eine
Scheidung gegen seinen Willen herbeizuführen.
Den gleichen Bescheid erhielt sie auch noch von
verschiedenen anderen Anwälten, die sie zu Rate zog.

»Dann suche ich auch noch den letzten auf«, entschied sie
mit ungebrochenem Mut. »Er ist mir ja nicht sehr
sympathisch, aber er soll in seinem Fach was leisten.«
Der Anwalt ließ dann auch den Redestrom Fräulein Fritzes
in gelassener Ruhe über sich ergehen. Und erst als sie
geendet hatte, lächelte er sein verbindlichstes Lächeln.
»Das alles ist mir genau bekannt, mein gnädiges Fräulein.
Ich bin nämlich der Anwalt des Herrn Doktor Winard, und
ich konnte ihm die feste Versicherung geben, daß seine
Schuld für eine Scheidung nicht ausreichend sei. Bedenken
Sie, daß der Mann damals noch nicht die Erfahrungen von

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heute besaß. Er konnte seine Schwiegermutter nicht
durchschauen. Außerdem war er damals überarbeitet, und

dazu kommt noch, daß die junge Frau in ihrem damals
überreizten Zustand alles viel schwerer genommen hat, als
es notwendig gewesen wäre. Und da sie sich dem Gatten
ganz und gar entzog, sich in Ablehnung und Trotz hüllte,
wie sollte er da klarsehen?«
»Da scheint der Herr Doktor meine Nichte ja gehörig bei
Ihnen angeschwärzt zu haben«, lachte Fräulein Fritze
verärgert auf.
»Nein, Fräulein Fritze, da sind Sie im Irrtum«, entgegnete
der Anwalt tiefernst. »Ich habe im Gegenteil selten einen
Mann von seiner Frau so gut sprechen hören, wie Doktor
Winard es tat. Er hat mir das alles auch nicht etwa klipp

und klar gesagt, sondern ich habe aus Andeutungen meine
Folgerungen gezogen. Manches, worin ich noch nicht ganz
klar sah, haben sogar Sie mir mit Ihrer Schilderung vorhin
verraten. Er ist ja auch nicht etwa zu mir gekommen, um
sich über seine Frau zu beklagen, sondern, um sich die
Gewißheit zu holen, daß gesetzlich seine Schuld zu einer
Scheidung nicht ausreicht.
Er kann also seine Frau zwingen, in sein Haus
zurückzukehren. Und wenn ich Ihnen einen guten Rat
geben darf, Fräulein Fritze, so beeinflussen Sie Ihre Nichte
dahin, daß sie sich mit dem Gatten aussöhnt. Denn der
Mann hat mir hart und fest erklärt, daß er seine Frau und

sein Kind niemals aufgeben wird. Und der sieht mir nicht
danach aus, als ob er sich mit leeren Redensarten abgäbe.«
Sehr nachdenklich fuhr Fräulein Fritze nach Hause. Das
Herz war ihr schwer, weil sie der Nichte nicht den Bescheid
bringen konnte, den sie erhoffte. Sie mußte ihr im
Gegenteil dazu raten, sich mit dem Gedanken, die Frau
Winards zu bleiben, vertraut zu machen.
Tiefblau spannte sich der Himmel über die sonnige
Sommerlandschaft. Es war ein Reifen und Blühen, wohin
das Auge schaute.
»So ein Wetter gehört sich auch zum Geburtstag unseres

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kleinen Sonnenstrahls«, nickte Fräulein Fritze befriedigt zu
Elard hin, mit dem sie auf der Terrasse saß. »Ich bin

gespannt, was meine Nichte für Augen machen wird.«
Das sollte sie sofort erfahren, denn Karola kam eben
angestürmt und fiel der Tante um den Hals.
»Tante Fritze, oh, ich danke dir! Wo hast du nur das
wundervolle Kleid aufgetrieben?«
»Das ist meine Sache«, schmunzelte das Fräulein. »Die
Hauptsache, daß es dir gefällt.«
»Gefallen ist gar kein Ausdruck. Wenn es nicht zu
abgedroschen wäre, würde ich sagen: Es ist ein Gedicht!«
»Hast es ja schon gesagt, Kleine. Ob nun Gedicht oder
nicht – mir gefällt es auch. Darum habe ich es ja gekauft.«
»Nur deshalb, Tantchen?«

»Gewiß doch. Weshalb denn sonst?«
Da war wieder der unwirsche Ton, der das gute Herz
verbergen sollte und den Karola schon längst nicht mehr
fürchtete. Lachend schmiegte sie ihr Gesicht an das der
Tante, die mit einer zarten Gebärde über die strahlenden
Augen der Nichte strich.
»Wo ist unser kleiner Schatz?« fragte sie, um keine
Rührseligkeit aufkommen zu lassen.
»Der sitzt glücklich unter dem neuen Spielkram. Es ist aber
auch gar zuviel – «
»Und wird im Laufe des Tages noch viel mehr werden«,
unterbrach die Tante sie trocken. »Laß nur erst all die

Onkels und Tanten anrücken, dann kannst du morgen hier
ein Spielwarengeschäft aufmachen.«
So viel wurde es ja nun gerade nicht, aber das kleine
Geburtstagskind wurde von den Gästen reichlich bedacht.
Es waren nur die vertrauten Freunde und Nachbarn
geladen, trotzdem waren eine ganze Anzahl Menschen
zusammengekommen.
Am Nachmittag trug Karola schon ein geschmackvolles
Kleid, doch am Abend, als das eigentliche Fest begann,
schmückte sie sich mit dem wundervollen Gewand, das die
Tante ihr heute geschenkt hatte.

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»Tante Fritze, das Kleid muß doch sehr teuer sein«, meinte
sie beklommen, als sich der hauchdünne, duftige Stoff um

ihren Körper bauschte. »Das ist doch viel zu kostbar für
mich.«
»Für meine Erbin kann nichts zu kostbar sein, mein Kind.
Grüble nicht so viel, sondern freue dich deines Lebens,
solange du kannst.«
»Das schon, Tante Fritze. Aber ist es wirklich nötig
gewesen, nur wegen Utes Geburtstag?«
»Natürlich. Wir haben in den vergangenen Wochen ja
genug geschuftet. ›Saure Wochen, frohe Feste‹. So ist es
schon immer auf Allhöfen gewesen, und so wird es auch
bleiben. Diesen Sonntag haben wir unsere Geburtstagsfeier,
einen der nächsten Sonntage unsere Leute ihr Erntefest,

dann kommt keiner zu kurz.«
»Tante Fritze, was bist du doch für ein wundervoller
Mensch!«
»Kind, erbarm dich!« wehrte das Fräulein ab und ergriff
entsetzt die Flucht. Karola sah ihr lachend nach.
Ach, wie schön war doch das Leben! Heute wollte sie
wieder einmal so recht von Herzen fröhlich sein. Wollte
tanzen, lachen und scherzen mit all den lieben Menschen,
die heute zu Gast geladen waren. Sie hatte ja noch so wenig
vom Leben gehabt und wollte alles Schöne, was sich ihr
nun bot, aus vollem Herzen genießen.
Strahlend vor Freude und Erwartung begrüßte sie an der

Seite der Tante die Gäste. Mit heimlichem Entzücken ruhte
manches Auge auf der jungen Frau, die noch nie so
strahlend schön gewesen war wie heute.
Im großen Saal des Herrenhauses war die lange Tafel
gedeckt. Es sollte bald zu Tisch gebeten werden, als der
Hausherrin noch ein Gast gemeldet wurde.
»Das hat ja gerade noch gefehlt«, murmelte sie mit einem
besorgten Blick auf die Nichte, die in einem Kreis junger
Leute stand und seelenvergnügt zu sein schien. Unauffällig
pirschte Fräulein Fritze sich an die Gruppe heran und
blinzelte Karola zu, die sofort zu ihr trat.

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»Fassung bewahren, Kleines!« flüsterte sie hastig. »Winard
wird in den nächsten Minuten hier erscheinen.«

Damit eilte sie auch schon davon, um den unerwünschten
Gast zu begrüßen, während Karola mühsam nach Fassung
rang.
An diese Möglichkeit, daß er einfach zur Geburtstagsfeier
hierherkommen würde, hatte sie nicht im entferntesten
gedacht. Sie hatte inzwischen nichts mehr von ihm gehört
und angenommen, daß er auf einen Ruf von ihr warten
würde.
Und nun kam er einfach – uneingeladen.
Da trat er bereits ein, sicher und gelassen, mit leichter
Verneigung hier und da grüßend, ein Zeichen, daß er hier
Bekannte antraf.

Unter den Gästen war es plötzlich sehr still. Alle schauten
sie voll Spannung auf die äußerst interessante Erscheinung.
»Ja, meine Herrschaften, jetzt kommt die große
Überraschung des Tages«, sagte Fräulein Fritze mit einer
Stimme, die noch nicht einmal zitterte und daher auch
nicht die Erregung verriet, in der die Gastgeberin sich
befand. »Hier stelle ich Ihnen Herrn Dr. Winard, den
Gatten meiner Nichte Karola, vor.«
Die Gesichter der meisten Gäste sahen in diesem
Augenblick nicht sehr geistreich aus.
Wie denn, das war der Mann der Frau Karola? Aber das war
ja eine fabelhafte Erscheinung, gar nicht so, wie man sich

den Mann immer vorgestellt hatte. Und da munkelte man,
daß er seine Frau verlassen hätte? Man sollte doch wirklich
nichts mehr auf Gerede geben.
Karola, die sich von der Tante nicht beschämen lassen
wollte, beherrschte sich meisterhaft. Sie konnte sogar
lächeln, als der Gatte zuerst der Tante einige wundervolle
Nelken und dann ihr rote Rosen überreichte. Und sehr
bereitwillig ging sie darauf ein, als er sie bat, ihn zu der
kleinen Tochter zu führen, damit er ihr noch gratulieren
konnte.
»Ich konnte leider nicht früher kommen«, erklärte er mit

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einer Sicherheit, als hätte man ihn hier sehnsüchtig
erwartet. »Die Kleine schläft nun wohl schon?«

»Das schadet nichts, komm nur«, unterbrach Karola ihn
hastig. Sie war froh, daß sie sich eine Weile den prüfenden
Blicken der Gäste entziehen konnte.
Stumm schritt sie neben ihm die teppichbelegte Treppe
hinauf, führte ihn durch einige Zimmer und klinkte dann
leise eine Tür auf. Ihre Hand griff nach dem Lichtschalter,
und sogleich lag der Raum in gedämpftem Licht.
»Ute ist schwer eingeschlafen, weil der heutige Tag ihr
allerlei Erregungen gebracht hat. Daher möchte ich kein
helles Licht machen. Du wirst sie ja auch so sehen können.
Ist alles in Ordnung, Schwester Gerda«, winkte sie der
Pflegerin ab, die den Kopf durch die gegenüberliegende

angelehnte Tür steckte, worauf sich das Mädchen beruhigt
zurückzog.
Winard war an das weiße Bettchen getreten und beugte sich
über sein Kind, das fest schlief. Sanft fuhr seine Hand über
das Köpfchen.
»Das Geschenk möchte ich ihr morgen persönlich abgeben,
weil ich sehen möchte, was sie für Augen macht«, erklärte
er seiner Frau, als er vom Bettchen zurücktrat.
Karola preßte die Lippen aufeinander, damit ihr nur kein
unbedachtes Wort entschlüpfen konnte; denn schließlich
wollte sie am Bett des Kindes keine
Meinungsverschiedenheiten austragen.

Aber dann, als sie den Gatten in ihr Wohnzimmer geführt
hatte, in dem die Möbel aus ihrem Elternhaus standen,
stellte sie ihn zur Rede.
»Ich wundere mich, woher du den Mut nimmst, heute hier
zu erscheinen«, begann sie schroff.
»Gehört denn so viel Mut dazu, Karola?«
»Ja, der Mut der – Unverschämtheit!«
Es sah aus, als wolle er aufbrausen, doch schon hatte er
sich bezwungen.
»Du mußt deine Worte mehr wägen, bevor du sie bei mir
anbringst«, entgegnete er gelassen. »Ich werde mein Kind

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sehen, wann ich will, das habe ich dir doch schon vor zwei
Wochen gesagt. Und du mußt das, was ich sage, schon

ernst nehmen.«
Am anderen Tage, man saß gerade in Allhöfen am
Kaffeetisch, betrat Winard die Terrasse. Er war mit kleinen
Paketen beladen, die er erst zur Seite legte, bevor er die
Damen begrüßte.
»Entschuldigen Sie, Tante Fritze, daß ich schon wieder hier
bin, aber ich möchte meiner Tochter die
Geburtstagsgeschenke bringen«, erklärte er mit einer
Sicherheit, die immer mehr verblüffte. »Kann ich das Kind
sehen?«
»Es wird wohl mit der Schwester im Park sein«, gab Tante
Fritze Auskunft. »Ich werde sie rufen lassen. Bis dahin

trinken Sie wohl eine Tasse Kaffee mit uns?«
Er sah nach der Uhr am Handgelenk. »Ich habe zwar nicht
lange Zeit, doch ein Weilchen kann ich mich wohl
aufhalten.«
Tante Fritze versorgte den Gast mit Kaffee und Kuchen und
veranlaßte dann, daß die Schwester mit Ute hierherkam.
Sie führte auch die Unterhaltung, während Karola kein
Wort sprach.
Immer wieder gingen ihre Blicke verstohlen zu dem Gatten
hin, der heute in seinem hellen Anzug genauso elegant
wirkte wie gestern. Sie bemerkte auch Dinge an ihm, die er
früher nicht besessen hatte: den Siegelring mit dem

kostbaren Stein, die wertvolle Armbanduhr und, als er sich
mit Erlaubnis der Hausherrin eine Zigarette anzündete, das
schwergoldene Zigarettenetui.
Sein Einkommen war jetzt gewiß erheblich, aber er hatte
doch zwei Kinder und auch die Schwiegermutter zu
unterhalten.
Ihr Blick traf sich mit dem der Tante – und da wußte sie,
daß diese dieselben Gedanken hatte.
»Karola, ich möchte dich bitten, recht bald mit mir nach
Hause zu kommen, damit dich die Angestellten dort
kennenlernen«, sprach er nun in ihre unerquicklichen

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Gedanken hinein.
»Nach Hause?« wiederholte sie gedehnt. »Mein Zuhause ist

hier.«
»Du irrst dich, mein Kind. Das Zuhause der Frau ist an der
Seite des Gatten. Auch ist es deine Pflicht, dich um die
Zwillinge zu kümmern.«
Er hielt inne, denn Karola war so ungestüm aufgesprungen,
daß ihre Tasse in Gefahr geriet und nur noch durch sein
rasches Zugreifen gerettet werden konnte. Fast schwarz
wirkten ihre Augen, die feinen Nasenflügel zitterten nervös.
»Ich will mich nicht um die kleinen boshaften Geschöpfe
kümmern!« begann sie, doch Winard wehrte mit einer
kurzen Handbewegung ab.
»Bitte, mäßige dich, Karola!« gebot er scharf. »Ob du willst,

spielt hier keine Rolle – du wirst einfach müssen. Es ist
deine Pflicht, an meinen Kindern aus erster Ehe
Mutterstelle zu vertreten.«
»Dazu kannst du mich gewiß nicht zwingen«, sagte sie jetzt
ganz ruhig, ganz kalt. »Ich kann deinen Kindern nichts
nützen, da ich ihren Ungezogenheiten nie gewachsen sein
werde und daher auch nicht erzieherisch auf sie einwirken
kann. Außerdem würde mir deine Schwiegermutter wieder
entgegenarbeiten. Und das – überhaupt das alles würde ich
einfach nicht mehr aushalten!« schrie sie unerwartet auf,
daß Winard und Fritze zusammenzuckten. »Tante Fritze,
liebe Tante Fritze - so hilf mir doch!«

»Nun, nun«, beschwichtigte die Tante, wobei sie die
zuckenden, hin- und hertastenden Hände der Nichte mit
den ihren einfing. »Du darfst dich doch nicht immer gleich
so erregen, Kind. In Ruhe läßt sich doch alles viel besser
regeln.«
»Ja, Ruhe – wenn Albrecht nur endlich einmal Ruhe geben
wollte! Aber jeden Tag ersinnt er etwas Neues, um mich zu
quälen. Ich habe ihm schon gesagt: Wenn er mich zwingen
will, in sein Haus zu kommen, dann stürze ich mich mit
dem Kind in den Weiher!«
»Großer Gott, Mädel!« schalt die Tante entrüstet. »Dazu

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bist du womöglich noch imstande. Das ist ja ganz
beängstigend mit dir! Warum denn gleich in den Weiher!

Sieh dir doch zuerst einmal das Haus deines Gatten an –
das verpflichtet dich doch zu nichts.«
»Das rätst du mir, Tante Fritze – du? Allerdings, dann bin
ich ganz und gar verlassen!«
»Von verlassen kann hier nicht die Rede sein, du kleines
Schaf«, wurde die Tante nun energisch, um ihre Angst und
Sorge zu verbergen. »Du weißt ganz genau, wie wir beide
zueinander stehen. Ich dulde schon nicht, daß dir auch nur
ein Haar gekrümmt wird, darauf kannst du dich heilig
verlassen!
Also, Herr Doktor, lassen wir das jetzt«, wandte sie sich an
Winard, der sich schweigend verhalten hatte. »Sie sehen,

daß Karola noch lange nicht über das hinweg ist, was man
ihr in Ihrem Hause angetan hat. Wenn sich das auch nur
einmal noch wiederholen solle – ich weiß nicht, was dann
geschieht.«
»Das wird sich nicht wiederholen, Tante Fritze«, erklärte er
mit unerschütterlicher Ruhe. »Meine Schwiegermutter ist
sehr verändert und wird sich sofort aus dem Haushalt
zurückziehen, sobald Karola dort ihre Pflichten
übernimmt. Wenn sie es nicht wünscht, wird sie die Frau
nie zu sehen bekommen. Meine Kinder sind während
meiner Abwesenheit in einem Internat gewesen, wo man
sich mit ihrer Erziehung große Mühe gegeben hat. Sie sind

jetzt nicht anders als andere Kinder. Also wird es kaum
vorkommen, daß sich ihre Ungezogenheiten Karola
gegenüber wiederholen.
Dann wäre noch meine Schwägerin Malve zu erwähnen,
die als Ärztin im Sanatorium tätig ist und in meinem
Hause wohnt und verpflegt wird. Und die wird Karola
bestimmt nicht zu nahe treten.«
Fräulein Fritze kam zu keiner Antwort, da jetzt die
Schwester mit der kleinen Ute erschien. Winard packte die
Geschenke aus, und da war so ziemlich alles vertreten, was
ein Kinderherz erfreuen kann. Die Kleine jubelte dann

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auch laut und plapperte in ihrem Kauderwelsch, daß es
eine helle Freude war.

Und waren es nun die Gaben – oder die Bande des Blutes,
die das Kind zu dem Mann hinzogen – das Kind vergaß die
Scheu dem fremden Mann gegenüber. Es trippelte auf ihn
zu, legte die Ärmchen zutraulich um seinen Hals und hielt
ihm das Mäulchen zum Kuß hin.
Ganz fest drückte der Mann sein Kind an sich.
»Wer bin ich, mein Liebchen?« fragte er leise und zärtlich.
»Pa – pi!« erfolgte ohne Zögern die Antwort. Winard barg
augenblickslang sein Gesicht an der kleinen Brust, um den
Damen die Tränen nicht zu zeigen, die ihm in die Augen
stiegen. Und als er dann das Kind behutsam auf die Erde
stellte, war sein Gesicht ruhig und kühl wie immer.

»Meine Zeit ist jetzt leider um«, erklärte er. Rasch nahm er
Abschied von Frau und Kind und folgte dann Fräulein
Fritze, die ihm das Geleit zum Wagen geben wollte. Als sie
jedoch in der Diele waren, bat sie ihn in ihr Arbeitszimmer.
»Herr Doktor, ich möchte Sie bitten, Karola nicht mit
solcher Härte zu begegnen«, begann sie ohne Umschweife,
nachdem sie Platz genommen hatten. »Wohin soll das
fuhren, wenn das Kind öfter solchen Aufregungen
ausgesetzt wird? Das halten die zarten Nerven nicht aus.«
»Tante Fritze, ich habe mit nervenkranken Menschen
täglich zu tun und bin daher imstande, gesunde von
kranken Nerven zu unterscheiden«, gab er sehr gelassen

zurück. »Was Sie Erregung nennen, ist Trotz und
Eigenwillen, die sich bei Ihrer Nachsicht und Güte Karola
gegenüber so recht zu voller Stärke entfalten konnten.«
»Einen gehörigen Trotzkopf hat sie wohl«, mußte Tante
Fritze zugeben. »Aber heute sah das doch so anders aus – «
»Gewiß, all das Traurige, das sie in meinem Hause
erdulden mußte, wird jetzt wieder aufgewühlt. Da ist es
nicht verwunderlich, wenn verletzter Stolz, Bitterkeit und
Empörung bei Karola vorläufig noch die Oberhand
behalten. Sie ist jetzt blind und taub gegen alles, was ihr
bei ruhiger Überlegung einleuchten würde. Und wenn man

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sie gewähren läßt, dann verrennt sie sich immer tiefer in
Bitterkeit und Haß. Und das will ich nicht und kann ich

nicht geschehen lassen! Karola hat mir gesagt, daß sie mich
nicht mehr liebt – und das glaube ich ihr. Sie hat mich
überhaupt nie geliebt. Denn das Gefühl, das sie für Liebe
hielt und das sie veranlaßte meine Frau zu werden, war
nichts weiter als eine kleine Neigung – oder gar
Gewohnheit. Ich bin wochenlang im Hause ihrer Mutter
ein- und ausgegangen.«
Nun sah Fräulein Fritze, die schweigend zugehört hatte,
den Mann fest an.
»Und doch wollen Sie nicht in die Scheidung willigen, Herr
Doktor. Was nützt Ihnen eine Frau, die Sie nicht liebt?«
»Ich will auf mein Kind nicht verzichten, Tante Fritze.

Kinder sind bei Ehescheidungen immer die
Hauptleidtragenden. Ich denke nicht an den Augenblick,
sondern auch an die Zukunft. Wie soll es werden, wenn
Ute heranwächst? Karola würde nach ihrer Scheidung nie
von hier fortgehen – und ich werde meinen Posten
wahrscheinlich auch nicht mehr verlassen. Also würde das
arme Kind später nicht wissen, wohin es gehört.«
»Ich glaube, Sie sehen da viel zu schwarz, Herr Doktor«,
meinte Fräulein Fritze. »Und außerdem denken Sie zu viel
an Ute und zu wenig an Ihre anderen Kinder. Die werden
an Karola nie eine Mutter haben. Sie wird den Mädeln nie
verzeihen können, was sie durch sie erdulden mußte. Wäre

es da nicht besser, wenn Sie den Kleinen eine Mutter geben
würden, die sich um sie kümmert und sie auch liebhat?
Wie wäre es mit Fräulein Dr. Boseit? Wenn die Dame Sie
liebt, dann wird sie bestimmt auch Ihre Kinder lieben,
zumal es noch die Kinder ihrer Schwester sind. Sie hätten
ein ruhiges Leben, Ihre Kinder würden gut versorgt sein,
das wäre doch viel besser für Ihre Angehörigen, als wenn
Karola zu Ihnen zurückkäme. Also Herr Doktor, leuchtet
Ihnen das denn gar nicht ein?«
»Nein, Tante Fritze, ich bin allen Bestechungsversuchen
ganz und gar unzugänglich«, entgegnete er hart. »Ich trenne

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mich nicht von Karola. Wenn meine älteren Mädel ohne
Mutterliebe aufwachsen müssen, so ist das ihr Geschick,

weil ihnen der Tod die Mutter genommen hat. Daß Karola
sie nicht lieben kann, ist ihr gewiß nicht zu verargen. Das
verlange ich ja auch gar nicht. Ich verlange nur, daß sie sich
um sie kümmert. Das ist weiter nichts als ihre Pflicht.«
»Und Sie werfen meiner Nichte Dickköpfigkeit vor«, seufzte
das Fräulein. »Mein lieber Herr Doktor, da geben Sie nur
gut acht, daß Sie sich Ihren Schädel nicht zuerst einrennen.
Vielleicht wird die Zukunft Sie noch lehren, daß man das
Schicksal niemals zwingen kann, und daß Vorsehung
spielen wollen immer eine gewagte Geschichte ist.«
An einem Sonnabendnachmittag ging Winard mit seiner
Schwägerin und den Zwillingen die Hauptstraße der Stadt

entlang. Es herrschte ein reges Leben und Treiben, so daß
die Fußgänger nur langsam vorwärts kamen.
Ein Auto fuhr ganz nahe am Bordstein und stoppte gerade
in dem Augenblick, als Winard mit den Seinen
vorüberging. Mit einem Blick hatte er die Insassen des
Wagens erkannt, und sein Blick traf sich mit dem der
Schwägerin.
»Karola!« sagte sie erschrocken, indem sie unwillkürlich zur
Seite trat. Hastig wollte sie weitergehen, doch der Schwager
hielt sie am Ärmel zurück.
»Du hast keinen Grund, ihr aus dem Wege zu gehen«, sagte
er mit einem finsteren Blick auf die junge Frau, die aus dem

Wagen stieg und der Tante heraushalf. Sie schien in bester
Laune zu sein, denn ihre Augen lachten und strahlten.
»Wie schön sie geworden ist«, flüsterte Malve andächtig.
»Sie ist ja kaum wiederzuerkennen.«
»Mir war sie früher lieber«, zuckte er mit den Achseln.
»Komm, wir wollen ihnen folgen. Eben gehen sie in die
Konditorei.«
»Ich komme nicht mit, Albrecht.«
»Warum denn nicht? Gedenkst du meiner Frau fortan
auszuweichen? Das wird sich auf die Dauer nicht gut
machen lassen.«

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Da senkte sie den Kopf wie gottergeben und folgte ihm.
»Tante Malve, wohin gehen wir?« erkundigte sich Dorli

schüchtern.
»Das wird euch der Vater gleich sagen«, wich sie aus. Und
als sie vor dem Eingang der Konditorei standen, sah
Winard sich nach den Kindern um.
»Ihr werdet gleich die Mama begrüßen«, sagte er. »Ich
glaube, ihr wißt Bescheid.«
Damit ging er ihnen voran, und die Kinder drängten sich
schutzsuchend an Malve, die mitleidig auf sie niedersah.
»Ihr braucht ja nur artig zu sein«, tröstete sie mit ihrer
warmen Stimme. »Mehr verlangt der Vater nicht von euch.«
»Ah, der Herr Doktor!« sagte Tante Fritze rasch gefaßt.
»Und das sind wohl die Töchterchen?«

»Ja. Und das ist meine Schwägerin, Fräulein Doktor
Boseit.«
»Also ganz gelehrte Gesellschaft bekommen wir«, plauderte
Tante Fritze frisch drauflos, um nur keine schwüle
Stimmung aufkommen zu lassen. Doch während sie alle
mit Handschlag begrüßte, tat Karola das nicht einmal bei
dem Gatten. Kalt und fremd sah sie über sie alle hinweg,
als sie auf die Aufforderung der Tante hin an demselben
Tisch Platz nahmen. Verschüchtert saßen die Kinder da und
erweckten sofort das Mitleid Fräulein Fritzes.
Sahen doch ganz niedlich aus, die Mädelchen, wenn sie
natürlich auch lange nicht so hübsch waren wie Ute. Gut

gepflegt und sorgfältig gekleidet waren sie auch, also war
wirklich nichts an den Kleinen auszusetzen.
Wie ängstlich sie zu Karola hinsahen. Na, der Herr Papa
wird ihnen vorher wohl ordentlich die Wacht geblasen
haben!
»Ich glaube, euch würde ich nie auseinanderhalten
können«, wandte die Tante sich in munterem Ton an die
verschüchterten Kleinen. »Wer ist nun Lorli und wer ist
Dorli?«
»Lorli hat ein schmäleres Gesicht, dunkleres Haar und ist
auch ein wenig größer als ihre Schwester«, antwortete der

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Vater. »Auch hat sie oberhalb der Stirn eine Narbe.«
»Die wird wohl das sicherste Erkennungszeichen sein«,

lachte Fräulein Fritze. »Sucht euch nur etwas Feines aus,
Mädels. Das Wiedersehen mit der Mama muß doch gefeiert
werden.«
»Danke«, sagte Lorli schüchtern, indem ein ängstlicher
Blick zum Vater hinging.
»Den Vater fragen wir heute erst gar nicht«, entschied
Fräulein Fritze, die den Blick bemerkt hatte. Sie winkte den
Ober herbei, der bald darauf Kuchen und Schokolade für
die Kinder und Kaffee für die Erwachsenen brachte.
Fräulein Fritze war indes bemüht, ein Gespräch in Gang zu
bringen.
Und aus diesem Gefühl heraus lud sie die ganze

Gesellschaft nach Allhöfen ein.
»Vielen Dank, Fräulein Hiltmer. Aber ich glaube, wir
würden stören«, wehrte Malve leise ab.
»Uns stören? Unsinn! Wir haben gern Besuch, nicht wahr,
Karola?«
»Gewiß«, kam die Antwort fremd und kalt. »Es ist ja dein
Haus, Tante Fritze.«
Das Fräulein schnaufte einige Male tief auf - immer ein
Zeichen, daß es mit seiner Meinung nicht herausplatzen
mochte. Aber ein sehr mißbilligender Blick traf dabei die
Nichte, die sich mit einem spöttischen Lächeln tiefer in den
Stuhl lehnte.

»Morgen ist Sonntag, dann kommen Sie alle schon am
Vormittag nach Allhöfen«, schlug Fräulein Fritze vor.
»So früh können meine Schwägerin und ich nicht fort«,
erklärte Winard. »Wir können uns erst am Nachmittag frei
machen.«
»Dann kommen die Mädel zuerst allein und später
kommen Sie beide nach. Mögt ihr das, Kinder?«
»Ohne Tante Malve, bitte nicht«, flehte Dorli.
»Nein. Wenn Tante Fritze uns wirklich haben will, dann
kommen wir alle um die Kaffeestunde«, entschied Winard.
»Abgemacht!« willigte Tante Fritze ein, der es nun doch

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schwül zumute wurde. Karola machte so den Eindruck, als
dürfe man bei ihr auf alles gefaßt sein. Daher erhob sie sich

rasch.
»Wir müssen jetzt leider gehen, wenn wir mit unsern
Einkäufen fertig werden wollen«, täuschte sie Eile vor.
»Morgen sehen wir uns ja wieder.«
Diesmal verabschiedete sie sich nicht mit Handschlag.
Der nächste Tag brachte dann auch wirklich die neuen
Gäste. Die Kinder, die in ihren weißen Kleidchen hübsch
und gepflegt aussahen, überreichten den Damen Blumen,
während sie für Ute ein kleines Spielzeug mitbrachten.
Wie leuchtete es in ihren Augen auf, als sie das
Schwesterchen sahen! Es dauerte gar nicht lange, bis die
Freundschaft geschlossen war, die allerdings von Ute aus

angestrebt wurde. Die Zwillinge wagten es nicht, sich der
Kleinen zu nähern.
Aber allmählich griffen auch sie nach den Händchen, die
ihnen verlangend entgegengestreckt wurden. Doch für
alles, was sie taten, holten sie erst die Erlaubnis des Vaters
ein. Wenn sie ihn fragend ansahen und er unmerklich
nickte, sahen sie darin die Gewährung ihrer stummen Bitte.
Nach dem Kaffee durften sie mit der Pflegerin und dem
Schwesterchen in den Park gehen. Von dort hörte man hin
und wieder Kinderlachen und das Jauchzen der kleinen
Ute. Sie schien glückselig zu sein, Spielgefährten zu haben.
Die Erwachsenen unterhielten sich indes ruhig und höflich.

Selbst Karola bemühte sich heute, weniger schroff zu sein.
Später wurde Fräulein Fritze abgerufen und kam bald
ärgerlich wieder.
»Nun weiß der Kämmerer einmal wieder nicht, welcher
Weizenschlag morgen früh in Angriff genommen werden
soll«, wandte sie sich an Karola. »Dabei hat ihm Elard den
Schlag gezeigt, hat ihm einen langen Vortrag darüber
gehalten – «
»Den er natürlich wieder einmal vergessen hat«, fiel Karola
trocken ein. »Der Rüffel, den er morgen dafür kriegen wird,
kann dem Traumseligen gar nichts schaden, wenn nur

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nicht die Arbeit darunter leiden würde. Es kann mit dem
Mähen nicht so früh begonnen werden wie vorgesehen ist.«

»Stimmt auffallend, mein Kind. Und da Elard bis morgen
mittag Urlaub hat, so werde ich mich auf den Gaul
klemmen.«
»Du nicht, Tante Fritze«, wehrte Karola entschieden ab.
»Das werde ich tun. Ich war dabei, als Elard mit dem
Kämmerer verhandelte, und weiß daher Bescheid. Ihr
entschuldigt mich wohl«, wandte sie sich höflich an
Winard und Malve. »Ich bin bald wieder hier.«
»Weiß Karola denn in der Wirtschaft so gut Bescheid?«
erkundigte sich Albrecht, als seine Frau die Terrasse
verlassen hatte.
»Erstaunlich gut sogar«, nickte Fräulein Fritze stolz. »Sie ist

bei dem alten Wederich und Elard in guter Lehre und wird
mit den Jahren eine prachtvolle Landwirtin werden. Ja,
Karola hat sich herausgemacht, daß es eine wahre Freude
ist! Früher ängstlich und zimperlich, jetzt schneidig und
beherzt. Das ist meine Schule, Herr Doktor!«
»Mir war sie früher lieber«, entgegnete Winard schroff.
»Denn schließlich ist Karola ja nicht in der Hauptsache
Landwirtin.«
»Ach so«, lachte Fräulein Fritze kurz auf. »Ich verstehe.
Nun, Herr Doktor, wenn Sie meinen, daß Sie mir meine
Nichte so ohne weiteres von Allhöfen entfernen können,
dann haben Sie sich aber schwer geirrt. Karola ist meine

Erbin

und daher ist es erforderlich, daß sie ihren späteren

Besitz zu leiten versteht.«
»Sie haben mich falsch verstanden, Tante Fritze«, wehrte
Albrecht mit leichtem Lächeln ab. »Ich werde Ihnen Karola
nie entfremden, denn das haben Sie ja nicht um sie und
auch nicht – um mich verdient. Sie soll ihren Pflichten hier
ruhig weiter nachgehen, aber sie soll darüber ihre anderen
Pflichten nicht vergessen.«
»So, so«, brummelte Tante Fritze. »Das ist denn ja was
anderes.«
»Tante Fritze, wollen wir beide wenigstens nicht

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miteinander Frieden schließen?« bat Winard, indem er ihr
die Hand entgegenstreckte, die Tante Fritze mißtrauisch

ergriff. »Ich habe schon längst Ihr großes, gütiges Herz
erkannt und weiß auch, welch großen Einfluß Sie auf
Karola haben. Ich schwöre Ihnen, daß ich nichts tun werde,
um sie Ihnen zu entfremden. Aber dafür bitte ich Sie auch,
mir meine Frau wieder zuzuführen.«
»Ja, lieber Herr Doktor, das wird nicht so einfach sein«,
nickte sie bekümmert. »Ich kenne mich nämlich selber
nicht mehr in Karola aus. Sie ist wohl noch immer zu
verbittert, um ruhig und sachlich urteilen zu können. Da
kann ich weiter nichts tun, als ihr immer wieder ins
Gewissen zu reden und mich ihrem Trotz
entgegenzustellen. Und das tue ich schon lange.«

Verlegen wich Tante Fritze dem dankbaren Blick aus, der
sie aus den grauen Männeraugen traf.
»Wollen wir uns einmal nach Karola umsehen«, schlug sie
hastig vor, um etwaigen Dankesworten zu entgehen.
Sie gingen zum Hof hin und kamen gerade zurecht, um zu
sehen, wie Karola am Pferdestall aufsaß. Der rassige
Schimmel, den der alte Pferdepfleger kurzweg ›Witte‹
getauft hatte, wollte ein wenig mit seinen Mucken
beginnen, doch sehr bald hatte er sich begeben und ging
unter der kleinen Faust wie ein Lamm.
Karola hatte ihre Zuschauer an der Portaltür entdeckt und
ritt zu ihnen hin.

»Komm, Witte, zeig schön, was du kannst«, sagte sie
zärtlich zu dem Pferd, das sich dann auch nach einigem
Widerstreben steil aufrichtete.
»Zur Zirkusreiterin fehlt nicht mehr viel«, schmunzelte
Fräulein Fritze. Karola senkte die Reitgerte zum Gruß und
sprengte dann davon, daß die Erde unter den Pferdehufen
nur so flog.
»Nanu, Fräulein Doktor, Sie sind ja ganz blaß geworden«,
staunte die Tante nach einem Blick in Malves weißes
Gesicht.
»Ich habe mich erschrocken«, gab sie mit verlegenem

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Lächeln zu. »Kann Karola bei den wilden Ritten auch nichts
passieren?«

»Keine Angst, in der steckt altes Reiterblut. Ihre Vorfahren
väterlicherseits waren echte Kavalleristen.«
Winard sagte nichts, er hatte nur ein so unruhiges Flackern
in den Augen.
Als sie auf die Terrasse zurückkehrten, hatten sich dort
mittlerweile die Kinder eingefunden. Die Zwillinge hielten
Ute an den Händchen und gingen langsam mit ihr auf und
ab. Doch als die Kleine Tante Fritze erblickte, strebte sie zu
ihr hin.
»Nun, mein Schatz, ist das heute schön?« lachte das
Fräulein, das Kind auf den Arm hebend.
Malve trat langsam näher und griff zögernd nach den

Händen der Kleinen.
»Wie ähnlich sie meinem Schwager ist«, sagte sie beglückt.
»Ob sie sich vor mir fürchtet?«
»Na, so furchterweckend sehen Sie bestimmt nicht aus,
Fräulein Doktor«, lachte Fritze. »Schau dir einmal die Tante
an, du Schelm. Hast du sie lieb?«
»Tatta!« plauderte der kleine Mund. Ganz vorsichtig nahm
Malve das Kind, als fürchte sie, es zu zerbrechen. Sanft
drückte sie das Körperchen an sich. Da trat Winard zu
ihnen.
»Also habt auch ihr schon Freundschaft geschlossen«,
stellte er befriedigt fest. Ute lachte dazu and patschte der

Tante ins Gesicht. Dann hatte sie bei dem Vater die Uhr
entdeckt.
»Papi – ticktack.«
»Ja, unsere Tochter liebt die Abwechslung«, nickte Fräulein
Fritze und sah mit Vergnügen, wie der Arzt sein Kind auf
den Schoß nahm und ihm die Uhr hinhielt.
Nach kurzer Zeit erschien Karola wieder. In ihrer
Begleitung befand sich Elard.
»Nanu, Sie sind schon zurück?« staunte Fräulein Fritze.
Bevor er antwortete, bat er, Malve vorgestellt zu werden
und begrüßte dann Winard und die Kinder.

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»Mich trieb die Unruhe her«, gab er dann Bescheid. »Denn
ich ahnte schon, daß es morgen nicht mit dem Mähen

klappen würde. Und tatsächlich kam ich auch dazu, als
Frau Karola ein Strafgericht abhielt.«
»Kann ich mir denken«, schmunzelte Fritze. »Sie hätten gar
nicht herzukommen brauchen. Wie Sie sehen, sind wir hier
auf dem Posten. Was sagte nun der Sünder zu der Strafrede
unserer kleinen Inspektorin?«
»Er kratzte sich verlegen den Kopf und brummte: ›Ward
schon so sinn, Frau Karola‹. So ist es ja immer mit den
Leuten. Was sie uns anderen höllisch krumm nehmen
würden, stecken sie von unserm jüngsten Inspektor ohne
weiteres ein und schämen sich noch obendrein.«
Er lachte und bückte sich zu der kleinen Ute hinab, die auf

ihn zugetrippelt kam. Die Händchen wühlten in seiner
Rocktasche, bis sie auch glücklich einen Pfirsich gefunden
hatten.
»Ist so etwas möglich!« wunderte sich Tante Fritze. »Das
Kind hat ja eine erstaunliche Spürnase. Wie weiß es, daß
Sie den Pfirsich in der Tasche haben?«
»Das ist unser Geheimnis, Kleinchen, nicht wahr?«
zwinkerte er vergnügt. »Wir beide verstehen uns prachtvoll.
Ute ist überhaupt meine große Liebe, ich werde auf sie
warten, bis sie heiratsfähig ist.«
»Na, ich danke!« wehrte Karola entrüstet ab. »Mit einem
Greis gedenke ich meine Tochter denn doch nicht zu

verheiraten. Und überhaupt – «
»Frau Karola!« drohte er mit einem Blick in ihr
spitzbübisches Gesicht.
Sie lachte wie ein kleiner Kobold, war überhaupt in so
glänzender Laune, wie der Gatte sie noch nie gesehen hatte.
Sein Blick verfinsterte sich immer mehr, was jedoch außer
Malve niemand zu bemerken schien.
Ganz unvermittelt erhob Winard sich und mahnte zum
Aufbruch.
»So früh schon, Herr Doktor?« bedauerte Tante Fritze.
»Ja, die Kinder müssen pünktlich ins Bett.«

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Man gab den Gästen bis zum Auto das Geleit. Elard, der
neben Karola ging, sagte leise:

»Jetzt kann ich ja verraten, weshalb ich hauptsächlich
herkam: Mein Bruder hat mich geschickt, um Sie mit
Fräulein Fritze nach Werken zu holen. Ich wollte vorhin
nur nichts sagen, weil das unhöflich gegen Ihre Gäste
gewesen wäre. Sie werden kommen?«
»Ohne jede Frage!«
»Und Fräulein Fritze?«
»Die selbstverständlich auch. Sie wissen doch, daß meine
Tante alles tut, was ich will.«
Malve und Winard, die voranschritten, hatten jedes Wort
verstanden. Besorgt sah die junge Ärztin in des Schwagers
Gesicht, das jedoch so unbeweglich war wie gewöhnlich.

Nur an der Hand, die sich fest zusammenballte, sah sie,
daß er nicht so ruhig war, wie er scheinen wollte.
Draußen wartete schon das Auto, ein schwerer Sechssitzer.
Daneben stand der Chauffeur in straffer Haltung. Und
wieder wunderte Karola sich darüber, woher der Gatte das
Geld wohl hatte, um sich einen solchen Wagen leisten zu
können.
»Kommen Sie alle bald wieder«, lud Tante Fritze die
abfahrenden Gäste zu Karolas Ärger ein. Man winkte noch,
während der Wagen schon fuhr, dann gingen die
Zurückbleibenden langsam in das Haus zurück. Hier
übermittelte Elard die Einladung auch Fräulein Fritze.

»Wenn meine Nichte Lust hat, dann will ich gern nach
Werken fahren«, war die erwartete Antwort.
»Und ob ich Lust habe, Tante Fritze! Jetzt beginnt ja erst – «
Sie hielt erschrocken inne und sprach den Satz erst zu
Ende, als sie mit der Tante allein war.
»- der gemütliche Teil des Tages.«
»Karola, ich habe Angst um dich«, schüttelte das Fräulein
bekümmert den Kopf. »Wie ist es bloß möglich, daß du mit
deiner Liebe zu Winard so ganz und gar fertig werden
konntest! Ich glaube nun wirklich, daß Winard mit seiner
Annahme, du hättest seine Werbung als sogenannten

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letzten Strohhalm betrachtet, recht hat.«
»Das ist nicht wahr!« fuhr die junge Frau auf. »Ich habe ihn

geliebt, als ich ihm in die Ehe folgte. Aber er hat diese
Liebe in mir getötet.«
»Kindchen, rede doch keinen Unsinn!« lächelte Fritze
ungläubig. »Eine echte, wahre Liebe kann ja gar nicht
sterben.«
»Das mußt du ja wissen, Tante Fritze!«
»Jawohl, mein Kind, das weiß ich! Glaubst du, ich bin
nicht einmal jung gewesen und habe nicht ein Herz in der
Brust gehabt?
Aber lassen wir das. Wenn ich Winard wäre, dann würde
ich mich so rasch wie möglich von dir scheiden lassen und
das Fräulein Doktor heiraten. Sie ist ja nicht hübsch, hat

sogar einen kleinen körperlichen Fehler, aber sie ist äußerst
sympathisch und scheint ein wertvoller Mensch zu sein.«
»Den Vorschlag habe ich ihm ja auch schon gemacht.
Wenn er ihn nicht befolgt, dann ist es seine Sache«, war die
gereizte Antwort. »Und nun tu mir den Gefallen und
verdirb mir nicht die Freude, Tante Fritze. Ich will heute
abend tanzen und von Herzen fröhlich sein.«
So gram Karola der Tante auch deswegen war, so hielt diese
jedoch seit dem Sonntag den Verkehr mit Winard und den
Seinen aufrecht. Sie merkte wohl voll Kummer, wie die
Nichte sich immer mehr und mehr von ihr zurückzog und
nicht mehr das Vertrauen zu ihr besaß wie früher, aber sie

war ein viel zu gerechtdenkender Mensch, um alles
blindlings gutzuheißen, was die geliebte Nichte tat. Je
näher sie Winard nämlich kennen lernte, um so mehr
lernte sie ihn schätzen. Und die stille, sanfte Malve hatte sie
direkt in ihr Herz geschlossen.
Größtenteils war die junge Frau gar nicht dabei, wenn
Tante Fritze mit ihren Schützlingen zusammensaß. Es gab
ja für sie in der Wirtschaft zu tun. Da war er erklärlich, daß
sie nicht ständig bei den Gästen der Tante sitzen konnte.
Malves Zeit war natürlich auch ausgefüllt. Doch daß sie
sich in Allhöfen einstellte, sobald es ihr möglich war,

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darauf bestand Fräulein Fritze.
»Sie haben einen so anstrengenden Beruf, Fräulein Doktor,

da müssen Sie öfters ausspannen«, erklärte sie energisch.
»Sie sind viel zu ernst für Ihre jungen Jahre, etwas
Aufmunterung tut Ihnen daher not.«
Und Malve kam ja so gern. Sie brachte dann auch jedesmal
die Kinder mit, die sich Tage vorher auf die Fahrt nach
Allhöfen freuten.
Im Herrenhause von Allhöfen war es jetzt lange nicht mehr
so gemütlich wie früher. Und daran trug Karola die
Hauptschuld. Ihr früher so gutes Einvernehmen mit der
Tante war gestört, sie wurden sich fremder mit jedem Tag.
Fräulein Fritze litt sehr unter dieser Entfremdung, doch sie
tat nichts, um das Vertrauen der Nichte zurückzugewinnen.

Sie trug eine gleichmütige Miene zur Schau, obgleich sie
sich ernstliche Sorgen um Karola machte. Daß sie tagaus,
tagein schlechter Laune war, das störte sie nicht weiter,
doch daß sie immer blasser und schmaler wurde, das
beängstigte sie.
Was mochte sie wohl haben? Ein Leid konnte sie doch
nicht drücken. Sogar Winard hielt sich ihr fern, seit sie ihn
damals so ohne Grund angefahren hatte. Er war nicht
wieder in Allhöfen gewesen. Auch Malve und die Kinder
nicht. Also konnte sie sich auch über sie nicht geärgert
haben.
Vor allem beunruhigte es Fräulein Fritze, daß die Nichte

jetzt auffallend viel mit Elard zusammen war. Und so sehr
sie es vor der Wiederkehr Winards gewünscht hatte, daß
aus Karola und Elard ein Paar werden würde, so sehr
fürchtete sie es nun.
Am liebsten hätte sie den Inspektor von Allhöfen entfernt.
Aber erstens hatte sie keinen Grund, den tüchtigen
Beamten zu entlassen, und dann, was würde es nützen,
wenn beide sich einig waren? Wenn sie sich sehen und
sprechen wollten, würden sie immer einen Weg dazu
finden.
Ach, Tante Fritze war manchmal schon ganz verzagt!

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Warum Winard und die Seinen sich eigentlich nicht mehr
sehen ließen? Hatte Karolas Schroffheit sie so sehr

gekränkt, daß sie deshalb Allhöfen mieden?
Tante Fritze wartete noch eine kurze Zeit ab, dann lud sie
Winard, Malve und die Kinder ein.
Sie kamen denn auch am Sonntagnachmittag. Fritze
erschrak, als sie den jungen Arzt sah. Was hatte der Mann
denn? War er etwa krank? Auch Malve war blaß und noch
stiller als gewöhnlich, und die Kinder wagten schon gar
nicht mehr zu sprechen.
Die Begrüßung zwischen Karola und ihrem Gatten war so
höflich und unpersönlich, als wären sie sich vollkommen
fremd. Malve reichte der jungen Frau mit schüchternem
Lächeln die Hand, und die Kinder sahen sie so flehend an,

als müßten sie die Stiefmutter für ihr Dasein um
Verzeihung bitten.
Fräulein Fritze wurde es immer unbehaglicher zumute. Sie
wünschte ehrlich, daß nun endlich einmal ein reinigendes
Donnerwetter in diese unheimliche Schwüle brechen
möchte.
Und das kam denn auch, bevor Fräulein Fritze noch so
richtig ausgewünscht hatte.
Die Kinder waren nach dem Kaffee zu Ute gegangen, aus
deren Zimmer man bald darauf lautes Schreien hörte.
Schreckensbleich sprangen sie auf und eilten zu dem
kleinen Schreihals, der auf der Erde lag und außer sich vor

Angst und Schrecken zu sein schien.
Neben ihr standen die Zwillinge mit weißen Gesichtern
und angstgeweiteten Augen, während die Pflegerin nicht zu
sehen war. Und indes Tante Fritze die kleine Ute auf die
Arme hob, näherte sich der Vater den beiden Mädels.
»Was habt ihr der Ute getan?!« herrschte er sie an.
»Vater, wir haben keine Schuld – wir haben wirklich keine
Schuld!« jammerte Lorli zitternd vor Angst.
»Du lügst!« schrie der Vater zornig.
»Nein, Vater, ich lüge nicht – wahrhaftig nicht!«
Die Angst der Kinder war so erschütternd, daß Malve sich

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leise abwandte und selbst Tante Fritze die Tränen in die
Augen schossen. Sie wollte ihrem Herzen gerade so richtig

Luft machen, als plötzlich Karola vortrat und die Schulter
der Kinder wie schützend umfaßte.
»Laß die Mädel in Ruhe!« sagte sie kurz zu Winard, der sich
hastig über Stirn und Augen strich. »Du kannst sie doch
unmöglich strafen, bevor du den Vorgang kennst.
So, Kinder, nun werdet ihr mir erzählen, was vorgefallen
ist«, forderte sie die Kleinen auf, die sie wie ein Wunder
anstarrten. »Daß ihr nicht lügen werdet, weiß ich, dazu
habt ihr viel zu große Angst.«
»Nein, Mutti – wir lügen nicht – wir lügen überhaupt nicht
mehr«, schluchzte Lorli bitterlich. »Wir wissen es ja, wenn
wir lügen, dann müssen wir ins Internat zurück.«

»Das werdet ihr niemals«, entgegnete Karola zur
grenzenlosen Überraschung der andern. »Sprich nur weiter,
Lorli.«
»Ja, Mutti – liebe Mutti! Die Ute ist auf den kleinen Stuhl
geklettert - und – und wir hatten Angst, sie
herunterzuheben – und da – und da – «
»Ist sie runtergefallen, natürlich«, nickte Karola. »Das sieht
man schon an dem umgekippten Stühlchen.
Erzähle einmal, Utelein, wobei hast du dir Wehweh
gemacht?« wandte sie sich nun an die kleine Tochter, die
auf dem Arm der Tante saß und sich schon längst beruhigt
hatte.

»Da – da – «, zeigte sie wichtig nach dem umgekippten
Stühlchen.
»Und wie hast du das gemacht?«
Ute strebte vom Arm der Tante, lief zu dem Stuhl, und aus
ihren kletternden Bewegungen war klar zu ersehen, wie das
kleine Unglück geschehen war. Dabei plapperte sie
aufgeregt in ihrem Kauderwelsch.
»Siehst du, dafür wirst du einen Klaps bekommen«, sagte
Karola streng. »Ich habe dir doch schon so oft verboten, auf
das Stühlchen zu klettern.«
Doch ehe sie die Drohung wahrmachen konnte, trat

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Winard hinzu und hob das Töchterchen auf den Arm.
»Tu ihr nichts, Karola«, bat er – und da sah die junge Frau

ihn mit einem Blick an, vor dem er den seinen
niederschlagen mußte.
»So ist es richtig«, sagte sie nur langsam, doch wie wußten
alle sofort, was sie damit meinte.
Jetzt trat auch die Pflegerin ein, die mit erschrockenen
Augen auf die Gruppe schaute.
»Schwester Gerda«, sagte Karola in leicht verweisendem
Tone, »sie dürfen Ute nicht mehr allein lassen. Sie ist
wieder auf den Stuhl geklettert und heruntergefallen. Wenn
Sie das noch einmal bemerken sollten, dann sagen Sie mir
Bescheid. Dann muß das Kind dafür seine Strafe haben.«
»Ich habe nur die Milchflasche geholt.«

»Ist schon alles erledigt, Schwester Gerda. Ich weiß ja, daß
Sie jetzt doppelt aufpassen werden.
So – und nun gebt dem Schwesterchen die Hand«, wandte
sie sich an die Mädel. »Es muß jetzt nämlich schlafen
gehen.«
Schüchtern griffen die Kinder nach den Händchen, die sich
ihnen verlangend entgegenstreckten.
»Seht ihr, das gute Einvernehmen zwischen euch hat nicht
gelitten«, lächelte Karola.
Außer der Schwester und Ute gingen nun alle nach dem
Wohnzimmer zurück. Karola kümmerte sich nun nicht
weiter um die Mädel, die sich ihr auch nicht zu nähern

wagten.
Es war überhaupt eine Stimmung zwischen den Menschen,
die sich schwer beschreiben läßt. Man führte die
gleichgültigsten Gespräche mit einer Gründlichkeit, als
hinge wer weiß was davon ab. Dabei wagte einer den
andern nicht anzusehn.
Noch vor dem Abendessen brachen die Gäste auf. Der
Abschied war viel flüchtiger als sonst, so daß ein
Uneingeweihter hätte annehmen müssen, daß es zwischen
diesen Menschen zu Meinungsverschiedenheiten
gekommen sei, die sie gegenseitig verärgert hätten.

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»Tante Fritze, ist es dir unangenehm, wenn ich mich jetzt
zurückziehe?« fragte Karola, als sie mit der Tante allein war.

»Ich bin nämlich müde und möchte schlafen gehen.«
»Tue das nur, Kind, du siehst erschreckend blaß aus.«
Doch kaum war Karola im Bett, als die Tante bei ihr
erschien. Sie trug ein Tablett, das mit allerlei guten Dingen
bestellt war.
»So, ich werde bei dir Abendbrot essen«, lachte sie vergnügt
wie schon lange nicht mehr. »Elard ist zur Stadt gefahren,
allein schmeckt es mir nicht.«
Sie stellte das Tablett auf den Tisch und trat an das Bett der
Nichte. Mit einer weichen Gebärde nahm sie das Gesicht
der jungen Frau zwischen die Hände und küßte sie fest auf
den Mund.

»So, mein Kind, das war ich dir schuldig. Du hast dich
heute wirklich schneidig benommen.«
»Ach, laß doch, Tante Fritze«, wehrte Karola verlegen ab.
»Wenn ich nicht dazwischengetreten wäre, dann hättest du
es doch getan.«
»Allerdings. Aber so war es schöner«, lachte das Fräulein
vergnügt. »Hast heute viel gutgemacht, Mädel. Und das
freut mich. Ich will stolz auf meine Nichte sein.«
»Tante Fritze, wie kannst du nur so viel Aufhebens von
einer Selbstverständlichkeit machen. Das ist doch sonst
nicht deine Art.«
»Das war heute keine Selbstverständlichkeit, Karola. Dein

plötzliches Eintreten für die Kleinen, die du bisher
überhaupt nicht beachtet hast, wirkte überraschend. Und
weil ich dich so genau kenne und weiß, wie schwer du
deine Haltung einem Menschen gegenüber änderst, so
möchte ich gern wissen, was dich dazu bewogen hat, dich
so plötzlich deiner Stiefkinder anzunehmen und für sie
einzutreten. – Nun, mein Kind, hast du denn jedes
Vertrauen zu deiner Tante verloren?«
»Nein, Tante Fritze, nein!« beteuerte sie hastig. »Ich hab
dich lieb, das weißt du doch. – Ich – ich habe nämlich
damals die Aussprache mit angehört, die du mit Malve

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hattest. Habe gehört, wie streng die Kinder jetzt gehalten
werden – und nun – und nun – «

»Nun tun sie dir leid. Recht so, Mädel, jetzt kenne ich
endlich meine warmherzige Karola wieder. Wenn du erst
soweit bist, dann wird dir deine Verantwortung und deine
Pflicht – «
»Tante Fritze! Bitte – ich kann die Worte: Verantwortung
und Pflicht schon gar nicht mehr hören«, flehte die junge
Frau.
»Und doch wirst du sie nicht nur immer wieder hören,
sondern endlich ihren Sinn erfassen müssen in seiner
schwersten, tiefsten Bedeutung, wenn du dir noch selber
frei in die Augen schauen willst«, sprach die Tante unbeirrt
weiter. »Wohin sollten wir Menschen wohl kommen, wenn

wir, was uns den Worten nach schon unbequem ist,
einfach von uns abschieben wollten?
Glaube nur nicht, daß es nicht auch in meinem Leben
Stunden gegeben hat, in denen ich gegen mein Schicksal
gemurrt und geklagt habe. Wo ich heiße, törichte Wünsche
hegte, von denen ich doch genau wußte, daß sie nie
Erfüllung finden konnten. Langsam, sehr langsam sogar,
habe mich zu einer Erkenntnis durchgerungen, die mir zur
Richtschnur geworden ist. Ich will dir diese Worte nennen,
an denen ich mich immer wieder aufgerichtet habe, wenn
es einmal wieder dunkel und trübe in mir aussah:

Was ist dein Glück, du Menschenkind?
O, glaube doch mitnichten,
daß es erfüllte Wünsche sind,
es sind erfüllte Pflichten!«

*

Karola kam auf den Hof geritten, als das Auto Winards
gerade vor dem Herrenhause hielt. Rasch saß sie ab und
schritt auf den Gatten zu, der sie bereits erspäht hatte und
ihr auf halbem Wege entgegenkam.

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»Ich sehe dir an, Karola, wie sehr du dich wunderst, mich
zu so ungewohnter Zeit hier zu sehen«, begrüßte er sie mit

spöttischem Lächeln. »Ich werde dich auch nicht lange
aufhalten, will dich nur kurz sprechen.«
»Bitte«, entgegnete sie kühl, wobei sie ihm voran ins Haus
schritt. Im Wohnzimmer nahmen sie Platz.
Doch Winard hielt es nicht lange auf seinem Sitz. Er sprang
auf und lief erst einige Male im Zimmer umher, als müsse
er noch hinausschieben, was er seiner Frau zu sagen hatte.
»Karola«, begann er dann, vor ihr stehenbleibend. »Ich
möchte in den nächsten Tagen in meinem Hause ein Fest
geben, zu dem ich meine Kollegen und die Beamten des
Sanatoriums mit ihren Frauen, soweit sie welche haben,
einladen werde. Es werden auch einige Persönlichkeiten

der Stadt zugegen sein, mit denen ich Umgang pflegen
muß.
Da es nun das erste Fest ist, das ich gebe, so möchte ich
dich bitten, wenigstens an diesem Abend den Platz
einzunehmen, der dir gebührt und auf den du nach Pflicht
und Gesetz gehörst. Dabei möchte ich gleich dem
Getuschel, das in der Stadt über uns im Umlauf ist, ein
Ende setzen.
Diese Feste in unserem Hause, die ich dann und wann zu
geben verpflichtet bin, werden nie eine reine Freude sein,
da ja nicht ein vertrauter Kreis zusammenkommt, wie zum
Beispiel im Hause deiner Tante, sondern Gute und Böse

durcheinander. Und weil wir daher vielen neugierigen und
argwöhnischen Blicken ausgesetzt sein werden, so bitte ich
dich, ganz besonders auf deine Haltung zu achten.«
»Und weiter?«
Er durchquerte wieder einige Male das Zimmer, als müsse
er sich für das, was er noch zu sagen hatte, sammeln.
»Karola«, sagte er, um vieles unsicherer als vorher, da er
nun wieder vor seiner Frau stand. »Ich möchte dich darauf
aufmerksam machen, daß du an diesem Abend auch
meiner Schwiegermutter begegnen wirst. Sie vertritt doch
nun einmal die Hausfrau, und da geht es natürlich nicht

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an, daß sie aus der Gesellschaft ausgeschlossen wird. Wie
ich ihr ja überhaupt den Platz zu geben gedenke, der ihr in

meinem Hause zukommt. Hat sie mir in schweren Zeiten
zur Seite gestanden, so soll sie auch die guten mit mir
zusammen genießen.«
»Ich weiß gar nicht, warum du so viele Worte deswegen
machst«, wehrte Karola kühl ab. »Du kannst in deinem
Hause doch machen was dir paßt und was du für richtig
hältst.«
»Nun ja – gewiß. Aber du bist doch meine Frau, der noch
größere Rechte in meinem Hause zustehen. Und da dir von
meiner Schwiegermutter doch so viel Unbill gekommen ist
– «
»Lassen wir das!« winkte sie unwillig ab. »Ich bin nicht

nachtragend.«
»So -?« fragte er nur. Doch dieses eine Wort klang so
vielsagend, so inhaltsschwer, daß Karola zusammenzuckte
und bis in die Lippen erblaßte.
Allein, sie hatte bei ihrer Tante ja so viel gelernt und
darunter auch Selbstbeherrschung.
»Wann soll das Fest stattfinden?« fragte sie mit einer
Gelassenheit, als hätte sie seine Bemerkung gar nicht
gehört.
»Am 28. September.«
Sie sann seinen Worten nach, und dann preßten sich ihre
Lippen aufeinander, daß sie nur noch ein schmaler Strich

waren.
Der 28. September – ihr Hochzeitstag! War es nun Zufall
oder Absicht, daß er gerade diesen Tag gewählt hatte?
Wie fragend sah sie zu ihm auf und hatte dann auch gleich
die Antwort auf ihre stumme Frage.
»Ich möchte dir diesen Tag nämlich ein wenig ins
Gedächtnis zurückrufen, Karola«, sagte er langsam und
schwer. »Ich fürchte, daß du ihn sonst ganz und gar
vergessen könntest.«
»Daß es nicht geschieht, dafür sorgst du ja schon zur
Genüge.«

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»Wie soll ich das verstehen, Karola?!«
»Genauso, wie es gemeint ist.«

Hart und scharf fielen Frage und Antwort.
O ja, es waren wirklich zwei gleichwertige Gegner, die sich
hier gegenüberstanden. Karola hielt seinem drohenden
Blick stand, ohne mit der Wimper zu zucken.
Der Mann wandte sich zuerst ab. In seinen Augen war ein
Ausdruck, der Karola davor warnte, ihn noch mehr zu
reizen.
»Ich erwarte dich also in drei Tagen in meinem Hause«,
fuhr er in einem Tone fort, der von vornherein jede
Ablehnung ausschloß. »Um achtzehn Uhr beginnt das Fest,
aber es wäre mir lieb, wenn du dich schon früher einfinden
wolltest. Das Kleid, das du an dem Abend tragen sollst,

findest du vor; ich wünsche, daß du in meinem Hause nur
Sachen trägst, die ich bezahlt habe.«
Er schwieg augenblickslang, als erwarte er nun doch eine
Auflehnung der Gattin. Doch als sie nur gleichmütig nickte,
sprach er weiter:
»Außer Tante Fritze werde ich auch Herrn Elard zu dem
Fest bitten.«
»Er wird bestimmt die Einladung ablehnen«, warf Karola
unbedacht ein. Und kaum hatte sie ausgesprochen, als sie
diese Worte auch schon bereute.
Winard sah sie mit einem scharfen, durchdringenden Blick
an, unter dem ihr das Blut ins Gesicht schoß.

»So -?« fragte er scharf. »Woher weißt du das denn vorher?
Kennst du den Herrn bereits so genau?«
»Albrecht, ich verbitte mir das!« fuhr sie erzürnt auf.
»Du tust das? Ich glaube, daß eher ich es mir verbitten
müßte, daß du dem Manne gestattest, dir wie ein Schatten
zu folgen. Das paßt mir schon lange nicht mehr, ich will
nicht zum Gespött meiner Mitmenschen werden!«
Karola sah ihn mit einem so spöttischen, überlegenen Blick
an, daß er Mühe hatte, sich zu beherrschen.
»Also du kommst zu dem Fest?« fragte er ablenkend.
»Ja.«

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»Ich danke dir. Nun möchte ich noch das Kind begrüßen,
dann muß ich eilen, daß ich nach Hause komme. Ich habe

mir diese Stunde abstehlen müssen.«
Sie fanden Ute in ihrem Spielzimmer. Als sie den Vater
erkannte, kam sie mit ausgebreiteten Ärmchen
entgegengelaufen. Winard hob sie zu sich empor. Und als
Karola sah, wie zärtlich er zu dem Kinde sprach, wie
nachsichtig er selbst bei einer Unart, die eine
Zurechtweisung verdient hätte, lächelte, da fielen ihr
unwillkürlich die Zwillinge ein.
Dort Strenge bis zur Härte – hier überströmende
Zärtlichkeit und Nachsicht bis zur Schwäche.
Und doch waren es seine Kinder genauso wie die kleine
Ute.

Drei Tage später fuhr Karola in das Haus des Gatten. Er
hatte ihr den großen Wagen geschickt, was die Tante, die
schon im Festkleid war, befriedigte. In diesem Wagen hatte
man viel Platz, da brauchte man nicht zu fürchten, daß
man mit einem zerdrückten Kleid dort ankam.
Elard hatte tatsächlich die Einladung abgelehnt, was
Fräulein Fritze außerordentlich befremdete. Sie fragte die
Nichte, ob sie den Grund seiner Ablehnung wüßte, doch
die schwieg dazu und lächelte. Da sah die Tante Karola
sehr mißtrauisch an.
Karola hatte Mühe, ihre Erregung zu verbergen. Eine
bebende Angst vor den nächsten Stunden wühlte in ihr, die

sie zaghaft und unsicher machte.
Was sollte überhaupt die ganze Komödie? Nur, um den
Menschen keinen Grund zum Gerede zu geben, mußte sie
Gastgeberin in einem Hause spielen, das ihr fremd war und
mit dem sie nichts zu schaffen haben wollte.
Müßte es nicht ein schadenfrohes Gefühl ohnegleichen
sein, der Gesellschaft, an deren Meinung dem Gastgeber so
viel lag, zu erklären: Seht her, euer Gastgeber hat mich
hierhergeholt und mich an einen Platz gestellt, der mir gar
nicht mehr zukommt. Und wäre ich nicht freiwillig
gekommen, dann hätte er mich dazu gezwungen, wie er

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mich ja auch zwingt, eine Ehe anzuerkennen, die schon
längst keine mehr ist. Ich möchte laufen, so weit mich

meine Füße tragen und muß doch hierbleiben. Muß
lächeln und lügen, wo ich weinen möchte und die
Wahrheit laut hinausschreien.
Ja, dann würde man sich wohl sehr wundern über den
Herrn Doktor.
In wenigen Minuten schon war das Ziel erreicht.
Weich und fast geräuschlos hielt der Wagen vor dem
weißen, schloßartigen Gebäude, das mit seinen
heruntergelassenen Rolläden wie unbewohnt wirkte. Doch
kaum hatten die Damen den Wagen verlassen, als auch
schon die großen Lampen über dem Portal aufflammten.
Ein Diener eilte die Stufen herab und führte die Besucher

in die große Halle, wo der Hausherr ihnen entgegenkam.
Artig hieß er zuerst Fräulein Fritze willkommen, dann
wandte er sich der Gattin zu, die mit blassem Gesicht und
hängenden Armen dastand.
»Willkommen in deinem Hause, Karola«, sagte er, wobei er
jedes Wort betonte. Mit einer Gebärde, die etwas
Besitzergreifendes hatte, zog er ihren Arm in den seinen
und führte sie seiner Schwiegermutter zu, die abseits stand.
Karola sah nun nach fast zwei Jahren ihre Peinigerin
wieder. Aller Groll, den sie gegen diese Frau hegte, stieg
mächtig in ihr auf und ließ sie erzittern unter einem
zornigen Gefühl.

Nie – nie wieder hatte sie mit ihr zusammentreffen wollen
– und nun mußte sie hier so ruhig stehen – mußte gar
noch lächeln. Und nur, weil dieser harte Mann an ihrer
Seite sie immer wieder zwang, gegen ihren Willen und
gegen ihr Gefühl zu handeln. Dazu legte sich jetzt noch
eine große, feste Hand über ihr zitternden Hände, und
Karola mußte auch das dulden, wenn sie den Gatten nicht
bloßstellen wollte.
Nein, das kann ich nicht ertragen, dachte sie in stiller
Verzweiflung. Ich laufe einfach davon. Man kann mich
doch nicht zwingen.

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Und doch zwang sie etwas: der Blick der Frau, der so groß
und flehend an ihr hing. So viel Gram und Schmerz lag

darin, daß Karola wider Willen davon berührt wurde.
Wenn Albrecht schon so streng zu seinen Kindern war, wie
mochte er dann wohl mit dieser Frau umgehen, schoß es
Karola durch den Sinn. Ihr damals noch dunkles Haar war
wohl nicht umsonst so stark ergraut) und die scharfen
Linien in dem müden Gesicht zeugten von Gram und
Kummer.
Und diese Erkenntnis half Karola, ihren tiefen Groll so weit
zu überwinden, das sie Frau Boseit die Hand
entgegenstrecken konnte.
Das alles dauerte nur wenige Sekunden. Doch die
Danebenstehenden, die ja das Verhältnis der Frauen

zueinander kannten, hielten bei dieser Begrüßung vor
Spannung den Atem an. Und während Winard tief und
schwer aufatmete, nickte Fräulein Fritze zufrieden vor sich
hin.
Ja, ihre Karola, die machte sich! Das würde noch einmal
ein Menschenkind werden, auf das man mit Recht stolz
sein konnte.
Die Begrüßung zwischen Malve und Karola fiel heute
schon herzlicher aus, was außer Tante Fritze auch der
Hausherr befriedigt bemerkte.
Immer fester drückte er den zitternden Frauenarm gegen
seine Brust – und Karola mußte es schweigend dulden.

Was fiel ihm eigentlich ein, so vertraulich zu sein? Daß sie
seiner Aufforderung, in sein Haus zu kommen, gefolgt war,
das berechtigte ihn noch lange nicht, sie so vertraut zu
behandeln!
»Ich werde dich jetzt in dein Zimmer führen, Karola, damit
du dich umkleiden kannst«, erklärte der Hausherr nun. Er
war schon im Frack und wirkte in dieser Umgebung noch
vornehmer, noch eleganter als auf dem Fest in Allhöfen.
Die großartige Umgebung bedrückte Karola so ungemein,
daß sie fast scheu dem Gatten folgte. Es ging die breite
Treppe hinauf, die mit schwellenden Läufern belegt war,

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durch eine behaglich ausgestattete Diele, die so
anheimelnd wirkte.

Winard hielt den Arm Karolas in dem seinen und gab ihn
erst frei, als sie in einem Zimmer standen, über dessen
Schönheit und Eleganz Karola wohl in helles Entzücken
geraten wäre, wenn es ihre Verwirrung und Bestürzung
zugelassen hätte. Kostbare Teppiche in lichten Farben,
zierliche Sessel, Sofas, Tische und Schreibtisch – alles war
so licht und hell wie der ganze Raum, so wundervoll
harmonisch und traulich.
Die große Glastür war weit geöffnet und ließ den Blick ins
Schlafzimmer frei, das dem Wohnzimmer an Schönheit
und Eleganz gewiß nicht nachstand.
Und überall, wohin nur das Auge schaute, standen in

Schalen und Vasen Rosen – tiefdunkle Rosen.
»Sieh dich nur gut in unserem Nestchen um«, sprach nun
der Gatte in ihre immer größer werdende Verwirrung
hinein, wobei er auf das Wort ›unserem‹ eine starke
Betonung legte. »Die zweite Tür des Schlafzimmers führt
nach deinem Ankleideraum, dort findest du alles, was du
brauchst. Kleide dich nur in aller Ruhe um, ich werde dich,
kurz bevor die Gäste kommen, von hier abholen.«
Die Damen starrten noch immer auf die Tür, die sich schon
längst hinter ihm geschlossen hatte.
Dann ließ sich Karola überwältigt in den nächsten Sessel
fallen.

»Tante Fritze – verstehst du das?« fragte sie fassungslos.
»Nein, mein Kind – das muß hier einfach nicht mit rechten
Dingen zugehen«, erwiderte sie, nicht weniger betroffen als
die Nichte. »Das ist ja eine Pracht hier, daß man aus einer
Bewunderung in die andere fällt.
Wenn dein Mann als Leiter des Sanatoriums auch gut
angestellt ist, so können seine Einnahmen doch lange nicht
ausreichen, um sich ein solches Heim einzurichten und zu
unterhalten. Schon der Anblick der Halle überraschte mich
– aber das hier ist einfach überwältigend.
Wollen einmal sehen, was hinter dieser Tür ist. Aha, da

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geht es auf den Balkon. Und hier?«
Sie öffnete die dritte Tür und stieß einen Ruf der

Bewunderung aus.
»Karola, komm, sieh dir das an! Die Einrichtung muß ein
kleines Vermögen gekostet haben«, zeigte sie auf das
Herrenzimmer. »Also du befindest dich in den
Privatgemächern des Ehepaares Winard«, erklärte sie
großartig, wobei es in ihren Augen nur so lachte und
blitzte.
»Tante Fritze – das – das ist gemein!« stieß Karola heftig
hervor. »Nun durchschaue ich auch den ganzen Plan.
Albrecht will mir seine Macht beweisen, will mich mit
Gewalt zu etwas zwingen, wozu ich mich freiwillig nicht
entschließen kann. Sieh dir das doch alles an! Das ist

einfach ein trauliches Nestchen für ein harmonisches
Ehepaar!«
»Allerdings! Und daraus ist klar zu ersehen, daß Albrecht
an eine Trennung von dir jetzt weniger denkt denn je. Er ist
von einer Beharrlichkeit, an der dein Widerstand langsam
aber sicher zerbrechen muß.«
»Wenn du dich nur nicht irrst«, entgegnete die junge Frau
mit einem sonderbaren Lächeln, das die Tante beunruhigte.
»Karola, du wirst es doch nicht auf einen Skandal
ankommen lassen?«
»Nein, durchaus nicht. Ich möchte mir nicht zum Vorwurf
machen lassen, daß ich seinem Ansehen geschadet habe«,

gab sie mit einer Ruhe zurück, die Fräulein Fritze höchst
unbehaglich war.
»Weißt du, mein Kind, du erscheinst mir eigentlich – zu
vernünftig«, forschte sie mißtrauisch. »Ist das bei dir
vielleicht die vielgenannte Ruhe vor dem Sturm?«
»Tante Fritze, es muß dir genügen, wenn ich dir erkläre,
daß ich mich heute so benehmen werde, wie es von mir
verlangt wird. Ich habe nämlich bei dir unter vielem
andern, was mir bis vor zwei Jahren noch fremd war,
hauptsächlich eins gelernt: Mich beherrschen.«
»Siehst du, Mädel, das freut mich! Dann wird es zwischen

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euch beiden hier auch hoffentlich zu einer endgültigen
Verständigung kommen. Und das würde mich aufrichtig

freuen, Karola. Du weißt ja, daß ich zuerst nicht viel von
deinem Manne hielt. Doch je näher ich ihn kennenlerne,
um so größere Achtung nötigt mir sein ganzes Verhalten
ab.«
»Auch daß er mich unter falschen Voraussetzungen in sein
Haus gelockt hat?« fragte Karola nun böse.
»Kind, damit will er doch nur einen meiner Zweifel, die ich
ihm bei unserer ersten Unterredung zu bedenken gab,
entkräften. Ich gab ihm nämlich zu verstehen, daß er dir
nie ein solches Leben bieten könnte, wie du es in Allhöfen
führst. Und er machte nicht viele Worte darum - er
handelte, schuf dir hier ein kleines Paradies – «

»Ja, um dieses Paradies zu schaffen, hat er wahrscheinlich
Schulden gemacht«, unterbrach sie die Tante erregt. »Denn
so viel Geld, um das alles hier bar zu bezahlen, kann er
sich in den noch nicht einmal zwei Jahren unmöglich
verdient haben. Also gibt es nur die eine Möglichkeit, daß
er erhebliche Schulden gemacht hat, die er wahrscheinlich
nie im Leben wird begleichen können. Es wäre daher viel
aufrichtiger gewesen, wenn er mir seine Verhältnisse
klargelegt, mich bei der Einrichtung der Wohnung zu Rate
gezogen hätte und – «
»Um sich bei dir eine gehörige Abfuhr zu holen«, warf die
Tante trocken ein. »Du hast doch immer alles, was ihn

betraf, weit von dir geschoben, wie sollte er da auch noch
mit Klarlegungen und Auseinandersetzungen kommen?
Nein, er machte nicht viele Worte, er handelte. Zog dich
mit Gewalt hierher, weil er wußte, daß du gutwillig nicht
sobald, vielleicht nie kommen würdest. Und da er fest
entschlossen ist, seine Ehe aufrechtzuerhalten, so ist es
doch nur verständlich, daß er seine Frau in seinem Hause
haben will. Dazu ist er schon rein äußerlich gezwungen,
denn seine Stellung verlangt auch ein Privatleben, in dem
alles klar und durchsichtig ist. Es ist doch nun leider
einmal so, daß sich die lieben Nächsten immer darum am

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meisten kümmern, was sie am wenigsten angeht.«
»Magst recht haben, Tante Fritze. Und deshalb lehne ich

mich auch heute nicht auf, sondern werde die Komödie
mit Haltung zu Ende spielen.«
Sie schritt der Tante, die zufrieden vor sich hinnickte, voran
durch das Ankleidezimmer der offenen Tür zu, die zum
Ankleideraum führte.
»Ah – ein Traum in Grün und Gold«, bemerkte Tante Fritze
bewundernd. »Nichts zu machen, dein Mann hat
Geschmack, Kleine. Sieh dir nur diesen Tisch an. Darauf
fehlt nichts, was eine schöne Frau braucht. Sogar sein Bild
hat er dir hingestellt, damit du ihn immer vor Augen hast,
wenn du dich schmückst- und ja nicht vergißt, für wen du
dich zu schmücken hast.

Und diese wundervollen Rosen – «
»Tante Fritze, hör bloß endlich auf!« fiel ihr die Nichte
unmutig ins Wort. Ein bitterböser Blick streifte die
gutgelungene Aufnahme des Gatten.
Schien es nicht, als schauten diese grauen durchdringenden
Augen mit spöttisch-überlegenem Blick zu ihr hin? Als
wollten sie fragen: Was hat dir dein Sträuben genützt? Ich
habe dich ja doch nun hier, wohin ich dich haben wollte!
Karola preßte die Lippen aufeinander und wandte sich den
Dingen zu, die für sie bereit lagen. Es war alles vorhanden,
was zu einer Festtagsgarderobe gehörte.
Und doch hatte sich wohl nie eine Frau unlustiger zu

einem Fest geschmückt, als es Karola tat. Dabei sah sie
berückend schön aus in dem duftigen Gewand.
Tante Fritze hatte sich unterdessen in der fremden
Umgebung umgesehen. Behutsam öffnete sie die schmale
Tür, die der breiten, zum Schlafzimmer führenden,
gegenüber lag. Sie schaute in einen sehr behaglich
eingerichteten Baderaum.
»Für die Reinlichkeit ist auch gesorgt!« rief sie der Nichte
lachend zu. »Und was liegt nun wohl noch hinter dieser
Tür?
O, Karola, komm doch einmal rasch her – das ist ja einfach

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goldig!«
Nicht gerade sehr erfreut eilte die Nichte hinzu und sah

über der Tante Schulter hinweg in ein Kinderzimmer, das
wirklich ganz allerliebst war. Alles war licht und hell, in
weiß und blau gehalten. Der geöffnete Spielschrank ließ
allerlei Spielkram sehen.
Also war es wohl kein Zweifel, daß dieses Zimmer Ute
gehören sollte. Nebenan befand sich noch ein kleines
Gemach, das wohl für die Pflegerin des Kindes bestimmt
war – und damit war die Wohnung nun wirklich
vollkommen.
»Nun, Karola, mehr kannst du doch wirklich nicht
verlangen«, schmunzelte die Tante. »Dein Mann hat
tatsächlich an alles gedacht. Komisch wird es mir ja

vorkommen, wenn ich euch nicht mehr bei mir habe – «
»Glaube doch das nicht, Tante Fritze!« wehrte die junge
Frau hastig ab.
»Laß uns jetzt ins Wohnzimmer zurückgehen, damit
Albrecht uns darin vorfindet, wenn er kommt.«
»Richtig, du bist ja schon angekleidet. Laß dich anschauen,
Kind. Einfach bezaubernd! Nun, dein Mann kann mit dir
zufrieden sein. Den männlichen Gästen seines Hauses wirst
du bestimmt gefallen«, meinte Tante Fritze.
Sie folgte lachend der Nichte, die es sehr eilig zu haben
schien, ins Wohnzimmer, und kaum hatte sie es betreten,
als es klopfte. Auf ihr ›herein‹ erschien jedoch nicht der

Hausherr, sondern Malve, die mit verlegenem Lächeln
näher trat.
»Entschuldigen Sie, daß ich Sie hier aufsuche«, bat sie. Ihre
Augen hingen dabei an der jungen Frau, die unter diesem
ehrlich bewundernden Blick tief errötete.
»Wünschen Sie etwas von mir, Fräulein Doktor?« fragte sie
zurückhaltend.
»Wünschen nicht, Frau Karola – ich habe eine Bitte. Die
Zwillinge möchten Sie so gern sehen. Für eine Minute nur«,
setzte sie hastig hinzu, als sie Karolas abwehrende Miene
bemerkte. »Weil sie doch kürzlich so lieb zu den Kleinen

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waren, wage ich, Sie darum zu bitten.«
»Führen Sie mich bitte zu ihnen«, entgegnete die junge

Frau nach einigem Zögern.
Malve dankte erfreut und schritt den Damen voran bis ans
Ende der Diele. Sie wollte die Tür zu dem Zimmer der
Mädel öffnen, als eine scharfe, befehlende Stimme sie
zögern ließ.
»Also nun wißt ihr Bescheid. Ich will nicht noch einmal
dahinterkommen, daß ihr eure Tante mit Wünschen
belästigt. Wenn ihr etwas haben wollt, dann wendet euch
zuerst an mich, ich werde dann entscheiden, ob eure
Wünsche töricht oder erfüllbar sind. So hätte ich euch
gleich sagen können, daß eure Stiefmutter gar nicht daran
denken wird, zu euch zu kommen – «

Jetzt hielt Malve es für angebracht, an die Tür zu klopfen
und damit den Redestrom der gestrengen Dame zu
unterbrechen. Sofort wurde es still, die Tür wurde von
innen geöffnet und man stand der Erzieherin der Kinder
gegenüber, die hauptsächlich Karola mit grenzenloser
Überraschung musterte. Malve stellte die Damen vor.
Nein, sie gefiel Karola nicht, diese große, dürre Person. Sie
mochte wohl eine gewissenhafte Erzieherin sein – eine zu
gewissenhafte sogar-, aber die richtige Betreuerin für die
verschüchterten Zwillinge war sie sicherlich nicht. Die
konnten diese würdige Dame höchstens fürchten, doch nie
Vertrauen zu ihr haben.

Sehr empfindlich schien sie auch zu sein, denn sie zog sich
mit beleidigter Miene zurück. Wahrscheinlich hatten die
beiden fremden Damen sie nicht genügend beachtet.
Diese hatten jedoch etwas anderes zu tun, als sich mit dem
Fräulein zu beschäftigen. Karolas Blick schweifte befremdet
durch das Zimmer, das sehr einfach eingerichtet war, und
unwillkürlich verglich sie es mit dem für Ute bestimmten.
Ihr Blick traf den der Tante, und da wußte sie, daß Tante
Fritze dasselbe dachte.
Karola wandte sich den Kindern zu, die sich
engumschlungen haltend, im Bett saßen und ihr mit

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großen bittenden Augen entgegensahen.
Und unter diesen bettelnden, hungrigen Kinderaugen

schwand auch der letzte Rest der Abneigung, die Karola
den Kleinen entgegengebracht hatte.
In ihrer Hand lag es doch, den verschüchterten Kleinen ihr
Dasein hell und froh zu machen. Das Schicksal ist schnell
zum Vergelten bereit. Wenn es nun einmal alles so wenden
wollte, daß es ihrer zärtlich geliebten Ute einmal so
ergehen sollte wie diesen Kindern? Sie, Karola, brauchte ja
nur zu sterben, Tante Fritze auch – dann war es doch sehr
möglich, daß Ute eine Stiefmutter bekam, die ihr so
gegenüberstand, wie sie jetzt den Zwillingen!
Rasch, als dürfe sie keine Sekunde mehr versäumen, setzte
Karola sich zu den Kleinen auf das Bett.

»Nun, Mädels, da bin ich«, sagte sie, sich zu einem frischen
Ton zwingend. »Habt ihr mir etwas zu sagen?«
»Nein«, entgegnete Dorli schüchtern. »Nur sehen wollten
wir dich.«
»Nur so ein ganz klein bißchen«, fügte Lorli mit zaghaftem
Lächeln hinzu.
»Das könnt ihr haben, so oft ihr wollt«, ermunterte die
junge Frau. »Ihr müßt nur recht oft nach Allhöfen
kommen. Wollt ihr das?«
Ein eifriges Nicken der Kinderköpfe.
»Dann werden wir uns richtig anfreunden.«
Wieder das Nicken.

»Dann dürft ihr euch aber nicht mehr vor mir fürchten«,
sagte Karola herzlich, indem sie ihre Arme um die
Kinderkörper legte, über die ein heftiges Zittern lief.
»Jetzt fürchten wir uns auch nicht mehr vor dir, liebe
Mutti«, beteuerte Dorli leise. »Aber hinter der Tür steht
sicherlich Fräulein Dotz und lauscht und – und – «
»Was weiter, Dorli? Du kannst ruhig zu Ende sprechen.«
»Dann erzählt sie morgen dem Vater, daß wir dich belästigt
haben«, flüsterte Lorli nun tapfer weiter. »Und das hat er
uns streng verboten.«
»Oder wir müssen ins Internat«, schluchzte Dorli

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dazwischen. »Dann können wir dich nicht mehr sehen –
auch Ute nicht – auch die Tanten nicht. Du glaubst nicht,

wie wir uns gesehnt haben.«
Karola mußte erst schlucken, bevor sie sprechen konnte.
»Kinder, ich habe euch doch neulich schon gesagt, daß ich
es nicht dulden werde, wenn der Vater euch ins Internat
zurückbringen will«, sagte sie eindringlich. »Und wenn ihr
meint, daß euch irgendwie Unrecht geschieht, dann erzählt
ihr das fortan mir. Einverstanden?«
Zwei Augenpaare sahen sie ungläubig an. »Das dürfen wir,
Mutti?« fragte Dorli atemlos. »Dürfen unserer Mutti alles
erzählen wie andere Kinder?«
»Natürlich, ihr Dummchen. Ihr seid doch jetzt meine
Kinder.«

»Wie Ute?«
»Ja – wie Ute.«
»Deine Kinder!« wiederholte Lorli andächtig. Schüchtern
streichelte ihre Hand über Karolas Gesicht.
»So eine schöne Mutti sollen wir haben?«
»Na, höre einmal!« lachte Karola lustig, um keine
Rührseligkeit aufkommen zu lassen. »Du machst mich ja
eitel! Ich will nicht nur eine schöne, sondern auch eine
gute Mutti sein. Aber heute muß ich euch leider verlassen,
weil die Gäste bald kommen werden. Morgen hole ich
euch nach Allhöfen, dann können wir weiter plaudern.«
Karola fühlte sich von vier Kinderarmen umschlungen,

fühlte zwei weiche Wangen an den ihren.
Was kümmerten sie die fassungslosen Blicke Tante Fritzes
und Malves? Sie hatte nur getan, wozu das Gewissen sie
trieb – und was sie längst schon hätte tun müssen. Diese
Kinder brauchten sie, es war ihre Pflicht, sich um sie zu
kümmern. Mochten sie ihr einst viele traurige Stunden
bereitet haben, so waren sie schließlich nicht dafür
verantwortlich zu machen. Dafür sie nun ein Leben lang zu
strafen, wäre hart und ungerecht.
Und wurde ihre Überwindung nicht schon allein durch die
glänzenden Kinderaugen belohnt?

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Sie strich über die blonden Köpfe der Kleinen und
verabschiedete sich von ihnen mit dem Versprechen, sie

morgen nach Allhöfen kommen zu lassen. Tante Fritze
sagte ihnen auch noch einige herzliche Worte, und dann
gingen die Damen wieder ins Wohnzimmer zurück.
»Nein, dieses Fräulein Dotz gefällt mir nicht«, erklärte
Fräulein Fritze, als sie sich in einen Sessel sinken ließ. »Das
ist doch eine übriggebliebene Gouvernante, die ins
Museum gehört. Daß Albrecht ihr seine Kinder anvertraut,
wundert mich.«
»Und schlimm ist, daß sie ihn von ihrer Unfehlbarkeit hat
so ganz und gar überzeugen können«, nickte Malve mit
traurigem Lächeln. »Er glaubt blindlings, was sie sagt, und
weiß nicht, wie unrecht er den Kleinen damit oft tut. Mir

blutet das Herz – «
»Es wird ja alles anders werden«, begütigte Fräulein Fritze.
»Denn Karola hat sich ja jetzt endlich davon überzeugen
lassen, wie nötig die Kinder sie brauchen.«
»O, Frau Karola, die Kleinen würden Ihnen Ihre Fürsorge
mit ganzem Herzen danken.«
»Das brauchen sie gar nicht«, wehrte die junge Frau
verlegen ab. Sie war froh, als nun der Gatte eintrat.
»Schon angekleidet, Karola? Das freut mich«, sagte er mit
einem bewundernden Blick auf die holde Frau.
»Wunderschön bist du, Kind!«
»Ich habe ihr auch schon erklärt, daß sie zum mindesten

Ihren männlichen Gästen gefallen wird«, lachte Fritze.
»Verschling mich nur nicht mit deinen bösen Blicken,
Kleine, ich bin ja auch schon ganz still.«
Winard zog lächelnd aus seiner Fracktasche ein Etui, das er
aufspringen ließ. Karola mußte die Augen schließen vor
dem Blitzen und Sprühen des Geschmeides. Abwehrend
legte sie die Hände gegen die Brust des Gatten, der ihr das
breite Halsband umlegen wollte.
»Albrecht, nein – ich mag das nicht!« wehrte sie mit
entsetztem Blick. »Soviel ich beurteilen kann, ist der
Schmuck echt.«

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»Natürlich ist er das«, gab er gelassen zu. »Glaubst du, ich
würde es meiner Frau zumuten, unechten Schmuck zu

tragen?«
»Wo hast du den aber her -?«
»Gestohlen habe ich ihn nicht, beruhige dich nur«, lächelte
er spöttisch.
Karola preßte die Lippen aufeinander, damit ihr kein
heftiges Wort entschlüpfen konnte. Am liebsten hätte sie
sich ja gegen den Schmuck gewehrt - allein, etwas in den
Augen des Gatten warnte sie davor, eine Unbedachtsamkeit
zu begehen. Daher ließ sie es schweigend geschehen, daß
er ihr den Schmuck um Hals und Arme legte. Aus ihrer
ganzen Haltung war aber zu entnehmen, daß sie mit dem
Tun des Gatten durchaus nicht einverstanden war, was er

jedoch nicht zu bemerken schien. Sonst hätte er nicht mit
dieser Sicherheit aus einer Vase die Rose genommen und
sie an dem Kleid der Gattin befestigt.
»So – nun ist mein Dornröschen fertig«, lächelte er. »Zeige
heute etwas weniger deine Dornen – und laß die Rose
mehr zur Geltung kommen.«
Damit zog er ihren Arm in den seinen und führte sie
hinunter in die Festräume.
Die schöne Hausfrau empfing an der Seite des Gatten die
zahlreichen Gäste, die sich rasch hintereinander einfanden.
Ihre Haltung war ohne jeden Tadel, was nicht nur Winard,
sondern auch Tante Fritze mit Genugtuung bemerkte.

Gottlob, die eigenwillige Kleine schien nun endlich
Vernunft annehmen zu wollen, dachte sie befreit. Man
mußte zuerst befürchten, daß Albrechts Eigenmächtigkeit,
mit der er über seine Frau verfügte, sie vertrotzen würde. Es
war eigentlich ein gefährliches Probestück – doch es schien
gelungen. Hoffentlich stieg dem Herrn Doktor sein leichter
Sieg nicht so in den Kopf, daß er sich zu einer
Unbedachtsamkeit hinreißen ließ, die alles wieder
zerstören konnte. Denn ganz gewonnen hatte er Karola
noch lange nicht. Es steckte noch zu viel Groll in ihr, den
jede unbedachte Handlung verstärken konnte. Zwang

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vertrug sie nicht, also mußte man sehr vorsichtig vorgehen.
Vielleicht würde Karola sich auch von der Umgebung

bestechen lassen. Fräulein Fritze mußte sich nämlich
immer mehr über den Zuschnitt des Hauses wundern.
Sorge stieg in ihr auf, wie Winard diesen großangelegten
Haushalt von seinen Mitteln würde bestreiten können.
Sollte er also wirklich, nur um Karola zurückgewinnen zu
können, ein Leben über seine Verhältnisse führen? Das sah
diesem Mann doch eigentlich gar nicht ähnlich.
Tante Fritze lernte auch noch eine Dame kennen, die zum
Hause gehörte. Sie hatte dem Vorgänger Winards lange
Jahre hindurch den Haushalt geführt, und er hatte sie nun
für sein Haus verpflichtet, weil er fürchtete, daß Frau Boseit
allein nicht zurechtkommen würde.

Fritzes Blick suchte die Frau, die Karola so sehr gepeinigt
hatte. Sie hatte sich diese eigentlich anders vorgestellt.
Wahrscheinlich war es das geschmackvolle Festkleid, das
sorgfältig geordnete Haar, das die Frau so würdig
erscheinen ließ.
Auch älter hatte sie die Frau Boseit geschätzt. Sie konnte
nicht viel mehr als fünfzig Jahre zählen. Das Gesicht war
noch fast faltenlos und verhältnismäßig frisch. Nur die
Augen sahen so matt und müde drein.
Das sind Augen, die viel geweint haben, mußte Fritze
unwillkürlich denken.
Bald waren die Gäste vollzählig versammelt, und es konnte

zu Tisch gebeten werden. In einem der drei Festräume war
die lange Tafel gedeckt. Und auch hier mußte Tante Fritze
nicht nur über die Einrichtung, sondern auch über die
prunkvoll gedeckte Tafel den Kopf schütteln.
Der Tischherr Karolas war Professor Fahrleit, ein alter
weißhaariger Herr mit klugem Gesicht und Augen, die
einem bis auf den Grund der Seele schauen konnten. Seine
Gattin, die an des Hausherrn Seite saß, war klein und
beweglich. Ein Paar gütige Augen schauten aus einem
lieben Altfrauengesicht.
Diesen Ehrengästen schlossen sich die anderen in bunter

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Reihe an. Da waren Hübsche und Häßliche, Gute und
Boshafte durcheinander.

Hauptsächlich waren die Ärzte und Beamten des
Sanatoriums mit ihren Frauen und erwachsenen Kindern
vertreten. Die Herren waren fast alle älter als ihr
Vorgesetzter, und Tante Fritze konnte sich denken, wieviel
Takt und Feingefühl, und wieviel Energie andererseits dazu
gehörten, um den Kollegen gegenüber immer so zu
erscheinen, wie es Winards Stellung hier verlangte.
Immer rätselhafter wurde es ihr, daß der berühmte
Professor Fahrleit gerade diesen noch verhältnismäßig
jungen Arzt zu seinem Nachfolger bestimmt hatte.
Entweder war er wirklich außerordentlich befähigt, oder es
sprachen da noch andere Dinge mit, die sie unbedingt

ergründen mußte.
Es gab überhaupt vieles, was noch geklärt werden mußte.
Denn bevor Karola in dieses Haus übersiedelte, mußte sie
ganz klar sehen. Sollte Winard Schulden gemacht haben,
dann mußten sie eben bezahlt werden. Wozu war denn
Karola ihre Erbin?
Heute war Tante Fritze so recht von Herzen stolz auf ihre
Nichte. Ihre taufrische Schönheit mußte bestechen. Dazu
noch die formvollendete Haltung – nun, Winard konnte
mit seiner Frau zufrieden sein!
»Die Gattin unseres Doktor Winard ist einfach
bezaubernd«, hörte sie da ihren Tischherrn, den

Bürgermeister der Stadt, sagen.
»Das freut mich«, nickte Fräulein Fritze ihm freundlich zu.
»Ich bin nämlich so etwas wie eine eitle Mutter und höre
gern, wenn das Kind gefällt.«
Der Herr lachte herzlich, und schon war man im besten
Einvernehmen. Man ließ sich das vorzüglich zubereitete
Essen schmecken und unterhielt sich vortrefflich.
Es blieb Fräulein Fritze dabei noch Zeit genug, sich
gründlich umzusehen. Sie nickte Malve herzlich zu, die ihr
schräg gegenübersaß. Sie sah heute viel frischer und
angeregter aus als sonst.

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Auch Frau Boseit konnte sie genau beobachten. Die alte
Dame saß an der Seite eines noch älteren Herrn, der sie gut

zu unterhalten schien.
Das waren die Menschen, die Tante Fritze am meisten
interessierten. Die andern waren ihr fast alle fremd und
daher gleichgültig.
Nach dem Essen sollte getanzt werden, was hauptsächlich
die Jugend, die auch reichlich vertreten war, mit
Begeisterung erfüllte.
Karola, die auch brennend gern mitgehalten hätte, mußte
sich jedoch auf Winards Wunsch viel den Gästen widmen.
Hauptsächlich die ältlichen Damen belegten die schöne,
junge Hausherrin mit Beschlag, und es war eine Freude
anzusehen, mit welcher Ruhe und Sicherheit sie die

neugierigen, zum Teil recht taktlosen Fragen beantwortete.
Sie atmete auf, als diese schwierigen Herrschaften sich nach
und nach empfahlen. Schließlich waren nur noch die
jüngeren Gäste anwesend, und da sie fast ohne Ausnahme
tanzten, so genügte Karola ihrer Pflicht, indem sie sich
unter die Tanzenden mischte. Und da die Herren von ihrer
schönen Gastgeberin restlos entzückt waren, so fehlte es ihr
an Tänzern nicht.
An einem Tisch, von dem aus man den ganzen Trubel
bequem übersehen konnte, der Professor und seine Gattin.
Sie waren die einzigen alten Herrschaften, die auch noch in
vorgerückter Stunde anwesend waren.

Winard, der jetzt auch freier war, trat an den Tisch der
verehrten Gäste, wo man ihn herzlich Platz zu nehmen bat.
»Ruhen Sie sich nur bei uns ein wenig aus, lieber Herr
Doktor«, sagte die Dame gütig. »So ein Fest ist für den
Gastgeber immer sehr anstrengend.«
»Das scheint unsere schöne Gastgeberin nicht zu
empfinden«, schmunzelte der Professor. »Schauen Sie nur,
wie sie tanzt. Eine helle Freude ist das!«
»Ja – sie ist ein holdes, herzensfrohes Menschenkind«,
nickte Frau Fahrleit. »Man sollte kaum glauben, daß sie
schon Mutter eines Töchterchens ist. Heute sind Sie wohl

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glücklich, lieber junger Freund, Ihre kleine Frau endlich
hier zu haben.«

»Ja, gnädige Frau. Ich glaube, daß nun das Ärgste endlich
überstanden ist.«
»Wir müssen sehr oft zusammenkommen«, sprach die alte
Dame herzlich weiter. »Es ist bei uns Alten doch recht
einsam jetzt.«
»Wird das Fräulein Tochter nicht bald nach Hause
kommen?« erkundigte sich Winard höflich.
»Nein, sie mag nicht – es gefällt ihr bei der älteren
Schwester anscheinend besser als bei den Eltern«, seufzte
die Dame bekümmert. »Das Mädel entfremdet sich uns
immer mehr. Kennen Sie meine Jüngste denn, Herr
Doktor?«

»Nein, ich habe von der jungen Dame nur viel gehört. Sie
soll sehr schön sein.«
»Ja, schön und eigenwillig.«
»Da muß eine Herzensgeschichte dahinter stecken«,
bemerkte der Professor. »Das Mädel war in letzter Zeit wie
verwandelt.«
»Und anstatt sich den Eltern anzuvertrauen, fährt sie fort
und läßt uns mit unruhigem Herzen zurück«, nickte Frau
Fahrleit betrübt. »Unsere beiden älteren Mädel haben uns
zusammen nicht so viel Kummer bereitet wie unsere
Jüngste allein.«
»Nein, sie zogen nur beide weit von uns fort und heirateten

Männer, die uns nicht zusagten«, brummte der alte Herr.
»Robert, du mußt nicht ungerecht sein«, ereiferte sich die
Gattin. »An unseren Schwiegersöhnen ist doch nichts
weiter auszusetzen, als daß sie keine Ärzte sind. Aber
vielleicht heiratet Irene einen.«
»Darauf bin ich jetzt gar nicht mehr so erpicht«, wehrte er
ab. »Es ging mir nur darum, einen Nachfolger für mein
Sanatorium zu bekommen. Nun ich aber meinen jungen
Freund Winard gefunden habe, bin ich ja aller Sorgen
enthoben. Denn einen besseren Nachfolger kann es ja gar
nicht für mich geben. – Übrigens, lieber Freund, haben Sie

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Ihrer kleinen Frau nun endlich gebeichtet?«
»Nein, Herr Professor – «

»So sehen Sie zu, daß sie es nicht von anderer Seite erfährt.
Das könnte Ihnen am Ende übel ausgelegt werden. So wie
ich die kleine Frau nämlich beurteile, ist sie klug und
unnachsichtig. Da wird sie sich wahrscheinlich heute schon
allerlei Gedanken gemacht haben.«
Es traten Bekannte an den Tisch, so daß man das Gespräch
abbrechen mußte. Außerdem mußte Winard sich wieder
um die anderen Gäste kümmern.
Im Tanzsaal stand man beratend beieinander. Es sollte eine
Tanzpause eingeschoben und diese mit musikalischen
Darbietungen ausgefüllt werden. Da wurde Klavier und
Geige gespielt und gesungen. Fast jeder der Anwesenden

konnte etwas zum besten geben. Da war es nicht
verwunderlich, daß auch die Gastgeberin um ein Lied
gebeten wurde.
»Ich kann ja gar nicht singen«, wehrte sie sich. »Jedenfalls
nicht so, um damit einen Genuß zu bieten.«
»Das werden wir nach dem Gesang feststellen«, rief eine
kecke Stimme. »Hier wird keine Ausnahme gemacht.
Mitgefangen, mitgehangen!«
»Er hat recht!« jubelte es ringsum.
Karola sah sich hilfesuchend um, als könne ihr von
irgendwoher Rettung kommen. Diese hoffte sie endlich bei
Frau Fahrleit zu finden, mußte aber zu ihrem Schrecken

erkennen, daß gerade die alte Dame herzlicher als die
andern um ein Lied bat.
»Was soll ich denn singen?« fragte sie kleinlaut.
»Wenn ich mir etwas wählen kann, dann das Lieblingslied
meiner jüngsten Tochter. Robert, wie geht es doch gleich?«
wandte sie sich an den Gatten, der schmunzelnd einige
Takte summte.
»Verstanden, kleine Frau?«
O ja – und wie gut! Ausgerechnet dieses Lied!
Aber es blieb ihr nichts anderes übrig, als zu singen. Wenn
sie sich damit drücken wollte, daß ihr das Lied unbekannt

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sei, dann bekam es Albrecht gar fertig, das Gegenteil zu
behaupten.

Äußerlich gleichmütig schritt sie zum Flügel. Sie lächelte
sogar, als sie davor Platz nahm und mit dem Vorspiel
begann.
Winard hatte sich so gesetzt, daß er die Sängerin genau
beobachten, von den Zuhörern jedoch nicht gesehen
werden konnte. Mit schwerem, gequältem Herzen und
brennenden Augen schaute er auf die lichte Gestalt am
Flügel.
Ihr Lied – ihre Liebesweise – wie lange hatte er sie schon
nicht mehr gehört!
Im Hause ihrer Mutter hatte Karola sie ihm zum erstenmal
gesungen und damit sein Schicksal besiegelt. Denn damals

war ihm bewußt geworden, daß die kindhafte, zarte Karola
Hiltmer sein Herz ganz und gar beherrschte. Und sie würde
die Eine, Einzige für ihn bleiben, weil sein Herz so
stürmisch nach ihr verlangte.
Und ihr Herz?
Nein, was dieser rote Mund da sprach, das glaubte ihr Herz
nicht mehr.
Oder das innige Geständnis galt einem andern!
»Ich liebe dich, weil ich dich lieben muß, ich liebe dich,
weil es verlangt mein Herz.« verklang die innige Weise.
Unter den Zuschauern herrschte eine tiefe Stille, bis dann
ein jubelnder Beifall losbrach. Man fand es unerhört, daß

man ihnen diesen Genuß so schnöde habe vorenthalten
wollen.
»Kleine Frau, dieses Lied müssen Sie unserm Muttchen hier
oft singen«, schmunzelte der Professor. »Schauen Sie nur,
wie ihr die hellen Tränen über die Wangen laufen.«
»Ja, so schön habe ich das Lied aber auch noch nie singen
hören«, lächelte die alte Dame. »Haben Sie vielen
herzlichen Dank dafür, liebe, liebe Frau Karola!«
Der jungen Frau war es peinlich, daß man so viel
Aufhebens von ihrem Gesang machte. Sie hatte plötzlich
ein kaum bezwingbares Verlangen nach Ruhe. Nur eine

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kleine Weile ganz still sitzen und nicht zu sprechen
brauchen.

Doch wohin sie sich auch wandte, überall stieß sie auf
frohe, gutgelaunte Gäste, die sich mit ihr unterhalten, mit
ihr tanzen wollten. Und sie mußte bei ihnen verweilen,
mußte liebenswürdig mit ihnen plaudern.
Je mehr es dem Morgen zuging, umso höher stieg die frohe
Laune der Gäste. Von den fremden älteren Herrschaften
waren nur noch der Professor und seine Gattin anwesend,
die anderen waren junge, frohe Leute, die sich da so
vergnügt in den Festräumen des gastlichen Hauses
tummelten.
Karola war eine der begehrtesten Tänzerinnen, so daß es
dem Gatten, der ja heute als Gastgeber zurückstehen

mußte, erst um die vierte Morgenstunde gelang, sich den
ersten Tanz zu sichern.
»Ich fürchte, daß du es ein wenig übertreibst, Karola«, sagte
er mit einem prüfenden Blick in ihr Gesicht. »Du siehst
blaß und müde aus.«
»Ich tanze gern«, gab sie herb zurück. »Und wenn du etwa
vorhaben solltest, mir das Tanzen zu verbieten, dann will
ich dir gleich sagen – «
»Kind, wie kann man nur so leicht gereizt sein«, unterbrach
er sie mit dem überlegenen Lächeln, das die junge Frau so
schlecht vertragen konnte. »Du mußt es dir abgewöhnen,
meinen Worten eine falsche Bedeutung beizulegen.«

Karola preßte die Lippen aufeinander und schwieg. Wenn
er in diesem spöttischen Ton sprach, dann war sie ihm
nicht gewachsen, das wußte sie nun schon. Willenlos ließ
sie sich von ihm führen und konnte feststellen, daß er so
gut und so sicher tanzte wie kein anderer Herr hier. Und
dabei war er noch während ihrer Verlobungszeit ein so
schlechter Tänzer gewesen, daß sie ihn immer geneckt
hatte. Er hatte sich eben verändert – ganz und gar.
»Nein, Karola, so rasch wirst du mich nicht los«, wehrte er
sich lächelnd, als sie sich nach dem Tanz hastig aus seinem
Arm lösen wollte. »Ich muß dich nämlich sprechen, und

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die Gelegenheit dazu ist jetzt so günstig wie nie. Wir
werden in mein Arbeitszimmer gehen, da sind wir

ungestört.«
Karola zögerte nur augenblickslang, dann folgte sie ihm. Es
war vielleicht ganz gut, wenn es heute zu einer Aussprache
kam.
In dem großen, hohen Gemach war es feierlich still. Kein
Laut drang aus den Festräumen bis hierher.
»So, mein Fraule, nun nimm hier Platz und ruhe dich ein
wenig von dem Trubel da unten aus«, sagte der Gatte,
wobei er sie sanft in einen tiefen Sessel zwang. Seine
Stimme klang so zärtlich und weich, wie zu Anfang ihrer
Ehe. Doch Karola war durchaus nicht gewillt, in diesem
Ton mit ihm zu sprechen. Und als er sich gar auf die

Seitenlehne des Sessels setzte, sich tief zu ihr niederbeugte,
da entzog sie ihm mit schroffer Gebärde ihre Hände.
»Karola, was soll das nun wieder?« fragte er mehr traurig als
verletzt. »Gib doch deinen Widerstand auf. Du siehst, er
nützt dir gar nichts. Da du nicht freiwillig zu mir kommen
wolltest, so habe ich dich mit Gewalt geholt – und nun ich
dich einmal hier habe, gebe ich dich nicht mehr wieder
her.«
»Ach!« entgegnete sie in einem Ton, der ihn aufhorchen
ließ. »Und wenn ich nun durchaus nicht bei dir bleiben
mag, welche weitere Gewalt gedenkst du dann
anzuwenden? Mich einfach einsperren, wie es in alter

grauer Zeit die Eheherren mit ihren Frauen taten, wenn sie
sich ihrem herrischen Willen nicht fügen wollten, das
kannst du ja wohl nicht gut.«
»Blieb mir denn eine andere Wahl, Karola? Ich mußte doch
eine List anwenden, da du freiwillig noch lange nicht
hierhergekommen wärest.«
»Allerdings nicht! Aber wer sagt dir, daß ich mir so
gewaltsam deinen Willen aufzwingen lasse und mich nun
endlich fügen werde?«
»Mein Herz, Karola! Mein Herz, das so stürmisch nach dir
verlangt!«

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»So! Und mein Herz will von allem hier nichts wissen«,
entgegnete sie hart. »Ich habe heute diese Komödie hier

notgedrungen mitgespielt, weil ich dich vor deinen Gästen
nicht bloßstellen wollte. Soviel glaubte ich nämlich dem
Vater meines Kindes schuldig zu sein. Aber damit ist es nun
auch genug! Ich bitte dich dringend, mich nie wieder vor
eine vollendete Tatsache zu stellen, sonst könnte ich dir
doch einen Strich durch deine Pläne machen. Ich lasse
mich nicht zwingen – niemals!« rief sie nun voller
leidenschaftlicher Heftigkeit. »Ich will nicht leben in dieser
erlogenen Pracht, die Tante Fritze später bezahlen muß! Ich
will nicht!«
Sie hielt inne, weil sie bemerkte, wie er hastig auffuhr.
»Was sprichst du da?!« stieß er zwischen den Zähnen

hervor. »Ich bitte dich, in deiner Rede fortzufahren – «
»Ja, das werde ich! Es wundert dich wohl, daß ich mir
Gedanken darüber mache«, und sie zeigte mit einer
kreisenden Handbewegung ins Zimmer. Ȇberhaupt um
den ganzen Zuschnitt deines Hauses. Das alles kannst du
doch unmöglich von deinem Einkommen bezahlt haben.
Es würde wohl zu einem sorglosen, behaglichen Leben
ausreichen, aber sicher nicht zu einem solchen, wie du es
jetzt führst. Ich weiß, du wolltest Tante Fritzes Bedenken,
daß du mir ein Leben, an das ich gewöhnt bin, in deinem
Hause nicht bieten kannst, entkräften. Deshalb hast du mit
dieser Blenderei begonnen. Und du denkst vielleicht: Nun,

wozu hat man denn Tante Fritzes Erbin zur Frau? Von der
wird man doch verlangen können, daß sie einem das alles
hier in die Ehe bringt. Aber so reich ist Tante Fritze denn
doch nicht, um dieses Haus mit seiner Einrichtung zu
bezahlen. Und wenn du mich deshalb nicht freigeben
willst, weil du von ihr die Bezahlung deiner Schulden
erhoffst.«
»Hör auf – um Gottes willen, hör bloß auf!« stöhnte der
Mann, der keinen Blutstropfen mehr in dem verkrampften
Antlitz hatte. »Mir graut vor deinen weiteren
Ausführungen!

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Das also ist deine Auffassung von dem, was ich hier für
dich geschaffen habe«, lachte er so rauh und bitter auf, daß

Karola nun doch erschrocken zusammenfuhr. »Was bin ich
doch für ein Narr, für ein blöder Narr! Hoffte immer noch
voll Zuversicht, das wiederzuerwecken, was ich nur
verschüttet geglaubt hatte und das in Wirklichkeit längst tot
– wahrscheinlich nie vorhanden gewesen ist! Da mußt du
schon entschuldigen, wenn diese Erkenntnis mich
erschüttert.
Laß es dir von andern erzählen, wie es kommt, daß ich mir
das alles hier leisten kann – ich kann es nicht – jetzt nicht
mehr!
Und noch eins, Karola: Was ich dir einmal an Kränkung
zugefügt habe – wenn auch gänzlich ungewollt und

unbewußt, das hast du mir in dieser Stunde mit Zins und
Zinseszins zurückgezahlt. Wenn dir das eine Genugtuung
sein kann, dann hast du sie jetzt restlos!«
Ehe die junge Frau noch etwas erwidern konnte, hatte er
das Zimmer verlassen. Mit großen, erschrockenen Augen
starrte sie ihm nach.
Was wollte sie eigentlich noch mehr? Sie hatte doch nun
erreicht, was sie sich vorgenommen hatte, er war von ihren
Worten tief getroffen - noch viel tiefer als sie beabsichtigt
hatte. Warum wollte sich jetzt die ersehnte Genugtuung
nicht einstellen? An ihrer Stelle hatte sie eher das Gefühl,
eine vielleicht nie wiedergutzumachende Dummheit

begangen zu haben.
Aufs tiefste beunruhigt ging sie in die Festräume zurück, wo
die gute Stimmung nicht abgenommen hatte. Sie suchte
nach ihrer Tante, um zur Heimkehr zu mahnen, und fand
sie endlich mit dem Professor und seiner Gattin in
angeregtem Geplauder.
»Da bist du ja, Karola«, sagte Tante Fritze vergnügt. »Wir
haben gerade von dir gesprochen. Aber was ist dir, Kind?
Du bist ja erschreckend blaß. Ist dir nicht gut?«
»Doch, Tante Fritze – nur ein wenig heiß – «
»Dann setze dich zu uns. Du hast sicherlich zu viel

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getanzt.«
»Wahrscheinlich«, murmelte Karola, indem sie sich in

einen Sessel sinken ließ.
Ach, was war das nun wieder für ein Gefühl, das ihr das
Herz zusammenpreßte! Sie hätte laut weinen mögen vor
Ratlosigkeit und Furcht vor etwas Dunklem, Drohenden,
das immer näher zu kommen schien.
»Der Peter ist wieder einmal aus Rand und Band«, sagte der
Professor da in ihre unerquicklichen Gedanken hinein,
wobei er mit einer Kopfbewegung nach einem jungen
Mann zeigte, der in der Nähe stand und mit gestreckten
Armen die Mädchen abwehrte, die sich lachend um ihn
drängten:

»Schwor ich mir zu, jetzt ist’s vorbei,
ich will von Frauen nichts mehr wissen,
von ihren lockend süßen Küssen,
denn keine einz’ge war mir treu«,

sang er dazu mit großem Stimmaufwand, was die Mädels
zu immer übermütigerem Lachen zwang.
Es war aber auch zu komisch, diesen langen Jungen mit
dem frischen Gesicht und den treuherzigen Augen so
klagen zu hören.
»Sie haben recht, mein Junge«, sagte da eine kalte Stimme
in das Gelächter hinein. »Sie sind es alle nicht wert, daß

man noch einen Gedanken an sie verschwendet.«
»Hallo, Herr Doktor, das ist doch eine kühne Behauptung!
Das dürfen wir nicht auf uns sitzen lassen! Das war ja ganz
empörend deutlich!« schrie es entrüstet durcheinander.
Doch Winard schritt achselzuckend weiter und nahm
einem Diener, der ihm gerade entgegen kam, ein Sektglas
vom Tablett, dessen Inhalt er in einem Zuge hinuntertrank.
»Mein Gott, was hat er denn nur?« fragte Frau Fahrleit mit
erschrockenen Augen ihren Gatten. »So habe ich diesen
ruhigen Mann ja noch nie gesehen!«
»Augenblick, ich will mal gleich nach ihm sehen«,

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beruhigte der alte Herr. Hastig verließ er den Tisch, um
schon nach wenigen Minuten zurückzukehren. Sein

durchdringender Blick suchte Karola, die darunter
abwechselnd errötete und erblaßte.
»Liebe kleine Frau, ich glaube, Sie haben Ihrem Gatten da
ein wenig zu sehr zugesetzt«, schüttelte er mißbilligend den
Kopf. »Er ist ja vollkommen verbittert.«
»Das tut mir für den prachtvollen Menschen leid«, meinte
Frau Fahrleit mit einem vorwurfsvollen Blick auf Karola.
»Hat er dir seinen Kummer erzählt, Robert?«
»Nein. Ich habe ihn nie unzugänglicher gesehen als eben.
Er bat mich nur, seiner Gattin einiges mitzuteilen. Und das
will ich denn auch ohne große Vorreden klipp und klar
tun, will mich so kurz fassen wie es nur angeht. Wollen Sie

mich anhören, Frau Karola?«
Sie nickte nur, weil es ihr jetzt unmöglich war, auch nur
einen Laut aus der Kehle zu bringen. Sie war so blaß, daß
der Professor sie erst forschend betrachtete, bevor er mit
seiner Erzählung begann:
»Es war im Frühling dieses Jahres. Meine Frau und ich
befanden uns auf einer Auslandsreise. Auf einem Schiff
lernten wir den jungen Schiffsarzt Winard kennen, der
nicht nur meiner Frau und mir, sondern auch vielen
andern Passagieren durch seinen Ernst und seine
Zurückhaltung angenehm auffiel. Es war schwer, sich ihm
zu nähern, da er sehr zurückgezogen lebte. Später erfuhr

ich auch einiges über die Gründe, die ihn dazu
veranlaßten. Sie waren eng verknüpft mit seiner Ehe, über
die ich Ihnen wohl nichts Neues sagen kann. Neu dürfte
Ihnen aber sein, daß Winard sich sehr viel mit seiner Frau
beschäftigte, um sich über sie und ihre Handlungsweise
klar zu werden. Seine Ansicht, daß an ihrem Verhalten die
Nerven ein großes Teil mit schuld gewesen waren, hatte ihn
dazu bewogen, sich mit Nervenkrankheiten ganz allgemein
zu beschäftigen. Er studierte in seiner Freizeit mit fast
verbissenem Eifer die Literatur über dieses Gebiet und
ergänzte sie in jeder Hafenstadt, die sein Schiff anlief.

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Wenn er nicht bei seinen Kranken war, hielt er sich in
seiner Kajüte auf; in der Bar oder bei Bordfesten traf man

ihn nie.
Aber schließlich gelang es mir doch, ab und zu mit ihm
zusammenzukommen, und wir freundeten uns langsam
an, als wir uns erst einmal auf dem gemeinsamen
Arbeitsgebiet gefunden hatten.
Je näher ich Winard kennenlernte, umso besser gefiel er
mir, und als ich mich dann überzeugt hatte, wie tief der
junge Mediziner bereits in die schwierige Materie dieses
speziellen Krankheitsgebietes eingedrungen war, reifte in
mir der Entschluß, ihn in mein Sanatorium zu nehmen.
Nun stieg unterwegs eine alte Amerikanerin mit ihrer
herzkranken Enkelin zu. Sie war mit dem Mädchen von

Bad zu Bad gereist, ohne Heilung für das todkranke Herz
finden zu können. Und erst als sie jede Rettung auf
Heilung aufgeben mußte, kehrte sie mit der Todkranken in
die Heimat zurück, damit sie dort sterben konnte.
Winard hatte nun die Kranke zu betreuen und tat es in so
zarter, verständnisvoller Art, daß die bedauernswerte
Florence nur noch ihn um sich haben wollte. Es war
rührend zu sehen, mit welcher Liebe das sonst so
verzogene, eigenwillige Mädchen an dem ernsten, stillen
Mann hing. Und die alte Großmutter, eine widerborstige,
knurrige Dame, die nichts weiter auf der Welt liebte als ihre
einzige Enkelin, bat den Arzt in rührender Weise, sich dem

Mädchen zu widmen so viel er nur konnte.
Er tat es, ohne viel Worte zu machen, wie es ja überhaupt
seine Art ist. Tat es aus Mitleid und machte damit die arme
Kranke und die alte Frau glücklich. Und als er merkte, daß
Florence nur noch ganz kurze Zeit zu leben hatte, begleitete
er sie auf ihre rührende Bitte auch in ihr Heim. Er füllte mit
diesem Samariterdienst seinen Urlaub aus, den er noch
nicht ausgenutzt hatte und der ihm ohne weiteres bewilligt
wurde.
Drei Wochen später starb das Mädchen, und einige Tage
darauf auch die Großmutter. Den Tod der heißgeliebten

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Enkelin hatte das alte, vierundsiebzigjährige Herz nicht
überstehen können.

Winard wartete noch die Bestattung der beiden Toten ab
und wollte dann still und unbemerkt seines Weges ziehen,
als er zu einem Notar gerufen wurde, der ihm die
Eröffnung machte, daß die alte Dame ihn zu seinem
Haupterben eingesetzt hätte.
›Es ist der Mensch, den meine arme Florence am meisten
geliebt hat und soll daher auch ihr Erbe sein‹, stand kurz
und bündig in dem hinterlassenen Testament.
Winard nahm natürlich die Erbschaft an. Es wäre ja töricht
gewesen, sie auszuschlagen, zumal die beiden Damen
keine Angehörigen hinterließen- und so wurde der arme
Schiffsarzt ein reicher Mann. Auf meine Empfehlung hin

war er dann drüben noch ein halbes Jahr in einem
bedeutenden Sanatorium praktisch als Nervenarzt tätig,
bevor er zu mir kam.«
Karola hatte regungslos gelauscht und saß auch noch
unbeweglich da, als der Professor seine Erzählung beendet
hatte. Die Hände im Schoß verschlungen, den Kopf tief
gesenkt, so verharrte sie.
»Frau Karola, haben Sie mir zugehört?« sprach der alte Herr
sie behutsam an.
Nun hob sie den Kopf.
»Doch – gewiß – «, entgegnete sie wie abwesend. »Aber
warum hat er mir das alles nicht erzählt?«

»Tja, das ist nun so ’ne Sache! Sie müssen wissen, liebe
Frau Karola, daß er meiner Frau und mir einmal seine
Ehegeschichte erzählt hat. Kurz, knapp und klar, wie er ja
über alles zu sprechen pflegt. Und als er dann hierherkam
und Sie so kalt und ablehnend fand, da hielt er es für
ratsam, über sein nicht alltägliches Erlebnis lieber vorerst
noch zu schweigen.
›Ich weiß nicht, ob man mir da nicht in meiner
Scheidungsangelegenheit einen Strick drehen könnte‹, sagte
er wörtlich. ›Und da ich auf meine Frau nicht verzichten
kann und will, so werde ich erst über diese Angelegenheit

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sprechen, wenn ich sie mir ganz zurückgewonnen habe!‹
Sie hätten nur sehen sollen, mit welchem Eifer er die

Wohnung hier eingerichtet hat. Nichts war ihm für Sie gut
und kostbar genug. Und erst, als alles so war, wie er es sich
gewünscht und gedacht hatte, veranstaltete er dieses Fest,
um Sie erst einmal hier zu haben. Es schien ihm zu unserer
Freude auch alles zu glücken.
Und nun möchte ich nur wissen, was ihn plötzlich so
verbittern konnte.«
Das hätte Karola ihm sagen können, doch sie preßte die
Lippen aufeinander und schwieg. Sie bat nur die Tante, mit
ihr nach Hause zu fahren, wozu diese auch sofort bereit
war.
»Tante Fritze – bitte – quäle mich jetzt nicht mit Fragen«,

flehte sie, als sie mit der Tante in ihrem Ankleidezimmer
stand. »Ich halte heute keine Auseinandersetzung mehr
aus! Morgen – oder später vielleicht - doch heute nicht!«
»Ist gut, ich kann ja warten«, entgegnete das Fräulein ruhig.
»Aber ich hoffe, daß meine Nichte Vertrauen zu mir haben
wird.«
»Tante Fritze, das weißt du doch. Zu wem soll ich denn
sonst Vertrauen haben, wenn nicht zu dir, die du mir
Mutter und Freundin zugleich bist?
Doch augenblicklich – nein.«
Sie streifte den Schmuck, das Festkleid ab und legte alles
behutsam wieder dorthin zurück, wo sie es gefunden hatte.

Als sie dann wieder ihre eigenen Kleider trug, da war ihr,
als wären seit ihrer Ankunft hier im Hause nicht Stunden,
sondern Jahre vergangen. Sie bat die Tante, mit ihr zu
kommen, was diese auch tat.
»Kind, was man mit dir alles mitmachen muß, das
überschreitet schon das Maß des Menschenmöglichen«,
brummte das Fräulein, als sie auf der nachtstillen Straße
standen. »Und was nun? Sollen wir etwa zu Fuß nach
Allhöfen wandern?«
»Nein, wir werden in einem Hotel übernachten und
morgen früh mit dem ersten Zug fahren.«

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»Wird uns ja nichts andres übrigbleiben«, seufzte Tante
Fritze. »Da werden die Menschen ja morgen schöne Augen

machen! Zum mindesten wird man sich erzählen, daß der
Herr Doktor Winard seine Frau mit Anhang bei Nacht und
Nebel aus dem Hause gejagt hat.«
Fräulein Fritze und ihre Nichte trafen sich erst wieder bei
der Mittagstafel. Sie hatten nicht im Hotel übernachten
brauchen, denn kaum, daß sie einige Meter gegangen
waren, hatte sie das Auto des Doktors eingeholt, und der
Fahrer hatte sie rasch und sicher nach Allhöfen gebracht.
Also war ihr heimlicher Aufbruch nicht unbemerkt
geblieben.
An der Tafel herrschte eine Stimmung, die man mit
Katerstimmung bezeichnet. Karola war blaß und auffallend

still, und auch Elard war sehr niedergeschlagen. Es war ja
schon längere Zeit verändert, doch einen so jammervollen
Eindruck wie heute hatte er noch nie gemacht. Sollte bei
ihm etwa die Ursache für Karolas gestrige Verstörtheit zu
suchen sein? War Winard vielleicht dahintergekommen,
daß sie Elard liebte?
Fräulein Fritze wurde bei diesem Gedanken heiß und kalt.
Dann konnte man in Zukunft ja etwas erleben! Winard
würde nicht zurücktreten, soviel war sicher.
»Was wirst du mit den Zwillingen machen?« fragte sie die
Nichte, nachdem Elard sich zurückgezogen hatte. »Du hast
ihnen gestern doch versprochen, sie heute hierherkommen

zu lassen.«
»Ich werde Malve anrufen und sie bitten, mir die Kinder zu
schicken.«
Das tat sie denn auch sofort und erhielt von der jungen
Ärztin das Versprechen, daß sie die Mädchen nach Allhöfen
bringen werde. Und um die Kaffeezeit traf sie denn auch
mit ihnen ein.
»Ich habe bis zum Abend Zeit«, erklärte sie mit zaghaftem
Lächeln, als müsse sie sich entschuldigen, daß sie
mitgekommen sei.
»Das ist vernünftig«, nickte Fritze. »Du bist doch hier zu

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Hause, Kind.
Und was machen die kleinen Fräulein?« wandte sie sich an

die Zwillinge, die neben Karola standen und ängstlich zu
ihr aufsahen. »Ist Fräulein Dotz mit eurem Hiersein
einverstanden?«
»Nein. Aber sie kann ja jetzt nicht mehr so viel sagen, weil
die Mutti sich um uns kümmert«, sagte Lorli beglückt.
Malve war heute noch stiller und niedergedrückter als
gewöhnlich. Und als die Mädel im Zimmer der kleinen Ute
spielten, fragte Tante Fritze frei heraus, was sie quäle.
»Albrecht ist heute mittag verreist«, berichtete sie leise.
»Das ist doch kein Grund zum Traurigsein, Malve«, meinte
das Fräulein verwundert.
»Die Reise an sich nicht, Tante Fritze. Er war jedoch in

einer Verfassung, die zur Sorge Anlaß gibt. So habe ich ihn
nur einmal gesehen - damals, als Karola ihn verlassen
hatte. Seien Sie mir nicht böse – «, sagte sie mit einem
bittenden Blick auf die junge Frau. »Aber ich muß Ihnen
einmal sagen, wie schwer Sie Albrecht mit Ihrer Flucht
getroffen haben. Und da er seit heute nacht in derselben
Verfassung ist, so können Sie es nur sein, die ihm bitter
weh getan hat.
Karola, er liebt Sie doch so über alle Maßen!« sagte sie
beschwörend, als das Antlitz der jungen Frau sich
verfinsterte. »Sie sind ihm alles! Für Sie würde er seine
Kinder aufgeben – überhaupt uns alle, wenn Sie es von

ihm verlangten. Nur Ihretwegen hält er die Zwillinge doch
so streng, damit Sie nie mehr Anlaß haben, sich über sie zu
ärgern. Meine Mutter hat er so eingeschüchtert, daß sie
schon zittert, wenn sie Ihren Namen nur hört – und ich –
ich wage mich Ihnen gar nicht erst zu nähern.«
»Aber das ist doch Unsinn!« fiel die Tante ihr ins Wort. »Da
übertreibt der gute Albrecht ganz gehörig. Karola ist doch
schließlich kein Schreckgespenst! Wohin ist er gefahren?«
»Der Professor hat ihn mit einem Auftrag fortgeschickt. Er
sagte mir, er wolle Albrecht damit auf andere Gedanken
bringen. Ich jedoch weiß, daß er genauso unstet und

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verbittert zurückkommen wird, denn ich kenne ihn besser
als alle andern«, schloß sie leise.

»So meinst du, daß er Karola immer noch liebt, daß er die
Ehe nicht allein um Utes willen bestehen lassen will?«
forschte Tante Fritze mißtrauisch.
»Ach, Tante Fritze, seine Liebe ist ja so unsagbar groß und
tief«, lächelte Malve traurig und weh. »Wenn er Karola
verlieren sollte – ich weiß nicht, wie er das überstehen
würde. Karola, Sie sind mir doch nicht böse, daß ich das
alles so frei heraus sage?«
»Nein«, kam es kurz und abweisend zurück. Hastig erhob
sie sich und verließ das Zimmer, die beiden Damen
tiefbekümmert zurücklassend.
»Also du meinst, Malve, daß Albrecht es nur schwer

verwinden würde, wenn Karola ihm genommen werden
sollte?« erkundigte das Fräulein sich noch einmal unruhig.
»Das würde ein Unglück für uns alle sein, Tante Fritze.«
»Und wenn sie nun einen andern liebt?«
»Das – das wäre furchtbar!« stammelte die junge Ärztin,
blaß bis in die Lippen. »Du weißt, Tante Fritze -?«
»Ich mutmaße nur, Kindchen – etwas Bestimmtes weiß ich
nicht«, wehrte sie hastig ab.
»Ist es – Herr Elard -?«
»Ja.«
»Großer Gott, wie traurig ist das doch alles!« stöhnte
Malve.

»Nun, nun«, beschwichtigte Tante Fritze. »Es ist ja noch
nichts verloren. Karola ist nicht mehr das weit- und
wirklichkeitsfremde Mädchen von früher. Und da sie wohl
eigenwillig, nicht aber gewissenlos ist, so wird sie langsam
einsehen lernen, daß man eine Ehe nicht so einfach abtun
kann. Sie wird ihre Pflichten, die sie damals übernommen
hat, erkennen und zu Albrecht zurückkehren.«
»Damit wäre Albrecht keineswegs gedient«, lächelte Malve
mit zuckenden Lippen.
»Ja – dann bin ich mit meiner Weisheit zu Ende«, zuckte
das Fräulein mit den Achseln. »Da heißt es jetzt weiter

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nichts als abwarten.«
Karola kam mit den Zwillingen zurück, die ihre Hand gar

nicht mehr loslassen wollten. Es war rührend,
mitanzusehen, wie sie langsam zutraulicher wurden. Die
verschüchterten Herzchen konnten es wohl immer noch
nicht fassen, daß ihre Mutti es plötzlich so gut mit ihnen
meinte.
»Mutti erlaubt uns, daß wir die Zeit, während Fräulein
Dotz in Urlaub geht, bei ihr bleiben«, erzählte Dorli
wichtig.
»Wann fährt das Fräulein denn?« erkundigte Tante Fritze
sich freundlich.
»Morgen. Aber wir bleiben heute gleich hier, Mutti hat es
uns versprochen.«

Wie vertrauend dieses ›Mutti hat es uns versprochen‹ klang,
so ohne jeden Zweifel, so voll unerschütterlicher
Zuversicht.
»Wir bekommen unser Zimmer neben dem Utes«, erzählte
Lorli mit glücklichem Lächeln. »Dann können wir unser
Schwesterchen immer sehen – und auch unsere Mutti.«
»Und was wird der Vater dazu sagen?« fragte Malve leise.
»Der Vater?« fragte Lorli, als horche sie in sich hinein.
»Nun, der tut gewiß, was die Mutti will.«
»Woraus schließt du denn das?« erkundigte Tante Fritze
sich lachend.
»Weil er die Mutti liebhat«, nickte das Kind ernsthaft.

»Lieber noch als die Ute.«
»Und das muß dir erst dieses kleine Mädchen sagen«,
nickte das Fräulein zur Nichte hin, die heiß errötet war.
»Hoffentlich weißt du nun endlich, was du zu tun hast.«
Da Karola nicht antwortete, hielt auch Tante Fritze es für
ratsam, in Anwesenheit der Kinder diese heikle
Angelegenheit nicht weiter zu erörtern. Außerdem kam
jetzt Elard hinzu, so daß sowieso jedes vertrauliche
Gespräch unterbleiben mußte.
Der Mann sah ordentlich vergrämt und verhärmt aus. Und
als die Tante einen bangen Blick Malves auffing, da wußte

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sie, daß die junge Ärztin ihre Befürchtung, daß Karola und
Elard sich liebten, teilte.

Und das war ja nun wirklich etwas, worüber man sich
schwere Sorgen machen mußte. Wenn Karola den Mann
nun wirklich liebte, dann konnte man von ihr nicht
verlangen, daß sie ihrer Liebe entsagte und nur aus Pflicht
zu Albrecht zurückkehrte.
Es war schon ein wahres Kreuz mit dieser Liebe! Fräulein
Fritze war ihr schon immer gram gewesen, aber jetzt hatte
sie eine förmliche Wut auf diese vielgepriesene Liebe, die
so viel Unheil anrichten konnte. Nicht allein, daß sie den
Beteiligten bitteres Herzweh brachte, sie machte auch noch
denen, die um sie waren, das Leben schwer.
Fräulein Fritze mußte erst eine Weile hinausgehen, damit

sie nicht das, was sie quälte und ergrimmte, sich vom
Herzen polterte. Und das wäre so verkehrt wie möglich
gewesen.
Als sie nach einer Weile wiederkam, besprachen Malve und
Karola die Übersiedlung der Kinder nach Allhöfen.
»Es ist besser, wenn die Mädels heute noch mit mir
kommen«, schlug die junge Ärztin eben vor. »Schon damit
Fräulein Dotz sich nicht übergangen fühlt. Sie ist nämlich
sehr empfindlich und nachtragend, was die Kleinen dann
später zu spüren bekämen. Außerdem weiß ich nicht, was
Albrecht mit dem Fräulein vereinbart hat. Wie er überhaupt
die Übersiedlung der Kinder aufnehmen wird.«

»Das verantworte ich schon«, meldete sich nun Karola.
»Albrecht hat mich mehr als einmal darauf hingewiesen,
mich der Kleinen anzunehmen. Und nun ich es tue, kann
er doch nichts dagegen haben.«
Das mußte auch Malve einsehen, und so erbot sie sich
denn, die Kinder am nächsten Tag wieder nach Allhöfen zu
bringen. Sie traf auch mit ihnen zur verabredeten Zeit ein,
sah jedoch so verärgert aus, wie man das sonst so ruhige
Mädchen noch nie gesehen hatte.
»Was hat es denn gegeben«, erkundigte Fräulein Fritze sich
ahnungsvoll. »Hat Fräulein Dotz etwa Schwierigkeiten

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gemacht?«
»Sie hat es so arg getrieben, daß die Kinder schutzsuchend

zu mir gelaufen kamen«, berichtete sie unmutig. »Sie wagte
es sogar, bis in mein Dienstzimmer vorzudringen und mir
kurz und bündig zu erklären, daß sie nicht daran dächte,
heute ihren Urlaub anzutreten. Der Herr Doktor hätte sie
ausdrücklich gebeten, bis zu seiner Rückkehr im Hause zu
bleiben, und diesem Wunsche würde sie unter allen
Umständen nachkommen.
Ich gab mir nun die größte Mühe, der aufgebrachten Dame
zu erklären, daß die Mutter der Kleinen deren Übersiedlung
nach Allhöfen wünsche und sie daher ohne Bedenken
ihren Urlaub antreten könne. Da wurde sie anmaßend und
laut, daß ich sie aus dem Zimmer weisen mußte. Und nun

weiß ich nicht, was darauf folgen wird«, schloß sie
verärgert.
»Nichts weiter wird werden, als daß ich diesem
anmaßenden Fräulein einmal gehörig die Wacht blasen
werde«, versprach Tante Fritze empört. »Die Kinder bleiben
hier!«
Karola sagte nichts. Sie umfaßte die Schultern der Mädels
und zog sie mit sich fort nach dem Zimmer hin, das sie am
Vormittag für sie eingerichtet hatte.
»O Mutti, so schön sollen wir es haben?« fragte Dorli
beglückt. »Das ist ja ebenso schön hier wie bei Ute.«
»Ihr seid ja auch meine Kinder«, erklärte Karola lächelnd

und sah dann zu, wie die beiden voller Freude von einem
Möbelstück zum andern liefen, sie bewunderten und
streichelten, als wären sie lebende Wesen.
»Karola, wie soll ich Ihnen danken, daß Sie sich so
liebevoll der Kleinen annehmen«, hörte sie da neben sich
die tränendunkle Stimme Malves.
»Ich tue doch nur meine Pflicht – die ich leider etwas zu
spät erkannt habe«, wehrte die junge Frau verlegen ab.
»Viele trostlose Stunden hätten den Kindern erspart bleiben
können, wenn ich mich früher auf meine Pflicht besonnen
hätte. Und wenn ich sie anfänglich ein wenig verwöhnen

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sollte, so geschieht es nur, um vieles wiedergutzumachen.«
Malve konnte sich über dieses Geständnis Karolas heute

nicht so freuen, wie es noch vor einigen Tagen der Fall
gewesen wäre. Sie mußte an Elard denken. Wie er es wohl
auffassen würde, wenn Karola ihm eröffnete, daß sie zu
ihrem Gatten zurückkehren wolle? Wie bitter schwer es für
die junge Frau selber sein mußte, diesen Weg zu gehen.
Und wie wahnsinnig Albrecht darunter leiden würde, wenn
er erst dahinter kam, daß seine Frau nur aus Pflicht- und
Verantwortungsgefühl zu ihm zurückgefunden hatte.
So ist es nun im Leben, dachte sie in stiller Verzweiflung.
Wofür der eine sein Herzblut hingeben würde, das achtet
der andere für nichts. Mich würde Albrechts Liebe zum
glücklichsten Menschen machen - und Karola, die diese

Liebe in vollstem Maße besitzt, ist sie ein Hindernis, das
ihr den Weg zum Glück versperrt.
Das Herz war ihr so bang und schwer, daß oft der Gedanke
in ihr aufstieg, einfach ihre Stellung in dem Sanatorium
aufzugeben und weit wegzugehen. Aber sie kannte sich und
wußte, daß sie es ja gar nicht ohne ihre Lieben aushalten
würde; deshalb machte sie erst gar nicht den Versuch, von
ihnen zu gehen.
Die Kinder fehlten ihr ohnehin schon, und sie brachte jede
freie Stunde in Allhöfen zu, um mit ihnen zusammen zu
sein.
Dort ging es in den nächsten Wochen still und friedlich zu.

Draußen hatte das Herbstwetter eingesetzt, und so war es
in den mollig durchwärmten Räumen des Herrenhauses
doppelt traut und gemütlich.
Die Zwillinge verloren allmählich ihre Schüchternheit und
schlossen sich immer fester an Karola an. Sie hingen bald
mit rührender Liebe an ihrer einst so verhaßten Stiefmutter,
die ihnen ihre Anhänglichkeit mit herzlicher Fürsorge um
ihr Wohl vergalt. Zuweilen konnten sie schon so fröhlich
und unbeschwert sein wie andere Kinder. Wenn etwas ihre
kleinen Herzen beengte, dann gingen sie nicht zu Tante
Fritze oder Malve, die sie doch auch herzlich liebten,

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sondern ihr erster Weg war dann zur Mutter, die auch stets
Rat für ihre kleinen Sorgen und Nöte wußte.

Wenn Malve den Zwillingen von ihrer Erzieherin erzählte,
die tatsächlich ihren Urlaub nicht angetreten hatte, dann
lachten die Kleinen. Das Fräulein kam ihnen jetzt wie ein
Kinderschreck aus längst vergangenen Tagen vor.
Karola und Malve verstanden sich jetzt ausgezeichnet. Sie
tauschten schon längst das vertraute Du, worüber Malve
sehr beglückt war. Sie hing jetzt mit herzlicher Liebe an der
jungen Frau.
Von Winard wurde wie auf Verabredung nie gesprochen.
Fast vier Wochen war er nun schon fort, ohne an seine
Angehörigen geschrieben zu haben.
Auch über Elard wagten weder Fritze noch Malve mit

Karola zu sprechen. Sie sahen nur voll banger Sorge, wie er
mehr denn je die Gesellschaft der jungen Frau suchte. Sie
hatten die beiden schon oft in vertrautem Gespräch
angetroffen. Elard war dann immer sehr verlegen gewesen,
und Karola hatte ein verstecktes Lachen in den Augen
gehabt.
Da hatte man nun mehr und mehr gehofft, daß sie Elard
aufgegeben hatte – und mußte nun wieder diese
Vertraulichkeit zwischen ihr und dem Mann ihrer Liebe
erleben.
Nein, aus Karola konnte man nicht mehr klug werden!
Allein, der Mann, der sie an einem Vormittag in trautem

Gespräch mit Elard nahe beieinander sitzen sah, so nahe,
daß sich ihre Köpfe berührten – der abgerissene Worte aus
der geflüsterten Unterhaltung auffing, dem wurde das
Verhältnis der beiden Menschen zueinander ganz eindeutig
klar. So klar, daß er nicht das Zimmer betrat, wie er
gewollt, sondern wie gehetzt das Haus verließ und zur
Stadt zurückfuhr.
Mit einem frohen Lachen betrat Malve später das
Arbeitszimmer ihres Schwagers.
»Ich hörte vom Herrn Professor, daß du endlich von deiner
Reise zurückgekehrt bist«, begrüßte sie ihn warm und

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herzlich. »Sehr lange bliebst du fort, du Böser. Wir haben
dich alle schon mit Schmerzen zurück erwartet.«

»So – alle?« fragte er in einem Ton, der die junge Ärztin
aufhorchen ließ. Und als er ihr nun sein Gesicht voll
zuwandte, zuckte sie erschrocken zusammen.
Was war denn mit dem Manne geschehen? Sein Gesicht
war wie versteinert. Und seine Haltung hatte etwas so
Eisiges, Ablehnendes, daß Malve ihn ratlos anstarrte.
»Albrecht – bist du – krank?« stotterte sie endlich hervor.
»Nein – leider«, erfolgte die sonderbare Antwort. »Aber
wenn du mir einen Gefallen tun willst, Kindchen, dann laß
mich jetzt allein, damit ich mich umziehen kann. Ich will
mich nämlich nach meinen Patienten umschauen.«
»Du machst doch einen völlig erschöpften Eindruck,

Albrecht. Möchtest du dich nicht zuerst eine Stunde
hinlegen?« wagte die junge Ärztin vorzuschlagen.
»Nein, danke. Zum Schlafen habe ich jetzt weder Zeit noch
das Bedürfnis«, wehrte er kurz ab, so daß Malve nichts
übrigblieb, als ihn allein zu lassen.
»Habe ich nicht gesagt, daß er nicht froher zurückkehren
wird«, murmelte sie draußen mit zuckenden Lippen. »Und
nun ist es gar noch viel ärger geworden.«
Mit bangem Herzen sah sie seinen Besuchen bei den
Patienten entgegen. Mit diesem harten, starren Gesicht
konnte er den Kranken doch unmöglich die Beruhigung
bringen, die sie von ihrem geliebten Doktor erwarteten.

Doch es ging alles gut und glatt. Denn als der Arzt bei den
Kranken war, verlor sich die Starrheit seiner Züge sofort.
Ruhig und geduldig hörte er sich auch heute die
unzähligen Klagen der anspruchsvollen Patienten an,
beruhigte und beschwichtigte, fand für alles Rat und
Abhilfe, so daß sie ihm verklärt nachsahen, wenn er sie
verließ. Verschiedene sehr verwöhnte Kranke
überschütteten ihn mit Vorwürfen, als er bei ihnen
erschien. Er wäre so sehr lange fort gewesen, das könnten
sie unmöglich noch einmal ertragen. Und selbst bei diesen
eigenwilligen Kranken fand er die passenden Worte, verlor

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bei ihrem kindischen Benehmen nicht einen Augenblick
die Geduld.

Der Professor, der an diesen Krankenbesuchen teilnahm,
schmunzelte vergnügt vor sich hin.
»Ist doch ein prachtvoller Kerl, unser Doktor«, sagte er,
nachdem Winard sich verabschiedet hatte, zu Malve. »Bei
ihm werden selbst die aufsässigsten Kranken fromm wie
Lämmer. Er ist aber auch die Ruhe und Gelassenheit in
Person, und das ist es, was ihm zu seinem Erfolg als
Nervenarzt verholfen hat.«
Der alte Herr wäre jedoch sehr betroffen gewesen, wenn er
hätte sehen können, wie sein von ihm gelobter Oberarzt
sich eben in seinem Arbeitszimmer in einen Sessel sinken
ließ. Da war auch keine Spur von Ruhe und Gelassenheit in

dem Gebaren des Mannes. Er machte vielmehr den
Eindruck eines Menschen, der mit sich und der Welt fertig
ist. Blaß und verhärmt war das Gesicht, in dem die Lippen
unaufhörlich zuckten. Aufstöhnend drückte er den Kopf in
die Hände und verharrte so regungslos, bis ein Klopfen an
der Tür ihn aufschrecken ließ. Auf seine Aufforderung
betrat Fräulein Dotz das Zimmer.
»Herr Doktor, ich muß Sie sprechen.«
»Bitte«, zeigte er mit einer einladenden Bewegung auf einen
Sessel. Er saß ihr gegenüber so am Schreibtisch, daß sein
Gesicht im Schatten lag.
»Herr Doktor, ich bin gekommen, um bei Ihnen mein

Recht zu suchen«, begann sie ohne Umschweife. »Doch
zuerst die Frage: Haben Sie angeordnet, daß die Kinder
während Ihrer Abwesenheit nach Allhöfen übersiedeln?«
Einige Herzschläge lang blieb die Antwort aus. Winard
hatte ja keine Ahnung, daß die Zwillinge nicht im Hause
waren, was das anscheinend sehr aufgebrachte Fräulein
natürlich nicht zu wissen brauchte.
»Selbstverständlich habe ich das angeordnet«, entgegnete er
kurz und knapp. »Ich bin doch von allem unterrichtet, was
in meinem Hause geschieht.«
»Und warum haben Sie mich dann gebeten, meinen

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Urlaub erst anzutreten, wenn Sie von der Reise
zurückgekehrt wären?« fragte sie nun schwer gekränkt. »Ich

saß nun hier allein – «
»Entschuldigen Sie bitte, Fräulein Dotz«, unterbrach er sie
gelassen. »Es war ein Mißverständnis, das mir leid tut. Die
Kinder werden heute noch zurückkehren, und Sie können
Ihren Urlaub an Weihnachten antreten.«
»Ja – damit wäre ich einverstanden«, erklärte sie gnädig. »Es
ist auch höchste Zeit, Herr Doktor, daß die Mädchen
zurückkommen. Sie werden in Allhöfen zu sehr verzogen,
und ich habe nachher die Mühe, ihnen die Unarten wieder
abzugewöhnen. Sie wissen ja, Herr Doktor, daß Eleonore
und Dorothee eine straffe Hand brauchen, wenn aus ihnen
nützliche Glieder der Menschheit werden sollen.«

»Ich kann Ihnen nur noch einmal sagen, daß die Kinder
heute noch in Ihre Obhut zurückkehren werden«,erklärte er
schon ein wenig ungeduldig.
Ja, nun konnte sie wohl gehen. Und sie hatte ihrem
gekränkten Herzen doch so recht Luft machen wollen. Aber
die Haltung des Mannes nahm ihr nun den Mut dazu.
Schwer gekränkt und ganz und gar unzufrieden mit sich
und dem Ergebnis der Unterredung verabschiedete sie sich
von dem Vater ihrer Zöglinge, der sofort seine Schwägerin
zu sich bitten ließ.
»Malve, wie kommt es, daß die Zwillinge in Allhöfen
sind?« fragte er, als sie eintrat.

»Weil Karola es wünschte«, entgegnete Malve tapfer,
obgleich ihr das Herz bis zum Halse hinauf schlug. »Die
Kleinen sind dort viel besser aufgehoben als hier bei
Fräulein Dotz, die viel zu hart und streng mit ihnen
umgeht. Sie ist überhaupt ein Mensch, dem man seine
Kinder nicht rückhaltlos anvertrauen sollte. Karola meint –
«
»Was Karola meint, das spielt jetzt keine Rolle mehr«,
unterbrach er sie unwillig. »Wem ich meine Kinder
anvertraue, das müßt ihr schon mir überlassen. Jedenfalls
müssen sie noch heute nach Hause kommen, und ich

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möchte dich bitten, sie von Allhöfen abzuholen.«
Malve hielt den Kopf tief gesenkt, damit er die Tränen nicht

sehen sollte, die ihr in die Augen schossen.
Ausgerechnet sie sollte die Kinder holen!
»Es will mir fast scheinen, als würde mein treuer Kamerad
mich diesmal im Stich lassen?« hörte sie nun seine
mahnende Stimme. Ihr Kopf ruckte hoch, so daß er ihr nun
frei ins Gesicht sehen konnte, in dem es zuckte und bebte.
»Albrecht, die Kinder haben es so gut bei Karola, die ihnen
jetzt von Herzen zugetan ist und wie eine rechte Mutter für
sie sorgt«, begann sie in eindringlichem Ton. »Du hast
deine Frau doch mehr als einmal auf ihre Pflichten, die sie
deinen Kindern gegenüber hat, hingewiesen.«
»Ja – damals!« lachte er so hart und bitter auf, daß ihr Herz

sich in Mitgefühl zusammenzog. »Das liegt alles so fern –
so weltenfern! Damals habe ich noch geglaubt und gehofft.
Doch heute – «
»Mein Gott, Albrecht, was ist denn nur geschehen?«
Dieser beschwörende, herzensbange Ton brachte den Mann
zur Besinnung. Er fuhr sich über Kopf und Augen und
lächelte dünn. Doch dieses Lächeln schnitt Malve noch
mehr ins Herz, als vorhin sein zorniges bitteres Lachen.
»Es ist nichts weiter geschehen, als das, was vielen
Menschen in der Welt geschieht«, war die rätselhafte
Antwort. »Es ist zu alltäglich, um noch viele Worte darum
zu machen. Nur derjenige, den es trifft, der muß zusehen,

daß er an dem harten Bissen, den das Schicksal ihm zu
schlucken gibt, nicht erstickt. – Und nun tue mir die Liebe,
und frage nicht, Malve. Hole die Kinder her; zeige heute
wieder einmal, daß du mein guter, treuer Kamerad bist, auf
den ich mich in jeder Lebenslage verlassen kann.«
Da wandte die junge Ärztin sich wortlos ab. Doch draußen
mußte sie sich gegen die Wand lehnen, um sich zu
sammeln. Es war ihr bitterelend zumute.
Malve stand in der Tür, die nach dem Spielzimmer der
kleinen Ute führte, und sah mit traurigen Augen auf das
frohe Treiben, das darin herrschte. Die Kinder lagen

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bäuchlings auf dem dicken flauschigen Spielteppich und
mittendrin saßen Fritze und Karola, die bemüht war, dem

krummbeinigen Dackel ein rotes Höschen anzuziehen, was
diesem immer wieder ein entrüstetes Knurren und den
Kindern lauten Jubel entlockte.
Dann war endlich das schwere Werk geschafft, und Waldi
stolzierte im Zimmer umher, halb freudig, halb gekränkt.
»Tante Malve, schau nur!« rief Lorli, die die Tante zuerst
entdeckt hatte. »Ist der Waldi nicht putzig?«
Malve sah in das strahlende Kindergesicht, und ihr Herz
zog sich zusammen.
Nur einige Worte brauche ich zu sagen – und schon
werden die Kinderaugen nicht mehr strahlen, sondern
Tränen vergießen, dachte sie gequält. Und gerade ich muß

es sein, die den Kleinen diesen Schmerz antun und sie aus
diesem sonnigen Heim in ihr ödes Zuhause holen muß.
»Malve, was hast du denn, du bist ja ganz erschreckend
blaß?« fragte Karola beunruhigt. »Ist etwas mit deiner
Mutter geschehen?«
Malve winkte müde ab. »Nein, das ist es nicht. Ich soll nur
die Kinder – zurückholen.«
»Warum denn das?« fragte Tante Fritze, während die
Zwillinge die Tante mit erschrockenen Augen anstarrten.
»Albrecht verlangt es.«
»Albrecht? Ist er denn zu Hause?«
»Ja, seit heute vormittag.«

»Und warum sollen die Kinder von hier fort?« erkundigte
Karola sich nun befremdet.
»Den Grund kann ich dir nicht nennen, Karola, da ich ihn
selber nicht weiß. Albrecht bat mich nur, die Kleinen in ihr
Vaterhaus zurückzuholen – wo sie hingehörten.«
Karola biß die Zähne in die Unterlippe und sah grübelnd
vor sich hin. Die Kinder eilten auf sie zu und umschlangen
sie stürmisch.
»Nicht wahr, Mutti, wir brauchen nicht nach Hause
zurück?« bettelte Lorli mit Augen und Lippen. »Sag doch
dem Vater, daß wir hierbleiben möchten.«

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»Dazu muß ich ihn doch erst sprechen.«
»Ja, Mutti, das tu nur!« rief Dorli rasch getröstet. »Fahre

gleich zu ihm, wir warten hier auf dich.«
»Das geht nicht«, schaltete sich jetzt Malve ein. »Ihr müßt
mitkommen. Ausdrückliches Gebot des Vaters. Daß ihr das
nicht übergehen dürft, wißt ihr doch.«
Nun war eine bedrückende Stille im Zimmer, die von Lorlis
bitterlichem Weinen unterbrochen wurde.
»Tante Malve, warum können wir nicht hierbleiben, bei
Mutti, Ute und Tante Fritze? Uns gefällt es doch so gut hier.
Kannst du das dem Vater nicht sagen?« sprach Dorli mit
bedenklich schwankender Stimme.
Und als sie das stumme Kopfschütteln der Tante sah,
kamen auch ihr die Tränen.

»Kinder, nun weint nicht«, tröstete Karola. »Ihr kommt mit,
und ich werde mit euerm Vater sprechen.«
Das beruhigte die Kleinen ungemein. Ganz vergnügt fuhren
sie mit der Mutter und der Tante zur Stadt. Ihnen wurde
erst wieder bang zumute, als sie die weiße Villa betraten.
»Nimm dich der Kinder an, Malve«, bat Karola, als sie die
Treppe emporstiegen. »Ich will gleich mit Albrecht
sprechen.«
Ein Zimmermädchen, das gerade durch die Diele ging,
konnte den Bescheid geben, daß der Herr Doktor in seinem
Arbeitszimmer sei.
»Mutti, nicht wahr, du sagst dem Vater, daß wir mit dir

nach Allhöfen zurück wollen?« flehte Dorli, die Mutter
dabei stürmisch umhalsend.
»Ja, Mutti, bitte!« bettelte auch Lorli.
»Kinder, wenn ihr mich erwürgt, dann komme ich erst gar
nicht zum Vater hin«, scherzte Karola, wobei sie sich aus
der festen Umschlingung der Kinderarme löste. »Haltet den
Daumen, daß ich den Vater bei guter Stimmung antreffe.«
»Kommt jetzt, Kinder«, mahnte Malve, die das alles kaum
noch mit ansehen konnte.
Da ließen die Kleinen sich von ihr fortziehen, gingen
jedoch mehr rückwärts als vorwärts und winkten lebhaft

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der Mutter zurück, die so lange vor der Tür, die zu des
Gatten Arbeitszimmer führte, stand, bis die Mädchen ihren

Augen entschwunden waren. Dann erst klopfte sie an die
Tür.
Aus dem Zimmer kam keine Antwort, es war nur leise
Radiomusik daraus zu hören. Karola klopfte noch einige
Male ergebnislos – und dann betrat sie kurz entschlossen
das große Gemach.

»Niemals darfst du mich, darfst du mich verlassen,
niemals will ich einsam sein.
Immer will ich dich, will ich dich umfassen,
immer will ich dir und du sollst mir verzeihn«,

klang eine dunkle, zärtliche Männerstimme aus dem
Lautsprecher. Karola schloß leise die Tür, sah sich suchend
im Zimmer um und entdeckte den Gatten in einem Sessel
am Kamin. Sein Gesicht war ihr halb zugewandt – und
eisiger Schrecken erfaßte sie beim Anblick dieses blassen,
zerquälten Männerantlitzes.
»Immer will ich dich, will ich dich umfassen«, wiederholte
die Stimme im Radio, und es schien, als ob die zuckenden
Lippen des Mannes im Sessel die Worte des Liedes leise
mitsprächen.
Karola war zumute, als drücke eine harte Hand ihr das
Herz zusammen.

Was war hier geschehen? Was hatte diesen sonst so
ruhigen, gelassenen Mann so umwerfen können?
Zögernd trat sie einige Schritte näher.
»Albrecht!« sagte sie behutsam.
Der Mann hob den Kopf, als ob er lausche.
»Albrecht!« sagte sie noch einmal- und da hob er den Kopf
- sprang auf…
»Niemals will ich wieder einsam sein«, sang die Stimme
aus dem Lautsprecher beschwörend.
Ein Griff der festen Männerhand nach dem Radio – das
Lied war verklungen.

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Und doch schien es, als wäre das ganze Zimmer erfüllt von
der traurigen, schwermütigen Männerstimme. Karola

spürte bis ins Herz hinein dieses beschwörende: ›Niemals
will ich wieder einsam sein!‹ Sie wagte den Mann, der
regungslos vor ihr verharrte, nicht anzusehen. Erst als er
sprach, zuckte sie zusammen und hob zaghaft den Kopf.
Blick ruhte in Blick – forschend, fragend – und nun war es
Albrecht, der den seinen zuerst abwandte. In sein Gesicht
trat ein Zug eiserner Härte, und seine Gestalt straffte sich,
als wolle er einen Kampf austragen.
»Was wünschst du von mir?« fragte er ganz ruhig, ganz
eisig.
»Albrecht, kannst du dir nicht denken, was ich bei dir
will?« fragte sie zurück.

»Nein! Denn ich wüßte nicht, was wir uns noch zu sagen
hätten.«
Karola mußte sich zusammenreißen, damit sie vor diesem
veränderten Manne nicht die Flucht ergriff.
»Ich habe dir noch recht viel zu sagen«, fuhr sie tapfer fort.
»Ich möchte dich zuerst einmal bitten, mir deine Kinder
einstweilen nach Allhöfen zu geben.«
»Nein!« schnitt er ihr kurz und scharf das Wort ab. »Damit
die mutterlosen Kinder erst Liebe kennenlernen, um dann
wieder zurückgestoßen zu werden in Öde und Leere. Das
möchte ich meinen Kindern ersparen. Lieber lasse ich sie
ohne Mutterliebe aufwachsen, als daß sie sich später

danach krank sehnen.«
»Albrecht, was hast du denn nur?« fragte die junge Frau
nun entsetzt.
»Was sprichst du da überhaupt? Man müßte fast
annehmen, daß dir die Sinne verwirrt wären«, setzte sie mit
leichtem Grausen hinzu, als sie in seine Augen sah, die
eiskalt wirkten, in deren Tiefe es jedoch heiß zu lodern
schien.
»Kommst du nun, um dich an deiner Rache zu weiden?«
schrie er sie unerwartet an. »Oder kommst du, um zu
fragen, wie lange es noch dauern kann, bis ich in die

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Scheidung einwillige? Du sollst die Scheidung haben,
sobald es nur angeht! Doch jetzt geh – geh? Und komme

nie mehr wieder!«
Karola taumelte einige Schritte zurück, bis sie Halt an der
Tür fand. Die Beine zitterten ihr so heftig, daß sie
befürchten mußte, zusammenzusinken. Denn was der
Mann vor ihr eben gesprochen hatte, war so unfaßlich, daß
es einen Menschen schon umwerfen konnte.
Sie setzte einige Male zum Sprechen an, bis sie einen Laut
aus der Kehle bekam.
»Du bist nun plötzlich – mit der – Scheidung –
einverstanden -?« rang es sich mühsam von ihren Lippen.
»Ja!«
Wie ein Peitschenhieb, so kurz und scharf fiel dieses eine

Wort, so daß Karola sich unwillkürlich duckte. Sie hatte
jetzt nur den einen Wunsch, dem Manne nicht zu zeigen,
wie sehr seine Eröffnung sie getroffen hatte. All ihren Stolz,
ihren Trotz rief sie zur Hilfe – und die waren es auch, die
ihr die nächsten Minuten überstehen halfen.
»Dann – ja dann haben wir uns wirklich – nichts mehr zu
sagen«, nickte sie ihm zu, der fest wie ein Fels vor ihr stand.
Noch einmal umfaßte ihn ihr Blick, als müsse sie sich den
Anblick dieser hohen, gestrafften Gestalt einprägen für alle
Zeit. Dann wandte sie sich schweigend ab und ging.
»Karola!« wollte der Mann rufen, doch er brachte keinen
Laut über die farblosen Lippen. Die Augen starrten noch

immer auf die Tür, die sich schon längst hinter der jungen
Frau geschlossen hatte. Mit einem dumpfen Stöhnen sank
er in den Sessel.
»Es geht ja vorüber«, murmelte er, als müsse er sich Mut
und Trost zusprechen. »Es geht ja alles einmal vorüber.«
»Mädel, wie siehst du aus?« fragte Tante Fritze mit einem
forschenden Blick in das blasse Gesicht der Nichte, die
eben zu ihr ins Zimmer trat. »Wo sind die Kinder?«
»Zu Hause.«
»Dann ist Albrecht also fest geblieben?«
»Ja«, antwortete Karola, indem sie sich setzte. »Albrecht will

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sich von mir scheiden lassen.«
Das war so einfach, fast gleichmütig gesagt - doch der Tante

blieb fast das Herz stehen vor Schreck.
»Nun ja«, brummte sie dann vor sich hin. »Was bleibt dem
Mann auch anders übrig. Wie ist er nur mit einem Male zu
dem Entschluß gekommen?« setzte sie hinzu.
»Keine Ahnung«, Karola zuckte mit den Achseln.
»Wahrscheinlich haben ihn meine Zweifel so tief erzürnt,
daß er eine Trennung von mir wünscht.«
Sie gab kurz wieder, was sie ihm damals auf dem Fest
gesagt hatte, und Tante Fritze schüttelte mißbilligend den
Kopf dazu.
»Ja, da hat er auch allen Grund, erzürnt zu sein. Und doch
will ich nicht glauben, daß es ihm genügen sollte, dich

aufzugeben. Vergiß nicht, mit welcher Bestimmtheit er eine
Trennung von dir bisher abgelehnt hat.«
»Dann wird eine andere Frau ihn wohl anderen Sinnes
gemacht haben«, lachte Karola nervös auf. »Laß nur, Tante
Fritze, es ist gut so.«
An diese Frau glaubte Tante Fritze nicht. Sie nahm vielmehr
an, daß Winard hinter Karolas Liebe zu Elard gekommen
sein müßte. Und da sie ihm somit verloren war, gab er sie
frei. Für Karola war das ja die beste Lösung – doch für die
anderen…
»Wie haben die Kinder es aufgenommen, daß sie nicht mit
dir kommen durften?« erkundigte sie sich bei der jungen

Frau, die still dasaß, und den Kopf in die Hände gestützt
hatte.
»Ich habe sie nach der Unterredung mit Albrecht nicht
mehr gesehen.«
»Arme Dinger! Das wird ein schöner Jammer werden. Hast
du Albrecht wenigstens noch zu verstehen gegeben, daß die
Kleinen bei Fräulein Dotz nicht so gut aufgehoben sind,
wie er sich einbildet?«
»Nein, dazu kam ich gar nicht. Er war von einer starren
Unzugänglichkeit.«
»Na ja – nun ist es endlich eingetroffen, was zu befürchten

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war«, seufzte das Fräulein. »Das war bei euch eben von
vornherein eine verfahrene Geschichte. Ihr hättet euch nie

heiraten dürfen, dann wäre euch und anderen Unruhe und
Herzeleid erspart geblieben.«
»Tante Fritze, höre mit deinen Vorhaltungen auf!« bat die
junge Frau gequält. »An mir hat es nicht gelegen. Ich wollte
ja den Fehler, den ich mit dieser Heirat gemacht habe,
schon im ersten halben Jahre gutmachen. Wenn Albrecht
sich jedoch gegen eine Trennung der Ehe bis jetzt so
hartnäckig sträubte, dafür kann ich doch nichts.«
»Du hast recht«, nickte das Fräulein. »Also wollen wir uns
nicht weiter mit der Schuldfrage beschäftigen, sondern
zusehen, daß wir nun endlich einmal zur Ruhe kommen.
Dieses Hangen und Bangen der letzten Zeit war ja kaum

noch zu ertragen. Was wirst du nun in der
Scheidungsangelegenheit unternehmen?«
»Nichts. Das laß ich Albrecht allein besorgen.«
Da stand Tante Fritze nun wieder vor einem neuen Rätsel.
Es mußte Karola doch viel daran liegen, sobald wie
möglich freizuwerden.
Ach, Tante Fritze fand sich in dem Wirrwarr überhaupt
nicht mehr zurecht!
Es kamen nun Tage, die Leid und Kummer brachten.
Karola ging still und niedergedrückt umher, und wenn die
Tante Winard auch nur erwähnte, dann fuhr die junge Frau
so gereizt auf, daß Fräulein Fritze es schließlich ganz

unterließ, von dem Arzt zu sprechen.
Elard schien vollends die Sprache verloren zu haben und
stürzte sich mit einer Verbissenheit in die Arbeit, daß es
manchmal schon beängstigend war. Es lag eine Schwüle in
der Luft, wie vor einem schweren Gewitter, und Fräulein
Fritze wünschte sehnlichst, daß es sich endlich entladen
würde. Wenn damit auch vieles vernichtet werden würde,
so gab es doch wiederum klare Luft, in der man wieder frei
atmen konnte.
Aus dem Winardhause ließ sich keiner hören noch sehen.
Und als Tante Fritze die junge Ärztin einmal zufällig in der

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Stadt traf, verriet diese ihr, daß Albrecht ihr und den
Kindern verboten hätte, nach Allhöfen zu fahren.

»Das ist ja noch schöner!« entrüstete sich Tante Fritze. »Du
bist doch kein unmündiges Kind mehr, daß der Herr
Schwager dir so ohne weiteres etwas verbieten kann.«
»Da hast du wohl recht«, gab Malve zu. »Aber ich möchte
sein Gebot achten, weil ich ihn nicht reizen will. Er sieht
nämlich furchtbar aus, Tante Fritze. Sehr gealtert und
erschreckend elend ist er. Dazu von einer unnachsichtigen
Härte gegen sich und andere. Wir zittern schon, wenn wir
ihn nur sehen.«
»Das muß ja dann sehr gemütlich bei euch sein«, meinte
das Fräulein trocken. »Was machen die Kinder?«
»Ach, Tante Fritze, der Jammer der Kleinen ist kaum noch

mit anzusehen. Ihre Sehnsucht nach Allhöfen ist einfach
erschütternd.«
»Kannst du deinen Schwager denn nicht davon
überzeugen, wie unrecht er an seinen Kindern handelt,
wenn er sie von Karola fernhält?«
»Um Gottes willen!« wehrte Malve ordentlich erschrocken
ab. »Ich würde es nie wagen, Karola in seiner Anwesenheit
nur zu erwähnen. Ich weiß ja überhaupt nicht, was
zwischen ihr und Albrecht es gegeben hat.«
»So. Du weißt also wirklich nicht, daß er sich von Karola
scheiden lassen will?«
Malve wurde so blaß, daß Tante Fritze unwillkürlich den

Arm um sie legte, um sie zu stützen.
»Das – das habe ich allerdings nicht einmal – geahnt«,
stammelte sie mit weißen Lippen. »Dann muß Albrecht
dahintergekommen sein, daß Karola Herrn Elard liebt.«
»Das ist auch meine Ansicht«, nickte das Fräulein.
»Tante Fritze – wie schrecklich ist das doch alles! Darüber
kommt Albrecht im Leben nicht hinweg.«
»Auch Karola macht mir Sorge«, verriet Tante Fritze
bekümmert. »Sie geht durch ihre Tage wie ein Mensch, der
keine Hoffnung mehr hat. Und dabei ist der Liebste doch
ständig in ihrer Nähe. Aber auch er sieht nicht froh und

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glücklich aus. Es scheint keiner den Mut zu haben, diesen
unerträglichen Zustand ein Ende zu machen.«

»Könntest du nicht einmal mit Karola oder Herrn Elard
sprechen?« fragte Malve bang.
»Nein, Kind, den Mut dazu besitze ich nicht. Ich habe
außerdem das Gefühl, daß ich damit alles nur noch
schlimmer machen würde. Es gibt Dinge, an die man nicht
rühren darf, die unausgesprochen bleiben wollen.
Ich kann daher weiter nichts tun, als abwarten. Einer oder
der andere wird schon einmal den Weg zu mir finden –
und dann erst wird es Zeit für mich sein, helfend und
vermittelnd einzugreifen.«
Es war kurz vor Weihnachten, als die junge Ärztin ihren
Schwager in seinem Arbeitszimmer aufsuchte. Er war in die

Arbeit vertieft und schien über die Störung ungehalten zu
sein.
»Was wünschst du, Malve?« fragte er kurz.
»Ich möchte dich bitten, einmal nach Dorli zu sehen,
Albrecht. Sie gefällt mir nicht.«
»Wie denn – im Betragen oder gesundheitlich?« erkundigte
er sich nun schon interessiert.
»Sie ißt schlecht und macht einen müden, lustlosen
Eindruck.«
»Dann wird eine Krankheit in ihr stecken.«
»Nein«, widersprach sie nun leise. »Es ist die Sehnsucht -
nach Karola.«

Nun fuhr Winard auf, und Malve sah mit Schrecken, wie
tief er erblaßte, wie seine Hand, die auf dem Schreibtisch
lag, sich zusammenballte.
»Unsinn!« erklärte er schroff. »Karola hat doch wirklich
nichts getan, um sich die Zuneigung der Kinder zu
erringen. Sie ist im Gegenteil von einer verletzenden
Gleichgültigkeit gewesen. Wie sollte ausgerechnet Dorli, die
robustere und nüchternere der Mädchen, Sehnsucht nach
ihr haben?«
»Es ist aber so«, beharrte Malve. »Karola hatte sich in letzter
Zeit der Kinder liebevoll angenommen. Sie hängen an ihr

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mit zärtlicher Liebe – mehr als an dir, Albrecht. Ihre Mutter
ist jetzt ihr alles, und sie sehnen sich krank nach ihr.«

»Entschuldige, wenn ich dir das nicht glaube«, lachte er
kurz auf. »Das Wunder müßte ich erst mit eigenen Augen
sehen.«
»Bitte, du brauchst nur zu den Kindern zu gehen, dann
werden sie dir selber sagen, wie sehr sie die Mutter
vermissen. Vorausgesetzt, daß du nicht gar zu streng mit
ihnen bist. Dann wagen sie nämlich nicht so zu sprechen,
wie ihnen ums Herz ist.«
Winard fuhr herum, als wolle er etwas sagen, winkte dann
jedoch achselzuckend ab.
»Gut, ich werde mir das Kind ansehen«, erklärte er kurz. Er
schritt der Schwägerin voran nach dem Zimmer der

Mädchen, die in einem Bett zusammensaßen und dem
Vater mit erschrockenen Augen entgegensahen.
»Vater, wir haben nichts verbrochen«, flehte Lorli, bevor er
noch sprechen konnte.
»Ich komme ja auch nicht, um euch zu strafen«, begütigte
er freundlich. »Ich will nur einmal Dorli ansehen. Tante
Malve meinte, daß sie krank sei.«
Er setzte sich auf das Bett und hob die Kleine zu sich auf
den Schoß.
»Blaß siehst du aus, Kind. Tut dir etwas weh?« sagte er so
herzlich, wie er schon lange nicht mehr mit den Kindern
gesprochen hatte.

»Nein, weh tut mir nichts, Vater.«
»Hinter diesen Worten steht jedoch ein großes Aber, Dorli.
Willst du es mir nicht auch noch nennen?«
Das hellhaarige Köpfchen senkte sich. »Dann schiltst du
wieder, Vater – «
»Ich verspreche dir, es nicht zu tun, mein Kind, was du mir
auch sagen magst.«
»Tante Malve hat doch gesagt, daß wir nie über die Mutti
sprechen dürfen, wenn du dabei bist.«
Es zuckte in dem verhärmten Männergesicht, und es
dauerte Sekunden, bis der Mann sprechen konnte.

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»Nun hast du es aber doch getan«, sagte er dann ruhig.
»Was ist mit der Mutti?«

Das Kind sah den Vater forschend an. Und dann mußte es
wohl fühlen, daß er es gut mit ihm meinte, denn es legte
die Ärmchen zögernd, doch ganz zutraulich um seinen
Hals.
»Vater, warum dürfen wir nie mehr nach Allhöfen?«
»Dorli, das geht doch nicht. Die Mutti will doch nichts
mehr von euch wissen.«
»Doch!« widersprach das Kind eifrig. »Wir sind jetzt Muttis
Kinder. Sie hat uns jetzt ebenso lieb wie Ute. Das hat sie
uns selbst gesagt. Und was Mutti sagt, das ist wahr.«
Ein Ausdruck tiefer Qual huschte über das Männerantlitz.
»Das hat sich jetzt alles wieder geändert«, kam es so müde,

so zerquält über die harten Lippen, daß Malve vor
Mitgefühl die Tränen in die Augen traten. »Ihr müßt die
Mutti vergessen, Kinder, sie gehört nicht mehr zu uns. Aber
Dorli«, mahnte er, als das Kind das Gesicht gegen seine
Schulter drückte und bitterlich aufweinte. »Gerade dich
habe ich immer für vernünftiger gehalten.«
»Ich kann aber nicht vernünftig sein – wenn – wenn das
hier – drin so weh tut«, zeigte sie nach dem Herzen.
»Bei mir ebenso, Vater«, beteuerte Lorli.
Die Kinder ahnten nicht, wie sehr sie den Vater quälten.
Doch Malve wußte es und versuchte, die Pein zu verkürzen.
»Der Vater wird euch gewiß noch einmal nach Allhöfen

fahren lassen«, begütigte sie.
»Auch wirklich?« forschte Dorli mißtrauisch.
»Wirklich«, bestätigte Malve, wobei sie den Schwager nicht
anzusehen wagte. Sie wußte wohl, wie sehr sie ihn
erzürnte, aber sie konnte die Kinder jetzt nicht ohne Trost
lassen.
Und er begann auch gleich mit seinen Vorwürfen, als sie
allein waren.
»Malve, ich verstehe dich nicht«, schalt er unwillig. »Wie
kannst du den Kleinen etwas versprechen, das du nicht
halten kannst.«

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»Du brauchst ja nur zu gestatten, daß die Kinder nach
Allhöfen fahren, alles andere werde ich dann schon auf

mich nehmen«, beharrte Malve, die heute erstaunlich
hartnäckig war. »Sie glauben dir einfach nicht, daß ihnen
die Mutter wieder verloren sein soll. Das werden sie erst
tun, wenn sie sich selber davon überzeugt haben.«
»Als wenn den Kindern das nicht erspart werden müßte!
Malve, für so unvernünftig habe ich dich nie gehalten.«
Malve lächelte nur. Mochte er nur tüchtig schelten. Das war
besser als seine starre Gleichgültigkeit.
Einige Tage später ließ der Professor die junge Ärztin in
sein Privatzimmer rufen. Obgleich der alte Herr seinem
Oberarzt die Leitung des Sanatoriums vollständig überließ,
war er bei seinen Unterärzten immer noch erste

Respektperson.
So betrat Malve denn mit klopfendem Herzen das Zimmer.
Zum Professor befohlen zu werden, bedeutete größtenteils
nichts Gutes. Doch als sie das wohlwollende Lächeln in
dem klugen Antlitz des Mannes sah, war sie beruhigt.
»Da sind wir ja, mein liebes Fräulein Doktor«, sagte er, ihr
mit herzlicher Gebärde die Hand entgegenstreckend. Dann
ein forschender Blick in ihr Gesicht.
»Sie sehen mir auch nicht aus, mein Kind, als wenn Ihnen
sehr wohl in Ihrer Haut wäre«, meinte er in seiner geraden
Art. »Was ist denn eigentlich los? Sie sind blaßschnäbelig
wie ein blutarmes Mägdlein, und Freund Winard sieht aus,

als wenn man ihm bald die Augen zudrücken müßte, und
die Zwillinge, die ich gestern traf, machen den Eindruck,
als ob sie nicht satt zu essen bekämen.«
Nun mußte Malve lachen.
»So schlimm ist es mit uns, Herr Professor?«
»Leider, mein Kind. Nun einmal gebeichtet, was ist da
drüben in der Villa los?«
Nun senkte Malve den Kopf.
»Mein Schwager hat sich entschlossen, sich von seiner Frau
– scheiden zu lassen – «
»Wie -? Was -? Ist er also doch endlich mürbe geworden?«

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»Wahrscheinlich, Herr Professor. Denn jetzt war er es, der
seiner Frau die Scheidung angetragen hat.«

»Himmel und Hölle, der Mann wütet ja gegen sich selbst!«
polterte der alte Herr nun los. »Der will sich von seiner
Frau trennen – mit dieser Liebe zu ihr im Herzen? Das hält
er nicht aus. Da geht er langsam daran zugrunde. Was sagt
denn Frau Karola dazu?«
»Das weiß ich nicht, Herr Professor. Ich habe sie lange
nicht mehr gesprochen, weil mein Schwager eine
Verbindung mit Allhöfen nicht mehr wünscht.«
»Dann haben Sie auch Fräulein Fritze nicht gesprochen?«
»Ja, einmal zufällig auf der Straße. Sie weiß jedoch
ebensoviel oder ebensowenig wie ich, da sie sich scheut,
mit ihrer Nichte über deren Eheangelegenheit zu

sprechen.«
»Sieh mal einer an, die Tante Fritze! So viel Zaghaftigkeit
hätte ich ihr nicht zugetraut. Und Ihnen auch nicht, mein
liebes Fräulein Doktor. Man macht eine Sache doch nicht
besser, wenn man sie einfach totschweigt. Wie denken Sie
sich das überhaupt? Sollen wir ruhig mit ansehn, wie der
Winard sich langsam zuschanden grämt?«
»Wenn ich nur einen Ausweg wüßte, Herr Professor.«
»Handeln, Kindchen, einfach handeln! Nicht untätig
zusehen und abwarten. Der Winard ist uns und seinen
Kranken viel zu unentbehrlich, als daß wir ihn missen
könnten. Und wenn er es so weitertreibt, dann sackt er uns

eines Tages zusammen. Solch einen zermürbenden Gram
halten auf die Dauer die stärksten Nerven nicht aus.
Also passen Sie einmal auf, Fräulein Doktor: Ich werde
nach Allhöfen fahren und mit der jungen Frau ein offenes
und ernstes Wort sprechen. Sie muß sich überwinden und
zu ihrem Mann zurückkehren.«
»Das wird sie nicht – weil sie einen andern liebt.«
»Aha!« nickte der alte Herr. »Jetzt kommt langsam Licht in
das rätselhafte Dunkel. So ist also die Sache. Wer ist es?«
»Herr Elard.«
»Hm – die kleine Frau hat keinen schlechten Geschmack.

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Ist mir recht sympathisch, der junge Mann, ich wünsche
ihm alles Glück der Erde. Aber auf die Karola muß er

verzichten. Die hat Pflichten gegen ihren Mann, seine
Kinder und die eigne Tochter. Das muß ihr nur
nachdrücklich klargemacht werden. Geht Ihnen das ein,
Fräulein Doktor?«
»Nein, Herr Professor. Ich traue Karola wohl so viel
Pflichtgefühl zu, daß sie verzichten und zu ihrem Mann
zurückkehren würde. Aber damit wäre ihm gar nicht
gedient. Denn gerade die Erkenntnis, daß seine Frau ihn
nicht mehr liebt, hat meinen Schwager veranlaßt, die
Scheidung von Karola von sich aus zu betreiben.«
Eine Weile war es still zwischen ihnen. Der Professor ging
im Zimmer auf und ab.

»Tja«, meinte er dann, endlich vor Malve stehenbleibend.
»Das ist allerdings eine trübe Geschichte. Und doch darf
man die Hoffnung nicht aufgeben. Ich tue es jedenfalls
nicht früher, als bis ich mit Frau Karola gesprochen habe.«
So kam es denn, daß der alte Herr nach Allhöfen fuhr.
»Bringen Sie Grüße vom Weihnachtsmann?« begrüßte
Fräulein Fritze den Gast, der zum erstenmal ihr Haus
betrat, herzlich.
»Wollen mal sehen, Tante Fritze«, schmunzelte er. »Dazu
muß ich jedoch erst Frau Karola sprechen.«
»Ist im Winardhaus etwas passiert?«
»Nein, Sie brauchen nicht so ängstliche Augen zu machen.

Den Verhältnissen nach geht es dort ganz gut. – Ah, da sind
wir ja schon«, wandte er sich an Karola, die eben eintrat.
»Haben Sie ein Stündchen zu einem Plausch mit mir übrig,
kleine Frau?«
»Gern, Herr Professor.«
Sie ging ihm voran in das Besuchszimmer, wo sie Platz
nahmen. Karola flimmerte es vor den Augen, so sehr erregt
war sie.
»Nun, nun«, beschwichtigte der alte Herr, der ihr die
Erregung ansah. »Es wird schon nicht so arg werden, Frau
Karola. Nehmen Sie an, Ihr Vater säße hier vor Ihnen, um

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ein vertrauliches Wort mit Ihnen zu reden. So gut meine
ich es nämlich mit Ihnen. Und daher will ich auch nicht

lange Vorreden halten, sondern Ihnen klipp und klar
erklären, daß man Sie im Winardhaus no nötig braucht wie
die liebe Sonne. Ihr Gatte macht mir die größte Sorge.
Wenn das so weitergeht, dann kann er nicht mehr lange
seinen anstrengenden Beruf ausüben – so fertig ist er. Und
nun, liebe Frau Karola, frage ich Sie auf Ehre und Gewissen:
Können Sie es vor sich selbst verantworten, einen so
prächtigen, tüchtigen Menschen wie Ihren Gatten
zugrundegehen zu lassen? Ist es nicht Ihre einfachste
Pflicht, da helfend einzugreifen – auch wenn Sie ein Opfer
damit bringen müßten? Glauben Sie, kleine Frau, es ist
nicht immer die Erfüllung eigner Wünsche, was den

Menschen glücklich macht. Das Gefühl, andern Menschen
nötig zu sein wie Sonne und Licht, ist doch auch schon
Glückes genug. Und Ihr Gatte ist es wirklich wert, daß Sie
ihm ein Opfer bringen«, sprach er behutsam weiter, als er
es in dem zarten Antlitz zucken und beben sah. »Ich
schätze ihn, wie sobald keinen andern Mann – nicht nur
als Arzt, sondern auch als Menschen. Er ist mir ans Herz
gewachsen wie ein eigner Sohn, auf den ich habe
verzichten müssen. Und so gern wie einem Sohn habe ich
ihm auch mein Werk in die Hände gelegt, weil ich genau
weiß, daß kein anderer als er in der Lage ist, es in meinem
Sinne weiterzuführen. Jahrelang habe ich nach diesem

Nachfolger gesucht, und nun ich ihn endlich gefunden
habe, soll er mir wieder verlorengehen?«
Karola hatte ihn ungehindert sprechen lassen. Nun er
schwieg, hob sie den Blick.
»Geben Sie sich keine Mühe, Herr Professor. Mein Mann
hat mich doch von sich gewiesen.«
»Aber, aber!« unterbrach der alte Herr sie mit
nachsichtigem Lächeln. »So kraß wollen wir das doch nicht
sehen. Es ist mir wohl bekannt, daß er Ihnen jetzt die
Scheidung anbot, nachdem er sich so lange dagegen
gesträubt hat. Doch haben Sie auch schon zu ergründen

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versucht, aus welcher Veranlassung heraus er Ihnen dieses
Anerbieten gemacht hat? Sie schütteln den Kopf – also

stimmt meine Vermutung schon. Und daher müssen Sie
erst einmal seinem Verhalten, das Sie verletzt hat, auf den
Grund gehen, bevor Sie den Schlußstrich ziehen. Wollen
Sie mir das versprechen, Frau Karola?«
»Herr Professor, nein – das kann ich nicht!« wehrte sie sich
entschieden. »Mein Mann würde mich ja gar nicht
anhören, mich vielleicht nicht einmal vorlassen. Sie haben
ja keine Ahnung, wie hart und unerbittlich er sein kann.«
»Sie müssen es aber versuchen«, beharrte der alte Herr.
»Sprechen Sie sich erst einmal mit ihm aus – restlos, ohne
Vorbehalt. Oder will es der Trotz nicht zulassen, daß Sie
sich dem Mann, der Ihnen die Trennung anbot, noch

einmal nähern?«
»Ach, der spielt schon lange keine Rolle mehr«, wehrte sie
müde ab. »Ich werde auch Ihren Rat befolgen und meinen
Mann zu sprechen versuchen. Dann weiß ich wenigstens,
woran ich bin und brauche mir nicht das Hirn mit Fragen
zu beschweren, die ich mir selber ja doch nicht
beantworten kann.«
»Das ist tapfer, das freut mich wirklich«, nickte der alte
Herr. »Sie sind also doch so, wie ich Sie eingeschätzt habe –
und das macht mich ordentlich glücklich. Und nun mache
ich Ihnen noch einen Vorschlag: Kommen Sie gleich mit
mir. So wichtige Dinge soll man nicht auf die lange Bank

schieben.«
Auch damit war Karola einverstanden. Sie sagte ihrer Tante
Bescheid, die ihren Entschluß nicht genug preisen konnte,
und fuhr mit dem Professor zur Stadt.
Zuerst war sie auch recht tapfer. Doch als sie die weiße
Villa betrat, zitterten ihr die Beine so sehr, daß sie Mühe
hatte sich aufrechtzuhalten.
Auf Albrechts Aufforderung betrat Karola sein
Arbeitszimmer. Er saß am Schreibtisch, der mit Papieren
bedeckt war.
»Leg das Buch nur hierher, Malve«, sagte er, ohne sich

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umzuwenden.
»Albrecht, ich bin es.«

Da fuhr er herum und stand mit einigen Schritten vor ihr.
»Karola, ich habe dich doch gebeten, nicht mehr
hierherzukommen«, sagte er mit heiserer Stimme. »Bitte,
geh! Ich kann eine lange Auseinandersetzung nicht mehr
ertragen!«
Karola sah vor sich das verhärmte Männerantlitz, sah die
weißen Haare an den Schläfen – und mußte sich
zusammenreißen, daß sie vor Erschütterung nicht weinte.
»Albrecht – du mußt mich anhören!«
»Nein, Karola. Ich kann und will nicht. Ich zürne dir nicht,
bin dir auch nicht gram – ich will dich nur nicht mehr
sehen.«

»Albrecht, weißt du eigentlich, wie beleidigend du bist?«
fragte sie jetzt tapfer, obgleich seine eisige Haltung
einschüchternd genug wirkte. »Du mußt mir jetzt endlich
erklären, warum du mich plötzlich nicht mehr sehen
willst.«
»Das fragst du noch – das kannst du wirklich fragen?« sagte
er nun mit so kalter Ruhe, daß sie erschauerte. »Weil du
mich betrogen hast, seit Jahr und Tag betrogen! Und ich
Narr hatte auf deine Treue gebaut. Auf deine Liebe nicht –
aber auf deine Treue.«
Er sah wohl, wie sie zusammenzuckte, wie jeder
Blutstropfen aus dem zarten Antlitz wich. Aber er sprach

weiter, immer weiter in dieser unheimlichen Ruhe:
»Als ich nach meiner Reise dich in Allhöfen besuchen
wollte, sah ich dich mit dem – andern. Und wenn alles
andere nicht stark genug war, mich unterzukriegen – dieser
Anblick, dich Kopf an Kopf mit dem andern zu sehen, dein
Lachen, deine vertrauten Worte zu hören, das alles brachte
es mit einem Schlage zuwege! Ich will ja nun deinem
Glück nicht im Wege stehen, Karola, denn die wahre Liebe
will ja doch immer das Glück des geliebten Wesens. Daher
will ich ja auch auf dich verzichten. Nur sehen will ich dich
nicht mehr – wenigstens längere Zeit nicht. Ist das denn

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zuviel verlangt?«
Karola war dieser ruhigen, fast monotonen Erklärung mit

wachsendem Befremden gefolgt. Und auch nachdem er
geendet hatte, schüttelte sie immer noch verständnislos
den Kopf.
»Willst du jetzt nicht gehen, Karola? Du sollst ja deinen
Elard haben.«
»Wen?« rief die junge Frau. »Elard?«
Doch dann begann sie endlich zu begreifen. Sollte es
wirklich möglich sein, daß der sonst so scharfsichtige
Mann annahm…
Sie trat auf ihn zu und legte die Hände auf seine Schultern.
»Nein, Albrecht, du wirst mich nicht früher los, als bis ich
ganz klar sehe«, sagte sie fest, als er den Kopf zur Seite

wandte und ihre Hände abzustreifen suchte.
»Laß mich doch endlich, Karola, ich bin doch auch nur ein
Mensch«, stöhnte er gequält. »Was hast du davon, wenn ich
nun die Beherrschung verliere und jetzt tue, wozu mein
Herz mich treibt? Soll ich mich denn immer mehr vor dir
demütigen?«
»Albrecht, weißt du, was du bist? Blind!«
»Erlaub mal, Karola!«
»Blind vor Liebe und Eifersucht«, sprach sie seelenruhig
weiter, wobei der Schalk aus ihren Augen nur so blitzte.
»Sonst hättest du nämlich sehen müssen, daß Elard mir ein
lieber Kamerad ist – nichts weiter. Sein Herz und mein

Herz verlangen nach ganz anderen Menschen. Das seine
nach Irene Fahrleit, das meine nach – dir-, du sonst so
schlauer Mann.«
Weiter kam sie nicht, denn ihr Mund war fürs erste von
einem anderen verschlossen. Sie konnte sich nicht rühren,
so fest hielten die Männerarme sie umschlossen.
»Nun laß mich endlich los«, wehrte sie sich dann
energisch. »Damit ich dir sagen kann, wie große Arbeit es
gekostet hat, die eigenwillige Irene dem nicht weniger
eigenwilligen Elard zuzuführen. Sie ist reich, er ist arm. Er
will ihr Herr sein, sie will das nicht anerkennen. Wollte es

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wenigstens lange Zeit nicht. Bis sie in ihrer Liebe ganz klein
wurde und demütig. Vor einigen Tagen hat sie Elard zu sich

gerufen, der natürlich sofort zu ihr eilte. So werden sie
wohl in nächster Zeit zu den Eltern kommen und Irene
wird ihnen den dritten Schwiegersohn ans Herz legen, der
kein Arzt ist.«
»Karola, du bist einfach unwiderstehlich in deinem
Übermut«, sagte der Mann überwältigt. »So kenne ich dich
ja noch gar nicht.«
»Du kennst mich überhaupt erst wenig«, entgegnete sie nun
tiefernst. »Sonst hättest du wissen müssen, daß alles, womit
ich dich in letzter Zeit verletzte und kränkte, nur Notwehr
war. Ich wollte eben nicht einsehen, daß wir
zusammengehören, daß eins ohne das andere niemals

glücklich sein kann. Bis auch ich ganz klein wurde.«
»Und warum, Liebstes?« bettelte er wie ein Knabe. »Warum
hast du nun endlich zu mir zurückgefunden? Sag’s mir
doch, wonach ich mich krank gesehnt habe.«
Ganz fest zog er das schöne, lachende Geschöpf in seine
Arme, ganz nahe war ihm der junge Mund, der nun leise,
zärtlich die Worte sprach, die für den Mann das höchste
Glück bedeuteten:
»Weil es mein Herz verlangt.«
»Hm – hm! Also die Karola bleibt heute in ihrem neuen
Heim?« schmunzelte Fräulein Fritze am Fernsprecher.
»Somit wäre alles in Ordnung?«

»In tadelloser Ordnung sogar, Tante Fritze!« kam eine
lachende Männerstimme vom anderen Ende.
»Sieh mal an, der Herr Doktor kann ja auch herzlich
lachen. Da soll noch einer daran zweifeln, daß die Liebe
eine Zaubermacht ist! Aber recht so, mein Sohn, so gefällst
du mir entschieden besser. Behalte deine Karola nur bei
dir, das ist mir sehr lieb, weil ich närrisch verliebte Leute
jetzt nicht gebrauchen kann. Es sind nur noch wenige Tage
bis Weihnachten. Und wenn man da so unerwartet ein
halbes Dutzend Kinder mehr zum Beschenken kriegt, dann
gibt es Arbeit, bei der man nicht gestört sein will. Aber

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morgen kommt ihr zu mir, mit Kind und Kegel,
verstanden?«

So kam denn am nächsten Tage eine so lustige Gesellschaft
zusammen, wie sie das Herrenhaus von Allhöfen wohl
selten beherbergt hatte. Alle waren sie gekommen, sogar
Fräulein Dotz und Frau Boseit, die zuerst sehr ärgerlich
war. Als jedoch keiner ein böses Wort für sie hatte, wurde
sie langsam froher.
Und mitten in dem fröhlichen Treiben tummelte sich die
kleine Ute. Selbst die gestrenge Erzieherin blieb von den
Zärtlichkeiten, mit denen das kleine Sonnengeschöpf im
Familienkreis nicht geizte, nicht verschont. Ohne Scheu
kletterte das Kind auf den Schoß der würdigen Dame, fuhr
unbekümmert mit den ungeschickten Patschhändchen in

die kunstvoll hergerichtete Frisur und drückte ihr Mäulchen
auf die hagere Wange.
Man hielt den Atem an vor Spannung, wie das gestrenge
Fräulein diese Vertraulichkeit wohl aufnehmen würde. Und
man konnte es kaum fassen, als sie glücklich dazu lachte,
dieses abgehackte, ein wenig heisere Lachen, es ließ jedoch
vermuten, daß die Erzieherin nicht so verknöchert war, wie
es schien.
Ute hatte jedenfalls dieses spröde Altjungfernherz im Sturm
gewonnen, was hauptsächlich Tante Fritze sehr in Ordnung
fand.
Die Hausherrin hatte zuerst nicht so recht froh werden

können, weil sie immer noch annahm, daß die Liebe
Winards, die ihm heute nur so aus den Augen strahlte,
einseitig sei. Als Karola jedoch mit spitzbübischem Lächeln
von Irene Fahrleit und Elard erzählte, da lachte Fräulein
Fritze sich selber aus.
»Da nimmt man immer an, daß man nicht auf den Kopf
gefallen ist«, bemerkte sie mit schönster Offenheit. »Und
nun muß man dahinterkommen, daß man sogar ein Brett
davor hat. Du also warst die Vertraute Elards, Karola, und
hast das eigensinnige Pärchen zusammengebracht?«
»Ja, Irene ist nämlich meine beste Pensionsfreundin. Sie

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schrieb mir ihren Liebeskummer. Elard erzählte mir den
seinen – ohne daß ich zuerst die Namen der betreffenden

Partner kannte. Es war sehr lustig, als ich dahinterkam.«
»Und weshalb wußte ich nichts davon?«
»Weil ich den beiden das Wort gegeben hatte, über ihre
Liebesgeschichte zu schweigen, Tante Fritze.«
»Hm – dann allerdings. Und wie gelang es dir nun, die
verstockten Gemüter zu erweichen?«
»Ich kannte beide und wußte, wo ich hinterhaken mußte.
Daß jedoch der Irrtum aufkommen konnte, Elard und ich
liebten uns, finde ich zu spaßig.«
»Uns war es weniger spaßig zumute«, bemerkte Tante Fritze
trocken. »Hast uns Kummer genug gemacht. Und ich, die
ich allein bleiben wollte, habe plötzlich eine große Familie,

deren Mitglieder mir noch so mancherlei zu schaffen
machen werden, wie ich so dunkel ahne.«
Dabei lachte ihr die Freude nur so aus den Augen, als sie
den Blick über die stattliche Tischrunde schweifen ließ.
Überall sah sie in frohe, glückstrahlende Gesichter. Und
wenn sie bisher auf die Stunde gewartet hatte, Frau Boseit
so mancherlei zu sagen, so unterließ sie es jetzt, da diese
Stunde nun da war.
Zuletzt blieb Tante Fritzes Blick an den jungen Gatten
haften. Was für schöne, stolze Menschenkinder das doch
waren! Wenn sie noch erleben könnte…
Und Tante Fritze erlebte es. Als im kommenden Jahr die

Herbststürme das Herrenhaus von Allhöfen umtobten,
wurde darin ein kleiner Knabe geboren, dessen Erscheinen
unbeschreibliches Glück hervorrief. Außer dem Vater
umstanden die Familienmitglieder staunend das
Babybettchen, in dem der so hochwillkommene kleine
Erdenbürger schlief.
Selbst Fräulein Dotz war noch da. Sie hatte ihr Herz
nämlich so sehr an die kleine Ute gehängt, daß Karola es
nicht fertigbekommen hatte, das liebearme, alte Mädchen,
das so einsam in der Welt stand, aus ihrem Hause zu
entfernen. Die Zwillinge wurden da jetzt so durch Liebe

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verwöhnt, daß die Strenge ihrer Erzieherin nur
ausgleichend wirken konnte. Außerdem war sie jetzt viel

nachsichtiger, die kleine Ute hatte das spröde
Altjungfernherz ganz und gar umgekrempelt.
Ute und Karola – das waren die beiden erklärten Lieblinge
der würdigen Dame. Und wenn das kleine Mädchen einer
Strafe entgehen wollte, dann brauchte es nur zu Fräulein
Dotz zu flüchten, die trat wie ein Zerberus für sie ein.
Ja, sie waren alle glücklich geworden, die Bewohner des
Winardhauses, in dem sie sich allerdings recht wenig
aufhielten. Ihre eigentliche Heimat war Allhöfen; um Tante
Fritze scharten sich alle. Sie hatten im Herrenhaus alle ihre
eigenen Zimmer, die selten leer standen. Selbst Winard und
die junge Ärztin suchten nach ihrer angestrengten

Tagesarbeit nicht die weiße Villa auf, sondern kamen
meistens nach Allhöfen. Wenn sie im Sanatorium außer
ihrer Dienstzeit nötig waren, so erreichten sie es mit dem
Auto in einigen Minuten.
Im Herrenhause von Allhöfen war auch der kleine Knabe
geboren - so hatte Tante Fritze es gewünscht. Jetzt stand sie
vor ihm, und ihre Blicke bohrten sich förmlich in das
kleine Gesicht.
»Das ist ein Hiltmer«, sagte sie endlich mit einer Stimme,
die nicht ganz klar klang. »Der wird Karolas Vater
nachschlagen.«
»Ja, von Albrecht hat er nichts«, bestätigte Malve, die mit

glücklichem Lächeln auf den Knaben schaute. »Ich habe
ihn jetzt schon so lieb, als wäre er mein eigener«, bekannte
sie leise.
»Das sieht dir ähnlich«, gab Tante Fritze ebenso leise
zurück.
»Du etwa nicht? Hast du Karola nicht auch nur so lieb, weil
sie das Kind des Mannes ist, dem einst dein Herz gehörte?«
»Malve – wie hast du das herausgekriegt?« fragte das
Fräulein fassungslos – und da lachte die junge Ärztin
hellauf.
»Laß nur, Tante Fritze – ich weiß es eben. Und da ich keine

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Schwatzliese bin, ist dein Geheimnis gut bei mir
aufgehoben.«

»Na ja«, brummte Tante Fritze und ging dann leise in das
Nebenzimmer, wo Karola lag. Albrecht saß bei ihr und
streichelte immer wieder ihre Hände, die so zart und fein
auf der Decke lagen.
»Karola, ich bin heute der glücklichste Mann der Welt«,
sagte er eben mit weicher Stimme. »Mir wird manchmal
angst vor dem grenzenlosen Glück, das du mir gibst.«
»Ach, Albrecht, das ist ja Unsinn!« lachte Karola ihn an, die
erstaunlich munter war. »Unsere Liebe kann uns doch
keine Macht der Erde nehmen. Und eine höhere Gewalt – «
»Nun rede schon nicht davon«, fiel ihr Tante Fritze, die
leise an das Bett getreten war, in ihrer poltrigen Art ins

Wort. »Sieh dir mal diesen großen Jungen hier an, der ist
müder und blasser als du. Das will nun ein Arzt sein! Er
hat sich in den letzten Stunden so unvernünftig betragen,
wie es nur anging.«
»Du warst wohl sehr ruhig, Tante Fritze, wie?« fragte
Winard lächelnd. »Wie bin ich froh, daß alles vorüber und
Karola so munter ist! Dazu habe ich jetzt noch einen
Jungen, der mein Werk weiterführen wird.«
»Halt, halt!« fiel Tante Fritze energisch ein. »Den nächsten
Jungen, den kannst du zu deinem Nachfolger heranbilden.
Doch dieser gehört mir und Allhöfen. Und wenn ihr wissen
wollt warum: Weil es mein Herz verlangt.«


-ENDE-


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