Behrendt, Leni Kelter Grosse Ausgabe 0034 Die drei Wünsche

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LENI BEHRENDT

Die drei Wünsche


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»Zwei Minuten nach zwölf«, sagte der Arzt, damit die
Geburtszeit des kleinen Wesens feststellend, das er soeben

mit mühevollem Eingriff ans Licht der Welt geholt. »Und
dazu noch der dreizehnte November – na, ich weiß
nicht…«
»Sie sind doch nicht etwa abergläubisch, Herr Doktor?«
fragte die assistierende Schwester verwundert, und er
brummte:
»Beim Anblick dieses armseligen Würmchens könnte man
es beinahe werden. Und die Mutter gefällt mir noch
weniger. Nun, versuchen wir zu retten, was sich durch
unsere schwachen Menschenkräfte eben, retten läßt.«
Das geschah denn auch. Zuerst einmal bei dem
Neugeborenen, das bei den geradezu verbissenen

Bemühungen von Arzt und Schwester endlich quäkende
Laute von sich gab. Also steckte doch Leben in dem kleinen
Körper, wenn auch nur ein kümmerliches.
Auch die Mutter erwachte langsam aus der Narkose, blieb
jedoch in einem Zustand zwischen Wachen und Traum, der
ihr das Bild einer gütigen Fee vorgaukelte, die segnend ihre
zarten Hände über das winzige Geschöpfchen breitete, das
man in den Arm der Mutter gelegt hatte. Und was der
Mund des Märchenwesens sprach, formten die Lippen der
Erdgeborenen nach, deren Seele sich bereits anschickte,
den müden Körper zu verlassen. Die beiden Menschen, die
diesem ungereimten Gestammel lauschten, sahen sich

bangen Blickes an.
»Hörst du es, meine kleine Hariet?« flüsterten jetzt die
blutleeren Lippen beschwörend. »Drei Wünsche gibt dir die
gütige Fee für dein Leben frei. Immer am Dreizehnten –
merke es dir genau – immer am Dreizehnten – wenn du
flehend den Höchsten anrufst – in Angst und Not. Man hat
dich da oben lieb, mein süßes Kind.«
»Wahrscheinlich so lieb, daß man dich hinaufholen wird«,
brummte der Arzt in das direkt unheimlich anmutende
Geflüster hinein. »Genauso’ wie deine Mutter. Möchte bloß
wissen, wo dieser Hermeran bleibt. Wie seine Tante sagte,

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wollte er am Spätabend von seiner kurzen Reise zurück
sein. Rufen Sie doch mal in seiner Wohnung an,

Schwester.«
»Im Hause Hermeran gibt es kein Telefon, Herr Doktor.«
»Auch das noch. Dann schicker! Sie sofort einen Boten hin.
Die Frau stirbt uns ja unter den Händen weg. Und für das
Leben des Neugeborenen gebe ich gleichfalls keinen
Heller.«
Der Bote wurde ausgeschickt, brachte jedoch nur die Tante
der jungen Mutter mit. Verstört, als wäre sie an allem
schuld, berichtete sie, daß der Neffe immer noch nicht
zurückgekehrt sei. Wahrscheinlich hätte er den letzten Zug
versäumt.
»Herr Doktor, glauben Sie mir doch, er ist ein guter

Mensch«, flehte das dürre, ältliche Fräulein den Arzt
förmlich an. »Er wäre um alles nicht auch nur für eine
Stunde von der Seite seiner Frau gewichen, hätte er die
verfrühte Geburt auch nur geahnt. Er hat sie doch so lieb,
seine zarte, feine Felizitas – und freut sich doch so sehr auf
das Kind.«
Sie konnte nicht weitersprechen, weil ein hartes Schluchzen
ihr fast das Herz abstieß. Und da legte sich der Groll des
Arztes und machte einem erbarmenden Mitleid Platz.
Das Kind war tatsächlich fünf Wochen zu früh geboren,
womit man in der Familie natürlich nicht gerechnet hatte.
Schon gar nicht, da die Frau noch munter war, als der Gatte

die eintägige Reise antrat.
Armer Mann! Dieser harte Schicksalsschlag würde ihn
vernichtend treffen. Liebte er doch seine Feli so sehr, daß er
ihr am liebsten die Hände unter die zarten Füßchen,
gebreitet hätte. Zumal dann, als sie sich, die die Dreißig
längst überschritt, Mutter fühlte. Wie ein Wickelkind war
sie von Gatten und Tante gehätschelt worden.
Nie hätte letztere damit gerechnet, daß ihr Brotherr, dessen
kleinem Haushalt sie schon länger als ein Jahrzehnt
vorstand, sich in die Nichte verlieben könnte, als diese die
Tante einmal besuchte. Nur auf einige Stunden – und

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daraus wurden dann Jahre. Zwei Jahre voll Liebe und
Eintracht zwischen den drei Menschen in der kleinen.

Wohnung einer Großstadt.
Immer noch erfüllte das ältliche Fräulein mit Stolz, daß aus
ihrem Brotherrn ihr Neffe geworden war.
Er war aber auch wirklich gut von Herz und Gemüt, der
Archäologe Dr. Oskar Hermeran. Ein stiller, schwächlicher
Mann mit einem durchgeistigten Gelehrtengesicht und
einer scharfen Brille vor den kurzsichtigen Augen. Er lebte
in einer alten Welt, der nachzuspüren sein Sinnen und
Trachten stand. Er bedauerte es schmerzlich, dieser Welt
nicht an Ort und Stelle nachforschen zu können, wie es
zum Beispiel seinem Bruder Edwin vergönnt war.
Doch dafür fehlte Oskar das Geld, das dem andern durch

eine reiche Heirat zufloß. Dazu noch dessen robuste
Gesundheit und der Unternehmungsgeist. Das wurmte
diesen fanatischen Gelehrten so sehr, daß er brüsk die
Beziehungen zum Bruder abbrach, obwohl dieser ihm
nichts getan hatte. Aber Neid macht nun einmal ungerecht.
So blieb Oskar Hermeran denn am Schreibtisch, ging dort
förmlich in der Archäologie auf. Was um ihn herum
geschah, war dem weltfremden Gelehrten gleichgültig. Er
aß und trank nur, um seinen knurrenden Magen zu
beruhigen, egal, ob es nun Gesottenes und Gebratenes oder
nur ein Stück trocken Brot war.
Allein, daß sein ohnehin schwächlicher Körper dabei nicht

verkam, dafür sorgte das bejahrte, ehrsame Fräulein Berta
Okleid, die diesen »sonderbaren Heiligen«, wie sie ihn bei
sich nannte, nun schon elf Jahre betreute. Energisch nahm
sie sich seines kleinen Hausstandes an den ihre
Vorgängerinnen verlottern ließen. Sie teilte auch das Geld,
das ihrem Brotherrn schlecht und recht durch seine
archäologischen Arbeiten zufloß und von dem sie nur
einen Teil zum Wirtschaften bekam, mit praktischer
Umsicht ein. Brachte stets ein schmackhaftes Essen auf den
Tisch und ärgerte sich immer wieder, daß der von ihr so
rührend Betreute es wie geistesabwesend zu sich nahm.

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Bis dann die liebliche Felizitas in das stille Leben des
bereits Fünfundvierzigjährigen trat. Da wurde er sich

;

mit

Erstaunen bewußt, daß er wie jeder andere Mann Anspruch
auf ein Familienleben hatte. Und da Felizitas Okleit
sozusagen aus der Branche war, da sie schon jahrelang als
Sekretärin bei einem Altertumsforscher gearbeitet hatte, so
kam ein Paar zusammen, das gut zueinander paßte. Feli
wurde des Gatten Famulus, seine Mitarbeiterin und seine
geliebte Frau, unter deren Herzen nach zweijähriger Ehe
ein kleines Wesen dem Leben entgegen wuchs.
Als der weltfremde Mann davon erfuhr, war er zuerst
betroffen. Doch dann brach langsam die Freude bei ihm
durch. Aus allen Ecken des Gelehrtenstübchens dieses
Altertumsforschers schien es zu frohlocken. Und neues

Leben blühte aus den Ruinen.
Mitte Dezember sollte das, für den Mann kaum faßbare
Wunder geschehen.
Also konnte er am zwölften November beruhigt auf einen
Tag verreisen, um einen für ihn sehr wichtigen Vertrag
abzuschließen. Kam er zustande, konnte er sich doppelt
auf sein Kind freuen, das seiner glücklichen Ehe die
Krönung bringen sollte.
Aber ach, das Schicksal bestimmte es anders. Kaum war der
Mann fort, setzten bei der Gattin Schmerzen ein, welchen
sie sowie auch die Tante zuerst keine Bedeutung beimaßen.
Denn bis zur Geburt waren es immerhin noch fünf

Wochen, und eine kleine Unpäßlichkeit konnte in dem
Zustand schon einmal vorkommen.
Als jedoch die Schmerzen nicht nachließen, sondern an
Heftigkeit zunahmen, holte Berta einen Arzt, der die junge
Frau schleunigst ins Krankenhaus schafften ließ, wo der
Chefarzt sich in der Nacht zu einem komplizierten Eingriff
entschließen mußte. Wer trug daran die Schuld? Nur die
Natur allein.
Und als der junge Vater am nächsten* . Morgen endlich vor
dem Chefarzt stand, sprach dieser mit gemachter
Sachlichkeit:

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»Ja, mein lieber Herr Dr. Hermeran, damit müssen Sie sich
schon abfinden.« Das war leichter gesagt als getan. Die

schmächtige Gestalt schien förmlich in sich
zusammenzusinken. In den Augen hinter den scharfen
Brillengläsern brütete ein Ausdruck des Nichtbegreifens.
Und dann die Stimme, diese dünne, zittrige Stimme, die
allein schon eine Welt von Tragik in sich barg: »Das kann
doch aber nicht möglich sein, Herr Doktor. Das Kind sollte
doch erst Mitte Dezember geboren werden.«
»Stimmt«, gab der Arzt sich Mühe, den sachlichen Ton
beizubehalten, »aber die Natur geht nun einmal
eigensinnige Wege.«
»So ist meine Frau – wirklich – tot?«
»Leider. Obwohl wir bestimmt alles taten, um sie am Leben

zu erhalten.«
»Und das Kind?«
»Noch lebt es. Wie lange, das steht allerdings in Gottes
Hand.«
»Welchen Geschlechts ist das Kleine?«
»Ein Mädchen.«
»Also Hariet«, sprach der verstörte Mann nun
geistesabwesend vor sich hin. »So sollte auf ihren Wunsch
eine Tochter heißen. Was soll ich nun wohl mit ihr
anfangen ohne meine Frau?«
Darauf wußte der Arzt keine Antwort. Ihm war ohnehin die
Kehle wie zugeschnürt. Es passierte schon einmal, daß die

Mutter dem Neugeborenen wegstarb, wenn gottlob auch
nur selten. Und jedesmal fühlte der Arzt mit dem Vater
Erbarmen – doch mit diesem noch ganz besonders. Ihm
war erbärmlich zumute, als er Tante und Neffen
davongehen sah – unendlich müde, wie zerbrochen.
Und zwar ohne das Kind. Das sollte so lange im
Krankenhaus unter fachmännischer Betreuung bleiben, bis
es richtig lebensfähig war – oder seiner Mutter nachfolgen
würde.
Deren verworrene Worte behielt der erfahrene Mann für
sich, weil er sie für die Auswirkung einer Halluzination

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hielt, wie sie Sterbende manchmal zu haben pflegen. Und
so nahm denn das Schicksal der Hariet Hermeran seinen

Lauf.
Vier Monate später hielt diese Hariet dann Einzug in ihr
Vaterhaus. Sie war wohl noch zart, aber so gut entwickelt,
daß sie den Kindern ihres Alters kaum nachstand. Man
hatte sich im Krankenhaus aber auch die allererdenklichste
Mühe mit dem Säugling gegeben und war ordentlich stolz
darauf, ihn bestens gepflegt dem Vater übergeben zu
können.
Allein, dieser war keineswegs erfreut, weil er mit seiner
winzigen Tochter nichts anzufangen wußte. Er übergab sie
einfach der Tante, die das kleine Wesen als unnütze
Belastung betrachtete. Außerdem hatte sie gar keine

Ahnung von Kleinkinderpflege. Wußte nur, daß so ein
Schreihals ständig hungrig war und einen Haufen Windeln
brauchte.
Nun, dafür wollte sie schon sorgen, und sattmachen wollte
sie das Kind auch, weil es nun einmal da war. Aber
schreien durfte es nicht. Damit würde es den gelehrten
Vater in seiner Arbeit stören.
Also wurde Klein-Hariet in das Hinterstübchen verbannt,
das Tante Berta bewohnte. So ein »Quarkzeug« wie
Babybettchen würde erst gar nicht angeschafft. Das waren
nur unnütze Ausgaben, wo man doch mit jeder Mark
rechnen mußte. Der Wäschekorb tat’s auch – und damit

holla!
Nun, zuerst tat der Korb auch wirklich seine Dienste. Doch
als die Kleine, die sich langsam aufzurichten begann, aus
der primitiven Bettstatt fiel, kaufte Berta notgedrungen ein
gebrauchtes Kinderbettchen. Und schließlich gar einen
schäbigen Wagen, in dem ein Schulmädchen das Kind am
Nachmittag eine Stunde ausfuhr. Dann konnte es getrost
schreien. Doch in der Wohnung unterband die mürrische
Tante das energisch.
So wurde dann aus dem zuerst so lebhaften Baby langsam
ein sehr, ruhiges, ängstliches Kind, das sich mit Vorliebe in

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einem Winkel verkroch, sich stundenlang mit der einzigen
Puppe, welche die geizig zu nennende Tante sich sozusagen

von der Seele gerungen hatte, beschäftigte oder still am
Däumchen lutschte. Der Vater bekam sein Kind erst richtig
zu sehen, als Berta es an den gemeinsamen Mahlzeiten
teilnehmen ließ.
Dann saß es verschüchtert da, das kleine Dinglein, wagte
sich kaum zu rühren, geschweigedenn zu sprechen, duckte
sich scheu, wenn der Vater es auch nur ansah. Wie
hilfesuchend ging dann der Blick der großen Träumeraugen
zur Tante hin, die trotz ihres mürrischen Wesens dem Kind
lieb und vertraut war, weil es ja nichts anderes kannte.
Und dabei war Hariet doch ein besonders reizendes
Dirnlein, das so manches Mutterherz in Entzücken versetzt

hätte. Wie ein Elflein war sie, so zart und fein, mit dem
zierlichen Figürchen, den lichtbraunen Ringellocken und
den leuchtendblauen Augen, die das ganze süße
Kindergesichtchen beherrschten. Sie war unbedingt eine
Kinderschönheit, was selbst die ärmliche Kleidung nicht
beeinträchtigen konnte.
Und wegen dieser Kleidung wurde Hariet dann auch später,
als sie zur Schule ging, von ihren Mitschülerinnen
verhöhnt – denn Kinder können bekanntlich sehr grausam
sein. Sie war überhaupt nicht beliebt, weil sie ein kluges
Köpfchen hatte und außerdem noch eifrig lernte. Das
brachte ihr den Namen »Angeberin« ein, und ihre wirklich

recht altmodische Kleidung die nicht minder höhnische
Bezeichnung »Vogelscheuche«.
Das tat der ohnehin schon sensiblen Hariet bitter weh. Ließ
sie immer mehr in sich selbst verkriechen, so daß sie auch
bei den Lehrern bald als kleiner Sonderling galt. Ihnen
genügte, daß Hariet Hermeran eine äußerst begabte und
fleißige Schülerin war, alles andere ging sie nichts an.
Sonst hätten sie leicht dahinterkommen können, daß dem
eigenartigen Kind das Beste im Leben fehlte – die liebevolle
Mutter. Die hätte ihr kleines Mädchen bestimmt nicht so
»vogelscheucherig« gekleidet, wie die altjüngferliche

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Großtante es tat, die der Großnichte aus ihren abgelegten
Kleidern die komischsten Gebilde zurechtschneiderte.

Denn erstens einmal war die gute Berta geizig, und dann
war sie der Ansicht, daß Putz und Tand ein Mädchen eitel
und hoffärtig machen.
Außerdem mußte Berta wirklich sparen. Denn was sie zum
Wirtschaften bekam, war so lächerlich wenig, daß sie nicht
nur mit der Mark, sondern tatsächlich mit dem Pfennig
geizen mußte. Mehr konnte der Neffe ihr nicht geben,
basta! Für ihn mußte zuerst einmal das angeschafft werden,
was er für seine archäologischen Arbeiten brauchte.
Also mußte seine Tochter sozusagen in Sack und Asche
gehen, wodurch sie von den zum Teil recht geputzten
Mitschülerinnen natürlich abstach. Immer mußte sie

deswegen boshafte Sticheleien einstecken, an die sie sich
schließlich gewöhnte und die sie mit einer Gelassenheit
hinnahm, die weit über ihre Jahre hinausging.
Überhaupt war alles, was Hariet Hermeran tat, von einer
gelassenen, fast pedantischen Gründlichkeit. Selbst im
Chor, den eine äußerst musikalische Lehrerin leitete, gab
sie ihr Bestes her.
Folge davon, daß die noch junge Chorleiterin sich Hariets
besonders annahm und ihr kostenlosen Gesang- und
Klavierunterricht erteilte, das Mädchen sogar auf dem
eigenen Klavier üben ließ.
Denn obwohl, ein Pianino in der Hermeranschen

Wohnung stand, hätte Tante Berta es direkt als Sünde
angesehen, wenn die Tochter des Hauses darauf gespielt
hätte. Und gar noch singen! Und den gelehrten Mann in
seiner Arbeit stören – na, das wäre…! Der sollte überhaupt
nicht merken, daß in seinem Hause eine Tochter
heranwuchs.
Und doch konnte, trotz aller ängstlichen Fürsorge, die gute
Berta es nicht verhindern, daß der Vater langsam
aufmerksam auf seine Tochter wurde. Aber nicht, weil sie
eine kleine Schönheit war, sondern weil sie ein helles
Köpfchen zu haben schien. Immer wieder konnte das der

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Gelehrte feststellen, und allmählich zog er die Tochter zu
sich heran, so daß diese schon mit sechzehn Jahren sein

kleiner Famulus wurde. Die Schule erledigte das gescheite
Mädchen ganz nebenbei, und es war eigentlich eine
Selbstverständlichkeit, daß es spielend sein Abitur machte.
Was allerdings nicht möglich gewesen wäre, hätte Hariet
nicht Freischule gehabt. Denn die engstirnige und geizige
Berta hätte sie bestimmt nicht auf die höhere Schule
geschickt.
Wäre es nach ihr gegangen, hätte die Nichte schon mit
vierzehn Jahren abgehen müssen, damit sie endlich in die
Lehre kam und Geld verdiente, nicht nur kostete.
Aber da griff der Vater zum erstenmal in die Erziehung
seiner Tochter ein. Erklärte ruhig aber fest, daß dieses

äußerst begabte Mädchen zur Schule gehen sollte, solange
es ihm selbst gefiel. Also mußte Berta sich fügen, und
Hariet lernte selbstverständlich weiter.
Außerdem war es für sie noch selbstverständlich, daß sie
der Tante, die zu kränkeln begann, mehr und mehr die
Hausarbeit abnahm. Und als die dann immer mürrischer
gewordene Berta eines Tages einem Herzschlag erlag, stand
die junge Hariet gewiß nicht hilflos da, sondern übernahm,
ohne viele Worte zu machen, den Haushalt – bis dann
auch der Vater starb. So still wie er gelebt, war er auch
dahingegangen.
Und erst mit diesem Moment stand die zwanzigjährige

Hariet Hermeran ganz schutzlos und verlassen da – reich
an Wissen, aber arm an Lebenserfahrung. Da gab es
niemand, der ihr hätte mit Rat und Tat zur Seite stehen
können, weil man sich ja von allen Menschen
zurückgehalten und weder Freundschaft noch
Nachbarschaft gesucht hatte. Ergo hieß es für Hariet: Hilf
dir selbst, so hilft dir Gott!
So verkaufte sie erst einmal die schlichte Einrichtung der
Wohnung, veräußerte die teuren archäologischen Dinge,
bis auf die Aufzeichnungen des Vaters, für einen Spottpreis
und bezog dann ein möbliertes Zimmer, das zwar sehr

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primitiv war, ihrer einfachen Gewöhnung jedoch durchaus
entsprach.

Und was nun? Zwar besaß sie ein kleines Kapital, das aber
höchstens für ein Jahr reichen würde. Also mußte sie sich
eine Stellung suchen.
Aber was für eine? Zwar hatte sie ihr Abitur mit
Auszeichnung bestanden, verstand auch von der
Archäologie eine ganze Menge, wußte auch in der
Haushaltführung einigermaßen Bescheid, aber ob das
genügt, sich in fremden Diensten behaupten zu können?
Nun, der Versuch mußte jedenfalls gemacht werden.
Also kaufte Hariet vielgelesene Zeitungen, meldete sich auf
mehrere Inserate, um entweder abschlägigen oder gar
keinen Bescheid zu bekommen.

Rasend schnell vergingen die Wochen, und das Geld
schrumpfte zusammen, obwohl das Mädchen sich kaum
noch satt zu essen wagte.
Wenn sie doch jemanden um Rat fragen könnte. Aber sie
besaß ja noch nicht einmal einen Vormund. Wozu auch.
Sie wurde sowieso bald einundzwanzig Jahre und somit
mündig.
Zehn Tage vorher entdeckte Hariet in der Zeitung ein
Inserat, auf das sie aufs neue ihre Hoffnung setzte. Denn
was da verlangt wurde, dafür müßte sie doch eigentlich
geradestehen können, nämlich: Beaufsichtigung der
Schularbeiten eines fünfzehnjährigen Mädchens und kleine

Hilfeleistungen in einem groß geführten Haus.
Unterschrieben war das Inserat mit dem Namen: Baronin
von Eggeroth-Herrnhagen.
Wo dieses Herrnhagen lag, hatte Hariet zwar keine
Ahnung, aber das war ja auch egal. Hauptsache, daß sie in
Lohn und Brot kam. Wo, das spielte nun wirklich
keine^Rolle.
Schon eine Stunde später warf Hariet die Bewerbung in den
Briefkasten und wartete dann fieberhaft auf Antwort. Aber
fast schien es, als würde sich für sie auch diese Hoffnung
zerschlagen.

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Doch der Mensch denkt – und Gott lenkt.

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Es war um die zwölfte Stunde, als Hariet sich im

Mietzimmer auf ihrem schmalen, harten Lager ruhelos
herumwarf – hoffnungslos und wie zerschlagen. Woran lag
das nur, daß sie niemand haben wollte? Sie war doch der
guten Vorsätze voll. Wollte alles tun, was von ihr verlangt
wurde.
Wie bitter war es doch, so einsam zu sein. Hatte sie denn
gar keine Verwandten? Einen Onkel wohl, wie Tante Berta
ihr einmal erzählte. Aber das war ein feiner, berühmter
Mann und mit seinem Bruder entzweit, weil der nicht auch
eine so reiche Frau hatte wie er.
So hatte die engstirnige“ Berta sich das wenigstens
ausgelegt, was ihr die weit*’ fremde Nichte auch ohne

weiteres glaubte.
Morgen ist nun mein Geburtstag – dachte Hariet jetzt in
stiller Verzweiflung. Und keiner ist da, den das was angeht.
Warum muß ich denn allein sein, so mutterseelenallein?
Von dem nahen Kirchturm dröhnten zwölf dumpfe
Schläge. Und gerade als sie verklungen waren, faltete ein
verlassenes junges Menschenkind auf seinem harten Lager
die Hände und flehte inbrünstig zu dem Höchsten empor:
»Lieber Gott, gib mir Lohn und Brot. Ich komme ja sonst
um in all dem Namenlosen, das für mich Leben heißt. Hilf
mir doch, Vater, im Himmel droben – hilf mir doch –
bitte!«

Als sich die zitternden Mädchenlippen schlossen, war es
genau zwei Minuten nach zwölf, und der dreizehnte
November.
Zwei müdegeweinte Augen schlossen sich zu tröstendem
Schlaf, der dem jungen ratlosen Menschenkind einen
wundersamen Traum vorgaukelte. Eine wunderschöne Fee
stand vor der Träumenden, breitete segnend die Hände
über das gleißende Köpfchen und sprach gütig:
»Dein erster Wunsch sei dir gewährt, kleine Hariet, du wirst
in Lohn und Brot kommen. Aber noch stehen dir zwei
Wünsche im Leben frei – hüte sie gut.«

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Als Hariet dann aus diesem seltsamen Traum erwachte, tat
sie ihn lächelnd ab und vergaß ihn dann rasch.

Und nur deshalb, weil sie ein Schreiben im Briefkasten
fand, das sie nach Herrnhagen beorderte. Da hatte sie
wahrlich anderes zu tun, als über einen Traum
nachzugrübeln.
Es fiel Hariet Hermeran bestimmt nicht schwer, ihr
primitives Zimmer aufzugeben. Freudig packte sie die
beiden mäßig großen Koffer, die ihre gesamte Habe
bargen. In den Handkoffer tat sie außer Kleinigkeiten das
dicke Buch mit den Aufzeichnungen ihres Vaters, das sie als
Andenken achtete und ehrte. Der Traum war aus ihrem
Gedächtnis wie weggewischt.
Dafür kreisten in ihrem Hirn gar frohe Gedanken. Sie hatte

eine Stelle – und eine gute sogar. Alles frei und dann noch
fünfzig Mark im Monat.
Wie ein Krösus kam sie sich vor, die nach Vorbild der Tante
mit dem Pfennig zu rechnen gewohnt war.
Voller Freude und Zuversicht trat sie ihren Flug in das neue
Leben an.
Ach, wie war für die Unverwöhnte doch alles so neu und
interessant. Schon die Reise allein war ein Erlebnis – auch
wenn sie ein dreimaliges Umsteigen verlangte. Zuerst
einmal Omnibus bis zur Bahn, dann D-Zug, dann
Bummelzug, dann Kleinbahn.
Nun was lachte die glückliche Hariet in sich hinein, leicht

ist mein Gepäck und leicht mein Sinn. Für die beiden
größeren Koffer zeichnet die Bahn verantwortlich, und das
Köfferlein, das ich mit mir führe, wiegt bestimmt nicht
schwer.
Auch das Schuldbewußtsein, das sich zaghaft hervorwagen
wollte, tat sie frohgemut ab. Sie hatte sich nämlich erlaubt,
Zweiter zu fahren, was für ihren schmalen Geldbeutel nicht
gerade dienlich war. Aber was, sie verdiente ja jetzt –
fünfzig Mark im Monat! Da sollte man nun nicht
leichtsinnig werden!
Es machte ihr auch gar nichts aus, daß manch verwunderter

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oder auch spöttischer Blick sie wegen ihrer altmodischen
Kleidung traf. Auch das Mädchen nicht, das in

hypermoderner Aufmachung neben ihr saß und sie
höhnisch musterte.
Dergleichen tat ein Geck, der zu dem kleinen »Chamäleon«
wunderbar paßte. Und da gleich und gleich sich ja gern
gesellt, geschah es hier auch. Ganz ungeniert flirtete man
miteinander, tat ebenso ungeniert seine Meinung über die
»altklunkerige Mamsell« kund. Na was, sie zählten ja zur
Jugend – und der gehört nun einmal die Welt. Die »Alten«
hatten sich ihr einfach unterzuordnen, wurden gegen die
Wand gedrückt.
Der Ansicht schien jedoch ein Mann mit angegrauten
Schläfen nicht zu sein. Auch nicht seine Ehehälfte, die mit

unauffälliger Eleganz gekleidet war. Sie schienen noch
Macht über ihr im Backfischalter stehenden Töchterlein zu
besitzen, denn es zeigte keine Symptome der
hypermodernen Jugend, sondern bot in seinem reizenden
Habit einen herzerfreuenden Anblick.
Und diesem bildhübschen Mägdlein tat die verhöhnte
Mitreisende leid. Die dunklen Augen in dem zarten
Gesichtchen blitzten, der jungrote Mund sprach leise vor
sich hin:
»Es gibt auch Gänse federlos, es gibt auch Ochsen
hörnerlos.«
»Dietlind!« rief die Mutter lachend dazwischen, »das

müssen ja ganz komische Gebilde sein. Wo hast du die
denn gesehen?« .
»Im Panoptikum«, erklärte das Töchterlein mit dem
unschuldigsten Gesicht, und der Herr Papa schmunzelte.
Und dieses Schmunzeln ging den Vertretern der
bahnbrechenden Jugend so auf die Nerven, daß sie mit
einem Blick des Einverständnisses und mit einem
verächtlich gemurmelten »Banausen« das Abteil verließen.
Und dabei hatte sie doch niemand angegriffen.
»Na, Gott sei Dank!« lachte die reizende Kleine
unbekümmert. »Die sind wir los, diese gräßlichen Typen.«

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»Dietlind, ich muß schon sagen, daß du doch eigentlich
recht frech bist«, begann die Mutter, und der arge Schelm

tat erstaunt.
»Ich und frech? Ja, warum denn, geliebte Mutz? Finden Sie
das etwa auch, Fräulein…?«
»Hariet Herme ran heiße ich«, war die lachende
Erwiderung, und das Ehepaar horchte auf. Dann sagte der
Mann zögernd:
»Warring heißen wir, gnädiges Fräulein. Und nun eine
Frage: Sind Sie mit dem berühmten Forscher Hermeran
verwandt?«
»Ich weiß nicht, wen Sie meinen«, entgegnete Hariet
bescheiden. »Ein Forscher war mein Vater schon – aber
kein berühmter.«

»Wie hieß er mit Vornamen?«
»Oskar.«
»Hm. Den ich meine, der heißt Edwin.«
»Dann ist das mein Onkel«, wurde das Mädchen nun
lebhaft. »Doch leider weiß ich so gar nichts von ihm.
Kennen Sie ihn etwa, Herr Warring?«
»Allerdings, wenn auch wenig. Er heiratete eine Base von
mir, sehr zum Entsetzen ihrer Verwandtschaft. Denn ein so
schönes, reiches Mädchen wie Regina hätte bestimmt noch
einen anderen Mann gekriegt als den mittellosen Forscher,
der von seiner Arbeit besessen war. Aber komm einer gegen
sein Herz an. Es verlangt da sein Recht, wo es liebt.«

Dabei umfaßte sein zärtlicher Blick die Gattin, die ihn aus
Liebe erwählt hatte, obgleich er fünfzehn Jahre mehr zählte
als sie. Und dennoch – oder gerade deshalb – war sie der
glücklichsten Ehen eine geworden, die durch zwei Kinder
ihre Krönung erhielt. Der achtzehnjährige Stammhalter
zählte vier Jahre mehr als das Schwesterlein und lebte jetzt
in einem Internat.
Es hatte Freude an seinen Kindern, das charmante Ehepaar
Warring. Sie bemühten sich beide, den Eltern keinen
Kummer zu machen, die allerdings auch viel Verständnis
für sie aufbrachten.

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»Eigentlich sind wir doch mit Fräulein Hermeran
verwandt«, meinte Dietlind eifrig, und die Mutter hob

lachend die Hände.
»Kind, hör auf! Diese Verwandtschaft geht so bestimmt um
sieben Ecken. Lassen wir also davon ab, sie ergründen zu
wollen.«
»Warum denn, Mutz, das ist doch ganz einfach. Die Base
von Paps…«
»Mädchen, erbarm dich!« flehte nun auch der Vater in
komischem Entsetzen dazwischen. »Staunen wir lieber über
den Zufall, der uns ausgerechnet in diesem Abteil mit der
jungen Dame zusammenbrachte, die eine Nichte des
bekannten Forschers ist. Darf man fragen, gnädiges
Fräulein, wohin die Reise gehen soll?«

»Nach Herrnhagen, Herr Warring, falls Ihnen das ein
Begriff ist.«
Überrascht blitzte es in seinen Augen auf, ebenso in denen
von Frau und Tochter. Doch bevor diese ihrer
Überraschung Ausdruck geben konnte, sprach schon der
Vater wieder, dem Töchterlein einen warnenden Blick
zuwerfend:
»Natürlich ist Herrnhagen uns ein Begriff, gnädiges
Fräulein. Es grenzt nämlich an unser Gut Prahlen.«
»Oh, wie schön! Dann steigen wir wohl auf derselben
Station aus?«
»Will ich meinen. Aber bis dahin hat es noch gute Weile.

Denn nach diesem Zug kommt erst der Bummelzug und
dann die Kleinbahn.«
»Das weiß ich«, lachte Hariet. »Und ich freue mich auf die
Fahrt. Ist es doch die erste in meinem Leben.«
Betroffen sahen sich die drei Menschen an, und dann fragte
Frau Alice vorsichtig:
»So sind Sie immer im Auto gefahren?«
»Aber keineswegs, gnädige Frau, wir hatten ja gar kein
Auto. Dafür waren wir ja viel zu arm. Ich bin noch nie aus
meiner Heimat herausgekommen, fahre mit der Eisenbahn
zum ersten Mal.«

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Ja, wo gibt es denn so was? hätte der verblüffte Herr am
liebsten gefragt, was er natürlich unterließ. Statt dessen

streckte er gewissermaßen seine Fühler aus.
»Sicherlich werden Sie in Herrnhagen schon ungeduldig
erwartet?«
»Das weiß ich nicht«, wurde das Mädchen nun kleinlaut.
»Ich erscheine dort ja nicht als Gast, sondern als
Angestellte. Ich soll der Tochter des Hauses bei den
Schularbeiten helfen und mich außerdem im Haushalt
betätigen.«
»Hm«, meinte Herr Warring mit undefinierbarem Lächeln.
»Ein dehnbarer Begriff. So sind Sie Lehrerin, gnädiges
Fräulein?«
»Nein, das nicht. Ich habe nur das Abitur. Aber ich hoffe,

daß mein Wissen bei einer fünfzehnjährigen Schülerin
genügen wird.«
»Das ganz bestimmt«, bestätigte Frau Warring freundlich,
dabei ihrer Tochter, die schon den Mund öffnete,
unauffällig auf den Fuß tretend. »Wenn meine
Menschenkenntnis nicht trügt, scheinen Sie ein gescheites
Köpfchen zu haben.«
»Das sagte mein Vater auch«, lächelte Hariet verlegen.
»Und die Mutter?«
»Die starb bei meiner Geburt.«
»Wer erzog Sie?«
»Meine Großtante, die vordem Haushälterin bei meinem

Vater gewesen war, der dann ihre Nichte heiratete.«
Darauf sagte das Ehepaar zuerst einmal gar nichts, und
auch die sonst so lebhafte Tochter schwieg betreten.
»Hm«, brummelte der Mann dann, dabei die Augen
senkend, damit der mitleidige Blick das Mädchen nicht
traf. Zwar wußte er aus dessen Leben nichts Genaues,
konnte jedoch die Tragik im Leben dieser Gelehrtentochter
ahnen. Es kam zu keiner weiteren Unterhaltung, weil der
D-Zug auf der Station hielt, wo man umsteigen mußte. Da
man nur wenige Minuten Zeit hatte; müßte der Wechsel
rasch vor sich gehen. Und das Abteil in dem Bummelzug

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war so besetzt, daß man kein vertrauliches Wort mehr
miteinander sprechen konnte, ebensowenig wie später im

Kleinbahnwagen.
Als man den verließ, wartete auf der kleinen Station, die
eine Blechbude bezeichnete, ein eleganter Mercedes, neben
dem ein Chauffeur stand und nun seiner Herrschaft
engegeneilte, um ihr die kleinen Koffer abzunehmen.
»Nun, bockt er nicht mehr?« fragte Warring lachend.
»Scheint ja wie. eine Primadonna zu sein, die gerade dann
ihre, Launen hat, wenn man sie am nötigsten braucht.
Verstehen Sie das, gnädiges Fräulein?«
»Nein«, lachte Hariet. »Mit Autos habe ich absolut keine
Erfahrung.«
.»Wohl Ihnen«, seufzte der Mann. »Da kann es Ihnen schon

blühen, daß Sie eine dringende Reise per Bahn machen
müssen, weil gerade dann so ein chromblitzendes
Ungeheuer streikt.
Doch wie ist es nun mit Ihnen, man erwartet Sie doch wohl
in Herrnhagen?«
»Das schon…«
»Dann wundere ich mich, daß kein Gefährt hier ist.«
»Das traf ich unterwegs«,“ schaltete sich der Chauffeur ein.
»Es wird wohl noch eine gute Weile dauern, bis der alte
August mit seiner >Staatskarosse< hier ist. Wartet das
Fräulein etwa darauf?«
Leider – wäre es Warring beinahe entschlüpft. Doch er

sagte ermunternd:
»Machen Sie sich keine Sorge, gnädiges Fräulein, das
Fuhrwerk ist bereits unterwegs. Alles Gute wünsche ich
Ihnen.«
»Danke, Herr Warring. Ich glaube schon, daß es mir
gutgehen wird.«
Na, wenn man – verschluckte der Mann die gebührende
Antwort wieder, während die Gattin sich freundlich an das
junge Mädchen wandte:
»Ich sage: Auf Wiedersehen, Fräulein Hermeran. Wir
würden uns freuen, Sie auf Prahlen, das ja nur fünf

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Kilometer von Herrnhagen entfernt liegt, begrüßen zu
können.«

»O ja, kommen Sie recht bald«, schloß sich das Töchterlein
der Einladung an. »Wir müssen ‘doch unbedingt „unsere
Verwandtschaft ausknobeln.«
Lachend nahm man Abschied. Und als man in den
weichen Polstern saß, sagte Frau Warring mitleidig:
»Armes Ding. In deiner Haut möchte ich nicht stecken.«
Nun, arm kam sich Hariet Hermeran gewiß nicht vor.
Warum auch? Etwa, daß sie auf das Gefährt warten mußte,
das sie nach Herrnhagen bringen sollte? Sie war ja in
Geduld geübt.
Auch daß sie bei dem unwirtlichen Wetter in dem dünnen
Mäntelchen fror, nahm sie einfach als selbstverständlich

hin. Es machte ihr auch gar nichts aus, daß es regnete.
Dafür bot die Blechbude Schutz, auf deren Bank sie sich
niederließ.
Doch nicht lange, dann fuhr sie erschrocken auf. Wo waren
denn ihre Koffer geblieben?
Unruhig spähte sie umher und entdeckte dann aufatmend
die schäbigen Dinger, die gar griesgrämig anzuschauen
unweit des Geleises standen. Doch für Hariet waren sie
äußerst wertvoll, bargen sie doch ihre ganze ärmliche
Habe, die sie nun in die Bude schleppte.
Geduldig saß sie dann wohl noch zehn Minuten lang, dann
kam das Fuhrwerk. Altersschwach war der Wagen,

altersschwach das Pferd – und altersschwach der Kutscher,
der steifbeinig von dem harten Sitz kletterte. Und schon
stand das Mädchen neben ihm.
»Sie wollen mich doch sicherlich abholen, nicht wahr? Ich
heiße Hariet Hermeran.«
»Da soll das woll richtig sind«, bestätigte der Alte
bedächtig. »Aber es regnet wie auf den tollen Hund,
Fräuleinchen. Haben Sie denn nicht so ein Ding von
Wettermantel? Wir haben immerhin eine Stunde zu fahren.
Bei dem miesen Wetter sogar noch länger.«
»Nein, einen Wettermantel besitze ich leider nicht.«

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»Schon faul – sogar oberfaul«, zog der Biedere seine
verwitterte Mütze fester auf den Schädel. »Aber lassen Sie

man, das kriegen wir schon hin. Ich habe eine Decke im
Wagenkasten, darin packe ich Sie hübsch warm ein.«
Was dann auch geschah. Nur das feine Gesichtchen lugte
aus der groben Umhüllung, alles andere wurde sorgfältig
verpackt.
Nachdem der Alte auch noch die Koffer, die sich in ihrer
Schäbigkeit wunderbar dem Milieu anpaßten, kunstgerecht
verstaut hatte, nahm er neben dem Mädchen Platz und
mußte dem Gaul erst gütlich zureden, bis er langsam
abzuckelte.
»Wie schön!« lachte Hariet vergnügt, so daß ihr Nachbar
sie verdutzt ansah. »Es ist nämlich das erste Mal, daß ich

im Pferdegespann fahre.«
»Ja, woher stammen Sie denn, Fräuleinchen?«
»Aus der Großstadt.«
»Ach so, daher. Da sind ja die Autos Trumpf.«
»Kann ich nicht sagen, da ich noch nie in einem solchen
fuhr.«
Ach du liebes bißchen, dachte der Alte erschüttert. Das
Marjellchen scheint vom Mond gefallen zu sein. Laut
jedoch sagte er:
»Sind auch nicht mein Geschmack, die Teufelskutschen. Da
setz ich mich lieber in diese alte Karre mit meiner braven
Suse davor. Die macht’s schon noch, obgleich sie ihr

Gnadenbrot bekommt – wie ich auch. Und bloß deshalb,
weil unser Herr Baron ein Herz hat für Mensch und Tier.
Wenn es nach der anderen Bagage ginge – na, Schwamm
drüber, man soll über seine Herrschaft nichts Schlechtes
sagen.«
Damit biß er die Lippen zusammen, als hätte er schon
zuviel verraten. Verstohlen betrachtete er das
Mädchengesicht, das so lieb und süß aus der derben
Umhüllung schaute. Ganz andächtig blickten die Augen
umher – und dabei war doch bestimmt nichts Besonderes
zu sehen. Nur die Asphaltstraße und links und rechts

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Felder, die frischgepflügt nichts Grünes zeigten. Und als
man in den Wald fuhr, wurden die leuchtendblauen Augen

noch größer vor Staunen.
»Das ist ja Wald – richtiger Wald«, sprachen die jungroten
Lippen so andächtig wie ein Gebet, worüber der biedere
Alte nun sein graues Haupt schütteln mußte.
Wald – na ja – schön ist er schon, aber eigentlich doch
etwas Selbstverständliches. Wenigstens für August, der
schon in Herrnhagen geboren wurde, das von Wald
umschlossen war. Und was würde das kleine Dummchen
wohl zu dem See sagen, der jetzt in Sicht kam.
Nun, dieser Anblick schien ihr die Sprache verschlagen zu
haben. Denn sie sprach kein Wort mehr – schaute nur und
schaute.

Ganz warm wurde dem sonst so borstigen Alten plötzlich
ums Herz. Du guter Gott, gab es denn wirklich noch so was
Liebes in der heutigen verrückten Welt?
Schon oft hatte er Fräuleins von der Kleinbahn abgeholt,
siebenmal, wie er rasch errechnete. Und alle waren entsetzt
gewesen über das Gefährt, über ihn und über die einsame
Gegend. Und kaum, daß sie im Schloß warm geworden
waren, mußte er sie wieder zur Bahn fahren. Immer nach
einem Mordskrach mit der Gnädigen. Und dabei hatten die
Fräuleins alle gewissermaßen Haare auf den Zähnen
gehabt.
Wie also sollte sich dieses liebe Dummchen wohl in dem

»Hexenkessel« durchsetzen, das wie ein Engelchen vom
Himmel gefallen zu sein schien. Am liebsten wäre August
umgekehrt, hätte das Mädchen in die Kleinbahn gesetzt
und es nach Hause geschickt. Aber da er in der Bibel gut
bewandert war, kannte er auch diese Stelle: Wes nicht
deines Amtes ist, da laß deinen Fürwitz.
Also fuhr August weiter, bog dann rechts in eine
Lindenallee ein, deren alte Bäume jetzt kahl waren. Wie
anklagend streckten sie die Äste gen Himmel, der gar
griesgrämig dreinschaute. Unausgesetzt regnete es, ein
scharfer Wind wehte. Es war so richtiges Novemberwetter.

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Hariet merkte nicht, daß die Decke, die sie umhüllte, vor
Nässe triefte, so aufgeregt war sie. Und als sie das Schloß

erblickte, das so feudal und trutzig seinen Platz behauptete,
wurde ihr bang ums Herz. Hilfesuchend sah sie zu dem
Kutscher hin, der das Gefährt zu einem Anbau lenkte, der
ein wenig versteckt stand und so nicht das Gesamtbild des
prächtigen Gebäudes störte.
In dem Anbau lagen die Wirtschaftsräume, und es war
bezeichnend für die Stellung, die Hariet hier einnehmen
sollte, daß ihr erster Eintritt nicht durch das feudale Portal,
sondern durch den Küchenflur erfolgte, vor dessen Tür nun
das Gefährt hielt.
»Na, da wären wir ja nun«, sagte August bedächtig,
während er vom Wagen kletterte, hinter der Tür

verschwand und gleich darauf mit einem Mädchen
wiederkam, das die vermummte Gestalt neugierig musterte.
»Na, nun halt hier nicht Maulaffen feil, dumme Schutt!«
fuhr der Alte sie barsch an. »Nimm die Koffer und bring sie
in das Zimmer des Fräuleins.«
»Beide sind mir zu schwer.«
»Dann gehst du eben zweimal. Aber dalli, sonst mach ich
dir Beine!«
Maulend verschwand die dralle Maid,’ etwas vor sich hin
murmelnd, das ganz nach: Altes Ekel – klang. Grinsend
quittierte August es und wickelte dann Hariet, die ihn
ängstlich ansah, aus der Decke.

»So Fräuleinchen, nun raus aus der Staatskutsche! Ganz
verklammt sind Sie, kein Wunder bei dem Dreckwetter.
Und nun will ich Ihnen einen guten Rat geben: Lassen Sie
sich nichts gefallen, sonst treibt die Bagage in dem Kasten
da bald Schindluder mit Ihnen. Wenn es zu toll kommen
sollte, sagen Sie es mir. Ich spreche, dann mit dem Herrn
Baron, und der räumt dann schon auf. In aller Ruhe macht
er das, aber seine Worte fahren allemal ins Gebein. Und
nun alles Gute.«
»Danke, August. Sie sind so gut zu mir.«
»Das soll ja nu woll so sind, bei so einem

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eingeschüchterten Puttchen.«
Jetzt kam das Mädchen wieder, nahm den zweiten Koffer

und maulte:
»Kommen Sie, Fräulein, damit Sie wissen, wo Sie
hingehören.«
Mit dem Köfferchen in der Hand folgte Hariet der rasch
Davonschreitenden. Es ging durch einen geräumigen Flur,
die Treppe hinauf, einen Gang entlang, durch eine
Pendeltür.
Dahinter wurde der Gang breiter, dessen Boden ein dicker
Läufer bedeckte. Zu beiden Seiten waren hohe,
reichgeschnitzte Türen. Auf der linken Seite zwischendurch
Fenster, durch die der Gang Licht bekam. Blühende
Topfblumen standen auf den Brettern, duftige Gardinen

hingen hinter blanken Scheiben.
Und der Anblick des Zimmers, das Hariet dann betrat,
überwältigte sie fast. Es war nicht groß und nur einfach
möbliert, doch das unverwöhnte Mädchen fand es einfach
luxuriös, an dem gemessen, das sie mit Tante Berta geteilt
und nach deren Tod für sich allein gehabt hatte.
Und es war düster gewesen, das Hinterzimmer der
Großstadtwohnung, das nach Norden lag und daher keine
Sonne bekam. Außerdem ging das Fenster nach einem
kleinen Hof, den hohe Häuser im Viereck abschlossen.
»Na, dann richten Sie sich man hier ein, Fräuleinchen«,
meinte die dralle Maid gönnerhaft, die angesichts des

verschüchterten Mädchens so was wie ein menschliches
Rühren beschlich. »Hoffentlich lohnt das überhaupt, denn
hier hält es kein Fräulein lange aus. Nebenan ist das
Zimmer von der kleinen Baronesse. Sie ist zwar ein Deibel,
hat aber ein gutes Herz. Das beste jedenfalls von der
hochnäsigen Sippschaft.«
Damit zog sie ab, und Hariet blieb sich allein überlassen.
Fröstelnd legte sie Hut und Mantel ab, der trotz der Decke
vom Regen nicht verschont geblieben war, trat an den
Heizkörper, dem eine mollige Wärme entströmte, und
lehnte sich dagegen.

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In Hariets Zuhause hatte es nur Kachelöfen gegeben, die
aus Sparsamkeit nur mäßig geheizt wurden. Nur die

Studierstube des Vaters machte eine Ausnahme, die wurde
sogar überheizt. Denn Berta war der Ansicht, daß der
gelehrte Neffe, der ohnehin schwächlich war, es mollig
haben mußte.
Ihre dürftige Stube heizte Berta nur, wenn es draußen sehr
kalt war. Hariet dachte daran, daß sie so manches liebe Mal
zitternd vor Kälte ins Bett kroch. Nur gut, daß sie ihre
Schularbeiten in der Küche machen, sich überhaupt da
aufhalten durfte, wo der Herd ja des Kochens wegen unter
Feuer gehalten werden mußte.
Und nun sollte sie in einem so wunderschönen Zimmer
wohnen dürfen? Das war ja kaum zu fassen. Sogar einen

Teppich hatte es, ein weißes, breites Bett mit einer
Daunendecke, einen Korbsessel mit einem Tischchen
davor, Schrank, Kommode und einen niedlichen
Schreibtisch. An dem Fenster hingen duftige Gardinen, und
einige Bilder schmückten die Wände.
Dazu das Leben hier umsonst, dazu fünfzig Mark im
Monat. Ach, Hariet kam sich ja so reich vor. Hoffentlich
sagte sie der Frau Baronin zu.
Sie schrak zusammen, als die Tür, die zum Nebenzimmer
führte, aufgerissen wurde und ein Backfisch hereinstürmte.
Neugierig schauten zwei grüngraue Augen aus einem
niedlichen, stupsnasigen Gesichtchen, das blondes,

ziemlich kurzgehaltenes Haar umwirrte. Die mittelgroße
Figur war noch ein wenig unfertig und schlaksig.
»Da sind Sie ja, Fräulein«, sagte das Baroneßchen
burschikos. »Meine Güte, Sie scheinen ja kaum aus den
Windeln zu sein. Und so was soll mir nun imponieren?«
»Wer sagt Ihnen denn, daß ich das will?« entgegnete Hariet
mit einem Mut, den sie selbst bewunderte. »Liebhaben
möchte ich Sie – oder mögen Sie das nicht?«
»Ach herrje«, ließ die Kleine sich perplex in den Korbsessel
fallen, der die bequemste Sitzgelegenheit bot. »Sie führen
sich hier ja ganz apart ein, Fräulein…«

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»Hariet Hermeran heiße ich.«
»Auch das noch. Wer gab Ihnen denn den Namen, der so

gar nicht zu Ihnen paßt?«
»Meine Eltern natürlich.«
»Wer waren die?«
»Zwei liebe Menschen.«
»Pfff«, blies Backfischchen die Backen auf. »Sie scheinen
Grips zu haben, Kleine. Ob Sie jedoch damit bei mir
durchkommen, möchte ich stark bezweifeln.«
»Ist das denn so schwer, Baronesse?«
»Sagen Sie Dolly, so heiß ich nämlich. Alles andere ist
Schall und Rauch, sagt mein Bruder Ulf, der es
wahrscheinlich aus dem Faust hat, der da sagt: Name ist
Schall und Rauch, umnebelnd Himmelsglut.«

Da mußte Hariet denn doch lachen. Das kecke
Baroneßchen gefiel ihr, obwohl der peniblen und
ernsthaften Gelehrtentochter diese Art von Mensch völlig
neu war. Ohne mit einer Wimper zu zucken, hielt sie dem
durchdringenden Blick der sehr schönen, grüngrauen
Augen stand.
»Na ja«, meinte die Kleine einfach. »Mir gefallen Sie gut,
weil Sie so ganz anders sind als die Fräuleins, die hier ihr
Gastspiel gaben. Hoffentlich findet das auch meine Mama
– sonst sehe ich schwarz. Und nun folgen Sie mir, damit
ich Sie ihr vorführe. Tun Sie bloß demütig. Wissen Sie, was
>noblesse oblige< bedeutet?«

»Ich glaube schon«, gab Hariet lachend zurück. »Auf gut
deutsch: Adel verpflichtet.«
»Herrlich!« streckte Backfischchen begeistert die schlanken
Beine in die Luft. »Wenn Sie das erfaßt haben, wird es
Ihnen bei meiner Mama fortan Wohlergehen.«
»Hm«, hob Hariet unbehaglich die Schulter. »Finden Sie
nicht auch, Dolly, daß Sie so gar nicht respektvoll von Ihrer
Mutter sprechen?«
»Mutter?« zogen sich die Winkel des jungroten Mundes
nach unten. »Na ja – gehen wir.«
Damit zog Dolly die andere am Ärmel mit sich fort. Es ging

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den teppichbelegten Gang entlang, über eine gleichfalls
teppichbelegte Treppe hinunter bis zu einer weitläufigen

Halle, die Hariet fast wie eine Kirche anmutete mit den
hohen, schmalen Buntglasfenstern.
Gotik – stellte die Gelehrtentochter sachlich fest. In
wunderbar reinen Linien erhalten. Ob die Besitzer des
Schlosses das wissen?
Eine gedachte Frage und daher unbeantwortet. Andächtig
schritt Hariet Hermeran über kunstvollen Mosaikboden,
über dicke Teppiche und nahm sich vor, all die Herrlichkeit
der Halle, die sie jetzt nur flüchtig in Augenschein nehmen
konnte, nach und nach zu ergründen.
Und dann stand sie in einem Wohngemach, dessen Höhe
und Weite schon einem Saal glich. Auch hier gab es dicke

Teppiche, wuchtige Möbel, schwellende Polster und
kostbare Bilder.
Tradition – schoß es Hariet durch den Sinn. Oft davon
gelesen, doch noch nie mit den Augen erschaut. Wie
unwirklich kam ihr das alles vor, wie ein märchenhafter
Traum.
Und träumend war auch der Blick, der über den Mann
hinging, der sich aus einem der tiefen Sessel am
brennenden Kamin erhob und eine formelle Verbeugung
machte.
»Eggeroth«, sprach eine sonore Stimme, die den
Herrenmenschen verriet. Hariet blieb keine Zeit, diesem

vollen, dunklen Klang nachzulauschen, denn schon sprach
eine andere Stimme in hochfahrendem Ton:
»Da sind Sie ja, Fräulein. Ich heiße Sie willkommen.
Hoffentlich enttäuschen Sie mich nicht, wie es Ihre
Vorgängerinnen taten. Was ich verlangen muß, ist
unbedingter Gehorsam und absolute Treue zur Herrschaft.«
»Ja«, entgegnete Hariet artig und hätte am liebsten geweint
wie ein verängstigtes Kind. Und ehe sie sich so recht versah,
hatte Dolly sie schon mit sich gezogen und sie im
Laufschritt durch die Halle, über die Treppe in das nette
Stübchen geführt, wo der Schelm sich zuerst einmal halb

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totlachen wollte.
»Oh, Fräulein Hariet, Sie machten ja den Eindruck eines

Lämmchens, das den Wolf wittert. Wie alt sind Sie
eigentlich?«
»Einundzwanzig Jahre.«
»Ach du liebe Güte, da komme ich mir mit meinen
fünfzehn ja direkt welterfahren vor. Aber ich glaube, Sie
sind das, was meiner Mama zusagt: demütig und
bescheiden.«
»Baronesse…«
»Dolly heiße ich, und ich nenne Sie Hariet. Denn Sie sind
ja nur sechs Jahre älter und keine Respektsperson für
mich.«
»Ach, Dolly – muß ich mich vor Ihnen fürchten?«

»Nein«, entgegnete Backfischchen gnädig. »Sie werde ich
bestimmt nicht so piesacken wie Ihre Vorgängerinnen, weil
Sie mir irgendwie leid tun. Und man soll seine Kräfte nur
an gleichwertigen Gegnern messen, sagt mein Bruder.
Und nun ab mit Ihnen in die Halala.
Denn wie ich bemerke, fallen Ihnen vor Müdigkeit fast die
Augen zu. Ich lasse Ihnen einen Imbiß rauf schicken.
Stärken Sie sich, und dann schlafen Sie gut.«
Damit wirbelte sie hinaus. Hariet ließ sich wenig später die
Brotschnitten, die ein Mädchen brachte, gut munden und
fiel dann fast vor Müdigkeit ins Bett.
»Nun, du Strick, hast du dein neuestes Opfer bereits in

Angst und Schrecken versetzt?« fragte der Bruder lachend,
als sein jüngstes Schwesterlein wieder im Familienkreis
erschien. »Wann wird es sein Bündel schnüren?«
»Hoffentlich nicht so bald«, ließ die Kleine sich nonchalant
in den Sessel sinken. »Sie ist ja so rührend unselbständig
und altmodisch, die gute Hariet. Und so was muß man
doch beschützen, nicht wahr?«
»Na – beschützen? Ich glaube eher, daß du die Schüchternheit
der jungen Dame gehörig ausnutzen wirst.«

»Das wäre unfair«, widersprach die Kleine entschieden. »Ich
bin doch schließlich kein Unmensch.«

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»Nein, aber ein ungezogenes Gör.«
»Also, Ulf, diese Bezeichnung muß ich mir doch ernstlich

verbitten. Was heißt hier ungezogenes Gör! Ich wehre mich
nur gegen schreckschraubige Gouvernanten und deren
erhobenen Zeigefinger. Die allerdings können bei mir auf
keinen grünen Zweig kommen.«
»Und du meinst, daß Fräulein Herme ran diesen Finger
nicht erheben wird?«
»Bestimmt nicht, dazu hat sie viel zu große Angst.«
»Vor dir etwa?«
»Das weiß ich nicht. Ich weiß nur, daß ich sie abtun werde,
falls sie zu dumm sein sollte, um mir bei den Schularbeiten
zu helfen, wie es bei den andern Fräuleins der Fall war.
Warum siehst du mich denn so konsterniert an, Mama?«

»Weil du ein Enfant terrible bist, meine Tochter Dolly.«
»Na, laß gut sein, Muttchen«, sprach der Schelm ihr gütlich
zu. »Ein schwarzes Schaf muß es ja in jeder vornehmen
Familie geben. Um so mehr Freude hast du an deiner
ältesten Tochter, die so ganz nach deinem Geschmack ist.«
»Ulf, verbiete diesem gräßlichen Mädchen den Mund«,
verlangte die Mutter klagend, die Fingerspitzen nervös
gegen die Schläfen pressend. »Es bringt mich noch ins
frühe Grab, das schreckliche Kind.«
»Nun, nun«, begütigte der Sohn, »so junge Spatzen müssen
sich erst mausern.«
»Und warum war das bei Martina nicht nötig?« zeigte sie

auf ihr Lieblingskind, das ganz das Ebenbild der Mama
war. »Dieses Kind hat mir noch nie eine trübe Stunde
bereitet. Es hat von jeher gewußt, was es seiner vornehmen
Abstammung schuldig ist.«
Darauf hätten ihre beiden anderen Kinder viel antworten
können, was sie jedoch wohlweislich unterließen. Denn
diese Frau von ihren Ansichten abzubringen, hieße ganz
einfach Wasser mit Sieben schöpfen. Also sagte die Kleine
nur elegisch:
»Die Zeiten sind nicht mehr, wo Berta spann.«
Das klang so drollig, daß selbst die Mutter lachen mußte.

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Der Bruder jedoch zupfte die Lieblingsschwester am
Ohrläppchen.

»Was du nicht schon alles weißt«, schmunzelte er. »Wen
hast du da eben zitiert?«
»Bismarck im Reichstag am 24. Mai 1870«, erfolgte prompt
die Antwort.
»Hm. Und du sollst dich noch einer Gouvernante
unterwerfen? Eigentlich ein unbilliges Verlangen.«
»Warum denn nicht? Wenn diese Gouvernante wirklich
mehr weiß als ich, dann in Gottes Namen. Aber die alten,
verknöcherten Scharteken…«
»Dolly!«
»Naja, Mama, ich bin ja schon still. Ich werde also
abwarten, ob Hariet mir noch was beibringen kann. Wenn

nicht, versetze ich ihr den Todesstoß, wie ihren
Vorgängerinnen.«
»Dolly, bedenke, wie schlecht du in der Schule stehst«, rang
die Mutter konsterniert die Hände.
»Und warum, Mama?« verfinsterte sich die junge Stirn.
»Doch nur, weil ich wegen Krankheit ein halbes Jahr lang
den Unterricht versäumen mußte. Sei lieber mit mir froh,
daß die Kinderlähmung so glimpflich mit mir verfuhr.«
Nun schwieg die Mutter denn doch betroffen, und der
Bruder strich zärtlich über das Wuschelköpfchen.
»Hast recht, Kleines. Wenn du es nicht schaffst, ist es gewiß
nicht deine Schuld, das wissen auch die Lehrer. Dann

bleibst du eben noch ein Jahr in der Obertertia. Dann hast
du immer noch mit zwanzig Jahren dein Abitur.«
»Muß es denn überhaupt sein, daß ich es mache? Martina
hat es ja auch nicht.«
»Freches Ding!« fuhr diese empört auf, doch der Bruder
winkte kurz ab.
»Laß das jetzt, Martina. Und du sei vernünftig, Dolly. Eine
abgeschlossene Bildung ist etwas, was dem Menschen ein
sicheres Gefühl gibt. Denn man kann nie wissen, wie es im
Leben kommt.«
»Naja, ich wehre mich ja auch nicht«, bekannte die Kleine

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verschmitzt. »Setze ich meine Zuversicht auf meine neue
Gouvernante.«

Hariet Hermeran streckte im Bett die schlanken Glieder,
gähnte herzhaft und blinzelte dann ins Licht, das grau
durch das Fenster drang. Dann ein kurzes Besinnen und
schon war sie hellwach.
Richtig, sie lag ja jetzt nicht mehr auf dem harten Bett des
möblierten Zimmers, sondern auf dem, das ihr laut Vertrag
in dem feudalen Schloß zustand. Und es war weich, das
Bett, die Daunendecke mollig warm. In dem Heizkörper
knackte es. Ein Zeichen, daß die Zentralheizung bereits in
Betrieb war.
Wie spät war es denn überhaupt? Acht Uhr, wie sie mit
einem Blick auf die Armbanduhr, die noch von ihrer

Mutter stammte, feststellte.
Da hatte sie sich ja arg verschlafen, was man ihr, die hier
im Dienstverhältnis stand, bestimmt übel vermerken
würde. Hastig sprang sie aus dem Bett und sah sich nach
einer Waschgelegenheit um, die sie jedoch nirgends
entdecken konnte. Ja, wie denn, sollte sie etwa fortan
gewissermaßen ungewaschen und ungeplättet bleiben?
Die Antwort darauf gab ihr Dolly, die zuerst das lockige
Köpfchen vorsichtig durch den Türspalt steckte und dann
den zierlichen Körper nachschob.
»Guten Morgen, Hariet«, grüßte sie fröhlich. »Schon
munter?«

»Schon? Ich glaubte bereits, verschlafen zu haben.«
»Für gewöhnlich wäre das der Fall, doch heute ist Sonntag.
Da kann man nach Belieben der Ruhe pflegen.«
»Ich als Angestellte auch?«
»Bis acht Uhr unbedingt. Am besten ist, Sie studieren den
Zettel, der Sie davon in Kenntnis setzt, was Sie sollen und
was Sie nicht sollen. Ein ganzes Dokument, sage ach
Ihnen.«
»Und wo ist es?«
»Auf meinem Schreibtisch.«
»Da nützt es mir allerdings nicht viel.«

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Sie lachten beide, dann fragte Hariet, wo sie sich hier wohl
waschen könnte.

»Herrje, das wissen Sie auch noch nicht? Gehen Sie den
Gang links ab bis zur Pendeltür. Dann finden Sie das Bad.
Nicht zu verfehlen, da Ihnen die Schrift schwarz auf weiß
förmlich in die Augen springt.«
»Wollen Sie nicht zuerst baden?«
»Besten Dank. Ich nenne ein Bad mein eigen, das allerdings
auch von meiner Schwester benutzt wird. Es liegt zwischen
den Gemächern der gnädigen Baronesse und meinem
Stübchen, jawohl!«
»Dolly, Sie sind doch ein arger Schelm.«
»Freut mich zu hören. Lieber so, als susetimpelig. Ich
mache jetzt Toilette, Sie tun desgleichen, und dann schaue

ich wieder zu Ihnen herein.«
Damit huschte sie ab, und Hariet hörte sie im
Nebenzimmer einen flotten Schlager pfeifen. Diese
Unbekümmertheit, mit welcher die Baronesse ihr Leben
anpackte, war der Gelehrtentochter neu. Denn um sie
herum war ja immer nur eine freudlose Schwere gewesen.
Der Vater, der in einer alten Welt lebte, die mürrische
Tante, die kein Lachen um sich duldete, die einfache
Wohnung mit dem düsteren Hinterzimmer.
Nun, das war ja vorbei. Jetzt begann für sie ein neues
Leben, das ihr sicherlich mehr Freude bringen würde,
obwohl sie sich als Angestellte ihr Brot verdienen mußte.

Hariet nahm den Mantel aus dem Schrank und zog ihn
über das dürftige Nachthemdchen, denn ein Bademantel
stand ihr nicht zur Verfügung. Er war ja bisher auch
unnötig gewesen in der engen Wohnung der Großstadt.
Man badete nur am Sonnabend, und wenn Berta die
Kohlen knapp wurden, auch dann noch nicht einmal.
Die Pantoffeln, in die Hariet schlüpfte, waren? alt und
ausgetreten. Die würde sie vor allem anderen zuerst
erneuern müssen. Aber sie bekam ja jetzt Geld.
Wohl stimmte das. Aber die unerfahrene Hariet hatte ja
keine Ahnung, wie verschwindend klein die Summe war,

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wenn es an allen Ecken und Enden fehlte. Das sollte sie
schon noch erkennen lernen, doch augenblicklich fühlte

sie sich reich.
Das Bad erregte ihr Entzücken, obwohl es längst nicht so
komfortabel eingerichtet war wie die Badezimmer der
Familie und die der Gäste. Denn das Bad war für die
Angestellten bestimmt, die in diesem Stockwerk wohnten,
und dazu gehörte Hariet augenblicklich allein. Das Bad der
Dienerschaft lag im Anbau.
Jedenfalls fühlte Hariet Hermeran sich reich und immer
reicher. Behutsam öffnete sie die Hähne und freute sich,
wie das Wasser heiß und kalt in die Wanne rauschte. Wie
blankgeputzt von innen und außen kam sie sich vor, als sie
wieder ihr trautes Stübchen betrat.

Was zog sie nun an? Viel stand ihr wahrlich nicht zur
Verfügung. Zwei Blusen und ein Rock nebst einem schon
ziemlich schäbigen Kleid für den Alltag, ein etwas besseres
für den Sonntag. Alles andere waren Sommersachen und
davon auch gewiß nicht viel.
So zog sie denn ihr bestes Gewand an, weil heute ja
Sonntag war. Man merkte ihm wohl an, daß es nicht unter
der Nadel einer geübten Schneiderin hervorgegangen war,
dieses dunkelblaue Kleidchen. Strümpfe und Schuhe waren
alles andere als elegant – also ein kleines
Aschenputtelchen, das da stand. Ein Glück, daß die Natur
ihm diese gleißende Lockenpracht mitgegeben hatte –

denn Dauerwellen wären ja nie in Frage gekommen.
Sehr sorgfältig, damit es ja nur hübsch ordentlich dem
Kopf anlag, wurde dieses wunderschöne Haar gebürstet,
geflochten und im Nacken fest zu einem abscheulichen
»Dutt« gedreht. Dem sah Dolly, die unbemerkt eingetreten
war, fast andächtig zu, bis sie dann ihrer Entrüstung freien
Lauf ließ:
»Ist denn das die Möglichkeit! Besitzt das Mädchen das
schönste Haar, das ich jemals sah, und knuddelt es
zusammen wie ein Seil. Das stört direkt meinen
Schönheitssinn.«

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»Haben Sie denn so viel davon?« fragte Hariet lachend.
»Natürlich. Aber lassen Sie man, ich werde schon…«

Was, blieb ungesagt. Aber an dem spitzbübischen Gesicht
der Kleinen konnte man merken, daß sie etwas aushecken
wollte.
Sie selbst sah sehr niedlich aus in dem hübschen
Kleidchen. Als Hariet ihr das sagte, schnitt sie eine
Grimasse.
»Na, da sind Sie aber anderer Ansicht als meine Mama. Für
die bin ich ein häßliches Entlein, aus dem niemals ein
Schwan wird«, schloß sie mit unbekümmertem Lachen,
»und nun kommen Sie, gehen wir frühstücken.«
»Wo denn?«
»Im Frühstückszimmer.«

»Darf ich denn das?«
»Was, essen?«
»Sie wissen ganz genau, was ich meine. Sagen Sie mir doch
bitte, wo ich meine Mahlzeiten einnehmen soll.«
»Na schön, Sie ängstliches Gemüt. Sie heften sich dabei
immer an meine Fersen.«
»Das möchte ich schon für mein Leben gem.«
»Freut mich, soviel rührende Anhänglichkeit. Ihre
Vorgängerinnen sahen meine Fersen lieber entschwinden,
als sich an sie zu heften.«
»Dolly!«
»Naja, recht haben Sie, werde ich also seriös. Am Alltag

wird uns das Frühstück in meinem Zimmer serviert, am
Sonntag nehmen wir es unten ein. Mittagszeit zwölf Uhr,
nach alter Landwirte-Sitte. Da die gräßliche Schule mich
aber länger festhält, so bis eins oder gar bis zwei, tafeln wir
beide nach. Der Sonntagsbraten jedoch wird im trauten
Familienkreis vertilgt, auch der Nachmittagskaffee wird
gemeinsam getrunken. Kapiert?«
»Ja.«
»Na schön. Gehen wir also frühstücken.«
Wenig später betraten sie ein kleines Gemach, das
urgemütlich wirkte. Durch das buntverglaste, spitzbogige

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Fenster bekam der Raum ein warmes Licht. Ein dicker
Teppich bedeckte den Boden, in einem Eckschrank prunkte

altes, wertvolles Porzellan. Die Mitte des schmalen Raumes
nahm ein Tisch ein, umstanden von hohen Stühlen mit
Gobelinbezügen an Lehne und Sitz. Über dem Tisch
hingen zwei entzückende Laternchen mit buntem,
geschliffenem Glas – und über dem allen wehte ein Hauch
von vornehmer Tradition. .
Der Hausherr, Dollys Bruder Ulf, der bereits frühstückte,
erhob sich beim Eintritt der beiden Mädchen und begrüßte
Hariet durch eine höfliche Verbeugung, dann fuhr er dem
Schwesterlein neckend durch den Wuschelkopf.
»Na, du Strolch, am Sonntag schon so früh munter? Da
pflegtest du doch sonst bis in den Mittag hinein zu

schlafen.«
»Sonst ja, aber von heute an muß ich wachsam sein«,
erklärte das Persönchen wichtig, während es sich an den
Tisch setzte und Hariet an die Seite winkte. Auch der
Bruder nahm seinen Platz wieder ein.
»Warum mußt du denn wachsam sein?« fragte er
verwundert.
»Weil ich Hariet unter meinen Schutz genommen habe,
merke dir das.«
»Nanu, das klingt ja fast, als ob du die junge Dame
ausgerechnet vor mir schützen müßtest«, lachte er belustigt.
»Woher denn plötzlich so edle Anwandlungen, du

borstiges kleines Gör?«
»Oh, bitte sehr! Wer Schwache leiten will, der sei von ihrer
Schwachheit selber frei – ist nicht von mir.«
»Das kann ich mir denken«, schmunzelte der Bruder.
»Mädchen, Mädchen, deine Schlagfertigkeit sollte man nun
wirklich nicht unterschätzen.«
»Darf ich mir als Enfant terrible auch erlauben«, tat das
Persönchen nonchalant ab. »Ich muß doch meinem
Namen Ehre machen.
Na, nun essen Sie doch endlich, Hariet«, kreiste ihre Hand
über den Tisch, der so gedeckt war, wie es einer

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verfeinerten Lebensart entspricht. Und was es da alles zu
essen gab, hatte man sich im Hause Hermeran kaum an

den Feiertagen geleistet! Sie schienen sehr reich zu sein, die
Eggeroths.
Und Reichtum war etwas, was Hariet mächtig imponierte.
Wie oft hatte sie davon geträumt, reich zu sein und sich
alles das leisten zu können, was in den Schaufenstern der
Läden so aufreizend ausgestellt war. Wie hatte sie immer
die Autos bewundert, die so chromblitzend dahinflitzten.
Hatte bei den wenigen Malen, da sie im Kino war, die
Darstellerinnen beneidet, die so fesch und elegant
aussahen. Hatte sich brennend gewünscht, einmal eine der
prächtigen Villen von innen zu betrachten, an deren Gärten
sie manchmal vorüberging.

Und nun wohnte sie gar in einem Schloß, kaum zu fassen
war das. Wenn das ganze Drum und Dran sie nur nicht so
eingeschüchtert hätte. Sie wagte sich kaum zu bewegen.
Konnte nicht begreifen, daß Dolly sich an diesem
wunderbar gedeckten Tisch so zwanglos benahm, sogar
dabei noch vergnügt lachte und schwatzte.
Und dazu noch mit dem Mann, der in seiner ganzen Art
etwas ungemein Herrisches an sich hatte, wie Hariet sich
zum Beispiel einen Despoten vorstellte. Sie kroch unter
seinem kurzen, scharfen Blick, der sie einige Male streifte,
förmlich in sich zusammen. Würgte an jedem Bissen und
starrte dann schließlich dem Diener entgegen, der in seiner

schlichten Livree erschien und meldete:
»Fräulein Hermeran möchte sofort zu der Frau Baronin
kommen.«
»Ja, ja – bitte sehr – sofort«, sprang das Mädchen
erschrocken auf, und Dolly rief ihm lachend nach:
»Man nicht so hastig! Sie wissen ja gar nicht, wohin es
gehen soll. Warten Sie auf Lorenz, er wird Sie führen.
Pf ff«, blies sie die Backen auf, als die Tür sich hinter den
Davoneilenden schloß. »Das ist bestimmt blinder Eifer, der
nur schaden kann. Die Mama und unsere holde Schwester
werden das nach Kräften ausnutzen.«

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»Und du etwa nicht?« fragte der Bruder mißtrauisch.
»Nein«, kam es entschieden zurück. »Bei Hariet nicht.«

»So vertraut sprichst du von der jungen Dame?«
»Ja, ich mag sie.«
»Na, Gott sei Dank!« lachte er herzlich. »Sonst könnte das
arme Opfer gerade bei dir am meisten erleben.«
»Kommt gar nicht in Frage. Die kann sich ja gar nicht
wehren – und dann macht mir die ganze Rüpelei keinen
Spaß.«
Ulf besah sich augenzwinkernd sein keckes Schwesterlein
und meinte dann schmunzelnd:
»Somit hätte Fräulein Hermeran durch ihr bloßes
Erscheinen das geschafft, was die Mama und das halbe
Dutzend Damen, die dich bändigen sollten, trotz aller

Strenge nicht erreichten.
Und dabei macht diese Hariet den Eindruck, als müßte sie
jeden einzelnen um Verzeihung bitten, daß sie die
Anmaßung besitzt, auf der Welt zu sein.«
»Das ist es ja gerade, was meine Ritterlichkeit – ach nein,
die gebührt ja dem Mann – also sage ich: meine
Anständigkeit hervorruft«, tat die Fünf zehnjährige mit dem
hellen Köpfchen großartig. »Du siehst, ich bin besser als
mein Ruf – wenn auch nicht oft.«
»Dolly, was bist du doch bloß für ein kleines Unikum. Bei
dir kann man wirklich von dem weichen Kern in der
rauhen Schale sprechen.«

»Abgedroschene Phrase, Brüderlein fein. Und nun gehab
dich wohl. Ich muß wie eine gütige Fee über meinen
Schützling wachen.«
Damit tänzelte sie ab, und der Bruder sah ihr schmunzelnd
nach.
Schon an diesem Morgen sollte Hariet Hermeran erfahren,
daß es nicht so einfach sein würde, da in Lohn und Brot zu
stehen, wo man sie einfach als »Mädchen für alles«
betrachtete. Ihr Debüt begann mit »kleinen«
Handreichungen bei der Baronin, die man ruhig als
Zofendienste bezeichnen konnte. Denn eine Zofe gab es

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immer nur zeitweilig hier, da die verwöhnten und
schnippischen Mädchen bald wieder abschwirrten, weil

ihnen die Damen, die sie zu betreuen hatten, einfach zu
anmaßend waren.
Und dann mußte jedesmal das »Fräulein« einspringen, das
dann auch gleich hinterher nach einem Krach mit der
»unverschämten Gnädigen« empört loszog.
Und mit Recht. Denn die schon ziemlich bejahrten
Fräuleins sollten ja einen anderen Zweck erfüllen, nämlich:
die Schularbeiten der jüngsten Tochter des Hauses
beaufsichtigen und kleine Hilfeleistungen im Haus
verrichten. So lautete jedenfalls der Vertrag, wie einen
solchen auch Hariet Hermeran unterschrieb.
Eigentlich erschien sie der Baronin viel zu jung. Aber das

Bewerbungsschreiben gefiel ihr – und vor allen Dingen das
Foto, das diesem beilag. Es wirkte so rührend altmodisch,
so unansehnlich und bescheiden. Das Mädchen war
bestimmt das, welches Frau Klarissa schon lange suchte.
»Da sind Sie ja, Fräulein«, sprach die Dame herablassend,
als Hariet verschüchtert vor ihrem Bett stand. »Sie müssen
mir beim Ankleiden helfen. Die Zofe, die auch meine
Tochter betreute, hat ihren Dienst aufgesagt, weil sie
heiraten will. Und die neue Zofe traf noch nicht ein, weil
sie dummerweise erkrankte. Sehr peinlich für mich und die
Baronesse, die wir an Bedienung gewöhnt sind. So müssen
Sie denn einspringen.«

»Aber gern, Frau Baronin«, entgegnete Hariet bescheiden,
was der Dame gar wohl gefiel. »Ich weiß nur nicht, ob ich
der Frau Baronin alles rechtmachen werde.«
»Das lernen Sie schon«, wurde gnädigst erwidert. »Sie
müssen nur den guten Willen dazu haben. Lassen Sie
zuerst einmal das Bad ein. Wie es gemacht wird, kann
Ihnen das erste Stubenmädchen zeigen.«
Auf ein Klingelzeichen erschien die Erwähnte, die so den
Eindruck machte, als ob sie sich nicht an den »Wimpern
klimpern« ließe. Sehr adrett sah es aus, das hübsche Wesen
in kokettem Schürzchen und Häubchen – nur der kecke

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Ausdruck in dem ein wenig gewöhnlichen Gesicht gab zu
denken.

»Mila, zeigen Sie dem Fräulein, wie man ein Bad richtet«,
befahl die Gnädige in der hochfahrenden Art, die ihr nun
einmal eigen. »Lernen Sie das unwissende Mädchen in der
ersten Zeit an, soweit es meine und der Baronesse
Bedienung betrifft. Denn auf das Erscheinen der neuen
Zofe werden wir wohl noch eine Zeitlang warten müssen.«
»Na, denn kommen Sie man, Fräulein«, sprach die kecke
Maid zu der verschüchterten Hariet gönnerhaft. Gleich
darauf betraten sie das Bad, das in Kacheln und Chrom nur
so blitzte. Mila ließ Wasser in die Kachelwanne, warf ein
Badethermometer hinein und schüttete Badesalz hinzu.
»Ungefähr einen Löffel voll von dem Zeugs«, erklärte sie

dem aufmerksam zuschauenden Mädchen. »Wenn es mehr
oder weniger ist, schadet es auch nichts. Die Olle merkt es
ja doch nicht. Und mit dieser Bürste scheuern Sie ihr den
knochigen Buckel ab.«
»Aber Mila, wie sprechen Sie denn von Ihrer Herrin!«
entsetzte sich Hariet, und die andere lachte hämisch.
»Man merkt, daß Sie noch ein Neuling sind, Fräulein. Seien
Sie mal erst einige Wochen hier, dann werden Sie schon
anders denken. Das heißt, wenn Sie es überhaupt so lange
aushalten. Denn das sind Deibels hier, kann ich Ihnen
sagen,’ daß es zum Himmel schreit. Bei denen kann man
sich nur mit Frechheit durchsetzen.«

Sie prüfte die Temperatur des Bades, stellte die Hähne ab
und sprach in das Nebenzimmer hinein:
»Frau Baronin, das Bad ist bereit.«
Gleich darauf erschien diese, warf den Bademantel ab und
stieg vorsichtig in das duftende Wasser.
»Ist es nicht zu heiß, Mila?«
»Frau Baronin können sich ja am Thermometer
überzeugen.«
Sie tat’s und nickte gnädig. Tauchte ihren mageren Körper
in das wohltemperierte Wasser, worauf Mila zu der
langstieligen Bürste griff und den erbarmungswürdig

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knochigen Rücken der Herrin nicht gerade sanft striegelte.
Dabei warf sie Hariet einen verschmitzten Blick zu.

»Au, Mila, seien Sie doch vorsichtiger«, klagte die so wenig
liebevoll »Berubbelte« weinerlich. »Sie wissen doch, meine,
Nerven.«
Also wurde die Bürste behutsamer in Bewegung gesetzt,
dann wurde das »Knochengestell« abgeseift, mit
wohlriechender Essenz eingerieben – und dann entstieg die
Gnädige dem Bade, ihre Reize den beiden Mädchen offen
zur Schau stellend.
Der dickfelligen Mila machte der Anblick gar nichts aus,
doch die sensible Hariet war peinlich berührt.
Und dann ließ sich die Dame ankleiden wie ein Baby.
Das ging unter den flinken, geschickten Händen Milas ganz

glatt, nur bei der Frisur des schütteren Haares haperte es.
Die sollten natürlich dicht und bauschig wirken, aber da
streikte bei der Fünfzigerin einfach die Natur.
Endlich war die Frisur der anspruchsvollen Dame
einigermaßen nach ihrem Wunsch. Der Frisiermantel
wurde abgenommen, das Kleid übergestreift, und dann
wurden die beiden Mädchen entlassen.
»Gehen Sie jetzt zur Baronesse. Aber verfahren Sie mit dem
sensiblen Geschöpf behutsamer als mit mir.«
Man betrat das Nebenzimmer, wo das »sensible Geschöpf«
in seinem luxuriösen Bett saß und die Eintretenden
unwillig empfing.

»Wo bleibt ihr bloß! Es ist schon halb elf Uhr.«
»Ja, Baronesse, ich bin ja schließlich keine perfekte Zofe«
entgegnete Mila dreist und gottesfürchtig. »Da dauerte es
bei der Frau Baronin eben so lange.«
Nun begann bei der Tochter die gleiche Prozedur wie bei
der Mutter. Nur daß der Anblick dieses um mehr als drei
Jahrzehnte jüngeren Nackedeis erfreulicher war. Wenn
auch nicht gerade so, daß er ein Künstlerauge entzückt
hätte. Auch die Haare ließen sich leichter frisieren, sie
waren zwar nicht üppig und ziemlich farblos, aber
immerhin.

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»Ach, du belegst hier Fräulein Hermeran mit Beschlag«,
platzte Dolly ganz ungeniert in das Ankleidezimmer der

Schwester. »Ich glaube, die ist für mich da, Tinchen.«
»Verstümmele gefälligst nicht so gräßlich meinen Namen!«
fauchte die Empörte. »Wie würde es dir gefallen, wollte ich
dich Dolchen nennen?«
»Bitte sehr, das macht mir gar nichts aus. Du weißt, ich bin
bescheiden.«
Dabei schaute die Kleine so unschuldig drein, daß Mila alle
Mühe hatte, nicht vor Lachen loszuplatzen und selbst die
verschüchterte Hariet sich auf die Lippen biß. Die
humorlose Martina jedoch, die so gar kein Verständnis für
ihr um zehn Jahre jüngeres Schwesterlein hatte, sah es böse
an, worauf blitzschnell eine rosige Zungenspitze dem

Gehege der Zähnchen entschlüpfte.
»Mama!« rief Martina in höchster Not, worauf die Gerufene
schleunigst sichtbar wurde.
»Ja, was hast du denn, mein Herzchen?« fragte sie
konsterniert. »Wer hat dir denn etwas zuleide getan? Dolly
etwa?«
»Na, wer denn sonst?« entgegnete der Abgott der Mutter
aufgebracht. »Sie ist wieder einmal von einer Frechheit, die
harte Strafe verdient. Die Zunge hat sie mir gezeigt!«
»Du entartetes Kind!« sprach nun streng die Frau Mama.
»Du hast heute Stubenarrest. Fräulein, Sie sorgen dafür,
daß er eingehalten wird. Das Essen bekommen Sie mit

meiner ungezogenen Tochter zusammen oben serviert.«
Die beiden Mädchen gingen ab – und das jüngere lachte
sich ins Fäustchen. Das war es ja gerade, was es bezweckt
hatte.
»Hach!« warf sich der kleine Unnütz in Hariets Zimmer mit
Vehemenz in den Korbsessel, daß er in allen Fugen
knackte. »Das hat wieder einmal wunderbar geklappt. Seien
Sie jetzt bloß nett zu mir, Hariet. Sonst sind Sie nicht wert,
daß ich Sie erlöste.«
»Inwiefern geschah das denn?«
»Indem ich Sie aus rotlackierten Fängen errettete. Sonst

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müßten Sie jetzt bestimmt noch Zimmer aufräumen und
anderes mehr.«

»Woher wollen Sie das denn wissen?«
»Aus Erfahrung. Das mußten nämlich Ihre sämtlichen
sieben Vorgängerinnen, wenn keine Zofe im Hause war,
was recht oft geschah. Aber denen gönnte ich es, weil ich
sie allesamt nicht leiden konnte. Doch Sie will ich davon
verschonen, soweit es in meiner Macht steht.«
»So mögen Sie mich gern?«
»Ja. Gleich vom ersten Sehen an.«
»Ich danke Ihnen«, erwiderte Hariet leise, während Tranen
ihren Blick verdunkelten. »Sie sind der erste Mensch, der
mich mag. Allen andern war ich bisher nur ein Geschöpf,
das man wohl oder übel mit in den Kauf nehmen mußte.«

»O Gott«, sagte Dolly betroffen. »Wie kommt das denn?
Wollen Sie es mir nicht erzählen?«
Hariet tat es. Sprach von ihrer freudlosen,
entbehrungsreichen Kindheit, von den
Klassenkameradinnen, die sie verhöhnten, von der
mürrischen, geizigen Tante, die sie in das düstere
Hinterzimmer sperrte, sie karg ernährte und ärmlich
kleidete, von dem Vater, der sie erst richtig bemerkte, als sie
sein Famulus geworden war – sprach sich überhaupt das
erste Mal in ihrem Leben das Herz so richtig frei.
Als der trostlose Bericht beendet war, liefen dem äußerlich
so ruppigen und innerlich so warmherzigen Backfischchen

die hellen Tränen über die Wangen.
»Ach, Sie Arme! Da komme ich mir schon
bemitleidenswert vor, obwohl ich ein schönes Zuhause
habe und einen Brüder, der mich liebhat. Früher war es
auch noch mein guter Paps, der mich geradezu sträflich
verwöhnte. Aber der ist nun schon zwei Jahre tot, was ich
immer noch nicht verwinden kann. Liebe Hariet, was tun
Sie mir bloß leid.
Aber lassen Sie man«, wischte sie energisch die Tränen fort.
»Ich sorge schon dafür, daß Sie hier nicht zu sehr
schikaniert werden. Und wenn ich jeden Tag Stubenarrest

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kriegen sollte – was in Ihrer Gesellschaft übrigens keine
Strafe ist«, setzte sie verschmitzt hinzu. »Wir werden es uns

hier oben schon gemütlich machen.«
»Ach, Dolly, ich habe doch hier Pflichten.«
»Eben«, fiel der Schalk lachend ein. »Es ist jetzt nämlich
Ihre Pflicht, mich zu bewachen. Gehen wir in meine
Kemenate, da ist es gemütlicher.«
Das war es allerdings, dieses reizende Jungmädchenzimmer
mit den Schleiflackmöbel und den lustigbunten Polstern.
Sogar ein Stutzflügel, weiß mit gold, stand da, wofür Dolly
eine Erklärung gab.
»Ich soll partout spielen und singen, verlangt meine Mama.
Da man dazu auch üben muß, fiel ihr das so auf die
Nerven, daß sie mich samt dem Flügel zum Üben nach

oben verbannte. Kein Zugeständnis für mich Enfant
terrible, da das Instrument ja doch nur in einem
unbenutzten Raum herumstand. Den noblen
Bechsteinflügel im Wohngemach quält meine mit allen
schönen Künsten begabte Schwester Martina.«
»Und Sie sind gar nicht begabt, Dolly?«
»Doch, sehr sogar. Mit Ruppigkeit, einer flinken Zunge und
mit dem, was man Selbsterhaltungstrieb nennt.«
»Herein!« rief sie jetzt laut, worauf zuerst ein Tablett
sichtbar wurde und dann der würdige Lorenz, der es trug.
Und auf dem Brett stand – o Wonne! – ein Schüsselchen
mit eingeweckten Kirschen und eines mit Schlagsahne.

»Das schickt die Mamsell«, meldete der im Dienst ergraute
Diener, ohne mit einer Wimper zu zucken. »Und zwar als
Vorspeise, da das Mittagsmahl laut Verfügung der Frau
Baronin kärglich ausfallen wird.«
»Oh, Lorenz!« jubelte das Baroneßchen, das der Diener seit
dem ersten Schrei kannte. »Hat dich auch keiner von den
Gestrengen auf diesem Schleichpfad erwischt?«
»Nein, Baroneß.«
»Dann wohl dir, der Mamsell und auch mir. Setz ab den
süßen Segen!«
Er tat es und entfernte sich genauso würdig, wie er

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gekommen war.
»Guter Lorenz«, sprach Dolly ihm gerührt nach. »Er hat

sehr viel gewagt, wie er überhaupt schon so manches für
mich wagte. Er hat deshalb so manchen Rüffel einstecken
müssen, selbst von meinem Bruder, der keine Winkelzüge
liebt. Werden Sie nun auch gehen und mich sowie Lorenz
und seine Frau bei der Mama verpetzen, wie es die übrigen
Gouvernanten augendienerisch taten?«
»Fällt mir auch gerade ein«, lachte die ehrpusselige
Gelehrtentochter so leichtsinnig wie noch nie in ihrem
Leben. »Schon gar nicht wegen dieser Leckerei, die ich
gerade nur dem Namen nach kenne.«
»Herrlich!« begeisterte sich das Baroneßchen. »Sie sind die
Seele, die ich schon lange suchte.«

»Wo ist denn Dolly?« fragte der Baron an der Mittagstafel
seine Mutter, die zuerst die Lippen zusammenkniff und
dann kurz Antwort gab:
»Sie hat wegen ungebührlichen Benehmens ihrer Schwester
gegenüber heute Stubenarrest!«
»Ist das bei einem so großen Mädchen nicht lächerlich,
Mama?«
»Nein«, kam es verbissen zurück. »Sie benimmt sich
keineswegs als solches, sondern immer noch wie ein
ungezogenes Kind. Das ist nämlich der Erfolg der falschen
Erziehung deines Vaters, der in der Jüngsten seinen Abgott
sah und ihr allen Willen ließ. Und auch du bist mehr als

nachsichtig diesem ungezogenen Mädchen gegenüber.
Entschuldigst die Unarten, anstatt sie gebührend zu rügen.
Wenn das so weitergeht, wird Dolly ein regelrechter
Taugenichts. Das meint auch Martina, die sich ihrer
unmanierlichen Schwester oft schämen muß.«
»Na ja«, entgegnete der Mann, weiter nichts. Weil er
nämlich ganz genau wüßte, daß doch jedes Wort wie in
den Wind gesprochen sein würde. Diese Mutter hatte eben
für die beiden Kinder, die ihrem Gatten glichen, von jeher
nicht viel übrig. Liebte um so mehr ihre ältere Tochter, weil
sie Art von ihrer Art war. Hatte es dem Gatten und später

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auch dem Sohn schwer verdacht, daß sie nicht gleichfalls
Kult mit ihrem Abgott trieben. Das wurmte diese vernarrte

Mutter und machte sie ungerecht gegen die beiden anderen
Kinder.
Bei dem Sohn konnte sie leider nicht so, wie sie gern
wollte. Denn das verrückte Testament des Gatten hatte sie
von Ulf abhängig gemacht.
Verrückt? O nein, der kluge und weitschauende Mann war
es bestimmt nicht, als er das Testament aufsetzte, nämlich:
Er setzte den Sohn, der so ganz Blut war von seinem Blut,
als Erben über die Herrschaft Herrnhagen samt aller
Liegenschaften ein. Bestimmte auch recht großzügig die
Summe, die dieser der Mutter und den beiden Schwestern
auszuzahlen hatte. Ersterer, wenn sie ins Witwenhaus zog,

letzteren, wenn sie heirateten. Solange erhielten sie die
Zinsen des Kapitals und freies Wohnrecht nebst
Verpflegung im Schloß.
Und dieses Witwenhaus war nun die Waffe, die Frau
Klarissa ins Feld führte, wenn ihr etwas nicht paßte. Weil
sie ganz genau wußte, daß es mit der Herrschaft
Herrnhagens gerade so schlicht um schlicht stand und der
Sohn eine Hypothek aufnehmen mußte, um seiner Mutter
respektive den Schwestern ihr Erbe auszahlen zu können.
Nun, bei Dolly war es noch lange nicht soweit, Martina
fand trotz ihrer fünfundzwanzig Jahre noch immer keinen
Mann – und die Mutter? Nun, die hütete sich wohl, das

feudale Schloß mit dem immerhin bescheidenen
Witwenhaus zu vertauschen.
Aber damit drohen, das war ihr direkt eine Genugtuung.
Außerdem war es Klarissa wie ein Dorn im Auge, daß der
Gatte in seinem »verrückten« Testament den Sohn als
Vormund über die jüngste Schwester vorgeschlagen hatte,
was das Obervormundschaftsgericht ohne weiteres
genehmigte. Also konnte sie nicht, wie sie wollte. Konnte
dieses Enfant terrible nicht in ein Internat geben. Schon gar
nicht, als es bald nach dem Tod des Vaters an
Kinderlähmung erkrankte und von dem Bruder über

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Gebühr verwöhnt wurde. Was Wunder, wenn aus dem
ohnehin schon vertrotzten Mädchen so nach und nach ein

Taugenichts wurde?
Daß es in der Schule zurückblieb, war ja allenfalls zu
verstehen. Aber daß es auch im zweiten Jahr in der Klasse
leistungsmäßig zurückstand, war einfach ein Skandal.
Also wurde ein ältliches Fräulein ins Haus genommen, das
Dolly bei den Schularbeiten helfen und sich außerdem
noch in der Hauswirtschaft betätigen sollte. Aber leider
blieb es nicht bei dieser Abmachung, weil die Baronin oft
um eine Zofe verlegen war und das jeweilige Fräulein für
diese einspringen mußte. Die Folge davon war, daß in
eineinhalb Jahren sieben solcher Fräuleins ihr Gastspiel
gegeben hatten, weil man sie für geringen Lohn ausnutzte

und außerdem noch schofel behandelte.
Und zu alledem noch dieser unleidliche Backfisch, der
frech wie ein junger Dackel und störrisch wie ein Füllen
den Fräuleins alles zum Schabernack machte. Da suchte
man sich doch eine Stellung, in der es sich leichter und
besser leben ließ.
So stand denn Herrnhagen in keinem guten Ruf. Das heißt,
was das Schloß anbetraf. In der Außenwirtschaft herrschte
eine mustergültige Ordnung und ein gutes Einvernehmen,
weil der junge Baron ein wirklicher Herr war, streng aber
menschlich. Da kam es nicht vor, daß ein Untergebener
ihm gegenüber unbotmäßig wurde, was übrigens auch im

Schloß nie passierte. Da sorgte seine Persönlichkeit schon
allein für den nötigen Respekt.
Und wenn seine Mutter ihm in den Ohren lag, daß sie sich
bei der Dienerschaft nicht genügend durchsetzen konnte,
meinte er gelassen, daß dieses allein an ihr läge, was sie
jedesmal empörte. Na ja, Ulf war eben, genauso wie sein
Vater, herrisch und rücksichtslos.
Nur bei Dolly, da machte er eine Ausnahme. Lächelte da,
wo er scharf durchgreifen sollte. Wenn die Jüngste ihn um
Geld anging, zog er sofort seine Börse, während er es bei
Mutter und der älteren Schwester kühl ablehnte.

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So geschah es auch heute, als man nach dem Mittagessen
in einem kleinen Gemach beim Mokka saß. Da bat Martina

den Bruder um Geld. Das heißt, sie bat nicht darum,
sondern verlangte es brüsk.
»Bedaure sehr, ich kann dir leider kein Geld geben«, zuckte
Ulf die Achsel. »Du hast das dir Zustehende pünktlich am
Ersten bekommen. Ist es etwa schon ausgegeben?«
»Was bei den paar Pfennigen gewiß nicht schwer ist«,
machte sich die Mama zum Vormund der Tochter, die so
ganz ihr getreues Ebenbild war. Lang und hager, einen
verkniffenen Mund, ein blasses Gesicht, fahlblaue Augen
und fahles Haar – und vor allem das hochfahrende Wesen.
Sie war bei der Mutter, die diese Tochter ganz als ihr
Geschöpf betrachtete, in eine gute Schule gegangen.

»Also ein paar Pfennige nennst du das, Mama, womit oft
ganze Familien auskommen müssen«, lächelte der Sohn
ironisch. »Hast du überhaupt eine Ahnung, wie gut es dir
geht?«
»Darauf habe ich nur gewartet!« fuhr sie giftig auf ihn los.
»Gutgehen nennst du das, wenn man sparen muß an allen
Ecken und Enden? Schon das Haushaltsgeld, das du mir
zubilligst, ist so lächerlich wenig, daß ich selbst darüber
staune, wie ich damit überhaupt auskomme. Aber du
verlangst dafür Delikatessen, über deine Verhältnisse
hinaus einen feudalen, großgeführten Hausstand.«
»Was mir auch zusteht«, warf er ruhig ein. »Wie gut du mit

dem Geld auskommst, ist daraus zu ersehen, daß du jeden
Monat eine ganz nette Summe übrig behältst, die du dann
für’ dich und Martina ausgibst.«
Es war das erste Mal in den zwei Jahren, seitdem er nach
des Vaters Tod Familienvorstand war, daß er seiner Mutter
das eben Erwähnte vorhielt, weil dergleichen seiner
vornehmen Natur nicht lag. Aber da Klarissa immer
anspruchsvoller – oder besser gesagt, unverschämter wurde,
mußte das einmal zur Sprache kommen.
»Na, das ist ja nun wirklich die Höhe!« schnappte die
empörte Dame zuerst einmal nach Luft, wie ein Fisch auf

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dem Trockenen. Zwei kreisrunde rote Flecke brannten auf
den Backenknochen des hageren Gesichts, immer ein

Zeichen, daß die gute Klarissa sich in höchster Erregung
befand. »Schämst du dich gar nicht, deiner Mutter, der du
das Leben verdankst, so eine unerhörte Vorhaltung zu
machen? Sieh dich nach einer anderen Wirtschafterin um,
ich ziehe mit Martina ins Witwenhaus! Aber dann zahlst
du mir hübsch säuberlich das Erbteil auf den Tisch, mein
anmaßender Sohn.«
»Wie du wünschest«, entgegnete er eisig. Stand auf, eine
knappe Verbeugung, dann ging er hinaus.
»Mama, soweit hättest du dich nicht hinreißen lassen
dürfen«, bemerkte die Tochter ängstlich. »Wenn Ulf nun
verlangt, daß du zu deinem Wort stehst, was dann?«

»Er wird sich hüten«, lachte die Mutter auf, es klang wie das
Krächzen einer’ zornigen Krähe. »Er kann das Geld ja gar
nicht flüssig machen, ohne Herrnhagen zu belastend. Laß
mich nur machen, mein Herzblatt. Deine kluge Mutter
weiß schon, was sie tut.«
Von dieser Auseinandersetzung hatte Dolly keine Ahnung.
Quietschvergnügt saß sie in ihrem Zimmer, speiste mit
Hariet ganz groß, wie sie verschmitzt feststellte. Denn die
gute Mamsell, die dem Irrwisch sehr zugetan war, hatte es
nicht übers Herz bekommen, ihn so frugal abzufüttern, wie
die gestrenge Frau Mama es anordnete. Daher fiel das
Mahl, das Lorenz brachte, sogar recht üppig aus.

»Du Waghalsiger, hast du denn ‘gar keine Angst, beim
Transport dieser >Lukullität< ertappt zu werden?« fragte
Dolly lachend, als der Diener die Speisen anrichtete. »Ich
bin doch heute auf Wasser und Brot gesetzt.«
»Die Mamsell ist manchmal schwerhörig, Baronesse – und
ich auch«, bekannte der Musterdiener, ohne dabei seiner
Würde etwas zu vergeben. Kein Muskel regte sich in seinem
Gesicht, als er eine kleine Flasche Sekt aus der Hosentasche
zog und sie auf den Tisch stellte. Zwei Gläser folgten nach,
dann wünschte er den Damen höflich guten Appetit und
stelzte davon.

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»Der ist ja goldig!« lachte Hariet so fröhlich, wie sie noch
nie gelacht. »Den könnte man direkt liebhaben.«

»Das tun Sie nur«, riet Dolly gönnerhaft. »Der verdient es.
Was meinen Sie wohl, wie oft er meine Schandtaten
gedeckt hat, er und die Mamsell. Es sind zwei Getreue, die
auch bei meinem Bruder einen großen Stein im Brett
haben. Trinken wir auf das Wohl dieses prachtvollen
Dienerehepaares!«
Damit ließ sie den Pfropfen knallen, füllte die Gläser und
stieß mit Hariet an, die zum ersten Mal Sekt trank. Beim
zweiten Glas hatte sie einen regelrechten Schwips, und da
auch Dolly an das köstliche Naß nicht gewöhnt war, stellte
sich auch bei ihr ein niedliches Schwipslein ein.
So gerieten die beiden Mädchen denn in eine Stimmung, in

der sie hätten die ganze Welt umarmen mögen. Die
ehrpusselige Gelehrtentochter wollte sich halbtot lachen,
als das kecke Baroneßchen mit einer Schere anrückte und
rief:
»Runter mit dem gräßlichen Dutt! Ich will kein so
altklunkeriges Nönnchen ständig vor Augen haben. Darf
ich?«
»Bitte sehr«, wurde Hariet leichtsinnig, löste das Haar –
und ritsch, ratsch schnitt die scharfe Schere es bis zur
Schulter ab.
»Herrlich!« tanzte der Übermut im Zimmer umher. »Der
Kopf ist jetzt bildschön und was darunter ist…«

Sie hielt erschrocken inne, weil es kurz anklopfte und
gleich darauf der Bruder ins Zimmer trat. Dolly lachte ihn
freundlich an, doch Hariet bekam ganz große Angstaugen.
Backfischchen hatte recht, der Kopf war jetzt bildschön,
den das goldbraune Haar in tiefen Wellen umbauschte und
an den Seiten in das heiße Gesichtchen fiel.
»Ja, was geht denn hier vor?« fragte der Mann streng,
während es in Mund und Augenwinkeln zuckte. »Du hast
Fräulein Hermeran das Haar abgeschnitten, wie es die
Schere in deiner Hand verrät?«
»Jawohl, Brüderlein fein«, gab die beschwipste kleine Dame

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ohne weiteres zu. »Sieht meine Hariet jetzt nicht viel
schöner aus als mit dem schauderhaften Dutt?«

Auf diese Frage blieb er die Antwort schuldig. Meinte nur
achselzuckend:
»Wenn Fräulein Hermeran sich deinen Übermut gefallen
ließ, ist das ihre Sache. Ich bin nur neugierig, was die
Mama zu deinem neuesten Streich sagen wird.«
»Er wird mir eine Ohrfeige und Stubenarrest einbringen«,
folgerte die Kleine unbekümmert, und der Bruder besah sie
sich kopfschüttelnd.
»Mädchen, was bist du doch bloß für ein Erzschelm. Dem
sind Sie bestimmt nicht gewachsen, Fräulein Hermeran.«
»Doch«, legte der Übermut das Köpfchen schief und
blinzelte den distinguierten Herrn verschmitzt an. »Sie hat

mich nämlich lieb. Und Liebe trägt, duldet und verzeiht
alles – steht in der Bibel.«
Da mußte der Mann denn doch lachen. Zeigte dann jedoch
wieder ernst werdend auf die leere Flasche.
»Hast du etwa Sekt getrunken, Dolly?«
»Jawohl! Eine Spende derjenigen, die hier unter Larven die
einzig fühlende Brust ist. Also laß auch du, Bruder, es
genug sein des grausamen Spiels. Ich hab ja bestanden, was
keiner besteht.«
Da lachte Hariet hell auf. Jungfrisch und froh klang dieses
köstliche Lachen. Und da sie dank ihres Schwipses Mut
hatte, sprach sie in Gegenwart dieses sie sonst so

einschüchternden Mannes das aus, was sie dachte:
»Und ich soll Ihnen noch was beibringen, Dolly? Sie sind
ja bedeutend klüger als ich.«
»Hörst du es?« frohlockte der Schalk. »Und zwar aus dem
Mund der Gelehrtentochter, die seit ihrem sechzehnten
Lebensjahr mit dem Vater zusammen in Altertumskunde
schwelgte. Die ihr Abitur mit Auszeichnung machte – ach, .
wäre ich doch erst soweit.«
»Na, die Auszeichnung wollen wir von vornherein
streichen«, schmunzelte der Bruder, der seinem
Schwesterchen nun einmal nicht ernstlich böse sein

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konnte. »Ein >Ausreichend< dürfte, auch genügen.«
»Hariet, widersprechen Sie ihm.«

»Das wage ich nicht, Dolly.«
»Ängstliches Gemüt. Aber das soll unter meinem Einfluß
bald anders werden. Was verschafft mir übrigens die Ehre
deines Besuches, gebietender Herr. Kamst du etwa, um mir
ins Gewissen zu reden?«
»Erraten. Aber dein niedliches Schwipslein würde dir selbst
die strengste Strafpredigt rosenrot erscheinen lassen. Daher
fange ich erst gar nicht damit an.«
»Ach, was bist du doch für ein verständnisvoller Bruder.
Komm an mein Herz!«
Als sie sich beseligt an seine Brust werfen wollte,
entschwand er lachend, und die beiden Mädchen machten

es sich bequem. Dolly streckte sich aufs Bett und Hariet auf
den Diwan.
Und dann fingen sie an zu singen, bis sich die Köpfchen
neigten und Schlaf sie umfing. Er war so fest, daß die
beiden jungen Menschenkinder gar nicht merkten, als
Lorenz erschien und den Tisch abdeckte. Ein gütiges
Lächeln umzuckte den Männermund, und gütig war der
Blick, der die holden Schläferinnen umfing.
Es war am nächsten Morgen. Schrill riß der Wecker Hariet
aus süßen Träumen hinein in die Wirklichkeit. Gähnend
warf sie einen Blick auf die Uhr – halb sieben, also
Aufstehzeit für sie. So verlangte es die Dienstvorschrift.

Eine halbe Stunde später die Baronesse wecken und dafür
sorgen, daß diese sich zur Zeit auf den Schulweg machte.
Und zwar in dem Zweisitzer, den der Chauffeur lenkte. Er
holte dann auch seine kleine Herrin von der Schule ab, die
vier Tage in der Woche um ein Uhr und zwei Tage um zwei
Uhr aus war.
Es fiel Hariet nicht leicht, die festschlafende Kleine zu
ermuntern. Kein Wunder, da es draußen in Strömen
regnete. Und dann ruht es sich bekanntlich wohl im
warmen, weichen Pfühl.
»Dolly, Sie müssen aufstehen! Dolly, so werden Sie doch

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endlich wach! Es ist fast einhalb acht Uhr. Ihnen bleibt ja
zum Ankleiden keine Zeit und zum Frühstücken schon gar

nicht!«
Endlich erhob das verschlafene Persönchen sich in ganz
miserabler Laune – und dann ging alles Hals über Kopf.
Sich an den Frühstückstisch zu setzen, den Lorenz in dem
reizenden Jungmädchenstübchen fürsorglich gedeckt hatte,
daran war kein Gedanke. Hariet gelang es gerade noch, der
ihr Anvertrauten eine Doppelschnitte in die Hand zu
drücken, dann war diese auch schon auf und davon.
Schachmatt ließ die Zurückbleibende sich in den nächsten
Sessel sinken, um erst einmal zu verschnaufen, dann erst
begann sie mit dem Frühstück. Unter der Mütze war der
Kaffee heiß geblieben. Dickflüssig tropfte die Sahne in das

braune Getränk, ein Stückchen Zucker plumpste nach.
Und dann die Schnitte, dick mit Butter bestrichen und mit
Landschinken belegt – ach, was waren das doch für
herrliche Genüsse!
Wenn es ihr doch vergönnt wäre, hier festen Fuß zu fassen,
wo alles so ungemein großzügig, so selbstverständlich war.
Nicht mehr zurück müssen in das mehr als bescheidene
Milieu, aus dem sie stammte.
Seufzend fuhr Harriet sich über die Stirn – und da wurde es
ihr heiß vor Schreck. Richtig, ihr Haar war ja abgeschnitten,
reichte kaum noch bis zur Schulter.
Sie sprang auf, trat vor den Spiegel und beäugte sich

eingehend. Ein fremdes Gesicht schaute ihr aus dem Glas
entgegen – denn eine Frisur kann ein solches schon
verändern.
Das soll ich nun sein, dachte Hariet halb beglückt, halb
verzagt. Was wird nur die Frau Baronin sagen! Mir etwa die
Tür weisen? Fertig bekäme sie es schon, die kein Erbarmen
zu kennen schien.
Wie hatte sie aber auch der übermütigen Dolly die
Erlaubnis zu dem Haarschnitt geben können. Es mußte
wohl der Sekt sein, der diesen Leichtsinn heraufbeschwor.
Zerknirscht nahm Hariet sich vor, nie wieder welchen zu

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trinken.
In ihrer Niedergeschlagenheit hätte sie am liebsten geweint.

Aber das ging nicht. Sie konnte doch unmöglich mit
verweinten Augen bei den beiden Damen erscheinen,
denen sie bestimmt beim Ankleiden helfen mußte.
Hoffentlich war auch heute wieder Mila dabei.
Kaum hatte sie es gedacht, stand das Mädchen auch schon
in der Tür.
»Ach, hier sind Sie, Fräulein? Daher bekam ich auch keine
Antwort, als ich an Ihre Zimmertür klopfte.
Aber wie sehen Sie denn aus?« unterbrach sie sich lachend.
»Haben Ihnen etwa in der Nacht die Heinzelmännchen
den gräßliche Dutt abgeschnitten?«
»Ein Heinzelmännchen war es schon«, entfuhr es Hariet –

und da wußte die andere Bescheid.
»Die Dolly also. Das sieht diesem kleinen Deibel ähnlich.
Aber machen Sie sich nichts draus, Fräuleinchen. Sie
wirken jetzt lange nicht mehr so altklunkerig. Nur das Haar
muß noch richtig gestutzt werden, was ich gleich besorgen
will. Ich habe nämlich Geschick darin. Wäre am liebsten
Friseuse geworden, aber meine Eltern hatten nicht das
Geld, um mich ausbilden zu lassen. Also los, ich mache Sie
todschick.«
»Ach, Mila, was wird bloß die Frau Baronin zu meiner
jetzigen Frisur sagen?«
»Gar nichts hat die zu sagen. Sie können doch mit Ihrem

Haar machen, was Sie wollen. Und nun mal hopp, ich
habe nicht viel Zeit.«
Das klang wie ein Befehl, dem die ängstliche Hariet sich
dann auch unterordnete. Geschickt hantierte Mila mit der
Schere und besah dann wohlgefällig ihr Werk. Wie
goldbraune Seide glänzte das wellige Haar, das in der Mitte
gescheitelt, zwanglos über den Nacken fiel und sich an den
Enden zu gleißenden Locken drehte:
»Na, Sie haben vielleicht Haar«, sagte Mila andächtig. »Sie
können den Scheitel tragen, was bestimmt nicht jeder
Kann. Die Trine wird schön fauchen, wenn sie Sie so sieht.«

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»Wer ist denn das, Mila?«
»Na, die Martina, die wir einfach Trine nennen, weil sie

eine ist. Die möchte für ihr Leben gern eine Scheitelfrisur
tragen, was aber bei ihrem langen, mageren Pferdegesicht
unmöglich ist. Das sieht sie selbst ein.«
»O Gott, Mila, dann wird mir die Baronesse am Ende
meine Frisur neiden.«
»Wird sie, wird sie ganz bestimmt. Aber das freut mich von
Herzen.«
»Sagen Sie mal, Mila. warum sind Sie eigentlich auf Ihre
Herrschaft so schlecht zu sprechen?«
»Weil sie es nicht besser verdient. Das heißt, nichts gegen
den Herrn Baron, das ist ein feiner Kerl. Wir haben wohl
vor ihm einen heillosen Respekt, aber zugleich verehren

wir ihn auch.
Und die Dolly? Das ist zwar ein kleiner Deibel, aber sie hat
ein gutes Herz. Doch die Olle und ihr getreuer Abklatsch,
das sind einfach Menschenschinder. Na, Sie werden das
auch noch zu spüren bekommen.«
In dem Moment klingelte es viermal kurz und scharf.
»Das gilt Ihnen«, erklärte Mila. »Ich kam nämlich her, um
Sie im Zofendienst zu unterweisen, was ich über die Frisur
ganz vergaß.«
»Liebe Mila, wollen Sie so gut sein und heute noch mit mir
kommen?« bat Hariet ängstlich, und da das Mädchen
gutmütig war, willigte es ein.

»Na schön, heute noch ja. Aber dann müssen Sie zusehen,
allein fertig zu werden. Ich habe ja meine zugeteilte Arbeit
als Stubenmädchen, und es fällt mir gar nicht ein, mir für
die Ziegen ein Beinchen auszureißen.« *
Schon klingelte es wieder, und Mila lachte.
»Aha, das ist Sturm. Da können Sie was erleben.«
»Sagen Sie, Fräulein, wo bleiben Sie eigentlich!« wurde sie
von der Gnädigen, die im Bett saß, unwillig empfangen.
»Und wie sehen Sie denn aus! Was haben Sie mit Ihrem
Haar gemacht?«
»Sie hat es abgeschnitten«, gab die Stubenfee trocken

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Antwort. »Schließlich ist es ja ihr Kopf.«
»Mila, ich verbitte mir Ihre Frechheit!« zeigten sich jetzt die

kreisrunden Flecke auf den Backenknochen der entrüsteten
Dame. »Ich werde deswegen beim Herrn Baron vorstellig
werden.«
»Na, dann kann ich dem Herrn Baron gleich sagen, daß ich
mir eine andere Stelle suchen werde.«
Diese Antwort hatte die hochfahrende Dame nicht erwartet
– und sie gefiel ihr gar nicht. Weil sie nämlich ganz genau
wußte, daß es schwer war, Dienerschaft nach Herrnhagen
zu bekommen. Daß es an ihr lag, sah die Gnädige natürlich
nicht ein, sie gab immer nur andern die Schuld.
Also auch der Dienerschaft, die so oft wechselte. Es gab
heute eben keine echte Dienstbarkeit mehr. Die Leute

wurden aufgehetzt durch allerlei Neuerungen, die sie
aufsässig und dreist machten. Die Unverschämten besaßen
ja bald mehr Recht als die Herrschaft, die für mäßige
Dienstleistung fütterte und entlohnte.
Aber was sollte man dagegen tun? Man brauchte dieses
anmaßende Gesindel nun mal – und mußte daher wieder
einmal einlenken, was denn auch mit den Worten geschah:
»Reden Sie „nicht solchen Unsinn, Mila! Sehen Sie lieber
zu, daß ich mein Bad bekomme.«
»Na also«, grinste die kecke Maid, als sie mit Hariet im
Badezimmer allein war. »Sie sind gar nicht so schlimm, die
ollen Ziegen, man muß sie nur zu nehmen wissen.«

Hariet hätte viel darauf antworten können. Wagte es jedoch
nicht, Mila zu verärgern, die trotz ihrer Keckheit hier recht
angesehen zu sein schien. Ach, wenn ihr diese Keckheit
doch auch gegeben wäre – aber leider.
Wie ein Wirbelwind fuhr Dolly in das Zimmer Hariets, die
im Korbsessel am Fenster saß und sich abmühte, den Riß
in einem Nachtkleid der Baronesse Martina säuberlich zu
verstopfen. Sie hatte so ein hauchfeines Gewebe noch nie
in Händen gehabt und schwitzte nun gewissermaßen Blut
und Wasser. Denn der rosarote Seidenfaden schien immer
noch zu derb für den Hauch aus Seide und Spitzen.

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»Lassen Sie das jetzt«, entschied Baroneßchen unwillig.
»Kommen Sie mit mir essen. Ich habe gräßlichen Hunger

nach der Plackerei in der Schule. Dem, der diesen Unsinn
ausgetüftelt hat, könnte ich glatt den Hals umdrehen.«
»Lernen Sie denn nicht gern, Dolly?«
»Nein«, kam es aufsässig zurück. »Lesen, schreiben,
rechnen, das muß der Mensch natürlich können. Alles
andere ist Humbug, weil ich doch auch einmal heirate und
ein halbes Dutzend Kinder großziehen werde. Denen ist es
doch nun wirklich egal, ob ich ihre Windeln in höherer
Mathematik, Literatur, Kunstgeschichte oder Latein wasche,
ob ich mit sechzehn oder mit zwanzig Jahren der Schule
entrann.«
»Und der Mann?« fragte Hariet lachend. »Der will doch

schließlich eine gebildete Frau haben.«
»Meiner nicht«, tat Backfischchen verächtlich ab. »Der ist
bestimmt nicht auf Wissenschaft erpicht, weil er auf einer
Klitsche treu und brav seinen Kohl bauen wird. Denn so
was kommt für mich überhaupt nur in Frage. Oder glauben
Sie, daß ich etwa Gefallen an einem so gelehrten Herrn
finden könnte, wie zum Beispiel Ihr Vater einer war?«
»Nein«, mußte Hariet ihr recht geben. »Sie wären auch viel
zu schade dazu.«
»Also! Gehen Sie mit mir, um Ihrer Pflicht zu genügen. Sie
besteht jetzt darin, mir bei meinem Mittagsmahl
Gesellschaft zu leisten.«

Das geschah denn auch. Sie saßen allein zu Tisch, weil die
andern immer um zwölf Uhr aßen. Also mußte für die
Jüngste der Familie und ihr »Opfer« nachserviert werden.
Aufgewärmtes natürlich, nach Befehl der Frau Mama –
wobei die gute Mamsell und ihr trauter Gemahl
schwerhörig waren. Ihr Liebling bekam nur Leibgerichte
serviert, was die Gestrenge niemals sah, weil sie um die Zeit
der Mittagsruhe pflegte.
Hariet beeindruckte das feudale Speisezimmer natürlich
sehr. Sie konnte sich – auch später noch – nie satt sehen an
all dem Schönen, nie Geschauten.

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Der runde Tisch in dem Erker war für zwei Personen
gedeckt – und wie gedeckt. Feiner Damast, kostbares

Porzellan, schweres Silber und blitzendes. Kristall. Man
verschwand fast in den wuchtigen Lehnstühlen, die so
weich gepolstert waren. Man konnte so wunderbar den
Köpf an das schmiegsame, samtige Leder legen.
Ach ja, wie war das doch alles traumhaft schön. Hariet
konnte nicht begreifen, daß all die Pracht dem
Backfischchen »wurscht« zu sein schien.
Warum auch nicht? Sie war ja daran gewöhnt, die kleine
Baronesse. Hatte diese Atmosphäre geatmet vom ersten
Schrei an. Hätte man sie auf all das Herrliche aufmerksam
gemacht, wäre sie wohl baß erstaunt gewesen.
»Hariet, warum schauen Sie denn so bedeppert drein?«

fragte sie jetzt verwundert. »Will Ihnen das vorzügliche
Mahl etwa nicht munden?«
»Doch«, entgegnete die andere wie bei einem Unrecht
ertappt. »Ich bin nur an solche Delikatessen nicht
gewöhnt.«
»Dann holen Sie das recht schnell nach«, riet Backfischchen
gönnerhaft. »Mag es hier sein wie es will, aber die Küche ist
gut, dank unserer Mamsell. Daher hat Lorenz sie ja auch
geheiratet, weil Liebe nun einmal durch den Magen geht.«
Verschmitzt lachte sie dabei den Diener an, der soeben den
Nachtisch servierte.
»Nicht wahr, ihr seid ein gutes Gespann, die Mamsell und

du.«
»Durch Herrschafts Gnaden, Baronesse.«
»Pöh«, tat sie ungerührt ab. »Sag lieber durch Gottes
Gnaden“. Ich habe nämlich heute eine interessante
Religionsstunde hinter mir. Demnach sind die Menschen
nichts, Gott alles.«
Darauf blieb Lorenz die Antwort schuldig und ging mit
stolzer Würde hinaus. Er hatte getan, was er konnte. Hatte
seinem Liebling ein Mahl serviert, wie es nicht in der
Bestimmung der gestrengen Frau Mama stand.
Nach dem Essen rekelte sich Dolly mal erst in ihrem

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Zimmer auf dem Diwan. Hariet mußte ihr dabei
Gesellschaft leisten. Doch sie war nicht müßig dabei,

quälte sich mit dem Nachtgewand der Baronesse Martina
weiter ab. Dolly sah eine Weile zu, dann sagte sie
ungehalten:
»Werfen Sie diese Kodderei doch einfach zum Fenster
hinaus, Hariet. Es ist weiter nichts als Schikane meiner
lieben Schwester, daß Sie daran herumsticheln müssen.
Denn gemäß des Toilettengeldes, das ihr zur Verfügung
steht, könnte sie sich jeden Monat so ein Ding leisten.«
»Ich muß das tun, was mir beföhlen wird«, bemerkte Hariet
bescheiden. »Dafür stehe ich ja hier in Lohn und Brot.«
»Ach du lieber Gott«, schnitt die Kleine eine Grimasse.
»Wenn Sie sich danach richten wollen, können Sie

arbeiten, vom frühesten Morgen bis in die Nacht – und
immer wäre es für die Anspruchsvollen noch nicht genug.
Übrigens sehen Sie in der neuen Frisur reizend aus. Ich bin
ordentlich stolz darauf, diese so wunderbar hingekriegt zu
haben.«
»Den Stolz muß ich Ihnen leider nehmen«, lachte Hariet.
»Denn mit den Zotteln, die Ihre Schere schnitt, hätte ich
unmöglich herumlaufen können. Die geschickte Hand
Milas hat die Haare erst zurechtgestutzt.«
»Tatsächlich?« staunte Dolly. »Dann müssen Sie aber einen
großen Stein bei ihr im Brett haben. Denn Mila ist von der
Dienerschaft wohl am intelligentesten, aber auch am

frechsten. Wie nahm übrigens meine Mama Ihre neue
Frisur auf?«
»Darüber war die Frau Baronin natürlich sehr ungehalten.
Doch Mila trat in so schnippischer Art für mich ein, die ich
direkt bewunderte.«
»Nun, Sie werden sich bei uns noch über manches
wundern«, bemerkte Backfischchen trocken. »Hier heißt es:
Hilf dir selbst, dann* hilft dir Gott.«
Das schien auch der Fall zu sein. In diesem feudalen
Schloß war jeder auf sich selbst gestellt.
Zwar trat Dolly für Hariet, die sie nun mal in ihr zärtliches

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Herzchen geschlossen hatte, ein, soviel sie nur konnte.
Aber sie war ja am Vormittag in der Schule, und gerade

dann wurde von dem »Fräulein« viel verlangt. Es mußte
nicht nur die Baronin und deren ältere Tochter bedienen,
sondern auch deren Garderobe und Zimmer in Ordnung
halten. Ferner mußte es überall einspringen, wo es gerade
gebraucht wurde.
Und das war nun wirklich ein dehnbarer Begriff. Da hieß es
wie am laufenden Band: Fräulein hier und Fräulein da -
Fräulein, Sie müssen dieses, Fräulein, Sie müssen jenes.
Und das Fräulein tat es, gutwillig und unermüdlich. War
gewissermaßen ein Paslack für alle. Bis Dolly aus der
Schule kam, dann hörte das auf. Dann belegte die Kleine
»ihr Fräulein« so mit Beschlag, daß es für alle andern tabu

war.
Und auf diese Stunden freute Hariet sich. Sie brachten ihr
Freude und Erholung. Denn einer Obertertianerin bei den
Schularbeiten zu helfen, war für das über den Durchschnitt
gebildete Mädchen ein Kinderspiel.
Dabei saß die Gewissenhafte nie müßig. Hatte immer ein
Kleidungsstück in der Hand, das sie mit Mühe und
Geschick ausbesserte.
Wenn die Damen mit ihrer »Zofe« wenigstens zufrieden
gewesen wären. Aber sie hatten ewig herumzunörgeln, zu
kritisieren und zu schelten.
Das alles ertrug Hariet mit rührender Geduld. Muckte auch

nicht auf, als die übelgelaunte Gnädige ihr mit einer
Ohrfeige drohte. Nichts konnte man der despotischen Frau
recht machen, aber auch gar nichts.
Wenn Hariet dann endlich gehen konnte, war sie so
schachmatt, daß sie sich erst einmal gegen die geschlossene
Tür lehnen mußte. So auch heute. Sie schloß die Augen,
unter deren Lidern dicke Tränen hervorliefen, und
bemerkte so nicht den Schloßherrn, der den Gang
entlangkam, stutzte und dann stehenblieb. Schrak wie bei
einem Unrecht zusammen, als die sonore Männerstimme
sprach:

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»Ja, was haben Sie denn, Fräulein Hermeran? Fühlen Sie
sich nicht wohl?«

»Nein – o nein – gewiß nicht«, stammelte sie verstört, lief
davon – und er sah ihr kopfschüttelnd nach.
Und die Tage vergingen, reihten sich zu Wochen. Das
Weihnachtsfest nahte. Einige Tage vorher stürmte Dolly ins
Wohnzimmer und verkündete glückstrahlend den Ihren,
daß sie in Mathematik eine Eins geschrieben hatte.
»Die erste in meinem Leben!« schwenkte sie frohlockend
das Heft. »Und daran ist Hariet schuld. Ach, ihr wißt ja gar
nicht, wie klug die ist. Wie sie mir alles so eintrichtert, daß
ich kaum etwas merke. Ich stehe jetzt in der Schule einfach
blendend da.«
»Das freut mich, mein Kind«, entgegnete die Mutter

gemessen. »Endlich hast du eingesehen, daß Wissen Macht
ist.«
Das eben noch so strahlende Mädchengesicht verdüsterte
sich. Doch schön zog Ulf das Schwesterlein zu sich heran
und sagte herzlich:
»Bravo, mein Kleines! Du hast wirklich ein Lob verdient.«
»Mach sie nicht eitel«, gebot die Mutter streng. »Sie hat
doch bestimmt nichts Besonderes geleistet. Wenn man im
zweiten Jahr in einer Klasse sitzt, muß man das Pensum
wohl spielend schaffen.«
Zuerst sah die Kleine die Mutter betroffen an, doch dann
ruckte der Kopf in den Nacken, die Augen blitzten. Und

was sich dann den jungroten Lippen entrang, ließ den
töchterlichen Respekt außer acht:
»Vielleicht besinnst du dich, daß dein Abgott Martina
zweimal eine Klasse wiederholte. Und nur, weil sie dumm
und faul war – während ich…«
»Dolly«, sprach der Bruder mahnend dazwischen. »Vergiß
dich deiner Mutter gegenüber nicht.«
Da weinte sie auf und lief davon. Mitten in Hariets Arme
hinein, die zutiefst erschrocken war.
»Dolly, was ist dir denn passiert? Liebes, so sprich doch!«
Ganz unwillkürlich hatte sich das Du über Hariets Lippen

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gedrängt – und da blitzte ein Lachen in den tränennassen
Mädchenaugen auf, wie ein Sonnenstrahl, der nach dem

Gewitter durch das düstere Gewölk bricht.
»Du hast mich geduzt – bleiben wir dabei. Ich duze dich
auch.«
»Aber das geht doch nicht. Was würde die Frau Baronin
dazu sagen?«
»Na, der kann ich sowieso nichts rechtmachen. Also
kommt es auf ein bißchen mehr oder weniger schon gar
nicht mehr an.«
Sie erzählte, was sich soeben unten zutrug. Und da tat sie
Hariet bitter leid.
Sie kam zu keiner Antwort, weil es kurz , klopfte und der
Schloßherr das Zimmer der Schwester betrat.

»Erscheinst du, um mich auszuzanken?« rief sie ihm trotzig
entgegen, doch er winkte ab.
»Das ist nicht meine Absicht, obwohl du es verdientest.
Denn der Ton deiner Mutter gegenüber war gewiß nicht
von töchterlichem Respekt.«
»Und der ihre war mir gegenüber wohl mütterlich, wie?«
»Daran müßtest du doch schon gewöhnt sein«, erwiderte er
achselzuckend. »Eben rief Tante Alice an und lud uns ein.«
»Ist Dietz denn schon gesund?« fragte Dolly dazwischen.
»Ja. Seit einigen Tagen befindet er sich außer Bett. Auch
ihre Eltern sind schon wieder wohlauf.
Übrigens sind Sie mit eingeladen, Fräulein Herme ran«,

wandte er sich nun an sie, die sich bescheiden im
Hintergrund hielt. »Wie mir meine Tante am Fernsprecher
erklärte, sollen Sie eine Verwandte der Warrings sein.
Allerdings so um sieben Ecken herum, wie sie lachend
hinzusetzte. Mach den Mund zu, Dolly, sonst siehst du gar
zu einfältig aus.«
»Na, da bin ich ja nun mal platt wie eine Flunder«,
behauptete sie. »Hariet, warum hast du mir nichts davon
gesagt?«
»Weil ich die Begegnung mit den Herrschaften im Zug
vergaß«, bekannte sie ehrlich.

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»Dann besinnst du dich jetzt schleunigst wieder darauf und
kommst mit nach Prahlen.«

»Ich möchte nicht.«
»Warum denn nicht?«
»Weil mir das als Angestellte nicht zukommt.«
»Na, so ein Unsinn! Ulf, befiehl, daß sie mitfährt!«
»Meinst du nicht, daß dieser Befehl meine Kompetenz
übersteigen würde, Schwesterchen? Fräulein Hermeran ist
ja schließlich nicht meine Sklavin.«
»Meinst du. Aber die Mama und ihr Abgott sind anderer
Ansicht.«
»Dolly!«
»Na ja, ich bin ja schon still. Also los, Hariet, sei du dann
meine Sklavin auch.«

Da mußte der Baron lachen – und schon war die kecke
Kleine wieder obenauf. Nachdem er betont hatte, daß der
Schlitten in einer Viertelstunde abfahrtbereit wäre, ging er,
und Dolly ermunterte:
»Mach fix, Hariet, mein Bruder haßt die Unpünktlichkeit.
Zieh dein bestes Kleid an, denn die Warrings sind schicke
Leute.«
»Dolly, ich kann doch nicht ohne Erlaubnis der Frau
Baronin…«
»Mädchen, laß doch endlich von der übertriebenen
Bescheidenheit«, zappelte die Kleine jetzt bereits vor
Ungeduld. »Du bist doch bestimmt nicht begriffsstutzig.

Also mußt du schon längst bemerkt haben, daß hier zuerst
einmal der Wille meines Bruders gilt, weil er eben der Herr
ist. Und er hat dich zum Mitfahren aufgefordert.«
Da mußte Hariet wohl oder übel gehorchen. Und gerade,
als sie den Mantel überzog, klingelte es viermal scharf und
kurz.
»Das ist mein Klingelzeichen«, fuhr sie erschrocken
zusammen und hastete davon. Sie merkte gar nicht, daß
Dolly ihr auf dem Fuß folgte.
»Wo wollen Sie denn hin?« fragte die Baronin brüsk das
Mädchen, das sie angstvoll ansah.

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Und schon gab das Backfischchen Antwort:
»Wir fahren nach Prahlen, Mama.«

»Was heißt – wir? Doch nicht etwa auch das Fräulein?«
»Ja. Tante Alice lud sie ausdrücklich ein.«
»Na, das ist ja noch schöner!« zeigten sich bereits die Flecke
auf den Backenknochen. »Das Fräulein bleibt hier!«
»Fräulein Hermeran begleitet uns«, kam es gelassen von der
Tür her, wo Ulf stand. »Die junge Dame ist nämlich eine
entfernte Verwandte der Warrings.«
Sehr geistreich war die Frau Baronin ohnehin nicht, aber
jetzt sah sie alles andere als das aus. Sie sperrte den Mund
auf, klappte ihn wieder zu, sperrte ihn wieder auf.
Und diese Gelegenheit benutzte der Mann, die Mutter erst
gar nicht die Sprache wiederfinden zu lassen, die ihr diese

überraschende Eröffnung geraubt zu haben schien.
»Auf Wiedersehen, Mama. Warte nicht mit dem
Abendessen auf uns. Man kommt von Prahlen immer so
schlecht weg.«
Damit ging er, und Dolly folgte ihm hastig, die willenlose
Hariet am Ärmel mit sich ziehend. Als sie jedoch ins Freie
wollte, hielt der Bruder sie zurück.
»Na, so geht das ja nun nicht, daß Fräulein Hermeran so
leicht gekleidet bei zwölf Grad Frost Schlitten fährt. Daran
hättest du auch denken können, Kleine.«
»Das stimmt«, entgegnete sie beschämt* und da stand auch
schon Lorenz und hielt Hariet einen Pelz hin, in den sie

mit einem hilflosen Lächeln schlüpfte. Dann wurde ihr
eine Pelzkappe über die Ohren gezogen, der Kragen
hochgeschlagen.
Und dann mußte Dolly sich die gleiche Prozedur gefallen
lassen, obwohl sie behauptete, daß ihr Pelz, den sie bereits
trug, vollauf genügte. Doch gegen den Willen des Bruders
kam man eben nicht . an.
Der Einspännerschlitten, der schon vor dem Portal stand,
war breit genug, um den drei schlanken Personen bequem
Platz zu bieten, wobei Dolly in der Mitte den
geschütztesten bekam. Lorenz und der Stallbursche, der das

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Pferd gehalten hatte, stopften die große Pelzdecke sorgfältig
um die Insassen des Schlittens, knöpften die Schneedecke

darüber – und fort ging’s pfeilgeschwind.
Prahlen lag fünf Kilometer von Herrnhagen entfernt und
war mit seinen viertausend Morgen und den beiden
Vorwerken ein stattlicher Besitz. Ein gutes Stück Wald
gehörte auch dazu, Wasser gleichfalls, also ließ es sich
schon wirtschaften, zumal der Besitzer, Ludwig Warring,
noch vermögend war.
Seine Gattin war die Halbschwester der Baronin Eggeroth
und ihr ganz und gar unähnlich, im Aussehen sowie im
Charakter. Kein Wunder, da diese ganz ihrer Mutter
nachschlug, während Alice, die den Vater mit Klarissa
gemeinsam hatte, halb diesem, halb ihrer Mutter

nachartete. Und es waren beides schöne und gute
Menschen gewesen.
Die erste Ehe, die der Ulanenoberleutnant von Braß mit
einer reichen Kommerzienratstochter schloß, war eine
ausgesprochene Geldheirat. Er mußte daran glauben, wenn
er nicht den geliebten bunten Rock ausziehen wollte. Das
tat er erst nach zwei Jahrzehnten, als er von einem
entfernten Verwandten ein kleines Gut erbte und ihm so
eine Existenzmöglichkeit auch ohne das Geld seiner Frau
geboten wurde. Er ließ sich kurzentschlossen von seinem
»Hauskreuz« scheiden und heiratete das Mädchen, das er
schon heimlich liebte, wurde ein glücklicher und freier

Mann. Das Töchterchen, das sich nach einem Jahr
einstellte, war der Sonnenschein des Hauses.
Seine Tochter Klarissa aus erster Ehe erbte nach dem Tod
der Mutter das stattliche Vermögen – und zog damit den
Baron von Eggeroth an. Für seinen großen Besitz
Herrnhagen brauchte er es nicht unbedingt, wollte sich
jedoch seinen sehnlichsten Wunsch erfüllen und ein Gestüt
errichten.
Aber kurz vor der Hochzeit verlor Klarissa ihr Geld an
einen betrügerischen Bankier, und da Baron von Eggeroth
ein Mann mit hohen Ehrbegriffen war, ließ er die verarmte

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Braut nicht sitzen, sondern führte sie heim.
Ein echtes Glück bescherte ihm diese Ehe nicht, doch er

fand sich damit ab. Zumal ihm ein Sohn geboren wurde,
der so ganz Blut von seinem Blut war. Die Tochter, die drei
Jahre danach folgte, überließ er ganz der Mutter. Doch das
Nesthäkchen, das dann noch eintrudelte, war wieder ganz
nach seinem Herzen.
Man kann nicht sagen, daß der Baron seine Frau schlecht
behandelte, das lag seiner vornehmen Natur nun einmal
nicht. Er ließ sich nur nicht von ihr beherrschen, was sie
doch so gern gewollt. Drückte stets den Daumen aufs
Portemonnaie, sich selbst und seinem Besitz zu Nutz und
Frommen. Was eine Dame brauchte, mußte sie natürlich
haben, aber Verschwendung duldete der Gatte und Vater

nicht.
Klarissa, die mit ihrer Halbschwester immer nur in loser
Verbindung gestanden hatte, gefiel es ganz und gar nicht,
daß diese den Besitzer von Prahlen heiratete und somit in
ihre Nähe kam. Und als gar noch die verhaßte Stiefmutter
dort Wohnsitz nahm, hätte Klarissa eigentlich die Galle
platzen müssen, so sehr erboste sie sich. Frau von Braß war
allerdings erst zu ihrer Tochter gezogen, nachdem der Gatte
gestorben war und sie das Gut verkauft hatte.
Nun, von dieser Plage war Klarissa seit einem Jahr erlöst,
weil die Verhaßte der Rasen deckte. Aber deren Tochter
lebte nach wie vor herrlich und in Freuden in dem schönen

Prahlen, hatte einen Gatten, der sie sehr verwöhnte. Hatte
zwei Kinder, die förmlich Kult mit ihrer Mutz trieben,
worüber Klarissa sich doch noch mal die Galle ins Blut
ärgern würde. Warum konnten ihre Kinder nicht auch so
sein?
Ja – warum. Hinter dieses Warum hätte sie leicht kommen
können, wenn sie eben nicht so selbstherrlich gewesen
wäre.
Wäre es nach ihr gegangen, hätte sie mit Prahlen in
genauso losem Verkehr gestanden wie mit den andern
Nachbarn. Aber Gatte wie Sohn und später auch Dolly

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waren ja auf diese Menschen wie versessen. Nur Martina
nicht. Aber dafür war sie ja auch ganz das verwöhnte

Hätschelkind der Mutter.
Und diesem von der Frau Baronin so gehaßten Prahlen
fuhr nun der Herrnhagener Schlitten zu. Auch ganz was
Neues für Hariet Hermeran. Sie hatte gar nicht Augen
genug, um all das Wunderbare erfassen zu können, was
sich ihnen bot. Am liebsten hätte sie vor Andacht die
Hände gefaltet, was jedoch nicht ging, da sie in Fäustlingen
steckten.
»Hariet, du hast ja ganz fromme Augen«, neckte Dolly.
»Bist du etwa noch nie im Schlitten gefahren?«
»Du vergißt wohl, daß ich aus der Großstadt stamme, wo
ein Schlitten direkt eine Sehenswürdigkeit ist. Genauso wie

diese herrliche, unberührte Winterlandschaft hier.«
Sie schwieg erschrocken, als der Mann den Kopf nach ihr
wandte und sie prüfend ansah. Wie gut, daß ihr Gesicht so
vermummt war. Da konnte er wenigstens nicht sehen, wie
rot sie unter seinem Blick geworden war. Scheu senkte sie
die Augen und wagte kaum noch aufzusehen, bis die
Kleine lebhaft rief:
»Schau mal, dort liegt Prahlen. Wie in Watte gepackt stehen
die Insthäuser da. Und dann der helle Rauch, der fast
kerzengerade zum Himmel steigt. Ein Zeichen, daß man
überall Kaffee kocht. Ach, ich freue mich schon auf einen
gemütlichen Kaffeeklatsch.«

Fünf Minuten später hielt der Schlitten vor dem
Herrenhaus. Es war langgestreckt mit einem Oberstock und
Mansarden. Das Portal überdachte ein säulengetragener,
geräumiger Balkon. Über den großen Hof eilte ein
Stallbursche, klingelte mit dem Schlitten ab, während die
Gäste erst einmal von dem Diener in Empfang genommen
wurden.
In der Halle eilte ihnen der Hausherr fröhlich entgegen.
»Nun, seid ihr nicht verklammt? Es ist verflixt kalt draußen.
Legt rasch ab, und dann gibt es zuerst einmal einen
Schnaps zum Aufwärmen.«

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Hariet, die natürlich wieder Hemmungen hatte, stand ein
wenig abseits und wußte nicht, wie sie sich verhalten sollte.

Zögernd folgte sie den drei Menschen, die in lebhafter
Unterhaltung die Halle durchschritten und dann ein
Zimmer betraten, das vornehm eingerichtet, aber auch sehr
traulich war. Sie blieb auf der Schwelle stehen und sah mit
einem Gefühl des Verlassenseins zu, wie nun die
Hausherrin die lieben Gäste voll Herzlichkeit begrüßte. Ulf
neigte sich über ihre Hand und sah sie forschend an:
»Darfst du auch schon aufstehen, Alice?«
»Natürlich. Bei mir war es ja nur eine Erkältung, ebenso bei
Ludwig. Nur unsere Dietz hatte es arg gepackt. Wir haben
eine Heidenangst um das Kind ausgestanden.«
»Glaub ihr nicht, Ulf, sie übertreibt!« rief die Kleine ihm

zu, die in eine Decke gepackt im Lehnstuhl saß. »Was so
überängstliche Eltern einem zusetzen können, das sollte
man nicht für möglich halten.«
»Du hast’s nötig«, lachte der Baron. »Siehst noch
blaßschnäbelig aus, aber die Augen sind bereits wieder
klar.«
»Und frech«, gab Dolly ihren Senf dazu, indem sie die Base
und Klassenkameradin umarmte. »Hast mir in der Schule
sehr gefehlt.«
»Weil du nicht abschreiben konntest«, kam es trocken
zurück, doch Dolly warf sich stolz in die Brust:
»Hab ich jetzt gar nicht mehr nötig, seitdem Hariet – ja, wo

ist die überhaupt…?«
Verwundert sah sie sich um und entdeckte nun auch das
Mädchen, das poch immer in der Tür stand.
Auch die anderen wurden aufmerksam. Und schon eilte die
Hausherrin der Schüchternen entgegen.
»Aber Fräulein Hermeran, warum stehen Sie denn so
verlassen zwischen Tür und Angel? Man immer rein in die
gute Stube! Seien Sie uns herzlich willkommen.«
»Na, so was«, sagte der Hausherr verblüfft. »Wie kann man
sich nur so unsichtbar machen, mein gnädiges Fräulein.«
»Das ist so ihre Art«, schaltete Dolly sich ein. »Man muß sie

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immer von irgendwo hervorkramen. Typischer Fall von
Schüchternheit, aber die gewöhne ich ihr noch ab.

Genauso, wie ich ihr den gräßlichen Dutt abschnitt.«
Ob es nun richtig war, daß alle über die kecken
Bemerkungen lachten, blieb dahingestellt. Aber man
konnte dem Schelm einfach nicht böse sein, das war’s.
Ebensowenig wie man es bei Dietlind konnte, die von
gleicher Art war. Sie meinten es ja auch nicht bösartig, die
Backfischchen, waren immer nur mit dem flinken Zünglein
vorweg.
»Sagen Sie mal, gnädiges Fräulein, wie werden Sie
überhaupt mit dem Frechdachs fertig?« erkundigte sich
Herr Ludwig augenzwinkernd bei Hariet, die verlegen
dastand. Doch schon rief das Töchterlein hinüber:

»Bist du formell, Paps, zu der Tochter des Bruders deines
angeheirateten Vetters. Komm her zu mir, Hariet, wir sagen
du zueinander, obwohl unsere Verwandtschaft sich noch
schwieriger feststellen läßt.«
Jetzt mußte man wieder über dieses Backfischchen lachen,
und der Vater meinte schmunzelnd:
»Sie hat tatsächlich so lange herumgetüftelt, bis sie den
Verwandtschaftsgrad heraus hatte.«
»Aber sie hat recht!« jubelte Dolly. »In den Ferien werde ich
mich mal heranmachen, meinen Verwandtschaftsgrad mit
Hariet auszuknobeln.«
»Dann viel Vergnügen«, lachte die Tante. »Nun kommt,

Kinder, trinken wir Kaffee. Doch vorher gibt es einen
Schnaps für die verklammten Gäste.«
Wie in Herrnhagen, so gab es auch hier ein gemütliches
Frühstückszimmer, wo auf dem gedeckten Tisch die
Kaffeemaschine brodelte. Dietlind, die der Vater
hinübertragen wollte, wehrte sich dagegen entschieden.
»Paps, mach um Himmels willen keine Zimperliese aus
mir! Soviel ich weiß, sind dir solche zuwider, und das
möchte ich doch nicht sein.«
Sie hakte sich beim Vater ein, der zärtlich auf sein
couragiertes Töchterchen herniedersah.

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Die Kaffeestunde wurde so gemütlich, wie sie in dem
Hause, wo Glück und Liebe herrschten, gar nicht anders

sein konnte. Das war die Atmosphäre, welche die
Geschwister Eggeroth von jeher in ihrem Elternhaus
vermißt hatten. Daher weilten sie so gern bei den
Verwandten, wie es auch ihr Vater tat.
Alice war aber auch eine Frau, die herzwarme Traulichkeit
in ihrem Heim zu schaffen vermochte. Ganz im Gegenteil
zu ihrer Schwester Klarissa. Sobald diese irgendwo
auftauchte, wurde es ungemütlich. Kein Wunder, daß sie
nicht beliebt war, ebensowenig ihr getreues Ebenbild
Martina.
Daher wollte sich auch kein Mann für sie finden, obwohl
sie ganz gut aussah und auch nicht mit leeren Händen in

die Ehe gehen würde; denn ihr Erbteil machte schon einen
ganz guten Batzen aus. Es würde dem Bruder nicht
leichtfallen, ihr das aufs Brett zu zahlen, was sie natürlich
verlangte. Er würde dazu eine Hypothek aufnehmen
müssen, wenn auch die Mutter das Ihrige beanspruchte,
sofern ihr Liebling heiratete. Das war ihrem Egoismus
schon zuzutrauen. Als Ulf einmal mit dem Onkel darüber
sprach, meinte dieser tröstend:
»Darüber mach dir keine Sorge, mein Junge. Wenn es
soweit ist, springe ich mit dem nötigen Kapital ein. Du
weißt ja, daß ich das kann. Viel wird es übrigens wohl gar
nicht zu sein brauchen. Denn soviel ich weiß, steht

Herrnhagen doch recht gut da.«
»Gott sei Dank, Onkel Ludwig. Martina würde ich sogar
ohne Hilfe auszahlen können, aber die Mama gleich mit,
das ist doch ein bißchen viel auf einmal.«
»Meinst du wirklich, daß sie es verlangen wurde?«
»Unbedingt«, erwiderte er bitter. »Sie droht ja jedesmal
damit, wenn ihr etwas nicht paßt. Es ist eben ihr Bestreben,
mich völlig zu beherrschen.«
»Junge, dagegen wehre dich aber ganz energisch«, riet der
Onkel dringlich, »sonst bist du bald nichts weiter als eine
Marionette in den Händen dieser herrschsüchtigen Frau.

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Zahl sie aus, wenn sie es durchaus will, dann bist du’ sie
wenigstens lös. Oder gedenkst du ihr auch darin noch

Wohnrecht im Schloß zuzubilligen?«
»Nein, dann zieht sie ins Witwenhaus, wo sie selber für
ihren Lebensunterhalt aufkommen muß. So hat Vater es im
Testament bestimmt – und so werde ich es halten. Es ist ja
traurig, daß man bei seiner Mutter so rigoros vorgehen
muß, aber an mir liegt es bestimmt nicht.«
»Das weiß ich, Ulf«, sagte der Onkel wärm. »Also warte ab.
Wie es auch kommen mag, du hast keinen besseren Freund
und Helfer als mich.«
Diese Worte gaben dem Baron eine Zuversicht, die ihn
getrost in die Zukunft schauen ließ.
Es war spät, als man endlich von Prahlen loskam. So

geschah es stets, weil man sich von der Traulichkeit, die
dort herrschte, zu sehr einspinnen ließ.
Es war bitterkalt. Die beiden Mädchen hatten sich
zusammengekuschelt und sprachen nicht, weil die eisige
Luft das nicht zuließ. Jeder gab sich seinen Gedanken hin,
während der Schlitten pfeilgeschwind dahinglitt. Das Pferd
witterte den warmen Stall und griff daher flott aus.
Harriet dachte angstvoll daran, daß sie das würde
auslöffeln müssen, was der herrische Mann, der jetzt den
Schlitten lenkte, ihr einbrockte. Er befahl, und sie hatte zu
gehorchen. Ob er ihre Herrin damit verärgerte, was ging
das ihn an? Er brauchte diesen Ärger ja nicht über sich

ergehen zu lassen.
Doch mit dieser Annahme tat Harriet dem Mann unrecht.
Weil sie eben nicht Zeuge des Gesprächs gewesen war, das
er mit seinen Verwandten führte, als sie mit den andern
beiden Mädchen im Nebenzimmer weilte. Sie besahen dort
Bilder, die im Familienalbum steckten. Hauptsächlich die
Regina Hermerans, der Gattin des berühmten Forschers.
Allerdings waren es Fotos, die mindestens dreißig Jahre
zurücklagen. Aber immerhin. Hariet konnte sich jetzt
wenigstens ein Bild von der Tante machen, die sie nur dem
Namen nach kannte.

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»Ist sie nicht rassig?« fragte Dietlind begeistert. »Du, auf
diese Verwandte sind wir sehr stolz.«

Indes unterhielten sich im Nebenzimmer ihre Eltern mit
dem Neffen, und es war Alice, die zuerst auf Hariet zu
sprechen kam.
»Du lieber Himmel, ist das ein verschüchtertes
Menschenkind«, sagte sie mitleidig. »Das wagt ja kaum den
Mund aufzumachen. Verkriecht sich gewissermaßen in sich
selbst, um nur ja keinen Anstoß zu erregen. Nur gut, daß
Dolly sich so spontan an sie anschloß. Und wie stehen
deine Mutter und Martina zu ihr, Ulf?«
»Das kannst du dir ja denken, Alice«, entgegnete er, der
diese um zehn Jahre ältere Frau nicht Tante nannte,
während er ihrem Gatten, der ja hätte sein Vater sein

können, ohne weiteres den Onkelnamen gab. »Sie sehen in
jeder Angestellten nur ein Wesen, das sich ihnen in
sklavenhafter Ergebenheit unterzuordnen hat.«
»Leistet Hariet bei ihnen etwa auch Zofendienste?«
»Leider.«
»Aber Ulf, das darfst du doch nicht dulden!«
»Das ist sehr leicht gesagt«, hob er die Schultern. »Zwar
wahre ich meine Herrenrechte, soweit ich kann, aber über
eine Angestellte wie Fräulein Hermeran habe ich nicht zu
bestimmen. Die ist in erster Linie meiner Mutter
unterstellt.«
»Und doch mußt du es versuchen«, erregte Alice sich jetzt.

»Gerade so einem verschüchterten Mädchen darfst du
deinen hausherrlichen Schutz nicht versagen. Sonst wird
das arme Ding ja vollständig zur Sklavin.«
»Das ist auch meine Befürchtung«, schaltete sich jetzt
Ludwig ein. »Zum Kuckuck, Junge, hau doch mal mit der
Faust auf den Tisch und schaff Ordnung in deinem Hause!
Es ist bereits so verrufen, daß es bald ohne Dienerschaft
sein wird. Das war doch anders, als dein Vater noch lebte.«
»Der konnte auch ganz anders durchgreifen, Onkel Ludwig
– anders, als ich als Sohn das kann.«
»Na ja, gewiß. Aber meinst du nicht auch, daß eine Mutter

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nur da liebevolle Rücksicht erwarten darf, wo sie selbst eine
solche walten läßt?«

Er konnte nicht weitersprechen, da die drei Mädchen
zurückkamen.
»Ich habe Hariet Bilder von Tante Regina gezeigt«,
berichtete Dietlind stolz. »Sie findet diese auch apart.«
»Wie sie es bestimmt auch ist«, bestätigte der Vater. »Schön,
kühn und verwegen. Ich kann mir vorstellen, daß sie mit
ihrem Mann bei dessen Forschungsreisen durch dick und
dünn geht.«
»Ob das schneidige Ehepaar überhaupt noch lebt, Ludwig?«
»Das glaube ich schon, Alice. Bei einem so berühmten Paar
bleibt ein Tod nicht verschwiegen. Dafür sorgen schon die
Zeitungen. Und auch unser Sohn würde es wissen, der sich

für die Berühmtheiten sehr interessiert und alles Lesbare
über sie förmlich verschlingt.«
»Ach ja, Lutz«, lachte Dolly. »Ich freue mich, daß ich mich
in den Ferien, wo er hier ist, wieder mit ihm zanken kann.«
»Auch ein Vergnügen«, schmunzelte der Onkel. »Aber ich
glaube, Marjellchen, du ziehst dabei immer den kürzeren.
Denn ein Primaner kann von einer entwaffnenden
Grobheit sein.«
»Pöh«, tat Backfischchen verächtlich ab. »Dann bin ich
eben noch gröber.«
Man nahm dieses lachend zur Kenntnis und sprach dann
von etwas anderem. Als man sich später verabschiedete,

flüsterte der Onkel dem Neffen zu:
»Junge, denk an die Faust.«
Nun. daran dachte dieser, als er am anderen Tage mit
Mutter und Schwester beim Mokka saß. Es war
ungemütlich in dem kleinen Raum, weil eben die beiden
Damen zugegen waren – und dazu noch aufs tiefste
beleidigt. Und zwar darüber, weil der Sohn und Bruder
gestern über eine Angestellte bestimmte, über die ihrer
Ansicht nach nur ihnen allein das Bestimmungsrecht
zukam. Also sprach die Frau Mama:
»Mein lieber Sohn, deine Handlungsweise mir gegenüber

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ist einfach skandalös. Wie kommst du eigentlich dazu, über
eine Angestellte zu bestimmen, die in meinen persönlichen

Diensten steht?«
»Liebe Mama«, versetzte der Sohn, dabei an die >Faust<
denkend, »inwiefern steht die junge Dame denn in deinen
persönlichen Diensten? Derjenige, der ihr Lohn und Brot
gibt, bin ich doch wohl, nicht wahr? Und daher werde ich
auch nicht länger gülden, daß du Fräulein Hermeran, die
erstens mal das Abitur machte und außerdem noch der
Famulus ihres gelehrten Vaters war, nicht nur Zofendienste
zumutest, sondern sie als Kuli betrachtest. In erster Linie ist
die junge Dame für Dolly da. Und wenn sie außerdem
noch kleine Hausarbeiten verrichtet, tut sie für ein
Monatsgehalt von fünfzig Mark schon reichlich genug. Daß

sie jedoch noch dich und Martina bedienen muß, eure
Garderobe in Ordnung hält, eure Zimmer säubert, sogar
noch als Paslack der Dienerschaft herabgewürdigt wird, das
bezeichne ich als Menschenschinderei. Und so was kann,
und will ich als Herr des Hauses nicht länger dulden, das
schön sowieso in einem schlechten Ruf steht. Also möchte
ich dich bitten, Fräulein Hermeran mit den angeführten
Dingen nicht mehr zu behelligen.«
Zuerst war die Mutter einmal starr vor Staunen. Was fiel
denn dem Sohn plötzlich ein? Noch nie hatte er eine so
rücksichtslose Sprache ihr gegenüber geführt.
Ach so, er war ja gestern in Prahlen gewesen, wo man ihn

bestimmt aufgehetzt hatte. Aber ehe sie noch ihrer
Empörung Luft machen konnte, sprach Ulf schon wieder
kurz und herrisch:
»Ich werde Mila ein gutes Wort geben, daß sie bei dir und
Martina Zofendienste übernimmt. Sie ist zwar für solche
nicht direkt ausgebildet, ist aber dafür sehr geschickt – und
hat vor allen Dingen den Mund auf dem rechten Fleck. An
ihre Stelle tritt ein anderes Stubenmädchen, das ich
wahrscheinlich nur für Geld und gute Worte hierher
bekommen werde – und damit dürfte sich der Fall erledigt
haben.«

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»Noch lange nicht hat sich der Fall erledigt!« rief die Mutter
erbost. »Ich ziehe ins Witwenhaus, heute noch! Aber dann

will ich mein Geld, verstehst du?«
»Kannst du haben.«
»Sieh mal an, wie großspurig«, höhnte sie. »Willst du mir
nicht verraten, woher du diese immerhin nicht kleine
Summe zu nehmen gedenkst?«
»Aus den Einnahmen meines Besitzes«, kam es gelassen
zurück. »Lege schriftlich deine Forderung nieder, denn du
weißt, daß dieses laut Testament erforderlich ist.«
Noch wahrnehmend, daß die impertinente Dame vor
Staunen den Mund offen behielt, ging er, weil das alles
seiner vornehmen Natur zuwider war. Aber Onkel Ludwig
hatte recht. Er mußte rigoros vorgehen, wenn er nicht zur

Marionette dieser herrschsüchtigen Frau werden wollte.
Am nächsten Morgen wartete Hariet auf das
Klingelzeichen, das sie zur Baronin beorderte, was so um
zehn Uhr herum zu geschehen pflegte. Und jetzt war es
bereits eine Stunde darüber.
Also wurde das, was sie befürchtet, jetzt zur Gewißheit. Die
Herrin trug es ihr nach, daß sie gestern gegen ihren Willen
nach Prahlen gefahren war. Aber sie konnte doch nichts
dafür, der Baron hatte es ihr doch befohlen, und nun
würde sie gewiß seinetwegen ihre Stelle verlieren.
Mußte fort von hier, wo es ihr doch so gut ging. Wo sie
keine Sorge ums tägliche Brot zu haben brauchte,

außerdem noch Geld bekam. Zwar gab es ein bißchen
zuviel Arbeit, aber das machte ihr nichts aus. Sie arbeitete
doch gern.
Erschrocken fuhr sie zusammen, als es klopfte. Wie eine
Schuldige, die man zur Rechenschaft ziehen will, sah sie
Lorenz entgegen, der eintrat und meldete:
»Der Herr Baron wünscht Fräulein Hermeran zu sprechen.«
Wie es Hariet gelang, dem Diener mit zitternden Beinen zu
folgen, hätte sie später nie zu sagen vermocht. Ihr Herz
klopfte wie rasend, als sie das Zimmer betrat, wo der
Gefürchtete sich von seinem Schreibtisch erhob und ihr

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entgegentrat.
Betroffen sah er in das erschreckend blasse

Mädchengesicht, in die angstgeweiteten Augen, die Glieder
zitterten und bebten.
»Ist Ihnen nicht gut, Fräulein Hermeran?« fragte er besorgt.
»Doch, mir ist gut, aber mir ist auch – wieder nicht gut.«
»Nun, nun«, sprach er beschwichtigend in ihr Gestammel
hinein. »Zuerst nehmen Sie mal in diesem Sessel Platz. So
– und nun beruhigen Sie sich zuerst einmal.«
»Ich bin doch ruhig.«
»Das merkt man Ihnen an. Warum haben Sie eigentlich
Angst vor mir?«
»Weil – weil – ach, ich weiß es doch nicht. Muß ich jetzt
fort von hier, Herr Baron?«

»Ach, das ist es«, dehnte er. »Wäre das denn so schlimm?«
»Ja – sehr schlimm. Ich wüßte gar nicht, wo ich hin sollte –
ich bin ja so allein.«
Das letzte klang wie ein Hauch, und der Mann mußte sich
erst einige Male räuspern, bevor er sprechen konnte. Doch
dann geschah es kühl und sachlich:
»Ich habe Sie herbestellt, um Ihnen zu sagen, daß es sehr
freundlich von Ihnen war, für die Zofe einzuspringen, die
meine Mutter im Stich ließ. Mila wird jetzt an ihre Stelle
treten, und Ihr Amt wird es fortan sein, sich meiner
Schwester Dolly zu widmen und dafür zu sorgen, daß im
Hause alles in Ordnung ist. Aber nicht so, indem Sie

unterlassene Arbeiten der Dienerschaft verrichten, sondern
diese beaufsichtigen – also gewissermaßen wie ein guter
Hausgeist über allem schweben.
Übrigens muß in der Gehaltsfrage ein Fehler unterlaufen
sein – denn es beträgt monatlich nicht fünfzig, sondern
achtzig Mark. Sind Sie damit einverstanden?«
Zuerst starrte das Mädchen ihn wie entgeistert an, doch
dann leuchtete es in den eben* noch so verängstigten
Augen auf.
»Oh, Herr Baron – ich bin glücklich.«
Da stieg dem Mann die Röte der Beschämung ins Gesicht.

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Mitleidig war der Blick, der zu ihr hin ging, die jetzt die
großen, leuchtenden Blauaugen entzückt durch das weite

Gemach schweifen ließ.
Diese kostbare Einrichtung muß viel Geld gekostet haben –
schoß es ihr durch den Sinn. Viel mehr, als ihr Vater in
Jahren verdiente. Es mußte herrlich sein, so viel Geld zu
besitzen. Aber das kam ja wohl nur den Bevorzugten des
Schicksals zu, nicht so geduckten Geschöpfen, wie sie eines
war.
Erschrocken fuhr sie zusammen, als die sonore Stimme
wieder sprach:
»Dann wären wir uns ja einig, Fräulein Hermeran. Lassen
Sie sich fortan nicht mehr ausnutzen. Wenden Sie sich
vertrauensvoll an mich, wenn jemand das wagen sollte.«

Wenden Sie sich vertrauensvoll an mich – als ob Hariet das
jemals könnte. Dafür schüchterte dieser Mann sie viel zu
sehr ein. Schon allein seine hohe, prachtvoll gewachsene
Gestalt, das hartgeschnittene, rassige Gesicht, die blauen
Augen, die so kalt blicken konnten wie glitzernde Kiesel,
und dann sein herrisches Gebaren.
Nein, Hariet hatte einfach Angst vor diesem
ungewöhnlichen Mann.
»Darf ich gehen, Herr Baron?«
»Bitte sehr.«
Da hastete sie davon, hinauf in ihr Zimmer, wo sie ihren
Tränen freien Lauf ließ. Warum sie weinte, war ihr selbst

nicht klar. Denn sie war ja nicht entlassen, hatte im
Gegenteil weniger Arbeit und Gehaltszulage zugesagt
bekommen. Also mußten es wohl die Nerven sein, die
nach dem ausgestandenen Schreck nachgaben – und im
übrigen war sie eine jämmerliche Plinskarline.
Nach dieser Feststellung wischte sie energisch die Tränen
fort – und erschrak dann zuerst einmal wieder, als es
klopfte und sich dann eine Person ins Zimmer schob, die
man mit kugelrund bezeichnen konnte. Auf einem kurzen
Hals saß ein vollwangiges, blühendes Gesicht mit
verschmitzten Äuglein. Das dunkle, in der Mitte

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gescheitelte Haar lag straff dem Kopf an und war in
Flechten aufgesteckt. An der Frau, die nahe der Fünfzig sein

mochte, glänzte alles vor Sauberkeit, selbst der Scheitel und
das Gesicht.
»Ich bin die Mamsell«, verkündete das rundliche Wesen
mit der Würde eines Potentaten. »Der Herr Baron schickt
mich zu Ihnen, damit ich Sie unter meine Fittiche nehme.
Und da sind Sie gut aufgehoben, da kann keine
Niedertracht an Sie heran. Wenn Sie einer von der Bande
ärgert, kommen Sie zu mir. Dann schlage ich ihm den
Kochlöffel um die Ohren.«
»Ach du lieber Gott«, entfuhr es Hariet entsetzt. »Ob ich
nicht die erste sein werde, der das geschieht?«
Da lachte Mamsellchen, daß das Bäuchlein nur so wippte.

»Nein, an so verschüchterten Hascherchen vergreife ich
mich nicht, die beschütze ich. Wissen Sie, was der Herr
Baron zu mir sagte? Mamsellchen, hat er gesagt, nimm dich
des ängstlichen kleinen Mädchens an, sonst nutzt man es
zu sehr aus. Und was der Herr Baron sagt, das ist für mich
und meinen Alten, die wir hier schon über dreißig Jahre
dienen, ein Evangelium. Wir haben ihn auf dem Arm
getragen, den Ulf, und so was verbindet wie Pech und
Schwefel. Er ist uns treu, wir sind ihm treu, und so was mag
der liebe Gott.
Also, Fräuleinchen, passen Sie mal hübsch auf, was Ihre
Arbeit ist. Zuerst kümmern Sie sich mal um unser

Dollychen, weil das Kind ja gar keine Führung hat. Passen
gut auf, daß sie ihre Schularbeiten macht, erklären ihr das,
was sie nicht weiß. Denn so was können Sie, sagt der Herr
Baron. Sie sind durch die Schule gelehrt und auch durch
Ihren Vater. Dann sehen Sie zu, daß Dollychen“ nicht ohne
Frühstück in die Schule rennt, sonst verkommt uns das
Kind noch, und das wollen wir alle nicht haben. Und dann
muß es immer gut angezogen sein, keine zerrissenen
Strümpfe und so. Aber das machen Sie ja schon alles, weil
Sie unser Dollychen liebhaben, sagt der Herr Baron.
Naja, das wäre das. Und weiter sehen Sie am Vormittag in

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den Stuben nach dem Rechten. Denn unsere
Stubenmädchen sind keinen Heller wert, pfuschen herum,

daß Gott erbarm. Aber nehmen Sie nicht womöglich den
Besen selbst in die Hand, sondern schlagen ihn der faulen
Bande um die Ohren. So, das wäre Ihre ganze Arbeit.«
Wie zur Bestätigung dessen fuchtelte sie ergrimmt über
dem gesenkten Mädchenkopf und wurde dann weich wie
Butter in der Sonne.
»Daß Gott erbarm, so was von Heimchen aber auch. Na,
lassen Sie man, Herzchen, ich sorg jetzt schon für Sie. Und
unser Dollychen tut das auch und auch der Herr Baron. Die
sind gut, die erbarmen sich über Mensch und Tier. Und
nun kommen Sie mit. Ich rufe die Dienerschaft zusammen
und sage ihr die Wacht an. Dabei drohe ich noch mit dem

Herrn Baron – und dann sollen Sie mal sehen, wie die
Bande Sie in Zukunft respektiert.«
Mit dem Tag ging für Hariet die Sonne auf, wie sie es bei
sich nannte. Die Dienerschaft hütete sich, ihr dreist zu
begegnen, weil sie den Schutz fürchtete, unter dem sie jetzt
stand.
Zwei Tage vor Weihnachten bekam Dolly Ferien und
belegte »ihre Hariet« jetzt vollständig mit Beschlag. Es
wurde ein rechtes Treugespann, das miteinander lachte und
plauschte und auch gemeinsam die hohe Tanne im Saal
schmückte. Dabei sangen sie Weihnachtslieder und
erbosten damit die Frau Baronin, die wie ein Gespenst

durch das Schloß schlich, und ihr getreuer Schatten
Martina stets hinterdrein.
Und dann war der Weihnachtsabend da, wo zuerst die
Arbeiter der Herrschaft Herrnhagen, dann die Beamten und
hinterdrein die Schloßangestellten beschert wurden.
Und zu denen gehörte auch Hariet, sehr zum Verdruß
Dollys. Sie hätte das ihr so liebe Mädchen gern bei der
Familienfeier gehabt, aber dafür reichte ihre Macht nicht
aus.
Aber die bescheidene Hariet war auch so zufrieden. Freute
sich über die Geschenke, die nur mäßig ausfielen, da sie

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erst kurze Zeit im Dienst stand. Eine Kleiderschürze, Seife
und ein bunter Teller, mehr hielt die Frau Baronin für diese

kurzfristige und außerdem so anmaßende Angestellte nicht
für angebracht.
Doch als Hariet in ihrem Zimmer den Knabberteller
untersuchte, lag auf dem Boden ein Kuvert – und darin
steckte – ein Hunderter.
Ein Hunderter, tatsächlich! Noch nie hatte sie so einen
Schein in Händen gehabt. Zuerst glaubte sie ihren Augen
nicht zu trauen, aber das Wunder war da und blieb.
Überwältigt von freudigem Schreck ließ sie sich in den
Korbsessel sinken und spann Zukunftspläne, die gar hoch
hinausgingen. Demgemäß hätte der Schein den
hundertfachen Wert besitzen müssen.

Eigentlich war es doch sehr anständig von der Baronin, ihr
außer den Geschenken noch das Geld zukommen zu
lassen. Das sagte sie auch Dolly, als diese später nach oben
kam.
»Na, man vorsichtig«, versetzte diese trocken; »Der Dank
gebührt meiner Mama nicht, sondern meinem Bruder, der
in jeden bunten Teller der Angestellten so einen Umschlag
legt. Aber bedank dich nicht bei ihm, das kann er nicht
leiden.«
Also unterließ es Hariet – und zwar gern. Denn dem
hoheitsvollen Mann ihren Dank zu sagen, wäre wieder von
Zittern und Zagen begleitet gewesen.

Hariet atmete auch erleichtert auf, als die Baronin ihr durch
den Diener sagen ließ, daß sie heute das Abendessen nur
im Kreise ihrer Familie einzunehmen wünsche. Zwar
empörte es Dolly, aber sie konnte es nicht ändern.
So ging sie denn verdrießlich allein zum Abendessen, und
Hariet bekam das ihre von der Mamsell höchstpersönlich
serviert. Eine Auszeichnung, die bestimmt nur
Auserwählten zuteil wurde.
»Ich esse mit Ihnen«, erklärte die Gestrenge kurz und
bündig. »Denn es geht ja nun nicht an, daß an so einem
Heiligen Abend der Mensch allein ist. Aber ich weiß schon,

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was die Gnädige damit bezweckt, daß Sie gerade heute so
einsam sein sollen, Fräuleinchen. Das ist ihre Rache, weil

sie Sie jetzt nicht mehr so schikanieren kann, wie sie gern
möchte.«
»Das ist eine Rache, die mich nicht trifft«, lachte Hariet.
»Ich bin im Gegenteil der. Frau Baronin dankbar, daß sie
mich von diesem Abendessen dispensiert. Denn glauben
Sie nur nicht, Mamsellchen, daß es ein Vergnügen ist, an
einem Tisch zu sitzen, wo man mit Nichtachtung für etwas
gestraft wird, was man gar nicht verbrochen hat. Denn ich
kann wirklich nichts dafür, daß der Herr Baron so
durchgreifende Bestimmungen traf. Wäre es nach mir
gegangen, hätte ich auch weiter Zofendienste bei den
beiden Damen verrichtet.«

»Das hätte denen so gepaßt«, lachte die Mamsell grimmig
auf. »Lassen Sie man, wie der Herr Baron es anordnet, ist es
gut und richtig. Und jetzt essen wir. Ich habe schon dafür
gesorgt, daß wir nicht zu kurz kommen.«
So tafelten sie denn frohgemut, und zwar auserlesene
Delikatessen. Und warum auch nicht? Es heißt ja in der
Bibel: Du sollst dem Ochsen, der da drischet, nicht das
Maul verbinden.
Also auch nicht Mamsellchen verbieten^ die guten Dinge
zu essen, die sie bereiten mußte. Und da auch der
Tischwein auserlesen war, bekam Hariet bald einen
Schwips.

»Mamsellchen, mir geht es doch so gut«, bekannte sie aus
tiefstem Herzensgrund. »So ein schönes Weihnachtsfest
habe ich noch nie erlebt. Meine sparsame Tante Berta
gestattete nicht mal einen Baum, weil sie das für unnütze
Geldverschwendung hielt. Ich glaube, sie hat gar nicht
gewußt, wenn Weihnachten war – und ich auch nicht.«
»Armes Kindchen, was hat man bloß mit Ihnen gemacht«,
murmelte die Frau, der das gute Herz fast vor Mitleid
überfloß. »Gehen Sie schlafen, das ist jetzt das beste für Sie.
Ich bringe Sie auch zu Bett.«
»Ach ja, Mamsellchen, das ist schön. Sie sind so gut zu mir.

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Lieber Gott, ich danke dir.«
Es waren zärtliche Hände, die das Mädchen, das in seiner

leichten Berauschtheit noch so manches aus seinem
freudlosen Leben ausplauderte, zu Bett brachten. Und als
die Mamsell sich dann behutsam von der Schlummernden
entfernte, brummelte sie vor sich hin:
»Du großer Gott, was hast du bloß mit dem armen
Seelchen gemacht. So was ist doch nun wirklich nicht
statthaft, so mancher nichtswürdigen Kreatur alles zu geben
und so einem armen Herzchen gar nichts. Mach das gut,
lieber Vater im Himmel droben, mach das gut. Das ist
mein Weihnachtsgebet.«
Und während Hariet der Traumgott umfing, feierte man
unten in der Familie Weihnacht. Diese Feier bestand darin,

daß man sich langweilte, unlustig die Weihnachtsbowle
trank und pflichtschuldig in den Baum starrte, an dem die
Kerzen brannten. Dolly, die Weihnachtslieder spielen
sollte, weigerte sich entschieden. Und da die Mutter ja
ständig an ihrer Jüngsten herumtadeln mußte, tat sie es
auch jetzt.
»Dolly, ich muß dich rügen und dein Fräulein mit. Sie
hätte dir unbedingt einige nette Sachen einüben müssen,
denn zu ihren Pflichten gehört auch musikalisches
Können. Sie hat das in dem Bewerbungsschreiben auch
ausdrücklich hervorgehoben, versagt jedoch darin, wie sie
bei allem versagt.«

»Mama, so laß das doch jetzt«, unterbrach der Sohn sie
unwillig. »Mag Martina doch spielen und singen, für deren
musikalische Ausbildung viel Geld ausgegeben wurde.«
»Mein armes Kind ist leidend.«
»Nun, so ist es dein anderes Kind eben auch.«
»Verzeihung, ich vergaß, daß du für deinen Liebling ja
immer eine Entschuldigung findest.«
»Genauso, wie du für den deinen, Mama.«
Da schwieg sie beleidigt, und das war gut. Denn so ließ sie
wenigstens ihre Jüngste in Ruhe, die dem Bruder einen
bittenden Blick zuwarf, den er sehr wohl verstand.

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»Bist du müde. Kleines?«
»Sehr, Ulf.«

»Dann husch, husch ins Körbchen! Schlaf gut.«
Herzlich wurde er umarmt und geküßt. Dann einen
flüchtigen Kuß auf die Wange der Mutter, einen auf die der
Schwester, und Backfischchen entrann der Langeweile. Sie
freute sich auf einen gemütlichen Schwatz mit Hariet, doch
leider schlief diese so fest, daß sie sich nicht ermuntern
ließ. Also kroch auch Dolly in den weichen Pfühl und
schlief sofort ein.
Es war schon heller Morgen, als sie aus diesem tiefen Schlaf
erwachte. Die heruntergelassenen Jalousien dämpften das
Licht in Raum ab, doch durch die geöffnete Tür des
Nebenzimmers flutete es hell und sonnig.

»Hariet, wo bist du?!« rief die kleine Langschläferin. Schon
eilte die Gerufene herbei und zog die Jalousien hoch.
»Guten Morgen, Dollylein«, sagte sie fröhlich. »Bist du
endlich munter?«
»Noch nicht ganz«, kam es gähnend zurück. »Schade, ein
schöner Traum ging zu Ende.«
»So laß ihn, die Wirklichkeit kann auch ganz schön sein.«
»Hast du schon gefrühstückt?«
»Natürlich nicht. Wie sollte ich es wohl wagen, ohne dich
nach unten zu gehen und mich an den Frühstückstisch zu
setzen.«
»Na eben, du bescheidenes Mägdlein.«

Sie sprang aus dem Bett und verschwand im Bad. Steckte
jedoch noch einmal den Kopf durch die Tür und rief Hariet
zu:
»Klingele bitte viermal kurz und viermal lang. Dann weiß
man in der Küche, daß ich auch an diesem hohen Feiertag
oben zu frühstücken wünsche.«
Und tatsächlich klappte es. Lorenz brachte das Frühstück,
dem man dann auch mit Appetit zusprach. Dolly, die im
Reitdreß erschien, wurde von Hariet angestaunt.
»Willst du etwa ausreiten, Dolly?«
»Ich bin so frei.« .

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»Aber du rittest doch noch nie, solange ich hier bin – und
das sind immerhin fast sechs Wochen.«

»Da war ich gerade pferdelos, weil mein altes, treues Roß
an Altersschwäche einging. Aber nun erhielt ich von
meinem noblen Bruder eines als Weihnachtsgabe, das ich
jedoch vorerst einmal unter seiner Aufsicht reiten darf. Also
laß uns rasch frühstücken, damit mein Brüderlein fein
nicht zu lange auf mich warten muß.«
Während man aß, meinte Dolly bedauernd:
»Schade, daß du mich nicht zu Pferd begleiten kannst,
Ette.«
»Um Gott!« hob diese abwehrend die Hände. »Schon der
Gedanke, mich einem Pferd überhaupt zu nähern jagt mir
Angstschauer über den Rücken.«

»Ach, du armes Großstadtkind, wie bist du doch um alles
Schöne betrogen«, sprach Backfischchen pathetisch. »Denn
alles was schön ist, kennst du kaum vom Hörensagen.
Schaff dir ein Pferd an, ich rate dir gut.«
»Gewiß, warum auch nicht«, kam es trocken zurück. »So
was gebührt ja auch einer Angestellten. Was kostet
überhaupt so ein Pferd?«
»Dehnbarer Begriff. Hunderte bis Tausende.«
»Ach du liebes bißchen! Das ist bestimmt etwas für
unsereins.«
»Hast bei Mamsellchen schon ganz nett abgefärbt«, lachte
Dolly. »Denn dieses >Unsereins< ist ihr Leib- und

Magenspruch.«
Zehn Minuten später war Dolly dann zum Ausritt fertig.
Und zwar im winterlichen Dreß, also sämtliche
Kleidungsstücke pelzgefüttert.
Und dann sah Hariet vom Fenster aus zu, wie diese vom
Glück begünstigten Geschwister abritten. Es war ein Bild
voll Eleganz und Schneid.
Und wieder, wie schon so oft, erfüllte ein Sehnen
Aschenputtelchens Herz: Reich sein, sich alles das leisten
können, was diesen Glückskindern des Schicksals
selbstverständlich schien.

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Aber das ward ihr nun einmal nicht gegeben, sie hatte im
Schatten gestanden von Anfang an. Hatte verzichten

müssen, immer verzichten – und würde es müssen bis an
ihr Lebensende.
Kurz vor dem Mittagessen war Dolly von ihrem Ritt zurück.
Sie brachte einen Hauch von Winterluft mit, dazu rote
Wangen und leuchtende Augen.
»Schön war das«, bekannte sie fröhlich. »Hilf mir bitte
beim Umkleiden, damit ich zum Mittagessen
zurechtkomme. Sonst gibt es einen Rüffel von der Mama.«
»Bitte, Dolly, geh ohne mich«, bat Hariet, als der Gong
ertönte. »Die Frau Baronin hat mir gestern ja deutlich zu
verstehen gegeben, daß sie mein Beisein an der Tafel nicht
wünscht.«

»Aber mein Bruder wünscht es«, sprach Dolly so ernst wie
selten. »Und es ist nicht ratsam, sich seinem Willen zu
widersetzen. Dann kann er nämlich hart und unnachgiebig
sein. Das muß er ja auch, sonst könnte er sich in seinem
großen Betrieb unmöglich durchsetzen. Also komm schon,
Ette, so schlimm wird es nicht werden.«
O doch, es wurde schlimm, sehr sogar. Denn als Hariet an
der Tafel erschien, sagte die Frau Baronin empört:
»Fräulein, Ihre Dreistigkeit übersteigt nun wirklich alle
Grenzen! Ich habe Ihnen doch gestern durch den Diener
sagen lassen, daß ich Ihr Erscheinen an der Tafel nicht
wünsche.«

»Bitte, Fräulein Hermeran, bleiben Sie hier«, sprach nun
der Hausherr der bereits Enteilenden nach. Es war ganz
ruhig gesagt – und doch klang es, als wenn Stahl auf Eisen
schlägt. Sogar die Baronin war von dem Ton betroffen.
Es wurde ein sehr ungemütliches Mahl, an dem Hariet mit
den Tränen zusammen die Speisen herunterwürgte. Und
denen sie dann freien Lauf ließ, als sie wieder in ihrem
Zimmer war. Betreten stand Dolly dabei, bis sie dann den
Bruder in seinem Arbeitszimmer aufsuchte.
»Ulf, laß doch Hariet den Mahlzeiten fernbleiben«, bat sie
eindringlich. »Du glaubst ja gar nicht, wie gräßlich sie ihr

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sind. Sie sitzt jetzt oben und weint sich fast die Augen aus
dem Kopf. Das kann ich doch unmöglich mit ansehen.«

»Du bist ein gutes Kind, mein Kleines«, entgegnete er
lächelnd. »Aber diese Mahlzeiten müssen sein, damit
Fräulein Hermeran ihre Minderwertigkeitskomplexe
langsam verliert. Denn mit diesen kann sie hier nie festen
Fuß fassen. Und das willst du doch?«
»O ja, ich möchte Hariet nicht mehr missen.«
»Also! Dann steife ihr auch das viel zu weiche Rückgrat.
Denn damit wird sie sich nirgends im Leben behaupten
können.«
Die Tage vergingen, reihten sich zu Wochen und Monaten.
Schon nahte der Frühling und mit ihm das Osterfest.
Strahlend vor Freude kam Dolly mit einem guten Zeugnis

nach Hause, das ihr die Versetzung nach Untersekunda
brachte. Und wieder behauptete sie, daß sie dieses Hariet
zu verdanken hätte, was Mutter und Schwester bitter
einging. Denn noch immer mochten sie das Mädchen
nicht, obgleich dieses wie ein guter Geist im Hause waltete,
wo jetzt alles wie am Schnürchen lief.
Was die beiden Damen immer wieder ärgerte, war, daß
dieses unscheinbare Mädchen, welches sie unter weiser
Voraussicht ins Haus nahmen, sich zu einer regelrechten
Schönheit zu entfalten begann – trotz der einfachen
Sachen, die es trug. Denn zu eleganten reichte es nicht. Das
hatte die einst so weltfremde Hariet schon längst erkennen

müssen, die sich eingebildet hatte, für einen
Hundertmarkschein eine halbe Aussteuer kaufen zu
können. Da hatten sie die Einkäufe hinterher nun wirklich
eines anderen belehrt.
Hariet hatte überhaupt in den fünf Monaten, die sie nun
auf Herrnhagen weilte, viel gelernt, sogar der Baronin und
ihrer Tochter ohne Furcht zu begegnen. Zwar wehrte sie
sich auch jetzt noch nicht gegen die ewigen Sticheleien,
nahm sie jedoch gelassen hin. Der Dienerschaft gegenüber
fand sie den richtigen Ton, und für Dolly sorgte sie wie
eine gute ältere Schwester.

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Aber was Hariet auch tun mochte, immer fand die Frau
Baronin etwas auszusetzen. Lag dem Sohn ständig mit

dieser »anmaßenden Person« in den Ohren – doch er
lächelte und schwieg.
Und gerade das erboste die Frau Mama. Sie fühlte sich
übergangen, ausgeschaltet da, wo sie fast dreißig Jahre lang
das Zepter schwang, das der »entartete« Sohn ihr nun so
rücksichtslos aus den Händen wand. Aber sie zog daraus
nicht die Konsequenzen, übersiedelte nicht ins
Witwenhaus, wohin sie ja eigentlich gehörte, sondern
blieb. Rang verbissen um den Platz, der ihr gar nicht mehr
zukam.
Denn es stand im Hausgesetz der Eggeroth, daß die Frau
nach dem Tod des Gatten ins Witwenhaus zog, was die

andern Frauen auch ohne weiteres getan hatten. Allerdings
mußten die Söhne vollkommen den Lebensunterhalt der
Mütter bestreiten und ihnen außerdem noch eine
monatliche Summe von fünfhundert Mark zahlen. Durch
Generationen war das alles auch ganz glatt gegangen – es
hatte aber auch noch nie unter den Frauen der Eggeroth
eine so herrschsüchtige gegeben wie Klarissa. Und da der
Gatte das wußte, hatte er in seinem Testament bestimmt,
daß der Sohn die Mutter auszuzahlen hatte, wenn sie ins
Witwenhaus zog. Also gewissermaßen als Köder für die
geldgierige Frau. Leider hatte sie bisher noch nicht
angebissen, immer nur danach geschnappt – sehr zum

Verdruß derer, denen sie das Leben schwermachte.
Und dazu gehörte auch Hariet Hermeran. Die Baronin und
ihre ältere Tochter waren die Schatten, die das jetzige Leben
des Mädchens verdüsterten.
Aber dann gab es auch wiederum manches, was dieses
Leben licht und hell machte. Dazu gehörten auch die
Besuche in Prahlen. Sie und Dolly verlebten dort Stunden
herzwarmer Traulichkeit, wozu sich Ulf oft einfand. Und
jedesmal war dann Hariet wie umgewandelt, ihre
Zutraulichkeit wich scheuer Zurückhaltung.
»Ich glaube, mein Sohn, du bist Hariet so etwas wie kleinen

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Kindern der Baubau«, schmunzelte der Onkel, als an einem
sonnigen Frühlingstag die drei Mädchen gegangen waren,

um Schneeglöckchen zu pflücken. »Denn ihre
Zutraulichkeit, mit der sie uns jetzt begegnet ist wie
weggewischt, sofern du nur auftauchst. Woran liegt das?«
»Weiß der liebe Himmel«, erwiderte Ulf lachend. »Ich tu
der Kleinen doch bestimmt nichts, aber stets geht sie in
großem Bogen um mich herum. Wenn ich mal mit ihr
sprechen muß, was ich möglichst vermeide, sieht sie mich
an wie ein Lämmchen den bösen Wolf. Irgendwie scheine
ich ihr von Herzen unsympathisch zu sein.«
»Hm«, machte der Onkel und sprach dann von etwas
anderem.
Kurz vor Ostern lernte Hariet auch den Sohn des Hauses

kennen, der sich als stolzer Oberprimaner präsentieren
konnte. Ein frischer Junge, der sich bestimmt nicht die
Butter vom Brot nehmen ließ.
Mit Hariet, von der er natürlich schon gehört hatte, stand
er gleich auf Du und Du. Und da ein Achtzehnjähriger ja
leicht entflammt ist, verliebte er sich in die
Einundzwanzigjährige wie auf Kommando.
Selbstverständlich ganz geheim, anders hätte es seine
Ruppigkeit nicht zugelassen.
Mit Dolly zankte er sich, wo er nur konnte. Blieb jedoch
ganz gelassen, während sie sich erboste. Jedenfalls konnte
es, wo beide waren, nie langweilig werden.

Es war am Ostersonnabend, als Hariet und Dolly im
Dogcart, den ein braver Brauner zog, gemächlich Prahlen
zuzuckelten. Zu ihren Füßen stand ein Korb, in dem zehn
Küken aus einer ganz besonderen Brut wohlgeborgen
ruhten. Sie bedeuteten ein Ostergeschenk Ulfs an Alice, die
sich mit Hühnerzucht befaßte und der diese Sorte noch
fehlte.
Hariet kutschierte. Ihre neueste Errungenschaft, auf die sie
nicht wenig stolz war. Die Wangen glühten vor Eifer, die
Augen strahlten, der Mund lachte und gab dabei zwei
Reihen prachtvoller Zähne frei. Das goldbraune Gelock,

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das zwanglos über den Nacken fiel, glänzte und gleißte im
Sonnenlicht. Den grazilen Körper umschloß ein heller

Frühjahrsmantel, die Füße steckten in feinen Strümpfen
und hellfarbenen Sandaletten. Jedenfalls konnte von einem
»alt-klunkrigen Nönnchen« jetzt nicht mehr die Rede sein.
Denn die da so eifrig das Gefährt lenkte, war ein
bildschönes, nett gekleidetes Menschenkind.
Das fand auch der Reiter, der schon eine Weile hinter dem
Wagen herritt. Bemerkte schmunzelnd, wie die beiden
schmucken Maiden die Köpfe zusammensteckten, wie sie
schwatzten und lachten. Bis dann Dolly, die sich einmal
umwandte, den Bruder bemerkte.
»Ulf!« rief sie erfreut. »Reitest du etwa auch nach Prahlen?«
»Ursprünglich wollte ich es nicht, aber jetzt tu ich’s«,

blitzten die Zähne durch die hartgeschnittenen Lippen.
Einige verwegene Sätze des rassigen Trakehners, dann
trabte er neben dem Wagen her.
Und schon war der lachende Frohsinn Hariets wie
fortgeweht. Steif saß sie da und überließ die Unterhaltung
den Geschwistern. Von der harmlosen Schwester blieb das
unbemerkt, doch der Bruder mußte sich wieder einmal
wundern und ärgern.
Zum Kuckuck, was hatte er dem Mädchen getan, daß es
sich ihm gegenüber verkroch wie die Schnecke in ihrem
Häuslein! Da stand man doch tatsächlich wie vor einem
Rätsel.

Nun, er hatte gewiß keine Lust, dieses Rätsel zu lösen. Die
Hauptsache, daß diese Angestellte ihre Pflicht tat. Alles
andere ging ihn nichts an.
In Prahlen wurde man wie gewöhnlich herzlich
empfangen, und Alices Freude über das Ostergeschenk war
groß. Man setzte die Küken auf den Teppich, und die ganze
Gesellschaft kauerte um die possierlichen Tierchen herum.
Bis sie frierend zusammenkrochen, da wurden sie in den
Korb zurückgetan und in die Küche gebracht.
Am Kaffeetisch übermittelte Dolly die Einladung der
Mutter, wobei sie ihren Kommentar dazu gab:

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»Kommt, o kommt, ihr Lieben alle. Tut ihr es nicht, ist die
Mama ungenießbar, und wir Armen müssen darunter

dulden und leiden.«
»Hauptsächlich du, Frechdachs«, meinte Lutz, seelenruhig
dabei nach einem Stück Kuchen mit viel Rosinen angelnd,
und schon funkelte sie ihn an.
»Unverschämter Bengel! So frech, wie du frech bist, kann
doch schon keiner frecher sein.«
»Gutes Deutsch.«
»Ich bin ja auch kein Oberprimaner.«
»Aha, also eine Anerkennung meiner Würde.«
»Junge, mach Feierabend!« lachte die Mutter gleich den
andern. »Sonst brauchst du dich nicht zu wundern, wenn
dir plötzlich Krallchen im Gesicht sitzen.«

»Pöh, dafür sind mir die meinen viel zu schade«, tat
Backfischchen verächtlich. »Er befindet sich eben in den
Flegeljahren, da muß man ihm manches nachsehen.«
»Recht so, Marjellchen, du hast den Sinn erfaßt«,
schmunzelte der Onkel. »Man merkt bei dir immer mehr
die gute Schule Hariets.«
Sonst wäre diese um eine schlagfertige Antwort nicht
verlegen gewesen, die sich hier ganz wie zu Hause fühlte,
seitdem sie auch mit den Gastgebern das trauliche Du
tauschte.
Aber jetzt war der Baron zugegen – und schon verkroch
sich das Schnecklein in seinem Häuslein. Das war nun

einmal so und würde wohl auch schwerlich anders werden.
Hell und sonnig zog der Ostermorgen herauf. Hariet, die
schon früh erwachte, erhob sich leise, um die noch
festschlafende Dolly nicht zu wecken, schloß behutsam die
Tür zum Nebenzimmer und öffnete das Fenster weit.
Oh, du herrliche Gotteswelt, wie bist du doch so schön –
schoß ihr der Anfang eines Frühlingsliedes durch den Sinn,
als sie in den Park hinabschaute, wo der weite, gepflegte
Rasenplatz schon erstes Grün zeigte. Auf ihm leuchtete
Krokus, voll und dicht, entzückend anzuschauen in seiner
lustigen Buntheit. Osterlilien, Tulpen und Narzissen

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blühten auf den Beeten, Veilchen, verspätete
Schneeglöckchen und Buschwindröschen schoben sich

keck dazwischen. Wie von einem hauchdünnen grünen
Schleier umhüllt, erschienen die Birken, an den hohen,
alten Kastanienbäumen saßen die Knospen dick und prall.
Hariet, die ja zum ersten Mal in ihrem Leben das Erwachen
der Natur auf dem Lande mitmachte, wurde das Herz ganz
groß und weit bei dem andächtigen Schauen. Ihre Hände
falteten sich, und was der junge Mund dann sprach, kam
aus des Herzens tiefstem Grund:
»Lieber Gott, ich danke dir, daß du es mir vergönnt, so viel
Herrliches zu schauen.«
Dann riß sie sich von dem wunderholden Anblick los und
begann mit der Morgentoilette, wobei sie sich mehr Zeit

ließ als sonst. Denn ihr kleiner lieber Quälgeist brauchte ja
heute nicht zur Schule, also gab es keine Hetzerei.
Es war Hariet nämlich noch immer nicht gelungen, ihre
Schutzbefohlene auch nur fünf Minuten früher aus dem
Bett zu bekommen als unbedingt nötig. Allerdings hatte sie
durchgesetzt, daß die Kleine schon am Abend ihre
Büchermappe packte und daß sie am Morgen zwischen
dem Ankleiden eine Tasse Kaffee trank und eine gutbelegte
Schnitte dazu aß. Zwar mußte Hariet der Eiligen die
Happen direkt in den Mund stecken, ihr die Tasse da
vorhalten, aber sie tat es gern und wurde deshalb nicht
müde, es immer wieder zu tun.

Nachdem Hariet sich heute in aller Ruhe angekleidet hatte,
ging sie hinunter in den Wintergarten, um die Blumen zu
gießen, die sich erst richtig entfaltet hatten, seitdem das
gewissenhafte Mädchen sie betreute. Es freute sich über
jedes Sprößlein, jede Knospe, jede Blüte, die ihm wie
lebende Wesen vorkamen, die liebevolle Fürsorge
brauchten.
Als Hariet dann das Wohngemach durchschritt und
prüfend feststellte, daß alles darin in Ordnung war,
erschien ihr der weite Raum öde und leer. Sie sah einen
andern vor sich, in dem sie gestern geweilt. Da waren alle

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Vasen gefüllt mit Blumen und erstem Grün, in dem trauten
Wohngemach von Prahlen. Denn darin waltete eine

Hausfrau, die zu sagen pflegte: Blumen gehören zum
Menschen wie Luft und Licht.
Nun, Hariet hatte trotzdem geatmet und gelebt,
einundzwanzig Jahre lang, obwohl die Wohnung in der
Großstadt keine Blume schmückte. Man mußte diese
nämlich kaufen, und das hielt Tante Berta für
Geldverschwendung.
Aber hier brauchte man die Blumen nicht zu kaufen. Hier
wuchsen sie auf den Beeten und im Gewächshaus, das ein
knurriger Gärtner wie ein Zerberus hütete. W

7

enn sie ihm

ein gutes Wort gab – vielleicht…?
Also wagte sie sich gewissermaßen in die Höhle des Löwen.

Sie staunte selbst über ihren Mut, als sie vor dem Mann
stand, der sie aus hellen, falkenscharfen Augen
durchdringend musterte.
»Was wollen Sie denn, Fräulein?« fragte er barsch. »Können
Sie denn nicht lesen, daß der Eintritt hier für alle
Unbefugten verboten ist?«
»Ja«, gab sie kleinlaut zu, »das Schild ist ja groß genug.«
»Also! Was suchen Sie denn trotzdem hier?«
»Ein paar Blumen, Herr Gärtner – bitte!«
»Für wen?«
»Für die Allgemeinheit. Ich möchte das Wohnzimmer
damit schmücken.«

»Hat keinen Zweck, das sieht ja doch niemand. Der Herr
Baron noch allenfalls und auch die Dolly. Aber den andern
müssen Sie schon eine Kollektion schöner Kleider ins
Zimmer hängen, dann wären sie entzückt – aber Blumen?
Nee, nee, Fräulein, die sind nur für zarte Gemüter.«
»Dann entschuldigen Sie bitte, das habe ich nicht gewußt.«
»Sie wissen noch vieles nicht, Sie törichtes Kind. Na, warten
Sie, ich will Ihnen einige Blumen geben. Aber die stellen
Sie in Ihr Zimmer, verstanden? Denn man soll die Perlen
nicht vor die Säue werfen, steht schon in der Bibel. Merken
Sie sich das, junges Fräulein.«

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»Ja«, sagte sie verschüchtert – und wieder traf sie ein
durchdringender Blick. Dann umzuckte ein Lächeln den

schmalen Männermund, der wie ein Strich wirkte in dem
braunen, verwitterten Gesicht. Die Gestalt war groß und
hager, der Rücken ein wenig gebeugt. Jedenfalls war der
Mann eine Persönlichkeit, die sich nie und nirgends
übersehen ließ.
Jetzt überreichte dieser Respekt einflößende Gärtner der
Angestellten des Schlosses drei Rosen. Sie waren tiefrot, mit
einem schwarzen, samtigen Schimmer. Ein berauschend
süßer Duft entströmte diesen köstlichen Blüten. Die
Mädchenaugen würden groß und rund, ein grenzenloses
Erstaunen spiegelte die Bläue wider. Ganz blaß war das
feine Gesichtchen geworden vor Schreck.

»Nun nehmen Sie schon, Sie Dummchen, die sind für Sie
persönlich.«
»Aber, aber, Melchior…«, ließ sich da hinter ihnen eine
sonore Stimme vernehmen, bei der Hariet
zusammenzuckte. »Soll ich da meinen Augen trauen?
Deine eifersüchtig gehütete Königin der Rosen verschenkst
du – und gleich drei Stück?«
»Warum denn nicht, Herr Baron«, schmunzelte der Mann.
»Die Königin – der Königin.«
»Potztausend! Wissen Sie auch, welch eine Auszeichnung
Ihnen mit den Rosen zuteil wird, Fräulein Hermeran?«
»Nein, Herr Baron – oder ja – aber ich danke Herrn

Melchior«, stotterte sie verwirrt und suchte dann ihr Heil in
der Flucht.
»Komisches Marjellchen«, sprach Ulf ihr kopfschüttelnd
nach. »Warum hat es eigentlich solche Angst vor mir,
Melchior?«
»Das Rehlein wittert den Jäger«, kam es trocken zurück.
»Womit kann ich dem Herrn Baron dienen?«
»Mit denselben Rosen, die du soeben an das ängstliche
kleine Mädchen so verschwenderisch verschenktest. Ich will
mit diesen erlesenen Blüten Frau Warring einen Ostergruß
bringen. Also gib schon deinem Herzen einen Stoß.«

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»Na ja, Herr Baron, wenn sie Frau Warring kriegen soll,
dann muß ich ja schon. Aber nur zwei, dann bleiben, mir

noch sechs. Die muß ich weiterzüchten, damit die Frau
Baronin, die hier einziehen wird, den schönsten
Hochzeitsstrauß bekommt.«
»Hm. Und wenn ich mich mit der Hochzeit beeile?«
»Daraus wird nichts. Der Herr Baron muß zuerst noch
durch Liebesleid und Herzensnot. Aber wenn übers Jahr die
Novemberstürme toben, dann kommt das große Glück.«
»Na, weißt du, Melchior, du kannst einem mit deinen
Weissagungen manchmal das Gruseln über den Rücken
jagen«, entgegnete Ulf unbehaglich. »Warum denn gleich
Liebesleid und Herzensnot? Es werden auch ohne diese
unbequemen Begleiterscheinungen Ehen geschlossen.«

»Aber nicht die vom Herrn Baron.«
»Eigensinniger Kerl!« mußte dieser jetzt lachen. »Aber
diesmal sollst du nicht recht behalten.«
»Sollte mich freuen. Bitte, hier sind die Rosen. Ich spende
sie Frau Warring gern – denn sie ist eine Frau mit Herz.«
»Danke, Melchior. Ihr das zu übermitteln, wird mir ein
Vergnügen sein.«
Damit ging er versonnen davon. Es war doch etwas Eigenes
um diesen Melchior, der in der Umgegend als Hellseher
galt. Und er hatte auch tatsächlich schon manches
vorausgesagt, was ihm Ansehen und Scheu einbrachte.
Hauptsächlich diejenigen, die ein schlechtes Gewissen

hatten^ gingen ihm in großem Bogen aus dem Weg.
Nur wenige Menschen erfreuten sich seiner Gunst. Und das
waren erst mal der Freiherr und seine jüngere Schwester,
ferner der Diener Lorenz mit seiner Frau und der alte
August. Und nun schien auch noch Hariet Hermeran zu
diesen Auserwählten zu zählen, wovon sie allerdings keine
Ahnung hatte. Sie freute sich nur über die wunderbaren
Rosen, die sie gerade in die Vase tat, als Dolly aus dem
Nebenzimmer he rein wirbelte und dann ruckartig
stehenblieb.
»Woher hast du denn Melchiors Königin?« fragte sie

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perplex.
»Von ihm persönlich – für mich persönlich.«

»Ach du liebe Güte! Dann hast du aber eine ganz tolle
Eroberung gemacht. Denn dieser unbestechliche Mann
vergibt seine Gunst nur sehr spärlich. Du, jetzt steigst du in
meinen Augen erst so richtig an Wert.«
»Wie ich mir jetzt aber vorkomme«, lachte Hariet fröhlich.
»Und nun habe ich Hunger.«
»Dann komm, das lukullische Frühstück wartet nebenan.
Ich habe Mamsellchen so lange umschmeichelt, bis sie
gnädigst einwilligte, uns beiden Hübschen auch während
meiner Ferien das Frühstück oben servieren zu lassen.
Damit übertritt sie wohl ein Gebot ihrer gestrengen Herrin
und ich auch, aber was tun wir nicht alles für unser

Herzenskind Hariet, dem jede Mahlzeit am Familientisch
ein Greuel ist.«
Nun, ein Greuel waren diese Mahlzeiten Hariet nun gerade
nicht, aber immerhin unangenehm. Zwar blieb sie in
Gegenwart der Baronin und ihrer ältesten Tochter bei Tisch
wohl still, war aber nicht mehr so geduckt wie in der ersten
Zeit.
Es war ein auserlesenes Mahl, das an diesem Osterfeiertag
Lorenz und das erste Stubenmädchen servierten. Mehr als
sonst schwebte das Fluidum der Vornehmheit über dem
weiten Raum, das selbst einen Banausen dazu gezwungen
hätte, sich manierlich zu benehmen.

Die Unterhaltung war kühl und gemessen. Man sprach
eben nur, um nicht stumm dazusitzen. Höflich erfolgte die
Rede, höflich die Antwort.
Der Mokka blieb Hariet erspart, weil auch Dolly nicht
daran teilnahm. So zogen denn die beiden Mädchen ab,
hinein in die gemütliche Klause. Dort konnte man sich
geben, wie einem zumute war, brauchte keine strenge
Kritik zu fürchten. Dolly warf sich auf den Diwan und
streckte sozusagen alle viere von sich.
»Los, Ette, spiel mir etwas vor, was vom Frühling spricht,
von Lenz und Liebe«, verlangte sie kategorisch, doch die

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andere lachte sie aus.
»Der Lenz ist erst im Mai, mein liebes Kind – und die Liebe

weltenfern. Aber den Frühling, ja, den laß ich mir gefallen.«
Also setzte sie sich an den Stutzflügel und spielte
Frühlingslieder. Und weil das so schön war, sang sie die
Weise mit.
Sie hätte es wahrscheinlich nicht getan, wenn sie gewußt,
daß sie außer Dolly noch einen Zuhörer hatte. Dieser lag
auf der Terrasse im Liegestuhl und ließ sich von der
warmen Mittagssonne bescheinen. Lauschte mit Vergnügen
den Klängen, die durch das geöffnete Fenster im ersten
Stock zu ihm hinwehten.
Es war eine herzwarme Stimme, in die dann die noch etwas
dünne des Backfischchens hineinklang. Und da der

Frühling von der Liebe ja nicht zu trennen ist, kam sie in
jedem Lied vor. Doch das alles perlte so leicht, so
unbeschwert über die Lippen der beiden jungen
Menschenkinder, ein Zeichen, daß sie noch verschont
geblieben waren von der Liebe Lust und Leid. Selbst die
Stelle in dem Lied klang unbekümmert, frisch, frei und
froh:
Der Frühling ist kommen mit all seiner Macht, der
Frühling, der hat mir die Liebe gebracht, er hat mir mein
Herz verwundet…
»Das war schön«, sagte Dolly, als Hariet später den
Kiavierdeckel zuklappte. »Wie kommt es bloß, Ette, daß du

dem Instrument so wunderbare Töne zu entlocken
verstehst. Ist das etwa Zauberei?«
»Nein, nur Übung, du Faulpelz«, kam es lachend zurück.
»Aber warte, ich kriege dich schon noch heran an dieses
herrliche Gebilde in Weiß und Gold.«
»Pöh«, tat Backfischchen verächtlich ab. »Meine Finger sind
lahm und stupid ist mein Sinn. Das sagt auch Lutz.«
»Na, dann muß es ja wohl stimmen. Und nun erhebe dich,
mein Faultierchen, machen wir einen Spaziergang durch
den frühlingsduftenden Wald.«
»Mitnichten, mein herzliebes Treugespann. Reiten

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vielleicht, aber gehen kommt nicht in Frage. Das kostet
nämlich Schuhsohlen. Außerdem ist es bald Kaffeezeit, und

4ie Prahlener kommen, von denen man sagen kann: Der
Not gehorchend, nicht dem eigenen Triebe. Wer prägte das
Wort, mein gelehrtes Fräulein?«
»Schiller, soviel ich weiß.«
»Eine Eins, Schülerin, setzen Sie sich. Ach, Ette, meinst du
nicht auch, daß wir beide viel zuviel wissen?«
»Ich weiß nur, daß du ein ganz verdrehtes kleines Balg bist.
Was wirst du anziehen zur Feier des Tages?«
»Das Grüne. Onkel Nolte sagt ja wohl im Busch: Du ziehst
mir nicht das Grüne an – aber du bist ja nicht Onkel Nolte,
und ich heiße nicht Helene.«
Sie lachten beide – und auch der Mann auf der Terrasse

lachte in sich hinein. Er konnte beruhigt sein. Bei diesem
Mädchen war seine kleine Schwester bestens aufgehoben.
Bevor die Gäste eintreffen sollten, gab es noch für ihn
einen harten Strauß mit der Mutter auszufechten. Diese
hatte nämlich bestimmt, daß Hariet mit Lorenz zusammen
an der Tafel bedienen sollte, weil das erste Stubenmädchen
Ausgang hatte. Zufällig erfuhr das der Herr des Hauses und
disponierte um.
Und dieses erfuhr nun wiederum die Frau Baronin, die sich
immer noch als Herrin aller Reußen fühlte. Empört
rauschte sie in das Arbeitszimmer des Vermessenen. Die
Augen funkelten, der Mund war verkniffener denn je, wie

abgezirkelt brannten die roten Flecke auf den
Backenknochen.
»Ulf, ich verbitte mir das!« schrie sie ihm entgegen, der sie
zuerst verblüfft ansah. Dann bot er der Mutter einen Platz
an, die es jedoch vorzog, stehend zu verkünden, was sie
zutiefst empörte:
»Wie kommst du dazu, mein Sohn, meine Befehle zu
widerrufen und mich damit bei der Dienerschaft lächerlich
zu machen? Ich sage dir, das Fräulein wird bei Tisch
bedienen, hast du mich verstanden?!«
»Ach, darum geht es«, versetzte er gelassen. »Mama, denk

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doch einmal darüber nach.«
»Ich denke nicht, ich befehle!« rief sie ihm erregt ins Wort.

»Und zwar, daß das Fräulein bei Tisch bedient. Es ist nicht
besser als jeder andere Dienstbote, aber ihr scheint in
dieser anmaßenden Person ja etwas Besonderes zu sehen –
du, Dolly, Lorenz, die Mamsell – und neuerdings auch
dieses Scheusal von Gärtner. Er hat ihr Rosen gegeben,
verstehst du? Von den Rosen, mit denen er ein so
lächerliches Theater macht. Und Martina, dem Herrenkind,
schlug er sie ab, um sie dann an eine Domestikin zu
verschenken. Das ist ja einfach ein Skandal, der zum
Himmel schreit! Ich verlange, daß du diesen
unverschämten Menschen fristlos entläßt!«
»Das kann ich nicht, Mama, weil Vater ihn auf Lebenszeit

anstellte. Mit den Rosen kann er machen, was ihm beliebt.
Sie sind sein Experiment, das er aus eigener Tasche zahlt.
Doch wir sind ganz von der Bedienung abgekommen.
Mama, ich bitte dich, sei doch vernünftig.«
»Ich will nicht vernünftig sein, ich will mein Recht!«
Seufzend strich der Mann sich ruckartig über Augen und
Stirn, in den Mundwinkeln hockte ein bitteres Lächeln. Es
klang müde, als er nun sprach: »Du machst es mir wahrlich
schwer, dir mit dem Respekt zu begegnen, den ein Sohn
einer Mutter schuldig ist. Also muß ich da befehlen, wo ich
viel lieber bitten möchte. Und zwar, daß die junge Dame
nicht bei Tisch bedienen wird. Und zwar aus den Gründen,

weil sie dazu dienstlich nicht verpflichtet und dann eine
Verwandte der Warrings ist. Willst du denn das nicht
einsehen?«
»Nein. Mag diese Person auch aus fürstlichem Geblüt sein,
hier jedoch ist sie nichts weiter als ein Dienstbote. Ich
werde sie heute noch fristlos entlassen.«
»Das werde ich zu verhindern wissen.«
»Komisch, wie du für diese Person eintrittst«, höhnte sie.
»Da könnte man fast…«
»Es ist wohl besser, wenn du gehst, Mama«, unterbrach der
Sohn sie mit einer eisigen Ruhe, die beängstigender wirken

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kann als heißer Zorn. »Fräulein Hermeran bleibt. Und zwar
aus dem Grunde, weil Dolly sie braucht. Und nun Schluß

der Debatte, die mich förmlich – anwidert. Und wenn du
jetzt nach beliebter Art mit dem Witwenhaus drohen willst
– bitte.«
Sie hielt es jedoch für ratsam, es zu unterlassen. Warf ihm
nur einen Blick zu, der ihn eigentlich hätte in Grund und
Boden schmettern müssen und rauschte hocherhobenen
Hauptes hinaus.
Übrigens war das alles weiter nichts gewesen, als der oft
zitierte Sturm im Wasserglas. Denn die Gäste mußten
absagen, weil sie selbst überraschenden Besuch von
außerhalb bekamen.
Eins-zwei-drei im Sauseschritt, läuft die Zeit, wir laufen mit

– sagt Wilhelm Busch, der lachende Philosoph, und hat
damit, wie in vielem, recht. Wir sausen einfach hinweg
über Stunde und Zeit, die nie stillsteht, die hinfließt über
Freud und Leid, Not und Tod er Menschheit. Wer da nicht
mithalten kann, wird einfach überrannt vom Lauf der Welt.
So wäre es auch der weltfremden Hariet. Herme ran
ergangen, wenn sie nicht einen starken Halt gehabt hätte,
den sie neuerdings auch an dem Gärtner fand. Sie hatte
keine Scheu vor dem seltsamen Mann, suchte ihn oft auf,
und immer wai Dolly dabei. Er war ja so welterfahren und
klug, so ein richtiger Weiser. Zu gern lauschten die beiden
Mädchen seinen Erzählungen und merkten dabei gar nicht,

wie er sacht und lind Gutes und Schönes in ihre jungen
Herzen senkte.
Manchmal kam auch der Baron hinzu, wenn Melchior
erzählte. Lächelnd beobachtete er dann die beiden
Zuhörerinnen, deren leuchtende Augen an den Lippen des
weisen Mannes hingen. ‘ Hauptsächlich Hariet lauschte
diesen Erzählungen wie gebannt und schöpfte daraus
immer wieder frohe Zuversicht. Denn nach dem Osterfest
hatte sie mehr denn je unter den Bosheiten der Baronin
und ihrer Tochter zu leiden, die immer wieder Mittel und
Wege fanden, das Mädchen zu schikanieren und zu

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demütigen. Doch es hielt tapfer aus und wurde dann ihre
Peiniger für einige Zeit los.

Und zwar, als diese im Juli ihre Sommerreise antraten,
wofür sogar Geld vorhanden war. Ein Vorfahr der Eggeroth
hatte nämlich einen Reisefonds angelegt, der jedes Jahr von
den Familienmitgliedern zu gleichen Teilen in Anspruch
genommen werden konnte, was die Baronin und Martina
natürlich restlos taten, während die Teile von Dolly und
Ulf ständig anwuchsen.
Selbstverständlich kamen für die beiden anspruchsvollen
Damen nur mondäne Orte in Frage, wo sie so lange in der
»großen Welt« schwelgten, bis das Geld aufgebraucht war.
Dann allerdings mußten sie wieder in die »Einsamkeit«
zurück, wo sie zuerst einmal in Erinnerungen schwelgten

und sich dann auf die nächste Reise freuten.
So reisten sie denn auch in diesem Jahr beseligt ab, und Ulf
redete Dolly zu, sich mit Hariet den Prahlener Verwandten
; anzuschließen und mit ihnen in den Sommerferien an die
See zu fahren. Doch davon wollte die Kleine nichts wissen.
»Ich soll fort von hier, wo es jetzt so wunderbar
harmonisch ist? Na, das wäre! Wald, Feld und Flur haben
wir hier und Wasser auch, sicherlich alles noch viel besser,
als in den überlaufenen Bädern. Sollst mal sehen, wie
Hariet und ich uns in den Ferien vergnügen werden.«
Das geschah denn auch. Wie Kletten hing das Treugespann
aneinander, nichts unternahm eines ohne das andere.

Selbst auf ein Pferd hatte Dolly die ängstliche Hariet
gezwungen. Allerdings war es ein frommes Pferdchen, aber
immerhin, es trabte. Zuerst stand die Reiterin Todesängste
im Sattel aus, doch dann wurde sie kühn und immer
kühner.
Es verging kein Tag, an dem die beiden Mädchen nicht im
See ihr Bad nahmen. Hariet, die natürlich nicht
schwimmen konnte, lernte es unter Dollys Anleitung bald.
Wenn man Trubel haben wollte, fuhr man zur Stadt.
Suchte dort eine Konditorei auf oder ging ins Kino.
Jedenfalls vergnügte man sich wie und wo man konnte.

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Der Bruder bemerkte das alles mit stillem Ergötzen. Er
gönnte dem Schwesterlein jede Freiheit. Die Ferien waren

ja so kurz – und vor allem die Harmonie, die jetzt im
Schloß herrschte.
Mit der war es dann auch vorbei, als die beiden mondänen
Damen Ende Oktober zurückkehrten. Sie brachten sogar
einen jungen Mann mit, den Martina fest in ihren lilaroten
Fängen zu haben schien. Er war so ein richtiger Dandytyp
und galt in seiner Familie ein wenig als schwarzes Schaf.
Aber das wußten Mutter und Tochter ja nicht. Wußten nur,
daß er der Erbe eines großen Unternehmens und ein
liebenswerter Mensch war. Sie hatten ihn in einem
mondänen Bad kennengelernt, wo der junge Mann dann
ihr steter Begleiter wurde, und zu seiner Ehre sei es gesagt,

daß er ernste Absichten auf Martina hatte. Warum auch
nicht? Sie war ja nicht so übel. Es würde sich schon in einer
Ehe mit ihr leben lassen, wenn man nicht Wert auf Glück
und Liebe legte.
Und das tat Carol Droik durchaus nicht. Denn Liebe und
Ehe waren für ihn zwei getrennte Begriffe. Der Vater
wünschte, daß er ihm eine Schwiegertochter brachte, die
nicht ganz arm war, einen untadeligen Namen hatte und
zu repräsentieren wußte. Und das traf bei der Baronesse
Eggeroth alles zu.
Natürlich wollte der vorsichtige Mann erst einmal die
Verhältnisse näher kennenlernen, aus denen seine

Zukünftige stammte, ehe er sich zu einem bindenden Wort
entschloß. Also sagte er mit Freuden zu, als die Damen ihn
nach Herrnhagen einluden – und ausgerechnet dort mußte
er ein Mädchen kennenlernen, das sein Herz sofort
entflammte.
Und dabei war es noch nicht einmal sein Typ. War ihm zu
scheu, zu bescheiden, zu wenig mondän, paßte überhaupt
gar nicht zu ihm.
Nun, er wollte die Kleine ja auch nicht heiraten, sondern
nur einige nette Wochen mit ihr verleben. Hinterher zahlte
er sie aus und heiratete die Baronesse.

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Und ein gerissener Bursche war dieser Carol Droik schon,
so richtig geübt im Fallenstellen für schüchterne junge

Rehlein. Tat in Gegenwart anderer so, als machte er sich
über diese Angestellte des Hauses lustig, bezeichnete sie als
kleinen Trampel.
Zu Martina war er von einer bestrickenden
Liebenswürdigkeit, becourte die angehende
Schwiegermutter, stand mit Dolly auf lustigem Neckton
und mimte dem skeptischen Ulf den treuherzigen Burschen
vor. Sie ließen sich alle von dem liebenswürdigen
Schwerenöter blenden, der sozusagen das ganze Schloß auf
den Kopf stellte. Es herrschte jetzt darin von früh bis spät
Frohsinn und lustiges Lachen.
Und das gefiel Dolly doch gar zu gut. Sie heftete sich direkt

an die Fersen ihres fidelen zukünftigen Schwagers, der mit
seiner immer guten Laune alles um sich herum
beherrschte.
Und er verstand das Backfischchen gut zu nehmen, oh, wie
gut. Die Kleine zappelte förmlich vor Ungeduld, in seine
Gesellschaft zu kommen. Machte ihre Schulaufgaben nur
noch flüchtig, und als Hariet sie deshalb einmal liebevoll
ermahnte, wurde sie ausfahrend wie noch nie.
»Ach, laß mich doch, du langweilige Suse. Carol meint, ich
wüßte schon viel zu viel.«
Fort war sie, und Hariet weinte bittere Tränen. Kam sich so
verlassen vor, wie kaum in ihrem Leben zuvor.

So gingen die Wochen dahin. Man zählte bereits den
zwölften November, und Carol Droik weilte nun schon
drei Wochen im Schloß. Glänzende Feste hatte man in der
Zeit nicht gegeben. Die wollte man nachholen, wenn man
Verlobung und Hochzeit feierte. Nur einige Nachbarn hatte
man eingeladen, darunter auch die Prahlener. Was sie von
Carol Droik dachten, wußte Hariet nicht, da sie ja mit den
Verwandten nicht zusammentraf. Auch nicht bei Tisch.
Dem blieb sie fern, seitdem der vielgeliebte Gast im Hause
war.
So saß denn auch Hariet am Vortage ihres Geburtstages in

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ihrem Zimmer einsam und allein. Denn Dolly, die früher
ihre Gesellschaft so gern gesucht, fand nun keinen Gefallen

mehr daran. Es war ja jetzt unten auch so lustig, so froh
und leichtbeschwingt. Man konnte lachen, immer nur
lachen über die fidelen Einfälle des zukünftigen Schwagers.
Hariet merkte gar nicht, wie ihr die Tränen über die
Wangen liefen. Bis sie aus ihren trostlosen Gedanken
aufschreckte. Sie sollte ja Blumen aus dem Gewächshaus
zum Tafelschmuck holen, weil zum Abendessen Gäste
erwartet wurden. Rasch zog sie den Mantel über und
hastete hinaus. Die Treppe hinunter, durch die weite Halle,
um möglichst schnell in den Park zu gelangen. In ihrer Eile
bemerkte^ sie nicht den Mann, der gerade aus einer der
Türen trat, stutzte – und dann mit einem fatalen Lächeln

dem ahnungslosen Mädchen nachschlich. Endlich würde
es in die Falle gehen, das scheue Rehlein. Lange genug
hatte es ja auch gedauert. Noch nie war diesem gerissenen
»Fallensteller« dieser »Sieg« so schwer gemacht worden.
Es war fast dunkel, als Hariet ins Freie trat. Wie drohend
reckten sich die entlaubten Äste der Bäume empor. Aus der
Düsternis der Alleen, überhaupt aus allen Ecken schien ihr
eine Gefahr entgegenzugrinsen, die sie vor Angst
erschauern ließ.
Doch tapfer schritt sie aus. Erst einmal an dem Schloß
vorbei, an der Terrasse, deren Tür weit offen stand. Warmer
Lichtschein flutete aus dem Gemach, in dem man

gemütlich beisammensaß. Frohes Lachen flatterte zu der
Verängstigten hin, die eilenden Fußes vorüberfloh. Schnell,
immer schneller, dorthin, wo, das Gewächshaus stand.
Allein, sie erreichte es nicht. Denn in einem Gang, wo es
besonders dunkel und unheimlich war, wurde sie plötzlich
von rückwärts in zwei Arme gezogen, die sich fest wie
Eisenklammern um den zitternden Mädchenkörper
spannten. Ein heißer Atem streifte die zarte
Mädchenwange, eine Männerstimme raunte:
»Hab ich dich endlich einmal erwischt, mein scheues
Rehlein? Lange genug hat es gedauert, deiner habhaft zu

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werden. Hab keine Angst vor mir, ich meine es gut. Folge
mir in den Pavillon, wo du erfahren sollst, was die Dichter

mit sieben Seligkeiten des Himmels bezeichnen. Du hast
sie verdient, denn du bist wunderschön. Von einer
Schönheit, die im Verborgenen blüht. Aber es gibt
Schatzgräber, mein süßes Kind, Schatzgräber…«
»Denen der Spaten um die Ohren zu schlagen fehlt!«
donnerte eine markige Stimme in das Geflüster hinein, die
den gewissenlosen Mann, der sich schon an seinem Ziel
geglaubt, entsetzt zusammenfahren ließ. Die Arme gaben
das Opfer frei, das dann mit einem schluchzenden Laut in
zwei andere Arme flüchtete, die es gut und treu umfingen.
»Melchior, oh, Melchior, Sie hat bestimmt der liebe Gott
geschickt, damit Sie mir beistehen sollten in meiner Not.«

stammelte das entsetzte Mädchen und zuckte dann
zusammen, als die markige Stimme aufs neue laut und
gewaltig losdonnerte. Sie drang bis zu denen hin, die im
Wohngemach saßen, und erschrocken aufsprangen und auf
die Terrasse eilten. Und was sie dann laut und deutlich
hörten, ließ ihnen fast das Blut in den Adern stocken.
»Lassen Sie Ihre unsauberen Hände von dem Mädchen,
Herr! Es ist kein Freiwild, verstanden?! Es steht unter
meinem Schutz, das reine, holde Kind, für das ich bereit
bin, meinen letzten Blutstropfen herzugeben!«
Wie erstarrt verharrte der sonst so zungenfertige,
selbstherrliche Carol. Er war nicht fähig, auch nur einen

Fuß zu setzen, obwohl ihn vor dem Mann, der wie die
personifizierte Vergeltung dastand, so sehr graute, daß ihm
fast die Haare zu Berge standen.
Und dann wurde es plötzlich lebhaft um ihn, der wie blöd
lachte. Alle, die im Wohnzimmer gesessen hatten, scharten
sich um ihn. Doch bevor sie noch eine Frage über die
zitternden Lippen bekamen, sprach schon wieder der
Gärtner Melchior, vor dem alle eine gewisse Scheu hatten.
Und diesmal klang seine Stimme gut und mild:
»Kommen Sie, Kindchen, ich bringe Sie in Ihr Zimmer.
Übernachten Sie dort, aber dann gehen Sie fort. Es ist hier

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ein zu heißer Boden für so zarte Füßchen, hier hat immer
nur der Stärkere recht. Wir wollen unserm Herrgott danken,

daß er mich noch zur Zeit kommen ließ.«
Nun saß Harriet in ihrem Zimmer mit bitterschwerem
Herzen. Wollte ganz klar und logisch denken, aber sie
konnte es nicht. Immer nur kreisten die Worte Melchiors in
ihrem Hirn: Es ist hier ein zu heißer Boden für so zarte
Füßchen, hier hat nur der Stärkere recht.
Und Herr Carol Droik war eben hier der Stärkere. Ein
verhätschelter Liebling der gesamten Familie Eggeroth. Und
wenn die Angestellte Hariet Hermeran da mit tausend
goldenen Zungen reden wollte, man würde dennoch nicht
ihr glauben, sondern diesem gewissenlosen Menschen.
Die Bestätigung sollte auch nicht lange auf sich warten

lassen. Ohne ein Klopfzeichen ging die Tür auf, und das
grinsende Gesicht eines Mädchens wurde sichtbar. Ein
Umschlag flatterte Hariet zu Füßen, und dann klappte die
Tür wieder zu.
Mit zitternden Händen wurde der Brief geöffnet, zwei
entsetzte Augen lasen die welligen Worte:
Sie verlassen morgen früh sofort mein Haus, Sie ehrlose
Person. Wenn Sie das nicht tun, lasse ich Sie von der
Polizei hinaussetzen – Baronin von Eggeroth.
Da lachte Hariet Hermeran auf, so schmerzzerrissen, so
von Bitterkeit durchtränkt klang das Lachen, das dann ein
hartes Schluchzen erstickte.

In dem Moment sprach unten im Wohngemach eine
lachende Männerstimme:
»Ja, meine Herrschaften, vor den Aufdringlichkeiten
weiblicher Dienstboten ist unsereins nun einmal nicht
sicher.«
Und was sagte der Herr Baron dazu? Nichts. Und die
Dolly? Auch nichts. Das verstörte den Diener Lorenz, der
diese leichtfertigen Worte mit anhörte, so sehr, daß er zu
dem Gärtner Melchior eilte, der in seiner Stube, die sich
dem Gewächshaus anschloß, die Bibel las. Er war gar nicht
erstaunt, als sein Freund Lorenz plötzlich vor ihm stand.

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»Setz dich«, sagte er kurz. »Nimm eine Zigarre aus dem
Kasten und schweige, weil ich mich erst mit unserm

Herrgott auseinandersetzen muß.«
Obwohl Lorenz nicht viel Zeit hatte, setzte er sich dennoch
und schwieg. Sein Gegenüber, das da so würdig saß und
den braunen Finger bedächtig über die große schwarze
Schrift gleiten ließ, schien nicht zu finden, was er suchte.
Ergo ließ er davon ab, steckte seine Pfeife in Brand, legte
sich im Lehnstuhl zurück und zitierte Kant: »Wenn die
Gerechtigkeit untergeht, so hat es keinen Wert mehr, daß
Menschen auf Erden leben.«
»Ja«, bestätigte Lorenz, »so sagt man wohl. Aber die
Menschen hier leben trotzdem sehr gut, obwohl sie heute
eine himmelschreiende Ungerechtigkeit begingen.«

»So glaubst du an Hariets Schuldlosigkeit?«
»Welch eine Frage! Anders hättest du dich bestimmt nicht
für sie eingesetzt. Und das konntest du auch nur, weil du
laut Testament unseres alten Herrn Barons hier angestellt
bist auf Lebenszeit, wie meine Alte und ich ja auch. Da
kann uns keiner an den Wimpern klimpern – auch nicht
der Ulf. Denn dem traue ich nicht mehr, er hat mich heute
bitter enttäuscht.«
Er gab wieder was Carol sagte und wie der Baron dazu
schwieg.
»Und nun hätscheln sie diesen Halunken«, fuhr er grimmig
fort. »Die verliebte Trine, deren Mutter, der Ulf und auch

die Dolly. Da soll man nun nicht an den Menschen irre
werden.«
»Hm. Und was sagt deine Frau dazu?«
»Die möchte der ganzen Bande am liebsten den Kochlöffel
um die Ohren schlagen. Sie jammert und klagt, daß sie
nicht zu Hariet gehen und sie trösten kann, weil sie seit
gestern mit Hexenschuß zu Bett liegt. Und mich läßt die
Kleine nicht vor, sie hat sich eingeschlossen.«
»Das Beste, was sie tun kann«, meinte Melchior, dabei
gemütlich sein Pfeifchen schmauchend. »Aber sag mal,
werden im Schloß nicht Gäste erwartet?«

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»Ja. Sie werden wohl schon da sein.«
»Und dann bist du noch nicht auf deinem Posten?«

»Ach, mich ekelt die ganze Bande an.«
»Glaube ich dir. Aber Dienst ist nun einmal Dienst. Verfüge
dich, mein Freund, sonst muß ich auch noch an dir irre
werden.«
So schieden sie denn mit warmem Händedruck.
Hariet packte – ein dehnbarer Begriff. Denn so ein
Kofferpacken kann höchste Freude hervorrufen – oder
tiefste Betrübnis. Freude, wenn man zu lieben Menschen
fahren will, Betrübnis, wenn man niemanden hat, der zu
einem gehört. Und vor allen Dingen, wenn man nicht
weiß, wohin man soll.
Und das wußte Hariet Henne ran nun wirklich nicht.

Sie stand so verlassen da, wie selten ein Mensch. Selbst ihr
einziger Onkel war jetzt gestorben, wie man ihr in Prahlen
erzählte. Die Zeitungen waren voll gewesen von der
Nachricht des Todes dieses berühmten Mannes, dessen so
plötzliches Hinscheiden man allgemein bedauerte, auch
die in Prahlen.
Na ja, die aus Prahlen, die waren gewiß nicht besser als die
Herrnhagener. Wohl hatten sie die entfernte Verwandte mit
freundlicher Herablassung behandelt, hatten ihr sogar das
Du angeboten – und saßen nun unter den Gastgebern und
Gästen, fröhlich feiernd. Wahrscheinlich die Verlobung der
Tochter des Hauses, die ja gewissermaßen schon längst in

der Luft lag. Bedauerten wahrscheinlich sehr, daß sie dieser
schamlosen Angestellten Hariet Hermeran ihr Haus
geöffnet hatten.
Aber damit tat das verbitterte Mädchen den Warrings
unrecht. Wohl waren sie entsetzt über die Begebenheit, die
Klarissa ihnen voller Empörung zutrug. Aber nicht entsetzt
über Hariet, der sie so eine Schamlosigkeit nicht zutrauten,
sondern über die Familie Eggeroth, die diesen
gewissenlosen Burschen hätschelte, während sie sein
unschuldiges Opfer in Acht und Bann tat.
Und da machten auch Ulf mit und Dolly? Kein Wunder,

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daß auch dieses Ehepaar an der Menschheit irre wurde.
Gern wären sie zu Hariet gegangen, um sie mit nach Hause

zu nehmen, doch sie fürchteten, damit einen Skandal
heraufzubeschwören. Aber morgen, dann wollten sie hier
Abrechnung halten, auch mit Ulf und Dolly.
»Ich kann die ganze Bande nicht mehr sehen«, knurrte
Ludwig verbissen.
»Komm, Fraule, bevor ich mich zu etwas hinreißen lasse,
das unter allen Umständen vermieden werden muß.«
So fuhren sie denn nach Hause, ohne sich von den
Gastgebern verabschiedet zu haben.
»Nur gut, daß unsere Dietz nicht mit war«, sagte Alice, als
man zu Hause noch einen Kognak auf den Schreck trank.
»Unsere hitzige Kleine hätte bestimmt ihrem Herzen Luft

gemacht und somit den Skandal heraufbeschworen, den
wir so ängstlich vermieden. Oder sie hätte gar so
schmählich versagt wie Dolly.«
»Das glaube ich nicht«, warf der Gatte entschieden ein.
»Dafür ist sie zu sehr unsere Tochter. Gehen wir schlafen,
Liebste. Denn heute können wir ja doch nichts mehr
unternehmen.«
Dasselbe dachte auch Hariet, als sie ihre Sachen gepackt
hatte. Das nahm viel Zeit in Anspruch, und es war nicht
weit von Mitternacht, als sie endlich ins Bett kam.
Da lag sie nun und starrte mit brennenden Augen ins
Dunkel. Es waren gar bittere Gedanken, die in ihrem

schmerzenden Hirn kreisten. Von unten tönte gedämpfte
Musik, Lachen flatterte dazwischen, und da biß Hariet die
Zähne zusammen in jähem Schmerz.
Natürlich, warum sollten sie auch nicht. Der Zwischenfall
mit dieser schamlosen Angestellten war ja peinlich
gewesen, gewiß. Aber noch lange kein Grund, sich damit
den schönen Abend zu verderben. Man warf diese ehrlose
Person eben hinaus und damit holla!
Reich müßte man sein, reich und angesehen, um mit
denen da unten auf gleicher Stufe zu stehen. Ihnen
heimzahlen, was sie heute an ihr verbrachen. Abrechnung

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halten dürfen, Auge um Auge, Zahn um Zahn.
Tief und tönend schlug die Turmuhr in die Gedanken

dieses armen, verlassenen Menschenkindes hinein, das
dann die Hände faltete und zu Gott flehte in seiner Angst
und Not:
»Lieber barmherziger Vater im Himmel droben, was habe
ich denn verbrochen, daß du mich so leiden laßt, daß ich
so arm sein muß und allein? Laß mich doch auch einmal
reich sein, wie die da unten, die mich heute treten durften
wie einen verlassenen Hund.«
Die Stimme brach, die Tränen flossen – es war genau zwei
Minuten nach zwölf.
Ein neuer Tag brach an, der dreizehnte November.
Und in den Traum des ratlosen, verzweifelten Mädchens

trat wieder die Fee, die mit gütigem Lächeln die zarten
Hände über das gleißende Köpfchen breitete. Die Stimme
klang voll und warm:
»Auch dein zweiter Wunsch sei dir gewährt, kleine Hariet.
Du wirst reich sein, du wirst Vergeltung üben. Aber noch
steht dir ein Wunsch frei – hüte gerade den wie etwas
Heiliges.«
Dieses zweite Mal blieb Hariet erst recht keine Zeit, um
über den seltsamen Traum nachzugrübeln, sie hatte
wahrlich an anderes zu denken. Nicht einmal an ihren
Geburtstag dachte sie, als sie erwachte und entsetzt auf den
Wecker starrte.

Schon über acht Uhr und sie wollte doch gerade heute früh
aufstehen und das Schloß verlassen, während darin alle
noch schliefen. Denn es würde über ihre Kraft gehen,
denen zu begegnen, die sie eine Ehrlose nannten.
Angestrengt lauschte sie zum Nebenzimmer hin, dessen
Tür sie gestern nicht nur zumachte, sondern auch abschloß
– aus übertriebener Vorsicht, wie sie jetzt mit bitterem
Lächeln feststellte. Denn die Baronesse Dolly hatte gar
nicht daran gedacht, Einlaß zu begehren.
Nein, sich nicht wieder in Bitterkeit verlieren, dazu hatte
sie jetzt keine Zeit. Nur fort von hier, so schnell wie

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möglich.
Und dann ging alles fast überstürzt. Nicht einmal Zeit zum

Bad nahm Hariet sich, rieb Gesicht und Hände nur mit
einem duftenden Wasser ab. Nahm nicht einmal Abschied
von dem traulichen Stübchen, in dem sie sich ein Jahr lang
so wohl gefühlt.
Die beiden großen Koffer waren schwer, aber auch der
kleine, den sie mit der Handtasche zusammenband und
über die Schulter warf, hatte auch sein Gewicht. Nun, bis
auf die Landstraße würde sie schon kommen. Dort mußte
sie dann zusehen, wie sie weiterkam.
Nachdem sie die Tür geöffnet hatte, lauschte sie erst einmal
mit angehaltenem Atem, doch alles in dem weiten Schloß
blieb still. Da schlich sie den Gang entlang, die Treppe

hinunter, durch die Halle, durch das Wohnzimmer zur
Terrasse und über diese in den Park.
Dieser Weg erschien ihr nämlich sicherer als der über den
Hof. Denn um diese Zeit pflegte sich niemand im Park
aufzuhalten, schon gar nicht bei dem unwirtlichen Wetter.
Aufatmend packte sie die Koffer fester, um sie dann vor
Schreck fallen zu lassen – denn vor ihr stand wie aus dem
Erdboden gewachsen, der Gärtner Melchior und sagte
ruhig:
»Habe ich mir doch gedacht, daß Sie diesen Weg wählen
würden. Überlassen Sie mir die Koffer, die sind ja viel zu
schwer für so ein Heimchen. Und nun bewegen wir uns

mal auf Schleichpfaden. Denn Sie wollen doch sicherlich
keinem begegnen, stimmt’s?«
»Ja, Melchior. Bitte, ich möchte ganz schnell fort von hier.
Ich könnte es nicht ertragen…«
Die Stimme brach und der Mann sagte begütigend:
»Na, nun man nicht weinen, Kindchen, das greift die
Nerven an. Und die werden sowieso noch viel hergeben
müssen.«
Damit nahm er die Koffer und schritt ihr voran, die ihm
vertrauend folgte. Zögerte jedoch, als er am Gewächshaus
stehen blieb und sah ihn angstvoll an.

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»Kommen Sie nur, hier sind Sie sicher. Denn hier trauen sie
sich nicht her, die ein schlechtes Gewissen haben.«

»Die und ein schlechtes Gewissen«, lachte sie bitter auf.
»Die fühlen sich doch so in ihrem Recht, wenn sie eine
Ehrlose hinausjagen wie einen räudigen Hund.«
»Kindchen, Sie weinen ja schon wieder und das dürfen Sie
doch nicht. Unser alter Herrgott lebt ja immer noch.«
»Der hat es aber nie gut gemeint mit mir, Melchior. Bin ich
denn so viel schlechter als andere Menschen?«
»Ein Schäfchen sind Sie. Gehen wir.«
Gleich darauf betraten sie die Stube, in der Hariet oft
gesessen und den Erzählungen des Gärtners gelauscht. Es
war mollig warm in dem weiten Raum, den außer dem
Kachelofen noch ein kleiner Herd wärmte, auf dem der

Wasserkessel summte. Auf der buntkarierten Decke des
Tisches standen zwei Tassen, belegte Brote häuften sich auf
einem Teller.
»Nun nehmen Sie mal Platz, Marjellchen. Ich habe den
Kaffee noch nicht gebrüht, weil ich ja nicht wußte, wann
wir frühstücken werden. Aber gleich ist es soweit.«
Schon wenige Minuten später durchwehte aromatischer
Kaffeeduft den Raum. Schwarzbraun floß die belebende
Flüssigkeit in die Tassen, Sahne kam dazu, ein Stückchen
Zucker auch, und dann ermunterte der Gastgeber:
»So, Kindchen, jetzt hauen Sie mal tüchtig rein. Wenn der
Mensch nämlich satt ist, kann er weit mehr ertragen als mit

leerem Magen.«
»Melchior, warum sind Sie bloß so gut zu mir. Ich bin doch
nichts, ich habe doch nichts…«
»Eben deshalb«, unterbrach er sie, gemütlich sein Pfeifchen
schmauchend. »Die was haben und die was sind, beschützt
ihr Ansehen und ihr Geld. Wo wollen Sie jetzt hin?«
»Zuerst einmal fort, möglichst weit. In eine billige Pension
gehen und mir von da aus eine Stelle suchen.«
»Hm. Ohne Zeugnisse wird das nicht so einfach sein. Und
von hier haben Sie keines zu erwarten. Sind Sie übrigens
offiziell entlassen?«

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»Entlassen?« gegenfragte sie mit dem bitteren Lachen, das
dem Mann direkt ins Herz schnitt. »Davongejagt hat man

mich.«
»Wer denn?«
»Die Frau Baronin.«
Wörtlich gab sie den Inhalt des Schreibens wieder, und
Melchior murmelte vor sich hin:
»Bin nur neugierig, ob der Ulf etwas von dem Brief weiß.«
»Gewiß weiß er es, aber das ist ja jetzt so egal. Ach,
Melchior, ich habe doch so große Angst vor der Zukunft.
Können Sie mir diese nicht verraten? Sie sollen doch die
Kraft dazu besitzen.«
»Kindchen, glauben Sie doch nicht daran, was die Leute da
quasseln«, unterbrach er sie ruhig. »Wohl ahne ich

manches – aber das ist auch alles. Und diese Ahnung sagt
mir, daß Sie endlich aus dem Schatten in die Sonne
kommen werden. Doch wann das geschieht, weiß ich
natürlich nicht, das weiß nur unser Herrgott allein. Und
daher habe ich zuerst einmal vorgesorgt.«
Gemächlich zog er einen Zettel aus der Tasche und reichte
ihn dem Mädchen.
»Da habe ich Ihnen eine Adresse aufgeschrieben und die
Züge, mit denen Sie dahin gelangen. Es ist ein Dorf und
das Pfarrhaus Ihr Ziel. Wenn der Herr Pfarrer fragt, wer Sie
schickt, nennen Sie meinen Namen. Vertrauen sich ihm an
– und dann hilft er Ihnen bestimmt weiter. Haben Sie

Geld?«
»Ja. Ich ersparte mir ungefähr zweihundert Mark.«
»Nicht viel, aber besser als gar nichts.«
Er stand auf, holte Pergamentpapier herbei und begann
darin die Schnitten zu verpacken.
»So, die stecken Sie ein. Werden den Proviant nötig haben,
weil Sie erst am Nachmittag an Ort und Stelle sind. Und
nun gehen wir, damit Sie nicht den Zug versäumen. Einmal
muß ja doch geschieden sein.«
Es fiel Hariet bitter schwer, den gemütlichen Raum zu
verlassen. Aber sie mußte jetzt tapfer sein, durfte den

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Jammer nicht Herr über sich werden lassen. Es war ja schon
ein Glück für sie, daß sie nun wußte, wohin sie sich

überhaupt wenden sollte. Und das verdankte sie dem
gütigen Mann, der wie ein Vater für sie sorgte, besser als ihr
leiblicher Vater jemals für sie gesorgt hatte.
Hariet schauerte zusammen, als sie ins Freie trat. Es war so
ein richtiges Novemberwetter, regnerisch, stürmisch und
kalt. Der Himmel war grau verhangen, es nieselte
unausgesetzt.
»Na, denn wollen wir mal, Kindchen«, redete der Mann ihr
gütlich zu, während er die Koffer auf einen Handwagen
lud. »Bis zur Stadt brauchen Sie nicht zu gehen, nur bis
zum nächsten Bauern. Der hat Telefon, durch das ich ein
Mietauto bestellen werde. Ich hätte es ja gern bis hierher

bestellt, aber dann hätte es ja auf den Hof fahren müssen –
und das wollte ich Ihretwegen vermeiden. Denn für Sie ist
es besser, klammheimlich zu verschwinden, da Sie schon
Bosheiten genug haben einstecken müssen.«
»Lassen Sie nur, Melchior, es geht ja auch so«, lächelte sie
tapfer. »Sie helfen mir ohnehin schon viel, wofür ich Ihnen
so dankbar bin.«
»Ist schon gut«, brummte er, während sich seine starken
Brauen finster zusammenzogen. »Aber lassen Sie man,
unser alter Herrgott lebt noch. Und der wird auch die
hochmütige, unbarmherzige Bande zu finden wissen. Es
heißt ja nicht umsonst in der Bibel: Hochmut kommt vor

dem Fall.«
Er zog den Wagen durch ein Labyrinth von Gängen, in dem
Hariet sich bestimmt nicht zurechtgefunden hätte. Endlich
stand man vor einem kleinen Tor, das Melchior aufschloß
und den Wagen geschickt durch die Enge schob. Dann ging
es auf einem Pfad die Parkmauer entlang, bis man die
Asphaltchaussee erreichte.
»So, das hätten wir geschafft«, meinte Melchior bedächtig.
»Nur noch ein halbes Stündchen halten Sie aus, dann
können Sie mit dem Auto weiter bis zur Bahn fahren.«
Ein schwacher Trost. Denn auch eine halbe Stunde kann

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unter Umständen zur kleinen Ewigkeit werden, wenn man
so erbärmlich fror, wie es bei Hariet der Fall war. Der

Regenmantel war bereits durchnäßt, das eiskalte Wasser
drang durch die Schuhe. Und eiskalt klebten die dünnen
Strümpfe an den Beinen.
Und zu allem Überfluß setzte nun noch Schlackschnee ein,
der Wind wurde stärker und kälter.
Immer wieder ging des Mannes besorgter Blick zu dem
Mädchen hin. Hoffentlich hielt es durch, ohne sich eine
Krankheit zu holen. Es war aber auch ein Wetter, wo der
Bauer nicht mal seinen Hund hinausjagte. Aber dieses zarte
Dinglein mußte raus, ohne Erbarmen.
Immer grimmiger wurden des Mannes Gedanken. Zum
Kuckuck, sonst begegnete man doch Autos auf der Straße

noch und noch, von denen eines die Kleine sicherlich zur
Stadt mitgenommen hätte. Aber ausgerechnet schienen
heute diese Teufelskutschen wie ausgerottet.
Aha, endlich nahte so ein Ungeheuer, allerdings kam es
von der Stadt. Mordsmäßiges Ding, gehörte wahrscheinlich
so einem Geldsack. Der würde bestimmt kein Erbarmen
kennen und Barmherzigkeit üben an dem armen Dinglein,
das vor Kälte zitternd kaum noch weiter konnte.
Und siehe da, der »Geldsack« hielt. Die Wagentür wurde
geöffnet, und was Melchior da erblickte, erstaunte ihn nicht
wenig.
Ja, was war das nun eigentlich, ein Mann, oder eine Frau?

Dem hellen, flauschigen Mantel nach zu urteilen letzteres,
aber das Monokel, das im linken Auge klemmte, das glatte,
kurzgeschnittene Haar, Donner noch eins, da sollte sich
einer auskennen! Erst als das sonderbare Wesen sprach,
tippte Melchior auf Femininum. Denn die Stimme war
zwar dunkel, aber nicht männlich.
»Ja, wo tippeln Sie denn hin?« fragte diese Stimme
verwundert. »Ist das etwa bei dem Hundewetter ein
Vergnügen?«
»Kann man nicht direkt sagen«, schmunzelte Melchior,
dem diese Dame auf den ersten Blick gefiel.

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Es ging etwas Verwegenes von ihr aus, etwas unbedingt
Vornehmes und Damenhaftes, wie der Mann jetzt

erkannte.
»Wo kommen Sie denn her?« ging das Examen weiter.
»Von dem Rittergut Herrnhagen.«
»Hat man da keine Wagen?«
»En masse sogar – aber nicht für uns gewöhnliche
Sterbliche.«
»Aha! Etwas ausgefressen?«
»Wie man’s nimmt.« Da lachte die Fremde auf. Es war ein
warmes, von Herzen kommendes Lachen, das sofort
gefangen nahm. Der Dame gefiel der Mann, von dem ein
Fluidum ausging, das sich nur gefühlsmäßig erfassen läßt.
»Na, Sie sehen mir nicht so aus, als ob Sie etwas

Ehrenrühriges begehen könnten«, gestand sie freimütig.
»Wohin soll es denn gehen?«
»Bis zum nächsten Bauern, wo ich telefonisch ein Mietauto
zu bestellen gedenke, das dieses kleine Fräulein zur Stadt
und zum Bahnhof bringt.«
Jetzt erst fiel ihr Blick auf Hariet, die wie ein Häuflein
Unglück anmutete, verregnet, frierend, blaß und verweint.
»Steigen Sie ein«, entschied die Dame spontan. »Mein Weg
führt mich zwar in entgegengesetzte Richtung, aber das ist
ja nun egal. Wollen Sie bitte so freundlich sein, das Gepäck
im Kofferraum zu verstauen, Herr…?«
»Melchior heiße ich, gnädige Frau«, machte der Mann eine

tadellose Verbeugung. »Ich bin Gärtner auf der Herrschaft
Herrnhagen.«
»Öh«, sagte die Dame da, weiter nichts.
Wenig später waren die Koffer verstaut, und Hariet griff mit
beiden Händen nach der Hand des Mannes.
»Melchior, ich danke Ihnen – oh, wie sehr!« bebte die
Stimme in verhaltenem Weinen. »Mag der Herrgott es
Ihnen lohnen, was Sie an mir taten – ich kann es leider
nicht.«
Damit wandte sie sich hastig ab, nahm neben der Dame im
Auto Platz, ein Winken zu Melchior hin, der über das ganze

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Gesicht lachte, dann wendete der luxuriöse Wägen und
schoß wie ein nur mit Mühe gebändigtes Tier dahin. Doch

nur kurze Zeit, dann ließ das Tempo nach, und ein
forschender Blick der Lenkerin ging zu dem Mädchen hin.
»Nun, mein Fräulein, Sie sind ja nicht zu knapp verregnet.
Hoffentlich holen Sie sich in den nassen Kleidern nicht den
Tod.«
»Ach«, winkte Hariet müde ab, »es wäre nicht das Ärgste,
was mir passieren könnte.«
»Aber, aber! Noch so jung und dann schon so
hoffnungslos? Hat der Schatz Sie im Stich gelassen?«
»Ich habe keinen, gnädige Frau.«
»Soll ich Ihnen das glauben?«
»Unbedingt.«

»Hm. Gehören Sie zu dem feudalen Herrnhagen?«
»Ja, ich gehörte – aber nur als Angestellte.«
»Haben Sie Ihren Dienst gekündigt?«
»Nein, mir ist gekündigt worden«, entgegnete das Mädchen
bitter. »Oder richtiger gesagt: Man hat mich mit Schimpf
und Schande davongejagt.«
»Aus welchem Grunde?«
»Gnädige Frau – bitte – Sie sind mir fremd. Ich habe schon
viel zuviel gesagt.«
»Meinen Sie?«
»Ja. Man soll andere mit seinen Angelegenheiten nicht
behelligen.«

»Mädchen, Sie gefallen mir. Darf ich wissen, wie Sie
heißen?«
»Hariet Hermeran.«
Der Wagen hielt mit einem Ruck. Die blaugrauen Augen
sahen fast bestürzt auf das Mädchen, das wie ein Häufchen
Unglück auf dem Sitz kauerte.
»Wollen Sie mir Ihren Namen bitte noch einmal nennen?«
»Gewiß, gnädige Frau. Ich heiße Hariet Hermeran.«
Einige Herzschläge lang beklemmende Stille, dann wieder
die Frauenstimme, belegt und unfrei.
»Und Ihr Vater?«

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»War der Archäologe Oskar Hermeran. Er starb vor
fünfzehn Monaten.«

Da fuhr die Dame den Wagen scharf nach rechts und
drosselte ihn ab. Zuerst schüttelte sie den Kopf, als könnte
sie immer noch nicht begreifen, was nun wiederum Hariet
nicht begreifen konnte. Was hatte die Dame nur, warum
sah sie sie so merkwürdig an? Und dann sprach die dunkle,
wohllautende Stimme ernst und betont:
»Also meine Nichte.«
»Um Gott, gnädige Frau!« hob Hariet jetzt verstört die
Hände. »Was soll ich sein?«
»Meine Nichte. Oder besser gesagt: Die Nichte meines
Mannes, des Forschers Edwin Hermeran.«
»O Gott«, sagte Hariet jetzt zum zweiten Mal. Dann schlug

sie die Hände vor das Gesicht und weinte, wie ein ratloses,
verzweifeltes Menschenkind nur weinen kann, das nicht
aus noch ein weiß in seiner Not. Regina Hermeran ließ sie
weinen, während ihre Augen selbst in Tränen schwammen.
Dir muß ja das Leben nicht wenig mitgespielt haben, du
armes Ding, dachte sie erschüttert.
Allmählich ließ das heiße Weinen nach, und da sagte die
Tante leise:
»Erzähle mir aus deinem Leben, Hariet – aber restlos alles.«
Und da brach es aus dem gepeinigten Mädchenherzen
hervor. Alles bekam die Tante zu hören, es war die Beichte
eines vom Schicksal arg vernachlässigten Menschenkindes.

Danach war es zuerst einmal beklemmend still, dann sagte
Regina wieder leise:
»Ich habe von deiner Existenz nichts gewußt, Hariet,
überhaupt nichts von der Heirat deines Vaters, da die
Brüder gewissermaßen in Feindschaft lebten. Und dann
pflegt ja jeder persönliche Kontakt abzubrechen. Armes,
liebes Dinglein, das war ja ein richtiger Dornenweg, den du
gehen mußtest bis auf den heutigen Tag. Aber laß nur, jetzt
bin ich da. Ich werde alles nachholen, was andere dir
schuldig geblieben sind.
Doch zuerst einmal ins Hotel, damit du in trockene

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Kleidung kommst. Und dieser hochmütigen, erbärmlichen
Bande in Herrnhagen…«

Ihre Stimme erstickte in Grimm und Groll. Der Wagen
schoß davon und hielt vor dem ersten Hotel der Stadt, wo
Regina Herme ran seit gestern zwei der besten Zimmer
bewohnte. Sie sprach mit dem Portier, und ehe Hariet es
sich so recht versah, stand sie in einem mollig warmen
Zimmer. Sie zitterte so sehr vor Aufregung und Kälte, daß
sie sich in den nächsten Sessel sinken lassen mußte, weil
ihr die Beine einfach den Dienst versagten. Forschend
betrachtete die Tante dieses »Häufchen Unglück«, dann
sagte sie gütig:
»So, mein Kind, jetzt gehst du erst einmal ins Bett und
schläfst dich aus. Alles Weitere wird sich dann finden.« .

Ohne Widerrede ließ sich das erschöpfte Mädchen von der
Tante auskleiden und ins Bett bringen.
»Eine Wärmflasche«, verlangte Regina von dem
Zimmermädchen, das auf ihr Klingelzeichen herbeigeeilt
war. »Und dann einen Glühwein, stark und heiß.«
Eiligst war beides zur Stelle. Und während die Tante der
Nichte das heiße Getränk einflößte, legte das Mädchen
vorsichtig die Gummiflasche an die erstarrten Füße und
lauschte dann erstaunt dem Gespräch, aus dem sie sich
natürlich keinen Reim machen konnte.
»Tante Regina, wie gut, daß es dich gibt. Dich hat mir der
liebe Gott zum Geburtstag geschenkt.«

»Ist der denn heute?«
»Ja. Vor zweiundzwanzig Jahren wurde ich geboren, am
dreizehnten November, zwei Minuten nach zwölf.«
»Huch, wie gruselig, mein Herzchen«, schlug die Tante
absichtlich einen leichten Ton an. »Den Geburtstag müssen
wir feiern, aber erst, wenn du ausgeschlafen hast. Dann
gibt’s für jedes Jahrein Glas Sekt.«
»O wie schön, ich bin ja so glücklich«, tropften die Worte
schon schlaftrunken von den Lippen. * Hariet Hermeran
schlief, verlor sich in Träumen, nur der eine Traum war in
ihrem Gedächtnis wie ausgelöscht. Mit einem Gefühl der.

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Rührung sah Regina Hermeran auf die holde Schläferin
nieder, die ihr das Schicksal heute so ungeahnt zuführte.

Dann sagte sie zu dem Zimmermädchen, das unschlüssig
am Bett verharrte:
»Passen Sie mal auf, Kleine. Sie lassen meine Nichte
schlafen, stören durch nichts diesen Schlaf, sehen nur
öfters nach ihr. Sollte sie wider Erwarten erwachen, bevor
ich wieder hier bin, servieren Sie ihr ein gutes,
schmackhaftes Mahl.«
»Sehr wohl, gnädige Frau«, knickste das Mädchen vor
diesem vornehmen, einflußreichen Gast. Dann entfernte es
sich, und Regina sah nach ihrer Armbanduhr.
»Zwölf«, murmelte sie. »Also werde ich erst einmal in aller
Gemütsruhe tafeln – und dann den zärtlichen Verwandten

in ihr geruhsames Mittagsschläfchen platzen.«
Hätte Hariet Hermeran nur eine Ahnung gehabt, was sich
in dem feudalen Schloß zutrug, nachdem sie es verließ,
wäre ihr Schlaf wohl nicht so tief und fest gewesen.
Denn dort gab es zwischen zehn und elf Uhr eine harte
Auseinandersetzung zwischen Mutter und Sohn.
Rücksichtslos drang dieser in das luxuriöse Schlafgemach
ein und erklärte kurz und bündig, daß er Carol Droik
zwingen würde, das Schloß zu verlassen. Er hätte es bereits
getan, wenn der Mann aufnahmefähig gewesen wäre. Aber
leider wäre er aus dem bleiernen Schlaf des total
Betrunkenen nicht wachzurütteln.

Das alles hörte Dolly mit an, welche die Mutter für diese
Nacht auf den Diwan ihres Schlafzimmers verbannt hatte,
damit dieses reine Kind um Gottes willen nicht mehr mit
der ehrlosen Person Hariet Hermeran zusammen kam.
Aber jetzt konnte der ergrimmte Mann auf seine jüngste
Schwester keine Rücksicht nehmen – und wollte es auch
nicht. Sie war ja jetzt schließlich sechzehn Jahre alt, und es
konnte gar nichts schaden, wenn das wohlbehütete
Baroneßchen zu hören bekam, daß das Leben kein Garten
Eden für alle ist, daß es auch Menschen gab, die außerhalb
des Paradieses lebten, aus dem sie teils mit, teils ohne

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Schuld verbannt waren.
Und nun saß Backfischchen in seinem reizenden

Nachtkleidchen auf dem Diwan und sperrte Mündlein und
öhrlein auf.
»Ja, bist du denn plötzlich wahnsinnig geworden, mein
Sohn?« fragte die Mutter, nachdem sie wieder frei atmen
konnte. »Den Verlobten deiner Schwester willst du aus dem
Haus weisen? Warum denn nur, um alles in der Welt?«
»Weil er ein Schuft ist«, knirschte der ergrimmte Mann
hervor. »Während er Martina umwarb, versuchte er bei
Fräulein Hermeran im trüben zu fischen.«
»Ach, um die geht’s«, höhnte die Baronin – und da schlug
der sonst so rücksichtsvolle Sohn mit der Faust auf den
Tisch, daß nicht nur die Mutter entsetzt zusammenfuhr,

sondern auch ihre Jüngste, und auch die Älteste, die aus
dem Nebenzimmer gelaufen kam, zur Mama ins Bett kroch
und sich zitternd an sie schmiegte.
»Ob diese junge Dame oder eine andere, das ist in diesem
Fall gleich!« peitschte die Männerstimme auf. »Tatsache
bleibt Tatsache. Und die ist, daß dieser Carol Droik
Fräulein Hermeran im Park wie ein Wegelagerer überfiel.
Und wäre Melchior nicht zur Zeit gekommen, dann hätte
dieser gewissenlose Bursche das größte Unheil anrichten
können.«
»Das ist nicht wahr«, weinte Martina auf. »Carol ist ein
Ehrenmann durch und durch. Die Person warf sich ihm an

den Hals, das hat er mir doch selbst geschworen.«
»Nun, diesem Schwur mußt du wohl glauben«, fand Ulf
langsam seine Gelassenheit wieder. »Ich sehe, dir ist nicht
mehr zu helfen, die du durch die Liebe verblendet bist.
Nimm also deinen Ehrenmann Carol und ziehe mit ihm
hin in Frieden.«
Nach diesen ironischen Worten war es zuerst einmal still.
Dann meinte die Mutter maliziös:
»Und warum hast du diesen Schurken nicht schon gestern
zum Haus hinausgejagt, nachdem er deine Heilige belästigt
hatte?«

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Es gab einen knirschenden Laut, so fest biß der Mann die
Zähne zusammen. Man sah, wie er sich mit Aufbietung

aller Kraft zur Ruhe zwang.
»Weil Gäste erwartet wurden«, erwiderte er dann eisig.
»Und den Leutchen eine Sensation zu bieten, untersagte
mir mein guter, bisher unbescholtener Name. Denn
Wespen sind leicht herangelockt – aber nur schwer
vertrieben.«
»Wunderbar ausgetüftelt, mein Sohn«, lachte die Mutter
hysterisch auf. »Aber ich weile lieber in einem Nest von
Wespen als in dem schleimiger Schlangen.«
»Bitte sehr, steht dir frei, Mama. Und somit wäre jeder
Kommentar überflüssig. Komm, Dolly.«
»Das Kind bleibt hier!« kreischte die Mutter, nun aller

Vornehmheit bar. »Ich wünsche es nicht, daß es immer
weiter von dem unreinen Atem der lasterhaften Person
berührt wird.«
»Beruhige dich«, entgegnete der Mann jetzt müde. »Die
>Lasterhafte< ist fort. Und zwar auf Grund deines
Schreibens, das ich in ihrem Zimmer fand.«
»Also hat mein Schreiben seinen Zweck erfüllt«, lächelte
die >würdige< Dame so recht niederträchtig. »Du kannst
jetzt in dein Zimmer gehen, Dolly. Wir jedoch, Martina
und ich, werden in Begleitung des >Schurken< Carot Droik
diese gastliche Stätte verlassen.«
»Bitte«, entgegnete der Sohn eisig. »Aber dann gibt es

hierher kein Zurück.«
»Wollen wir auch gar nicht, mein Herzblatt, wie?«
»Nein, Mamachen«, lächelte das Herzblatt selig. »Unsere
Heimat wird fortan im Zuhause meines Liebsten sein.«
Da wandte Ulf sich brüsk ab und ging hinaus. Er merkte
nicht, daß Dolly ihm auf dem Fuß folgte. Erst als er sich in
seinem Arbeitszimmer stöhnend in den Schreibtischsessel
sinken ließ, fühlte er seine Schulter berührt, sah auf und
mitten in das verstörte Gesichtchen seine* Schwesterleins
hinein.
»Nun. Dolly, wie ist’s?« fragte er bitter. »Zu welcher Partei

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gehörst du?«
»Zu deiner natürlich«, weinte die Kleine heiß auf. »Laß

mich nicht allein, Ulf – bitte! Laß mich nicht allein!«
»Na schön, dann zieh dich an und komm mit mir. Ich
gedenke nämlich nach Prahlen zu fahren, wo mir noch ein
Kampf gegen Verächtlichkeit und Mißtrauen bevorsteht.«
Und das sollte ihm tatsächlich werden, als er mit der
Schwester bei den Verwandten eintraf. Kühl nahm man sie
auf. Selbst die junge Dietlind, die gleich Dolly heute vor
Aufregung die Schule schwänzte.
»Ja, so stehen wir denn vor euch, gewissermaßen nackt und
bloß«, sprach Ulf bitter in das eisige Schweigen hinein.
»Aber ich möchte euch zu bedenken geben, daß manchmal
der Schein trügt.«

»Hm«, meinte der Hausherr mit einem durchdringenden
Blick in das Gesicht des Neffen, das hart und blaß war.
»Doch zuerst einmal die Frage: Wo ist Hariet?«
»Das weiß ich nicht«, kam es müde zurück. »Sie hat auf ein
Schreiben meiner Mutter hin heute früh das Schloß
verlassen.«
»Na ja, geschehen ist geschehen, daran läßt sich nichts
mehr ändern. Nehmt Platz und erzählt ausführlich.«
Das tat zuerst einmal Dolly mit bitterlichem Weinen.
»Glaubt mir doch, Tante und Onkel, ich hätte Hariet nicht
fortgelassen. Aber die Mama hielt mich fest, schleifte mich
sogar zur Nacht in ihr Zimmer, das sie abschloß. Wie sollte

ich da wohl entkommen?«
»Da hast du recht«, bestätigte der Onkel betroffen. »Und
du, Ulf, warum warfst du diesen Lumpen nicht einfach
zum Haus hinaus?«
»Weil Gäste da waren, Onkel Ludwig. Darunter recht
sensationslüsterne Leutchen, wie du ja selbst weißt. Ich
wollte vermeiden, daß die traurigen Verhältnisse bei uns
zum Gaudium an Biertischen und Damenkaffees werden.«
»Da allerdings muß ich dir beipflichten. Und wie ist es
jetzt? Gedenkst du diesen minderwertigen Carol Droik
immer weiter zu hätscheln?«

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»Das habe ich weiß Gott nicht getan«, kam es knapp
zurück. »Der Mann wäre schon längst aus dem Haus, aber

es war mir einfach nicht möglich, ihn wach zu kriegen. Er
hat viel getrunken und sich in diesem Rausch mit Martina
verlobt. Leider konnte ich das nicht verhindern, ohne eine
widerliche Szene heraufzubeschwören. Denn Mama und
Martina sind ja wie versessen auf diesen Menschen. Wollen
sogar Herrnhagen aufgeben und mit ihm ziehen. Das
haben sie mir noch vor einer Stunde erklärt.«
»Dann laß sie laufen!« rief der Onkel erbost dazwischen.
»Laß sie durch Schaden klug werden, diese hirnverbrannten
Gemüter. Aber wehe, du nimmst sie wieder in Gnaden auf,
wenn sie zu Kreuze kriechen!«
»Keine Angst, jetzt gibt es kein Pardon mehr. Sollte Mama

nach Herrnhagen zurückkehren, wird sie im Witwenhaus
wohnen.«
»Hoffentlich. Und was wird aus Dolly?«
»Die bleibt bei mir, der ich auf Wunsch meines Vaters ihr
Vormund bin.«
»Na, Gott sei Dank! Dein Vater war ein kluger,
weitschauender Mann, mein Junge, der ganz genau wußte,
was für Scherereien deine liebe Mama dir noch bereiten
würde. Daher der Köder mit dem Witwenhaus oder besser
gesagt: Den Köder mit der Auszahlung. Hoffentlich bist du
jetzt kuriert und nicht mehr so penibel auf den
Sohnesrespekt bedacht.«

»0 nein. Dafür ist die Medizin zu bitter, die ich jetzt
schlucken muß.«
Man nahm im Prahlener Herrenhaus nach dem
Mittagessen gerade den Mokka ein, als plötzlich eine
weibliche Gestalt auf der Schwelle stand – sehr schick, sehr
apart, sehr verwegen. Ein Fluidum ausstrahlend von der
Welt, die fern und geheimnisvoll ist.
»Nun starrt mich nicht so entsetzt an«, sprach dieses
geheimnisvolle Wesen ganz menschlich und amüsiert. »Ich
bin es wirklich – nicht etwa mein Geist.«
»Regina!« schrie Alice da auf wie in schwerster Not. »Wo

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kommst du denn so plötzlich her?«
»Auf ganz unabenteuerlichem Wege«, kam es trocken

zurück. »Und zwar im Auto aus der Stadt.«
Jetzt hatte sich auch Ludwig soweit gefaßt, daß er die
unerwartete Base in leidlicher Haltung begrüßen konnte.
Auch Dietlind drängte sich heran, entzückt, diese berühmte
Tante von Angesicht zu schauen.
»Was ist denn das für ein Firlefänzchen?« fragte Regina
lachend. »Etwa eure Tochter?«
»Jawohl«, gab Ludwig vergnügt zurück. »Wir haben auch
noch einen um vier Jahre älteren Sohn, der aber im
Internat ist. Eigentlich komisch, Gina, daß wir dir als
Verwandte unsere Familienverhältnisse klarlegen müssen.«
»Es ist vieles komisch im Leben«, versetzte sie ungerührt,

und dann ging ihr Blick zu den Geschwistern hin, die sich
im Hintergrund gehalten hatten.
»Unsere Nichte, Baronesse von Eggeroth, unser Neffe,
Baron von Eggeroth«, stellte Ludwig leicht verlegen vor –
und da umgab die Angekommene etwas, das man mit
einem Hauch eisiger Kälte bezeichnen konnte. Es war sehr
still im Zimmer, bis dann die dunkle, melodische Stimme
sprach:
»Ach, Sie sind das – na ja.« Was sie damit meinte, ließ sich
nicht ergründen – doch es wirkte wie eine Ohrfeige.
»Komm, Gina, mach es dir gemütlich«, sagte Ludwig hastig.
Geschäftig nahm er ihr den Mantel ab, placierte sie in

einen Sessel.
Und da saß sie nun, die ihrem Gatten Kameradin gewesen
war durch dick und dünn. Hatte keine Gefahren gescheut,
keine Strapazen, nicht Hunger und Durst, Hitze und Kälte.
Die wochenlang im Zelt kampierte und dann wiederum in
den Luxushotels aller fünf Erdteile die große Dame war.
Was Wunder, wenn das einen Menschen kennzeichnete,
ihm gewissermaßen den Stempel aufdrückte. Ihn zu einer
Persönlichkeit werden ließ, die gewiß nicht alltäglich war.
Sie war rassig, die Frau, rassig bis in die Fingerspitzen.
Hoch und schmal die Gestalt, kühngeschnitten das Gesicht,

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was noch das Monokel und der kurze, glatte Haarschnitt
hervorhob. Klug und geistreich, schlagfertig und ironisch,

liebenswürdig und charmant, immer frohgemut und guter
Dinge, niemals schlecht gelaunt, so vital Spottete sie ihrer
fünfzig Jahre.
Also konnte man von dieser fast einmaligen Frau nicht
verlangen, daß sie sich mit langen Erklärungen abgab. Daß
sie das zu tun pflegte, was man mit der Tür ins Haus fallen
nennt. Ergo sagte sie, was die andern vor Überraschung
zuerst einmal fassungslos werden ließ:
»Ich habe Hariet bei mir. Ganz zufällig traf ich sie auf der
Chaussee, als sie, von diesem famosen Gärtner Melchior
‘geführt’ – zum Bahnhof wollte – vom Regen durchnäßt,
am Leben verzweifelt, arm, verlassen, wie ein getretener

herrenloser Hund. Kennt ihr denn hier überhaupt kein
menschliches Erbarmen?!«
Da weinte Dolly heiß auf, und auch die andern schauten
verstört drein. Des Freiherrn Antlitz war hart und blaß.
»Ein Skandal ist das!« fuhr die Stimme unbarmherzig fort.
»Aber jetzt bin ich da. Und wehe demjenigen, der diesem
bedauernswerten Geschöpf, das bisher immer nur im
Schatten des Lebens stand, auch nur ein Härchen zu
krümmen versucht!«
»Das wollen wir ja gar nicht«, begütigte der Vetter. »Hariet
hat das bestimmt alles falsch aufgefaßt, was sie dir
wahrscheinlich erzählte.«

»Natürlich«, höhnte sie dazwischen. »Es ist ja so hübsch
bequem, seine Schuld auf andere abzuwälzen. Wenn die in
Herrnhagen so, schändlich versagten, hättest du dich der
Kleinen annehmen müssen, Ludwig. Denn wie sie mir
erzählte, warst du und die Deinen so ganz lieb zu ihr. Ein
sanftsäuselndes Gefühlchen, das gleich bei der ersten Probe
vollständig versagte – schämt euch!«
»Aber Gina, so ist es doch nicht! Her mich doch erst einmal
an.«
»Nein!« unterbrach sie den Vetter schroff.
»Entschuldigungen laß ich nicht gelten, ich halte mich an

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die Tatsachen. Und eine davon ist, daß du mich schwer
enttäuscht hast, Ludwig. Du warst doch früher ein so

warmherziger Mensch.«
»Und ist es auch heute noch«, fuhr jetzt Alice der Base
gewissermaßen in die Parade. »Ich muß schon sagen, daß
du recht einseitig urteilst, Regina.«
»Ach so, dann hat mich Hariet also angelogen.«
»Gina, sei doch nicht so entsetzlich ironisch. Von Lügen
kann natürlich nicht die Rede sein, das traue ich Hariet
nicht zu. Aber diese weiß ja gar nicht, was sich, nachdem
Melchior sie in ihr Zimmer brachte, unten zutrug.«
»O ja, das wußte sie wohl. Man feierte unten herrlich und
in Freuden Verlobung. Willst du das etwa auch abstreiten?«
»Nein.«

»Also! Übrigens soll diese Schurkerei des Salonbürschchens
Carol Droik nicht ungeahndet bleiben. Ich kenne ihn
zufällig und auch seinen Vater. Ein anständiger, biederer
Mann, der an seinem Sohn nicht viel Freude hat. Und der
fackelt nicht lange, dessen bin ich gewiß. Ergo: Wird nach
meinem Schreiben ein hartes Strafgericht erfolgen!«
»Herrlich!« rief da Dietlind begeistert, die mit Dolly in
einem Sessel saß und gleich ihr dickverweinte Augen hatte.
»Besorge diesem Lumpen nur eine gehörige Tracht Prügel,
Tante Regina.«
Da mußte diese denn doch lachen – und somit war der
Bann gebrochen. Impulsiv sprang Dietlind auf, setzte sich

zur Tante auf die Sessellehne und sah sie treuherzig an.
»So unbarmherzig, wie du annimmst, sind wir alle nicht«,
erklärte sie eifrig. »Wir haben die Hariet sogar lieb.«
»Das habt ihr ja auch bewiesen«, kam es trocken zurück.
»Na, Schwamm drüber, an Geschehenem läßt sich nichts
mehr ändern. Gib mir einen Mokka, Alice, damit ich meine
geengte Kehle anfeuchten kann. Ich bin weiß Gott nicht
rührselig. Aber der Anblick dieses kleinen Elendbündels auf
der Chaussee hat mich denn doch gepackt.«
Mit Genuß nippte sie den Mokka und wurde fortan
friedlicher. Daher wagte auch der Vetter die Frage:

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»Wo ist Hariet jetzt?«
»In's Hotel Kaiserhof eurer Kreisstadt, wo ich abgestiegen

bin. Ich habe dort das erbärmlich frierende, erschöpfte
Menschlein zu Bett gebracht und hoffe, daß es nicht krank
werden wird. Und ich muß schon sagen, daß Gottes Wege
doch wunderbar sind.
Denn wie hätte es sonst wohl geschehen können, daß ich
ausgerechnet auf der Chaussee meiner Nichte begegne, von
deren Existenz ich überhaupt keine Ahnung hatte? Es gab
mir direkt einen Stich ins Herz, als dieses liebe Dinglein
kurz vor 4em Einschlafen so rührend sagte: Tante Regina,
wie gut, daß es dich gibt. Dich hat mir der liebe Gott zum
Geburtstag geschenkt.«
»Also hat sie heute sogar noch Geburtstag?« fragte Ludwig

betroffen.
»Jawohl – auch das noch.«
»Willst du sie jetzt bei dir behalten?« fragte Alice leise, und
die Base sah sie verwundert an.
»Na, was denn sonst? Glaubst du etwa, ich ließ dieses vom
Schicksal getretene Häuflein Mensch noch jemals von mir?
Dem soll jetzt werden, was ihm das unbarmherzige Leben
bisher versagte: Mutterliebe^imd ein trautes Zuhause.
Schade, daß ich diesen verbohrten Bruder meines Mannes
nicht mehr zur Rechenschaft ziehen kann, der seinem Kind
alles schuldig blieb. Es einfach aus Bequemlichkeit dieser
engstirnigen, geizigen Tante übergab. Hätten Edwin und

ich nur eine Ahnung gehabt, wäre 4as Leben der Kleinen
anders verlaufen. Aber dieser fanatische Gelehrte brach ja
brüsk jede Verbindung mit uns ab und nur aus Berufsneid.
Na ja, jetzt ist er tot.«
Danach war es erst einmal still, bis Ludwig fragte:
»Willst du jetzt in der Heimat bleiben, Gina?«
»Ja. Es zieht mich nun nichts mehr in die Feme, seitdem
ich meinen prächtigen Lebenskameraden verlor.«
Die Stimme schwankte, ein heißer Schmerz brannte in den
Augen der Frau. Doch schon hatte sie sich wieder gefaßt
und fuhr ruhig fort:

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»Ich habe ihn unter Afrikas heißer Sonne lassen müssen,
wie es sein Wunsch war. Aber sein Werk will ich

weiterführen vom Schreibtisch aus, wozu mir die
wertvollen Aufzeichnungen verhelfen werden. Ich hoffe,
dabei in Hariet einen Famulus zu finden, wie sie es ja
schon bei ihrem Vater war. Und der verstand eine ganze
Menge. Schade, daß er so verbohrt war und sich nicht mit
seinem Bruder zusammentat.«
»Wo gedenkst du dich nun niederzulassen, Gina?«
»Irgendwo – nur schön muß es da sein, Ludwig. Schön und
friedlich.«
»Da weiß ich guten Rat«, wurde der Mann jetzt lebhaft.
»Auf unserem Weg zur Stadt, ungefähr drei Kilometer von
dieser entfernt, liegt ein Schlößchen, das sich vor Jahren

mal ein regierender Fürst als Buen Retiro und als Gefängnis
seiner jeweiligen Kurtisane erbauen ließ. Bis dann diese
Zeit der >Galanterie< aufhörte, da stand es immer wieder
zum Verkauf, wie auch jetzt. Das kleine Anwesen ist
wirklich idyllisch gelegen, allerdings etwas verwahrlost.
Um es zu renovieren, dazu gehört Geld. Aber das hast du ja
wohl, Regina?«
»Daran ist kein Mangel. Willst du den Kauf vermitteln,
Ludwig?«
»Gern, Gina. Aber zuerst wirst du dir das Schlößchen wohl
ansehen müssen. Denn man pflegt, wie man so sagt, nicht
die Katze im Sack zu kaufen.«

»Da hast du recht. Leite bitte schon alles in die Wege.«
»Schön. Wo willst du bis dahin wohnen?«
»Im Hotel.«
»Das ist ungemütlich, Regina. Unser Haus steht dir offen.«
»Herzlichen Dank. Sehr lieb von dir gemeint, aber vergiß
bitte nicht, daß ich Hariet bei mir habe – und daß diese
Hariet verbittert und mißtrauisch geworden ist infolge
böser Erfahrungen. Zwar kenne ich das Mädchen so gut wie
gar nicht, aber ich glaube, es besitzt – Stolz. Also wird es
nicht leicht sein, das Vertrauen, das sie in bitterer Not zu
euch verlor, aufs neue wiederzufinden.«

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»Regina, was bist du doch für eine prächtige Frau«,
erwiderte der Vetter warm. »Und welch eine gute

Menschenkennerin.«
»Das wird man bei so einem Zigeunerleben, das ich bisher
führte«, entgegnete sie lachend. »Und jetzt muß ich ins
Hotel zurück, damit ich zur Stelle bin, wenn mein Kind,
das mir so ohne mein Zutun in den Schoß fiel, erwacht.
Bleibt es nun dabei, daß du den Kauf des Schlößchens für
mich vermittelst, Ludwig?«
»Worauf du dich verlassen kannst, Regina.«
»Verflixte Geschichte«, brummte er, als die Base abgefahren
war. »Gina hat recht. Wir haben in bezug auf Hariet
allesamt schmählich versagt.«
Es war schon gegen Abend, als Hariet aus tiefem Schlaf

erwachte. Sie mußte sich zuerst besinnen, wo sie überhaupt
war. Und als sie das erfaßt hatte, glaubte sie dennoch an
einen wundersamen Traum.
Denn es konnte doch wohl kaum Wirklichkeit sein, daß
diese Tante, von der sie immer nur gehört, plötzlich da
war, als sie sich in Not befand, sie in dem feudalen Auto
mitnahm und sie in einem mollig warmen Hotelzimmer
zu Bett brachte? So was gab es doch gar nicht, höchstens
nur in Märchen.
Allein, es schien wahr zu werden, das Märchen vom
Aschenputtelchen. Und wenn es auch kein Prinz war, der
sich zeigte, so immerhin eine gute Fee, die vor ihrem Bett

stand und lachend sagte:
»Du hast aber einen gottgesegneten Schlaf, Kleines.
Hunger?«
»Nicht sehr. Ich frühstückte ja bei Melchior.«
»Das ist schon lange her, mein Kind. Also wollen wir mal
gemütlich tafeln.«
Und da die arme, bisher vom Leben so arg vernachlässigte
Hariet Hermeran weiter in Märchenstimmung bleiben
sollte, stand dann auch wie hingezaubert ein
Tischleindeckdich vor dem Bett, auf dessen Rand die
märchenhafte Tante Regina saß und mit der Nichte um die

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Wette schmauste. Bis dieser dann etwas einfiel.
»Bitte, Tante Regina, willst du wohl so lieb sein und mir

meinen Handkoffer reichen?« bat sie schüchtern die Tante,
die ihr noch immer so unwirklich vorkam. Denn Tanten
pflegen ja eigentlich nicht vom Himmel zu fallen. Schon
gar nicht so charmante und so Respekt einflößende.
Als der gewünschte Koffer vor Hariet stand, klappte der
Deckel hoch und zwei Päckchen, hübsch säuberlich von
Pergamentpapier umhüllt, lagen den Augen frei.
»Das ist mein Proviant, den Melchior mir mitgab«, erklärte
die Nichte der amüsiert lächelnden Tante. »Denn ich sollte
ja erst am Nachmittag in dem Pfarrhaus ankommen.«
»Sag, Kleine, dieser Melchior ist wohl so eine Art
Hellseher?«

»Man hält ihn jedenfalls dafür«,’ mußte Hariet zugeben.
»Aber er sagt, daß Gott nur allein allmächtig ist. Wollen wir
nicht die Brote essen? Es ist doch zu schade, daß sie
umkommen.«
»Denn man zu. Vor Brot darf man nie die Ehrfurcht
verlieren, das habe ich bei meinem Zigeunerleben
erkennen gelernt. Brot ist und bleibt nun mal eine
Gottesgabe.«
»Ja«, bestätigte Hariet. »Und Kartoffeln. Wenn man das hat,
kann man nie verhungern, sagte Tante Berta immer. Alles
andere ist Schlemmerei.«
Regina hätte in diesem Fall viel antworten können, doch

sie schwieg und sah interessiert zu, wie Hariet die
Pergamentpapierhülle löste. Was dann zum Vorschein
kam, war nicht Brot, sondern ein grüner Umschlag, wie
man ihn für Geschäftsbriefe zu verwenden pflegt. Und was
die zitternden Mädchenhände dann aus dem Umschlag
zogen, waren fünf Hundertmarkscheine.
»O Gott«, sagte Hariet entsetzt. »Wo kommen die denn
her! Soll denn das Märchen gar kein Ende’ nehmen?«
»Nun, an diesem Geld finde ich durchaus nichts
Märchenhaftes«, lachte Regina amüsiert. »Das hat dir dein
Beschützer Melchior ganz einfach ins Brotpäckchen

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geschmuggelt.«
»Und hat damit bestimmt seine Ersparnisse geopfert«, fiel

Hariet erregt ein. »Er verdient doch nicht viel an barem
Geld und muß daher lange sparen, bis er so eine Summe
zusammen hat. Ob ich sie ihm zurückgebe?«
»Nein, mein Kind«, sprach die Tante jetzt tiefernst. »Du
würdest damit den Mann bitter kränken – und das willst
du doch nicht?«
»Um alles nicht! Das hat er wahrlich nicht um mich
verdient.«
»Na also. Steck das Geld nur ruhig ein. Es wird sich mit der
Zeit schon etwas finden, womit wir dem Mann seine Güte
vergelten können. Vor allen Dingen werben wir ihn
morgen aufsuchen, um ihn über dein Geschick zu

beruhigen.«
»Bitte, Tante Regina, ich möchte den Herrnhagener Park
nicht mehr betreten. Und das muß man, wenn man zu
Melchior gelangen will.«
»Das kann ich verstehen, mein Kind. Dann schreib deinem
Melchior. Oder soll ich das tun?«
»O ja, Tante Regina, Du kannst das bestimmt viel besser als
ich.«
Also erhielt der Gärtner Melchior einen Brief, den er mit
tiefer Befriedigung, las und ihn dann in den Kasten tat, der
das barg, was dem Mann lieb und teuer war.
Hariet jedoch geriet in einen Wirbel von Geschehnissen

hinein, der sie kaum zur Besinnung kommen ließ. Man
zählte bereits vier Tage vor Weihnachten, als man endlich
in dem renovierten Schlößchen saß, das fortan
Aschenputtelchens Heimat sein sollte.
Aschenputteichen? Nun, davon konnte jetzt wirklich keine
Rede mehr sein. Denn Aschenputtelchen war in den fünf
Wochen eine Dame geworden, elegant und bezaubernd
schön. Hariet staunte selbst darüber – und die Tante freute
sich.
Gerade so hatte sie sich immer ein Töchterlein gewünscht,
das sie sich jedoch in ihrem unruhigen Leben nicht leisten

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konnte – nicht leisten durfte, wenn das kleine Wesen nicht
bei fremden Menschen aufwachsen sollte. Und ihren so

leidenschaftlich geliebten Mann allein in die Ferne
schweifen lassen – unmöglicher Gedanke! Da verzichtete
sie lieber auf Mutterfreuden und blieb dem Gatten geliebte
Kameradin durch dick und dünn.
Doch jetzt war er tot. War mit siebzig Jahren mitten aus der
Arbeit gerissen worden.
Ein schöner Tod – aber äußerst schmerzvoll für die Gattin,
die dieses plötzliche Dahinscheiden zuerst gar nicht fassen
konnte. Alles, woran sie mit treuem Herzen hing, war
vorbei und entschwunden. Sie stand jetzt allein.
Aber nicht lange. Dann ließ das Schicksal die allzeit tapfere
Frau eine Nichte finden, für die zu leben es sich lohnte.

Das Vertrauen beglückte sie, das dieses schöne, scheue
Menschenkind nach und nach zu ihr fand. Und da sie ein
Mensch von raschen Entschlüssen war, fackelte sie nicht
lange, sondern erschien nach einer herzbewegenden
Unterredung mit Hariet an maßgebender Stelle und
erklärte kurz und bündig:
»Ich möchte die Nichte meines verstorbenen Mannes
adoptieren. Also bitte, meine Herren, lassen Sie mal Ihren
Amtsschimmel ausnahmsweise munter traben. Denn – ich
möchte noch zu Weihnachten Mutter werden.«
Lachend versprach man der charmanten Witwe des
berühmten Forschers, sogar die Peitsche zu gebrauchen,

und da alle erforderlichen Unterlagen vorhanden waren,
traf tatsächlich gerade am Heiligabend die Bestätigung der
Adoption ein, die dann Regina dem Mädchen unter die
Nase hielt, im Schein der brennenden Kerzen.
»So, mein Kind, damit ich dich fest habe für alle Zeit. Ich
bin jetzt deine Mutter, also liebe und ehrfürchte mich. Und
schau nicht so begriffsstutzig drein, so was gefällt mir an
meiner Tochter nicht.«
Und dann brach die Freude bei Hariet durch. Sie war so
herzrührend, daß Regina die Tränen kamen, weswegen sie
sich aber gleich hinterher schämte.

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Und dann stahl sich der Muttername über die Lippen des
jungen Menschenkindes, das ihn ja nie hatte aussprechen

dürfen. Und dann wurde aus dem scheuen, zaghaften
Mutter, das zärtliche Mutz.
»Na also«, lachte Regina. »Das paßt am besten zu mir. Aber
was klemmst du da so fest unter den Arm?«
»Meine Weihnachtsgabe für dich. Und zwar sind es
Aufzeichnungen meines Vaters. Ich glaube, daß sie dich
interessieren werden.«
»Kind, die sind ja ein Vermögen wert«, sagte Regina
betroffen, nachdem sie das Buch durchgeblättert hatte.
»Und wie mich das interessiert, da hupft sogar mein Herz
vor Freude. Das beuten wir aus – und zwar unter dem
Namen deines Vaters.«

»O ja, das tun wir, Mutz. Aber jetzt habe ich keine Zeit,
jetzt muß ich mich erst über meinen Gabentisch freuen.
Aber nein, ich kann mich ja doch nicht freuen – ich bin ja
eigentlich betrübt.«
»Ein komisches Kuddelmuddel von Empfindungen«,
schmunzelte Regina. »Woher denn diese plötzliche
Betrübnis?«
»Wegen Melchior. Ob wir ihn herbitten und mit ihm
zusammen feiern?«
»Nein, du Dummes, damit täten wir diesem Mann keinen
Gefallen. Der fühlt sich in seiner Einsamkeit am wohlsten.
Aber vergessen ist er nicht. Ich habe mir nämlich erlaubt,

ihm in deinem Namen ein kleines Paket zu schicken, in
dem sich auch Samen von Orchideen befindet. Das wird
dem Blumenzüchter bestimmt die größte
Weihnachtsfreude sein.«
Und das stimmte. Mit einem Schmunzeln ließ Melchior
den Samen behutsam durch seine braunen Finger gleiten.
Sein Gärtnerherz feierte Weihnacht wie kaum im Leben
zuvor.
Aber nicht jedem ward so ein beglückendes, besinnliches
Weihnachtsfest beschieden. Und dazu gehörten erst einmal
die Baronin Klarissa und ihre Tochter Martina. Ganz anders

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hatten sie sich diese Weihnacht gedacht und zwar im Kreise
der Familie Droik. Aber ach, mit diesem Carol hatten sie

alles auf eine Karte gesetzt – und somit alles verloren.
Denn als sie an dem denkwürdigen dreizehnten
November, nach der scharfen Auseinandersetzung mit
Sohn und Bruder zu dem so ungerecht Beschuldigten
flüchten wollten, fanden sie ihn nicht mehr vor. Er hatte
sein Heil in der Flucht gesucht.
Das war für die Damen ein harter Schlag. Und der bald
darauf folgende war nicht weniger hart, als Ulf aus Prahlen
zurückkehrte und zwischen sich und der Mutter
gewissermaßen das Tischtuch zerschnitt.
Fort wäre der vielgeliebte Carol? Das war ja nun wirklich
die beste Lösung. Denn die Verlobung, die ein Betrunkener

proklamierte, wäre immerhin leichter zu lösen als die Ehe
mit so einem zweifelhaften Ehemann.
»Ulf, kennst du denn kein menschliches Erbarmen?!«
schrie die Mutter, nachdem der Sohn ihr eiskalt diesen
Unterschied zwischen Verlobung und Ehe klargemacht
hatte. »Siehst du denn gar nicht, wie deine arme Schwester
leidet?«
»Nein«, kam es ungerührt zurück. »Wäre sie ein
unerfahrenes Mädchen von vielleicht achtzehn Jahren,
würde ich diesen Reinfall bedauern. Aber sie ist acht Jahre
älter und hat außerdem eine Mutter, die sie leitet.«
»Ulf, du bist erbarmungslos!«

»Habe ich schon einmal gehört. Geh jetzt erst einmal auf
Reisen, bis Gras über die blamable Angelegenheit
gewachsen ist. Wenn ihr zurückkommt, ist das Witwenhaus
instandgesetzt, in dem du dann leben wirst, Mama. Das
Geld, das dir testamentarisch zusteht, liegt bereit. Martina
jedoch bleibt es überlassen, ob sie bei dir wohnen will oder
hier.«
»Bei mir natürlich, du entarteter Sohn und Bruder!« schrie
die Mutter wütend, rauschte hocherhobenen Hauptes ab –
und ihr Liebling hinterdrein.
So ging man denn auf Reisen und lebte herrlich und in

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Freuden. Warum auch nicht? Man hatte ja Geld, viel Geld
sogar. Allein, auch der tiefste Brunnen schöpft sich aus.

Doch vorläufig konnte man noch lustig schöpfen, feierte
Weihnacht ganz groß – und war doch nicht so ganz
zufrieden. Je mehr der Mensch hat, je mehr er eben will.
Das traf bei Dolly nun allerdings nicht zu. Sie war nicht
unzufrieden, sie war traurig, als sie mit dem Bruder so ganz
allein Weihnacht feierte. Man hatte sich beschenkt,
reichlich sogar, aber das Herz blieb leer.
»Ach, Ulf, warum müssen wir so verlassen sein«, klagte die
Kleine. »Komm, laß uns nach Prahlen fahren. Da kann ich
mich wenigstens mit Lutz zanken.«
»Immerhin etwas«, lachte er amüsiert. »Zieh dich aber
warm an, denn draußen weht ein kühles Lüftchen.«

Nicht lange danach saß man im Schlitten und fuhr Prahlen
zu. Es war bitterkalt draußen, doch umso wärmer war es im
trauten Wohngemach, wo die Familie Warring bei der
Weihnachtsbowle saß. Mit Hallo wurden die
Ankommenden begrüßt.
»Sehr vernünftig von euch, herzukommen und nicht zu
Hause Trübsal zu blasen«, lärmte der Onkel aufgeräumt.
»Reiht euch ein in unsere gemütliche Runde.«
Man tat’s, und Dolly seufzte tief auf.
»Schön ist das hier. Und Bowle gibt es auch, herrlich! Na
denn Prosit allerseits!«
Man trank sich zu und starrte dann verblüfft auf den

Weihnachtsmann, der plötzlich in der Tür stand und gar
grimmig mit der Rute drohte.
»Die gebührt euch, ihr Ungezogenen!« brummte eine tiefe
Stimme. »Aber ich will diesmal noch Gnade walten lassen.«
»Regina!« rief der Vetter lachend dazwischen. »Nun gib
man hier nicht so an. Runter mit dem Sack vom Rücken,
ausgeschüttet die Gaben!«
Im Nu war der prächtige Weihnachtsmann umringt,
jubelnd wurde der Sack entleert. Vier Pakete kamen zum
Vorschein, alle fein säuberlich mit Namen versehen.
Neugierig packte man aus – und fand gerade das darin, was

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man sich gewünscht hatte.
»Nun sag mal, Ludwig, woran hast du mich eigentlich

erkannt?« fragte Regina enttäuscht. »Ich glaubte mich so
wunderbar getarnt.«
»Und dennoch tatest du es nicht gründlich genug«, kam es
schmunzelnd zurück. »Denn ein Weihnachtsmann pflegt
keine Damenpumps zu tragen.«
Da brandete ein Gelächter auf, das kein Ende nehmen
wollte. Es ebbte erst ab, als Hariet näher trat, die sich auf
Reginas Geheiß verborgen gehalten hatte, um durch ihre
Anwesenheit den Weihnachtsmann nicht zu verraten.
Es war das erste Mal seit Hariets Fortgang aus Herrnhagen,
daß sie wieder unter die Menschen trat, die ihr so weh
getan. Regina hatte ihre ganze Überredungskunst

anwenden müssen, um das Mädchen nach Prahlen zu
bekommen.
Und nun stand eine ganz andere Hariet Hermeran da. Eine,
die fremd wirkte in ihrer eleganten Kleidung und dem
leicht spöttischen Lächeln. Man begrüßte sich auch fast wie
Fremde, und es war der Gewandtheit der Weltdame Regina
zu danken, daß es zu keiner peinlichen Situation kam. Sie
schälte sich mit so drolligen Bemerkungen aus ihrer
Verkleidung, daß man Tränen lachte.
»Bist doch ein charmantes Frauenzimmerchen«, meinte der
Vetter anerkennend, und sie sah ihn verschmitzt an.
»Bitte sehr, mir gebührt jetzt Ehre.«

»Die gebührt dir schon immer, Tante Regina«, meldete sich
der Sohn des Hauses, der von dieser Tante sofort hell
begeistert war. »Du bist nicht nur charmant, du bist einfach
phänomenal.«
»Du hast den Sinn erfaßt, mein junger Held«, betrachtete
sie vergnügt den hübschen Krauskopf, den sie jetzt erst
kennenlernte. Und er gefiel ihr, genauso wie die anderen
Warrings.
Als man dann später der vorzüglichen Bowle zusprach,
sagte Regina etwas, das die andern nicht wenig verblüffte –
und zwar:

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»Ich habe ein Kind gekriegt.«
»Huuuch!« schrie Dietlind erschrocken auf, was die andern

auch beinahe getan hätten. Und Regina lachte, ihr
Monokel blitzte. .
»Ja, ja, meine Herrschaften, es geschehen ja doch noch
Zeichen und Wunder. Betrachtet nur mein Kind genau –
gefällt es euch?«
Eine neckische Kopfbewegung zu Hariet hin, dann eine
großartige Handbewegung.
»Darf ich vorstellen: Hariet Hermeran-Hermeran. Seit heute
meine amtlich besiegelte Adoptivtochter.«
Augenblicklang noch ein Wie-nicht-begreifen – dann
herzliches, befreiendes Gelächter.
»Ich sage ja, Tante Regina ist phänomenal!« rief Lutz der

Begeisterung voll.
»Lassen wir hochleben Mutter und Kind!«
Nachdem das geschehen war, fragte Ludwig schmunzelnd:
»Nun sag mal, Gina, wie hast du diese Adoption so schnell
bewerkstelligen können? So was braucht bei den Behörden
doch seine gute Weile.«
»Ich habe den maßgebenden Herren gesagt, ich müßte
Weihnachten unbedingt Mutter werden, daher möchten sie
ihren Amtsschimmel in Trab setzen. Man versprach mir,
sogar die Peitsche zu benutzen – und bitte sehr, der Erfolg
ist da.«
O ja, er war da – und zwar ein zauberhafter. Denn anders

konnte man das junge Menschenkind nicht bezeichnen,
das da so lässig im Sessel lehnte. Es hatte in den sechs
Wochen schon viel von seiner jetzigen Pflegemutter
gelernt. Von der Angestellten Hariet Hermeran war nichts
übriggeblieben, schon gar nichts von dem
Aschenputtelchen, das bei der Frau Baronin nebst gnädiger
Tochter Zofendienste verrichten mußte.
Jetzt hatte sie selbst eine Zofe mit ihrer Mutz gemeinsam.
Aus dem Aschenputtelchen war tatsächlich über Nacht ein
Prinzeßlein geworden – und der Prinz würde bei dieser
Erbtochter wohl nicht lange auf sich warten lassen.

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Obwohl Hariet mit den andern scherzte und lackte, ging
doch ein gewisses Etwas von ihr aus, das zu warnen schien:

Bitte nicht zu intim – denn ich habe den zwölften
November nicht vergessen.
Das empfand wohl am schmerzlichsten die kleine Dolly.
Sie mußte immer wieder die Tränen zurückdrängen, die
aus dem betrübten Herzchen hinauf wollten. Was sollte sie
Hariet wohl sagen, wie sich rechtfertigen? Erstens wagte sie
es bei diesem so wundersam veränderten Mädchen nicht,
und dann würde es ihr auch nicht glauben.
Am unbefangensten von allen war Lutz. Denn er kannte
das Geschehnis nur durch die Erzählung der Eltern. Und
das ist immer anders, als wenn man etwas direkt miterlebt.
»Hör mal, Hariet, ich habe eben von Tante Regina gehört,

daß du so wunderbar Klavier spielen und singen kannst.
Willst du das jetzt nicht tun?«
»Nein«, kam es freundlich lächelnd zurück. »Ich bin hier
Gast. Aber ich höre andere sehr gern musizieren.«
»Bist du aber unfreundlich.«
»Nicht wahr?«
»Ja, ja, meine Kleine hat Stacheln«, lachte Regina amüsiert.
»Dann stutze sie ihr doch.«
»Ich denke gar nicht daran. Aber wie wäre es, wenn ihr uns
morgen allesamt besuchtet? Dann ist Hariet nämlich
Gastgeberin und wird sich den Wünschen der Gäste fügen
müssen.«

»Einfach großartig!« strahlte der frische Junge. »Wann
sollen wir kommen, Tante Regina?«
»Nicht vor dem Aufstehen, mein Sohn.«
»Junge, hast du es eilig«, lachte der Vater. »Wir kommen
gern, Gina. Bist du nun aber auch schon komplett
eingerichtet?«
»Ja, seit einigen Tagen. Ich bin neugierig, wie euch unser
Eldorado gefallen wird. Wir dürfen doch auch auf Ihren
und des Schwesterleins Besuch rechnen, Herr Baron?«
»Verbindlichsten Dank, gnädige Frau. Wir werden uns
erlauben.«

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Es waren die ersten Worte, die der Mann in Gegenwart der
Damen Hermeran sprach, was nicht aufgefallen war bei der

regen Unterhaltung. Da merkte ihm wenigstens niemand
an, wie wenig wohl er sich in seiner Haut fühlte.
Das Schlößchen war ein Bau aus dem vorigen Jahrhundert,
und es war an ihm nicht gespart worden. Erker und
Türmchen, Altane und Balkons, alles so richtig kokett,
galant und verspielt.
Reizend sah es aus mit seinem schneeweißen Anstrich, den
grünen Jalousien, dem schmucken Portal und der nach
dem Park zu gelegenen weiten Terrasse. Der Park war nicht
groß, aber sehr hübsch angelegt. Er umschloß das Haus,
wurde nur von einem breiten Gang unterbrochen, der
gleichzeitig als Auffahrt diente. Ein kunstvoll

geschmiedetes Tor versperrte jedem Unbefugten den
Eintritt.
Etwas abseits stand ein Gebäude, das unten Stallungen und
oben zwei kleine Wohnungen barg. Die eine bewohnte
jetzt der Chauffeur mit seiner Frau und die andere das
Faktotum des Anwesens mit seiner gemütlichen
Eheliebsten, die das Zepter über Küche und Keller schwang.
Darin waltete außerdem noch die Chauffeurgattin, in den
Zimmern tat es der Diener, wobei ihm das Zöfchen gern
half. Alles erstklassige Kräfte, auserwählt mit dem
erprobten Kennerblick der weitgereisten Weltdame Regina
Hermeran.

Unten barg das Schlößchen zwei große Räume, die durch
eine Portiere getrennt werden konnten. Sie dienten als
Speisezimmer und Wohngemach. Ferner gab es noch einen
lauschigen kleinen Salon, ein mäßig großes Arbeitszimmer,
eine entzückende Diele und die Wirtschaftsräume.
Im oberen Geschoß lagen die Schlafzimmer der beiden
Damen mit Ankleidezimmer und Bad, zwei
Fremdenzimmer und etwas abseits die Räume der
Bediensteten. Alles war so eingerichtet, daß es selbst den
verwöhntesten Ansprüchen genügen mußte.
Das fanden auch die Gäste, die zur Kaffeezeit eintrafen und

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zwar in zwei Schlitten. Im ersten saß die Familie Warring,
im zweiten der Freiherr mit seiner Schwester.

»Das riecht ja hier förmlich nach Geld«, lachte der Vetter,
als er die Base begrüßte. »Hast du viel davon, Gina?«
»Mir langt’s«, fiel sie fröhlich in sein Lachen ein. »Also,
meine Herrschaften, treten Sie ein und bringen Sie Glück
herein.«
Das galt in erster Linie dem Freiherrn, der sich artig über
die ihm gereichte Frauenhand neigte und dann die Tochter
des Hauses mit stummer Verneigung begrüßte. Das fiel
nicht weiter auf, da die anderen so vieles zu bestaunen
hatten.
Dolly wurde von Hariet zwar mit Handschlag begrüßt, wie
ja auch die Verwandten, aber das geschah so kühl, fast ein

wenig hochmütig, daß die betrübte Kleine am liebsten
geweint hätte.
Dann folgte zuerst einmalein gemütliches Kaffeestündchen,
bei dem man sich lebhaft unterhielt. Außer den
Geschwistern Eggeroth. Die saßen zumeist schweigend da,
und man war taktvoll genug, dieses nicht zu bemerken.
Lutz hingegen war obenauf, und auch sein Schwesterlein
fand allmählich die gewohnte Keckheit wieder.
»So – jetzt wirst du aber musizieren, meine liebe
Gastgeberintochter«, verlangte Lutz, als man im
Wohngemach beisammensaß, wo ein Blüthnerflügel
schwarzglänzend stand. »Auf diesen Moment habe ich

mich immerzu gefreut. Zuerst spielst du alle
Weihnachtslieder, die es gibt.«
»Dabei geht ihr bestimmt die Puste aus«, amüsierte sich
Regina, der dieser hübsche, frische Junge Spaß machte.
»Vielleicht dürften sich da auch Liebeslieder
dazwischenschmuggeln, mein Herr Oberprimaner?«
»Quatsch«, kam es pomadig zurück. »Die überlasse ich
gebrochenen Herzen.«
»Pfui, Junge, du bist abscheulich!« entrüstete sich die
Mutter, während die anderen lachten. »Warte bloß ab, bis
es bei dir soweit ist.«

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»Dann leime ich es wieder zusammen, geliebte Mutz.«
Was dann kam, war einfach scheußlich. Denn Hariet

musizierte – aber wie. Da stimmte kein Ton, und die
Stimme zeterte dazwischen.
»Mädchen, hör auf, ich kann nicht mehr!« wollte Regina
sich ausschütten vor Lachen. »Katzenmusik ist ja noch
melodisch dagegen!«
»Leider kann ich es nicht besser«, zuckte der Schalk
bedauernd die Achseln. Entzückend war er anzuschauen
mit den blitzenden Augen und dem verschmitzten Lächeln.
Auch eine neue Errungenschaft bei dem einst so
verschüchterten Aschenputtelchen, dem der Baron von
Eggeroth wie ein höheres Wesen erschienen war.
Und heute? Heute imponierte der Mann der verhätschelten

Erbtochter kein bißchen mehr – jawohl!
Regina, die in der Seele dieses jungen Menschenkindes
lesen konnte wie in einem aufgeschlagenen Buch, lachte in
sich hinein. So wollte sie ihr Töchterlein haben – genauso.
Sie war ihm eine geschickte Lehrmeisterin gewesen und
würde es auch weiter bleiben.
»Hariet, weißt du, was du bist?« fragte der Herr
Oberprimaner nach dem schaurig-schönen Spiel, doch
schon rief die Mutter dazwischen:
»Junge, benimm dich!«
»Ja, was hast du denn?« fragte er scheinheilig. »Ich will
doch nur sagen, daß Hariet bedauernswert unmusikalisch

ist. Mit deren Katzenmusik kann höchstens noch der
Rundfunk konkurrieren. Nicht wahr, Dolly-Dolly?«
»Um Himmels willen, laß die jetzt bloß in Frieden!«
wehrte die Mutter entsetzt, und das Söhnchen meinte
resigniert: »Na ja, man wird immer verkannt wie eine
unverstandene Frau.«
Danach gab der übermütige Schlingel erst einmal Ruhe
und nur, weil der Diener Halbgefrorenes servierte.
Genießerisch sog der Herr Oberprimaner am Strohhalm
und schielte dabei zu Dolly hin, die ihm aber auch gar
nicht gefiel. Sie war ja von einer direkt schauderhaften

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Artigkeit.
Und Ulf? Der saß da wie der steinerne Gast.

Und Hariet? Die war jetzt ein ganz verwöhntes,
hochmütiges Balg.
Derselben Ansicht war auch sein Vater.
Denn als man später nach Hause fuhr, brummelte er:
»Scheußlich ist so was! Das kleine hochnäsige Balg macht
es einem verflixt schwer, wieder den vertrauten Ton zu ihm
zu finden. Ich meine, so arg war unser Vergehen nun auch
wieder nicht, um dafür womöglich ein Leben lang scheel
angesehen zu werden.«
»Das tut sie doch gar nicht, Ludwig. Sie ist doch recht
liebenswürdig und artig.«
»Eben, zu sehr. Von einer Artigkeit, bei der man friert.«

In dem anderen Schlitten saß man auch nicht gerade
leichten Herzens da. Dolly weinte sogar ein bißchen und
klagte:
»Ach, Ulf, warum mußte die Mama mich damals
festhalten. Nun läßt Hariet mich das entgelten.«
»Nanu, Kleines, sie war doch ganz freundlich zu dir.«
»Ja, von einer farblosen Freundlichkeit, die schlimmer sein
kann als Schroffheit. Und sie kann doch so lieb, so herzlich
sein, das habe gerade ich immer wieder erfahren können.«
»Da war sie auch noch ein armes Mädchen, das schon
dankbar war, wenn man ihm freundlich begegnete. Doch
heute ist diese Hariet Hermeran eine reiche Erbin, ein

verhätscheltes Töchterchen, das es sich erlauben darf,
Gnade und Ungnade mit Nonchalance zu erteilen. Und wir
sind nun eben mal bei ihr in Ungnade gefallen,
Schwesterchen.
Der einzige, der sich nach wie vor ihrer Gunst erfreut, ist
Melchior. Und warum? Weil er da für sie eintrat, wo wir
anderen versagten.«
»Aber doch nicht mit Absicht!« rief die Kleine aufgeregt
dazwischen. »Das muß ihr nur richtig klargemacht
werden.«
»Willst du das tun, Schwesterchen?«

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»Nein, ich wage es nicht. Aber du könntest es doch
wenigstens versuchen.«

»Ich werde mich hüten!«
»Mein Gott, Ulf, was soll das’ denn bloß werden! Am
besten ist, wir geben den Verkehr mit dem Schlößchen
auf.«
»Das können wir nicht, Dolly, das hieße sich der
Gesellschaft ausschließen und somit als Außenseiter
behandelt zu werden. Denn die interessanten Damen aus
dem Schlößchen werden in der Gesellschaft bald
tonangebend sein. Also heißt es für uns: Mitgefangen,
mitgehangen.«
Und damit sollte der Freiherr recht behalten; das
Schlößchen wurde in der Umgegend bald ein Begriff.

„Man drängte sich an die beiden Damen heran, wetteiferte
förmlich, sich bei ihnen Liebkind zu machen.
Und warum?
Weil die Besitzerin des Schlößchens einen berühmten
Namen hatte und Geld. Zwei große Hauptfaktoren in der
Gesellschaft.
Dazu hatte diese einflußreiche Dame auch noch eine
zauberschöne Tochter. Was Wunder, wenn die
heiratsfähigen Herren gewissermaßen ihre Westen glatt
zogen und forsch taten.
Nur der Baron von Eggeroth tat das nicht, der blieb stets
von einer kühlen Reserviertheit.

Und die kluge, weit- und menschenkundige Regina
Hermeran amüsierte sich köstlich. Mochte das
Aschenputtelchen, das so über Nacht ein Prinzeßlein’
geworden war, nur seine Triumphe feiern. Das machte
selbstischer und steifte das immer noch ein wenig zu
weiche Rückgrat.
Jedenfalls geriet Hariet in einen Wirbel hinein, in dem sie
sich immer mehr behaupten lernte. Überall wurde sie
hofiert, überall öffneten sich ihr die Türen weit. Ein
Lächeln von ihr beglückte, eine hochmütige Geste machte
betroffen.

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Und die fand sie überall da, wo sie auf Aufdringlichkeit
stieß. Dann war das hochmütige Schnutchen da, wie die

vielgeliebte Mutz es zu bezeichnen pflegte.
Doch als Hariet es auch für Dolly hatte, als diese sich ihr
zaghaft zu nähern wagte, sagte Regina ernst:
»Nun mach Feierabend mit deinem Groll, mein Kleines.
Dolly ist längst nicht so schuldig, wie du es annimmst.«
»Doch – es hat mich genauso im Stich gelassen wie alle
anderen. Und auch schon vorher war sie längst nicht mehr
so lieb zu mir wie früher. Sie hing diesem Blender ebenso
an wie alle in Herrnhagen.«
»Blender. – damit hast du die richtige Bezeichnung
getroffen, mein liebes Böckchen. Und ein sechzehnjähriges
Kind darf sich schon noch blenden lassen, will ich meinen.

Und dieser Blender war lustig und fidel, so was zieht ein
Backfischchen immer an.«
»Na schön. Aber als mich alle im Stich ließen?«
»Da hätte es die warmherzige Dolly bestimmt nicht getan«,
fiel Regina ruhig der Erregten ins Wort. »Aber sie wurde
von ihrer Mutter festgehalten, mußte sogar die Nacht auf
dem Diwan in deren Schlafzimmer verbringen. Sogar der
Schlüssel wurde aus der verschlossenen Tür gezogen. Was
sagst du nun?«
»Woher weißt du denn das?«
»Von den Prahlenern. Und was die betrifft, hatten sie sich
fest vorgenommen, dich am nächsten Tag zu sich ins Haus

zu holen. Sie konnten ja nicht ahnen, daß diese
niederträchtige Baronin dir noch am Abend den üblen
Wisch zugehen lassen würde. Und der Baron…«
»Um Himmels willen, laß mich mit dem in Ruhe!« hielt
sich das Mädchen nervös die Ohren zu.
»Hariet, du wirst ja ungezogen.«
»Mutz, liebe Mutz.«
»Na ja, mein Herzchen, ist ja schon gut. Ich will dich ja
nicht länger quälen. Dir nur zu bedenken geben, daß
manchmal der Schein trügt.«
Diese ernsten Worte sollten nicht umsonst gesprochen

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sein. Schon gar nicht, weil die geliebte Mutz sie sprach.
Also begrub Hariet langsam ihren Groll, worüber keiner so

glücklich war wie Dolly. Sie war jetzt kaum noch zu Hause,
verbrachte manchmal sogar die Nacht im Schlößchen, so
daß Regina schmunzelnd sagte, sie hätte jetzt plötzlich
zwei Töchter.
Und der Bruder ließ das Schwesterlein gewähren – es sollte
nicht so einsam sein wie er.
Was übrigens gar nicht so lange der Fall war. Denn an
einem Abend im Februar erschienen die Baronin und
Martina. Ganz plötzlich tauchten sie auf, als die
Geschwister mit der Hausdame, die Ulf vor einigen
Wochen eingestellt hatte, nach dem Abendessen im
Wohngemach saßen.

Ach, was war das bloß für eine Freude, als die Frau Mama
ihre beiden »geliebten Kinder«, nach denen sie sich so
»schmerzlich gesehnt«, in die Arme schließen konnte. Auch
Martina war sehr erfreut – und bei der schien es sogar echt
zu sein.
»Ach, Kinder, zu Hause ist doch zu Hause«, bekannte die
Mama, nachdem sich ihre >Freude< gelegt hatte und sie im
Sessel saß. »Sag mal, mein Sohn, was war das für eine Frau,
die hier war und sich nun zurückzog?«
»Das ist die Hausdame«,’ erklärte Ulf gelassen.
»Hausdame?« dehnte die Mutter. »Wozu brauchst du die
denn?«

»Als Repräsentantin.«
»Das dürfte ich doch wohl sein«, wurde die Stimme schon
wieder spitz. »Und ich werde mir mein Recht bestimmt
nicht nehmen lassen.«
»Darüber wollen wir jetzt nicht reden, Mama.«
»Ich wüßte auch nicht, was darüber zu reden wäre. Aber
lassen wir das jetzt wirklich. Ich möchte mich nicht gleich
nach der Rückkehr in mein Schloß wieder ärgern müssen,
mein Sohn, daß du so selten und dann so kurz und bündig
an mich schriebst. Daß ich von anderer Seite erfahren
mußte, welch sensationelles Geschehen sich in unserer

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nächsten Nähe zutrug. Ist es wirklich wahr, daß die Gattin
des berühmten Forschers Hermeran das Schlößchen

gekauft und diese minderwertige Person Hariet adoptiert
hat?«
»Ja.«
»Welch ein Mißgriff – aber hochinteressant. Das Wunder
muß ich mir doch persönlich ansehen. Schon morgen
mache ich im Schlößchen meinen Besuch.«
»Davon möchte ich dir entschieden abraten, Mama.«
»Warum denn?«
»Weil man dich wahrscheinlich gar nicht vorlassen wird.«
Die Flecke auf den Backenknochen zeigten sich, die Augen
>spickten<, der Mund kniff sich zusammen.
»Na, das wäre denn doch die Höhe! Mich soll man nicht

vorlassen – mich, die Baronin Eggeroth! – die erste Dame
der Gesellschaft?«
»Meine liebe Mama«, entgegnete der Sohn ungerührt.
»Diese Weltdame dürfte in ihrem bewegten Reiseleben mit
allerlei Persönlichkeiten zusammengekommen sein. Und
ich glaube nicht, daß diese ihr besonders imponiert hätten.
Schon gar nicht eine Baronin Eggeroth, die nichts weiter als
eine Landadelige ist.«
»Du wirst impertinent, mein Sohn! Und wie ich dieser
Forschersfrau imponieren werde!«
»Na schön, werde denn durch Schaden klug. Ich möchte
dich nur noch darauf aufmerksam machen, daß Frau

Herme ran ihre Adoptivtochter innig liebt – und daß du
diese am zwölften November aus dem Haus jagtest wie
eine Ehrlose.«
»Ach, was«, tat sie verächtlich ab. »Damals war diese Hariet
hier nur ein Dienstbote. Wäre sie allerdings das gewesen,
was sie heute ist…«
Nun schwieg sie doch unter dem sarkastischen Lächeln des
Sohnes.
»Na eben«, war alles, was der Mann sagte. Doch es wirkte
wie ein Schlag ins Gesicht.
Und der zweite, natürlich bildlich genommen, traf Mutter

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und Tochter, als sie sich durch den Diener des Schlößchens
der Herrin melden ließen und den Bescheid kriegten, daß

diese leider nicht zu sprechen wäre.
Da quollen der Frau Baronin fast die Augen aus dem Kopf
– das ihr! – Und:
»Das mir!« schrie sie dem Sohn entgegen, als sie ins
Wohnzimmer platzte, mit Wut geladen bis zur Halskrause.
»Mich abweisen zu lassen – mich! Aber ich werde
Vergeltung üben. Vergeltung! Unmöglich werde ich diese
anmaßende Forschersfrau in der Gesellschaft machen!«
»Dann viel Vergnügen«, achselzuckte der Sohn. »Wenn du
an dieser Abfuhr noch nicht genug hast.«
»Schweige, du entarteter Sohn! Ich ziehe noch heute ins
Witwenhaus! Ist es zu meinem Empfang bereit?«

»Ja. Die Räume sind gelüftet und geheizt.«
»Das würde ich dir auch geraten haben. Fortan scheiden
sich unsere Wege.«
Damit rauschte sie ab, und Dolly, die auch im
Wohnzimmer zugegen war, sagte kläglich:
»Wie in einem schlechten Film.«
Da mußte der Bruder denn doch lachen.
»Hast recht, Kleine. Aber wie du siehst, kann so was auch
im Leben passieren.«
Und tatsächlich zog Klarissa mit Martina ins Witwenhaus,
was sie jedoch schon bald bereute. Sie fühlte sich dort gar
nicht wohl. Aber ein Zurück ins Schloß gab es nun nicht

mehr, das wußte sie genau.
Und da der Mensch ja nur zu gern seine Schuld auf andere
schiebt, so war eben diese Forschersfrau daran schuld, daß
sie, die Frau Baronin von Eggeroth, jetzt in der Verbannung
leben mußte.
Und schon begann sie mit Einflüsterungen bei
ihresgleichen, mußte jedoch zu ihrer Bestürzung erkennen,
daß sich keiner etwas einflüstern ließ. Man stand
sozusagen wie eine Garde hinter dem Schlößchen.
»Die Klarissa macht sich einfach unmöglich und uns alle
mit!« schalt Ludwig aufgebracht, als er an einem Tag aus

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der Stadt zurückkam, wo er so mancherlei gehört hatte.
»Wenn sie Grips im Kopf hätte, müßte sie sich doch sagen

können, daß sie mit ihren Intrigen gegen die Damen im
Schlößchen in der Gesellschaft anrennt wie gegen einen
Fels. Man kann sich ja kaum noch irgendwo blicken lassen,
ohne sich dieser Verwandten schämen zu müssen. Und wie
muß es erst Ulf und Dolly zumute sein. Es ist, um auf die
Akazien zu klettern!«
»Tu’s nicht, mein lieber Alter«, lachte Alice, die den Gatten
kaum jemals so ergrimmt gesehen hatte. »Die verbohrte
Klarissa ist es gewiß nicht wert, daß du dich auf so
stachelige Dinger schwingst. Warte lieber ab, bis sie an
ihrem Gift ersticken wird.«
So ähnlich drückte sich auch Regina aus, als sie von einem

Weg in die Stadt nach Hause kam, wo Hariet saß und sich
abmühte, die schwierige Handschrift ihres Vaters zu
entziffern.
»Na, die Baronin Eggeroth erstickt bestimmt noch einmal
an ihrem Gift, wenn sie es nicht mehr verspritzen kann,«
lachte sie, sich dabei behaglich in den Sessel schmiegend.
»Ich glaube, sie hat bereits die Gelbsucht, so sieht sie
nämlich aus.«
»Hast du etwa einen Zusammenstoß gehabt, Mutzilein?«
erkundigte Hariet sich gleichfalls lachend, doch die andere
winkte großartig ab.
»Wo denkst du hin, mein Kind, das kann mir doch nicht

passieren. Im Gegenteil, die Frau Baronin schenkte mir
sogar ihre gnädige Beachtung, als sie auf den Parkplatz
rauschte, wo ich gerade mit dem Geheimrat Wendt sprach.
Sie schenkte mir ihr süßestes Lächeln und bedauerte…
Nun ich bedauerte auch, nämlich, es sehr eilig zu haben,
hüpfte ins Auto und entschwand. Im Spiegel bemerkte ich
noch, wie der nette Geheimrat über das ganze Gesicht
lachte und wie die Frau Baronin mir sozusagen
dolchgespickte Blicke nachschickte.
Du lieber Himmel, wo hat die Frau bloß ihre netten Kinder
her. Denn auch die ältere Tochter ist gar nicht mal so übel,

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steht nur vollständig unter der Fuchtel der despotischen
Frau Mama. Mit ihr zusammen kann sie sich behaupten,

doch ohne sie ist sie ein Nichts.«
Sie konnte nicht weitersprechen, weil Dolly und Dietlind
ins Zimmer wirbelten.
»Wir bleiben zu Tisch, Mutz«, erklärte erstere kurz und
bündig. »Haben nämlich am Nachmittag eine Probe für
das Theaterstück, das wir zum Wohltätigkeitsfest aufführen
sollen. Und für die paar Stunden lohnt es erst gar nicht,
nach Hause zu fahren. Gibst du uns also etwas zu essen?«
»Ist das nun eine Bitte oder ein Befehl?«
»Eine Bitte natürlich.«
»Dann bin ich beruhigt.«
Es wurde ein gemütliches Mahl. Die beiden Backfischchen

lachten und schwatzten, fühlten sich ganz wie zu Hause.
»Wußtest du schon von dem Fest, Mutz?« fragte Hariet
befremdet.
»Natürlich, mein Kind. Wir beide stehen schon längst auf
der Liste. Ich als Hebe, die all die Göttergatten mit Sekt
besäuselt, du als Schützenliesel, die ihr Herz den
Göttlichen entgegenhält. Wer ins Schwarze trifft, hat
gewonnen. Jeder Schuß eine Mark.«
»Herrlich, Mutzilein!« jubelte Dolly. »Darf ich da
mitmachen?«
»Jawohl. Du sammelst die Pfeile ein, die von den forschen
Schützen verschossen werden und scheffelst außerdem

noch das Geld.«
»Und ich, Tante Gina?«
»Du reichst mir die Sektgläser zu, kleine Dietz. Denn ich
fürchte, daß es an meinem Stand so turbulent zugehen
wird, daß mir keine Zeit bleibt, selbst nach den Gläsern zu
greifen.«
Und so war es tatsächlich. Denn der Stand war stets
belagert, an dem die charmante Frau das prickelnde Naß
ausschenkte, so charmant, wie sie das ganze Leben
anpackte.
Sie trug beileibe kein phantastisches Gewand, sondern ein

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schlichtes Kleid und wirkte gerade deshalb so raffiniert
elegant. Das dunkle Haar war wie stets glatt

zurückgekämmt, das Monokel blitzte.
Tatsächlich, diese Frau war bestimmt nur einmalig in ihrer
Art. Sie bezauberte immer noch, trotz ihrer fünfzig Jahre.
Und der kleine Boy, der ihr zur Hand ging, war einfach süß
in dem hellroten Anzug mit den blanken Knöpfen. Keck
saß die runde Mütze auf dem Lockenköpfchen, die
dunklen Augen strahlten, wenn man dem reizenden
Bengelchen schmunzelnd ein Trinkgeld in sein Händchen
drückte.
Gleichfalls tat es das Nebenstück, das einige Stände weiter
dem Schützenliesel zur Hand ging. Zwar pflegt eine solche
immer schmuck zu sein, doch kaum eines hatte bisher so

einen Zauber ausgestrahlt wie dieses Lieselchen.
Die Tracht war durchaus schlicht, wie es unter der Regie der
Mutz auch nicht anders sein konnte – aber sie hatte es in
sich.
»Der Balg ist einfach traust«, schmunzelte ein weißhaariger
Herr, der an der Seite des Barons von Eggeroth langsam
durch den Saal bummelte. »Da so dreißig Jahre jünger sein!
Den Deubel noch eins, da würde man die Weste
glattziehen und forsch tun.«
»Das besorgen schon andere genug, Exzellenz«, entgegnete
Ulf trocken. »Der Stand ist ja so belagert, daß man schon
Schlange stehen muß, um zum Schuß zu kommen.«

»Ulf!« rief da eine helle Stimme von dem Stand her. »Ulf,
geh doch nicht vorüber! Bitte, meine Herren, machen Sie
meinem Bruder Platz – er schießt doch so gut!«
Lachend kam man dem Wunsch des reizenden Boys nach,
und energisch wurde der Zögernde von seinem
schmunzelnden Begleiter an den Stand geschoben.
»Sie wollen also schießen, mein Herr?« fragte
Schützenliesel in geschäftsmäßigem Ton. »Jeder Schuß eine
Mark. Wenn Sie jedoch dreimal hintereinander ins
Schwarze treffen, brauchen Sie nichts zu zahlen und
erhalten noch als Hauptpreis dieses rotleuchtende Herz.«

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»Der entzückende Racker versteht sein Geschäft«, raunte
Exzellenz dem Mann zu, der in aller Gelassenheit das

Gewehr nahm, das eine zarte Hand ihm reichte. Dann
nahm sein scharfes Jägerauge erst einmal Korn auf das
große Herz, das rotleuchtend inmitten der Bude hing, mit
schwarzen Kreisen und dem runden Zentrum versehen.
Und schwarz waren auch die Lettern, die direkt aufreizend
forderten: Schieß Schützenliesel dreimal mitten ins Herz!
»Gemacht«, lächelte der Freiherr da sein aufreizendes
Lächeln, das nicht jeder vertragen konnte. »Also schießen
wir.«
»Na, na, man nicht so großspurig, Herr Baron«, meinte
einer der Herren spöttisch. »Ich bin gewiß ein geschickter
Schütze, habe es aber immer nur auf einen Schuß ins

Schwarze gebracht. Das Herz wackelt nämlich ganz
gewaltig!«
»Ruhig wackeln lassen, Herr Forstassessor«, kam es
seelenruhig zurück. »Man ist ja schließlich an wackelnde
Herzen gewöhnt.«
Damit hob er langsam das Gewehr an die Backe, prüfte
scharf Kimme und Korn – und päng, saß der Schuß mitten
im Schwarzen.
»Herrlich!« rief das Schwesterlein des geschickten Schützen.
»Noch zwei Schuß, Ulf, blamier uns bitte nicht!«
Und es saß der zweite Schuß – und auch der dritte.
Bejubelt von den Gönnern, süßsauer hingenommen von

den Neidern.
Deubel noch eins, dieser arrogante Baron verstand
tatsächlich zu schießen. Schützenliesel schenkte ihm dafür
ein gnädiges Lächeln, während Exzellenz, die gefürchtete
und maßgebende Persönlichkeit der Gesellschaft, begeistert
rief:
»Jetzt herausgerückt mit dem Herzen, Schützenliesel! Es hat
seinen Meister gefunden!«
Er war auch derjenige, der das rote, stanniolglitzernde Herz
dem sich sträubenden Freiherrn um den Hals hängte. Dann
las er schmunzelnd, was da schwarz auf weiß geschrieben

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stand: »O Mägdelein, nimm dich in acht, ein Meisterschuß
nie Freude macht. Ob er da kommt aus dem Gewehr, aus

Amors Pfeil – es hat sein Teil…
Huch, gnädiges Fräulein, wie grausig! Finden Sie nicht
auch?«
»Warum denn, Exzellenz?« hob sich hochmütig das feine
Naschen. »Das Wort ist tot, der Glaube macht lebendig,
sagt Schiller.«
»Donnerwetter, Kleine, Sie verstehen zu verblüffen«, strich
Exzellenz schmunzelnd das weiße Bärtchen. »Also kann in
einem schönen Körper auch ein schöner Geist stecken.«
Nun brandete ein kaum endenwollender Jubel los, der bis
zu dem Stand drang, wo Hebe Regina augenblicklich eine
kurze Atempause beschieden war. Aufgeregt fragte der

niedliche Boy:
»Was mag denn da los sein, Tante Gina?«
»Daß da ein guter Schütze dreimal hintereinander ins
Schwarze getroffen hat«, kam es trocken zurück. »Denn er
trägt ja das Herz am Bande.«
»Meinst du, Ulf, Tantchen?«
»Ja, den meine ich.«
Diejenigen, die alles das verkauft hatten, was im Stand
gelagert war, hatten damit ihre Ehrenpflicht erfüllt und
konnten sozusagen auf den Lorbeeren ausruhen. Zu denen
gehörten mal in erster Linie Regina und ihre Tochter –
denn die Sektflaschen standen leer, die Pfeile waren

verschossen. Und der Erlös? Eine erkleckliche Summe, die
man dem Vorstand des Komitees abliefern konnte.
Es waren sogar Hundertmärkscheine darunter, die sich in
der Kasse Reginas sowie in der Hariets vorfanden. Und
einen von denen hatte der Baron von Eggeroth gestiftet.
Einen für ein Glas Sekt, den anderen für die drei Schüsse
ins Schwarze, die von Rechts wegen frei waren. Aber der
Mann war nun so, was man mit noblesse oblige
bezeichnen konnte. Er ließ sich nichts schenken, er gab
lieber.
»Meine Damen, ich muß schon sagen, daß Sie selbst meine

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hochgeschraubten Erwartungen übertroffen haben«, lobte
die würdige Präsidentin des Komitees, nachdem sie das

abgelieferte Geld gezählt hatte. »Ich glaube, alle anderen
Stände zusammengenommen haben nicht soviel
eingebracht, wie einer von Ihnen. Ich danke Ihnen im
Namen der Bedürftigen, denen der Erlös zukommen soll.«
»Huh, das war feierlich«, lachte Regina, als sie das
Töchterlein mit sich zog, dorthin, wo ein Tisch hinter
Blattpflanzen verdeckt stand. »Nun wollen wir uns mal
diese Flasche Sekt zu Gemüte führen. Sie ist nicht etwa aus
dem Bestand geklaut, den ich zu verwalten hatte, sondern
beim Ober bestellt und ehrlich bezahlt.«
Wie auf ein Stichwort erschien dieser, ließ mit dem
Geschick des Vielgeübten den Pfropfen knallen und

schenkte das perlende Naß in die Gläser.
»Wohl bekomm’s den Damen.«
Weg war der Eilige, und Regina trank zuerst einmal das
Glas in einem Zug leer.
»Oh, das tut gut, das frischt die erlahmten Kräfte auf. Man
ist eben schon zu alt für solche Mätzchen.«
»Mach dich doch nicht niedlich, Mutz«, lachte Hariet
hellauf. »Du und alt, da lachen ja alle Hühner.«
»Wenn sie dabei viel Eier legen, dann laß sie ruhig lachen.
Prosit, mein Herzblatt, trinke dir getrost einen Schwips an.
Aber sag dann nicht etwa die Wahrheit, ich rate dir gut.
Sonst müßtest du ja der Frau Baronin von Eggeroth sagen,

daß man um ihren Stand herumging wie die Katze um den
heißen Brei.«
»Was verkaufte sie denn, Mutz?«
»Konfitüren.«
»O weh!«
»Sag ich auch.«
»Und die Baronesse Martina?«
»Rosen, mein Kind, Rosen.«
»Hat sie diese wenigstens verkauft?«
»Kein Gedanke. Die Blumen der Liebe stehen’ da und
klagen wie die Rosen in Freiligraths Gedicht >Der Blumen

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Rache<: Daß wir in der bunten Scherbe welken,
schmachten, sterben müssen.«

»Oh, Mutz, du hast ja schon einen Schwips!« wollte das
Töchterlein sich ausschütten vor Lachen – und verriet mit
diesem hellklingenden, köstlich frohen Lachen das
Versteck. Denn schon lugte über die Blätterwand ein
reizendes Gesichtchen, und dann wurde auch das ganze
Menschlein sichtbar, das den sich sträubenden Bruder mit
sich zog.
»Ulf, sei doch nicht so störrisch!«
»Finde ich auch«, bestätigte Onkel Ludwig, der mit Gattin
und Töchterlein auftauchte, hinterher Exzellenz mit der
feinen, zarten Gattin und dann – o Schreck laß nach, die
gnädige Baronin mit der verlegen lächelnden Martina.

Nun, was sollte man machen? Am besten gute Miene zum
bösen Spiel. Und da elf Personen an dem Tisch nicht Platz
hatten, wurde ein zweiter herangestellt, und man placierte
sich vergnügt.
»Herr Ober, Sekt!« kommandierte Exzellenz, als stände sie
vor einem Regiment Soldaten. »Aber nicht nur eine Flasche,
dann bekäme ja jeder nur einen Fingerhut voll. Sagen wir
mal zuerst vier!«
Der Herr Ober enteilte – und Exzellenz strich sich
unternehmungslustig das weiße Bärtchen.
»Na, denn wollen wir mal vergnügt in die Kanne steigen.
Doch wie ich sehe, hat unsere charmante Frau Hermeran

nebst Töchterlein schon eine Flasche Sekt intus. Natürlich
macht ‘das den Damen nichts aus – so wie sie gebaut sind.«
»Soll das etwa eine Schmeichelei sein, Exzellenz?«
»Doch nur, gnädige Frau. Ich bin immer galant und –
verliebt. Denn, um mit unserem guten Wagner zu
sprechen: Der Frost hat mir bereifet des Hauses Dach, doch
warm ist’s mir geblieben im Wohngemach«, zeigte er auf
Kopf und Herz, was allgemeines Schmunzeln hervorrief.
Nur die Frau Baronin, die schmunzelte nie, die lächelte nur
in allen Nuancen – von der verbindlichsten
Liebenswürdigkeit, der Scheinheiligkeit, bis zur Bosheit

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und Niedertracht.
Doch jetzt war das Lächeln entschieden pikiert. Was fiel

denn diesen Exzellenzen ein, die in der
Gesellschaftsordnung gleich hinter ihr rangierten, diese
Forschersfrau so zu becouren! Sie waren doch sonst so
wählerisch in ihrem Verkehr, schlossen sich nur schwer an
jemand an. Und taten nun hier mit den beiden Frauen so
vertraut, während man sie, die erste Dame der Gesellschaft,
gar nicht beachtete. Impertinent, einfach impertinent! Es
gab eben keine wohlerzogenen Menschen mehr in der
heutigen Zeit.
Und diese Hariet, was bildete die sich eigentlich ein. Am
liebsten hätte die Frau Baronin diese arrogante Person an
die Zeit erinnert, als sie noch Zofendienste bei ihr

verrichtete.
Aber das wagte sie denn doch nicht. Denn die Zunge dieser
Forschersfrau konnte verflixt spitz und scharf sein – ebenso
wie die Zunge der in der Gesellschaft gefürchteten
Exzellenz.
Allein, etwas mußte doch geschehen. Die Frau Baronin
konnte doch nicht dasitzen und sich behandeln lassen, als
wäre sie ein Nichts. Mußte sich unbedingt in den
Vordergrund drängen.
Und das glaubte sie zu tun, indem sie mal zuerst ihre
Tochter Dolly, die sich ja am wenigsten wehren konnte von
allen, sozusagen aufs Korn nahm.

»Dolly, ich verbiete dir, Sekt zu trinken«, drang die
unangenehme Stimme scharf und vernehmlich in das frohe
Lachen hinein. »Du gehst noch zur Schule, vergiß das
nicht. Wie siehst du überhaupt aus in diesem
geschmacklosen Anzug, und was hast du denn da auf der
Brust hängen?«
»Das ist ein Herz, Mama«, sprach die Kleine verlegen in die
jetzt so peinlich anmutende Stille hinein. »Ulf schenkte es
mir.«
»Und woher hat er es?«
»Sich als Preis erschossen.«

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»Ja, kannst du denn überhaupt schießen, mein Sohn?«
fragte die Frau Mama so erstaunt, als wäre sie dahinter

gekommen, daß er Seil tanzte. Sie machte sich so lächerlich
mit dieser Frage, daß selbst Martina vor Verlegenheit
errötete, während die anderen heldenhaft mit dem Lachen
kämpften. Das Monokel in Reginas Auge blitzte nur so.
Es blieb dem Freiherrn erspart, eine Antwort zu geben, weil
jetzt die Musik einsetzte und zum Tanz rief. Und da sich
vor Regina Exzellenz verneigte, Ludwig vor dessen Gattin,
tat Ulf es bei der Mutter, so daß Alice mit den vier
Mädchen zurückblieb, doch auch sie wurden weggeholt,
bis auf Martina.
»Ja ist denn das die Möglichkeit?« empörte sich die Frau
Mama, als sie in Begleitung des Sohnes an den Tisch

zurückkehrte. »Du sitzt, mein Liebes? Wo sind denn die
anderen?«
»Sie wurden zum Tanz geholt.«
»Auch Dolly?«
»Ja.«
»Das grüne Ding?! Na, da werde ich doch wohl.«
»Mama, ich bitte dich, laß Dolly gewähren«, fiel der Sohn
hastig ein. »Es tanzen heute noch mehr so blutjunge
Mädchen, alle, die beim Theaterspiel mitwirkten.«
»Lax, mein Sohn, durchaus lax ist deine Auffassung. Kein
Wunder bei dem Umgang mit diesen Banausen…«
»Ich höre immer Banausen«, lachte Regina, die am Arm der

Exzellenz plötzlich auftauchte und die Bemerkung der
Baronin gehört hatte, ebenso wie Ludwig mit seiner Dame.
»Wo gibt’s denn hier Banausen, meine Herrschaften?«
»Oh, die gibt’s überall, meine Gnädigste«, erwiderte
Exzellenz trocken. »Selbst in eine illustre Gesellschaft
können sich so unangenehme Menschen einschleichen –
und das ist schade.«
Nun, diese Abfuhr mußte selbst die nicht sehr feinfühlige
Baronin verstehen. Und da es ihr ungemütlich zu werden
begann unter diesen Menschen, die so etwas wie ein eisiger
Hauch umwehte, wandte sie sich an Martina, die wie

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gewöhnlich stumm und steif dasaß.
»Du siehst so blaß aus, mein Kind. Ist dir nicht gut?«

»Nein, mir ist tatsächlich nicht gut«, kam die Antwort so,
wie Mamachen sie erwartete.
»Dann komm, mein Liebling, es ist hier wirklich sehr heiß.
Suchen wir uns ein kühleres Plätzchen. Die Herrschaften
entschuldigen.«
O ja, sie entschuldigten – und zwar sehr gern. Ihnen tat nur
der Sohn dieser impertinenten Dame leid, der so den
Eindruck machte, als ob er sich seiner Mutter – schämte.
Und als Dolly den Bruder zum Tanz mit sich zog, sprach
Exzellenz in die peinliche Stille hinein:
»Armer Kerl! Er kann einen tatsächlich bis in die Seele
hinein erbarmen.«

»Das kann er«, bestätigte Ludwig. »Er ist ein durchaus
vornehmer Charakter, und ihm ist daher nicht gegeben,
seiner Mutter gegenüber so aufzutreten, wie sie es
verdiente. Aber auch Martina tut mir leid, die unter der
Fuchtel dieser despotischen Frau ja gar nicht anders werden
konnte, als sie ist. Die darf ja gar keinen eigenen Willen
haben. Da müßte sich ein Mann finden, der sich der
Unterdrückten annimmt und die Schwiegermutter zum
roten Kuckuck jagt.«
»Der Mann müßte aber Mut haben«, lachte Regina, konnte
jedoch nicht weitersprechen, weil die Geschwister an den
Tisch traten.

»Herrlich ist das!« zappelte Dolly vor Aufregung. »Tanzen
möchte ich, immerzu tanzen, mit wem, ist mir egal.
Komm, Onkel Ludwig.«
»Na, das ist nach deiner letzten Beteuerung gerade kein
Kompliment für mich«, schmunzelte der Mann und ließ
sich gutwillig von der tanzlustigen Nichte mitziehen. Vor
Hariet jedoch verneigte sich der Baron.
»Ein Elitepaar«, zwinkerte Exzellenz ihnen nach. »Meinen
Sie nicht auch, gnädige Frau?«
»Ich meine gar nichts«, versetzte Regina trocken und folgte
dann dem Herrn, der sie zum Tanz holte. Es war ein Tango,

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der gespielt wurde, und der elegant wirken kann, wenn er
richtig getanzt wird. Und Hariet Hermeran tanzte ihn mit

Grazie. Denn es war ein guter Tanzlehrer, den Regina ins
Haus kommen ließ, damit er ihrem Töchterlein, das ja
bisher noch nie getanzt, die Kunst Terpsichores erschloß.
Und es hatte sich gelohnt. Die in jeder Beziehung so
wundersam veränderte Hariet beherrschte jetzt auch mit
Sicherheit das Parkett.
Aber auch ihr Partner galt überall als eleganter Tänzer. Bei
dem Paar saß jeder Schritt, jeder Takt. Der Mann spürte
seine grazile Partnerin kaum im Arm, hielt ganz korrekt die
vorgeschriebene Distanz.
Und dabei sang die Geige doch so süß, das Cello klagte.
Wenn Hariet einmal rasch den Blick hob, sah sie dicht über

sich das harte, rassige Männerantlitz. Die Augen glitzerten
darin wie bläuliches Eis, die schmalen Lippen lagen fest
aufeinander.
Denn es fiel dem Mann gar nicht ein, seine Partnerin zu
unterhalten. Was sollte er auch sprechen? Sie hätte ja doch
nur hochmütig geantwortet, wie das so ihm gegenüber ihre
Art war. Mochten andere Männer um die schöne Erbtochter
herumscharwenzeln, ihm war das nicht gegeben. Er konnte
wohl in zarter, ritterlicher Weise um eine Frau werben –
aber niemals ihre Gunst erbetteln.
Die Baronin von Eggeroth mußte endlich einsehen, daß sie
sich in der Gesellschaft nicht mehr behaupten konnte. Man

lud sie zwar ein, begegnete ihr aber so kühl, daß sie sich
empört dagegen wehrte und damit einen Fauxpas nach
dem anderen beging.
Ihr größter Groll jedoch war, daß die beiden Damen aus
dem Schlößchen in der Gesellschaft direkt Furore machten,
daß die heiratslustigen Herren wie toll hinter der jüngeren
her waren.
Gott ja, sie sah wohl ganz nett aus, war aber keineswegs
mit Martina zu vergleichen.
Und damit hatte die Baronin einmal recht. Denn Martina,
nie eine Schönheit gewesen, begann bereits zu altern,

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mehr, als ihre siebenundzwanzig Jahre bedingten. Das lag
daran, weil sie stets verdrießlich war und sich in der

Abgeschlossenheit des Witwenhauses langweilte. Daß man
bei den Geselligkeiten gewissermaßen im Bogen um sie
herumging. An einen Freier war überhaupt nicht zu
denken, und danach sehnte sich schließlich jedes
Mädchen. Hauptsächlich dann, wenn es sich langsam den
Dreißig nähert.
»Mama, ich halte es hier nicht mehr aus«, klagte Martina
weinend, als man nach einem Ball nach Hause
zurückkehrte. »Ich bin doch überall nur Mauerblümchen.
Laß uns auf Reisen gehen, vielleicht finde ich da endlich
einen Mann.«
Das leuchtete der Frau Mama ein. Einen Mann fand ihr

>liebes schönes Kind< unter den >Banausen< hier wirklich
nicht, für die war es allemal zu schade.
Außerdem behagte ihr das Leben im Witwenhaus absolut
nicht, zumal man sich allein bedienen mußte. Denn die
alte, halbtaube Frau, die man mit Geld und guten Worten
herbekam, verrichtete nur die notwendigsten Arbeiten in
Küche und Haus.
Wenn man zur Stadt fahren wollte – und das wollte man
oft – mußte man immer wegen des Autos im Schloß
anrufen. Und dann waren sie noch nicht einmal immer da,
selbst nicht der kleine Wagen. Ach, man führte schon ein
elendes Leben in der Verbannung.

Daß sie allein die Schuld an dieser Verbannung trug, fiel
der selbstherrlichen Dame natürlich nicht ein. Sie hätte
schön warm und weich im Schloß sitzen können, geachtet
und geliebt von ihren Kindern – wenn sie nicht so
hochfahrend und herrschsüchtig gewesen wäre. Aber das
war sie doch nicht, Gott bewahre! Das war nur ihr
»entarteter« Sohn.
Also packte man im Witwenhaus die Koffer, reiste ab – und
tat keinem damit weh. Im Gegenteil, die »mißratene«
Jüngste und der »entartete« Sohn atmeten wie erlöst auf,
und in der Gesellschaft vermißte niemand die impertinente

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Dame und ihren »Schatten«, wie man Martina bezeichnete.
Indes sauste rastlos die Zeit dahin – und die Menschen

sausten mit. In der Gesellschaft hatte man den Winter gut
überstanden, hatte Feste gefeiert, bei denen die Damen aus
dem Schlößchen niemals fehlten.
Und auch Baron von Eggeroth fehlte nicht. Er dachte gar
nicht daran* zum Einsiedler zu werden, weil er einer
hochmütigen jungen Dame auf Schritt und Tritt begegnete.
Ob es da im Ballsaal war, auf Gesellschaften, Konzert,
Theater und Kino, Ski, Schlittschuhlauf, vergnüglichen
Schlittenfahrten und anderes mehr, immer und überall traf
man zusammen.
Selbst später bei den Ritten konnte eine Begegnung nicht
ausbleiben, weil das Schlößchen ja nur zwei Kilometer von

Herrnhagen entfernt lag und so nur eine Enklave bildete in
dem Bereich des Barons von Eggeroth.
Reiten hatte Hariet Hermeran auch erst lernen müssen wie
alles andere, wobei ihr die Mutz, die ja sozusagen auf dem
Sattel geboren war, dem Töchterlein eine unnachsichtige
Lehrmeisterin wurde. Folge davon war, daß dieses
Töchterlein sich bald mit Nonchalance im Sattel
behauptete, den ein rassiges Pferd nicht gerade sanftmütig
trug. Hariet ritt auch selten ohne die geliebte Mutz, der sie
wie eine Klette anhing. Doch wenn es einmal geschah,
konnte sie versichert sein, daß sie dem Baron von Eggeroth
begegnete. Zuerst ärgerte sie sich darüber, doch dann

betrachtete sie es ganz einfach als einen Witz des Zufalls.
Es war an einem heißen Tag im Juli. Ha riet befand sich auf
der Terrasse des Schlößchens ausnahmsweise allein; denn
die Mutz war zum Zahnarzt gegangen.
Gar nicht schön ist das hier ohne meine Mutz – dachte das
Mädchen Hariet, dabei im Schaukelstuhl wippend. Ohne
sie ist das Schlößchen öd und leer. Sie ist die Seele vom
Ganzen, ein Stern, um den sich die Trabanten scharen, der
Pol, um den sich alles dreht. Du bist eben du, meine liebe
geliebte Mutz, nichts weniger und nichts mehr.
Verträumt ließ Hariet ihre Augen über die Rasenfläche

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schweifen, die nicht groß aber peinlichst gepflegt war.
Blumen blühten auf den Rabatten in verschwenderischer

Fülle. Verströmten ihren süßen Duft mit dem der
Lindenblüten zusammen. In den Bäumen rauschte es leise,
Vöglein zwitscherten darin, und über allem lag tiefer
Friede.
Und inmitten all dieser Herrlichkeit ringsum ertappte die
jetzt so verwöhnte Hariet sich bei dem Gedanken:
Bin ich eigentlich glücklich?
Doch kaum hatte sie das gedacht, als sie auch schon
entsetzt auffuhr. Nicht weiter denken, um Gottes willen!
Das wäre ja eine schreiende Ungerechtigkeit gegen ihre
Mutz und gegen das Schicksal, das es jetzt doch so gnädig
mit ihr meinte.

»Pfui, Hariet, schäme dich!« schalt sie sich selber aus,
während sie aufsprang. Das kam davon, wenn man so vor
sich hin döste. Dann kam man auf die verrücktesten
Gedanken. Also sich aufs Pferd geklemmt und bei einem
frisch-fröhlichen Ritt die Flausen verjagt.
Nicht lange danach ritt sie ab und zwar den Feldrain
entlang, der hinter dem Schlößchen begann und zum Wald
führte. Da hinein wollte sie nicht, weil die Mutz es ihr
verboten hatte, allein durch den Wald zu reiten. Und
Hariet wäre es nie eingefallen, ein Gebot dieser so
schwärmerisch geliebten Frau jemals zu übertreten. Also
ritt sie erst einmal den Rain entlang, wo rechts und links

Korn wogte. Somit befand sie sich auf Herrnhagener
Gelände, dessen Betreten Unbefugten streng verboten war.
Aber sie war nicht unbefugt, da der Freiherr den beiden
Damen aus dem Schlößchen gestattete, sich auf seinem
Grund und Boden frei zu bewegen.
Es war heiß auf dem Feld, unbarmherzig brannte die
Julisonne darauf nieder. So leicht Hariet auch gekleidet
war, spürte sie dennoch die Hitze und war froh, als sie den
Waldrand erreicht hatte, wo die hohen, alten Bäume
wenigstens von einer Seite Schatten spendeten. An der
anderen hüpfte ein Bach geschwätzig seine Bahn, und

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jenseits des Ufers zog sich eine weite Wiese hin, auf der
Kühe weideten.

Und siehe da, ein Reiter kam der Reiterin entgegen,
worüber diese sich gar nicht einmal wunderte. Und da man
sich ja nicht so fremd war, daß man mit kurzem Gruß
aneinander vorüberreiten konnte, hielt man eben an und
grüßte sich.
»Es ist heiß«, eröffnete Hariet nicht gerade geistreich die
Unterhaltung, und bestätigend kam es zurück:
»Ja, es ist heiß.«
»Dafür haben wir aber auch Sommer.«
»Ja, wir haben Sommer.«
Schien es Hariet nur so, oder blitzte es wirklich humorvoll
in den Augen des Mannes auf? Darüber nachzudenken

blieb ihr jetzt keine Zeit, weil ein brennender Schmerz sie
zusammenzucken ließ – und dann noch einer. Erschrocken
griff ihre Hand zur Lippe – und da flog sie auf, die böse
Wespe, die ja bekanntlich beim Stich den Stachel nicht
verliert, sondern lustig drauf losstechen darf.
Nun, Hariet war bestimmt nicht zimperlich, das hätte ihre
verwegene Mutz sich auch ernstlich verbeten. Aber zwei
Wespenstiche hintereinander in die empfindliche Lippe
sind immerhin keine Kleinigkeit. Es wurde ihr schwarz vor
den Augen, sie schwankte im Sattel – und hörte dann wie
aus weiter Ferne eine erschrockene Stimme sagen:
»Um Gott, gnädiges Fräulein, was ist Ihnen denn

geschehen?«
»Eine – Wespe – stach – mich.«
Schon fühlte sie sich vom Pferd gehoben ‘ und am.
Waldesrand in weiches Moos gebettet. Der Mann zog die
Jacke aus, rollte sie zusammen und schob sie behutsam
unter das eigenwillige Köpfchen, das jetzt so matt dalag.
Dann nahm er aus der Satteltasche eine kleine Rasche
Kognak, die er immer für alle Fälle mitführte, schraubte das
Becherchen ab, füllte es mit der belebenden Flüssigkeit und
flößte sie dem Mädchen ein, dessen Unterlippe bereits eine
deutliche Schwellung zeigte.

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»Trinken Sie nur, gnädiges Fräulein – so ist es recht. Und da
man auf einem Beinchen nicht stehen kann, gleich noch so

ein Tränklein hinterher.«
Nachdem er dieses Samariterwerk vollbracht, begann er mit
dem zweiten, indem er zum Bach schritt, sein Taschentuch
in die kühle Flut tauchte und dann das nasse Tuch
behutsam gegen die geschwollene Lippe drückte. Es war
eine ungemein zärtliche Hand, die das tat. Die Augen
blickten gar nicht so kühl wie sonst.
Und da wußte Hariet plötzlich, warum sie in ihrem jetzt so
schönen, verwöhnten Leben nicht so ganz und gar
glücklich sein konnte, so aus tiefstem Herzen heraus
glücklich.
Sie stöhnte auf, und schon war ihr das rassige

Männerantlitz ganz nahe.
»Tut es denn so arg weh, gnädiges Fräulein?«
»Das ist es doch nicht«, winkte sie verächtlich ab. »Das tut
schon längst nicht mehr weh. Und im übrigen bin ich eine
Zimperliese!« fuhr sie, zornig über sich selbst, in die Höhe.
Und ehe er sie daran hindern konnte, stand sie schon, auf
den Beinen.
»Nun, geht’s?« fragte er jetzt in gewohnt kühlem Ton.
»Danke, Herr Baron. Es tut mir leid, daß ich Sie bemühen
mußte.«
»Bitte sehr, nicht der Rede wert.«
Da war es wieder, dieses Lächeln, das sie durchaus nicht

leiden konnte, und das sie wiederum so liebte – ach, sie
war närrisch!
Brüsk wandte sie sich ab, schwang sich in den Sattel, senkte
die Gerte zum Gruß und ritt davon, dem Schlößchen zu.
Wie erstaunt war sie jedoch, als der Mann sich in aller
Seelenruhe an ihrer Seite hielt, als könnte es gar nicht
anders sein. Es war ein sehr ungnädiger Blick, der ihn traf,
und den er mit einem spöttischen Lächeln quittierte.
»Bitte, Herr Baron, ich wünsche nicht, daß Sie sich weiter
um mich bemühen«, sagte sie in einem Ton, der direkt
beleidigend wirkte.

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Es blitzte gefährlich in den Männeraugen auf, die Zähne
bissen sich zusammen, daß die Wangenmuskeln spielten,

doch er blieb an ihrer Seite und sagte gelassen:
»Ob Sie mich nun bemühen oder nicht, mein ungnädiges
Fräulein, darf jetzt keine Rolle spielen. Was ich jetzt tue, ist
nichts weiter als – Menschenpflicht.«
Sie zuckte zusammen wie unter einem Hieb. Aber es
geschah ihr ganz recht, warum wurde sie so beleidigend.
Sie wußte doch schon längst, daß dieser Mann sich so
etwas nicht bieten ließ, daß er immer mit gleicher Münze
heimzahlte.
Scheu war der Blick, der zu ihm hinging. Kein Muskel regte
sich in dem stolzgeschnittenen Antlitz. Wie harte, blanke
Kiesel blitzten die Augen unter den zusammengezogenen

Brauen. Das blonde, leichtgewellte Haar lag zwanglos
geordnet um den schmalen Kopf, zwischen den
prachtvollen Zähnen klemmte die gradlinige Pfeife – es war
ein Bild kraftstrotzender, kühner Männlichkeit.
Also war dieser erfreuliche Anblick mehr zum Lachen als
zum Weinen, und Hariet begriff sich selbst nicht, warum
ihr die Tränen kamen, die dieser arrogante Mensch
natürlich nicht sehen durfte.
Ein leichter Schlag mit der Gerte, das erschrockene Pferd
preschte ab – und lustig trabte das andere nebenher. Es
waren zwei schneidige Reiter, die vor dem Schlößchen
hielten. Schmunzelnd sah Regina, die gerade am Portal

stand, ihnen entgegen.
Ein Druck auf den Knopf – und langsam öffnete sich das
schmiedeeiserne Tor, durch das jedoch nur die Reiterin ritt,
während der Reiter seinen Weg fortsetzen wollte.
»Hallo, Herr Baron, warum so stolz?« rief Regina ihm nach.
»Wollen Sie etwa das Schlößchen mit Nichtachtung
strafen?«
»Meine Mission ist erfüllt«, kam es knapp zurück.
»Mission? Das müssen Sie mir näher erklären. Ergo
bemühen Sie sich hierher.«
Also blieb dem Mann nichts anderes übrig, als Order zu

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parieren.
Nachdem Regina ihn begrüßt hatte, fiel ihr Blick auf

Hariet, die gerade dem herbeieilenden Faktotum das Pferd
übergab.
»Ja, was ist denn mit dir geschehen?« fragte sie, entsetzt auf
die arg geschwollenen Lippen starrend.
»Eine Wespe stach mich.«
»Aha«, nickte die Frau, die ja durch ihr bewegtes Reiseleben
daran gewöhnt war, blitzschnell zu kombinieren und einen
Schreck in Sekundenschnelle zu überwinden. »Da machtest
du schlapp und der Herr Baron tauchte als Retter in der
Not auf. Stimmt’s?«
»Ja.«
»Hm. Na, denn komm schon, du kleine Prise, sonst kippst

du mir noch aus den Schlorrchen.«
Damit umfaßte sie das Mädchen und wandte sich dann
dem Mann zu, der, das eine Pferd am Zügel, unschlüssig
dastand.
»Nehmen Sie das Pferd des Herrn Baron mit, Thimm.«
»Verzeihung, gnädige Frau, ich muß leider fort.«
»Sie müssen gar nichts, mein lieber Freund. Höchstens sich
eine Erfrischung gefallen lassen, als kleinen Dank für Ihren
Ritterdienst.«
Das klang wie ein Befehl, dem der guterzogene Mann sich
nicht widersetzen durfte. So folgte er denn den beiden
Damen durch das Haus nach der Terrasse, wo die Mutz ihr

Töchterlein im Liegestuhl unterbrachte. Der Diener wurde
beordert, eine Schüssel mit Wasser, Tonerde und ein
weiches Tuch zu bringen. Als das zur Stelle war, erhielt der
Mann den Auftrag, für eine Erfrischung zu sorgen.
»So, mein. Kind, jetzt werde ich dich mal verarzten«, lachte
Regina. »Siehst reizend aus mit dem Lippchen.«
Geschickt mixte sie Wasser und Tonerde, stellte die
Schüssel auf einen Hocker, den sie an den Liegestuhl
schob, durchfeuchtete das Tuch und legte es auf die Lippen
des Mädchens.
»Das ist alles, was sich in diesem Fall tun läßt. Mach nicht

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so ein klägliches Gesichtchen, du Dummes. Was meinst du
wohl, wovon ich in meinem Leben schon gestochen

worden bin, doch nie ist es mir dabei an den Kragen
gegangen.
So – und wir wollen uns mal stärken nach dem Schreck,
Herr Baron. Denn was unser guter Jan da bringt, ist ein
Zaubertrank für heiße Tage.«
Das war es wirklich, dieses eisgekühlte Getränk. Es
erfrischte und stillte vorzüglich den Durst. Da man es aus
dem Strohhalm sog, konnte Hariet trotz ihrer arg
geschwollenen Lippe mithalten.
»Und nun erzählen Sie mal, Herr Baron, wie, wo und was?«
Er tat’s, und dann bat er, sich verabschieden zu dürfen;
denn in der Landwirtschaft wäre jetzt Hochsaison.

Als er gegangen war^ weinte Hariet heiß auf. Doch davon
ließ sich die erfahrene Frau nicht aus der Fassung bringen.
Sie streichelte zärtlich das gleißende Köpfchen und sagte
leise:
»Das ist die Reaktion, mein Kind.«
Was sie damit meinte, blieb ungeklärt.
Im September erhielt Baron von Eggeroth einen Brief, der
ihn teils freute, teils beunruhigte. Denn seine Schwester
Martina schrieb ihm, daß sie in einer Woche zu heiraten
gedächte. Der Bruder möchte schon das ihr zustehende
Geld bereithalten. Wenn er Lust hätte, könnte er an ihrer
Hochzeit teilnehmen, die allerdings nur klein gefeiert

würde.
»Du zahlst ihr das Geld natürlich erst dann aus, wenn sie
verheiratet ist«, erklärte Onkel Ludwig, den der Neffe um
Rat fragte. »Am besten ist, du fährst zu der angekündigten
Hochzeit hin, damit du weißt, was überhaupt los ist.«
Das tat Ulf denn auch, Dolly, die er mitnehmen wollte,
weigerte sich so entschieden, daß auch hier der Onkel
eingriff.
»Laß sie hier, Junge, vielleicht ist das ganz gut. Ich kann mir
nicht helfen, mir kommt da etwas mulmig vor. Schon daß
Martina an dich schrieb und nicht deine Mutter, gibt mir

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zu denken.«
»Mir auch, Onkel Ludwig, nun, ich werde ja sehen.«

Und er sah – und staunte. Nicht über seinen Schwager, der
gefiel ihm eigentlich ganz gut, sondern über seine
Schwester. Die erklärte ihm nämlich kurz und bündig, daß
sie keine Lust mehr hätte, sich immer weiter von der Mama
gängeln zu lassen. Sie hätte schließlich wie jedes andere
Mädchen Anspruch auf ein Eheglück. Doch das würde ihr
nie werden, solange die Mama sie unter ihrer Fuchtel hätte.
Damit zog sie ab – und der Bruder schaute nicht gerade
geistreich hinter ihr drein.
»Ja, mein lieber Baron, so ist das nun einmal«, lachte Herr
Franz Frischling, in dessen Arbeitszimmer man saß. »Die
Martina mußte sich nun mal entschließen, entweder für

ihre Mutter oder für mich. Wie Sie sehen, hat sie letzteres
getan. Sonst könnte ich sie ja gar nicht heiraten. Denn Ihre
Mutter – darf ich offen sprechen, Herr Baron?«
»Bitte.«
»Danke. Ihre Mutter ist nämlich ein Frauentyp, vor dem die
Männer Reißaus nehmen. Und sich so was auf den Hals
laden, hieße dem Teufel Quartier geben. Und das kann ich
nicht, weil ich viel unterwegs bin. Da muß ich mein Haus
immer gut bestellt wissen. Und das wird die Martina tun,
sie hat das Zeug dazu. Sie hat einen guten Namen – und
den muß die Repräsentantin meines Hauses haben. Denn
auf so was sieht die Menschheit auch heute noch.

Schauen Sie, Herr Baron, mein Vater war ein einfacher
Schlosser, und wenn Sie das Werk ansehen, das er
geschaffen hat, werden Sie bestimmt sagen: Hut ab vor
dem Mann! Und daß er seinem Milchen treu blieb, das er
als armer Schlucker heiratete, ist bestimmt aller Ehren wert.
Aber das Milchen war keine Repräsentantin – muß ich
noch weiter sprechen?«
»Nein, Herr Frischling, ich bin durchaus im Bilde. Aber
eines möchte ich Ihnen zu bedenken geben: Meine
Schwester Martina ist nie von dem Rockzipfel der sie völlig
beherrschenden Mutter losgekommen. Ob sie sich nun

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ohne diese behaupten kann, ist fraglich.«
»Na ja, wagen wir eben dieses Experiment. Wenn es

schiefgehen sollte, ist es ja kein Hals- und Beinbruch, dann
geht man eben wieder auseinander.«
Auch eine Auffassung – dachte Ulf, dabei den Mann
betrachtend, der von der Ehe sprach wie von einem
Geschäft. Er war groß und breit, mit einem frischen, ein
wenig derben Gesicht, sehr hellen blauen Augen und
mittelblonden, ziemlich kurz geschnittenem Haar, dazu
gut angezogen.
Und was der Baron jetzt dachte, sprach sein Gegenüber
offen aus:
»Sie werden sich sicherlich wundern, Herr Baron, daß ich
gerade Ihre Schwester zur Frau begehre. Aber wie schon

gesagt, ich brauche für mein Haus eine Repräsentantin mit
einem guten Namen. Und dann muß mir meine Frau mit
den Kinkerlitzchen vom Hals bleiben, auf die die Weibsen
ja so versessen sind. Immer so mit Schnuckichen und
Puckichen, mit hundert Küßchen in der Stunde und allerlei
süßem Gesäusel mehr, nein, dafür bin ich nicht zu haben.
Und ich glaube, daß Martina mich damit verschonen wird.
Oder sind Sie anderer Ansicht, Herr Baron?«
»Ja, Herr Frischling, da muß ich Ihnen zu meiner
Beschämung gestehen, daß ich gar keine rechte Meinung
über meine Schwester habe. Denn sie war von jeher so sehr
das Geschöpf meiner Mutter, daß man nun wirklich nicht

sagen kann, wie sie sich ohne diese Gängelei benehmen
wird. Wie lange kennen Sie Martina denn schon?«
»So ungefähr sechs Wochen. Ich war überarbeitet und
mußte ausspannen, und ausgerechnet hielt der Arzt so ein
mondänes Dings von Bad für das Gegebene. Na ja, da
lernte ich eben Martina kennen. Zuerst gefiel sie mir gar
nicht. Aber als ich sie einige Male ohne die Frau Mama
erwischte, mußte ich erkennen, daß sie gar nicht so übel
ist. Wir sprachen uns aus, und als Sie immer wieder
betonte, wie über ihr die Gängelei der Mutter wäre,
entschloß ich mich, sie zu heiraten ohne Schwiegermütter,

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das war die Bedingung, die ich stellte.«
»Nun, dann wäre ja alles geklärt, Herr Frischling. Wie

stehen Sie sonst zu meiner Mutter?«
»Gar nicht. Ich halte sie mir vom Hals.«
»Weiß sie, daß Sie ihr nach der Hochzeit das Haus
verschließen werden?«
»Nein, die Zeterei wollte ich mir ersparen. Ich werde sie
einfach vor die vollendete Tatsache stellen.«
So geschah es denn auch. Was sich dabei abgespielt hatte,
wußte Ulf nicht, weil er gleich nach der Trauung des
jungen Paares abgereist war: Er erhielt nur einen Brief von
der Mutter, in dem diese erklärte, daß sie jetzt keine
Tochter Martina mehr hätte. Sie wäre das undankbarste,
gefühlloseste Geschöpf unter der Sonne und ihr Mann,

dieser Schlosser, ein ganz ordinärer Flegel. Sie weile jetzt in
einem Bad, um ihre vollständig zerrütteten Nerven
auszukurieren.
»Na, da muß es ja ziemlich heiß hergegangen sein«,
schmunzelte Onkel Ludwig, der durch den Neffen
vollkommen im Bilde war. »Denn so wie du mir den Mann
geschildert hast, fackelt der nicht viel. Hoffentlich wird
Martina sich mit ihm verstehen.«
O doch, sie tat es. Führte mit ihm sogar eine ganz gute Ehe.
Ihr war ja die Hauptsache, daß sie sich alles das leisten
konnte, was ihr Herz begehrte, und er war zufrieden, daß
sie ihn mit Gefühlsduseleien in -Ruhe ließ.

Und eines Tages tauchte dann auch wieder die Frau
Baronin in Herrnhagen auf und zwar in Gesellschaft
gleichgesinnter Seelen. Zwei Damen, die sich freuten, im
Witwenhaus ein gutes Unterkommen zu finden, denn ihre
Rente betrug nicht gerade viel. Aber soviel immerhin, daß
sie der Baronin nicht auf der Tasche zu liegen brauchten,
diese altjüngferlichen Schwestern, bei denen ein Mensch
ohne Titel ein untergeordnetes Wesen war.
Es fand sich sogar ein Ehepaar, das die drei Damen
betreute. Und da der Mann den Führerschein besaß, wurde
ein Auto angeschafft, von dem man ausgiebigst Gebrauch

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machte.
Jedenfalls war die Frau Baronin jetzt bestens untergebracht,

worüber ihre beiden Kinder im Schloß nicht wenig froh
waren.
Unentwegt raste die Zeit dahin, und es kam wieder einmal
der zwölfte November. Draußen regnete es und stürmte,
doch im Schlößchen war es mollig warm. Einsilbig und
verträumt saß Hariet da und merkte gar nicht, daß die
Augen der Mutz sie immer wieder aufmerksam forschend
streiften.
Das Mädchen gefiel ihr nicht. Aber nicht etwa, weil es sich
irgend etwas zuschulden kommen ließ. Im Gegenteil, die
Kleine war reizend in ihrer Art, immer zärtlich bemüht um
die Mutz, heiter und vergnügt.

Und doch…
»Gehen wir schlafen«, sprach Regina in die Stille hinein.
»Denn morgen geht es heiß her, wozu wir Kräfte sammeln
müssen. So viele Menschen abfüttern und vergnügen zu
müssen, strengt die Gastgeber immer an.«
»Muß das überhaupt sein, Mutz? Können wir meinen
Geburtstag nicht in beschaulicher Ruhe verleben?«
»Nein, mein Kind, das können wir nicht. Wir leben nun
mal in dieser Gesellschaft und müssen dem Rechnung
tragen. Außerdem solltest du dich schämen, mit deinen
dreiundzwanzig Jahren, die du morgen feiern wirst, schon
zu resignieren. Sieh mich an, die ich fast dreißig Jahre älter

bin als du. Ich finde mich in jeder Wirbelei zurecht, weil
ich eben mitwirbele.«
»Dafür bist du ja auch einmalig, mein Mutzilein«, kam es
stolz und sehr zärtlich zurück. »Du bist mein Vorbild, mein
Ideal.«
»Erbarm dich, Madchen, und hör auf!« hob Regina
beschwörend die Hände. »Sentimentalitäten stehen dir
nicht – und mir schon gar nicht. Geh lieber schlafen und
sei morgen wieder mein herzfrohes Vögelein.«
»Nein, Mutz, ich möchte musizieren.«
»Dann tu’s, mein Herz, aber verliere dich nicht gar zu sehr

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in Liebesliedern.«
»Liebeslieder? Wie kommst du denn darauf?«

»Nun, ich meinte nur so. Denn: Lieb ist Wunder, Lieb ist
Gnade, die wie der Tau vom Himmel fällt – sagt Geibel in
seinem Minnelied. Daher spiel mir eins vor.«
»Also doch«, lachte Hariet, aber das Lachen klang nicht
ganz echt. »Jetzt gerade laß ich die Minne sausen, du liebste
aller Spottdrosseln und spiele Frühlingslieder…«
»Die von der Minne nicht zu trennen sind.«
»Ach, Mutz, du bist mir ja doch über.«
Damit setzte Hariet sich an den Flügel, spielte und sang,
was ihr gerade in den Sinn kam. Aber was sie auch
beginnen mochte, es sprach alles von Liebe – ob es da eine
Arie war oder ein Volkslied. Es war eine Lust, diesem

kleinen Musikgenie zuzuhören. Vergnügt brummte Regina
die Weisen mit – bis sie dann aufhorchte und verschmitzt
in sich hineinlachte. Denn jetzt klang etwas auf, ganz süß
und leise, fast wie ein Gebet:

Ich trage meine Minne, vor Wonne stumm,
im Herzen und im Sinne, mit mir herum.
Ach, daß ich dich gefunden, du mein liebes Kind,
das freut mich alle Tage, die mir beschieden sind.

Klopften da nicht Tränen in der herzwarmen Stimme mit?
Die Menschenkennerin Regina hörte sie jedenfalls heraus

und unterbrach die holde Sängerin absichtlich burschikos:
»Laß es genug sein des grausamen Spiels, Kleines. Mein
Bettzipfel Winkt ganz gewaltig.«
So trennte man sich herzlich zur guten Nacht. Und da zog
die Mutz, die so viel Herz und Gemüt besaß wie selten eine
Frau, das Mädchen in die Arme, das sie mehr liebte als alles
auf der Welt.
»Hör zu, mein Ettekind, es tut nicht gut, seine Minne vor
Wonne stumm in sich zu tragen. Sie darf ruhig ein bißchen
Krach machen.«
Damit schob sie das verdutzte Mädchen ab, das sich erst

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gar nicht Mühe gab, über diese seltsamen Worte
nachzudenken.

Als sie später in ihrem luxuriösen Bett lag, sah sie nach der
Uhr. Fünf Minuten noch, dann wurde sie dreiundzwanzig
Jahre.
Und was hatten sie ihr gebracht? Einundzwanzig Jahre lang
ein echtes Aschenputteldasein voll Einsamkeit und
Entbehrung. Danach ein Jahr in einem Dienstverhältnis
voller Demütigungen aller Art – und dann ein Jahr voller
Glanz und Verwöhnung, voll echter, wahrer Mutterliebe.
Und doch, etwas fehlte in diesem Leben. Etwas, das wie der
Ton einer Äolsharfe war, so zart und süß.
Vom Turm des Schlößchens schlug die Uhr, klangvoll und
tief. Da falteten sich zwei zarte Hände, und ein junger

Mund flehte inbrünstig:
»Lieber Gott, sei mir nicht böse, daß ich so undankbar bin.
Strafe mich nicht dafür – bitte! – obwohl ich es verdient
hätte. Sei mir gnädig – so ganz gnädig und laß mich so
ganz aus tiefstem Herzen glücklich sein.«
Das Gebet verstummte, es war genau zwei Minuten nach
zwölf.
Und zum dritten Male trat die Fee in den Traum des jungen
Menschenkindes. Sie lächelte lieb und mild.
»Auch dein dritter Wunsch sei dir gewährt, kleine Hariet.
Du sollst glücklich werden – so ganz von Herzen glücklich.
Danke Gott dafür, daß er dich so gütig geführt. Werde nie

hoffärtig in deinem Glück, bleibe Gott demütig für alle
Zeit. Dann wird dein Leben ein köstliches sein, gesegnet
durch die Güte des Höchsten.«
Als Hariet am nächsten Morgen erwachte, war sie nicht so
einsam und arm wie vor zwei Jahren, nicht so verzweifelt
und gehetzt wie vor einem Jahr, sondern konnte sich im
weichen Bett dehnen und strecken, als verhätscheltes
Töchterlein des Hauses. Hätte also Muße gehabt über den
seltsamen Traum nachzudenken – aber er war fort aus
ihrem Gedächtnis, einfach ausgelöscht. Die drei Wünsche,
die ihr das Schicksal freigab, waren ausgesprochen. Nun

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würde sie beweisen müssen, ob sie dieser Gnade wert war,
ohne jeden Einfluß einer höheren Macht.

Unten zog die vielgeliebte Mutz sie herzlich in die Arme
und sagte weich:
»Mein Wunsch für dich, mein Herzenskind, ist, daß du so
ganz aus tiefstem Herzen heraus glücklich werden mögest.«
Damit schob sie das Mädchen an den Geburtstagstisch, wo
es mal für eine Weile gut untergebracht war. Denn alles,
was darauflag, mußte gebührend bestaunt und bejubelt
werden. Hariet freute sich und lachte.
Aber auch die Mutz lachte und zwar sich ins Fäustchen.
Denn als sie am Vormittag zur Stadt fuhr und den Wagen
auf einem Platz parkte, stand da der Baron von Eggeroth
und schloß gerade seinen Wagen auf.

Wie schon gesagt, diese Frau verstand blitzschnell zu
kombinieren – was sie denn jetzt auch tat.
Charmant, wie sie nun einmal war, trat sie auf den Mann
zu und sagte harmlos:
»Guten Tag, Herr Baron! Fahren Sie nach Hause?«
»Ganz recht, gnädige Frau.«
»Dann tun Sie mir bitte einen Gefallen, ja?«
»Mit dem größten Vergnügen.«
»Also! Da Sie ja sowieso am Schlößchen vorbeifahren
müssen, wird es Ihnen wohl nichts ausmachen dort
vorzusprechen und meiner Tochter zu bestellen, daß sie
nicht mehr die Minne verstecken soll.«

»Wie bitte?« fragte er verdutzt, und sie lachte.
»Das kann ich Ihnen leider nicht erklären, weil mir die Zeit
dazu fehlt. Aber meine Tochter wird Bescheid wissen.
Hoffentlich treffe ich Sie noch im Schlößchen an, wenn ich
zurückkomme.«
Ihn lieb anlächelnd ging sie davon – und er sah ihr
kopfschüttelnd nach.
Und da das Schicksal schon längst auf der Lauer lag, um
sich an zwei liebeheißen Herzen zu erfüllen, fand es auch
einen Weg dazu. Denn gerade als der Diener dem gnädigen
Fräulein den Besuch des Herrn Baron von Eggeroth

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meldete, saß diese am Flügel, spielte und sang so recht von
Herzen traurig:

»Ich trage meine Minne, vor Wonne stumm, im Herzen
und im Sinne, mit mir herum.«
Mit einem Mißton riß das Spiel ab – und was dann vor
dem Mann stand, war ein vor Schreck erblaßtes Mägdlein,
das seine Augen jetzt gar nicht in Gewalt hatte – aber auch
gar nicht. Und da ja nach weisem Ausspruch das Auge der
Spiegel der Seele sein soll, lag diese Seele denn sozusagen
nackt und bloß da.
Und es war bestimmt nicht schön von dem Mann, daß er
nun lachte – ein übermütiges, so recht glückhaftes Lachen.
Es verwirrte das arme Mädchen so sehr, daß es nicht dazu
fähig war, die gewohnt hochmütige Miene aufzustecken.

»Verzeihung, gnädiges Fräulein«, wurde er gleich wieder
ernst, konnte jedoch den lachenden Augen nicht gebieten.
»Darf ich Ihnen sagen, daß Sie die prächtigste Frau der Welt
Mutter nennen dürfen?«
»Das weiß ich doch schon längst«, fand nun das Mädchen
seine Sicherheit wieder. »Aber was hat das damit zu tun,
daß Sie herkommen und mich auslachen?«
»Alles!« blitzte es in den Männeraugen auf. »Denn die
charmante Frau Mama schickt mich her, um Ihnen durch
mich sagen zu lassen, daß Sie nicht mehr die Minne
verstecken sollen. Wollen Sie ihr gehorchen – Hariet?«
Entzückt betrachtete er dann, wie heißes Rot das

Mädchenantlitz überflutete. Wie seine wundersamen
Augen zuerst entsetzt blickten – und sich dann langsam
mit Tränen füllten.
Und da fackelte der Mann nicht länger, der so lange seine
heiße Liebe zu dem bezaubernden Geschöpf hinter
Gleichgültigkeit und kühler Gelassenheit hatte verstecken
müssen. Der seine Minne nicht mit Wonne trug, sondern
mit qualvoller Sehnsucht.
Und dann sollte Hariet erfahren, wie weich die herrische
Männerstimme kl in* gen konnte, wie es aus den kühlen
Augen brechen konnte, gleich einem blauen, blitzenden

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Strahl – den Strahl heißer Liebe.
»Oh«, sagte das Mädchen da überwältigt vor seligem

Schreck. Und das war mal zuerst alles, was sie sagen
konnte, weil ein anderer Mund den ihren verschloß.
Bis eine lachende Stimme die Liebenden aus ihrer
Versunkenheit riß:
»So ähnlich habe ich es mir gedacht. Kommt her, ihr
Dickköpfe, die vor lautet Hemmungen nicht zueinander
finden konnten. Da mußte erst eine alte Frau Kopf gegen
Köpfchen stoßen.«
»Oh, Mutz!« jubelte Hariet, sich glücklich an sie
schmiegend. »Er hat mir ja noch nicht mal einen
Heiratsantrag gemacht. Er lachte mich zuerst aus und nahm
mich dann einfach in die Arme.«

»So gehört sich das auch für einen echten Kerl«, kam es
ungerührt zurück. »Warum da erst viele Worte machen? Er
ist gekommen im Sturm und Regen, er hat genommen
mein Herz verwegen – und damit holla! Und nun wenden
wir Sekt trinken.«
»Aber Mutz, am Vormittag?«
»Warum denn nicht, du Dummchen. Den habe ich mir
doch wohl redlich verdient.«
Das erkannte man ohne weiteres an und begoß die
Verlobung, die heute abend bestimmt Furore machen
würde.
»Wer wird denn alles hier erscheinen, Mutz?« erkundigte

sich der neugebackene Schwiegersohn, und sie lachte.
»Der Name ist dir ja bereits geläufig, mein Sohn. Wie alt
bist du überhaupt?«
»Dreißig.«
»Und ich bald einundfünfzig. Da kann ich dir also mit
ruhigem Gewissen Mutter sein. Und wer erscheinen wird?
Natürlich die Elite, mein Jungchen – wozu wir nun auch
deine liebe Mutter mit ihren verwandten Seelen werden
zählen müssen. Denn übergehen können wir sie jetzt nicht
mehr – hoffentlich sagen sie ab.«
Aber sie dachten gar nicht daran. Erschienen mit einer

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Miene, als ob man sie mit der Einladung beleidigt hätte.
Die Verlobung sollte erst bei Tisch bekanntgegeben

werden, und die Mutz mußte immer wieder mahnen:
»Kinder, werft euch nicht so verliebte Blicke zu. Ihr verpatzt
mir dabei die Überraschung, auf die ich mich wie ein
Spitzbube freue.« Und als alle Ermahnungen nichts
nützten, sperrte sie die verliebten Leutchen einfach in ein
separates Zimmer.
»So, ihr Nichtsnutze, hier bleibt ihr bis zum Essen.«
»Geliebte Mutz, was besseres konntest du uns gar nicht
antun!«
»Sei still, du Bengel! Daß du noch einmal so närrisch sein
könntest, hätte ich nie geglaubt.«
Lachend entschwand sie und holte das Paar erst zu Beginn

der Tafel wieder, an der aller Glanz entfaltet wurde, den
diese Frau sich leisten konnte. Sehr apart sah sie wieder
einmal aus in ihrem raffiniert einfachen Kleid. Die sehr
gepflegten, glatt zurückgekämmten Haare gaben ihr eine
besondere Note, das Monokel blitzte.
Und das Töchterlein? Nun, das war bezaubernder denn je.
Es war dem Verlobten nicht zu verdenken, daß er dieses
zaubersüße Menschenkind trunkenen Blickes betrachtete.
Und dann war der Moment da, wo er seine Verlobung
bekanntgeben konnte. Zuerst Stille – doch dann brach ein
kaum enden wollender Jubel los. Hauptsächlich die beiden
Backfischchen benahmen sich halb irrsinnig vor Freude.

Aber auch das Ehepaar Warring war beglückt, gleichfalls
Exzellenz nebst der feinen Gattin. Sie hatten nun mal die
beiden Damen aus dem Schlößchen ins Herz geschlossen,
gleichfalls den Baron von Eggeroth samt seiner kleinen
Schwester. Mit den lieben Menschen Kontakt zu behalten
für alle Zeit, war der Wunsch des kinderlosen Ehepaares.
Bei den anderen Gästen war die Freude gemäßigter – und
schon gar keine zeigte sich bei den Herren, die sich
Hoffnungen auf das Goldfischchen gemacht hatten.
»Was dieser arrogante Baron für einen Dusel hat, das steht
wohl einzig da«, sagte einer dieser enttäuschten Herren zu

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einem anderen, der auch nicht gerade vergnügt
dreinschaute. »Nicht nur daß das Balg zauberhaft aussieht,

hat es auch noch Köpfchen, das dazu fähig ist, die
Aufzeichnungen des Vaters richtig auszubeuten, die allein
schon ein Vermögen wert sind. Natürlich zusammen mit
der Mutz, die ja nun wirklich in allen Sätteln gerecht ist.
Über die Schwiegermutter kann der Baron sich noch extra
freuen.«
»Das kann er auch wirklich, mein Herr«, ließ eine lachende
Stimme die beiden herumfahren. »Ich freue mich sogar
über mich.«
Weg war sie – und die Herren machten ein langes Gesicht.
Und ein noch längeres machte die Frau Baronin – zuerst.
Denn sie faßte sich rasch und knöpfte sich den

glückstrahlenden Bräutigam vor.
»Mein Sohn, wie kommst du dazu, dich ohne die Erlaubnis
deiner Mutter zu verloben?« machte sie ihrer Empörung
Luft, die ihr jedoch gleich wieder wegblieb, als dieser
entartete Sohn freundlich erwiderte:
»Weil ich schon längst von deinem Rockzipfel weg bin,
Mama.«
Damit ließ er sie stehen, die mit Wut geladen war bis zur
Halskrause. Und diese Wut konnte sie noch nicht einmal
entladen. Denn diese impertinente Forschersfrau bekam es
fertig, sie aus dem Haus zu weisen – wie sie dieser
Schlosser, der sich stolz ihr Schwiegersohn nennen durfte,

hinausgewiesen – oder richtiger gesagt: hinausgeworfen
hatte. Und Martina, ihr Glück, ihr Augentrost, sah dem mit
eiskaltem Lächeln zu.
Nun ja, tragisch war das alles schon. Aber jeder kann eben
nur das ernten, was er säte. Und diese Mutter hatte keine
gute Saat ausgestreut.
Anders die Mutz. Die liebte man, die verehrte man. Die
gehörte einfach mit zum Glück der Verlobten. Für sie war
sie höchste Instanz und würde es auch imitier bleiben.
Ebenso wie das Ehepaar Warring bei seinen Kindern. Denn
auch es hatte immer nur Liebe gesät.

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»Eigentlich kann die Frau einem leid tun«, sagte die Mutz,
als die Gäste fort waren und man im Kreise der

Verschworenen noch gemütliche Nachfeier hielt. »Denn
kein Mensch kann schließlich aus seiner Haut heraus. Im
Grunde genommen kann sie sich nämlich selbst nicht
leiden. Warum schmunzeln Sie denn so, Exzellenz?«
»Weil Sie wieder einmal den Nagel auf den Kopf getroffen
haben, gnädige Frau.«
»Oja, Mutz, das hast du«, kroch Dolly ihr vor Begeisterung
halb auf den Schoß. »Wir haben dich ja alle so lieb und
sind so stolz auf dich. Und verlassen wirst du nicht sein,
wenn Hariet heiratet. Dann zieh ich zu dir und bin dein
Kind.«
»Äußerst beruhigend für die Mutz«, lachte Onkel Ludwig.

»Hast du eine Ahnung, Marjellchen! Die Mutz wird nie
allein sein, weil sie für uns alle der ruhende Pol ist.«
»Das war ein gutes Wort, Onkel Ludwig«, sagte Ulf warm,
und die anderen stimmten aus tiefstem Herzen zu.
»Nun macht mich mal hier nicht verlegen, ihr
überschwenglichen Gemüter. So geht es mir nun. Die ich
nach dem Tode meines liebsten Edwin allein zu stehen
glaubte, habe jetzt eine große Familie am Hals.«
»Bravo, Mutz, darauf müssen wir einen trinken!« rief
Exzellenz begeistert. »Auf die Frau, die sich durch niemand
und nichts verblüffen läßt!«
Und das stimmte. Denn sie war nicht einmal verblüfft, als

sie mit den Verschworenen am nächsten Vormittag beim
Katerfrühstück saß und ein Mann hereinkam, den die
anderen wie einen Geist anstarrten. Mutz jedoch tat es
nicht, sie rief lachend:
»Man immer hereinspaziert, Herr Melchior. Denn ohne.
Ihren Glückwunsch kann das junge Paar doch unmöglich
glücklich werden.«
»Melchior!« rief jetzt auch Ulf gleichfalls lachend: »Soll ich
denn meinen Augen trauen? Du Einsiedler machst einen
Besuch?«
»Na Ehrensache«, schmunzelte der Mann, der in seinem

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altmodischen Bratenrock sehr würdig aussah. »Wenn so ein
feines Prinzeßlein sich verlobt, da sitzt selbst unser lieber

Herrgott zu Gast.« Damit überreichte er der
freudestrahlenden Hariet fünf seiner so ängstlich gehüteten
»Königinnen«.
»Die sind zur Verlobung, gnädiges Fräulein«, verneigte er
sich galant. »Zur Hochzeit gibt es etwas ganz Apartes.«
»Kommt ihr auch zu«, meinte die Mutz seelenruhig. »Und
nun reihen Sie sich ein in unsere Runde, Sie lieber Gast.
Dudeln Sie sich ruhig einen an, das ist die Sache schon
wert.«
Und schon war es aus mit der feierlichen Stimmung. Sie
wurde fröhlich wie zuvor, und dieser Ehrengast wurde
allgemein becourt. Schmunzelnd ließ er es sich gefallen.

Sagte bedächtig, nachdem er den ersten Schluck auf das
Glück des Brautpaares getrunken hatte:
»Es ist nun einmal was eigenes um unser Prinzeßlein, das
spürte ich sofort, nachdem ich es sah. Wir sind glücklich,
eine solche Herrin zu bekommen, die Mamsell, der Lorenz,
der August und ich. Die sind halb närrisch vor Freude.«
»Noch mehr als ich, Melchior?« Da ging ein Lachen über
das faltige Männerantlitz.
»Nein, wohl kaum. Denn so närrisch wie der Herr Baron
sich benahm, als er gestern zu mir hereinplatzte und
Blumen holte, das war schon der Höhepunkt von
Närrischsein.«

Da brach ein kaum endenwollender Jubel los. Als der sich
gelegt hatte, fragte die Mutz mit spitzbübischem Lächeln:
»Und was wird dem jungen Paar beschieden sein, Sie
Hellseher?«
»Hat sich was mit der Hellseherei, gnädige Frau«, kam es
schmunzelnd zurück. »Denn so hell wie ich, dürften wir
alle hier sehen, nämlich: Daß da immer daß Glück ist, wo
die Liebe haust. Und daran wird es im Schloß niemals
mangeln.«
Und damit sollte er recht behalten. Denn die junge
Baronin erfüllte das, was die Fee ihr riet: Sie dankte Gott

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für ihr Glück immer wieder aufs neu, wurde nicht hoffärtig
dabei – und so wurde denn ihr Leben ein köstliches und

ein gesegnetes.
ENDE


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