Metzger, Barbara Begegnung mit dem Schicksal

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Barbara Metzger

Begegnung mit dem Schicksal

Roman

Aus dem englischen von Dr. Hannelore Wiertz-Louven

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An Ideen und Abenteuerlust fehlt es der jungen Miss Sydney Lattimore wahrlich
nicht. Um einen vermögenden Gatten für Ihre hübsche Schwester Winifred zu
finden, überredet Sydney sie und den Großvater für eine Saison in London ihr
Glück zu versuchen. Das nötige Kapital, um das herrschaftliche Haus in der Park
Lane zu mieten, will sie bei einem Geldverleiher besorgen. Durch Zufall gerät
sie dabei aber, ohne es zu bemerken, an Forrest Mainwaring, Viscount Mayne,
der gerade die Spielschulden seines Bruders beglich. In ihrer Aufregung bittet
sie Forrest auf so beeindruckende Weise um das Darlehen, dass er zustimmt.
Schon wenig später trifft er erneut auf die ungewöhnliche junge Dame: Er
glaubt seinen Augen kaum zu trauen: Sie organisiert tatsächlich einen
Boxkampf. Für Forrest ist klar, dass er sich um Sydney, die Gefahr läuft, ihren
Ruf zu verlieren, kümmern muss. Wie schwer es wird, die „Widerspenstige“ zu
zähmen, ahnt er zu diesem Zeitpunkt nicht…

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Die englische Originalausgabe erschien 1991 unter dem Titel An Affair of Interest bei Ballantine Books,

New York.

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www.weltbild.de

Copyright der Originalausgabe © 1991 by Barbara Metzger

Genehmigte Lizenzausgabe © 2014 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg

Published by arrangement with Barbara Metzger

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.

© der deutschen Übersetzung Harlequin Enterprises GmbH, Hamburg, 1998

Übersetzung: Dr. Hannelore Wiertz-Louven, (AN AFFAIR OF INTEREST)

Covergestaltung: Atelier Seidel - Verlagsgrafik, Teising

Titelmotiv: © Romance Novel Covers

E-Book-Produktion: Datagroup int. SRL, Timisoara

ISBN 978-3-95569-345-9

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1. KAPITEL

Weder Miss Winifred Lattimore noch ihre jüngere Schwester Sydney konnten
sich erlauben, an eine Liebesheirat zu denken. Ihr kleines Haus brauchte
dringend ein neues Dach, doch ihre geringen Mittel reichten gerade für das
Nötigste. Zumindest eine der beiden mußte einen reichen Ehemann finden.

„Aber weshalb denn gerade ich?“ fragte Winifred und zerrte ungeduldig an

den Fäden ihrer Stickarbeit. Zu ihrem offensichtlichen Unbehagen dauerte die
Diskussion nun schon einige Zeit an.

„Du bist die Ältere, Winnie, deshalb mußt du als erste heiraten“, antwortete

ihre Schwester und griff nach dem Garnknäuel. Anmutig ließ sie sich zu Füßen
des Großvaters auf einem Schemel nieder. Sie glättete die Decke über seinen
Knien und begann, die Fäden zu entwirren. „Hab’ ich nicht recht, Großvater?“

Harlan Lattimore, der pensionierte General, brummte etwas Unverständliches

und fuhr mit zittriger Hand seiner Enkelin über den im Sonnenlicht glänzenden
rotgoldenen Zopf, als ob er sagen wollte, sie sei ein liebes Mädchen.

Sydney hielt dies für seine Zustimmung. „Siehst du, Winnie, der General ist

der gleichen Meinung. Himmel, du bist schon zwanzig. Willst du etwa hier in
Little Dedham eine alte Jungfer werden? Ich bin erst achtzehn und habe noch
genügend Zeit, bis ich unter die Haube komme. Außerdem bist du die
Hübschere von uns beiden.“

Der General brummte wieder. So schnell brauchte er auch nicht zustimmen,

dachte Sydney. Winnie war zierlich und blond; sie hatte den hellsten Teint, den
man sich vorstellen konnte, blaue Augen und das Lächeln einer Madonna. Sie
war eine allseits bewunderte Schönheit. Sydney runzelte ärgerlich die Stirn
über das verhedderte Garn auf ihrem Schoß und dachte an ihren eigenen
kupferroten Lockenwust, der allen Bändigungsversuchen widerstand. Natürlich
paßt das Haar zu meinen Sommersprossen und der komischen
haselnußbraunen Augenfarbe, fuhr sie mit ihren stillen Überlegungen fort; und
dann mein Teint, sonnengebräunter als für eine Dame zulässig, und meine
recht kräftige Figur. Nein, Winnie hatte die größeren Chancen, einen reichen
Mann zu angeln.

„Außerdem bist du die Häuslichere, Winnie; du unterrichtest in der

Sonntagsschule, besuchst die Armen in der Gemeinde und konntest es kaum
erwarten, daß Clara Bristowes Baby geboren wurde.“

„Ja, aber ein reicher Mann mit einem großem Haus?“ Winnie nestelte nervös

an den Bändern ihrer Schärpe. „Ich weiß nicht, Sydney. Du könntest so etwas
viel besser verwalten. Denk doch nur, wie du für uns sorgst, seit Mama
gestorben ist.“

Der General nickte zustimmend. Sydney hatte gut hausgehalten mit dem,

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was die Regierung Seiner Majestät als ausreichende Anerkennung für ihre
pensionierten Offiziere hielt. Seit Großvaters Schlaganfall kurz nach Mamas Tod
hat Sydney das Kunststück fertiggebracht, mit dem dürftigen Einkommen
sowohl das kleine Haus als auch Großvaters Bequemlichkeit aufrechtzuhalten,
nur unterstützt von der Haushälterin Mrs. Minch und dem alten Griffith, dem
Burschen des Generals.

„Genau, Winnie“, erklärte Sydney stolz. Ihr Stolz beruhte allerdings mehr

darauf, daß es ihr gelungen war, ein paar besonders verhedderte Fäden zu
entwirren, als auf ihrem sparsamen Wirtschaften. Letztere Fähigkeit, so hoffte
sie, würde in Zukunft nicht mehr vonnöten sein. „Genau deshalb sollten wir uns
bemühen, einen Ehemann für dich zu finden. Kein Mann will eine Frau, die ihn
kommandiert, Winnie. Die Männer wollen ein liebes, sanftes Mädchen.“
Grübchen bildeten sich auf Sydneys Wangen, als sie liebevoll lächelnd zu ihrer
Schwester aufblickte. „Niemand ist sanfter und gütiger als du, Schwesterherz.
Ein Mann, der dich zur Braut gewinnt, kann sich glücklich schätzen.“

Winnie errötete leicht, und der General brummte seine Zustimmung. Dann

strich er Sydney abermals über das Haar.

Sydney legte ihre Hand auf seine knochigen Finger. „Ja, Großvater, ich weiß,

du liebst mich so, wie ich bin. Wir werden es schon schaffen.“

Der alte Mann lächelte, und Sydney fühlte sich fast ein bißchen schuldig, daß

sie ihn jetzt viel besser leiden konnte als früher, da er noch im Besitz all seiner
Kräfte war. Er hatte das Haus wie eine militärische Institution geführt und ihnen
allen, auch Mama, das Leben zu Hölle gemacht. Doch eines Tages war er vom
Pferd gefallen, und seitdem er nicht mehr gehen und sprechen konnte, war es
bei den Lattimores wesentlich friedvoller.

Er hatte sich schweigend in seinen Rollstuhl zurückgezogen, hielt manchmal

ein Nickerchen in der Sonne, ließ sich von seinen Enkelinnen die
Kriegsnachrichten vorlesen, ertrug den Dorfklatsch und genoß Sydneys gute
Küche.

Winifred rieb sich mit einem zerschlissenen Spitzentüchlein die Augen. „Was

aber, wenn ich den Mann, den ich heiraten soll, nicht mag, Sydney?“

Sydney sprang hoch und schleuderte das Garn in die Ecke. „Dumme Gans“,

schimpfte sie und umarmte ihre Schwester. „Das ist dein Talent. Ich bin
geschäftig und kratzbürstig, aber du liebst jedermann!“

Als nächstes stellte sich natürlich die Frage, woher das Musterexemplar
nehmen, das gut genug für Winnie war. Reich sollte der Gentleman vor allem
sein; aber Sydney bestand darauf, daß er auch gebildet sein mußte. Sie wollte
ihre sanfte Schwester nicht irgendeinem Gewürzhändler in die Arme werfen, der
hoffte, mit einer Heirat seinen gesellschaftlichen Status verbessern zu können.
Er sollte aber auch recht ansehnlich sein, dieser Ehemann, dem Winnie für den
Rest ihres Lebens beim morgendlichen Frühstück begegnen würde. Und

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liebevoll. Vor allem aber mußte er großzügig sein, so großzügig, daß er eine
Braut samt ihrer mittellosen Familie und einer winzigen Aussteuer akzeptierte.

Die Antwort auf all diese Fragen war London! Gewiß, ein solches

Musterexemplar von Mann ließe sich auch an anderen Orten finden, nur nicht in
Little Dedham. Die Junggesellen des Ortes – ob Schafzüchter, die Söhne des
Friedensrichters, die Lehrer oder die Tuchhändler – verkehrten alle seit Jahren
im Cottage, aber keiner konnte Winifreds romantischen Träumen oder Sydneys
geschäftstüchtigen Vorstellungen von einem Ehemann gerecht werden.

„London, Sydney?“ Winnie lachte hell auf. „Wer träumt denn nun? Du weißt

doch, Tante Harriet würde uns niemals einladen.“

„Ich würde die alte Ziege auch nicht fragen!“ Winnie holte tief Luft. Sydney

sah nicht im geringsten schuldbewußt aus, als sie so geringschätzig von ihrer
Tante mütterlicherseits sprach. „Es stimmt doch, Winnie! Uns weiszumachen,
was für eine Anstrengung es für sie bedeutet, Kusine Trixie in die Gesellschaft
einzuführen! Eine zweite Debütantin kann sie nicht verkraften, daß ich nicht
lache! Sie befürchtet nur, daß du Trixie in den Schatten stellen könntest.“

„Immerhin hat sie uns zu Sophys Hochzeit eingeladen“, versuchte Winnie

einzuwenden.

„Sicher, und dich hat sie neben diesen stummen jungen Hilfspfarrer plaziert.“
„Er war sehr schüchtern.“
„Er war ärmer als eine Kirchenmaus und ohne Anstand. Dich hat sie jedenfalls

noch besser als mich behandelt. Ich mußte Sophys Hochzeitsgeschenke
auflisten.“

„Die Tante weiß eben, wo deine Fähigkeiten liegen, liebste Sydney“,

versuchte Winnie mit sanfter Stimme ihre ungehaltene Schwester zu
beschwichtigen.

Ohne Erfolg. Seit Jahren hatte Sydney unter den Kränkungen gelitten, die

Lady Harriet Windham ihrer Familie zufügte. „Tante Harriet weiß genau, wie sie
unbezahlte Hilfskräfte ausbeuten kann.“

„Aber Sydney, du hättest sowieso nicht an der Feier teilnehmen können, du

warst damals noch gar nicht in die Gesellschaft eingeführt.“

„Das werde ich auch niemals, wenn wir es Tante Harriet überlassen.“ Sydney

stand auf und begann, durch das kleine Wohnzimmer zu wandern. Winifred
schob hastig den Großvater aus dem Weg. „Laß dir sagen, Winnie, von Tante
Harriet kannst du keine menschliche Wärme erwarten, für uns würde sich diese
geizige Ziege niemals auch nur von einem roten Heller trennen.“

„Sydney!“ Winifreds Ermahnung ging in dem stillvergnügten Glucksen des

Großvaters unter. Er hatte Tante Harriet nie leiden mögen. Zu ihren
Vorstellungen von Anstand hatte es nicht gepaßt, daß Lord Windhams jüngere
Schwester Elizabeth mit einem jungen Leutnant davongelaufen war. Daß
Geoffrey Lattimore Elizabeth als Witwe mit zwei kleinen Mädchen zurückließ,

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gefiel ihr noch viel weniger. Mit Lord Windhams eigenem Ableben war dann
auch die äußerst widerwillige Unterstützung von dieser Seite beendet worden;
damals hatte der General es wie eine Erlösung empfunden. Die Lattimores
waren eine angesehene alte Familie, die seit Generationen im Dienste von
Krone und Vaterland stand. Aber man konnte nicht an der Tatsache
vorbeikommen, daß im Gegensatz zu den Windhams es keiner der Lattimores
zu Landbesitz oder Reichtümern gebracht hatte. Der General schlug mit der
Faust auf die Armlehne. Zum Teufel mit dem Geizkragen!

Sydney nahm die Stickarbeit erneut zur Hand und versuchte, das

Durcheinander der Fäden zu entwirren. Ihr Ärger war schon wieder verflogen.
„Ich habe einen Plan“, verkündete sie mit einem sonnigen Lächeln.

Winnie stöhnte, aber ihre Schwester ignorierte sie.
„Wirklich! Wir gehen auf eigene Faust nach London, mieten uns ein Haus und

bauen unsere eigenen Verbindungen auf. Wir werden Tante Harriet nicht um
Hilfe bitten, und so kann sie uns auch nichts abschlagen. Sind wir erst einmal
da, wird sie uns natürlich vorstellen oder zumindest zu Trixies Ball einladen
müssen. Sie wäre unten durch bei ihren Freunden im ton, wenn sie ihre
Verwandten ignorieren würde, und ihr wißt, daß Tante Harriet auf
Äußerlichkeiten sehr viel Wert legt. Vielleicht ist sie uns ja auch freundlicher
gesonnen, wenn sie merkt, daß wir ihr nicht zur Last fallen oder sie um Geld
bitten.“

Winnie verzog besorgt ihr hübsches Gesicht: „Aber wenn wir sie nicht um

Geld bitten, Sydney, wie sollen wir in London zurechtkommen?“

Sydney hielt ihre Augen auf die Stickerei gerichtet und murmelte etwas.
Der General gab ein Geräusch von sich, und Winnie fragte noch einmal: „Wie

stellst du dir das vor?“

„Seit ungefähr einem Jahr habe ich immer etwas vom Haushaltsgeld gespart,

und zwar von unserem Kleiderbudget.“ Winnie strich über den Rock ihres
geblümten Musselinkleides, das so viele Wäschen hinter sich hatte, daß
niemand mehr sagen konnte, welche Farbe die kleinen Blüten einmal gehabt
hatten. Sie hatte kein neues Kleid bekommen seit ...

Der General brummte aufgeregt. „Und an deinem Wein, Großvater. Der Arzt

hatte gemeint, Alkohol sei nicht gut für deine Gesundheit.“

Winnie dachte über den Wagemut der Schwester nach. Das Geld für einige

Meter Kleiderstoff, ein paar Flaschen Wein, etwas Feuerholz und einige Kerzen
reichte niemals aus, um die Kosten für eine Saison in London zu bestreiten.
Bevor sie etwas fragen konnte, fuhr Sydney fort:

„Ihr erinnert euch, daß Mama immer gesagt hat, ich könne gut mit Zahlen

umgehen. Nun, seit sein Sohn fortgezogen ist, habe ich dem alten Mr. Finkle
geholfen, seine Bücher zu führen. Dafür habe ich Schaffleisch bekommen. Dann
haben mich nach und nach ein paar andere Schafzüchter gebeten, ihnen bei

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ihren Kalkulationen zu helfen, damit man sie auf dem Markt nicht übers Ohr
hauen konnte. Jeder Verkauf hat eine Kleinigkeit eingebracht, so daß ich nun
eine ordentliche Summe auf der Bank habe. Sie reicht, ein bescheidenes Haus
zu mieten; ich weiß es, denn ich habe die Anzeigen in den Londoner Gazetten
studiert.“

Der General schüttelte ärgerlich den Kopf, im Gegensatz zu Winifred verstand

er etwas von Zahlen. Das Geld reichte nie und nimmer!

„Ich habe noch mehr in Aussicht, aber ich wollte nichts davon sagen, bis die

Sache ganz sicher war. Die Schwiegertochter der Clarks bekommt schon wieder
ein Kind, und in der Mühle ist nicht mehr genügend Platz. Sie wollen für einige
Monate unser Cottage mieten, bis ihr neues Haus fertig ist. Wir haben also das
Gesparte, die Mieteinnahmen, Großvaters Pension ... und meine Aussteuer.“

Der Großvater brach mit seiner gesunden rechten Hand beinahe die

Armlehne ab, und Winnie schrie entsetzt: „Oh, nein!“

Sydney stand auf, warf energisch ihren dicken Haarzopf über die Schulter

nach hinten, kreuzte ihre Arme vor der Brust und sah aus wie eine kleine,
kampfbereite heidnische Kriegsgöttin. „Weshalb nicht? Hier in Little Dedham
kann sie mir wenig helfen, denn ich werde keinen Mann heiraten, der eins und
zwei nicht zusammenzählen kann.“

„Was ist mit Mr. Milke, er hat dich immer verehrt?“
„Der Apotheker?“ Sydney schnitt eine Grimasse. „Der versorgt schon seine

kränkliche Mutter, und außerdem stinkt er nach Apotheke. Ich will nicht
hochnäsig sein, aber er riecht wirklich nach diesen krampflösenden
Beruhigungsmitteln und allen möglichen Tinkturen.“

Winnie lachte. „Gut. Dann werden wir meine Aussteuer auch nehmen.“
„Niemals, du kannst doch nicht als Bettelmagd zu deinem schönen Helden

gehen“, wurde diese Idee sofort abgelehnt. „Wir Lattimores haben auch
unseren Stolz. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, Winnie. Du auch nicht,
Großvater, Winnie wird ganz gewiß den besten und vermögendsten Gentleman
von ganz London bekommen! Er wird so hingerissen sein, daß er nicht anders
kann, als dir seinen Weinkeller zu öffnen und mir seine Taschen. Ich werde eine
so gute Aussteuer haben, daß ich mich schließlich noch vor Mitgiftjägern
vorsehen muß.“

Winnie wird eine großartige Partie machen, überlegte Sydney im stillen, aber

sie selbst wollte nur aus Liebe heiraten.

Winnie schob den Rollstuhl des Generals im Walzertakt durch das Zimmer.

Nun würden sie doch nach London ziehen, auf Partys gehen, hübsche Kleider
tragen und schöne Männer kennenlernen. Daran zweifelte sie keine Sekunde.
Denn Sydney schaffte alles!

Sydney brachte in der Tat fast alles zustande. Sie stattete die Zwillingssöhne
der Haushälterin Mrs. Minch als Diener aus und schickte sie nach London

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voraus, um eine Bleibe zu mieten. Sie organisierte den Umzug der Familie in
das passende kleine Haus in der Park Lane. Es lag zwar am Rand von Mayfair,
aber immer noch in einer recht respektablen Gegend. Sydney bot sogar Tante
Harriet die Stirn und brachte es fertig, die Witwe davon zu überzeugen, daß die
Lattimore-Schwestern nur ein Gewinn für sie und ihre Tochter sein konnten:
Winifreds Schönheit würde geeignete Bewerber anziehen. Das Mädchen besaß
zwar kein bißchen Leibreiz, aber das konnte oder wollte Lady Windham nicht
sehen. Sie war sicher, daß die jungen Herren die bessere Erziehung ihrer
Beatrix schätzen würden.

Sydney brachte mit der Zeit tatsächlich etwas fast Unmögliches zustande. Ihr

Verhalten zeigte der eingeschüchterten Trixie, daß man nicht vom Blitz
getroffen wurde, wenn man ihrer Mutter widersprach. Trixie wurde
selbstbewußter und blühte auf.

Was Sydney unglücklicherweise nicht konnte, war, einen Penny in ein Pfund

zu verwandeln. London war teuer. Wie sehr sie auch rechnete, wo auch immer
sie etwas abknapste, das Geld reichte nicht. Sie hatten gewisse Ausgaben, mit
denen Sydney nicht gerechnet hatte. Kleine Aufwendungen für Visitenkarten
oder Abonnements von Modejournalen, damit sie über die neueste Mode
Bescheid wußten. Größere für die edlen Weine, die man den Gentlemen
anbieten mußte, die zu Besuch kamen, dann die Kosten für die Theaterloge
oder die Mietkutsche. Und ganz große Ausgaben verursachten all die Kleider,
die für eine junge Dame in London ein Muß waren. Sie hatte zwar eine neue
Garderobe für Winnie einkalkuliert, aber Sydney hatte nicht gewußt, daß
während einer Saison in London von einer gefragten jungen Dame und ihrer
Schwester – darauf bestand Winnie – erwartet wurde, daß sie so viele
verschiedene Veranstaltungen besuchten. Und es war nicht angebracht, ein
und dasselbe Kleid zu oft hintereinander zu tragen.

Sydney hatte überhaupt nicht damit gerechnet, daß sie selbst auch eine der

Mode entsprechende Garderobe benötigte, oder gar, daß sie zu beschäftigt
wären, um ihre Kleider selbst nähen zu können, wie sie und Winnie es gewohnt
gewesen waren. Sydney hatte auch nicht an die Ausgaben für eine Zofe
gedacht, die sich ihrer wachsenden Garderobe annehmen mußte. Und dann war
da auch noch Tante Harriet, die Sydney in den Ohren lag, eine Anstandsdame
einzustellen, als ob der Großvater oder die beiden ergebenen Minch-Brüder als
Diener nicht schon genug Schutz boten.

Aber alle Ausgaben hatten sich gelohnt. Baron Scoville hatte bereits ein Auge

auf Winifred geworfen. Er war von angenehmem Äußeren, immer
zuvorkommend, wohl geachtet in der Londoner Gesellschaft, in einem Alter, in
dem ein Mann an eine Ehe denkt und ... reich wie ein Krösus. Genau der
Richtige für Winnie! Für Sydneys Geschmack war er ein bißchen zu steif und zu
korrekt, aber diese kleinen Schwächen konnte sie leicht übersehen, wenn sie an

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Tante Harriets Groll dachte. Die Tante hatte den Baron für Trixie ausgeguckt,
und nun bekundete er Winifred sein besonderes Interesse. Was konnte Sydney
mehr erwarten?

Sicherlich, die Aufmerksamkeit eines solchen Prachtexemplars brachte seine

eigenen Komplikationen mit sich. Der Baron achtete auf seine gesellschaftliche
Stellung so sehr wie Tante Harriet auf ihren Geldbeutel. So wie er selbst stets
die Form wahrte, so mußten auch seine Bekannten jenseits jeden Tadels sein.
Scovilles Braut mußte schön und von einwandfreiem Benehmen sein, eine
Zierde für seinen Titel. Es durfte nicht den geringsten Hinweis auf dubiose
Angelegenheiten geben oder den Verdacht, sich ein Vermögen erschleichen zu
wollen.

Sydney mußte einfach das Geld von irgendwoher beschaffen!

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2. KAPITEL

Forrest Mainwaring, Viscount Mayne, hielt nicht viel von der Liebe. Niemals
wollte er sich verlieben, eher würde er seinen Dienst bei der Marine wieder
aufnehmen.

„Uns werden sie nicht einfangen, nicht wahr, Nelson?“ Lord Mayne gab

seinem Jagdhund einen liebevollen Stups mit dem Fuß. Nelson, der auf einem
Auge blind und dessen Fell struppig war, rollte sich auf die andere Seite und
schlief weiter.

„Du bist auch nicht besser als Spottswood“, grollte Seine Lordschaft und

dachte an den Freund, der vor kurzem geheiratet hatte. Der alte Spotty war
sein bester Freund gewesen. Jetzt saß er zufrieden mit seiner errötenden jungen
Frau vor dem Kamin. Nigel Thompson hatte ebenfalls geheiratet. Jetzt ruinierte
er sein Landgut, um das zänkische Weib mit Smaragden und Brillanten zu
behängen. Der Viscount schenkte sich noch einen Cognac ein und lehnte sich
in seinem alten Ledersessel zurück. Frauen ... dachte er. Bevor er den
Gedanken weiterspinnen konnte, erklang ein wehmütiges Heulen durch die
Nacht. Nelson hob witternd die Nase und lauschte. Die Setterhündin von Squire
Beck! Mit einem Satz durch das offene Fenster der Bibliothek war der alte Rüde
auf und davon. „Pfui, Nelson!“

Forrest war nicht ganz so ein Weiberfeind wie sein Vater, Hamilton

Mainwaring. Der Earl of Mansfield behauptete, Frauen könnten nicht so gut
denken, weil sie kleinere Köpfe als die Männer hätten. Der Viscount teilte die
Ansichten seines Vaters nicht so ganz. Vor seiner Mutter, der Countess of
Mansfield, hatte der Sohn großen Respekt. Sogar für seine beiden etwas
verrückten Schwestern verspürte er Zuneigung, insbesondere seit sie
verheiratet waren und am anderen Ende von England lebten. Ja, er schätzte die
Frauen: verschiedene diskrete Witwen, ein paar Damen von hohem Stand, doch
mit wenig Anstand, und gelegentlich auch die eine oder andere Dame der
Halbwelt. Forrest Mainwaring war kein Mönch, aber er war auch kein
Frauenheld. Im ton wußte man, daß er mit seinen neunundzwanzig Jahren seine
Erfahrungen hatte, aber auch, daß er zu gewitzt war, vor dem Traualtar zu
landen.

Der Viscount war einer der attraktivsten Männer der Stadt, mit großem

Wissen und Kenntnissen. Obendrein war er wohlhabend. Lord Mayne wäre die
erste Wahl auf dem Heiratsmarkt, wären seine Ansichten bezüglich der Ehe
nicht überall bekannt gewesen.

Gütiger Himmel, dachte Forrest nicht ohne Selbstgefälligkeit, die habgierigen

Mütter würden mich wie einen tollwütigen Hund jagen, wenn sie der Meinung
wären, sie könnten mich in die Enge treiben.

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Aber das konnte man nicht. Der Earl of Mansfield strotzte vor Gesundheit,

und Forrests jüngerer Bruder Brennan würde ein ausgezeichneter Erbe des
Titels sein. Seine Schwestern waren eifrig damit beschäftigt, die Kinderzimmer
zu füllen; die Nachkommenschaft war also gesichert. Forrest sah keinen
zwingenden Grund, sich zu binden.

Nachdenklich nahm der Viscount einen Schluck aus seinem Glas. Unwillig

schüttelte er seinen dunklen Lockenkopf. Er liebte die Frauen zwar, aber der
Gedanke an die Ehe, oder mehr noch das zweifache Joch von Ehe und Liebe,
ließ den mit Orden ausgezeichneten Helden in seinen Stiefeln erzittern.

Lord Mayne brauchte nicht die Beispiele seiner Freunde, um sich gegen den

Status der Ehe oder die Fallstricke der Liebe zu widersetzen. Er hatte seine
Erfahrungen schon als Kind gemacht: die Mutter lebte in Sussex, der Vater in
London. Zu sagen, die Countess und der Earl of Mansfield hätten sich
entfremdet, wäre übertrieben. Nein, sie waren nur etwas sonderbar. Sie
sprachen kaum miteinander, besuchten sich selten, und doch sandten sie sich
in all den Jahren der Trennung stets liebevolle Beweise gegenseitiger
Zuneigung – durch ihre Söhne. Und alles hatte einst als sagenhafte
Liebesheirat begonnen!

Hamilton und Serena waren Nachbarskinder gewesen, er der reiche Erbe aus

der Hocharistokratie und sie das einzige Kind eines begüterten
Friedensrichters. Ihrer beider Eltern waren mit der Heirat nicht einverstanden,
da sie zu jung und ihre Herkunft und ihr sozialer Status zu unterschiedlich
waren. Was lag näher, als daß das junge Paar davonlief.

Die ersten Jahre gaben ihnen recht. Sie waren überglücklich. Dann erbte

Hamilton den Titel seines Vaters und bald danach die Ländereien seines
Schwiegervaters. Serena bekam Kinder, danach begann es in der Ehe zu
kriseln. Die Countess liebte die Ruhe auf dem Land, der Earl sehnte sich nach
dem aufregenden Leben bei Hofe. Sie wollte einen Landedelmann, er eine
politisch interessierte Gastgeberin. Schließlich wurde der Earl zum Gesandten
ernannt.

Lady Mansfield schwor: „Wenn du das Land verläßt, werde ich nie wieder ein

Wort mit dir sprechen.“

Der Earl konterte: „Wenn du nicht mit mir kommst, werde ich nie wieder ein

Wort mit dir reden.“

Er ging, sie blieb. Der Earl entschied, Forrest solle sich auf eine politische

Karriere vorbereiten. Die Countess meinte, es sei besser, wenn ihr Sohn seine
Studien fortsetze, die ihn befähigten, die riesigen Ländereien zu verwalten,
Pflichten, die sein Vater vernachlässigte. Der junge Viscount kaufte sich ein
Offizierspatent und ging zur See. Die französische Blockade war der reinste
Friede, verglichen mit dem, was sich zwischen den Eltern abspielte. Das alles
war Jahre her, doch momentan stritten sie wieder – per Brief natürlich – diesmal

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über Brennans Zukunft. Mit zweiundzwanzig sollte er seine eigenen
Entscheidungen treffen können, doch die Mutter schwor, an gebrochenem
Herzen zu sterben, falls noch ein Sohn zum Militär ging, und der Vater lockte
mit den Freuden und dem Glanz der Stadt.

Die Mutter züchtete Hunde und Rosen in Sussex, der Herr des Hauses

sammelte Stimmen und Argumente im Parlament. In London feierte Brennan
Orgien, wie jeder andere gutbetuchte Grünschnabel ... und Forrest Mainwaring,
Viscount Mayne, sein Los war es, für sie alle zu sorgen. Womit hatte er das nur
verdient? Er reiste zwischen den Landgütern und den weitverstreuten
Besitzungen umher, stets bemüht, die Finanzen der Familie zu sichern.

Ob in London oder auf dem Lande, das Leben war nicht einfach für Lord

Mayne. Seine Mutter füllte das Schloß mit Hunden; winzige, kupferbraune,
widerwärtige Pekinesen mit Glotzaugen. Lady Mansfield behauptete sogar, es
mache mehr Spaß, diese Viecher aufzuziehen als Kinder. Ständig mußte er
fürchten, über eines dieser häßlichen, kleinen Quälgeister zu stolpern. Aber das
schlimmste war, daß er nicht einmal seinen eigenen Liebling, seinen treuen
Nelson mitbringen durfte. Bei seinem letzten unerlaubten Besuch im Haus hatte
Nelson so ein kleines Biest erspäht, und da er wußte, daß ein richtiger Hund
weder ein weiches Fell hat, noch parfümiert oder mit Schleifchen herumläuft,
gab er sein Bestes, Mansfield Manor von dieser Plage zu befreien. Zum Dank
wurde er mit seinem Herrn des Hauses verwiesen.

Viscount Mayne saß einsam und trotz des neu entfachten Feuers im Kamin

immer noch frierend in der Bibliothek des Witwenhauses. Sein Haar war
durchwühlt, seine breiten Schultern gebeugt, als trage er die Last der gesamten
Welt – und der Mainwarings. Ich hätte bei der Marine bleiben sollen, überlegte
er, als er den letzten Brief seiner lieben Mutter überflog.

Mein geliebter Sohn, wie ich dich vermisse, schrieb seine Mutter, die zehn

Minuten entfernt residierte.

Ich bin besorgt über Deinen Bruder, schrieb die Duchess weiter in

gestochener Schrift. Nicht Brennan, sondern Dein Bruder, das bedeutete nichts
Gutes. Das Netz an Informanten, das sie im ton etabliert hatte, könnte
Napoleons Geheimpolizei in den Schatten stellen. Brennans Verfehlungen
wurden für gewöhnlich Ihrer Ladyschaft mit der nächsten Post gemeldet.
Natürlich war der Earl für die Fehler seines Sohnes verantwortlich. Wenn
Brennan zu Forrests Bruder wurde, dann wollte sie, daß der Viscount für ihn
irgendeine Suppe auslöffelte. Zum Teufel, fluchte Lord Mayne. Er hatte nicht
die Zeit, nach London zu reisen und den Tölpel aus den Fängen eines Flittchens
zu retten. Allerdings gab es diesmal keinerlei Andeutungen von Frauen bei den
Aufzählungen von Brennans Verfehlungen und Charakterschwächen, nicht
einmal zwischen den Zeilen. Normalerweise sprach sie von Personen, von deren
Existenz eine Dame keine Kenntnis haben sollte.
Dieser Brief war voll von

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Taschendieben, Galgenvögeln und Würfelspielern. Brennan war das
Unschuldslamm, das zur Schlachtbank geführt wurde und um das sein Vater
sich nicht kümmerte. Jemand müsse ihren Kleinen vor den Wölfen retten ...

„Sie kann nur mich meinen, alter Junge“, sagte der Viscount zu Nelson, der

gerade durch das Fenster zurückkehrte. „Aber diesmal werde ich nicht gehen.“

Wenn Du nach London fährst, fuhr die Countess in dem Brief fort, – man

beachte: wenn, nicht falls! – dann bestell Deinem lieben Vater bitte meine
herzlichsten Grüße und sage ihm, ich vermisse ihn.
Der Viscount schüttelte
seinen Kopf und kraulte Nelson hinter den Ohren. Der hatte es sich zu Füßen
seines Herrn wieder gemütlich gemacht.

Im Gegensatz zu dem Schreiben seiner Gattin war der Brief des Earls kurz

und bündig. Forrest, Dein Bruder, – sie hatten doch gewisse Ähnlichkeiten – hat
sich Ärger eingehandelt. Die Countess sollte besser nichts davon erfahren. Er
wird durchkommen, meint der Arzt. Vielleicht schlägst Du Deiner Mutter vor, zu
Beginn der Saison nach London zu kommen. Sag ihr, ich vermisse unsere
gemeinsamen Walzer. P.S.: Wir brauchen einen neuen Butler.

„Himmel, Vater, konnten Sie nicht mit dem Tintenfaß nach dem neuen Sekretär
zielen? Gebildete junge Männer gibt es wie Sand am Meer, aber gute Butler
sind rar ...“

Als der Diener Forrests Reisetasche aus der Kutsche holte, blickte ihm der

Earl erwartungsvoll nach. Irgendwie hatten seine Augen ihren Glanz verloren,
als er feststellen mußte, daß sonst niemand mehr in der Kutsche saß.

„Sie sendet Ihnen ihre besten Grüße“, beeilte sich der Viscount zu sagen,

„und einige Äpfel aus dem Westgarten.“

„Wie bitte? Ach so, Äpfel! Ja, ich muß sofort nach Whitehall.“ Ein zweiter

Diener stand bereit, dem Earl Hut und Stock zu reichen.

„Was ist mit Brennan?“
„Nein, ich glaube, er möchte auch keine Äpfel. Bei seinen lockeren Zähnen!“
Der Earl entfernte sich, und bevor Forrest nach oben ging, beförderte er den

Diener, der einen sehr robusten Eindruck machte, zum Butler auf Zeit.

Beinahe hätte Forrest den Mann im Bett nicht erkannt. Er war äußerst
beunruhigt, als er bedachte, daß Brennan gewöhnlich sein Spiegelbild war,
abzüglich einiger Jahre und Sorgenfalten. Sie hatten beide die gleichen
dunklen Locken, hellblaue Augen, ein markantes Kinn und die gebieterischen
Mainwaring-Nasen. Bislang jedenfalls. Seine Lordschaft schwor blutige Rache
an demjenigen zu nehmen, der seinen Bruder so zugerichtet hatte. Gott sei
Dank, daß die Countess nicht nach London gekommen war!

„Was zum Teufel ist denn mit dir passiert, Junge?“
Brennan öffnete ein Auge, das andere war geschwollen und verfärbt. Den

schmerzhaften Versuch, ein Lächeln zustande zu bringen, gab er sofort wieder

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auf. Er hob eine bandagierte Hand zum Gruß. „Hat Vater nach dir geschickt?“
fragte er.

„Nein, er brauchte nur einen neuen Butler.“
Brennan seufzte. „Vermutlich fährt Mutter wieder die starken Geschütze auf.“
Forrest holte sich einen Stuhl ans Bett und zog das Laken fürsorglich über die

bandagierte Brust seines Bruders.

„Ich komme schon zurecht“, sagte Brennan und schaute in die andere

Richtung.

„Das sehe ich.“
Der junge Mann wurde rot; nicht gerade eine attraktive Beigabe zu seinen

gelben und blauen Flecken. Er räusperte sich, und Forrest hielt ihm das Glas
zum Trinken an die geschwollenen Lippen. „Danke! Wie geht es Mutter?“

„Sie ist begeistert. Princess Pennyfeather, ihre Lieblingshündin, hat vier

Junge; alle haben diese kupferrote Farbe, hinter der Mutter schon lange her
war.“

„Sie ist verrückt, wenn es sich um diese Hunde handelt, stimmt’s?“
„Mein lieber Brennan, jeder andere wäre schon längst in einer Anstalt

gelandet, aber Mutter ist eine Countess, und deshalb ist sie bloß exzentrisch.“

„Du scheinst nicht besonders gut gelaunt zu sein.“
„Ich bin überglücklich, Bruderherz.“
„Ich habe dich nicht gebeten, dich einzumischen.“
Viscount Mayne richtete sich zu seiner vollen Länge von mehr als einem

Meter neunzig auf. Seine Männer hatten vor ihm gezittert, wenn er seine
Kommandos gab. „Nun aber still, Bruder! Hier bin ich, und hier bleibe ich! Ich
würde niemandem erlauben, einen Hund so zu behandeln – aber meinen
Bruder? Niemand, ich wiederhole, niemand fügt einem von uns ungestraft
Schaden zu!“

„Nun, da war diese Frau ...“
„Ich weiß.“

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3. KAPITEL

Die hübsche kleine Tänzerin traf keine Schuld.

„Nach der regulären Vorstellung gab es um Mitternacht noch eine

Wohltätigkeitsveranstaltung, zu der ich geladen war, so daß ich ein paar
Stunden totschlagen mußte, bevor ich Mademoiselle Rochelle treffen konnte.“

„Aha, ich verstehe, eine Künstlerin aus Frankreich!“
„Nein, so blöd bin ich auch nicht. Roxy ist keine Französin, sie ist noch nicht

mal eine gute Tänzerin, und, wie ich sofort herausgefunden habe, auch nicht
von Natur aus rothaarig. Dennoch ...“ Er zuckte mit den Schultern, soweit seine
bandagierten Rippen das zuließen.

„... mußtest du ein paar Stunden totschlagen.“
„Zunächst habe ich mit Tolly ein paar Brandys getrunken, und dann bin ich

zu White’s gegangen.“

„Und da hast du dann auch ein paar Brandys getrunken.“
„Verflixt, Forrest, darum geht es doch nicht! Ich kann schon was vertragen.“
Der Viscount betrachtete seine manikürten Fingernägel. Sein Bruder fuhr

nach einer Weile fort: „Bei White’s war nichts los. Ich entschloß mich also, im
Cocoa Tree vorbeizuschauen. Ja, schau mich nicht so an, ich weiß, daß für mich
die Einsätze dort zu hoch sind. Ich habe ein oder zwei Glas Duffy getrunken und
beobachtet, wie Martindale seine Uhrkette, eine mit Diamanten besetzte
Krawattennadel und seine neue Kutsche samt den beiden Pferden an Delverson
verloren hat.“

„Darf ich hoffen, es war eine erleuchtende Erfahrung?“
„Wie? Ach, du willst wissen, ob ich etwas gelernt habe? Sicher! Ich werde nie

gegen Delverson spielen, der hat das Glück gepachtet.“ Forrest seufzte, und
Brennan fuhr fort: „Martindale kannte einen Ort, wo die Einsätze nicht so hoch
und die Getränke frei waren. Da es immer noch zu früh war, ins Theater
zurückzukehren, habe ich ihn begleitet. Ich weiß, was du jetzt sagen wirst: Spiel
nie an fremden Tischen! Aber der Ort sah ganz respektabel aus. Um es kurz zu
machen, wir haben uns gesetzt und gespielt.“

„Und wieder ein paar Glas getrunken.“
„Genau. Blue Ruin hat man uns serviert; meiner Ansicht nach war der nicht

echt.“

„Mit Sicherheit! Fahr fort, Brennan, langsam wird es interessant.“
„Du machst es einem ja nicht leicht. Also, die Einsätze waren wirklich nicht

hoch, und ich habe auch nicht viel Bares ausgelegt, denn das brauchte ich ja
noch für später ... und Roxy. Martindale hat seinen Ring verloren und meinte,
kein Glück mehr zu haben, und ist nach Hause gegangen. Ich hätte mit ihm
gehen sollen.“

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„Aber du hattest ja noch Zeit totzuschlagen.“
„Und noch Kredit bei der Bank! Also blieb ich, mal hab’ ich etwas verloren,

mal etwas gewonnen. Die Bank hielt einer mit Namen Otto Chester. Er schien
ein Gentleman zu sein. Ich zeichnete ihm einige Schuldscheine, gar nicht hoch,
verstehst du. Und dann bin ich nach Hause gegangen.“

Der Viscount war inzwischen aufgestanden und ungeduldig auf und ab

gegangen. „Was heißt das, du bist nach Hause gegangen? Bist du etwa von
Straßenräubern überfallen worden?“

„Mein Kopf dröhnte, und mir war kreuzübel, obwohl ich eigentlich nicht viel

getrunken hatte. Jedenfalls hatte ich das Gefühl, daß ich Roxy nicht mehr
verkraften konnte, habe ihr eine Nachricht geschickt und mir eine Mietkutsche
genommen.“

Forrest raufte sich die Haare, ob diese Geschichte noch zum Ende kam?
„Es gibt nicht viel mehr zu erzählen. Am nächsten Morgen bin ich spät

aufgestanden, dann habe ich Geld bei der Bank abgehoben und bei Rundells
ein Schmuckstück für Roxy gekauft. Danach habe ich bei Mr. Chester
vorgesprochen – die Adresse stand auf seiner Karte –, um meine Schuldscheine
einzulösen. Aber er hatte sie nicht. Meinte, er habe meine Scheine an einen
Geldverleiher verkauft, um seine eigenen Spielschulden begleichen zu können.
Hast du so etwas schon einmal gehört? Ich habe ihm jedenfalls
unmißverständlich gesagt, was ich von so einer Niedertracht halte.“

„Ich wette, du hast ihm gedroht, ihn herauszufordern.“
Brennan lächelte spitzbübisch: „Schlimmer. Ich habe geschworen, nie wieder

mit ihm zu spielen. Dann bin ich zu der neuen Adresse gegangen, einem
gewissen Randall, ein irischer Geldverleiher. Ich hab mich vorgestellt und ihm
gesagt, daß ich den Betrag begleichen will. Verdammt, da behauptet dieser
Kerl doch, ich schulde ihm nicht ein paar Hundert, sondern ein paar Tausend!
Und Zinsen, täglich! Er zeigt mir Schuldscheine mit Unterschriften, die wie
meine Handschrift aussehen; aber das kann einfach nicht sein. Ich schwöre, so
hoch habe ich nie gespielt.“

„Ich glaube dir, Bruderherz.“ Forrest legte beruhigend seine Hand auf die

Schulter des Jüngeren. „Also was geschah dann? Bist du Randall an die Kehle
gegangen?“

Brennan fluchte: „Dazu hatte ich keine Chance. Randall hat gepfiffen, und

aus dem Nebenzimmer tauchte ein Hüne auf. Als nächstes weiß ich nur, daß ich
in der Gosse lag. Sie hatten mir die Geldbörse genommen, meine Uhr und
Roxys Armband. Der Goliath grinste, und dieser irische Bastard behauptete,
daß ich ihm immer noch tausend Pfund schulde. Drohte mir, er wolle zum Earl
gehen, wenn ich nicht innerhalb einer Woche zahle, und mir den Schläger
schicken, um mich zu erinnern.“ Brennan wimmerte: „Als wenn ich das
vergessen könnte.“

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„Kannst du! Ruh dich erst einmal aus. Ich werde mich darum kümmern.“ Um

alles würde er sich kümmern; um die fingierten Wechsel, um den
Knochenbrecher und den Blutsauger und um den Falschspieler.

Forrest Mainwaring, Viscount Mayne, war wirklich ein durch und durch ruhiger
und nachsichtiger Gentleman. Er war tolerant, zurückhaltend und bedächtig, es
brauchte lange, bis er richtig in Rage geriet.

Als erstes sandte er seiner Mutter eine Nachricht; versicherte ihr Brennans

Wohlergehen und, aus Gewohnheit, seines Vaters immerwährende Zuneigung.
Dann sah er einige Rechnungen durch, schickte eine Anfrage an eine
Stellenagentur und nahm schließlich ein exzellentes Mahl zu sich.

Derart gestärkt, fuhr Viscount Mayne zunächst zur Bank, daran anschließend

zum Juwelier. Der Geschäftsführer konnte ein Duplikat des ursprünglichen
Geschenks für Mademoiselle Rochelle finden, und Forrest vervollständigte das
einfache Armband mit einer passenden Saphirhalskette und einem
Ohrgehänge. Brennans Liebste kannte die Bedeutung eines solchen
großzügigen Geschenks. Es war ein Abschiedsgeschenk.

Der Inhaber des Spielsalons an der King Street, ein gewisser Alf Sniddon,

erkannte das Wappen auf der Kutsche. Er wies seinen Türsteher an, Viscount
Mayne nicht einzulassen, doch Seine Lordschaft drängte sich einfach an dem
bulligen Mann vorbei.

„Ich nehme weder Wetten noch Schuldscheine der jungen Gentlemen an,

Mylord.“

„Wie lange könnten Sie Ihren Geschäften noch nachgehen, wenn sich der

Schwindel herumspräche, daß Sie den Wein mit Drogen versetzen und damit
die jungen Herren abfüllen?“ drohte der Viscount.

Sniddon überlegte, es war günstiger, das Geschäftsgebaren zu ändern. „Nun

ja, ich bekomme Profit auf das Faß, Mylord.“

„Ich wußte, daß wir uns verstehen werden. Vielleicht bin ich sogar versucht,

selbst mal auf ein Spiel vorbeizuschauen“, sagte der Viscount doppeldeutig.

Sniddon nickte. Widerspruchslos nannte er Seiner Lordschaft die gewünschte

Adresse und zog sich unter vielen Verbeugungen zurück.

Otto Chester wohnte auf der Jermyn Street, Nummer dreizehn. Dort war es
billig, und ein Mann, der sein Geld mit gezinkten Karten und beschwerten
Würfeln verdiente, war nicht abergläubisch. Doch heute hatte Otto Chester kein
Glück. Er war gerade dabei, sein Halstuch zu binden, als Lord Mayne
hereinstürmte.

Chester war genau das, was Forrest verabscheute: ein blasser, schwächlicher,

verleumderischer Schuft, der die Unvorsichtigen ausnahm. Ein Feigling, der
nicht einmal versuchte, nachdem er seine erste Rechte gelandet hatte, wieder
auf die Beine zu kommen.

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„Aber ...“ würgte Chester heraus, als die kräftige Faust ihn an seinem

Halstuch so in die Höhe zog, daß seine Füße vom Boden abhoben. Vergeblich
schlug er mit einer kraftlosen Linken gegen den stählernen rechten Arm des
Viscount. „Aber ich hatte selbst Schulden. Verstehen Sie doch, Ehrenschulden,
man spielt, und man muß zahlen.“

Forrest grinste höhnisch, ließ das Kerlchen fallen und wischte sich die Hände

ab an einem sauberen Halstuch, das auf dem Stuhl lag. Dann warf er das Tuch
dem schniefenden Wurm zu. „Hier, zieh dich an. Wir machen eine Ausfahrt.“

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4. KAPITEL

Das Büro von O. Randall und Partner, Finanzierungen, lag an der Fleet Street,
praktisch in Sichtweite des Schuldturms. Randall war ein kleiner, untersetzter
Mann mit leuchtend rotem Haar, einem weichen irischen Akzent und harten,
berechnenden Augen. Sein Blick wanderte von seinem vornehmen Besucher,
der ihm gegenüber am Schreibtisch saß, zu dem bedauernswerten Etwas, das
auf einem Schemel in der Ecke kauerte. Chester, ein rot verfärbtes Tuch unter
der Nase, hielt sich so weit wie möglich von Seiner Lordschaft entfernt. Randall
wandte sich wieder dem Viscount zu.

„Darf ich Ihnen einen Schluck von dem guten Irischen anbieten, Mylord?

Nein? Ja, ein weiser Mann kennt seine Grenzen. Das hab’ ich dem jungen Herrn
auch versucht zu sagen. Ein netter Junge, ganz Ihr Ebenbild. Tut mir leid, daß er
etwas Ärger bekommen hat.“

„Das tut uns allen leid. Deshalb bin ich hier.“
Randall goß sich selbst ein Glas ein. „Ja, ja, gut, wenn die Familie

zusammenhält.“ Er warf einen finsteren Blick in Chesters Ecke.

Lord Mayne zog eine lederne Geldbörse aus der Innenseite seiner Jacke. Die

Börse landete mit einem satten Ton auf dem Tisch, die Münzen klangen
verlockend. „Ihre tausend Pfund! Sie können nachzählen! Die Mainwarings
bezahlen ihre Schulden. Immer!“

Randall war etwas zu eifrig dabei, Ränke zu schmieden, und überhörte die

Gefahr, die in dem seidenweichen „immer“ des Viscount verborgen war. Die
Augen auf den Geldbeutel geheftet, nahm der Ire einen Schluck aus seinem
Glas und leckte sich die wulstige Lippen. „Nun ja, tausend Pfund, das war der
Betrag von vor zwei Tagen. Sie kennen doch mein Geschäft, oder nicht?“

Langsam und nachdenklich streifte Forrest seine Schweinslederhandschuhe

ab, drehte sich um und fragte: „Was meinen Sie, Mr. Chester?“

Chester hielt sich die blutbefleckte Krawatte unter die Nase und brabbelte

verängstigt: „Sausens Pfuns is gus.“

Lord Mayne lächelte. Randall gefiel dieses Lächeln zwar gar nicht, aber die

Lederbörse hatte einen Ton von sich gegeben, den er so liebte. Er nickte und
streckte seine Hand nach dem Gold aus. Der Viscount umschloß Randalls
Handgelenk mit eisernem Griff. „Die Schuldscheine?“

„Gewiß.“ Randall zog eine Kette mit einem Schlüsselbund aus seiner Tasche,

wählte einen Schlüssel aus und öffnete die oberste, dann eine weitere
Schublade seines Schreibtisches und während er unsicher auf Forrest und den
Geldbeutel blickte, zog er einen Stapel Papiere hervor. Diese schob er mit der
einen Hand dem Viscount hinüber, mit der anderen Hand hielt er die geöffnete
Lade fest.

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Forrest prüfte die Unterschriften; Fälschungen, aber immer noch so gut, daß

sie als Brennans Signaturen durchgehen konnten. Er gab der Lederbörse einen
leichten Schubs in Richtung des Iren, der sie mit beiden Händen an sich riß.

Der Viscount begann, die Schuldscheine sorgfältig in kleine Stücke zu reißen.

Nachdem diese Aufgabe zu seiner Zufriedenheit erledigt war, ging er um den
Schreibtisch, um sich den Iren vorzunehmen.

Maynes blaue Augen hatten so einen gewissen Glanz. Der Geldverleiher

spitzte die Lippen, aber bevor er einen Pfiff herausbekam, spürte er eine Faust
in seinem Gesicht. Es war schwer zu pfeifen, mit dem Mund voller Blut, und so
griff er nach der Waffe in der obersten Schublade. Der Viscount war schneller.
Er drehte Randall den Arm nach hinten, der Rothaarige fiel zu Boden und riß
seinen Gegner mit. Aus der Pistole löste sich ein Schuß, der in der Decke
landete, und der Putz rieselte auf die beiden nieder. Forrest erhob sich und
schüttelte sich den weißen Staub aus dem Haar. Randall schaffte es bis auf die
Knie und versuchte, erneut zu pfeifen; vergeblich, bei zwei ausgeschlagenen
Schneidezähnen. Er langte nach seinem Messer im Stiefel.

Der Viscount grinste. „Danke für die Revanche. Ich hasse es, jemanden zu

prügeln, der kleiner ist. Das tut kein Gentleman, aber das verstehst du ja
sowieso nicht.“ Er zog seine Jacke aus und wickelte sie um seinen linken Arm,
den kleinen Mann stets im Auge behaltend.

„Fief, Fefter, fief!“ schrie Randall und verlor sein Messer durch einen

wohlplazierten Fußtritt. Ein weiterer kräftiger Hieb setzte seine Hand außer
Gefecht, und als eine Faust in seiner Magengegend gelandet war, verlor er auch
sein Mittagessen.

Zwischen Randalls Stöhnen und Würgen fragte Chester. „Was?“
Forrest atmete noch nicht einmal schwer. Er schaute auf den Mann, der

immer noch in seiner Ecke saß und sich seine gebrochene Nase hielt. „Er meint,
du sollst pfeifen!“

„Fiefen?“
„Ja, nun pfeif schon, Mann!“
>Wenn Forrest ihm befohlen hätte, zu fliegen, er hätte es versucht. Er spitzte

also die Lippen und ... flötete die ersten Takte der Marseillaise!

Forrest schüttelte den Kopf. „Hör zu, Mann!“ Er legte zwei Finger in den Mund

und gab einen schrillen Pfeifton von sich.

Sam Odum war so groß, wie Brennan behauptet hatte, und unbeschreiblich
häßlich. Glatzköpfig und pockennarbig polterte er, ein Stück Holz schwingend,
in das Büro. Das Monstrum blieb mitten im Raum stehen und schaute verwirrt
um sich.

„Dein Arbeitgeber liegt auf dem Fußboden hinter dem Schreibtisch“, war

Forrest behilflich. „Wir hatten eine kleine Meinungsverschiedenheit. Der andere
Gentleman“, und er wies in Chesters Richtung, „hat klugerweise eine neutrale

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Ecke vorgezogen. Was hältst du von der Sache?“

Sam Odum kratzte sich am Kopf. „Hmmh?“
„Mach ihn kalt“, rief Randall und spuckte gleichzeitig einen weiteren Zahn

aus. Sam Odum hob sein Schlagholz und stampfte auf Chester zu.

„Nicht ihn, du Idiot! Den Angeber!“
Sam war wieder verwirrt; wie es schien, befand er sich öfter in dieser

Verfassung. Höflich wie er war, entschied sich Mainwaring, dem armen Kerl bei
der Identifizierung seines wahren Opfers behilflich zu sein. Der Stuhl, den er in
Sams Richtung schleuderte, verfehlte zwar sein Ziel, nicht aber die harte
Rechte, die der Attacke folgte. Sam schwankte leicht, richtete sich auf und
schwang den Knüppel. Forrest stand bereit mit dem nächsten Stuhl, den er
zunächst als Schild benutzte, um den Hieb, der ihn hätte enthaupten können,
abzuwehren. Dann schmetterte er ihn dem Hünen auf den Schädel; der Stuhl
brach in Stücke, und Sam Odum ging zu Boden.

Der Viscount blickte in die Runde, um sich zu vergewissern, ob noch jemand

seine Dienste brauchte. Randall stöhnte immer noch, und Chester schien
Stoßgebete zum Himmel zu schicken. Forrest steckte die Pistole und Randalls
Messer ein. Man konnte nie wissen! Dann rollte er den bewußtlosen Schläger
zur Tür und schubste ihn die Außentreppe hinunter.

„Bringt ihn zu den Docks“, befahl er seinem wartenden Kutscher und den

Lakaien. „Bestellt dem Rekrutierungsoffizier einen Gruß von mir und sagt ihm,
daß Sam Odum unbedingt ein Mitglied der Marine werden will.“

Nachdem er Sam Odum losgeworden war, fesselte der Viscount Randall und
Chester und begann, den Schreibtisch des Iren zu inspizieren. Er fand ein
kleines Waffenlager und deponierte die Pistolen und Stichmesser in der
mitgebrachten Reisetasche. Dann widmete er sich den diversen
Schuldscheinen und machte daraus drei Stapel.

Einer war für die Männer, die sich hohe Einsätze leisten konnten oder so von

der Spielleidenschaft gepackt waren, daß sie stets neue Geldquellen finden
würden. Auf den zweiten Stapel packte er die mit den Namen, die ihm nicht
bekannt waren, und begann methodisch, sie zu zerreißen. Den dritten Stapel
mit Schuldscheinen junger Männer wie sein Bruder, Studenten und
Landedelleuten ohne Protektion verstaute er in seiner Tasche.

„Um diese Schuldscheine werde ich mich selbst kümmern.“ Er deutete auf

den ersten Stapel. „Bei diesen ist sowieso Hopfen und Malz verloren. Ich gebe
dir eine Woche, die Stadt zu verlassen. Danach wird es einen Haftbefehl geben,
und ich versichere dir, daß man dich zu lebenslänglich verurteilen wird. Das
willst du doch nicht, oder?“

Bevor Randall sich dazu äußern konnte, klopfte es an die Tür. Forrest fluchte

leise in sich hinein und wartete, daß die Schritte sich wieder entfernten. Er

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wollte nicht belästigt werden von jemandem, der eine öffentliche Szene machte
oder die Ordnungshüter rief; schließlich mußte er später noch die Butler
interviewen.

Er schleifte die beiden Gefesselten schnell in Sam Odums Hinterzimmer und

versuchte gerade, die Türe hinter ihnen zu schließen, als abermals, diesmal
energischer, geklopft wurde.

„Verdammt! So ein armer Kerl kann es einfach nicht erwarten, seine Seele an

diese beiden Teufel zu verkaufen.“

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5. KAPITEL

Lord Mayne öffnete die Tür und blickte hoch und immer höher. Er stöhnte leise.
Noch so einen kampflustigen Koloß konnte er nicht verkraften. Der blonde Kerl,
der da vor ihm stand, war breitschultrig und groß, größer als er selbst mit
seinen ein Meter neunzig. Wenn der Riese in Randalls Diensten stand .... Zu
spät, um die Beine in die Hand zu nehmen. Forrest tat das einzige, zu dem er im
Hinblick auf seine schmerzenden Rippen noch fähig war, er lächelte.

Der Besucher nickte zögernd und wies auf eine wartende Droschke: „Mein

Arbeitgeber wünscht Mr. Randall zu sprechen.“ Der Koloß gab Forrest eine
Visitenkarte.

Sydney Lattimore ... der Name sagte ihm nichts, aber er konnte sich die

Person schon vorstellen. Der verschnörkelten Schrift nach mußte es sich um
einen verweichlichten Textilhändler handeln, der sich nicht selbst in die Höhle
des Löwen wagte, sondern seinen kräftigen Leibwächter schickte. Vermutlich
ein Sprößling, der zuviel Trinkgeld verteilte und auf Kredit wettete. Das einzige,
was Forrest einem solchen Dummkopf geben konnte, war ein guter Rat.

„Sag deinem Herrn, er soll sich von den Geldverleihern fernhalten. Vielleicht

versucht er es mal mit ehrlicher Arbeit, darauf kann er stolz sein; jedenfalls
mehr als auf die Zeit im Gefängnis, denn da wird er landen, wenn er sich mit
den Geldhaien einläßt.“

Der Diener nickte verständnisvoll, grüßte kurz und machte kehrt, doch als er

halbwegs die Treppe hinunter zu der wartenden Droschke war, entsann er sich
wohl seines Auftrages: „Aber Mr. Randall, Sir, ...“

Oh, je, glaubte man etwa, er sei der Geldverleiher? Forrest schrie wütend und

so laut, daß es in der Kutsche zu hören war: „Der Laden ist zu, geschlossen, das
Geschäft besteht nicht mehr! Halten Sie sich fern von den Blutsaugern!“

Er schlug die Tür hinter sich zu und wollte Frackrock und Tasche holen.
„Verdammt.“ Er spürte seine Rippen, als er sich die Jacke überzog ... und

dann war da schon wieder dieses verfluchte Klopfen. Dieser üble Ort hatte
regen Zulauf. Unwillig riß er die Tür auf.

„Himmel, Herrgott!“ Auch das noch, eine Frau! Er blickte auf die Karte, die er

immer noch in der Hand hielt und las, was er beim flüchtigen Lesen übersehen
hatte: Miss Sydney Lattimore. „Zum Teufel noch mal!“ Und es schien auch noch
eine Dame zu sein, die sich hinter dem dichten schwarzen Schleier verbarg, der
herrischen Art nach zu urteilen, wie diese kleine Person an ihm vorbeiging und
ihn behandelte, als sei er ein Lakai. Dem blonden Diener bedeutete sie,
draußen zu warten. Das fehlte ihm noch: eine kleine alte Jungfer – die genug
schwarzen Cràpe trug, um die gesamten britischen Verluste bei Trafalgar zu
betrauern – und ihr Schoßhündchen. Sie kam auf ihn zu und hielt in der

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schwarz behandschuhten Hand einen Korb, in dem ein winziger Köter saß. Oh,
je, diese rotbraunen Pekinesen verfolgten ihn! Sie konnte nur eine Bekannte
seiner Mutter sein! Fast wünschte der Viscount, Sam Odum wäre wieder da.

„Nein, Madam“, begann Forrest. „Nein, und nochmals nein! Der Laden ist

geschlossen. Die Herren verlassen die Stadt.“ Er konnte hinter dem Schleier
nichts erkennen, aber die alte Fledermaus machte keine Anstalten sich zu
bewegen. Sie hatte bestimmt schon seit Jahren ihr Haus nicht mehr verlassen,
so wie diese verschrumpelte Person nach Mottenpulver stank. Lord Mayne holte
tief Luft, wogegen seine angeknacksten Rippen protestierten. Es war nicht
seine Art, kleine alte Damen unfreundlich zu behandeln. Er mußte es erneut
versuchen, obwohl eine vernünftige Erklärung sicherlich verlorene Liebesmüh
war.

„Madam, wenn Ihnen der Gerichtsvollzieher auf den Fersen ist, dann

schränken Sie sich ein. Bitten Sie Ihre Verwandten um Hilfe, oder offenbaren
Sie sich Ihren Gläubigern. Verpfänden Sie Ihre Wertsachen. Alles ist besser als
ein Handel mit dem Wucherer. Dieser Laden hier hat einen schlechten Ruf, ach,
was sage ich, der ganze Berufsstand ist kein Umgang für eine Dame. Es ist ein
schmutziges Geschäft, und Geld zu leihen wird Ihnen letztlich mehr Kummer
bereiten, als das Geld es wert ist.“ Zumindest hatte er es versucht. Die kleine
Dame antwortete nicht. Lord Mayne zuckte mit den Schultern, drehte sich um
und griff nach seiner Jacke, er wollte endlich nach draußen.

Sydneys Mund war aus Furcht wie zugeklebt. Ihre Beine konnte sie kaum

bewegen. Gütiger Himmel, wohin war sie geraten? Es war schlimmer, als sie es
sich in ihren kühnsten Träumen vorgestellt hatte. Eine ganze Woche hatte sie
gebraucht, um sich zu überwinden, hierherzukommen. Und nun begegnete sie
einem halbnackten Wilden, der sie in einer groben Sprache anredete und eine
Tasche voller Pistolen und Messer bei sich hatte. Und überall war Blut. Sie hatte
das Gefühl, sie habe nicht einmal genügend Mut, den Ort wieder zu verlassen.
Andererseits war der Gang zum Geldverleiher ihre einzige Chance.

Sydney schluckte ... immerhin ein Anfang ... und zwang sich zu sprechen.

Ihre klägliche Stimme konnte sie selbst kaum wiedererkennen. „Bitte, Sir,
können Sie mir sagen, an wen ich mich wenden kann?“

Zur Hölle mit dieser Frau, hatte sie ihm nicht zugehört? „Miss L ...“ Die Tür

zum Hinterzimmer war nicht ganz geschlossen, erinnerte er sich. „Miss, ich
versuche Ihnen ja zu helfen. Gehen Sie nach Hause.“

Sydney wunderte sich über den feinen weißen Staub, der aus seinem Haar

rieselte. Was mochte wohl in dem Hinterzimmer vor sich gehen? Immerhin, der
Raufbold schien ihr nichts Böses zu wollen. Sie strich über das weiche Fell des
Hündchens, wie um Zutrauen zu fassen, und mit einer Stimme, die wieder mehr
ihrer eigenen glich, informierte sie ihr Gegenüber: „Ich bin in großer Not, Sir,
deshalb wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie mir einen Kollegen empfehlen

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könnten. Normalerweise würde ich Sie ja nicht bitten, mir einen Konkurrenten
zu nennen, aber da Sie zögern, Ihr Geschäft weiterzuführen ... ich brauche
dringend ...“

Zögern? Bald würde er nicht mehr zögern, die Alte hinauszuwerfen.
„... und es war schwierig genug, Ihren Namen und Ihre Adresse

herauszufinden.“

„Und wie kommen Sie auf mich, wenn ich fragen darf?“ Der Viscount hoffte

auf eine Eingebung und versuchte Zeit zu schinden. Er überlegte, ob sein
Gewissen es erlauben würde, sich aus dem Staub zu machen und sie Chester
und Randall zu überlassen.

Sydney wünschte sich nichts mehr, als daß er ihr einen Stuhl anbot, bevor

ihre Beine nachgaben, trotzdem antwortete sie mit wachsendem
Selbstvertrauen: „Die letzte Arbeitgeberin meiner Zofe war Lady Motthaven.
Deren Gatte war in finanziellen Schwierigkeiten und hat sich Geld geliehen, um
seine Schulden zu begleichen. Meine Zofe berichtete davon.“

Der Viscount sprach bedächtig, wie mit einem Kind: „Und berichtete die Zofe

auch, daß Motthaven das Darlehen schnell zurückgezahlt hat?“ Forrest wußte,
daß dies nicht der Fall war, der Schuldschein lag auf dem Tisch.

Sydney blickte betreten zu Boden und nahm den Korb in die andere Hand.

„Sie sind der Schulden wegen auf den Kontinent geflohen. Deshalb brauchte
die Zofe eine neue Stelle.“

„Können Sie sich nicht vorstellen, daß es Ihnen genauso wie Lord Motthaven

ergeht?“

Sydney schob ihr Kinn vor. „Ja, Sir, ich war glücklich, auf die Dienste einer

erfahrenen Zofe zurückgreifen zu können.“

Sie mochte Mr. Randalls Gesichtsausdruck nicht. Ohne die entstellenden

blauen Flecken und die finstere Miene könnte er eigentlich ungewöhnlich
attraktiv aussehen, überlegte sie. Aber im Moment kniff er die Augen
zusammen und sah so finster aus, daß sie überlegte, ob sie in der Kutsche
vielleicht doch sicherer sei.

„Gut, Sir, dann gehe ich wohl besser. Ich nehme an, Sie wollen mir nicht

helfen. Es steht mir zwar nicht zu, Ihnen zu sagen, wie Sie Ihre Geschäfte führen
sollen, aber es sollte mich wundern, wenn Sie überhaupt etwas verdienen, so
wie Sie Ihre Kundschaft abweisen.“ Dann erinnerte sie sich wieder ihrer
hoffnungslosen Lage und ihres Korbes. „Glauben Sie, Sie könnten ...“

Den Hund als Pfand nehmen? Die Dame mußte nicht ganz bei Verstand sein.

Der Viscount trat so weit wie möglich zurück, für den Fall, daß sie ihm das
verflixte Ding in die Hand drücken würde.

„Wenn Sie mir schon keinen anderen Geldverleiher nennen wollen, kennen

Sie dann vielleicht jemanden, der Haare kauft?“

„Haare? Der Hund ist Ihr Haar? Ich meine, Sie haben Ihre Haare in dem

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Korb?“ Lord Mayne wußte, daß er Unsinn redete, aber was sollte er sagen?
Dieser von der Sonne geküßte Honigtau, in diesem herrlichen rotgoldenen
Farbton, das war ihr Haar? Er ließ sich auf den Stuhl fallen.

Sydney nahm auf dem gegenüberstehenden Stuhl Platz, obwohl er sie mit

keiner Geste dazu aufgefordert hatte. Schließlich durfte man von einem
Wucherer keine feinen Manieren erwarten. Immerhin schien er endlich
geneigter zu sein, ihr zu zuhören. Ganz vorsichtig versuchte sie, mit dem Fuß
die Waffentasche näher zu sich zu ziehen. Dann hob sie ihren Schleier und
fragte: „Gestatten Sie?“

„Ja, bitte.“ Der Viscount mußte sich ins Gedächtnis zurückrufen, in welcher

Umgebung er sich befand. „Tun Sie sich nur keinen Zwang an.“ Er hielt den
Atem an. Diese herrliche, aufregende Mähne konnte keinem verschrumpelten
alten Weib gehören.

„Sie sind ... Sie sind ...“ Er konnte weder sagen entzückend oder gar

hinreißend. Einfach unschicklich gegenüber einer Dame, der man noch nicht
einmal vorgestellt worden war. Er stellte sich vor, wie sie wohl mit dieser
Haarfülle ausgesehen haben könnte; wie dieses Haar ihren warmen Teint
unterstrich und ihre grünen Augen leuchten ließ. Beinahe hätte er laut
aufgestöhnt. Eine solche Haarfülle mußte ihr über die Schultern gefallen sein,
bis zu den Hüften gereicht ... Himmel ... sie ganz eingehüllt haben. Doch auch
mit den kurzen Locken, die ihr liebreizendes Gesicht wie einen Glorienschein
umrahmten, war sie allerliebst. Sie sah aus wie ein kleiner Kobold, eine junge
Unschuld. „Gütiger Himmel, Sie sind ja noch ein Kind.“

Sydney schob ihr Kinn nach vorn. „Ich bin achtzehn, Mr. Randall.“
„Achtzehn?“ Jetzt stöhnte der Viscount wirklich. „Mit achtzehn sollten Damen,

die so aussehen wie Sie, nicht ohne bewaffnete Begleitung das Haus verlassen
dürfen! Und wohin gehen Sie, Miss? Sie lassen Ihren robusten Diener draußen
und begeben sich in eine Räuberhöhle!“

Oh, Gott, nun wird er wieder ärgerlich, dachte Sydney. „Bitte, Mr. Randall, ich

brauche nur ...“

„Sie brauchen einen besseren Haarschnitt.“ Forrest hätte sich am liebsten auf

die Zunge gebissen. Er wollte sagen, daß sie eine Tracht Prügel brauchte; aber
das brachte seine Gedanken nur in eine andere Richtung. Also versuchte er es
mit einem Kompromiß: „Sie brauchen einen Beschützer. Und ich bin nicht
Randall, zum Donnerwetter noch mal.“

„Oh, entschuldigen Sie.“ Sydney bedauerte, daß ihre Unterhaltung enden

sollte; dieser Mann begann sie zu interessieren. „Könnte ich wohl mit Mr.
Randall sprechen?“

„Im Moment ist er ... nun ... anderweitig gebunden. Mein Name ist Mayne.“
Sydney neigte leicht den Kopf. „Angenehm Mr. Mayne. Ich bin Miss ...“
Er hob die Hand, um sie zu unterbrechen. „Bitte, keine Namen. Hier haben

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die Wände Ohren.“ Er wußte, daß diese verdammte Tür immer noch einen Spalt
offenstand.

Sydney nickte erfahren und machte sich insgeheim lustig über ihn. Er ist

offensichtlich ein komischer Kauz, dachte sie. Aus dem Nachbarraum waren
Stöhnen und dumpfe Schläge nicht zu überhören.

„Frisch Vermählte, nebenan“, erklärte er beiläufig und wäre beinahe unter

ihrem fassungslosen Blick errötet. Himmel, solcher Unschuld bin ich noch nicht
begegnet. Und er erinnerte sich wieder an den Schlamassel, in den die Kleine
beinahe geraten wäre; wie ein Lämmchen, das in die Höhle des Löwen gerät.
„Sicherlich sind Sie der Meinung, Ihre Situation sei aussichtslos, aber dies hier
ist nicht die Lösung, Miss.“

Sydney war verwirrt. „Wenn man nicht zu einem Geldverleiher gehen kann,

um Geld zu leihen, wohin soll man dann gehen?“

Forrest fuhr sich wieder verzweifelt mit den Händen durch die Haare.

„Fangen wir also noch einmal von vorne an. Hat Sie denn niemand vor
skrupellosen Geldverleihern gewarnt?“

Sie nickte, und er war erfreut. „Hat Sie niemand gewarnt, daß man am Ende

viel mehr zahlt, als man geborgt hat?“

Sie nickte wieder. Mr. Mayne machte jetzt einen fast zufriedenen Eindruck.

„Und hat Sie auch niemand gewarnt, daß Geldverleiher die letzte Zuflucht für
unverbesserliche Spieler sind?“ Jetzt grinste er sie sogar an; ein spitzbübisches
Grinsen, trotzt seines arg zerzausten Aussehens. Und freundliche Augen hat er
auch, überlegte sie weiter, himmelblau und gar nicht verschlagen. Weshalb
hatte sie eigentlich keiner gewarnt, daß Geldverleiher so stattliche Gauner sein
konnten?

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6. KAPITEL

„Ich brauche nur tausend Pfund, Mr. Mayne.“

Er wollte sie nicht über seinen Titel aufklären. Diese entschlossene kleine

Person schien die einzige Frau Londons zu sein, die weder über seinen Stand
noch über seine Geschäfte und sein Einkommen Bescheid wußte. Er wünschte,
daß dies so blieb. So sehr ihn ihr Dickkopf auch zur Verzweiflung brachte, die
Kleine schmeichelte ihm wenigstens nicht oder lächelte ihn einfältig an.

„Tausend Pfund? Das ist viel Geld.“ Die Überlegung, was sie angestellt haben

mochte und wofür sie eine solche Summe benötigte, brachte ihn richtig
durcheinander. Allein die Tatsache, daß das Mädchen hier war, bewies, daß
man ihr alles zutrauen mußte. „Tausend Pfund?“

„Ich bitte Sie herzlich, Mr. Mayne, mich nicht wie ein eigensinniges Kind zu

behandeln. Ich weiß, worauf ich mich einlasse.“ Er zog skeptisch die
Augenbrauen hoch. „Ich habe diesen Schritt nicht leichtfertig getan, das kann
ich Ihnen versichern“, fuhr sie bestimmt fort. Ihm sollte sein gönnerhaftes
Grinsen schon vergehen. „Ich weiß, solche Geschäfte schicken sich durchaus
nicht für eine junge Dame, deshalb trage ich die alten Trauerkleider meiner
Mutter, damit mich niemand erkennt. Doch die Umstände erfordern wirklich
diese Geldmittel.“

„Und Sie können nicht wie jede anständige Frau Ihren Vater, Ihren Bruder

oder die Bank um Hilfe bitten?“

„Die habe ich alle nicht“, war ihre ruhige, tapfere Antwort. Der Viscount

fühlte ein eigenartiges Stechen in der Herzgegend. Hoffentlich kein Vorbote für
neue Abenteuer?

„Aber Sie müssen doch eine Familie haben.“
„Natürlich, deshalb brauche ich ja das Darlehen. Ich habe einen Plan.“
Das bezweifelte der Viscount nicht, legte die Hände übereinander und war

gespannt, womit sie ihn überraschen würde. Miss Sydney Lattimore enttäuschte
ihn nicht. Ihr Vorhaben war so gewinnsüchtig wie das jener Mütter, die ihre
Tochter in die Gesellschaft einführen wollten.

„Verstehen Sie, wenn Winnie Baron Scoville ... ach ja, keine Namen. Wenn

meine Schwester einen gewissen, warmherzigen Gentleman heiratet, dann
können wir das Darlehen zurückzahlen und müssen nicht um unsere Zukunft
bangen.“

Scoville also hatten die Schwestern im Visier. Der Baron ist reich und aus

guter Familie, überlegte der Viscount. Nach seinem Geschmack etwas zu
korrekt. Dieser selbstgerechte Tugendbold würde nie und nimmer eine
Verbindung mit einem mittellosen Niemand eingehen, noch dazu von
zweifelhafter Herkunft. „Im allgemeinen pflegen Barone recht hoch hinaus zu

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wollen, wenn sie nach einer Braut Ausschau halten“, versuchte es Forrest auf
die höfliche Art.

Sydney hatte verstanden, sie hob ihre kleine, schmale Nase. „Die La..., man

darf uns nicht geringschätzen, Sir. Der Bruder meiner Mutter war ein Earl, und
mein Großvater ist ein sehr geachteter Offizier. Auch wir haben unsere
Verbindungen; was wir nicht besitzen, sind die Mittel, Vorteile daraus zu ziehen.
Außerdem, der Baron hat meiner Schwester schon seine besondere
Aufmerksamkeit geschenkt.“

General Lattimore! Oh, Gott! Das Mädchen war aus gutem Hause.
„Ist Ihre Schwester so hübsch wie Sie?“
Sydney lachte und zeigte ihre entzückenden Grübchen. „Wie ich? Oh, nein,

Winifred ist wunderschön. Sie ist liebreizend, hat ein freundliches Wesen, sie
weiß sich stets in angemessener Form zu benehmen, und sie kann sich auch
noch mit dem langweiligsten Hilfsgeistlichen angeregt unterhalten. Ihre
Handarbeiten sind von ausgesuchter Feinheit, und sie hat eine angenehme
Stimme. Sie ist ...“

„Ein Muster an Vollkommenheit“, unterbrach der Viscount sie, „eine

wundervolle Ehefrau für jeden Mann, ganz besonders für einen reichen. Sie
haben mich überzeugt. Was schlagen Sie vor, wie sollen wir die Zielscheibe, äh,
den Mann überzeugen?“

Miss Sydney mußte nicht lange nachdenken; sie hatte sich schon alles

überlegt. Sie lächelte wieder. Ihre Grübchen und das Funkeln ihrer Augen
ließen den Viscount an ganz etwas anderes denken. Er bekam nichts mit von
ihrem ausführlichen Vortrag über Kleider, Empfänge und Musikstunden. Sydney
war zufrieden. Sie glaubte, ihren Fall in verständlicher, wohl durchdachter Form
dargelegt zu haben. Sie wäre wütend gewesen, hätte sie geahnt, daß der
Viscount nicht ein Wort mitbekommen hatte. Der aber war äußerst beunruhigt
über seinen Drang, Miss Lattimore von allen Kümmernissen befreien zu wollen.
Nein, diese ritterliche Tugend gab es schon lange nicht mehr. Nein, die
Angelegenheit ging ihn nichts an; nur warnen mußte er das Mädchen, nicht mit
dem Feuer zu spielen.

„Haben Sie sich auch überlegt, was passieren würde, wenn Sie das Geld

leihen, Ihre Schwester wie eine Modepuppe ausstaffieren und dennoch den
Baron nicht dazu bringen können, einen Antrag zu machen? Wie würden Sie
das Darlehen dann zurückzahlen? Haben Sie bedacht, daß es aufgrund der
außergewöhnlich hohen Zinsen wesentlich mehr sein wird, als Sie bekommen
haben?“

Sydney biß sich auf die Unterlippe. Allerliebst, entzückend! Auch der

Viscount biß sich auf die Lippen. „Sie denken immer noch an die Motthavens“,
sagte sie.

Nein, er dachte an ganz etwas anderes. „Diese ... diese Pfennigfuchser wollen

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unter allen Umständen ihr Geld zurückhaben.“

„Sollen sie ja auch, sonst haben sie ja keinen Gewinn. Es gibt noch andere

Männer. Die sind vielleicht nicht ganz so betucht wie der Baron, aber ich bin
sicher, daß sie die Schuld zurückzahlen würden, wenn sie Winnie zur Braut
bekommen. Außerdem gedenke ich nicht, die vollen tausend Pfund für Winnies
Garderobe auszugeben. Aber von diesen Dingen verstehen Sie sowieso nichts.“

Mit Schneiderrechnungen und den Kosten für Empfänge kannte sich der

Viscount nur zu gut aus. Tausend Pfund würden kaum für das Debüt dieses
Mädchens reichen. Die Bälle seiner eigenen Schwestern hatten schon an einem
Abend mehr gekostet. Er überhörte Miss Latttimores Behauptung hinsichtlich
seiner Unwissenheit über die vornehme Gesellschaft und konzentrierte sich auf
die Entwicklung ihres großen Plans. „Nur damit ich über die Details informiert
bin, wie wollen Sie denn nun die Jungfrau opfern?“ fragte er.

Sydney verübelte ihm diesen spöttischen und anmaßenden Ausdruck. „Mein

lieber Mann“, antwortete sie in einem Ton, den Tante Harriet nicht
herablassender hätte von sich geben können, „einen Teil des Geldes werde ich
für meine Schwester verwenden, den Rest will ich investieren. Die Zinsen
werden uns über die Saison bringen; und ... na ja, wenn Winnie keinen ihrer
Verehrer leiden mag, dann wird es auch zur Rückzahlung des Darlehens
reichen. Sie muß sich nicht opfern.“

„Meinen Sie etwa, Sie wollen sich Geld zu zwanzig Prozent oder noch höher

leihen?“ schrie er sie an. „Worin wollen Sie denn investieren? Etwa in
Staatsanleihen? Zu weniger als fünf Prozent? So verrückt kann doch niemand
sein!“

„Damit Sie es wissen, Sir, Ich kann mein Geld verdoppeln, das sind fünfzig

Prozent!“

„Hundert Prozent, Sie Närrin! Das beweist, daß man Frauen keine

Geldgeschäfte anvertrauen soll. Sie ...“

„Ihr Geschrei hat mich ganz nervös gemacht“, sagte sie ruhig, aber

anklagend.

Verdammt, sie war nicht die einzige, die hier nervös war, wenn er schon

selbst anfing, das Mädchen wegen eines Versprechers anzuschreien.
„Entschuldigen Sie! Aber jetzt verraten Sie mir doch mal, wenn Sie so eine
sichere Methode haben, Ihr Geld zu vervielfachen, weshalb Sie es dann nicht
zur Bank bringen? Die sind immer begierig auf neue Geschäfte, bieten günstige
Zinssätze und eine Menge Ratschläge.“

Ihre Antwort war nicht mehr so selbstgefällig: „Es handelt sich nicht um diese

Art von Investition. Ich gedenke bei Faustkämpfen zu wetten.“

Sam Odums Knüppel muß doch mehr Schaden angerichtet haben, überlegte

der Viscount. Vermutlich habe ich einen Fiebertraum. „Sie wollen Ihre Zukunft
auf einen Boxkampf setzen?“

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„So ausgedrückt klingt es töricht, aber es handelt sich nicht um irgendeinen

Kampf. Es gibt da einen Boxer, einen Holländer, eine gewisse Berühmtheit mit
großen Gewinnchancen. Mein Diener Wally soll gegen ihn kämpfen, und wir
sind ganz sicher, daß Wally siegen wird.“ Jetzt, da sie die ungeteilte
Aufmerksamkeit des Wucherers hatte, fühlte Sydney sich sicherer. Die
Ausführungen über Winnie und den Baron hätte sie sich sparen können. Bei
einem Mann wie Mr. Mayne hätte sie sofort mit dem Boxkampf beginnen sollen.
Ein Blick auf seine breiten Schultern und seine muskulösen Schenkel hätte ihr
gleich sagen müssen, daß er mehr von Faustkämpfen als von Mode hielt.
Vielleicht verlangten seine Geschäfte sogar gewisse Fähigkeiten in dieser
Sportart. „Niemand in Little ... dort wo wir früher gewohnt haben, hat Wally
geschlagen, und in der letzten Zeit hat er besonders hart trainiert. Er wird
gewinnen.“

Viscount Mayne war wirklich ein Anhänger dieses Sports. „Meinen Sie den

holländischen Champion, den man die Eiche nennt? Ja, ich habe gehört, daß er
bald wieder kämpfen will. Ist Wally der starke Kerl da draußen? Wenn er so gut
ist, wie Sie behaupten, könnte er eine Chance haben. Man sagt, die Eiche sei zu
fett geworden.“

„Nein, draußen steht Willy, Wallys Zwillingsbruder. Willy darf nicht boxen, er

hat ein Glaskinn.“

Forrest seufzte. „Der Kerl soll Sie beschützen; also erzählen Sie ihren Feinden

nichts über seine Schwächen.“

„Ach, ich hielt Sie nicht für einen Feind. Ich dachte, wir würden nur über ein

Darlehen sprechen.“

„Richtig, das Darlehen. Gut, Miss, was wollen Sie als Sicherheit hinterlegen?“
„Als Sicherheit?“
„Ja, für das Darlehen; man kann es mit Hypotheken, mit Immobilien, einem

Rennpferd oder mit einem Schmuckstück sichern. Etwas, das der Verleiher
behält, wenn das Darlehen nicht zurückgezahlt wird.“

„Oh, ich werde jeden Penny zurückzahlen.“
„Das wollen all die Täubchen, die Randall rupft. Verstehen Sie, niemand wird

einem Schulmädchen ein ungesichertes Darlehen geben.“

„Erstens bin ich kein Schulmädchen, und zweitens ist das Unsinn! Meine Zofe

Annemarie sagt, daß die Gentlemen stets Schuldscheine für ihre Darlehen
schreiben, auf ihr Ehrenwort.“

„Richtig, Gentlemen!“
Miss Lattimore ließ sich nicht einschüchtern, sie wurde wütend: „Ich besitze

nicht weniger Ehre als ein Gentleman. Über meinem Familiennamen hat
niemals auch nur ein Hauch von Schande gelegen und wird es auch nicht,
solange ich lebe. Gegenteilige Folgerungen weise ich zurück, Mr. Mayne,
insbesondere von jemandem in Ihrer Position. Eher würde man mir glauben,

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daß ich das Darlehen zurückzahle, als Ihnen, daß Sie mich nicht mit den
Bedingungen übers Ohr hauen. Verstanden?“ Als sie wie gewöhnlich zur
Verstärkung ihrer Worte auf die nicht vorhandene Armlehne klopfen wollte,
wäre sie fast vom Stuhl gefallen. Der Feigling grinste.

„Ja, Sie haben mir Ihren Standpunkt klargemacht Miss, äh Lamb ...“
„Und ich verbitte mir Ihre Vergleiche mit dieser allseits bekannten Dame! Ich

will nur meiner Familie helfen, und zwar auf die mir mögliche Art. Ich versuche
nicht, mich selbst in Szene zu setzen.“

Der Viscount kratzte sich verlegen am Kinn. „Ich dachte eher an diese

niedlichen, lockigen Tierchen.“

Sydney faßte an ihre etwas fransigen Locken. „Habe ich selbst geschnitten.“
„Das hätte ich nicht gedacht. Aber ich kann Sie doch nicht weiter Miss

Lämmchen nennen, wenn wir Partner werden wollen.“

„Partner? Wir?“ Er hätte sie sonstwie nennen können, sie hätte es ihm nicht

verübelt, wenn er ihr nur das Geld lieh. „Oh, ich danke Ihnen.“

Er beugte sich dem Unvermeidlichen. Ihr das Geld zu geben war der einzige

Weg, die Kleine vor ... „Ja, Miss Quälgeist, ich gebe Ihnen das Geld, aber unter
einer Bedingung.“

Sydney zog hastig Papier und Bleistift aus ihrem Täschchen. „Ja, Sir, wie hoch

ist der Zins? Wollen Sie die Rückzahlung in einer Summe oder in Raten? Ich
kann einen Plan aufstellen oder ...“

„Halt Quälgeist, ich sagte, ich gebe es Ihnen. Betrachten Sie es als

Abschiedsgeschenk von Mr. Randall und Partner.“ Der Viscount ignorierte die
lauter werdenden Geräusche aus dem Nachbarzimmer und schob ihr die
Lederbörse mit den tausend Pfund über den Schreibtisch. „So ist keiner von uns
beiden gebunden.“

Sie schüttelte ihren Lockenkopf. „Und Sie behaupten, Frauen hätten keinen

Sinn für Geschäfte? Sie können doch einer Fremden nicht einfach so einen
Beutel voll Geld geben.“

„Weshalb nicht? Er gehört mir. Mein Bruder hatte Spielschulden.“
„Und die haben Sie von Ihrem Bruder zurückgefordert?“
Der Viscount wollte sich nicht mit einer ausführlichen Erklärung aufhalten. Er

schob die Tasche weiter zu ihr hinüber.

Sydney wagte kaum ihre Hand auszustrecken ... die wenigen Zentimeter nur,

die sie von dem Beutel trennten. „Ich möchte Sie nicht beleidigen, Mr. Mayne,
aber eine Dame kann ein solches Geschenk nicht annehmen. Es gibt gewisse
Regeln, die Sie sicherlich nicht kennen. Blumen, vielleicht, aber tausend
Pfund?“

Der Viscount lachte lauthals, obwohl sein Kinn und seine Rippen dabei

höllisch schmerzten. „Sie tragen zu dick auf, meine Liebe. Wenn Sie in den
Kleidern Ihrer Mutter zu den Spitzbuben gehen, über Faustkämpfe wie von

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einen Damenkränzchen reden können, dann können Sie auch das Geld
annehmen. Für Stolz ist es zu spät, Miss Quälgeist.“ Er stand auf und legte ihr
den Beutel in den Schoß. „Aber ein Geheimnis muß ich Ihnen noch verraten, ich
bin gar kein Geldverleiher.“

Sydney blickte auf den Geldbeutel, dann betrachtete sie den ungepflegten

Mann mit dem schiefen Grinsen, das wilde Durcheinander in dem Büro. Sie
nickte. Sie hatte das Geld; sie konnte dem Irren seinen Willen lassen.

„Ich bin ein Viscount.“
„Und ich die Kaiserin von China. Deshalb werde ich Ihnen auch das Geld ohne

Schwierigkeiten am Ende der Saison zurückzahlen.“ Sie stand auf, um zu
gehen.

„Aber Sie haben meine Bedingungen noch nicht gehört.“
Er stand sehr nahe bei ihr und grinste sie immer noch so verführerisch an.

Sydney setzte sich wieder. „Natürlich, die Zinsen.“

„Ich sagte doch, Sie brauchen dieses verdammte Darlehen nicht

zurückzuzahlen. Ich will nichts daran verdienen. Auch wir Viscounts haben
unsere Regeln. Das sind meine Bedingungen: Erstens, Sie werden nie wieder
einen Kredithai, sondern nur mich aufsuchen, wenn Sie erneut in finanziellen
Schwierigkeiten sind.“ Er kritzelte ihr seine Adresse am Grosvenor Square auf
das Papier. „Zweitens, Sie kommen nie wieder hierher, egal wie viele
muskelstarke Diener Sie begleiten. Versprechen Sie mir das, bei Ihrer Ehre, Miss
Quälgeist?“

Er grinste nicht mehr. Sydney schwor feierlich, und er lächelte sie gutmütig

an. „Gut. Und schließlich werde ich das Haar behalten.“

„Als Pfand? Aber das reicht doch nicht.“
Das jedoch konnte nur er einschätzen.

Sydney ging zur Tür, den Geldbeutel anstelle des Korbes in der Hand, und
bekräftigte erneut, daß sie die Summe zurückzahlen werde. Forrest stand so
dicht neben ihr, daß er einen leichten Duft von Lavendel riechen und fast die
Sommersprossen auf ihrer Nase zählen konnte.

„Wenn Sie Schwierigkeiten haben, die Bedingungen zu erfüllen, meine Liebe,

werden wir sicher einen Weg zur beiderseitigen Befriedigung finden.“

Wieder diese großen Augen und der entgeisterte, naive Blick. Miss Lattimore

hatte nicht die leiseste Ahnung von dem, was er diskret anzudeuten versuchte.
Deshalb zeigte er ihr, was er meinte. Sanft drückte er seine Lippen auf die ihren
und küßte sie vorsichtig.

Es war eigenartig, aber Sydney spürte keine Furcht. Auch das gehörte

irgendwie zu diesem unglaublichen Nachmittag. Ja, sie genoß es sogar, von
einem Mann in den Armen gehalten zu werden. All ihre anderen Bekannten –
nicht viele und mehr junge denn erwachsene Männer – rochen nach
Haarwasser, Seife und Sandelholz. Dieser roch nach ... Schweiß. Der Geruch war

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so wild wie der Mann, verwirrend und aufregend und ... ein ungehobelter Kerl.
Sydney wehrte sich, und er ließ sie augenblicklich los. Er lächelte.

„Sie ... Sie“, sprudelte sie entrüstet los. „Sie hatten recht, Geldverleiher sind

Halunken.“ Und schlug ihm ins Gesicht.

Sydney war erschrocken; noch nie zuvor hatte sie einen Mann geschlagen.

Aber sie war auch noch nie geküßt worden, noch nie hatte man ihr ein
zweideutiges Angebot gemacht. Sie wußte, zum Teil war sie nicht ganz
unschuldig an der Situation. Sie befand sich an einem Ort, an dem eine Dame
sich nicht aufhalten sollte. Ein Gentleman hätte daraus keinen Vorteil gezogen,
aber Mr. Mayne, oder wer er auch sein mochte, war nun mal kein Gentleman.
Sie wollte sich gerade entschuldigen, als die Tür aufgerissen wurde.

Willy war bereit zum Kampf. Er sah seine Herrin an und die Visitenkarte ihrer

fünf Finger auf der Wange des grinsenden Kerls. Willy schüttelte den Kopf: „Ich
habe Ihnen immer wieder gesagt, Miss Sydney, nicht mit der offenen Hand.“ Er
plazierte seine Faust mit einer solchen Kraft, daß dem Viscount ein blaues Auge
sicher war.

Forrest ergab sich mit erhobenen Händen. Es war falsch gewesen, sich den

Kuß zu stehlen, aber er war es wert. Er lächelte genüßlich.

„Und wenn das nicht hilft“, fuhr Willy fort, „was sollen Sie dann tun?“ Er

rammte dem Viscount sein Knie in die Leistengegend. Aufstöhnend sank Seine
Lordschaft zu Boden.

Sydney stieg vorsichtig über Mayne hinweg, versicherte noch einmal, das

Geld zurückzuzahlen, und wünschte ihm einen schönen Tag.

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7. KAPITEL

Bevor Viscount Mayne das Gebäude in der Fleet Street verließ, ging er noch
einmal in das Hinterzimmer und ermahnte die Besitzer: „Hört gut zu, ihr
Halunken! Ich habe gerade eine milde Gabe in eurem Namen gemacht. Für
tausend Pfund bekommt ihr einen besseren Platz in der Hölle. Wenn euch
Rabauken dieses Schicksal nicht allzu bald ereilen soll, dann vergeßt besser
alles, was ihr gehört habt.“

Danach sammelte er seine Sachen zusammen, Jacke, Krawattentuch, die

Tasche mit den Waffen und Miss Sydneys Korb. Nach kurzer Überlegung nahm
er das Haar aus dem Korb und wickelte es sorgfältig in das Halstuch.

Forrest betrat sein Haus durch die Hintertür und schlich sich als erstes in sein

Arbeitszimmer. Hier schrieb er schnell jeweils einen kurzen Begleitbrief zu den
Schuldscheinen: Die Angelegenheit hat sich erledigt. Vct. Mayne. Den Idioten
war er keine weiteren Erklärungen schuldig. Die Briefe übergab er einem Diener
zur Beförderung und sich selbst in die erfahrenen Händen des Kammerdieners
seines Vaters.

Nach einem ausgedehnten, heißen Bad, einer guten Mahlzeit und einer

halben Flasche Burgunder aus den Kellern des Earls begab sich der Viscount zu
Bett. Daß er überhaupt wieder aufwachte, hielt er am nächsten Morgen für ein
Wunder. Er sah schlimm aus und fühlte sich hundsmiserabel. Im Haus, wo die
weiblichen Hausangestellten verschüchtert einen Bogen um ihn machten,
konnte er nicht bleiben und außer Haus wollte er auch niemanden mit seinem
Anblick belästigen. Er mußte aus Londons verschwinden.

Sobald Brennan fähig ist zu reisen, werde ich mit ihm nach Sussex fahren,

entschied Forrest. Unter den sorgenden Händen ihrer Mutter würden sie sich
schneller erholen. Und es würden weniger Fragen gestellt.

Zwei Beefsteaks für Wally jeden Morgen während des Trainings. Drei Kisten von
dem Portwein, den der General bevorzugt. Reichlich Makronen und
Mandelplätzchen für die zahlreichen Besucher zum Nachmittagstee. Eine kleine
Dinnerparty für Scoville? Nein, dann müßte ich ja auch Tante Harriet einladen.

Sydney machte Einkaufslisten und gab Geld aus. Sie und Winnie hatten

zusammen mit der Zofe Annemarie im Pantheon Bazaar äußerst günstig Bänder
und Spitzen, Handschuhe und Strümpfe einkaufen können. Die Lattimore-
Schwestern waren gern gesehene Kundinnen bei den Stoffhändlern, den
Putzmachern und den Schustern geworden. Aber sie waren auch sparsam.
Annemarie war flink und geschickt mit der Nadel, sie änderte hier und dort
einen Besatz, entfernte Bänder und nähte Schnallen an; ja, sie veränderte die
Kleider immer wieder, so daß der Eindruck entstand, die Mädchen hätten

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reichlich Garderobe.

Doch Sydney bestand darauf, daß die größte Aufmerksamkeit auf die

Kleidung ihrer Schwester gelegt wurde. Miss Lattimore war eine solche
Schönheit, daß man die jüngere Schwester sowieso nicht beachten würde.
Winifred ging auch öfter aus. Sydney dagegen zog es vor, zu Hause zu bleiben,
dem General aus der Zeitung vorzulesen und davon zu träumen, daß endlich
ein neuer Stern am gesellschaftlichen Horizont aufstieg und in den
Klatschspalten Erwähnung fand.

Sich selbst ließ Sydney zu einem neuen gelben Musselinkleid und einem

passenden Hut überreden. Er sah elegant und verführerisch zugleich aus, um so
mehr, als ihre zerfransten Locken einen ausgezeichneten Schnitt erhalten
hatten.

„Ach Sydney, dein wundervolles Haar“, jammerte Winifred. „Und alles nur für

mich.“

Sydney dachte daran, daß der Haarschnitt das geringste war, was sie getan

hatte. Niemals wollte sie der sensiblen Schwester etwas von dem Besuch in der
Fleet Street erzählen, und schon gar nicht heute, da Winifred am Nachmittag zu
einer Ausfahrt in den Park mit Baron Scoville verabredet war.

„Hör auf, du dummes Gänschen“, neckte Sydney ihre Schwester. „Du willst

dem Baron doch nicht mit geschwollenen Augen und einer roten Nase
gegenübertreten. Er könnte denken, du gehörtest zu der Sorte Frauen, die ihm
ständig Szenen machen. Kein Gentleman mag das. Außerdem habe ich mein
Haar nicht für dich schneiden lassen“, stellte sie klar. „Ich habe diesen
schweren Haarwust immer gehaßt. Jetzt fühle ich mich frei und unbeschwert.
Sieh mich an, ich bin fast mondän! Du solltest aufpassen, daß ich dir nicht
deine schönen Männer wegschnappe.“

„Du könntest viele Verehrer haben, wenn du nur etwas mehr ausgehen

würdest. Die Gentlemen werden dir zu Füßen liegen, wenn sie dich in deinem
neuen Hut sehen.“ Winnie kicherte ausgelassen. „Vielleicht hast du ja Interesse
an einem dieser Bond-Street-Beaux.“

Sydney konnte es sich nicht vorstellen.

Die Countess of Mansfield besaß die bekannteste Pekinesenzucht im ganzen
Königreich. In ausgeklügelten Tabellen waren präzise Körperbau, Farben und
Temperamente ihrer Hunde verzeichnet. Sie war sich stets des Resultates
sicher, wenn sie ein Paar zur Deckung auswählte. Lady Mansfield war stolz auf
ihre Hunde.

Lady Mansfield betonte stets, daß Blut sich durchsetzt und nichts über eine

gute Erziehung geht.

„Habe ich dich deshalb nach London geschickt? So hilfst du deinem Bruder?

Hältst du so unseren guten Namen vom Klatsch fern?“

Wenn Forrest liebevolle Fürsorge und zärtliches Mitgefühl von seiner Mutter

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erwartet hatte, so wurde er eines Besseren belehrt, sobald er Brennan durch die
Eingangstüre geholfen hatte. Die Countess wartete nicht einmal, bis sich die
Dienerschaft zurückzog, bevor sie ihren Ältesten abkanzelte.

„Das kommt nur von der Marine. In meiner Familie kennt man keine Gewalt.

Als Erbe des Titels solltest du der Vernünftige und Besonnene sein, aber du
hast den Dummkopf deines Vaters geerbt. Diplomat nennt der sich, ach, daß
ich nicht lache! Wenn er jemals seinen Söhnen Diplomatie beigebracht hätte,
würden die sich heute nicht wie Wirtshauskrakeeler benehmen und aussehen
wie verrottete Kohlköpfe.“

„Danke, Euer Ehren“, versuchte er sie zu necken und zu besserer Laune zu

bewegen. Seine Mutter hatte seit Weihnachten, als der Earl zu Besuch war,
nicht so geschimpft. „Schön, wieder zu Hause zu sein.“

Brennan grinste unter seinen Pflastern, so gut er konnte; diesmal stand der

Bruder unter Beschuß. Aber schon wandte die Countess ihr liebevolles,
mütterliches Auge und ihre scharfe Zunge ihm zu.

„Du!“ schrie sie erbost, als ob sie eine schleimige Kröte in ihrer Eingangshalle

gefunden hätte. „Du, du bist nur ein Frauenheld! Ein Trinker! Ein Spieler! Für
jede Narretei, die die sündige Menschheit erfunden hat, bist du zu haben. Du
bist noch dümmer als dein Bruder. Dich mit so einem Gesindel einzulassen!
Du“, und ihre Stimme stieg noch eine Oktave höher, „du hast die Zügellosigkeit
deines Vaters geerbt.“

Brennan versuchte, mit der Countess zu diskutieren. Forrest hätte ihm gleich

sagen können, daß dies ein Fehler war; aber der Grünschnabel sollte sich ruhig
noch einmal eine blutige Nase holen. „Nun aber ruhig, Mutter“, sagte Brennan.
„Du weißt genau, daß Vater kein Weiberheld ist. Er spielt auch nicht mehr als
ein, zwei Spiele Whist oder trinkt mehr, als er verträgt. Seine Gicht ließe das
sowieso nicht zu. Außerdem, es war diesmal nicht meine Schuld.“

„Natürlich nicht! Du bist viel zu dumm, um alleine soviel Schwierigkeiten zu

produzieren.“

„Ehrlich, Mutter, das wäre alles nicht passiert, wenn du mich zur Armee

hättest gehen lassen.“

„Behauptest du jetzt etwa, alles sei meine Schuld?“
Forrest stellte sich vorsichtshalber vor die französische Porzellanvase auf dem

Tisch mit der Einlegearbeit.

„Natürlich nicht, Mutter. Nur, London bietet eben genügend Gelegenheiten

zum Trinken, Spielen, und ja, dort trifft man auf eine gewisse Sorte von Frauen.
Es gibt nicht viel, was man sonst dort machen kann.“

„Ich glaube, meine Hunde haben mehr Verstand als mein Sohn. Du solltest

deine Zeit in London auf Gesellschaften, in Museen, bei Picknicks verbringen;
das erwartet man von dir. Damit du die richtige Frau findest. Und was die
Armee angeht, du Tölpel, du bringst es ja nicht einmal fertig, in London

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unbeschädigt zu bleiben. Was würde dir erst in Spanien passieren! Ab in dein
Zimmer!“

„In mein Zimmer? Mutter, du kannst mich nicht mehr wie einen kleinen

Jungen behandeln. Ich bin zweiundzwanzig!“

„Du kannst zum Dinner herunterkommen, wenn du dazu fähig bist.“
Brennan wußte, daß er weder in der Verfassung war, den formellen

Abendanzug, den die Countess bei Tisch erwartete, anzuziehen, noch daß er
den beschwerlichen Weg die Prunktreppe hinauf und hinunter zweimal
zurücklegen konnte; dennoch, ausgeschlossen zu werden wie ein Schuljunge
wurmte ihn. „Aber Mutter ...“

Die Countess nahm drohend eine Topfpflanze vom Tisch. Brennan

verschwand.

Lady Mansfield wandte sich wieder ihrem Ältesten zu. „Ich bin ja schon weg“,

kapitulierte auch dieser und ging zur Treppe, um seinem Bruder
hinaufzuhelfen.

Einige Stunden später hatte die Countess sich wieder beruhigt. Vielleicht bin
ich doch zu streng mit Forrest, überlegte sie. Zumindest hatte er Brennan nach
Hause gebracht. Sie entschied, ihrem Ältesten zu vergeben und sich seine
Version der Geschichte anzuhören, vielleicht erfuhr sie dabei ja auch etwas
über den Earl. Sie wollte Forrest sogar eine Tasse ihres Spezialtees bringen, der
arme Junge sah wirklich arg mitgenommen aus.

Die Countess klopfte an Forrests Tür. Als sie keine Antwort bekam, drückte

sie vorsichtig die Klinke hinunter und betrat auf Zehenspitzen sein Zimmer,
vielleicht schlief er ja. Sein Bett war leer, also mußte er sich besser fühlen.

Beim Verlassen des Zimmers sah die Lady Mansfield zufällig ein schmutziges

Tuch auf der sonst so aufgeräumten Kommode ihres Sohnes liegen. Hatte sie
nicht immer gesagt, daß dieser Kammerdiener ein Faulpelz war! Aber nicht in
meinem Haus, schwor sie leise und zog heftig an der Klingelschnur. Sie nahm
das anstoßerregende Tuch, um seine sofortige Beseitigung zu fordern,
einschließlich der Person, die dafür verantwortlich war. Oh, Gott, der Stoff war
ja blutbefleckt und ...

Den schrillen Schrei der Countess konnte man im Park hören. Wenn Forrest

angenommen hatte, seine Wunden heilten auf dem Lande schneller, dann hatte
er sich geirrt. Seinen Rippen tat es nicht gut, so wie er die Treppen hinaufflog.
Auch eine fliegende Teetasse tat seinem Ohr nicht gut. Und hören zu müssen,
wie ihn seine Mutter vor der versammelten Dienerschaft und seinem
grinsenden Bruder beschimpfte, tat seiner Verfassung nicht gut.

Und das alles, nachdem die Countess festgestellt hatte, daß unter dem

blutbefleckten Tuch Frauenhaar und kein Pekinesenfell lag.

„So, Nelson, jetzt sind wir wieder allein“, sagte der Viscount. Er saß mit seinem

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alten Hund in der kalten Bibliothek des Witwenhauses, vor sich eine Flasche
Madeira. „Du bist der Tunichtgut, und ich bin der Frauenheld. Nein, ein
Wüstling und ein Schurke bin ich. Du bist nur ein Rattenfänger.“

Wie konnte seine Mutter nur annehmen, er hätte ein lasterhaftes Leben

begonnen. Frauen waren bestimmt nicht sein Laster. Allerdings war er auch nie
zuvor so einer Frau wie Miss Quälgeist begegnet. Eine außergewöhnliche kleine
Person, erinnerte er sich lächelnd, so mutig und durch und durch rechtschaffen.
Eine Schönheit war sie auch. Wie mag wohl die Schwester aussehen, fragte
Forrest sich. Da er niemals Debütantinnenbälle besuchte, würde er sie wohl nie
wiedersehen. Das war’s dann also! Das Kapitel Miss Sydney Lattimore war
abgeschlossen. Er schloß die Augen, aber er mußte ständig an diese
kupferroten Locken denken und an die verführerischen Grübchen, und an die
Art, wie sie sich auf die Lippen biß, bevor sie wieder eine Unverschämtheit von
sich gab. Forrest schenkte sich ein weiteres Glas Madeira ein.

Was wird mit der kleinen Närrin geschehen, überlegte er. Gewiß wird sie

irgendeinen Skandal hervorrufen, ihre Saison ruinieren. Ein Wunder, wenn
Sydney mit ihrer unkonventionellen Art diesen Stutzer Scoville nicht
verscheucht. Andererseits, vielleicht war sie ja sogar eine ganz intelligente
Wahl ... sie wäre bestimmt kein langweiliges, sentimentales Frauenzimmer. Er
mußte sich Sydney Lattimore sichern, bevor sie wieder sagen konnte: „Ich habe
einen Plan“, egal ob mit Schulden und ohne Mitgift. Nein, er würde sie ja
sowieso nicht wiedersehen.

Da irrte er sich.

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8. KAPITEL

Viscount Mayne hatte sich auch hinsichtlich der Herren Otto Randall und Otto
Chester geirrt. Nur einer der beiden war ein Bastard, der andere sein legitimer
Halbbruder. Otto Chester war der Sohn von Lord Winchester Whitlaw und
dessen Köchin Bella Boggs. Lady Whitlaw fand die Angelegenheit wenig
erfreulich, und Seine Lordschaft schickte die schwangere Bella auf sein irisches
Landgut, wohin seine Frau niemals reiste. Dort verehelichte er Bella, bevor ihr
Äußeres zuviel von der baldigen Niederkunft verriet, mit seinem irischen
Gutsverwalter Padraic O’Toole.

Das Kind glich seinem Vater und erhielt den Namen Chester O’Toole. Wie sein

Erzeuger war Chester bleich, dünn und schwächlich, doch der Schwächling
lernte schnell, daß Lügen und Feigheit seine einzigen Waffen waren.

Randy O’Toole, der Geldverleiher namens Otto Randall, war Chesters

Halbbruder. Randy glich seinem Vater, Paddy O’Toole: das gleiche rote Haar,
die winzige Figur, der miese Charakter, und er besaß auch die Vorliebe seines
Erzeugers für gefälschte Zahlen; je größer der Schwindel war, desto besser.

Bella hatte es nie so gut gehabt wie in Irland. Als Frau des Verwalters war sie

Mitglied einer gesellschaftlichen Schicht, die weit über ihrer Herkunft stand; sie
hatte ein gutes Einkommen, besaß ein schönes Haus. All das verdankte sie Lord
Whitlaw. Bella war so dankbar, daß sie Seiner Lordschaft einen weiteren
Sprößling schenkte. Ein dünnes, farbloses Mädchen, das nun seine Geschäfte
auf den Straßen von Dublin ausübte.

Paddy war wütend, aber was sollte er machen? Er hatte eine gut bezahlte

Stellung, seine Frau durfte er nicht schlagen, sie stand unter dem Schutz Seiner
Lordschaft. Also begann Paddy zu trinken. Außerdem füllte er sein eigenes
Bankkonto mit immer höheren Summen aus den Erträgen des Gutsbetriebes.

Das Leben nahm seinen Lauf. Aus den Kindern wurden erwachsene Männer

und eine Frau, die ihre Unschuld verloren hatte. Bella wurde dank eigener
Kochkunst korpulenter, Paddy knauseriger, das Gut ärmer, Seine Lordschaft
erschien seltener.

Als Whitlaw dann in einem Herbst zur Jagd anreiste, ließ Paddy den Lord

nicht aus den Augen. Mehr aus Gewohnheit trieb es Whitlaw mit O’Tooles Frau,
wo immer sich die Gelegenheit bot. Das war zuviel für Paddy. Er forderte
Whitlaw zum Duell. Seine Lordschaft weigerte sich. Ein Gentleman duellierte
sich nicht mit seinem Angestellten, insbesondere wenn dieser der bessere
Schütze war. Dann Fäuste, insistierte Paddy. Whitlaw bekam es mit der Angst
und drohte mit dem Sheriff. Was hatte Paddy noch zu verlieren? Er erschoß
Lord Whitlaw.

Natürlich wurde Paddy gehängt. Ein kleiner irischer Gutsverwalter konnte

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nicht mit einem heißblütigen Mord an einem englischen Lord davonkommen.
Bella und die Jungen flohen mit dem Geld nach England, bevor jemand in die
Bücher des Gutes schaute. Aus den Jungen wurden Otto Chester und Otto
Randall. Sie nahm ihren Mädchennamen wieder an und ließ sich als ehrenwerte
Witwe in Chelsea nieder. Die Söhne betrieben das Geschäft O. Randall und
Partner, Finanzberater. Falschspieler und Zinswucherer mit beschränkter
Haftung konnte man auch sagen.

„Meine Kleinen“, jammerte Bella, als sie das Büro in der Fleet Street betrat und
ihre Söhne gefesselt und geknebelt vorfand. „Wie konnte das geschehen,
meine lieben Söhne? Wie viele Halsabschneider haben euch überfallen?“ Als
erstes zog sie Chester das Halstuch aus dem Mund. „Mayne“, stöhnte er.
„Mayne?“ fragte Bella mit hochrotem Kopf. Dann trat sie auf Chester ein. „Hör
auf, Ma“, wimmerte er.

„Du Schwächling, habe ich dir nicht immer wieder gesagt, du sollst die

kleinen Lords in Ruhe lassen? Welches Täubchen wolltest du denn nun wieder
rupfen? Den jungen Mainwaring etwa? Der hat einen großen Bruder, der ihn
beschützt, das weiß doch jeder Strohkopf.“

„Und du“, kreischte sie und trat auf Randall ein, „du konntest ihn nicht in

Ruhe lassen. Du mußtest deinen Geldeintreiber auf das noble Bürschchen
ansetzen. Wo ist dieses Miststück überhaupt?“

Randy hatte immer noch den Knebel im Mund, deshalb versuchte Chester zu

antworten: „Mayne hat ihn fortschaffen lassen.“

„Was ist los mit dir?“ Bella sah Chester mit zusammengekniffenen Augen an.
„Ich glaube, meine Nase ist gebrochen.“
Bella betrachtete ihn kopfschüttelnd genauer. „Mayne ist bekannt als

Gentleman. Er würde niemals einen Mann so zusammenschlagen, noch nicht
einmal so eine kleine Made wie dich.“ Sie drohte ihm mit dem Finger. „Ihr habt
Glück, daß sie uns nicht schon den Magistrat auf den Hals gehetzt haben. Ihr
zwei habt zusammen soviel Grips wie ein Suppenhuhn.“

Einige Tage später trafen sich die drei wieder in Bellas kleinem Haus in Chelsea.

„Beruhige dich, Chester, niemand verfolgt dich. Stutzer wie Mayne verlassen

Mayfair nur selten.“

„Ma, was sollen wir denn machen? Ich schlage vor, wir verschwinden auf den

Kontinent mit dem, was wir haben.“

„Immer mit der Ruhe, Hasenherz, hier wird nicht davongelaufen“, erwiderte

sein Bruder. Randy hatte inzwischen Zahnersatz aus Elfenbein erhalten, den
ihm der Leichenbestatter aus dem Nachbarhaus von einem toten Adeligen
besorgt hatte. Der Kiefer schmerzte höllisch, was nicht unbedingt zu Randys
guter Laune beitrug; die neuen Schneidezähne waren länger als die alten und
reichten bis auf die Unterlippe, was nicht unbedingt sein Aussehen verbesserte.

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„Ich bin immer noch der Meinung, wir sollten Mayne umbringen. Dann müssen
wir nicht abhauen.“

„Das ist die idiotischste Idee, die ich je gehört habe. Verstehst du? Idiotisch,

Kaninchenzahn!“ Bella fiel vor Lachen fast vom Stuhl. „Du hast den gleichen
miesen Charakter wie dein Vater. Willst du so enden wie er? Du kannst ja
machen, was du willst, aber mich und Chester bringst du nicht an den Galgen.
Hast du denn gar nichts von deinem Vater gelernt? Jemanden mit einem Titel
kann man nicht ungestraft umbringen, es sei denn, man hat einen höheren
Titel oder mehr Geld. Das nennt man Gerechtigkeit.“

„Und das Geld, Ma?“ fragte Chester. „Wie sollen wir das ohne Sam

kassieren?“

„Im Augenblick haben wir noch genug zur Verfügung. Und in Zukunft sollte

der Versand der Schuldscheine, zusammen mit einem Briefchen von einem
Anwalt und der Drohung ‚Schuldturm‘ genauso wirksam sein wie ein Besuch
von Sam.“

„Und die tausend Pfund, die er verschenkt hat?“ wollte Randy wissen.
„Ach, die Knete kriegen wir schnell wieder rein. Aber hier geht es nicht um

Geld, ihr Dummköpfe. Es geht um Rache.“

Chester schüttelte bedenklich den Kopf, doch Randy lächelte boshaft.

Bellas Plan war einfach: Schlag dahin, wo es schmerzt. Mayne war reich, den
Verlust von Geld würde er nicht spüren. Aber seine Ehre, das war eine andere
Sache.

„Von diesem Scoville bekommen wir auf jeden Fall das Geld zurück. Sobald

der seine Verlobung bekannt gibt, drohen wir damit, das Gerücht in Umlauf zu
bringen, daß die Familie der Braut Dreck am Stecken habe. Fragwürdige
Geschäfte in Hintertreppenbüros und so weiter. Er wird ganz schnell zahlen.“

„Aber woher sollen wir wissen, daß er unser Mädchen wählt?“ fragte Chester.

„Wir kennen den Namen nicht. Im Moment bin ich nicht fähig, in die Klubs zu
gehen und meine Ohren offenzuhalten.“

„Du meinst, du hast Angst“, höhnte Bella. „Wir brauchen nur die

Klatschspalten zu lesen. Wenn so ein Esel wie Scoville die Witterung eines
Füllens aufnimmt, steht es in der Zeitung. Und sonst mußt du nur diesem
Diener folgen und aufpassen, wohin er nach dem Boxkampf geht.“

„Ich?“
„Sicher, Kaninchengesicht fällt doch auf wie ein bunter Hund.“
„Und was machen wir mit Mayne?“ Randy versuchte das Thema zu wechseln.
„Ach, den bekommen wir durch das andere Mädel, die mit dem Mumm in den

Knochen. Sie ist so wie ich, schlau und immer mit einem Plan im Hinterkopf. Wir
werden schon herausfinden, wer dieses kleine Frauenzimmer ist, dann
brauchen wir nur abzuwarten. Es wird nicht lange dauern, bis sie in aller Munde
ist; und wenn sie es nicht selbst schafft, dann können wir ja etwas nachhelfen

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und in Umlauf bringen, daß sie bei den Boxkämpfen gewettet hat. Danach
lassen wir die feine Gesellschaft wissen, daß Lord Mayne sie ruiniert hat.
Kompromittiert hat er sie sowieso schon. Entweder muß er dann die
tolpatschige Göre heiraten, oder sein Name wird zusammen mit dem ihren
durch den Dreck gezogen. Das wird ihm gar nicht gefallen, bei seiner
Auffassung von Familienehre. Und wenn all das nicht funktioniert, dann ...“

„Bringen wir ihn um.“
„Und fliehen auf den Kontinent.“

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9. KAPITEL

Brennan stürmte in das Arbeitszimmer seines Bruders. „Ich bin diese
Weibertyrannei satt, Forrest. Du mußt was unternehmen.“

Forrest hatte ihn mit Verwaltungsangelegenheiten der riesigen Mainwaring-

Güter beschäftigt. Wegen der gebrochenen Rippen war sein Bruder weitgehend
ans Haus gefesselt und den ständigen Nörgeleien der Countess ausgesetzt.
Kein Wunder, daß er schlecht gelaunt war. Seit einer Woche wollte er schon
zurück nach London, aber Ihre Ladyschaft hatte Anweisung gegeben, daß man
ihm weder Pferd noch Wagen überlassen durfte. Sie wollte auf jeden Fall
verhindern, daß ihr Sohn zu den Fleischtöpfen in der Stadt ... oder in das Haus
seines Vaters zurückkehrte.

„Du mußt mit ihr reden.“
„Bruderherz, eher ließe ich mich kielholen, als Mutter zu sagen, sie sei im

Unrecht.“

„Dann sag den Pferdeknechten Bescheid. Auf dich werden sie hören, Forrest“,

bettelte Brennan. „Ich will ja gar nicht die Braunen, aber vielleicht leihst du mir
die alte Gigi und den offenen Zweisitzer? Oder den Einspänner? Nur eine Fahrt
zur nächsten Poststation? Bitte!“

Brennan zuliebe plante Forrest einen Ausflug nach Islington zu einem

Boxkampf. Er mußte den Jungen ja schließlich unterhalten, damit er nicht auf
dumme Gedanken kam.

Für die Fahrt nach Islington nahmen sie den Phaeton des Viscount und seine
kostbaren Braunen. Sie brachen früh auf, um in mäßigem Tempo ans Ziel
gelangen zu können. Wie sich aber herausstellte, waren sie keineswegs die
ersten und hatten auch keine Gelegenheit, die Pferde anzutreiben, so verstopft
war die Straße. Alle Freunde des Boxsports und alle Wettbegeisterten schienen
sich auf den Weg nach Islington gemacht zu haben.

Der holländische Champion, den man die Eiche nannte, hatte jahrelang jeden

Kampf beherrscht. In der letzten Zeit hatten ihn nur noch wenige
herausgefordert, deshalb wollte niemand einen Boxkampf mit dieser Legende
verpassen. Niemand, außer dem Viscount, kannte den Herausforderer, einen
gewissen Walter Minch. Es hieß, er sei bei Grafschaftskämpfen unschlagbar
gewesen, ein riesiger junger Bursche, aber ohne viel Verstand. Einige
behaupteten, ihn beim Training gesehen zu haben, und glaubten, er sei im
Vorteil. „Minch gewinnt den Clinch“ war ihre Parole. Andere wollten wissen, daß
es sich nur um einen Schaukampf handelte und Minch das Opferlamm spielen
sollte. Diese Leute setzten nicht auf Gewinn oder Verlust, sondern nur darauf,
wie viele Runden der junge Minch durchhielt.

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Der Viscount verschwieg natürlich, daß er den Bruder dieses Minch kannte.

Er hoffte inbrünstig, daß Miss Sydneys Verbindung zu diesem Minch nie ans
Licht kam. Aber seiner Meinung nach hatte Wally eine sehr gute Chance.

Das Geschrei der Buchmacher und Wettenden begleitete sie auf dem

gesamten Rest der Fahrt. Je mehr sie sich Islington näherten, desto größer
wurden das Getöse und die Drängelei, da die Fahrer versuchten, ihre Kutschen
durch die Menge an einen möglichst günstigen Standort zu lenken. Todd, der
Reitknecht, sprang vom Wagen, um den Weg freizumachen, und der Viscount
manövrierte die beiden Braunen geschickt auf einen Platz zwischen einer
Karriole und einem Gig. Dann begrüßte man Freunde; da man wußte, daß der
Viscount ein Boxfan war, wollten viele seine Meinung hören und einen Rat, auf
wen man setzen sollte. Lächelnd erklärte Forrest, daß er auch keinen richtigen
Tip geben könne, da er den Mann noch nie habe boxen sehen. Aber deshalb sei
man ja schließlich gekommen, oder nicht?

Forrest ließ Brennan mit einem Glas Bier zurück und schlenderte lächelnd

durch das Getümmel. Was hatte sich hier nicht alles versammelt, Herren der
Londoner Gesellschaft, der Landadel der Umgebung, Arbeiter, Taschendiebe
und andere Halunken. Ab und zu begrüßte er ein paar Bekannte und schloß
einige Wetten ab, nie größere Beträge, aber stets mit hohem Risiko. Je höher,
desto besser! Hätte er nur bei einem Buchmacher gewettet, wären die Quoten
beträchtlich gesunken, mit weniger Gewinn für ihn ... und Miss Sydney.

Zufrieden bahnte er sich seinen Weg zurück zum Phaeton, von dessen Sitz er

eine ausgezeichnete Aussicht auf den mit Seilen abgezäunten Ring haben
würde. Großzügig warf er im Vorbeigehen einem seltsam ausschauenden
Geistlichen eine Münze zu.

„Wer war denn der komische Kauz, mit dem du da gesprochen hast?“ wollte

Brennan wissen, als der Viscount zurückkehrte.

„Wer? Ach, der? Wohl ein Missionar, der unsere Seelen retten will. Weshalb?“
„Der kommt mir irgendwie bekannt vor.“
„Ich glaube kaum, daß man in den Kreisen, in denen du dich bewegst, auf

Geistliche trifft“, spottete Forrest und reichte ihm den Essenskorb.

Noch bevor die beiden die mitgebrachten Köstlichkeiten auspacken konnten,

ging ein Raunen durch die Menge. Der Favorit erschien. Die Eiche schritt auf
den Ring zu. Die Zuschauer schrien sich heiser, Weinkrüge und Flaschen
machten die Runde.

Huldvoll begrüßte die Eiche die Zuschauer, sein Umhang wehte um seine

massige Gestalt, er winkte in alle vier Himmelsrichtungen. Dann legte er das
Cape ab, gab es seinem Sekundanten und wiederholte die Zeremonie langsam,
damit alle seinen nackten Oberkörper bewundern konnten. Jedesmal, wenn er
seine Muskeln spielen ließ, brüllte die Menge begeistert.

Der Viscount betrachtete das Schauspiel durch sein Fernrohr. „Ich frage

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mich, ob das alles nur Muskeln sind?“

„Was willst du auf ihn setzen? Risiko?“ fragte Brennan.
Forrest lehnte ab. „Wenn der Holländer gewinnt, darfst du die Braunen nach

Hause kutschieren.“

„Und wenn die Eiche verliert?“ fragte Brennan vorsichtshalber.
„Dann gehst du wie Mutters lieber Junge zu Almack’s und tanzt mit allen

Debütantinnen.“

Brennan schaute auf die glänzenden Braunen vor ihm, dann auf den

muskulösen Boxer im Ring. Der konnte nicht verlieren. „Abgemacht!“

Nun betrat der Herausforderer den Ring. Der Pöbel johlte und pfiff. Lord

Mayne richtete sein Glas auf den jungen blonden Riesen und nickte zufrieden.
Wally reichte seinen Umhang dem Sekundanten Willy. Das Publikum geriet in
höchste Aufregung. Walter Minch besaß nicht ein Gramm Fett zuviel, nur feste
Muskeln. Außerdem waren er und sein Zwillingsbruder recht stattliche
englische Burschen. Neue Wetten wurden abgeschlossen.

„Du kannst schon mal Quadrille üben!“ neckte Forrest seinen recht

verdrießlich dreinblickenden Bruder. Dann richtete er sein Fernglas zur Ecke,
wo Willy und der Wasserjunge Handtücher und Kübel bereitstellten und ...

Ein Lächeln huschte über das Gesicht des Viscount, und dann ließ er eine

Reihe der unflätigsten Flüche los, die niemand außerhalb der Marine je gehört
hatte.

„Hast du dich verletzt? Ist was mit den Braunen? Soll ich einen Arzt holen

lassen? Oder willst du deine Wette zurückziehen?“ fragte Brennan ängstlich.

„Halt den Mund, du Hohlkopf, du ziehst ja die Aufmerksamkeit auf uns!“
Aufmerksamkeit? Brennan sah sich um. Alles hörte auf den Ansager, der die

Instruktionen gab. Die Flüche waren jetzt leiser, mehr gemurmelt als
gesprochen. Brennan zog es vor, sich nach ein paar Freunden umzusehen. „Ich
gehe mal näher an den Ring.“

Der Viscount starrte gebannt auf die Ecke. Er beobachtete nur den

Wasserjungen. Ein schmächtiges Kerlchen, in einem weiten Kittel und
ausgebeulten Hosen. Sein Gesicht war verschmiert, als ob ihm jemand die Nase
in den Matsch gesteckt hätte. Die schmutzige Wollmütze hatte er tief ins
Gesicht gezogen. Doch einige vorwitzige Locken lugten hervor. Locken von
einem leuchtenden Kupferrot!

Forrest hätte sie ermorden können. Ich werde ihr den kleinen Hals umdrehen.

Nach dem Kampf! Ich werde Willys Glaskinn bearbeiten! Wally werde ich die
Knochen, die ihm die Eiche unversehrt gelassen hat, auch noch brechen. Wenn
die Klatschbasen nur den kleinsten Hinweis auf Sydneys Anwesenheit bei dem
Boxkampf bekämen, brauchte sie sich nicht mehr um Kleider und Mitgift zu
sorgen. In London würde sie nirgendwo mehr empfangen werden, und kein
Mann käme auf die Idee, um ihre Hand anzuhalten. Eine Frau in Hosen! Er

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durfte gar nicht daran denken, wie man sie nennen würde. Und die kostbare
Schwester würde das gleiche Schicksal erleiden.

Selbst wenn Miss Sydney nicht ahnte, was geschehen würde, wenn die

betrunkene Horde herausfand, daß der Wasserjunge eine Frau war, dann hätten
wenigstens Willy und Wally etwas mehr Verstand haben müssen. Die teilten
sich wohl ein Hirn, diese Beschützer?

Sydney hat die beiden wohl um den Finger gewickelt, schloß Forrest.

Genauso wie sie ihm das Darlehen abgeschwatzt hatte. Verdammt, wie konnte
sie nur so töricht sein, ihr Leben und ihre Zukunft derart aufs Spiel zu setzen?
Und das, obwohl sie ihm ihr Wort gegeben hatte. Nein, sie hatte nur
geschworen, sich von Geldverleihern fernzuhalten. Nicht von Boxkämpfen. Der
Viscount fluchte darüber, daß er der kleinen Närrin nicht auch das Versprechen
abgenommen hatte, sich wie eine Dame zu benehmen. Und dann verfluchte er
sich selbst, daß er überhaupt in diese Lage gekommen war.

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10. KAPITEL

Am meisten erboste sich Forrest darüber, daß sie die Männer mit den nackten
Oberkörpern sah. Den einzigen, den sie jemals zu sehen bekommen sollte, war
der ihres Ehemannes! Doch er hätte sich gar nicht zu ärgern brauchen. Sydney
hielt die meiste Zeit die Augen geschlossen, und wenn sie sie öffnen mußte, um
ihrer Pflicht nachzukommen, bekam sie nichts anderes mit als das Geschrei,
den Gestank von Zigarren und verschüttetem Bier und das entsetzliche
Geräusch einer Faust, die ihr Ziel traf. Und Blut!

„Laß uns gehen“, flüsterte sie Wally nach der ersten Runde zu. Er grinste sie

wohlwollend an und zog ihr die Mütze tiefer ins Gesicht. Die nächste Runde
begann.

Der Kampf wurde nach neuen Regeln ausgetragen. Fünfundzwanzig

zeitbegrenzte Runden mit kurzen Pausen dazwischen und Schiedsrichtern, die
über Sieg oder Niederlage entschieden. Die Neuerungen sahen vor, daß Boxen
nicht mehr nur rohe Gewalt bedeutete, die Kontrahenten sollten vielmehr
Geschicklichkeit, Können und Sachkenntnis beweisen. Das gefiel den meisten
Gentlemen wie auch dem Viscount, der selbst trainierte und saubere Beinarbeit
und kluge Verteidigung genauso schätzte wie einen sorgfältig gezielten Schlag.
Die Massen jedoch, die um den Ring standen, waren gekommen, um Blut zu
sehen. In den Pausen buhten und pfiffen sie, drängten sich an den Seilen, wo
Sydney wie gelähmt verharrte.

In den ersten Runden waren beide Boxer etwa gleich stark. Wally war klüger

und schneller in seinen Reaktionen. Er tänzelte aus der Gefahrenzone, wartete
darauf, daß der Gegner seine Deckung öffnete, und landete so einige schöne
Schläge. Der Holländer besaß den Vorteil der größeren Reichweite und der
niederschmetternden Kraft seiner riesigen Fäuste, die aber meistens ihr Ziel
verfehlten. Doch wenn der Holländer traf, richtete er mehr Schaden an als
Wally, dessen Treffer die Eiche kaum zum Wanken brachten.

In den Pausen sackte Wally in seiner Ecke zusammen, während Willy und

Sydney ihm das Gesicht reinigten und ihn mit kühlem Wasser und guten
Ratschlägen versorgten. Die Eiche hingegen stand in ihrer Ecke und blickte
grollend um sich.

Zur Halbzeit erhielt Wally einen Schlag, der ihn zu Boden schickte. Mit

blutender Nase rappelte er sich tapfer wieder hoch. Als er auf den Beinen stand,
begann die Menge zu applaudieren. Man änderte wieder seine Einsätze, die
Buchmacher registrierten weitere Umsätze. Jene, die gewettet hatten, daß
Wally zehn Runden durchhalten würde, strichen zufrieden ihre Gewinne ein.
Sydney umklammerte den Wassereimer.

Zu Beginn der neunzehnten Runde merkte man beiden Kämpfern schon die

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Erschöpfung an. Wally war deutlich im Gesicht und am Körper gezeichnet, eine
Schwellung über einem Auge schränkte sein Gesichtsfeld ein. Er besaß aber
immer noch Kampfgeist, obwohl Sydney ihn beschwor, wenn er das nächste Mal
zu Boden ginge, nicht mehr aufzustehen. Die Eiche nutzte die Pausen zum
Luftholen. So lange hatte er noch nie gebraucht, um mit seinem Gegner fertig
zu werden. Sein Mangel an Kondition zeigte sich an seinem schweren Atem; es
war ratsam, den Kampf bald zu beenden.

„Was ist los?“ fragte Brennan, als er zurück in den Phaeton wollte, um besser
sehen zu können. Doch fast wäre er von seinem Bruder, der gleichzeitig eilig
hinunterkletterte, umgestoßen worden.

„Der Wasserjunge versucht, den Kampf zu unterbrechen“, versuchte Forrest

das Gebrüll der Menge zu übertönen und bahnte sich schubsend und puffend
seinen Weg zum Ring.

„Oh, je, die werden ihn umbringen“, rief Brennan und folgte seinem Bruder.
„Das werden sie nicht“, knirschte Forrest. „Das ist meine Aufgabe.“

Der Gong beendete schließlich die Runde.

„Genug, Wally! Ich werde den Kampf beenden.“
„Nein, Missy!“ schrie Wally, und Willy brüllte: „Das können Sie nicht, Miss

Sydney!“ Zum Glück ging die Diskussion im Geschrei des Pöbels unter.

„Doch Wally! Du kannst nichts mehr sehen und dich kaum noch auf den

Beinen halten. Er wird dich abschlachten! Gib mir das verdammte Handtuch!“
Willy versuchte, mit dem Tuch das Blut zu stillen. Wally schrie wütend: „Nein!“
und hob abwehrend die Arme. Willy sackte wie ein nasser Sack zu Boden.
Sydney geriet fast in Panik. Was war zu tun? Wally halbblind und vor
Schmerzen kaum bei Verstand und Willy ohnmächtig. Rohe Stimmen schrien
sie an, und rauhe Hände griffen durch die Absperrseile nach ihr. Sydney war
drauf und dran, loszukreischen, als eine barsche Stimme ihr ins Ohr schrie:
„Aufhören! Quälgeist!“

Sie war noch nie so glücklich gewesen, ihn zu sehen. Die Menge auch nicht.

Mayne höchstpersönlich nahm an diesem großen Kampf teil. Der Pöbel jubelte.
Sydney verstand nichts mehr, aber sie überließ Mayne die Verantwortung. Sie
beobachtete, wie er gekonnt Wallys Gesicht säuberte und ihm so aufmunternde
Worte zuflüsterte wie „Ich bringe dich eigenhändig um, wenn du nicht wieder in
den Ring gehst!“ Wally grinste und stand beim Gongschlag auf der Matte. Ohne
den Kampf aus den Augen zu lassen, griff Mayne nach Sydneys Eimer und
schüttete seinen Inhalt über Willy.

Der hob den Kopf, sah, wer über ihm stand, und murmelte: „Ach, Sir, das ist

nicht der Ort für Rache“, und versank in die nächste Ohnmacht.

Mayne packte Sydney beim Kragen, schüttelte sie kräftig und drückte ihr den

leeren Eimer in die Hand. „Geh, mach ihn voll!“ befahl er. Sie rannte los.

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Gerade als Willy wieder zu sich kam, erreichte Brennan die Ecke. Er half dem

Zwilling auf die Beine. „Uff! Forrest, darf man eine dumme Frage stellen?“

„Das tust du immer“, antwortete sein Bruder, ohne den Blick vom Ring zu

wenden. Wally bewegte sich mal hier- und mal dorthin, und auch wenn er
keinen Treffer landen konnte, ermüdete er seinen Gegner.

„Was tun wir eigentlich hier?“
„Dachte, das ist klar. Wir beobachten einen Kampf.“
„Kennst du denn diese Leute?“ fragte Brennan ungläubig.
„Das habe ich nur dir zu verdanken, Bruderherz. Jetzt kannst du mir die

Gefälligkeit zurückzahlen. Nimm meine Braunen und schaff den Wasserjungen
fort. Und schick mir Todd.“

Jetzt war Brennan wirklich überzeugt, daß Forrest nicht ganz klar im Kopf war.

„Die Braunen? Diesen Straßenjungen?“

Willy war auf der Hut. Dieser Kerl hatte sich schon einmal seiner Herrin

genähert. „Sie dürfen sie nicht wegschaffen. Ich lasse Miss ...“ Dank Sydneys
Hinweis wußte Lord Mayne, wo er den Diener treffen mußte, um seinen Protest
zu beenden. Die Masse spendete Beifall. Sie konnten zwei Kämpfe gleichzeitig
verfolgen! Brennan stand mit offenem Mund da.

Als Sydney mit dem vollen Wassereimer zurückkam, fühlte sie, wie sie

jemandem an die Brust gedrückt wurde. „Brennan, mein einfältiger Bruder; und
das ist ... Sydney“, stellte Mayne die beiden einander mit einem spöttischen
Grinsen vor.

Auch wenn seine Rippen noch bandagiert waren, hatte Brennan gespürt, daß

der Wasserjunge sich eigenartig anfühlte. „Aber er ist“, begann Brennan.
Forrest packte ihn an der Schulter. „Richtig! Eine Dame. Bring sie um Gottes
willen von hier weg, bevor es noch jemand merkt.“

Eine Dame? Mußte er dieser Vogelscheuche in die Kutsche helfen? Brennan
stand unentschlossen vor dem Phaeton.

„Sie Tolpatsch, Sie werden die Sache noch vermasseln!“ zischte Sydney ihn

an. „Sie helfen doch keinem Jungen beim Einsteigen!“ Als sie oben stand und
bemerkte, welche Aussicht sie von dort hatte, erklärte Sydney, daß sie bleiben
wolle. Brennan befahl Todd, dem Viscount zu helfen, nahm die Zügel auf und
murmelte etwas von verrückten Frauen. Er würde unbedingt den Anweisungen
seines Bruders folgen. Sydney stieß Brennan in die Rippen.

„Aua!“ Brennan mußte sich konzentrieren, die Braunen und den Wagen

rückwärts aus der engen Lücke zu manövrieren. Gleichzeitig mußte er den
erstaunten Zuschauern ein paar Erklärungen geben: „Der Junge ist ausgerissen.
Ein Verwandter von Maynes Pächter. Die Mutter ist verzweifelt. Sie wissen ja,
mein Bruder sorgt immer für seine Leute!“

Sydney wartete, bis Brennan das schwierige Manöver beendet hatte und sie

die fast menschenleere Straße erreichten. Dann fiel sie über ihn her: „Wie

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können Sie es wagen, mich gegen meinen Willen fortzubringen? Ich sollte
meinen Freunden helfen. Wie kommen Sie überhaupt dazu, diesen Leuten zu
erzählen, ich sei ein weggelaufener Schuljunge?“

Brennan schenkte seine ganze Aufmerksamkeit den Pferden. „Das war das

erste, was mir einfiel. Sollte ich etwa sagen, daß Forrest für eine verrückte
junge Dame die Kohlen aus dem Feuer holt? Außerdem, ich konnte nicht
erkennen, daß Sie Ihren Freunden eine große Hilfe waren. Es ist besser, wenn
Forrest die Dinge regelt. Das macht er immer.“

Sydney schwieg und biß sich auf die Unterlippe. „Sie werden doch nicht

weinen?“ fragte er und blickte sie kurz von der Seite an. „Natürlich nicht, Sie
Dummkopf.“ Sie setzte sich aufrecht. „Sie sind genauso unfreundlich wie Ihr
Bruder.“

„So? Es geht mich ja eigentlich nichts an, aber ich bin doch neugierig; wie

gut kennen Sie denn meinen Bruder?“

Er weiß nichts von dem Darlehen, überlegte Sydney. Von mir wird er nichts

erfahren. „Er hat mir geholfen“, erwiderte sie kurz angebunden.

Brennan nickte beruhigt. „Klar! Ich sagte ja, er ist ein guter Kerl.“ Sie

schnaubte wenig damenhaft. Aber er fuhr fort: „Sonst machte es auch keinen
Sinn. Sie sind nicht sein Typ. Von Debütantinnen hält Forrest sich fern. Sie sind
auch keine teure, extravagante Person.“ Er sah sie abschätzend von oben bis
unten an.

Der wäre überrascht, wenn er von dem unanständigen Angebot wüßte, das

sein Bruder mir gemacht hat, dachte Sydney empört. Tausend Pfund für die
Gunst einer Dame war keine belanglose Summe, meinte sie in ihrer Unschuld.
Der Wüstling bewertet meine Reize zumindest höher als dieser armselige
Spieler. Sydney hob ihre Nase und sagte entschieden: „Damit Sie es wissen, Mr.
Mayne, ich habe kein Interesse daran, so eine Person für Ihren Bruder zu sein.“

„Oh, ich bin nicht Mayne! Das ist Forrests Titel, nicht sein Name. Ich dachte,

das wüßten Sie. Ich heiße Mainwaring.“

„Dann hat er nicht gelogen, er ist wirklich ein Viscount. Schade!“
Brennan war verwirrt. „Ich dachte immer, es wäre erstrebenswert ein

Viscount zu sein.“

Sydney schwieg und stellte ihre eigenen Überlegungen an. Traurig, daß eine

noble Familie so weit heruntergekommen war. Ein Sohn ein Tunichtgut, und der
Erbe bezog seinen Unterhalt aus einem wenig ehrenhaften Geschäft. Dennoch,
er mußte recht erfolgreich sein, nach den Pferden und der schmucken Kutsche
zu urteilen.

„Hunger?“ unterbrach ihr Begleiter Sydneys Gedankengänge.
„Ausgehungert! Vor Aufregung habe ich nicht gefrühstückt, und das

Mittagessen fiel notgedrungen aus.“

Brennan zeigte auf den Korb zu ihren Füßen, ohne dabei die Pferde aus den

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Augen zu lassen. Sydney inspizierte eifrig den Inhalt des Korbes und fand ein
Stück kaltes Huhn. „Danke“, sagte sie und erntete ein kurzes Lächeln. Ein
hübsches Lächeln, überlegte sie. Während sie kaute, taxierte sie Brennan von
der Seite, und ihr fiel auf, wie ähnlich sich die beiden Brüder waren. So stattlich
wie Mr., nein, Lord Mayne ist Brennan nicht. Wenn er etwas mehr Wert auf sein
Äußeres legen würde, könnte er ganz ansprechend aussehen, überlegte sie
weiter. Jetzt fiel ihr auch ein, daß der Viscount piekfein aufgedonnert war, wie
Willy sich ausdrücken würde. Brennan konnte sicher nicht den Dandy
herauskehren, denn er brauchte ja sein Geld, um seine Spielschulden zu
bezahlen. Schade, daß ein so netter Junge eine solch verhängnisvolle Schwäche
haben mußte. Aber vielleicht spielte er ja auch nur, um das Geld der Familie
wieder hereinzubekommen, was sie schließlich auch nur versuchte. Sydney
lächelte verständnisvoll und wischte sich die Hände an ihren schmutzigen
Hosen ab.

Er grinste sie an. „So eine junge Dame wie Sie habe ich noch nie

kennengelernt.“

„Gewiß, wenn man sich nur in Spielhöllen herumtreibt.“
Brennan lachte lauthals: „Sie kennen meinen Bruder doch besser, als ich

dachte.“

Da er so guter Laune war, fragte Sydney, ob sie einmal kutschieren dürfe.

Brennan fielen fast die Zügel aus der Hand, und er brauchte einen Augenblick,
um die Braunen wieder unter Kontrolle zu bringen. „Dann kennen Sie ihn doch
nicht. Er würde mich umbringen.“

Sydney nickte nachdenklich. „Ja, ich habe schon bemerkt, daß er einen sehr

aufbrausenden Charakter hat. Verständlich, daß Sie Angst vor ihm haben.“

„Angst? Vor meinem Bruder? Sie sind wirklich ein Einfaltspinsel. Dies sind

seine Pferde. Können Sie überhaupt kutschieren?“

„Nein“, gestand Sydney offenherzig, „aber ich wollte es immer schon mal

versuchen.“

„Mit den kostbaren Braunen meines Bruders?“ stöhnte Brennan. „Es ist wohl

besser, Sie bitten Forrest selbst, es Ihnen beizubringen. Doch falls Sie sich
Hoffnung machen sollten, er hat noch nie einer Frau die Zügel überlassen.“ Er
dachte an Forrests eigenartiges Benehmen. Konnte man sich da noch so sicher
sein?

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11. KAPITEL

„Lassen Sie mich hier aussteigen. Ich möchte nicht mit Ihnen gesehen werden.“

„Ihre Gesellschaft ist für meinen Ruf auch nicht gerade förderlich“, konterte

Brennan. „Aber ich habe meine Befehle.“

„Und die Befehle Ihres Bruders befolgen Sie auch immer“, fragte sie

hohnlächelnd.

„Ja, wenn ich seine Pferde lenke.“
Das leidliche Einvernehmen, das die beiden zwischenzeitlich zueinander

gefunden hatten, schwand wieder, als sie den Stadtrand erreichten. Ich werde
genau das tun, was Forrest mir befohlen hat, nämlich die Kleine nach Hause
bringen, beschloß Brennan.

„Glauben Sie nicht, daß unsere Nachbarn neugierig sind, wer aus dieser

Kutsche steigt? Lassen Sie mich wenigstens an der Ecke raus, dann benutze ich
den Hintereingang.“

Brennan blieb hart. Unbeirrt fuhr er weiter, auf Seitenstraßen erreichte er das

Mainwaring House. Kurz vor den Stallungen hielt er an, befahl ihr, auszusteigen
und auf ihn zu warten. Er sah sie mißtrauisch an. „Bewegen Sie sich nicht von
der Stelle! Sie können sich gar nicht vorstellen, wie wütend Forrest sein wird,
wenn er Sie bei seiner Rücckehr nicht hier antrifft. Erinnern Sie sich? Er hat
gesagt, daß er kommt!“

Sydney erinnerte sich und wartete. Eigentlich nur, weil ich alleine den Weg

nicht finden würde, beruhigte sie sich selbst.

Brennan kutschierte den Phaeton zu den Stallungen und übergab die

Braunen dem erstaunten Reitknecht, dann hastete er zurück zu Sydney.
„Kommen Sie!“ Ohne weiteren Kommentar verfrachtete er sie in eine
Mietkutsche, und sie fuhren schweigend bis zu einer Straßenecke in der Nähe
ihres Hauses. Das ungleiche Paar erreichte schließlich unbemerkt die Hintertür.

„Vermutlich sollte ich Ihnen jetzt danken“, sagte sie und bat ihn widerwillig

zu einer Erfrischung herein. Die Fahrt scheint ihn erschöpft zu haben,
entschuldigte sie ihre Nachsicht.

Brennan nahm die Einladung nur an, um die Szene zwischen seinem Bruder

und dieser kleinen Tigerkatze nicht zu verpassen. Als Sydney in der Küche den
Wasserkessel aufsetzte und Brennan seine Lieblingsmakronen anbot, wurde er
friedfertiger. „Vielleicht wollen Sie ein Kleid anziehen, bevor mein Bruder
kommt. Sie besitzen doch eines?“

„Oh, Gott, ja! Hier!“ rief sie und warf ihm einen Topflappen zu, als ob er

wisse, was er damit anfangen solle.

„Haben Sie denn keine Hausangestellten?“ fragte er, ehe sie davoneilen

konnte.

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„Ja, aber unsere Haushälterin ist die Mutter von Willy und Wally. Sie wartet in

einem Gasthaus in der Nähe von Islington. Die arme Mrs. Minch wird sich
ängstigen. Ich hätte zu ihr gehen sollen.“

„Bei ihr bleiben, meinen Sie wohl!“
„Und der arme Wally!“ fuhr sie fort, ohne auf seinen Einwand einzugehen.

„Wie konnte ich ihn nur verlassen.“

„Dem geht es gut“, beruhigte Brennan sie. „Forrest läßt ihn bestimmt nicht

weiterkämpfen, wenn er nicht mehr kann ... Ich frage mich, wann sie wohl
zurückkommen?“

Sydney verschwand mit einem eiligen: „Sie rühren sich nicht vom Fleck!“

Doch als Sydney in ihrem gelben Musselinkleid, das ihr Vertrauen geben sollte,
wieder die Treppe herunterkam, hörte sie Stimmen im Vorderzimmer. „Oh,
nein!“ murmelte sie. „Was ist denn jetzt schon wieder schiefgelaufen?“

Eigentlich reichte es für heute. Aber sie nahm sich zusammen und ging ins

Besucherzimmer. Sie wußte, was sie erwartete. Richtig, Mr. Mainwaring
unterhielt sich angeregt mit dem General, dem er beteuerte, welche Ehre es für
ihn sei, einem so berühmten Mann zu begegnen, und daß er hoffe, eines Tages
selbst in die Armee eintreten zu können. Es schien Brennan nicht zu stören, daß
Großvater nicht antwortete, und Großvater schien seinerseits nicht zu
bemerken, daß der junge Gentleman Winifred anhimmelte. Und was machte
Winnie, die in ihrem weißen Baumwollkleid und mit den goldenen Locken, die
ihr anmutig über die Schulter fielen, aussah wie ein Engel mit rosigen Wangen?
Das Dummchen saß schweigend da und starrte den stattlichen Halunken
verwundert an.

Sydney hätte sich fast nach Amor mit Pfeil und Bogen umgeschaut. Liebe

macht nicht nur blind, sondern auch dumm. Das fehlt mir noch, meine schöne
Schwester verliebt sich unsterblich in einen unbegabten Spieler, dessen Bruder
ein Frauenheld ist, der noch nicht einmal fähig ist, sein eigenes Geschäft zu
betreiben. Sie sah ihre Schwester schon als Frau eines Soldaten, der seinen
Hungerlohn verspielte. Sydney war von dieser Vorstellung so entsetzt, daß sie
die Tasse Tee verschüttete, die Winnie ihr reichte. Auf Mr. Mainwarings
Beinkleider! „Oh, das tut mir aber leid, daß Sie uns jetzt verlassen müssen!“

„Da bist du ja! Oh, Wally, ich bin so froh! Wie geht es dir? Soll ich nach dem
Arzt schicken? Gott sei Dank, Willy ist auch da. Nicht weinen, Mrs. Minch! Willy
und Wally geht es gut, und mir auch.“

Sie waren alle in der Küche versammelt, und Sydney mußte jeden einzelnen

umarmen, um sich zu vergewissern, daß sie nicht träumte. Mrs. Minch weinte
leise in ihre Schürze. Willy hielt sich ein feuchtes Tuch vors Kinn, und Wally
tänzelte wie ein Boxer durch die Küche.

„Sie hätten ihn sehen sollen, Missy. Dieser Riesendummkopf konnte nicht

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einmal mehr zur Deckung die Hände hochkriegen. Er stand nur da und
schnappte nach Luft. Keinen Treffer hat er mehr gelandet, nachdem Sie
gegangen waren.“

„Das ist die beste Nachricht, die ich je gehört habe!“ Sydney tanzte eine

Runde mit ihm durch die Küche und nahm ihm das Versprechen ab, sich
auszuruhen. „Und du auch, Willy. Griff soll dir helfen und eventuell einen Arzt
holen. Alles andere hat Zeit bis morgen.“

Vor dem Hinausgehen klopfte sie Wally noch einmal auf die Schulter,

umarmte Willy, drückte Mrs. Minch ... und lief dem Viscount in die
ausgebreiteten Arme. Sie fuhr zurück, als ob sie versehentlich eine Krake
angefaßt hätte. „Mylord!“

„Miss Sydney!“ Er grinste. „Dürfte ich wohl einen Moment Ihrer kostbaren

Zeit in Anspruch nehmen?“

„Sicher, Sir. Ich danke Ihnen, daß Sie meine Leute nach Hause gebracht

haben.“

Er ging nicht weiter darauf ein. „Irgendwo anders?“
„Es tut mir leid, Mylord, mein Großvater schläft, und meine Schwester ist

nicht im Haus.“ So, das wird er wohl verstanden haben, dachte sie. Er lächelte,
aber ...

„Es wäre mir eine Ehre, Ihre Familie kennenzulernen ... zu einem späteren

Zeitpunkt. Im Augenblick genügt mir Ihre Gesellschaft.“

„Aber, Sir, ich habe keine weitere Anstandsdame, und es schickt sich nicht,

wenn ich ...“

„Gewäsch, meine Liebe! Erzählen Sie mir nichts von Schicklichkeit nach

diesem Tag! Kommen Sie!“ Er sah sie mit hochgezogenen Brauen streng an. Sie
ging voraus. Von diesem Wilden brauche ich keine weiteren Belehrungen. Der
ruiniert mir noch meine sorgfältig überlegten Pläne, überlegte sie auf dem Weg
ins Empfangszimmer. Außerdem, Angriff war die beste Verteidigung! Sie
stemmte die Hände auf die Hüften und drehte sich um. „Mylord, ich möchte
Ihnen noch einmal danken. Doch dann wäre ich glücklich, wenn Sie für immer
verschwinden würden. Mein Großvater ist krank, und er wäre äußerst
bekümmert, müßte er erfahren, daß sich eine Person wie Sie in seinem Haus
aufhält oder gar so ein Tunichtgut meiner Schwester schöne Augen macht. Sie
sollten sich besser nicht bei anständigen Leuten anbiedern.“

Der Viscount hatte sich den ganzen Nachmittag vorgenommen, daß er

freundlich, aber streng, doch nicht arrogant und herrisch zu ihr sein wollte. Sie
ist noch ein junges Mädchen, hatte er sich beruhigt, sie weiß es nicht besser.
Ich werde ihr ganz ruhig erklären, daß ihr Verhalten nicht richtig ist. Danach
will ich nichts mehr mit der Sache zu tun haben. Wie kam es nur, daß er seine
guten Vorsätze immer vergaß, sobald er mit ihr zusammentraf? Sie sah wirklich
reizend aus in dem modischen gelben Kleid! Er holte tief Luft.

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„Miss Sydney, ich bin kein Emporkömmling, und ich flirte auch nicht mit Ihrer

Schwester. Ich kenne die junge Dame überhaupt nicht.“

„Doch nicht Sie! Ihr Bruder, der Tunichtgut, war hier und hat seine Köder

nach Winnie ausgeworfen. Das kommt gar nicht in Frage! Wenn man sie nur mit
ihm sähe, wären ihre Chancen dahin!“

„Mein Bruder könnte Ihre Schwester ruinieren, Miss, aber Sie selbst erlauben

sich, in Hosen herumzulaufen! Meine Gegenwart in diesem Haus könnte Ihren
Großvater bekümmern, nicht aber Ihre Anwesenheit bei einem Boxkampf!
Wissen Sie überhaupt, was Ihnen heute da draußen hätte passieren können?
Einige dieser Männer waren sturzbetrunken, ohne Moral und Anstand. Was
meinen Sie, wie bekümmert Ihr Großvater gewesen wäre, wenn man Sie entehrt
nach Hause gebracht hätte? Sagen Sie mir, Miss Quälgeist, was hätte Ihre
kostbare Schwester denn dann getan, wenn sie sich zu gut ist für einen
zweitgeborenen Sohn?“

Freundlich, aber streng! Sydney war kreidebleich geworden und zitterte.

Forrest kam sich vor wie der größte Schuft auf Erden. Er drückte sie in einen
Sessel. Auf einem Beistelltisch sah er eine Karaffe stehen, er roch daran und
schüttete etwas davon in ein Glas. „Hier, trinken Sie das! Mein scharfer Ton tut
mir leid. Aber ich neige dazu, denen gegenüber, für die ich mich verantwortlich
fühle, die Beschützerrolle zu spielen. Ich war einfach besorgt.“

Sydney hatte sich wieder erhoben. Mit dünner, kaum hörbarer Stimme sagte

sie: „Ja, ich verstehe. Ich werde das Geld sofort holen.“

„Geld? Was für Geld?“
„Das Geld, das ich Ihnen schulde. Tausend Pfund! Ich werde es sofort von

Wally holen. Wenn ich Ihnen nichts mehr schulde, brauchen Sie sich auch nicht
für mich verantwortlich zu fühlen. Ich war so aufgeregt, daß sie alle wieder zu
Hause sind, daß ich den Gewinn ganz vergessen habe.“

Der Viscount füllte ihr das Glas noch einmal mit Brandy, randvoll dieses Mal.

Sie würde es brauchen! „Der Kampf wurde nach fünf Extrarunden
unentschieden abgebrochen. Kein Sieger, kein Gewinn!“

Sydney starrte ihn ungläubig an, nahm das Glas und kippte den Inhalt in

einem Zug hinunter. Sie wechselte die Farbe, hustete und rang nach Luft. Der
Viscount klopfte ihr auf den Rücken und befahl, tief durchzuatmen.

„Wollen Sie mich umbringen?“ keuchte sie. „Dann bekommen Sie Ihr Geld

nie zurück.“

„Zum Teufel mit dem Geld, Miss Quälgeist! Vielleicht hat es sich sogar

gelohnt.“ Lächelnd strich er ihr ganz sanft mit dem Handrücken über die
Wange. „Es tut mir leid.“

„Stimmt es? Wir haben nichts gewonnen?“
„Nur wenn Sie so klug waren, darauf zu setzen, wie lange Wally durchhalten

würde.“

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„Natürlich nicht“, antwortete sie ungehalten. „Oh, Gott“, seufzte sie,

„wenigstens haben wir nichts verloren. Ich kann Ihnen aber jetzt nur einen Teil
des Geldes zurückzahlen.“

„Vergessen Sie es! Ich weiß, es fällt Ihnen schwer, doch versuchen Sie mir

einmal zu glauben. Ich bin Viscount und kein Geldverleiher.“

Sie sah ihn unschlüssig an, doch dann lächelte sie leicht verschmitzt und

produzierte dabei wieder diese Grübchen, die ihn schon in seinen Träumen
verfolgten. „Und ich bin eine Dame, aber Sie glauben, daß ich ein
unverbesserlicher Wildfang bin. Wir scheinen beide nicht das zu sein, für das
wir uns halten.“

Himmel, sie glaubt mir immer noch nicht! Wie sollte man diese Frau

überzeugen? „Egal, was Sie glauben, ich brauche das Geld nicht.“

Sie lächelte immer noch. „Doch! Dann sind Sie mich und meine Probleme los.

Und ich kann sicher sein, daß Sie und Ihr Bruder uns nie wieder über den Weg
laufen werden.“ Wenn meine törichte Schwester diesen Brennan nur halb so
attraktiv findet wie ich den Viscount, überlegte Sydney, bekommt Winifred
große Schwierigkeiten. Diese Mainwarings sind beunruhigende Gesellen.

Forrest wurde wieder wütend. „Zum Teufel, behalten Sie es und lassen Sie

meinen Bruder aus dem Spiel.“

„Gewiß, wenn Sie versprechen, daß er sich von Winnie fernhält.“
„Ich werde ihn vor diesem Irrenhaus warnen, aber ich kann meinem Bruder

nicht seinen gesellschaftlichen Umgang vorschreiben. Und lassen Sie mich
Ihnen gleich noch ein paar andere Wahrheiten sagen. Von nun an kümmere ich
mich nicht mehr um Ihren guten Ruf. Warum sollte ich? Mir tut nur der arme
Mann leid, der Sie einmal heiratet. Er wird Sie regelmäßig züchtigen müssen,
wenn er nicht im Irrenhaus landen will. Zum allerletzten Mal, ich will das
verdammte Geld nicht!“

Sydney füllte das Glas wieder und reichte es ihm. „Sie sollten sich nicht so

aufregen“, besänftigte sie ihn. „Aufregung war auch der Anlaß für Großvaters
Schlaganfall. Keine Angst, am Ende der Saison werde ich Ihnen das Geld
zurückzahlen können.“

Forrest nahm einen großen Schluck. Ich sollte wirklich gehen, überlegte er.

Doch er konnte es nicht lassen und fragte: „Und wie wollen Sie wieder zu Geld
kommen? Planen Sie einen weiteren Boxkampf? Ehrlich, Miss Quälgeist, ich
glaube nicht, daß Sie die Nerven dazu haben. Zum Glück!“

„Nein, Wally soll ihn nicht noch einmal herausfordern. Das Ganze war ja auch

die Idee der Zwillinge; sie wollen nämlich ein Gasthaus aufmachen, wenn sie
das Geld für die Anzahlung zusammen haben. Eigentlich sind sie ja gar keine
Diener.“

„Wirklich? Ich dachte schon, Sie umarmen immer Ihre Dienerschaft.“
So naiv war Sydney nun auch wieder nicht, sie verstand den sarkastischen

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Ton sehr wohl. Sie kicherte bei dem Gedanken, daß dieser Wüstling eifersüchtig
auf die Jungen war. Oder hatte sie zuviel Brandy getrunken? „Mrs. Minch war
die Kinderfrau meiner Mutter“, erklärte Sydney. „Nach Mr. Minchs Tod kam sie
als Haushälterin zu uns; die Zwillinge kenne ich seit langem. Jetzt müssen wir
uns etwas anderes einfallen lassen. Aber keine Sorge, ich habe schon einen
Plan.“

Der Viscount brauchte einen weiteren Brandy.

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12. KAPITEL

Winnie war eine Schönheit. So konnte man es unter der Rubrik: „Worüber man
spricht“ in den Journalen lesen. Dort stand, sie sei liebreizend, aus guter
Familie, mit entsprechenden Verbindungen. Sie war der Liebling des ton. Ihre
spärliche Mitgift spielte keine Rolle, sie hatte den berühmtesten Diener von
ganz London.

Als nach einigen Tagen Willy und Wally wieder so weit hergestellt waren, daß

sie die Lattimore-Schwestern bei ihren Besuchen begleiten konnten, blieb es
nicht aus, daß man die beiden großen blonden Brüder erkannte. Auch Tante
Harriet trug ihr möglichstes dazu bei, indem sie ihren Busenfreundinnen von
dem Preisboxer erzählte, und innerhalb von Stunden wußte ganz London, wen
die Lattimores als Lakaien beschäftigten. Aber entgegen Lady Windhams
Absicht entwickelte sich die Angelegenheit nicht zu Winnies Nachteil; im
Gegenteil, die Damen der vornehmen Gesellschaft fanden die Sache zwar etwas
ungewöhnlich, aber keineswegs unanständig. Über Nacht war Winnie die
Sensation, insbesondere wenn sie errötend beteuerte, rein gar nichts von dem
Kampf gewußt zu haben.

„Oh, nein“, erklärte sie ihren Verehrern, und auf ihren Wimpern lag ein

Hauch von Feuchtigkeit. „Ich ... ich hätte es nicht ertragen können, wenn
jemand verletzt worden wäre. Sie haben es mir erst am nächsten Tag erzählt.“
Solche zarten Gefühle mußten bei den Damen der feinen Gesellschaft Interesse
wecken. Man versprach Karten für Almack’s. Winnies Erfolg war gesichert.

In den letzten Tagen war das Haus ständig voller Gäste. Sportliche junge

Männer kamen unter dem Vorwand, Winnie zu besuchen, nur um ein paar
Minuten mit Willy oder Wally zu sprechen, wenn die Diener ihnen die Tür
öffneten. Diese Herren kümmerte es nicht, wer sie begrüßte, sie wollten nur
wissen, notfalls gegen eine Münze, wann der nächste Kampf angesagt war oder
sonstige kleine Boxgeheimnisse erfahren.

Die Rosenkavaliere erschienen, weil sie überall dort auftauchten, wo es

gerade Mode war. Sie kamen wieder, weil sie erkannt hatten, daß Miss
Lattimore ein Juwel war und die Gunst dieser strahlenden Schönheit ihren
eigenen guten Geschmack bewies. Sie schrieben Oden auf Winifreds Wimpern,
füllten die Zimmer mit Blumenbouquets und gaben den Dienern ein Trinkgeld,
um vorgelassen zu werden.

Die Herren vom Militär erschienen, um den Enkelinnen des Generals Respekt

zu erweisen und, mit Hilfe einer Münze, den Verlauf des Kampfes noch einmal
zu hören.

Die Minch-Brüder bekamen ihre Anzahlung für das Gasthaus schneller als

gedacht zusammen!

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Aber auch die Schmarotzer ließen nicht lange auf sich warten. Mütter mit

ihren Töchtern im heiratsfähigen Alter erschienen zum Tee bei den Lattimores.
Die schlimmste von allen, so fand Sydney, war die Dowager Countess of
Windham. Trixie mußte sich jeden Nachmittag im Empfangszimmer der
Lattimores einfinden, für den Fall, daß Lord Mayne auftauchen sollte. Man hatte
von der außergewöhnlichen Verbindung mit den Dienern in Islington gehört
und wartete darauf, daß der Viscount den Umgang hier in London fortsetzte.
Wie sie das denn wissen solle, fragte Winnie Tante Harriet verwirrt, als diese
versuchte, Näheres zu erfahren. Sie habe den Mann noch nie gesehen, und, so
fügte Sydney hinzu, er sei sicher einer dieser Exzentriker, denen man besser
aus dem Weg ging. Sie glaubte fest an ihre eigenen Worte.

Der Viscount machte keinen weiteren Besuch und auch nicht sein Bruder.
„Das kann ich nicht verstehen“, äußerte Winifred bekümmert. „Er hat gesagt,

daß er am nächsten Tag kommen würde.“

Sydney verstand es gut. Griffith, der in den ersten Tagen nach dem Kampf

die Aufgaben der Zwillinge übernommen hatte, war angewiesen, Lord
Mainwaring nicht ins Haus zu lassen. In der Zwischenzeit hatte Sydney ihre
Schwester gegen den gutaussehenden Störenfried eingenommen. „Sicher hat
er von deiner winzigen Mitgift erfahren. So ein Mann kann sich keine arme Frau
leisten. Also wird er seine Zeit nicht mit dir vergeuden.“

„Glaubst du wirklich, er ist ein Mitgiftjäger?“ Winnie tupfte sich mit einem

winzigen Spitzentuch über die Augen, ganz die bekümmerte Unschuld. „Ich
wußte, daß er der Zweitgeborene ist, aber ...“

„Ich weiß aus berufener Quelle, daß er einen unsteten Charakter hat.“

Natürlich verriet sie Winnie nicht, wer das gesagt hatte. „Ich weiß, daß er
Umgang mit Menschen niedriger Moral pflegt. Und ... er spielt!“ Sie betonte es,
als sei er aussätzig! „Stell dir nur mal vor, was für ein Leben seine unglückliche
Frau führen wird ... von der Hand in den Mund, nachdem er all ihr Geld
durchgebracht hat.“

„Oh, die Ärmste!“ weinte Winnie.
Bei seinem Besuch wurde Brennan Mainwaring von Willy, der für Lord Mayne

oder seinen jüngeren Bruder durchs Feuer gegangen wäre, freudig empfangen.
Doch Winnie beachtete Brennan nicht, sondern schenkte ihre Aufmerksamkeit
einem Aufschneider in gelben Pantalons, der ein Gedicht auf ihren Rosenmund
vorlas. Brennan ging und kam nicht mehr wieder.

Zu Sydneys Entsetzen gab es noch einen anderen Kummer, der Furchen auf

Winnies Stirn entstehen ließ. „Laß das! Davon bekommst du Falten!“

„Lord Scoville meint, man schenke uns zuviel Aufmerksamkeit. Es geziemt

sich nicht, sagt er.“

„Ach, der ist nur neidisch. Bald hat man ein anderes Thema gefunden. Eine

Debütantin läuft mit einem jungen Offizier davon, oder irgend jemand verliert

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sein Vermögen am Spieltisch. Solange unsere Namen nicht in so etwas
verwickelt werden, wird Scoville es schnell wieder vergessen“, entgegnete
Sydney voller Ironie.

„Er meint, wir sollten den Zwillingen kündigen.“
„Wie bitte? Dieser aufgeblasene Langweiler! Wie kann er es wagen? Weiß er

nicht, daß wir die Minchs als Teil unserer Familie betrachten?“

„Oh, doch. Aber das schätzt er auch nicht. Man sollte mit den Dienstboten

nicht zu familiär sein, meint er.“

Sydney hoffte, daß der Schwätzer eines Tages Bekanntschaft mit Willys

Fäusten machen würde.

Auch eine Bekannte von Freunden aus Little Dedham tauchte bei den

Lattimores auf. Sie komme vorbei, so erklärte sie Sydney, weil die Frau von
Vikar Asquith angefragt habe, ob sie, Bella Ott, lieben Freunden in London zur
Hand gehen könnte. Da war sie nun, die liebe Bella Ott, und brachte einen
Napfkuchen mit, ganz so wie man es auf dem Land gewohnt war.
Normalerweise wäre Sydney mißtrauisch gewesen, gegenüber jedermann, der
auf diese Art versucht hätte, mit ihr Verbindung aufzunehmen. Aber Mrs. Ott
schien nur ihre Freundschaft zu suchen. Und so hieß Sydney die kleine
trauernde Witwe willkommen, obwohl sie sich nicht daran erinnern konnte, daß
Mrs. Asquith je Verwandte in London erwähnt hatte und Mrs. Ott in einem
ungewohnten, breiten Dialekt sprach. Sie hatte eine umständliche Art, aber so
war man eben auf dem Land. Nach den steifen, vornehmen Londoner Damen
kam die Abwechslung nicht ungelegen. Außerdem, die Napfkuchen waren
köstlich!

„Ach, eine Liebhaberei! Nehmen sie noch ein Stück, meine Liebste. Nennen

Sie mich ruhig Bella. Wir werden bestimmt Freundinnen.“

„Lesen Sie gerne, Mrs. Ott?“ wollte Sydney wissen. „Meine Schwester ist

nämlich daran nicht so interessiert, und ich möchte öfter die Leihbücherei
besuchen. Ich hoffe, ich bin nicht zu aufdringlich, wenn Sie ...“

„Aber keinesfalls, meine Liebste. Auf die alte Bella Bu ... Ott können Sie

immer zählen. Ich lese auch gerne. Lesen ist meine Lieblingsbeschäftigung,
nach dem Kochen natürlich. Oh, Gott, ich weiß gar nicht, wann ich das letzte
Mal ein gutes Buch gelesen habe. Sollen wir gleich gehen? Meine Kutsche
wartet draußen.“

„Nein, nein, ich möchte Ihre Zeit nicht über Gebühr in Anspruch nehmen“,

wehrte Sydney ab. Doch sie war froh, als Mrs. Ott ihr widersprach. So konnte sie
Tante Harriet beruhigen, die ihr ständig in den Ohren lag, eine Anstandsdame
einzustellen. Diese respektable, ältere Witwe würde auch die strengsten
Vorstellungen von Anstand befriedigen. Sogar der extravagante Lord Mayne
müßte zufrieden sein.

Die Diener waren allerdings nicht das, was Sydney für einen vornehmen

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Haushalt gewählt hätte. „Ignorieren Sie die“, riet Bella, als sie merkte, daß
Sydney zögerte einzusteigen. „Ich versuche es auch. Mein Mann hat sie mir
überantwortet. Sie heißen Chessman und Rand.“

Chessman hielt Sydney die Kutschentür auf. Er war dünn wie eine

Bohnenstange, sein Gesicht war wachsbleich, er trug eine gepuderte Perücke
und eine breite Schärpe um den Bauch.

Dem Kutscher hingen die Zähne bis auf die Unterlippe. Ansonsten war er so

vermummt, daß Sydney nicht einmal seine Haarfarbe erkennen konnte. Der
Mann war so klein, daß sie sich fragte, ob er überhaupt mit den Pferden
zurechtkam. Ach, dachte sie, wir fahren sowieso nur ein paar Straßenzüge.

Das eigentliche Ziel der Fahrt sollte Bellas Haus in Chelsea sein. Da Sydney

von der Londoner Gesellschaft nicht, wie gehofft, geschnitten worden war – die
beiden Gauner wußten nicht einmal, welche Rolle das Mädchen bei dem
Boxkampf gespielt hatte –, und da Lord Scovilles Interesse an der Schwester
sich abzukühlen schien, hatte Bella die kluge Idee, Sydney zu entführen. Jeder
wußte, daß Mayne den Dienern bei dem Boxkampf beigestanden hatte; gewiß
würde er auch das Lösegeld für das Mädchen zahlen.

Auf dem kurzen Weg zur Leihbücherei schrammte der Kutscher an einer

stehenden Chaise entlang, prallte auf einen kleinen Lieferwagen und blieb
schließlich mit einem Rad an einem Laternenpfahl hängen. Sydney schlug vor,
auszusteigen und den Weg zu Fuß zurückzulegen. Bella mußte sich fügen. Dem
Kutscher teilte sie mit, daß sie für den Heimweg eine Droschke nehmen würde.
Sobald Sydney dem Wagen den Rücken gekehrt hatte, giftete Bella Chester an:
„Du folgst mir auf den Fersen, Angsthase. Jemand muß die verdammten Bücher
auswählen.“

Die Fahrt war kein Erfolg für Bella Ott. Wenn Sydney ihre neue Freundin schon
zu Beginn etwas seltsam fand, dann bestätigte der Lesegeschmack der Witwe
diese Annahme. Sydney bestand nach dem Besuch in der Leihbücherei darauf,
sofort nach Hause zurückzukehren, und beschloß, nie wieder einen Fuß in diese
Kutsche zu setzen.

Bei ihrem nächsten Besuch brachte Mrs. Ott Mohnkuchen mit und lud zu

einem Besuch in den Tower ein. Sydney wäre zwar liebend gern gegangen, aber
sie mußte ablehnen, weil Winnie der Ort viel zu unheimlich war und
befürchtete, Alpträume zu bekommen.

Um Mrs. Ott zu trösten, die vor Enttäuschung dem Weinen nahe war, bot

Sydney ihr eine Schachtel Pralinen an, jede Praline fein säuberlich in
Silberpapier eingewickelt. „Probieren Sie davon, Madam. Sie sind eine so gute
Köchin, ich würde gern Ihr Urteil hören. Es ist ein altes Rezept aus Little
Dedham. Man macht sie am Dreikönigsabend. Vielleicht haben Sie ja schon
davon probiert. Nein? Seltsam? Macht nichts! Meine Haushälterin und ihre
Söhne wollen ins Süßwarengeschäft einsteigen. Ich dachte, ich könnte ihnen

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behilflich sein, indem ich mich um die Meinung eines Experten bemühe. Mit
dem Verkauf werde ich natürlich nichts zu tun haben.“

Natürlich? Sydney hatte den Reinerlös bereits bis auf den letzten Schilling

ausgerechnet, eine Liste aller Süßwarenläden in London und Umgebung erstellt
und einen Plan ausgearbeitet, nach dem sie und die Minchs so viele Pralinen
herstellen konnten, daß Winnie die Saison überstehen konnte.

„Köstlich!“ schwärmte Mrs. Ott. „Was ist da drin? Brombeerlikör? Herrlich,

aber vielleicht könnte es eine Idee mehr Rum sein. Glauben Sie, Ihre Freunde
würden meine Hilfe annehmen? Ich helfe immer gern, wenn das Gesinde seine
Lage verbessern will.“

In den folgenden Tagen experimentierte man, noch köstlichere Pralinen
herzustellen. Jeden Abend fiel Sydney todmüde ins Bett; sie träumte nicht mehr
von einem Mann mit blauen Augen, die ständig die Farbe wechselten:
dunkelblau wie das tobende Meer, wenn er böse war, und hellblau wie ein
ruhiger See, wenn er lächelte.

Griffith übernahm die Auslieferung und den Verkauf. Die Minch-Brüder waren

zu bekannt; niemand sollte auf den Gedanken kommen, die Lattimores
engagierten sich im Handel. Griff brachte kostenlose Proben zu einigen
Geschäften, naschte jedoch allzu gerne von den Rumpralinen.

Unter dem Siegel der Verschwiegenheit nahm Trixie einige Pralinen mit nach

Hause. Lady Windham, die nach dem Genuß der Süßigkeit so tief und fest
geschlafen hatte wie seit Jahren nicht, bestellte in ihrer bevorzugten Konditorei
ein Dutzend Schachteln für sich und ihre Freunde.

In kürzester Zeit war Sydney mit Aufträgen eingedeckt. Mrs. Ott bereitete die

Rummischung, die Zwillinge gossen sie in die Schokoladenförmchen, und Mrs.
Minch spritzte den Brombeersiruplikör hinein. Sydney und Trixie wickelten die
Pralinen in Silberpapier, und Winifred beschriftete jede Schachtel mit:
Nervenstärkendes Brombeerlikörkonfekt. Griff lieferte die Schachteln aus.
Sydney kümmerte sich um die Buchhaltung. Sie rechnete damit, daß sie nach
ein oder zwei Wochen den ersten Gewinn erzielen würden.

Die Pralinen verkauften sich gut, und Bella goß mehr und mehr Laudanum in

die Rumkrüge.

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13. KAPITEL

„Was soll das heißen, ich muß zu Almack’s? Der Kampf war unentschieden, falls
du dich erinnerst. Alle Wetten wurden annulliert.“

Forrest sah auf seine glänzenden Stiefel. „Hast du meine Braunen gelenkt?“
„Sicher, aber du hast mich darum gebeten“, verteidigte sich Brennan.
„Und jetzt bitte ich dich, zu Almack’s zu gehen. Du würdest die Countess

glücklich machen, und außerdem soll Miss Lattimore heute Abend ihr Debüt
geben. Ist das nicht allein Grund genug, dich in enge Hosen zu zwängen?“

Brennan machte ein langes Gesicht. „Sie mag mich nicht. Sie läßt sich

verleugnen, und wenn sie zu Hause ist, himmelt sie ein Mondkalb an, das ihr
mickrige Reime vorfaselt. Anfänglich hatte ich gedacht, sie würde mich
mögen.“

„Ich auch“, antwortete der Viscount trocken. Er hatte sich die Lobgesänge

seines Bruders auf den unendlichen Charme von Miss Lattimore tagelang
anhören müssen. „Ich kann Miss Sydneys feine Handschrift erkennen. Sie will
jemand Besseres für ihre Schwester.“

„Du meinst Scoville“, fragte Brennan unglücklich.
„Nicht nur. Vielleicht habe ich Miss Sydney gegenüber deine Spielschulden

erwähnt.“ Forrest hob die Hände, um Brennans Proteste abzuwehren. „Ich
fürchte, Miss Sydney hält dich für einen unverbesserlichen Spieler.“ Was sie
von ihm selbst hielt, wollte er lieber nicht verraten.

„Aber es war doch nur das eine Mal! Und die Schlägerei war nicht meine

Schuld. Seitdem habe ich kaum gewettet.“

„Versuch Miss Sydney mal davon zu überzeugen!“ Forrests Zynismus

resultierte aus Erfahrung.

„Von dir hält sie auch nicht viel.“
„Miss Sydney ist besonders zartfühlend. Es ist nicht leicht, mit ihr zu

diskutieren. Ja, sie ist eine recht schwierige Person. Aber es ist auch ihr erster
Auftritt bei Almack’s, und ich möchte, daß du dazu beiträgst, daß sie sich dort
wohl fühlt.“

„Ich glaube eher, daß sie mir die Bowlenschüssel samt Inhalt über den Kopf

gießt. Wenn du dich so um ihr Wohlergehen sorgst, weshalb machst du dem
Mädchen nicht den Hof?“

Forrest zog eine Grimasse. „Kannst du dir vorstellen, was passieren wird,

wenn ich auch nur einen Tanz mit ihr tanze? Die Klatschtanten würden das
Aufgebot bestellen! Deshalb war ich auch nicht in der Park Lane.“

„Nur weil ich nicht so prominent bin, soll ich mich opfern? Forrest, das

Mädchen hat weniger Verstand als ein Karpfen.“

„Deshalb möchte ich, daß du auf sie aufpaßt.“

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Brennan wußte, daß ihm sein Bruder sowieso keine Wahl ließ, und nickte

zustimmend. „Ich wette, sie tanzt wie ein Engel.“

„Miss Quälgeist? Ich meine Miss Sydney?“ Einen kurzen Augenblick lang

stellte sich Forrest vor, wie himmlisch es wäre, sie in den Armen zu halten.

„Nein, Miss Winifred Lattimore. Ich wäre überrascht, wenn dein Wildfang

überhaupt tanzen kann. Gut, dann werde ich heute morgen mal einen
Spaziergang zur Park Lane machen und nachfragen, ob Miss Winifred mich zu
empfangen wünscht. Gewährt sie mir ein oder zwei Tänze, dann gehe ich zu
Almack’s, andernfalls, Bruderherz, mußt du selbst die Musik ertragen.“

Griffith schlug Brennan mit einem mürrischen „Die Damen sind heute morgen
nicht zu Hause!“ die Tür vor der Nase zu. Aber Brennan gab nicht so schnell auf,
er versuchte es bei den Zwillingen am Hintereingang.

In der Küche herrschte ein geschäftiges Treiben. Gerade heute, wo sie Zeit

brauchten, um sich für Almack’s fertig zu machen, war ein großer Auftrag
eingetroffen. Die Mädchen waren so müde, daß Mrs. Minch darauf bestand, daß
sie sich am Nachmittag ausruhen sollten, um für den Abend in Hochform zu
sein.

Sydney hatte keine Lust; sie wollte nicht wieder einen Abend auf einem

goldenen Stühlchen am Rande der Tanzfläche verbringen und so tun, als ob das
Ganze ihr nichts ausmache. Die Gastgeberinnen von Almack’s stellten die
höchsten gesellschaftlichen Anforderungen. Sydney fühlte sich so müde, sie
konnte unmöglich all die Regeln beherzigen, die Tante Harriet ihr eingepaukt
hatte.

Aber zuerst mußten sie noch diesen letzten Auftrag erledigen. Alle arbeiteten

schneller als sonst. Dank gebührte Mrs. Ott, die für den zügigen Nachschub der
Füllmasse sorgte. Noch eine Partie und dann konnten sie ...

„Ach, Sie haben mir gerade noch gefehlt! Raus mit Ihnen! Hier haben Sie

nichts zu suchen!“ schimpfte Sydney. Mrs. Minch versuchte, die
Pralinenförmchen hinter ihrem breiten Rücken zu verbergen, Winifred wurde so
weiß wie ihre Schürze, und Trixie kicherte.

„Zu spät!“ verkündete Brennan und betrat die Küche. „Wenn ihr nicht

beobachtet werden wollt, müßt ihr die Türen geschlossen halten. Ich habe das
Islington-Fiasko nicht an die große Glocke gehängt, also werde ich auch jetzt
den Mund halten. Es scheint hier recht spaßig zu sein. Kann ich helfen?“

Recht hatte er, es war zu spät. Winifred bot ihm bereits eine Praline an und

zeigte ihm ihre schöne Beschriftung.

„Vortrefflich!“ urteilte er, und alle außer Sydney klatschten. Sie war sich

nicht sicher, ob er die Praline oder Winnie meinte. „Wenn sie gut für die Nerven
sind“, fuhr er fort, „dann werde ich ein paar Schachteln meiner Mutter schicken,
die braucht immer etwas zur Beruhigung. Sie wird die Pralinen ihren
Freundinnen empfehlen, und im Nu haben Sie einen ganz neuen Kundenkreis.“

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Dann nahm er glücklich seinen Platz neben Trixie ein und half, die Pralinen in
Silberpapier einzuwickeln.

Trixie leckte sich die Finger und kicherte wieder. Sie war übermütig und ging

auf den Vorschlag ein, den Mrs. Ott ihr zuflüsterte: einige Schachteln mit zu
Almack’s zu nehmen. Trixie war begeistert. Sie war richtig ausgelassen. Trixie
hatte einen Schwips.

Es war absurd anzunehmen, Almack’s sei aufregend. Alles gähnte. Tante Harriet
saß schläfrig in einer Ecke und überließ es ihrer Tochter Sophy, Lady Royce,
sich um die jungen Mädchen zu kümmern. Sophy hatte längst erkannt, daß ihr
der Status der Ehe – erst recht, seit ihr Mann sich im Ausland aufhielt –, größere
Freiheiten gewährte als das Regime ihrer Mutter. Sie war mehr daran
interessiert, mit älteren Herren auf dem Balkon zu verschwinden, als für ihre
Schwester und die beiden Kusinen Tanzpartner zu suchen. Winifreds Tanzkarte
war natürlich voll, innerhalb weniger Minuten nach ihrem Erscheinen in den
geheiligten Hallen an der King’s Street.

Sydney saß unglücklich und allein in ihrem weißen Kleid am Rand und ließ

sich von Winnie den einen oder anderen überzähligen Verehrer vorstellen. Lady
Royce selbst war zu beschäftigt, um Trixie davon abzuhalten, ohne die
Erlaubnis der Gastgeberinnen eine Aufforderung zum Walzer anzunehmen.
Aber was machte das schon? Die Patronessen des Hauses waren genauso träge
und desinteressiert an dem unattraktiven Mädchen wie die Mutter. Trixie wurde
zwar mehrmals zum Tanz aufgefordert, aber sie befand sich öfter bei dem Buffet
mit den Erfrischungen als auf der Tanzfläche.

Gegen elf Uhr endete der Einlaß. Da wußte Trixie bereits kaum noch, wie sie

hieß, und kannte auch nicht mehr die Schritte der Quadrille. Sydney versuchte
verzweifelt, Blickkontakt mit Sophy aufzunehmen. Als diese endlich kam,
schickte sie einen ihrer Verehrer nach einer belebenden Limonade für Trixie
und tadelte Sydney: „Du warst richtig schnippisch zu Lord Dume; er ist
zehntausend Pfund wert im Jahr!“

„Nicht für mich“, antwortete Sydney. „Nicht, wenn er ständig so schleimig

meine Hand drückt. Ich habe wirklich Kopfschmerzen, Sophy. Können wir nicht
gehen? ... Um Himmels willen, was macht der denn hier?“

Es war Tanzpause, und die Augen aller waren auf den Eingang gerichtet –

zumindest alle offenen Augen. Dort im Schein der Kerzen stand Lord Mayne,
imposant im formellen schwarzen Abendanzug, ein blauer Saphir leuchtete als
Farbtupfer an der makellos geschlungenen Krawatte. Sydney konnte sich gut
vorstellen, daß seine blauen Augen mit dem Stein um die Wette funkelten. Der
Mann sah wirklich großartig aus.

Sydneys Meinung von der exklusiven Veranstaltung sank um einige weitere

Punkte. „Leuten wie ihm gewährt man Zutritt?“ fragte sie ungehalten.

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Trixie lallte: „Sicher, Dummkopf. Almack’s ist für Leute wie ihn geschaffen.“
Sie hatte recht. Im Nu stachelten die trägen Mütter ihre Töchter an; die

apathischen Gastgeberinnen setzten sich in Bewegung und ließen sich die
Hände küssen; verheiratete Frauen wie Sophy, und keineswegs schläfrig,
zeigten etwas mehr Dekolleté. Dumme Ziegen, alles dumme Ziegen, urteilte
Sydney. Die Trottel glauben wohl, weil er einen Titel und ein hübsches Gesicht
hat – nun ja, ein atemberaubend schönes Gesicht – müsse man ihn kennen.
Ach, der nimmt die doch gar nicht wahr. Nun macht er seine Verbeugungen vor
den jungen Mädchen; wenn die wüßten, welche feinen Angebote er zu machen
weiß, die würden kreischend unter die Röcke ihrer Mütter fliehen. Wie er Kusine
Sophy die Hand küßt! Also, das ...

„Lady Royce, Sie sehen wieder entzückend aus!“ Sophy schlug ihm neckisch

mit dem Fächer auf den Arm. Dann verbeugte er sich vor Sydney. Sie biß die
Zähne zusammen und knickste vollendet.

Sophy ließ ihren Fächer zu Boden fallen. „Kennen Sie die Kleine wirklich?

Man hörte ja schon so etwas, aber ich hätte mir im Traum nicht ... Also Sydney,
du verschlagenes Ding!“

Lord Mayne unterbrach sie leise: „Wir sind uns formell noch nicht vorgestellt

worden. Ich dachte, Sie würden mir die Ehre erweisen. Meine Mutter bat mich,
nach der Tochter einer alten Freundin zu schauen.“ Er sagte nicht ganz die
Unwahrheit. Doch Sydney bemerkte sofort, daß der beredte Teufel den Namen
der alten Freundin nicht nannte.

Sophy tat ihre Pflicht, machte sie offiziell miteinander bekannt und ging dann

am Arm ihres nächsten Partners davon. Eine feine Anstandsdame, regte sich
Sydney im stillen auf. Läßt eine unerfahrene Debütantin mit einer zweifelhaften
Person allein. Und dieser Mensch grinst auch noch über mein Unbehagen. Zum
Teufel mit ihm! Und alle starren mich an. Sie gab Trixie einen Stoß, aber die
dumme Gans winkte dem Viscount doch tatsächlich zu und legte ihren Kopf auf
Sydneys Schulter. Er sah bestürzt drein.

„Sie ist, äh, müde vom Tanzen“, beeilte sich Sydney zu erklären.
Forrest nahm sein Monokel und blickte sich forschend im Saal um. „Man

scheint allgemein an Müdigkeit zu leiden.“

„Ich hatte immer geglaubt, Almack’s sei so vornehm. Ich kann mir nicht

vorstellen, was ein Mann wie Sie hier will?“

„Können Sie das nicht, Miss Quälgeist?“ fragte er mit einem schiefen Lächeln.

Sydney blickte sich verstohlen um, ob ihnen jemand zuhörte. „Ich wollte mit
Ihrer Schwester tanzen.“

Einen Moment lang hatte sie das Gefühl, ihr Herz höre auf zu schlagen; doch

dann war sie wütend. „Sie werden alles verderben! Ein Tanz mit Ihnen, und ihr
Ruf ist dahin! Lord Scoville bekäme einen Anfall, wenn er sie in Ihrer Begleitung
sähe.“

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„Glauben Sie das wirklich, Quälgeist?“ Er öffnete seine Cloisonné-Dose und

nahm eine Prise Schnupftabak.

Nein, Winifred wird sich in den Wüstling verlieben, seinen Schmeicheleien

erliegen, überlegte Sydney. Aber laut sagte sie und mußte sich zwingen, dabei
nicht mit dem Fuß aufzustampfen: „Nennen Sie mich nicht so! Die Gesellschaft
mögen Sie ja täuschen, mich aber nicht. Ich möchte nicht, daß Sie sich meiner
Schwester nähern.“

„Ich bin immer wieder erstaunt, was Sie alles wissen. Dennoch, ich werde den

nächsten Tanz mit ihr tanzen. Sie hat ihn meinem Bruder versprochen, aber er
ist krank. Er war ganz geknickt, daß sie es übelnehmen könnte. Ich habe ihm
versichert, ihn zu entschuldigen, und ich halte stets mein Wort. Hören Sie auf,
hier vor allen Leuten mit mir zu schimpfen, schließlich muß auch ich auf
meinen Ruf achten.“

Sie fürchtete noch mehr um Winnie, wenn er sich charmant gab. „Ich hoffe,

Mr. Mainwaring ist nicht ernstlich erkrankt. Heute morgen sah er noch ganz
gesund aus.“

Lord Mayne beobachtete die Tanzfläche und runzelte leicht die Stirn. „Nein,

er hat scheint’s zu viel von den Pralinen gegessen, die er für unsere Mutter
gekauft hat.“

„Hat er, äh, sonst noch was über die Pralinen gesagt? Vielleicht, wo er sie

herhat?“ Sydney biß sich auf die Unterlippe.

„Nein, aber alle Süßwarenhändler scheinen sie plötzlich im Angebot zu

haben. Sogar hier, im Erfrischungsraum, habe ich zwei Schachteln gesehen.
Wollen Sie mal probieren?“

„Nein, ich, äh ... ich habe auch welche in meinem Retikül.“ Sydney sah zu

Trixie, die schnarchend auf dem Stuhl hing. Tante Harriet und ihre Freundinnen
waren in keinem besseren Zustand. Sophy tanzte die vornehme Gaillarde, als
sei sie ein Galopp. Und sie selbst hatte Kopfschmerzen. „Glauben Sie, die
Pralinen seien die Ursache für Mr. Mainwarings Unwohlsein?“

„Mit Sicherheit. Er bekam kaum die Augen auf. Vielleicht koste ich nach dem

Tanz mit Ihrer Schwester auch von diesem sensationellen Konfekt.“

„Tun sie das! Ich möchte Ihre Meinung hören.“ Ihre Kopfschmerzen wurden

immer schlimmer.

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14. KAPITEL

„Wir haben über seine Mutter gesprochen“, erklärte Sydney den anderen
Mädchen. „Nein, man hat mich ihm erst heute abend vorgestellt. Ja, ich glaube
auch, daß Winifred und Lord Mayne ein attraktives Paar sind.“

Man stand um die Tanzfläche herum, um Viscount Mayne zu beobachten. Die

Damen hofften, seine nächste Tanzpartnerin zu sein. Sydney hatte Wichtigeres
zu überlegen. Schließlich gelang es ihr, sich in den fast verlassenen
Erfrischungssalon zu flüchten. Sie war müde, ihr war schlecht, und sie konnte
den Namen Mayne nicht mehr hören.

Was hatte Trixie erzählt? Sie wollte ein paar Schachteln für ihre Mutter mit

nach Hause nehmen, und nun entdeckte sie die Schachteln – alle leer, bis auf
eine – hinter einem Blumentopf. Hastig versuchte sie, die restlichen Pralinen in
der Blumenerde und in ihrem Retikül zu verstecken. Und da ... erschien Mayne.

Forschend blickte er durch sein Monokel auf ihre Tasche und murmelte:

„Wußte ich es doch! Man darf Sie keine Minute aus den Augen lassen.“ Sydney
wurde rot. „Tanzen Sie nicht, meine Liebe?“ wollte er wissen, und Sydney
wurde blutrot.

Sie wollte nicht zugeben, daß niemand sie aufgefordert hatte. Als sie die

Klänge des nächsten Tanzes hörte, entschuldigte sie sich: „Ein Walzer, Mylord,
dazu habe ich keine Erlaubnis.“

„Dann können wir ja hier eine Runde drehen“, forderte er sie auf und legte

seine Hand auf ihren Arm. Eine Schar von Gaffern war ihm gefolgt, und ohne
eine Szene zu machen, konnte Sydney nicht ablehnen. Weshalb macht er mich
nur zum Gespött der Leute? Sie kam jedoch gar nicht dazu, die Frage zu stellen
und mit ihm zu tanzen, da jeder die Gelegenheit nutzte, ein freundliches Wort
mit ihm zu wechseln. Damen jeglichen Alters lächelten ihn verliebt an.
Aufforderung zu einer Affäre, dachte Sydney hämisch. Schließlich hielt sie es
nicht mehr aus. „Man scheint Sie zu mögen“, platzte sie heraus.

„So habe ich das noch nie betrachtet“, meinte er zu ihr gewandt. „Ja,

vermutlich mögen sie mich.“

„Aber warum denn? Ich meine, wie können sie, wenn ...“
Er lachte. „Ach, Miss Quälgeist, Ihre köstliche Naivität gefällt mir viel besser

als Ihre sturköpfige Besserwisserei.“ Er tätschelte ihren Arm und wandte sich
wieder zum Gehen. „Man mag mich, weil ich ein netter Kerl bin“, fuhr er fort.
„Ehrlich, höflich und ausgeglichen.“ Er schlug leicht tadelnd mit seinem
Monokel auf ihre Hand, als sie zu kichern begann. „Ich behandele alle gleich,
die Privilegien, die ich aufgrund meines Vermögens und meiner Herkunft
besitze, versuche ich nicht auszunutzen.“

Sydney mußte noch mehr kichern. „Oh, Sie glauben mir wohl nicht?“ fragte

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er und krauste die Stirn über ihr hämisches Grinsen. „Zweifeln Sie an meiner
Macht? Was würden Sie sagen, wenn ich Sie mit nur einem einzigen Tanz ganz
groß herausbringe?“

Sydney lachte. „Unsinn! Das könnte niemand.“
„Dann passen Sie auf! Und lächeln Sie!“

Lord Mayne entfernte sich für einige Minuten. Als die Musik wieder einsetzte,
kehrte er zurück, verbeugte sich und bot ihr seinen Arm; seine blauen Augen
funkelten verführerisch. Sydney blickte sich unsicher um; sie hatte das Gefühl,
alle Augen seien auf sie gerichtet. „Aber ...“

„Lächeln Sie, meine Liebste!“
„Aber das ist ein Walzer!“ Sie blickte unschlüssig zu den Gastgeberinnen, das

heißt zu denen, die noch stehen konnten. Lady Jersey nickte ihr zustimmend zu.

„Sehen Sie, Sally mag mich!“ meinte er trocken.
„Man hat doch gerade erst einen Walzer gespielt.“
„Das Orchester mag mich eben auch. Sie können doch Walzer tanzen?“
Sie nickte. „Ich habe mit den Zwillingen geübt.“
Mayne mußte lachen, Brennan hatte also recht, der Quälgeist tanzte mit den

Dienern. Dann führte Forrest sie über die Tanzfläche. Sydney hatte das Gefühl,
auf Wolken zu schweben. Sie konnte kaum einen klaren Gedanken fassen und
strahlte ihn an. Ihr Herz schlug im Walzertempo. Himmel, was war bloß in
diesen Pralinen?

Erst als Lord Mayne zum Dank ihre Hand küßte, merkte sie, daß der Tanz zu

Ende war. Er zwinkerte ihr zu und warnte: „Jetzt passen Sie auf!“

Die Gentlemen standen Schlange, um ihre Namen in Sydneys Tanzkarte

eintragen oder ihr eine Limonade holen zu dürfen. Nicht die unreifen Jünglinge,
sondern Maynes Freunde, reife Männer mit Einfluß und Geschmack – wie
Mayne, mußte sie zugeben. Nach einigen weiteren Tänzen erschien der
Viscount wieder auf der Bildfläche und beendete Sydneys Hochstimmung mit
einem durchbohrenden Blick. „Es ist Zeit zu gehen, Miss Sydney!“ sagte er
drohend. Er nahm entschlossen ihren Arm, als sie versuchte zu protestieren. „Es
gibt noch andere Bälle“, schnitt er ihr das Wort ab und fügte dann hinzu:
„Wenn Sie Glück haben.“

Lady Windham und ihre Töchter verfrachtete er in ihre eigene Kutsche.

Sydney und Winnie durften in seinem eleganten Wagen fahren. Mit seiner
umwölkten Miene wird er uns den ganzen Spaß verderben, überlegte Sydney
und starrte wortlos aus dem Fenster. Winifred, die daran gewöhnt war, daß sich
ihre Schwester Fremden gegenüber in Schweigen hüllte, versuchte höflich,
Konversation zu machen.

„Wie konnten Sie Wirrkopf nur so vermessen sein, anzunehmen, Sie könnten
Pralinen herstellen?“ schimpfte Lord Mayne. Sydney saß unglücklich am

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Küchentisch, vor sich die dritte Tasse schwarzen Kaffees. Winnie hatte er der
Obhut der Zofe übergeben; Sydney hingegen sollte nicht so einfach
davonkommen.

„Sie sind der größte Dummkopf, den ich unglückseligerweise treffen mußte“,

begann Seine Lordschaft. „Der Skandal wäre schon groß genug gewesen, wenn
Sie sich nur an dem Geschäft beteiligt hätten! Nein, Sie versuchen auch noch,
den ton zu vergiften. Und wo? Ausgerechnet bei Almack’s!“

Trixie kann nichts dafür, überlegte Sydney. Ich hätte besser auf sie aufpassen

müssen. Es ist allein meine Schuld. Wally versuchte zu vermitteln: „Wir wollten
bestimmt niemanden vergiften. Es muß eine schlechte Partie gewesen sein.“

„Glauben Sie ... ich meine, komme ich jetzt ins Gefängnis?“ fragte Sydney

unter Tränen.

Forrest reichte ihr sein Taschentuch und fluchte: „Ins Kloster, Mädchen, nicht

ins Gefängnis. Wer weiß alles von der Angelegenheit?“

„Alle, außer Großvater und ...“
Willy schüttelte den Kopf. „Dem General haben die Pralinen geschmeckt. Ich

habe ihm gesagt, daß wir sie selbst herstellen. Er hält bestimmt den Mund.“

Forrest raufte sich die Haare. „Wer sonst noch?“
„Trixie, aber die muß den Mund halten, denn sie hat die Pralinen ja zu

Almack’s mitgenommen. Und ihre Mutter muß den Mund halten, denn die hat
die Pralinen ihren Freundinnen geschenkt.“

„Wer sonst noch?“
Sydney begann, wieder heftiger zu weinen. Das Taschentuch des Viscount

vor der Nase, wimmerte sie: „Eine alte Bekannte ... und ... Ihr Bruder. Er war
heute morgen hier und hat uns geholfen.“

Für einen Augenblick herrschte absolute Stille. Dann klirrte das Porzellan,

und Sydney mußte die Tassen festhalten, so hart schlug der Viscount mit der
Faust auf den Tisch. „Ich habe Ihnen doch gesagt, daß Sie ihn nicht in unsere
Nähe lassen sollen“, weinte sie in das Tuch.

„Ja, um den Ruf Ihrer Schwester zu schützen, Sie Unglücksrabe, nicht seinen!

Sie haben mich nicht gewarnt, daß Sie ihn in Ihre hirnverbrannten Vorhaben
verwickeln oder versuchen würden, ihn mit Ihrem Teufelszeug umzubringen! An
der vordersten Gefechtsfront wäre er sicherer gewesen als in Ihrer
Gesellschaft!“

„Das tut mir leid. Ich werde seinen Namen bestimmt nicht preisgeben, wenn

man mich vor Gericht stellt. Und ich werde auch niemandem sagen, daß Sie mir
das Kapital für das Geschäft geliehen haben.“

„Verdammt noch mal!“ donnerte er wieder los. Sie sah ihn zerknirscht an.

Tränen in den braunen Augen? Seine Wut schmolz dahin. „Regen Sie sich nicht
auf, Quälgeist! Ich werde die Sache in Ordnung bringen.“

Sofort strahlte Sydney wieder. „Das können Sie? Ich werde ewig in Ihrer

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Schuld stehen. Oh, wie dumm, ich stehe ja bereits in Ihrer Schuld. Was wollen
Sie machen?“

Der Viscount seufzte und stand auf. „Vergessen Sie endlich das verdammte

Geld und gehen Sie zu Bett, Quälgeist.“

Sie begleitete ihn zur Tür. „Vielleicht kann ich helfen?“
„Das fehlt mir gerade noch“, neckte er sie, nur um ihre Grübchen zu sehen.

Dann wischte er ihr mit dem Zeigefinger eine Träne von der Wange. „Ich
komme morgen früh. Tragen Sie das hübsche gelbe Kleid!“

Verlegen strich Sydney über die Falten ihres weißen Abendkleides. „Ich weiß,

es steht mir nicht, aber Tante Harriet meinte, es käme nur Weiß in Frage.“

„Aha, Sie befolgen wohl immer die Anweisungen Ihrer Tante?“ Kichernd

antwortete sie: „Nein, nur manchmal.“

An diesem Abend war Forrest viel zu aufgewühlt, um ins Bett zu gehen.

Sydney war unglücklich, das beunruhigte ihn mehr, als er sich eingestehen
wollte. Ihre Augen sollten niemals von Kummer getrübt sein; sie sollten
strahlen, so wie sie ihn während des Walzers angestrahlt hatten. Und ihr Mund
sollte sich nicht vor Schmerz verziehen; er sollte lachen und küssen. Und ihr
Körper ...

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15. KAPITEL

Die Nacht war viel zu kurz. Sydney gähnte und kuschelte sich wieder unter die
Decke. Sie hatte das Gefühl, es seien nur wenige Minuten vergangen, als sie
von Annemarie geweckt wurde. Die Polizei war also schon da! Sydney
versteckte sich unter der Bettdecke. „Nein, ich will nicht!“

„Mademoiselle, der hübsche Viscount wartet unten.“
„Noch schlimmer!“ Sydney zog sich die Bettdecke über den Kopf.

Forrest war schon früh auf den Beinen gewesen und hatte in den
Süßwarenläden alle noch erhältlichen Pralinen aufgekauft. Die Ladenbesitzer
ließ er in dem Glauben, eine gewisse hochgestellte Persönlichkeit, mit einer
Vorliebe für dieses Konfekt, habe den Hersteller der Pralinen für sich verdingt.
Von den Köstlichkeiten könne leider nichts mehr nachgeliefert werden.

Mit der Wagenladung voller Pralinenschachteln war Mayne dann zum

Marinehospital gefahren, ein befreundeter Arzt nahm die milde Gabe mit
Freuden entgegen. Das schwere Geschütz, gefüllt mit Rum und Laudanum, kam
nicht ungelegen.

Danach machte Forrest einen Spaziergang durch den Park und hörte sich den

neuesten Klatsch über die beschwipsten Damen bei Almack’s an, der Bastion
des Anstandes. Er selbst trug einiges zur Verbreitung des Gerüchtes bei, daß
ein paar junge Leute Fusel in den Punsch gegossen hätten. Die Geschwister
Lattimore, wenn von ihnen überhaupt die Rede war, bezeichnete man als
reizende Mädchen. Diese Zurückhaltung deutete er richtigerweiser als eine
stille Nachfrage, ob er an den Schwestern interessiert sei. Er hielt sich zurück.
„Ganz charmant, diese jungen Damen, doch kaum dem Schulzimmer
entwachsen. Entfernte Verwandte meiner Mutter.“

Ähnlich verhielt er sich in seinem Klub und überzeugte seine Freunde, daß er

nur lockere Beziehungen zu den Lattimores habe.

Noch nie hatte er so viele Lügen erzählt wie an diesem Morgen. Zufrieden mit

sich ging er zur Park Lane. Sydney ist absolut kein Kind mehr, grübelte er
unterwegs. Fast bereute er es, so viele Mitglieder des ton auf sie aufmerksam
gemacht zu haben. Bei der Vorstellung von Sydney als sommersprossigem Kind
mit kupferroten Zöpfen, das seine Rechenaufgaben erledigte, mußte Forrest
schmunzeln. Schluß mit solchen Vorstellungen! Der Gedanke an die reizende
Figur in seinen Armen hatte ihn schon genug Schlaf gekostet. Ja, beruhigte er
sich selbst, sie steht jetzt mit beiden Füßen auf dem Heiratsmarkt. Ich kann
ruhigen Gewissens zurück nach Sussex fahren, sobald ich meine Botschaft
übermittelt habe.

„Die jungen Damen schlafen noch“, teilte ihm Willy mit – oder war es Wally?

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„Bring sie her!“ befahl Forrest barsch.
Während er wartete, redete er mit dem General über den Krieg. Forrest war

sehr angetan von dieser Unterhaltung, denn bei ähnlichen Gesprächen warf
sein Vater stets mit der Zeitung nach ihm, wenn er anderer Meinung war. Der
General klopfte nur einige Male energisch auf seine Armlehne.

Dann erschien Sydney. Das pfirsichfarbene Kleid unterstrich ihren zarten

Teint. Es erstaunte ihn nicht, daß sie seinem Wunsch, das gelbe Kleid zu tragen,
nicht nachgekommen war und auch nicht, daß sie sich, wie um Schutz zu
suchen, zu Füßen ihres Großvater auf dem Boden niederließ. Es überraschte ihn
nicht einmal, daß sie zerknirscht aussah. Nur über seine eigene Reaktion war er
verwundert. Ich liebe dieses Geschöpf, stellte er erstaunt fest.

Griffith kam herein und schob trotz Sydneys Protest den General aus dem

Zimmer. Forrest steckte dem Diener lächelnd ein paar Münzen zu.

„Es tut mir leid, Mylord, ich kann auch nicht bleiben. Ich muß mit Mrs. Minch

das Menü besprechen.“

„Ich bin ganz sicher, was auch immer sie wählt, wird in Ordnung sein, solange

Sie nicht Ihre Hände im Spiel haben. Interessiert es Sie nicht, wie Ihr Abenteuer
ausgegangen ist?“

„Weiß ich schon! Bislang hat man mich noch nicht eingesperrt.“ Sie zeigte

auf die vielen Blumenarrangements. „Annemarie sagt, einige davon sind sogar
für mich abgegeben worden. Wir werden vom ton nicht geschnitten. Nein, ich
will nicht wieder eine Moralpredigt hören. Bitte!“

„Oh, je, Sie Ärmste, haben Sie immer noch Kopfschmerzen? Nur einen

Moment, ich möchte Ihnen nur sagen, welche Geschichten man sich erzählt. Die
Damen der Gesellschaft haben vielleicht noch stärkere Kopfschmerzen als Sie,
die Gastgeberinnen von Almack’s untersuchen die Bowle nach Anzeichen einer
fremden Beimischung; die Ladenbesitzer halten das Konfekt für ein nationales
Geheimnis; und die Lattimore-Schwestern haben großen Erfolg. Ach, ja, und die
Produktion der Pralinen ist eingestellt.“

„Haben wir Erfolg? Daß wir nicht mehr im Geschäft sind, weiß ich. Sobald ich

das Geld für die letzten Lieferungen habe, werde ich die Bücher schließen.“

Der Viscount zupfte an seiner Krawatte. „Ich habe gesagt, Sie sind aus dem

Geschäft!“

„Aber das war mein Geschäft. Dazu hatten sie kein Recht“, antwortete sie

kraftlos. Sie war müde, außerdem hatte sie die Erfahrung gemacht, Wut
beeindruckte ihn nicht.

„Nein? Erinnern Sie sich an ein Geschenk, das ich Ihnen machen wollte? Sie

beharrten darauf, daß es ein Darlehen sei, erinnern Sie sich? Also habe ich das
Geschäft aufgekauft, im Tausch gegen Ihre Schulden. Jetzt sind wir endgültig
quitt!“

Sydney zog nachdenklich ihre Stirn kraus. Entweder konnte sie immer noch

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nicht klar denken oder aber seine Argumente waren so suspekt wie sein
Charakter. „Das macht keinen Sinn! Begonnen habe ich das Geschäft mit Ihrem
Geld. Sie haben jetzt das Geschäft beendet und meinen Hals gerettet, wieder
mit Ihrem Geld. So wie ich die Sache sehe, schulde ich Ihnen nicht nur Dank,
sondern doppelt soviel Geld wie am Anfang.“

„Hören Sie auf, Sydney! Sie glauben doch nicht immer noch, ich verdiene

mein Geld damit, fällige Schulden einzutreiben?“

„Nein“, gab sie zu. „Aber Sie waren da und haben mir das Geld gegeben.“
„Richtig! Ich gebe zu, ich hätte Ihnen sofort reinen Wein einschenken sollen.

Man hatte meinen Bruder reingelegt, und ich wollte die Schuldscheine von den
Gaunern zurückholen. Die tausend Pfund, die ich Ihnen gegeben habe, waren
eigentlich die Bezahlung seiner Schuld.“

Sydney sprang hoch. „Dann stehe ich ja doch bei den richtigen

Geldverleihern in der Schuld!“ schrie sie. „Ich muß Zinsen zahlen, während Sie
hier Unsinn über Punschbowlen und Gastgeberinnen reden.“

Er stand auch auf und schob ihr eine widerspenstige Locke aus der Stirn. „Ich

rede keinen Unsinn, Quälgeist, und Sie müssen sich keine Gedanken über die
Wucherer machen. Die sollten inzwischen das Land verlassen haben. Werden
Sie jetzt ein für alle Male das leidige Geld vergessen?“

Sydney wünschte, sie könnte es. Wie sehr wünschte sie, ohne finanzielle

Verpflichtungen gegenüber diesem Mann zu sein, der sie so in Aufregung
versetzte. „Ich kann nicht!“ antwortete sie trotzig. „Ich habe es in gutem
Glauben geborgt und bei meiner Ehre geschworen, es zurückzuzahlen. Aber
keine Sorge, die Saison ist ja noch nicht zu Ende!“

„Und Sie haben einen Plan? Habe ich das nicht schon mal gehört? Süße, noch

ein paar Ihrer Pläne, und Sie schulden mir Ihre Seele.“

Sie sah ihn so verträumt an, daß er hinzufügte: „Was ist Ihnen Ihre Tugend

wert?“

Es verschlug ihr die Sprache, sie konnte nur ungläubig ihren Mund öffnen,

um ihm die Antwort zu geben, die er verdiente – und so küßte er sie.

Sydney war hin- und hergerissen. Sie streichelte sein Gesicht, um seine Haut

unter ihren Händen zu spüren; ihr Herz pochte so laut wie Kirchenglocken, oder
war es doch der Alarm, der in ihrem berauschten Hirn klingelte? Was tue ich?
Winnie soll die gute Partie sein! Sydney biß fest zu und hatte seine
Zungenspitze getroffen. Er wich fluchend zurück und erwartete die Ohrfeige.

Sie kam nicht. Sydney hatte ein schlechtes Gewissen. Ich habe ihn gewähren

lassen, obwohl er mich bestimmt bei dem kleinsten Anzeichen eines Zögerns
losgelassen hätte. Aber ich bin stehengeblieben, habe seine Nähe genossen
und diesen erregenden Kuß erwidert.

„Sie sind vielleicht kein Geldverleiher, aber auch kein Gentleman. Ich hatte

doch recht, Sie sind ein Frauenheld.“

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Der Viscount schluckte. „Ich bin kein Frauenheld“, erklärte er ernsthaft und

war dann selbst überrascht von seinen Worten: „Außer bei Ihnen!“

„Wieso?“
„Nun, an einer Heirat bin ich nicht interessiert, aber an Ihnen! Weshalb

ausgerechnet Sie, weiß der Teufel. Sie sind die eigensinnigste und
widerspenstigste Frau, der ich je begegnet bin. Sie sind zu jung, zu
leidenschaftlich, zu unabhängig, aber ich kann, wie es scheint, meine Hände
nicht von Ihnen lassen.“

„Das könnte ja fast ein Kompliment sein“, antwortete Sydney lachend. „Ich

finde Sie auch nett, manchmal.“

Er küßte sie sanft auf die Nasenspitze. „Habe ich Ihnen nicht gesagt, daß

mich jeder leiden mag? Ich habe einige Angelegenheiten in Sussex zu
erledigen; Sie werden also eine Weile Ruhe vor mir haben. Doch bevor ich
gehe, müssen Sie mir ein Versprechen geben.“ Er bemerkte ihren
eigensinnigen Blick, deshalb versuchte er, sie wie einen Seemann zu
behandeln. „Wie Sie wissen, Miss, stehen Sie in meiner Schuld. Ich kann also
die Bedingungen stellen. Versprechen Sie, in der Zwischenzeit keinen Ärger zu
machen? Nichts Illegales, nichts Gefährliches und keine Skandale!
Verstanden?“

Sydney war versucht zu salutieren. Doch da sie glaubte, daß er dies weder

lustig finden noch Verständnis dafür haben würde, wenn sie einen solchen
Schwur nicht halten konnte, versuchte sie es mit der Wahrheit: „Mein nächster
Plan ist harmlos.“

Tante Harriet erschien am folgenden Morgen. Sie war aufgeregt und
eifersüchtig über den schnellen Erfolg ihrer Nichten. „Lord Mayne, meine
Lieben? Kaum zu fassen!“ Sydney dachte daran, wie oberflächlich die mondäne
Welt doch war, die einen solchen Mann bewunderte. Wenn bekannt würde, was
für ein Sittenstrolch er ist! Andererseits, wenn man wüßte, welche Freiheiten
ich ihm erlaubt habe, wir würden in Windeseile wieder in Little Dedham sein.
Seiner Lordschaft verdankten sie es allerdings, daß Lady Windham den
Geschwistern einen Besuch in Vauxhall erlaubte. Natürlich informierte Sydney
ihre Tante nicht darüber, daß der Viscount sich in Sussex befand, denn Sydney
wollte das Feuerwerk unbedingt sehen. Nur Mr. Mainwaring war in der Stadt
geblieben, und natürlich lud ihn Tante Harriet in ihre Loge ein.

„Ich wünschte, du könntest ihn davon abhalten, mit Winifred anzubandeln,

Tante Harriet“, bat Sydney. „Er will unbedingt zur Armee.“

„Unsinn! Das würde seine Mutter nie zulassen.“ Lord Scoville schien das

Interesse an Winifred verloren zu haben und schenkte Beatrix seine
Aufmerksamkeit. Lady Windham wollte keinesfalls Mr. Mainwarings Eifer
dämpfen. „Woran denkst du, Sydney? Wir sollten auf keinen Fall Lord Mayne
vor den Kopf stoßen.“

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Lady Windham träumte davon, Trixie endlich zu verheiraten. Sie mußte die

beiden nur oft genug zusammenbringen, dann würde Scoville schon merken,
daß Beatrix die bessere Erziehung und die größere Mitgift hatte. „Ich werde ein
Picknick arrangieren“, verkündete sie. „Sydney, du kannst mir mit den
Einladungskarten und den Menüs behilflich sein.“

„Wie bitte? Entschuldige, Tante Harriet, aber ich kann dir nicht bei den

Vorbereitungen für einen Ausflug nach Richmond helfen. Ich bin mit einem
Projekt beschäftigt, das schon Lord Maynes Zustimmung gefunden hat. Und wir
wollen ihn doch nicht vor den Kopf stoßen!“

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16. KAPITEL

Großvater war ein berühmter General, dessen Erlebnisse alle hören wollten. Ich
werde seine Memoiren verkaufen, und wir werden reich, beschloß Sydney.
Glücklicherweise besaß sie die vielen eng beschriebenen Seiten, die der
General kurz nach seiner Pensionierung und vor seinem letzten Schlaganfall
niedergeschrieben hatte. Das war die Antwort auf ihre Schwierigkeiten!

Sie hatte zwar nur das erste, reichlich langweilige Kapitel gelesen, aber

Einleitungen müssen ja sein. Doch sie konnte sich an die Gutenachtgeschichten
in ihrer Kindheit erinnern, an Eingeborenenaufstände, belagerte Städte und
menschenfressende Tiger. Die Erzählungen eines Generals würden ein Erfolg
werden; sie mußte nur den Verleger finden, der am meisten zahlte.

Sydney ging ihr Vorhaben gezielt an. In der Leihbibliothek studierte sie

zunächst alle Titel mit ähnlichem Thema. Sie schrieb sich die Namen einiger
Verleger auf, die sich auf Kriege spezialisiert hatten. Dann sah sie Biographien
durch und notierte sich Verlage, die Bücher mit den teuersten und auffälligsten
Einbänden und den schönsten Goldschnitten produzierten.

Nachdem sie diese Listen erstellt hatte, rüstete sie sich selbst aus. Sie konnte

keinesfalls wie eine pastellfarbene Debütantin an der Drury Lane erscheinen.
Zusammen mit Annemarie entwarf sie ein elegantes Kleid aus einem
waldgrünem Perkal mit einem passenden, eng anliegenden Spenzerjäckchen.
Nicht ohne Absicht wählte sie für die kurze Jacke Epauletten und Knöpfe im
Militärstil. Dazu trug Sydney einen grünen Hut mit goldenem Band und einem
winzigen Schleier, der sie, wie ihr Winnie versicherte, um mindestens zwei Jahre
älter erscheinen ließ.

Dann begann der Werbefeldzug. Zunächst besuchte Sydney das Verlagsbüro

von Watkins und Waters. Ihr Begleiter Wally, immer zwei Schritte hinter ihr,
trug das wertvolle Manuskript stolz wie eine Standarte. Sydney stellte sich dem
Bürovorsteher vor und erklärte ihm, daß sie ein Buch veröffentlichen wolle.
Nachdem er sie eine ganze Weile gemustert hatte, teilte er ihr dann hochnäsig
mit, sie solle Namen und Anschrift zurücklassen, in einigen Monaten würde man
ihr das Manuskript mit der Entscheidung des Verlages zurücksenden.

„Sie haben mich nicht richtig verstanden, Sir. Ich brauche die Entscheidung

sofort.“ Sie brauchte das Geld.

Der Schreiber wies lächelnd mit einer Geste hinter sich. Die Manuskripte

stapelten sich bis unter die Decke. Aber so schnell ließ sich die Enkelin eines
Generals nicht abwehren. Sie zog eine Visitenkarte heraus und bestand darauf,
daß man diese sofort Mr. Watkins überbringe.

„Verstorben.“
„Dann Mr. Waters!“

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„Verstorben.“
„Dann jemand, der verantwortlich ist.“
„Das wäre Mr. Wynn, aber der wünscht niemanden zu sprechen.“
„Er wird mich zu sprechen wünschen. Sagen Sie ihm, ich sei Mr. Harlan

Lattimores Enkelin und ... komme auf Empfehlung von Viscount Mayne.“

Mr. Wynn willigte ein, die Memoiren selbst zu lesen, ob nun wegen Sydneys

glühender Schilderung der Abenteuer des Generals oder aufgrund ihrer
Eingebung, den Namen des Viscount zu nutzen, blieb dahingestellt.

„Aber wir haben nicht viel Zeit“, drängte sie. In der Annahme, der General

wolle den Herren Watkins und Waters folgen, versprach Mr. Wynn, das
Manuskript noch am selben Abend zu lesen.

Der Sieg war ihr gewiß. Sydney genoß den Nachmittag mit Lord Thorpe im
Britischen Museum.

Wie versprochen sandte Mr. Wynn das Manuskript am folgenden Tag zurück

in die Park Lane. Leider, so hieß es in dem Begleitbrief, könne man eine
unvollendete Arbeit nicht veröffentlichen.

„Wie kann der Mann es wagen?“ Sydney kochte vor Wut, als sie das

Schreiben ihrem Großvater vorlas. „Was hat er denn erwartet? Ach, andere
Verleger werden wissen, was der Leser wünscht. Wenn die Dichtung wollen,
kaufen sie keine Kriegserinnerungen.“

Sydney versuchte es bei anderen Verlegern. Aus Erfahrung klug, gab sie sich

diesmal erst gar nicht mit dem Schreiber ab; Großvaters militärischer Rang und
der Titel des Viscount brachten sie sofort zum Seniorpartner, und man
versprach ihr eine schnelle Durchsicht des Manuskriptes.

Innerhalb weniger Tage wurde der gewichtige Band zurückgesandt. Wieder

mit einer höflichen Absage. Es dauerte nicht lange, und Sydney haßte alle
Verleger, das grüne Kostüm und ganz besonders die freundlichen
Ablehnungsschreiben.

Ein Verleger, der bekannte Mr. Murray, erschien höchst persönlich. Er bat um

ein Interview mit dem General. Willy, der an diesem Tag Türdienst hatte,
schickte nach Sydney. Sie sah die im Geiste schon goldgeprägte Ledereinbände
und Sovereigns vor sich und eilte ins Wohnzimmer. „Leider schläft mein
Großvater“, versuchte sie Zeit zu gewinnen. „Darf ich Ihnen Tee anbieten?“

Nervös schielte sie auf das riesige Paket auf dem Sofa neben dem Verleger,

während sie den Tee eingoß. „Was halten Sie von den Memoiren?“ fragte sie
schließlich.

„Nicht uninteressant, Miss Lattimore. Natürlich müßte man sie noch kräftig

überarbeiten. Wie ich verstehe, soll der General krank sein. Glauben Sie, er sei
zum Schreiben noch fähig?“ Sydney wußte, daß er kaum einen Stift halten,
geschweige denn diktieren konnte. Sie biß die Zähne zusammen und
versprach, dem General Mr. Murrays Vorschlag zu unterbreiten. Dann dankte sie

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dem Verleger, daß er ihnen seine Zeit geopfert habe ... und, nachdem er
draußen war, knallte sie die Tür hinter ihm zu.

Am nächsten Morgen erzählte sie Mrs. Ott, alle Verleger seien verhinderte

Autoren. Mrs. Bella Ott nickte bedächtig. Seit den Tagen der
Pralinenherstellung hatte Sydney Mrs. Ott nicht mehr so oft gesehen. Nach dem
Fiasko mit den Pralinen hatte sie dieser Frau gegenüber ein schlechtes Gefühl.
Bella hätte merken müssen, daß das Rezept nicht in Ordnung war.

„Haben Sie denen denn Bares geboten, meine Liebe?“
„Geld? Natürlich nicht! Das kann man nicht ... Oder?“
„Kindchen, Sie sind doch nicht auf den Kopf gefallen! Mit Geld geht alles!

Glauben Sie etwa, die Verleger setzen auf einen Unbekannten? Dafür sind die
viel zu vorsichtig. Junge Autoren zahlen den Verlegern, damit man ihre Bücher
druckt. Ich wette, Mr. Murray hat nur darauf gewartet, daß Sie was locker
machen. Statt dessen bieten Sie ihm Tee an!“

„Daran hätte ich nie gedacht. Oh, je, was wird denn das kosten?“
Bella hob die verschnürten Memoiren abwägend in die Höhe. „Ein so dickes

Buch? Ich schätze Tausende.“

„Tausende? Aber was sollen wir dann noch verdienen?“
„Sie sind wirklich noch grün hinter den Ohren, Schätzchen. Die Verleger

verdienen an dem Buch! Gut, daß Mrs. Alquith mir von Ihnen geschrieben hat.“

„Mrs. Asquith“, verbesserte Sydney, ganz in Gedanken über diese neue

Dimension ihrer Unkenntnis. „Wir könnten nicht einmal tausend Pfund
aufbringen, nach dem Verlust bei der Pralinenherstellung.“

Bella wollte nicht mehr über dieses Abenteuer sprechen. Sie hatte alles

mögliche getan, um die Gerüchteküche anzuheizen, nichts hatte geholfen. Die
Aussicht, doch noch zu ihrem Ziel zu kommen, brachte Bella auf neue Ideen.
Sie tätschelte Sydneys Hand. „Nur nicht die Hoffnung aufgeben, meine Liebe.
Bella weiß Rat!“

In Bellas weiterem Bekanntenkreis gab es da den Neffen der Lady Peaswell. Ein
unternehmerischer junger Mann, aus guter Familie, aber er mußte selbst für
seinen Lebensunterhalt sorgen; nun, wie es sich so fügt, hatte dieser Junge
gerade begonnen, ein Verlagshaus mit Druckerei aufzubauen. Jetzt war er auf
der Suche nach geeigneten Manuskripten ... Vielleicht würde er die
Druckkosten mit Sydney teilen, die Einnahmen natürlich auch. Sydney
brauchte einen Verleger und Bellas junger Freund ein Buch, das ihm zum
Durchbruch verhalf. Was hielt also die liebe Miss Sydney von diesem
Vorschlag? Sydney konnte diesen jungen Geschäftsmann nicht schnell genug
kennenlernen.

„Gut! Gehen wir doch sofort in sein Büro. Sie können sich die Geschäftsräume

ansehen und ihm das Manuskript zeigen. Dann kann Mr. Chesterton die

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Druckmaschinen anwerfen.“

„Jetzt? Im Regen?“ Selbst an einem klaren Tag wäre Sydney nicht noch

einmal in Bellas Kutsche gestiegen. „Ich habe etwas Halsschmerzen und sollte
wohl bei dem häßliche Wetter besser zu Hause bleiben,“

„Richtig! Ich kann das Buch ja auf meinem Heimweg dort vorbeibringen.

Dann haben Sie die Entscheidung schneller. Wenn Mr. Murray persönlich hier
vorsprechen kann, dann wird Mr. Chesterton das wohl auch können.“

Mr. Oliver Chesterton war nicht ganz so, wie sich Sydney ihren neuen
Geschäftspartner vorgestellt hatte. Aber zumindest war er recht
unternehmungslustig gekleidet. Auf Sydney machte der junge Verleger mehr
den Eindruck eines Müßiggängers oder Falschspielers, wenn da nicht Mrs. Otts
Empfehlung gewesen wäre.

Bella stellte ihn vor, und zu Sydneys Verwunderung reichte Mr. Chesterton

ihr seine linke Hand. Ohne Umschweife kam er sofort zum Geschäft. Er wolle
das Buch veröffentlichen. Für tausend Pfund Vorauszahlung sollte der gesamte
Gewinn an Sydney gehen, für fünfhundert Pfund sollte der Gewinn geteilt
werden.

„Ich denke, das Buch wird ein großer Erfolg, Miss Lattimore. Deshalb setze ich

alles auf eine Karte“, bot Mr. Chesterton an. Mrs. Ott schnaubte unwillig in ihre
Teetasse. „Aber ich brauche das Geld im voraus. Ich muß Karten ... äh ...
Drucktypen kaufen.“

Das war eine schwerwiegende Entscheidung. Zum ersten Mal in ihrem Leben

wollte Sydney nicht kopfüber ins unbekannte Wasser springen. Vielleicht hatte
sie aus Lord Maynes Lektionen gelernt. Vielleicht brauchte sie auch nur etwas
Zeit, um sich zwischen dem Fünfhundert- und dem Tausend-Pfund-
Arrangement zu entscheiden. Sie sagte ihren Gästen, sie könne bei einer so
großen Investition nicht alleine entscheiden und müsse erst mit dem General
darüber reden.

„Ich danke Ihnen, daß Sie sich persönlich bemüht haben, Mr. Chesterton“

verabschiedete sie ihn.

„Dann brauche ich wohl nicht noch einmal vorbeizuschauen? Es genügt,

wenn Sie mir eine Bankanweisung schicken.“ Chester alias Mr. Oliver
Chesterton verneigte sich kurz und verließ den Salon.

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17. KAPITEL

Der General hielt nichts von dem Angebot. Wally, der an diesem Tag den
Türdienst versah, mochte die äußere Erscheinung von Chesterton nicht. Und
Winifred verstand überhaupt nicht, worum es sich handelte.

„Wenn unser Geld für die restliche Saison nicht reicht, weshalb fahren wir

dann nicht nach Hause, Sydney?“

„Weil wir dann keine Chance haben, unser Dorf je wieder zu verlassen. Weil

wir Großvaters Pension nicht ewig bekommen! Weil du eine gute Verbindung
eingehen kannst.“

„Aber wenn ich daran gar nicht interessiert bin, Sydney? Was ist, wenn ich

lieber die Frau eines Offiziers oder eines netten Gutsbesitzers werden möchte?“

Sydney zerriß ein weiteres Briefchen an den Viscount. Der Teufel soll diesen
aalglatten Frauenhelden holen, der einem Mädchen den Kopf verdrehen kann –
und den jüngeren Bruder auch. Sie nahm ein neues Blatt, aber nicht einmal für
die passende Anrede konnte sie sich entscheiden. Lieber Lord Mayne oder
besser Mein lieber Lord Mayne? Wo war dieser verfluchte Mensch eigentlich,
wenn man seinen Rat wollte? Wenn man ihn brauchte, war er nicht zur Stelle.
Brennan behauptete, sein Bruder sei zurück in der Stadt.

Sie begann von neuem: Eure Lordschaft.

Forrest Mainwaring haßte Klatsch, um so mehr, wenn sein Name im Spiel war.
Er war noch keine zwei Stunden wieder in der Stadt, und schon hatte man ihn
informiert. Natürlich über Miss Sydney Lattimore! Was hatte sie mit den
Memoiren ihres Großvaters zu tun? Forrest brauchte einen Tag, um in den
Kaffeehäusern nach seinem Freund Murray zu suchen.

Am folgenden Morgen machte der Viscount zunächst einen scharfen Ritt auf

einem halb zugerittenen Hengst, dann trainierte er einige Runden mit Jackson,
und nach dem Mittagessen bei White’s forderte er Brennan zu einem
Fechtkampf heraus. Danach fühlte er sich gestählt genug, Miss Lattimore
gegenüberzutreten. Diesmal würde er weder seine Geduld noch seine
Selbstkontrolle verlieren.

Sie strahlte, als sie in ihrem grünen Musselinkleid zu seiner Begrüßung die

Treppe hinuntereilte. Damit hatte er nicht gerechnet. Bei diesem
verführerischen Anblick überwand ein gewisser treuloser Körperteil des
Viscount seine Erschöpfung ...

„Sie sind gekommen“, begrüßte sie ihn freudig. „Sie müssen gewußt haben,

daß ich Ihren Rat brauche.“ Sydney hatte sich nicht entschließen können, den
Brief abzuschicken.

Warum hatte er den Besuch nur so lange hinausgeschoben? Schließlich

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mußte er sie ja nicht heiraten! Hochnäsig fragte er: „Soll das heißen, die
unbezähmbare Miss Lattimore hat schließlich doch erkannt, daß es erfahrenere
Köpfe gibt, die man um Rat fragen kann?“

Sie kicherte über seine affektierte Sprache, und sein Entschluß, sich von ihr

fernzuhalten, schmolz dahin. Der General schlief tief und fest in seinem
Rollstuhl. Forrest ignorierte den Anstand und nahm neben Sydney auf dem Sofa
Platz. In der Hoffnung, ihren anmutigen Nacken berühren zu können, legte er
seinen Arm auf die Rückenlehne. Steh auf, du gewissenloser Schuft, ermahnte
ihn seine innere Stimme. Seufzend stand er wieder auf, wechselte zu einem
Stuhl und begann, sein Monokel zu putzen. „Es geht doch nicht um ein
gewisses Manuskript?“ fragte er.

„Doch! Ich hatte ein wunderbares Angebot, aber dann dachte ich, daß es

vielleicht doch nicht so gut ist, und ...“ Aber ich habe den Brief doch gar nicht
abgeschickt, fiel ihr ein. Unsicher fragte sie: „Wie können Sie davon wissen?“

„Ein Besuch in meinem Klub, und ich hörte, daß Ihr ... und mein ... Name in

aller Mund sind.“

Sydney sah betreten auf ihre Schuhspitzen. „Ich hatte angenommen, es

würde Sie nicht stören, Ihren Namen zu verwenden. Sonst hätte mich niemand
vorgelassen. Sie haben ja behauptet, daß Sie viel Einfluß haben, und da es
weder gefährlich noch illegal oder skandalös ist, dachte ich, Sie hätten nichts
dagegen.“

„Ich verstehe nicht, was das Ganze soll, meine Kleine. Niemand versteht es.“
„Was ist daran so schwierig zu verstehen? Ich habe versucht, die Memoiren

des Generals zu veröffentlichen. Zunächst bin ich nur auf Ablehnung gestoßen,
trotz Ihres Namens. Wenn man Sie so schnell informiert hat, daß ich mich bei
meinen Bemühungen auf Ihre Bekanntschaft berufen habe, wofür ich mich
entschuldige, da es Ihnen nicht gefällt ..., diese Personen sollten aber auch
erwähnen, wie schlecht man mich behandelt hat. Wenn die Verleger Geld
wollten, dann hätten sie es sofort sagen sollen wie Mr. Chesterton.“

Immer, wenn er mit Miss Sydney verhandelte, hatte der Viscount das Gefühl,

einen wichtigen Punkt verpaßt zu haben. Vielleicht hatte er zu sehr auf ihren
Mund geachtet. „Nun mal langsam, Quälgeist! Ich habe mit Mr. Murray
gesprochen, und der hatte nur Lob für die Arbeit des Generals.“

„Sie kennen Mr. Murray?“
„Er ist ein guter Freund. Murray konnte es kaum abwarten, mich nach dem

Manuskript zu fragen. Er möchte sehr gerne mit dem General sprechen und
wünscht herauszufinden, ob es noch weitere Notizen gibt und ob vielleicht
jemand anderes die Arbeit vollenden kann.“

„Voll ... vollenden?“ Sydney war unter ihren Sommersprossen ganz blaß

geworden.

„Soll das etwa heißen, Sie haben das Manuskript nie gelesen? Sie haben

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versucht, ein Buch zu verhökern, das Sie nie gelesen haben? Sie Dummkopf!“

„Ich ... ich habe die ersten Seiten gelesen, mehr Zeit hatte ich nicht. Ich

kenne die Geschichten doch. Außerdem ist das erste Kapitel knochentrocken.“

„Dann würden Sie den Rest des Buches auch nicht mögen, Quälgeist!“
Sydney verstand nichts mehr. Sie bearbeitete ihre Unterlippe derartig, daß

Forrest fast wahnsinnig wurde. Er stand auf, drehte ihr den Rücken zu und
betrachtete eingehend eine Meißner Porzellanfigur auf dem Kaminsims. „Wie es
scheint, ist der General ein Perfektionist, aber kein Schriftsteller. Er hat es nicht
fertiggebracht, die aufregenden Geschichten, die er seiner Enkelin erzählt hat,
zu Papier zu bringen. Murray sagt, mit ein wenig Anleitung wäre es ein
wunderbares Buch geworden. Aber es ist wohl zu spät?“ fragte Forrest
vorsichtig. Sydney nickte nur.

„Das tut mir leid, Quälgeist“, versuchte Forrest zu trösten und trat wieder

neben sie.

„Es war dennoch ein guter Plan.“ Sie lächelte ihn zaghaft an.
Er nahm ihre Hand und führte sie an seine Lippen. „Ihr bester, Liebste.“
Sydney fühlte, wie ein heißer Schauer sie durchlief ... doch dann erfaßte sie

eine unbändige Wut. Sie riß ihre Hand zurück. „Dieser erbärmliche,
nichtswürdige, elende ...“

„Murray? Ich schwöre, er hat nicht ...“
„Nein, dieser Chesterton, der Verleger! Er will das Buch ... Er hat gesagt, es

wird bestimmt ein großer Erfolg. Er will es drucken, in braunem
Kalbsledereinband und Goldprägung ... mit meinem Geld! Dieser Schmarotzer
hat versucht, mich um meine gesamten Ersparnisse zu bringen! Wenn ich den
treffe, ich werde ...“

„Chesterton? Sie meinen nicht Otto Chester? Blaß, dünn, ein nervöses

Kerlchen?“

„Ja, aber sein Name ist ganz bestimmt Oliver Chesterton. Wieso? Wer ist Otto

Chester?“

Der Viscount schritt aufgeregt durch das Zimmer. „Eine Wanze, die ich

zertreten werde, wenn sie mir unter die Füße kommt. O. Randall und Partner!
Erinnern Sie sich? Der Hinterzimmerbankier? Otto Chester ist der Betrüger, der
Brennan hereingelegt und die gefälschten Schuldscheine Randall zum
Kassieren übergeben hat. Ich hätte nicht geglaubt, daß er soviel Dreistigkeit
besitzt ...“

„Sich von mir das Geld zu holen, das Sie ihm gestohlen haben?“ schrie

Sydney empört.

„Ich habe das verdammte Geld nicht gestohlen“, schrie er zurück. „Wie oft

soll ich es Ihnen noch sagen? Die haben sich das Geld unter falschem Vorwand
angeeignet; es gehörte ihnen nicht.“

„Ja, das werde ich denen erzählen, wenn sie das nächste Mal zum Tee

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kommen.“

Der General war aufgewacht und sah sich aufgeregt um. Sydney legte ihm

die Decke über die Beine und schob seinen Stuhl zum Fenster. Dann zog sie
Forrest energisch am Ärmel zur anderen Seite des Zimmers.

„Die kommen nicht mehr in Ihre Nähe. Dafür werde ich sorgen. Denen wird es

noch verdammt leid tun, daß sie es überhaupt versucht haben“, empörte
Forrest sich.

Sydney versuchte, die Ruhe zu bewahren. „Könnte ich nicht einfach das Geld

zurückzahlen? Vielleicht gehen sie dann.“

Der Viscount blitzte sie an: „Die werden für eine lange Zeit verschwinden

müssen.“

Sydney lachte nervös. „Ich hatte angenommen, Sie seien deren Partner.

Können Sie sich das vorstellen?“

„Fangen Sie damit nicht wieder an, Quälgeist. Sehe ich denn aus wie ein

Wucherer?“

Gesund, von der Sonne gebräunt, kräftig und vertrauenerweckend! Er hatte

nicht die geringste Ähnlichkeit mit Mr. Chesterton. Sie schüttelte den Kopf und
sah zu ihm hoch.

Er strich ihr ganz leicht mit der Hand über die Wange. „Danke, Liebste! Ich

möchte nicht, daß Sie mit diesem Gauner Kontakt aufnehmen. Ich werde mich
um alles kümmern. Seien Sie unbesorgt und vertrauen Sie mir.“

Vertrauen Sie mir! Wie kann ich einem Mann vertrauen, der von sich selbst
behauptet, er sei ein Frauenheld? Jemand, der mich unaufgefordert küßt!
Sydney war sich immer noch nicht sicher, ob er sie persönlich zur Rückzahlung
des Darlehens heranziehen wollte ... sehr persönlich. Sie war sich nicht einmal
sicher, ob sie sich weigern würde.

Natürlich werde ich das, sagte Sydney streng zu sich, als sie allein in ihrem

Zimmer war. Allerdings würde sich diese Frage erst gar nicht stellen, wenn sie
die unseligen Schulden ablösen könnte. Was würde geschehen, wenn sie frei
von dieser Last Forrest auf gleicher gesellschaftlicher Ebene begegnen könnte?
Eine Miss Lattimore aus Little Dedham sollte sich nicht anmaßen, einem Lord
Mayne ebenbürtig zu sein, aber man durfte ja mal träumen. Warum sollte sie
nicht einem Frauenhelden zu einem besseren Lebenswandel verhelfen können?
Alles drehte sich um das Geld. Egal, ob sie es einem unverbesserlichen
Wüstling oder einem Kriminellen schuldete, ihre Lage war schwierig. Sie konnte
sich erst wieder sicher fühlen, wenn sie keinem etwas schuldete. Aber wie?

Lord Mayne ließ das Haus der Lattimores bewachen. Er verständigte die
Zwillinge und befahl seinem Bruder, die jungen Damen abends nicht ohne
Begleitung zu lassen. Er beauftragte seine Leute, nach Randall Ausschau zu
halten; er selbst durchstreifte Spelunken und Spielhöllen auf der Suche nach

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Chester. Doch die beiden Gauner hatten sich verkrochen.

„Der Neffe von Lady Peaswell ... ein Verbrecher? Ich kann es nicht glauben“,
jammerte Bella, der Sydney das Riechfläschchen unter die Nase hielt.

„Es tut mir leid, Mrs. Ott. Sie sind genauso reingefallen wie ich. Der Mann ist

ein Betrüger.“

„Die arme Lady Peaswell“, schluchzte Bella in ihr Taschentuch.
„Ja, auch die vornehmen Familien haben ihre schwarzen Schafe. Durch Titel

und Geld sollte man sich nicht blenden lassen.“

„Wie wahr, wie wahr.“ Bella dachte an Lord Whitham, Chesters Vater, und

schluchzte noch lauter. „Ich bin einfach zu gutgläubig. Wie kann ich das nur
wiedergutmachen, Sydney?“

„Nun, ich habe folgenden Plan ...“

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18. KAPITEL

Es war ein eiskalter Tag, als Miss Sydney Lady Ambercrofts Salon aufsuchte.

Lady Ambercroft war eine junge Witwe, die für Aufregung in der Londoner

Gesellschaft sorgte und sich selbst ein kleines Vermögen erwarb, indem sie ihr
Heim in einen vornehmen Spielsalon verwandelt hatte. Sie war eine lebhafte,
attraktive Frau, die einen kränkelnden alten Mann wegen seines Vermögens
geheiratet und dann seinen Abgang gefeiert hatte, indem sie ihr schwer
verdientes Erbe mit vollen Händen ausgab. Sie sah immer noch gut aus, sie
besaß immer noch das Haus, und sie feierte immer noch. Sie stand auch immer
noch auf den Gästelisten der besten Kreise – so hatte Sydney ihre
Bekanntschaft gemacht. Auf Sydneys Frage, ob sie einen ihrer Spielabende
besuchen dürfe, hatte die Witwe freudig zugestimmt. Lady Windham und Miss
Lattimore seien stets willkommen. Sydney betrachtete dies als persönliche
Einladung. Lady Ambercroft verdiente ihr eigenes Geld, sie wurde nicht von der
vornehmen Gesellschaft geschnitten, und sie wohnte ganz in der Nähe der
Lattimores!

Tante Harriet hatte einen Musikabend geplant. Es fiel Sydney nicht schwer, sich
krank zu stellen. Diesmal machten sich ihre Kopfschmerzen schon bemerkbar,
bevor Trixie und ihre Freundinnen das Klavier malträtieren konnten. Größere
Schwierigkeiten bereitete es Sydney, Mrs. Ott zu überzeugen.

Bella haßte den Gedanken, daß ihre tausend Pfund in die Taschen einer

anderen Dame glitten. „Seiner Lordschaft wird das gar nicht gefallen. Wenn Sie
Karten spielen wollen, Kindchen, dann können wir auch zu mir fahren.“

„Er wird es nicht erfahren. Wir verlassen das Haus heimlich durch die

Hintertür und legen den kurzen Weg zu Fuß zurück. Ich will nur eine Stunde
dort bleiben.“ Das überzeugte Bella. In einer Stunde konnte diese kleine Närrin
keine tausend Pfund verlieren, ganz gewiß aber ihren guten Ruf.

Sobald Winnie und Mr. Mainwaring, begleitet von Wally und Annemarie, um

den Anstandsvorschriften genüge zu tun, gegangen waren, beeilte sich Sydney,
ihr ausgefallenstes Abendkleid anzuziehen. Es war aus bernsteinfarbener Seide
und hatte einen tiefen Ausschnitt und kurze Puffärmel. Darüber zog sie ein
schwarzes Cape, ihr auffälliges Haar verbarg sie unter der Kapuze, und die
Augen versteckte sie hinter einer Halbmaske.

Bereits zehn Minuten später wußte Sydney, daß sie einen großen Fehler

begangen hatte. Über ihr Erscheinen schien Lady Ambercroft durchaus nicht
glücklich zu sein. Dieser Grünschnabel konnte ihr Etablissement ruinieren. Die
alte Vettel, die Miss Sydney begleitete, glich eher einer Kupplerin als einer
Anstandsdame.

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So früh am Abend waren erst wenige Gäste anwesend. Bella nahm am

Kartentisch Platz und flüsterte Lady Ambercroft zu, daß sie ganz schön alt
aussähe, wenn nicht sofort ein paar Moneten in Richtung der lieben Bella
geschoben würden. Sydney ging währenddessen von Raum zu Raum, zählte die
Spieltische, prüfte die Erfrischungsräume und die Anzahl der Diener pro Tisch.
Die Männer an den Würfeltischen machten sich gegenseitig auf die Dame mit
der Maske aufmerksam. Vom Roulette-Tisch erhielt sie die Aufforderung, sich
hinter den einen oder anderen Spieler zu stellen, um ihnen Glück zu bringen.
Sie schüttelte nur stumm den Kopf und fuhr mit ihrer Besichtigung fort. Die
Kommentare, mit denen man sie bedachte, verstand sie glücklicherweise nicht.

Nach einiger Zeit glaubte Sydney, alle notwendigen Informationen zu

besitzen. Nur die Frage, ob die Kartengeber Angestellte oder Gäste waren, hatte
sie noch nicht gelöst. Sie fragte einen Herrn, der neben ihr am Faro-Tisch stand.
Er brüllte vor Lachen. Seine gelben Zähne erinnerten sie an den Esel des alten
Jeb in Little Dedham. „Leute, die junge Dame hier kennt die Spielregeln nicht.
Sollen wir sie ihr beibringen?“ Ein Mann mit einem Mausgesicht bot ihr
grinsend seinen Platz an.

„Nein danke, Gentlemen, ich bin nur zum Zuschauen gekommen. Meine

Bekannte ...“

„Die alte Vettel, die Vingt-et-un gespielt hat, die ist ohnmächtig geworden,

und wir haben ihr eine Droschke besorgt.“ Sydney drehte sich um. „Arme Bella,
ich muß ...“

„Sie ist schon eine ganze Zeit fort. Sie läßt Ihnen ausrichten, Ihr Lakai wird

Sie abholen.“

„Aber ich habe keinen ...“ Sydney sah in die lüsternen Gesichter. Oh, Gott, sie

war schon wieder im Schlamassel gelandet.

„Kein Problem, Madam“, schnaufte ein feister, schwitzender Mann. „Ich setze

für Sie“, und schob ihr einen Stapel farbiger Chips zu.

„Nein danke, ich kann nicht ...“ versuchte sie zu sagen und wollte gehen.

Doch ein dunkelhäutiger Mann mit einer Narbe unter dem Auge meinte, sie
müsse nach den Regeln des Hauses eine Runde spielen. Eselsgesicht stand
dicht hinter ihr, und eine hagere alte Frau mit einer Perücke à la Marie-
Antoinette drückte sie auf einen Stuhl. Sydney versuchte zu lächeln. Ich muß
nur warten, bis Lady Ambercroft auftaucht oder Bella einen der Minch-Brüder
schickt, machte sie sich Mut.

„Also gut, Gentlemen! Madam! Eine Runde!“
Jemand drückte Sydney ein Getränk in die Hand. Sie nippte daran und schob

das Glas zur Seite. Das Spiel begann. Sie hatte keine Ahnung vom Kartenspiel;
sie kannte weder die Spielregeln noch den Wert der Karten, sie konnte kein Pik
vom einem Kreuz unterscheiden. Ihre neuen Partner versicherten, es ihr schnell
beizubringen. Sie versuchte, die Instruktionen zu behalten, entschied sich dann

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aber, dem Vorgehen des fetten Mannes zu folgen, da er den höchsten Stapel
farbiger Chips vor sich liegen hatte. Als sie an die Reihe kam, die Karten
auszuteilen, wußte Sydney immerhin schon, worauf es bei dem Spiel ankam. Ihr
Stapel an Chips und Münzen war beträchtlich gewachsen. Spitzmaus sah sie
immer noch lüstern an, und Marie-Antoinette jammerte. Ihr Stapel wurde immer
kleiner ebenso wie der von Narbengesicht. Sydney, die blutige Anfängerin,
wollte die Leute nicht brüskieren, indem sie ihnen ihr Geld nahm. Sie stand auf.

„So, eine Runde ist um, jetzt muß ich wirklich gehen.“ Sie schob den Stapel

dem fetten Mann zu. „Ihr Gewinn, Sir! Danke! Ich habe ... hm, viel gelernt!“

„Nicht so schnell, Madam! Nicht mit unserem Geld!“ Narbengesicht grinste

sie an. Jemand anderes sagte: „Das ist nicht fair!“, und von dritter Seite tönte
es: „Das sind die Hausregeln!“ Die alte Dame legte ihre krallenartige Hand auf
Sydneys Schulter. Himmel, wo blieb bloß Willy? Und Lady Ambercroft?

Es war ein kalter, nebeliger Abend. Willy und der von Lord Mayne angeheuerte
Wächter saßen beim Würfelspiel in der Küche.

Lord Mayne war unruhig, daß weder Chester noch Randall aufzutreiben

waren. Auf dem Weg zu seinem Klub wollte er vorsichtshalber noch einmal in
der Park Lane vorbeischauen.

„Keine Aufregung, Herr!“ beruhigte ihn der Wachmann. „Ich bin ins Haus

gegangen, weil es anfing zu regnen. Die jungen Damen sind mit Ihrem Bruder
und Wally zur Tante gegangen sind. So gegen Mitternacht sind sie zurück.“

Willy schüttelte den Kopf. „Nein, Annemarie hat Winifred und Wally begleitet.

Miss Sydney ist oben. Sie hat Kopfschmerzen.“

Der Wachmann kratzte sich verlegen die Glatze. „Wer war denn die Person in

dem schwarzen Cape, die in Begleitung einer Frau die Straße
hinuntergegangen ist?“

Der Viscount stand fluchend in der Halle. Natürlich war Miss Sydney nicht in

ihrem Zimmer. Willy versuchte ihn zu überzeugen, daß sie schon
zurechtkommen würde.

„Zurechtkommen? Seit ich sie kenne, kommt sie nicht zurecht! Jetzt ist aber

Schluß! Diesmal mache ich reinen Tisch mit dem Frauenzimmer! Was habe ich
ihr befohlen? Nichts Gefährliches oder Illegales oder Skandalöses! Und was
macht sie? Sie haut mitten in der Nacht ab! Weiß der Himmel, wohin! Und
weshalb? Etwa, um die Kronjuwelen zu stehlen? Und ich stelle auch noch einen
Wachmann vor ihr Haus! Ans Bett hätte ich die Kröte fesseln sollen!“ Er schob
sich den Hut tiefer ins Gesicht. „Nicht mit mir! Sie soll ruhig kommen und mich
wie ein Unschuldslamm mit diesen braunen Augen ansehen! Diesmal wirkt das
nicht! Ich gehe!“

Er drehte sich noch einmal um, als der Wachmann leise in sich hineinlachte.

„Und du bist gefeuert! Wenn du mir die Nachricht bringst, daß sie sicher wieder
zu Hause ist, kannst du dir deinen Lohn holen!“

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Sein Klub war fast leer. Einige ältere Herren spielten Whist, und einige junge
Stutzer probierten Schnupftabak.

„Wo sind denn die anderen?“ fragte Forrest einen einsamen Gentleman, der,

vor sich die Flasche, ausgestreckt in einem Ledersessel lag.

„Einige mußten zu Lady Windhams Musikabend, einige sind bei einer

Vorstellung in Covent Garden. Die Spieler probieren ihr Glück in dieser neuen
Hölle von Lady Ambercroft.“

Das brauche ich jetzt, entschied der Viscount und lächelte in Erinnerung an

seine romantische Affäre mit Lady Rosalyn Ambercroft. Lady Rosalyn würde ihm
die Gedanken an Sydney Lattimore ein für alle Male vertreiben, selbst wenn er
dafür noch einmal durch den Regen mußte.

Wenn Seine Lordschaft sich vielleicht schon einmal in das Kartenzimmer
begeben möge, Ihre Ladyschaft stünde ihm sicherlich später zur Verfügung,
schlug der Butler mit einem Augenzwinkern vor, als er Forrest Hut und
Handschuhe abnahm.

Habe ich es nötig, für ein Flittchen Schlange zu stehen, entrüstete sich der

Viscount im stillen. Aber was soll’s, jetzt bin ich einmal hier. Ein paar Glas von
Rosalyns bestem Cognac werden mich aufwärmen, und in der Zwischenzeit
kann ich ja mal schauen, ob irgendwo ein interessantes Spiel läuft.

Er warf eine Münze aufs Roulette, spielte eine Runde Vingt-et-un und

entschloß sich weiterzugehen, da ihm die Spitzenstulpen des Kartengebers
nicht gefielen. Um den Faro-Tisch schien man sich zu drängen, deshalb begab
sich der Viscount in diese Richtung. Unterwegs blieb er noch am Würfeltisch
stehen und setzte erfolgreich auf die Zahl seines Freundes Collingwood. Forrest
klimperte mit dem Gewinn in der Hand und setzte seinen Weg zum Faro-Tisch
fort. Alle Plätze waren besetzt, die Zuschauer standen in Zweierreihen hinter
den Spielern. Der Viscount ging zur anderen Seite. Von dort habe ich eine
bessere Sicht, entschied er. In aller Ruhe nahm er noch ein Glas Champagner
vom Tablett eines Dieners und wandte sich dann dem Geschehen auf dem
Spieltisch zu.

Die Münzen glitten ihm aus der Hand, er ließ das Glas fallen, und der Sekt

floß über seine hellen Pantalons. „Zum Teufel!“

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19. KAPITEL

Es war düster im Raum, und sie trug die schwarze Maske. Zunächst war er sich
nicht ganz sicher, aber dann drehte sie den Kopf, und eine dieser kupferroten
Locken schimmerte im Kerzenlicht.

Lord Maynes erster Impuls war zu verschwinden. Wenn Miss Lattimore ihren

guten Namen verlieren will, überlegte er, ist das ganz allein ihre Sache. Ich
habe nichts damit zu tun! „Bitte, meine Herren!“ hörte er sie mit vibrierender
Stimme sagen. „Ich möchte wirklich nicht mehr spielen. Sehen Sie, ich habe
auch kein Geld mehr. Sie haben alles zurückgewonnen.“ Seine Füße
gehorchten dem Viscount nicht, obwohl sein Verstand ihm sagte, schleunigst
schnell das Etablissement zu verlassen.

Ein Kerl mit scharfen Gesichtszügen bot an, einen Schuldschein zu

akzeptieren, und ein grotesk dicker Mann behauptete, sie schulde ihm zwanzig
Pfund für seinen Einsatz. Lord Mayne beschloß, Sydney noch eine Weile
schmoren zu lassen. Das sollte ihr eine Lehre sein! Doch dann sah er rot.

„Nein, ich schulde niemandem etwas!“ erklärte Sydney. „Ich werde weder

Geld noch Ratschläge von Ihnen annehmen. Ich gehe jetzt nach Hause.“ Sie war
sich nicht sicher, ob diese Halunken sie gehen ließen; sie wußte nicht einmal,
ob ihre Füße ihr gehorchen würden. Entschlossen schob sie ihr Kinn vor. Nur
keine Angst zeigen! „Ich glaube nicht, daß Sie fair spielen, meine Herren!“ In
diesem Moment warf jemand eine Rolle Münzen über ihre Schulter in Richtung
auf den Dicken. Sie drehte sich um und wollte gehen, bevor sie in noch größere
Schwierigkeiten geriet. „Ich wollte nicht ...“ Es verschlug ihr Sprache, als sie
sah, wer hinter ihr stand. Sie holte tief Luft. Rettung in Sicht! Beinahe hätte
Sydney ihren Retter umarmt; doch dann bemerkte sie sein versteinertes
Gesicht.

Sydney kramte in ihrem Retikül nach ein paar Schillingen. „Vielleicht sollte

ich doch noch eine Runde spielen.“

Eine weitere Rolle Münzen wurde auf den Tisch geworfen und landete

diesmal direkt vor Sydney. „Neue Karten!“ donnerte Lord Mayne. „Die Dame
gibt!“

Sydney brauchte sich nicht auf die Spielregeln zu konzentrieren. Der Viscount
tippte mit seinem Monokel auf die Karte, die sie ausspielen sollte, und flüsterte
ihr die Höhe des Einsatzes zu. Niemand sprach, denn die Spieler mußten auf ihr
eigenes Blatt achten. Die maskierte Dame machte das Spiel, und Maynes Ruf
sorgte dafür, daß keine zotigen Bemerkungen über die unbekannte Spielerin
gemacht wurden. Es war ein ehrliches Spiel.

Automatisch bewegte Sydney ihre Hände, während sie die Karten zu den

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Spielern schob, die Münzen und Chips bewegte, den Gewinn einsammelte. Der
Berg vor ihr wuchs, ebenso ihre Furcht vor der unnatürlichen Stille. Die Karten
klebten ihr an den feuchten Händen.

Sollte das Spiel für ewige Zeiten so weitergehen? Sie drehte sich um: „Bitte,

lassen Sie mich jetzt nach Hause gehen!“

Der Viscount winkte einen Diener herbei, der sofort eine seidene Geldtasche

für den Gewinn brachte. Lord Mayne schob einige Chips als Anteil für das Haus,
einige für das Personal beiseite, und dann nickte er einem der Croupiers zu, den
Rest in Bargeld umzutauschen. Das Klirren der Münzen war das einzige
Geräusch. Erst dann zog Forrest Sydneys Stuhl zurück, half ihr hoch, nahm
ihren Arm und führte sie gemessenen Schrittes, ohne Eile, ohne ein Wort aus
dem totenstillen Raum. Sie konnte das Flüstern hören, das hinter ihrem Rücken
einsetzte. Er nickte einigen Freunden zu, schnitt andere Gäste, die versuchten,
ihn anzusprechen.

Nach einer Ewigkeit erreichten sie die Eingangshalle. Mit einer knappen

Geste verlangte Lord Mayne nach Hut und Handschuhen; seine Kutsche wurde
vorgefahren und der Gewinn gebracht.

Der Anblick der prallen Geldbörse mit den Münzen schien die Wortflut zu

lösen, die Forrest hatte zurückhalten wollen, bis sie allein waren. Plötzlich
kümmerte ihn nicht mehr, wer zuhörte, so wütend war er. Er drückte ihr die
Tasche in die Hand und donnerte: „Hier, Madam! Ich hoffe, das Gold war den
Abend wert. Sie haben Ihren Ruf verspielt und die Zukunft Ihrer Schwester! Nur
um eine Schuld zu begleichen, die es gar nicht gibt!“

„Aber meine Ehre ...“
„Ihre Ehre soll mir gestohlen bleiben. Es ist nicht unehrenhaft, ein Geschenk

anzunehmen, wenn man es braucht. Was ist Ihre Ehre gegen Ihren guten Ruf?
Alles, was in Ihren Kräften steht, haben Sie getan, um Ihren guten Namen in
den Schmutz zu ziehen!“

Sydney zitterte wie Espenlaub, nur sein Arm hielt sie noch aufrecht. Sie

mußte es ihm erklären. „Der Haushalt zählt auf mich. Was sollte ich denn tun?“

„Verdammt noch mal, Sie hätten mich für Sie sorgen lassen sollen!“ schrie er

zur Erbauung der Diener und der vielen Spieler, die ihnen gefolgt waren.

Sydney schüttelte seinen Arm ab, ihr Gesicht war dunkelrot. „Danke, Mylord!

Jetzt können Sie ganz sicher sein, daß ich völlig ruiniert bin.“ Sie öffnete die
Geldtasche, drehte sie um, und die Münzen prasselten ihm vor die Füße, rollten
durch das Marmor-Foyer. Ein Lakai verharrte bewegungslos in seiner Position,
die anderen krochen emsig über den Boden, um das Geld einzusammeln.

„Davon möchte ich keinen Penny, weder von Ihnen noch von diesem üblen

Laden. Ich habe es nicht verdient, und ich würde es ... oder Sie ... nicht
nehmen, selbst wenn ich verhungern oder meine Schwester waschen gehen
müßte“, rief sie, als sie an dem Butler vorbeilief, der mit offenem Mund an der

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Tür stand, und in der regnerischen Nacht verschwand.

„Das habe ich nicht gewollt“, murmelte der Viscount, doch nur der Lakai, der

ihm die wieder gefüllte Geldtasche reichte, hörte es. Gedankenverloren gab
Lord Mayne ihm eine Münze, und dann blickte er auf die Menge, die sich in der
Halle versammelt hatte, und wiederholte so laut, daß es jeder hören konnte:
„Das habe ich nicht gewollt!“ Die Spieler sahen sich vielsagend an. „Verdammt!
Lassen Sie es mich anders ausdrücken! Heute abend hat sich nichts
Außergewöhnliches ereignet. Jeden, der etwas anderes behauptet, werde ich
fordern. Ebenso jeden, der meint, den Namen der Dame, falls er ihn kennt,
nennen zu müssen. Degen, Pistolen, Fäuste, was Sie wollen! Und nun, gute
Nacht, Gentlemen!“ Würdevoll verließ er das Haus.

Auf der Straße rief er ihren Namen, und Sydney lief schneller. Er hatte sie

eingeholt, bevor sie die Park Lane erreicht hatte, aber sie lief stur weiter. Er fing
sie ein und schubste sie samt der Geldtasche in die Kutsche, die ihm gefolgt
war. Bevor er selbst einstieg, befahl er dem Kutscher, eine Extrarunde um den
Park zu drehen und erst dann zu Miss Lattimores Haus zu fahren. Dann nahm
Forrest mit über der Brust gekreuzten Armen auf dem Sitz ihr gegenüber Platz.

Sydney zog das Cape, das ein Lakai ihr gebracht hatte, fester um ihre

Schultern. Jetzt, da sie nicht mehr so wütend war, begann sie zu frieren, es war
feucht, und sie fühlte sich elend. Von Lord Mayne war bestimmt kein Trost zu
erwarten, so wie der dasaß. Wie eine Marmorstatue, stattlich, aber kalt!

„Ich werde es nicht nehmen“, sagte Sydney ruhig und schob die Börse

zurück. „Ich käme mir beschmutzt vor.“ Er nickte. „Ich werde Ihnen das
Darlehen zurückzahlen, denn ich möchte Ihnen nicht zu Dank verpflichtet sein.“

Er nickte wieder. „Ja, das habe ich vermutet. Doch sagen Sie, haben Sie

wirklich die Absicht gehabt, durch Spielen die restliche Saison Ihrer Schwester
und den Haushalt zu finanzieren und mich auszuzahlen? Nicht einmal Sie
können so hirnverbrannt sein und glauben, das wäre möglich. Wissen Sie denn
nicht, daß das Haus immer gewinnt? Am Ende hätten Sie nur noch mehr
Schulden!“

Sydney versuchte, etwas von ihrer verlorengegangenen Würde

wiederzugewinnen. Sie zog ein kleines Notizbuch aus der Tasche. „Ich bin nicht
der Dummkopf, für den Sie mich halten, Mylord. Ich bin nicht dorthingegangen,
um zu spielen, sondern um zu beobachten. Ich wollte wissen, wie ein solches
Unternehmen geführt wird. Sehen Sie, ich habe mir Notizen gemacht über das
Personal, die Räumlichkeiten und die Spieltische. Ich dachte, wenn es ganz hart
kommt, könnten wir das Erdgeschoß unseres Hauses in einen Spielsalon
verwandeln. Natürlich nur für geladene Gäste.“

Der Viscount unterdrückte ein Schmunzeln: „Natürlich!“
„Behandeln Sie mich nicht so herablassend, Mylord. Im Prinzip habe ich

recht. Wie Sie gesagt haben, das Haus gewinnt immer. Ich habe gesehen, daß

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Lady Ambercroft es zu Reichtum gebracht hat, warum sollte mir das nicht
gelingen? Sie sorgt für sich selbst und wird immer noch von jedermann
gesellschaftlich akzeptiert.“

Forrest wollte nicht die verschiedenen Möglichkeiten, mit denen die schöne

Rosalyn ihr Geld verdiente, erläutern. „Lady Ambercroft ist eine Witwe, und Sie
sind eine junge Debütantin. Ja, sie wird akzeptiert, aber wegen des Titels ihres
Mannes, trotz ihrer gegenwärtigen Beschäftigung! Willkommen ist sie nicht!
Gentlemen wie Baron Scoville dulden nicht, daß ihre Zukünftigen in
verqualmten Räumen Karten mischen. Sie mögen noch nicht einmal
Schwiegereltern, die sich im Handel engagieren. Gar nicht zu denken an eine
Schwester, die einen Spielsalon betreibt.“

„Ach, Baron Scoville habe ich schon lange von der Liste gestrichen. Ich

mochte ihn nie, und meine Schwester scheint ein Auge auf Ihren Bruder
geworfen zu haben. Ich dachte, er wäre ein guter Kartengeber, da er sich ja in
diesem Geschäft auskennt. So könnten wir die Ausgaben reduzieren, und er
hätte ein respektables Einkommen und bräuchte nicht seine Karriere bei der
Armee zu machen.“

„Ein respektables ...“ Vor Lachen konnte Forrest nicht weitersprechen.

„Quälgeist, Sie haben wirklich eigenartige Ideen. Brennan gehören zwei kleine
Landgüter, und von unserer Mutter hat er auch noch ein schönes Erbe zu
erwarten. Die Countess droht mit Siechtum, wenn er zur Armee geht. Aber wenn
sie wüßte, daß er ein Glücksritter am grünen Tisch werden sollte, dann würde
sie ihm selbst das Offizierspatent kaufen. Doch herzlichen Dank, Liebste, daß
Sie sich so um einen anderen Lebenswandel für meinen Bruder sorgen. Als
Croupier!“ Forrest mußte wieder lachen.

Sydney wollte beide zu einem besseren Lebenswandel führen, Forrest

Mainwaring und Brennan. Sie mußte eine andere Strategie anwenden,
insbesondere da sie nun auch lachen mußte.

Lord Mayne rutschte auf ihre Sitzbank hinüber und legte seinen Arm um

Sydney. „Hören Sie zu, Quälgeist! Wir sind doch Partner?“ Sydney konnte nicht
umhin zuzustimmen. „Dann habe ich doch auch ein Wörtchen mitzureden, wie
das Geld angelegt wird?“ Sie nickte, und die Kapuze fiel herunter. Er nahm ihr
die Maske ab und strich ihr eine feuchte Locke von der Wange. „Dann verbiete
ich, daß unser Geld zur Eröffnung eines Spielsalons benutzt wird. Egal wie
vornehm er sein mag. Verstanden?“

„Keine Sorge, Lord Mayne. Nach diesem Abend ziehe ich das nicht mehr in

Betracht.“

„Ich heiße Forrest, meine Liebe. Mittlerweile kennen wir uns gut genug, um

die formellen Anreden zu vergessen.“

Sydney hatte das Gefühl, daß sie sich zu gut kannten. Ihre Wange brannte

von seiner Berührung. Sie zitterte und versuchte, so weit wie möglich auf dem

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Ledersitz von ihm abzurücken.

Forrest war nicht völlig überzeugt, daß sie ihren jüngsten Plan aufgegeben

hatte. Die Vorstellung, sie noch einmal an einem solchen Ort zu finden, machte
ihn rasend. Barsch erklärte er: „Sie wissen ja, daß es dem General das Herz
brechen würde, wenn sich seine Enkelin als Besitzerin eines Spielsalons
etablieren würde.“

„Sein Herz ist gebrochen, als er eine Enkelin und keinen Enkelsohn bekam.

Ich dachte, er könne den Roulette-Tisch bedienen“, meinte sie kichernd.
„Niemand würde ihm zutrauen, daß er unter dem Tisch das Rad mit dem Fuß
anhält.“

Forrest war überzeugt, daß sie seine Warnung immer noch nicht ernst nahm.

„Quälgeist, wenn Sie so etwas noch einmal erwähnen, dann lege ich Sie übers
Knie. Ich werde das tun, was man schon vor Jahren getan haben sollte, ich
werde Ihnen Verstand einbleuen. Vielleicht ist es ja noch nicht zu spät.“ Er sah,
daß sie vor Kälte zitterte – oder vor seiner Drohung? – und zog sie auf seinen
Schoß. Sydney protestierte, bis er ihren Mund mit seinen Küssen verschloß.

Sie ließ ihn gewähren. Ja, sie erwiderte sogar seine Küsse und genoß seine

Liebkosungen. Die Umarmung hätte ewig dauern können, doch sie waren zu
Hause angelangt, und Willy – oder war es Wally? – öffnete die Kutschentür. Der
Diener wurde wütend, als er seine junge Herrin auf dem Schoß Seiner
Lordschaft sah und zog sie wie ein junges Kätzchen aus der Kutsche. Er starrte
den Viscount angriffslustig an. Forrest, der nicht herausfinden wollte, welcher
der beiden Zwillinge vor ihm stand, klopfte mit seinem Stock an das Dach der
Kutsche und lächelte, als sie sich in Bewegung setzte.

Der Wächter, den er selbst bezahlte, rief ihm nach: „Mylord, Sie haben mir

nicht gesagt, daß ich sie auch vor Ihnen schützen muß!“

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20. KAPITEL

Sydney hatte eine Grippe und damit einen Vorwand, sich zunächst einmal nicht
in der Öffentlichkeit zu zeigen. Doch bald hatte es sich herumgesprochen, daß
die jüngere der beiden Lattimore-Schwestern krank war, und es trafen
Blumenarrangements und Obstkörbe von Verehrern ein. Wie durch ein Wunder,
das wohl Lord Mayne hieß, war Sydney auch diesmal davongekommen, ohne
ihren Ruf zu schädigen. Sie fühlte sich wirklich krank. Ihre Nase lief, ihre Pläne
waren schiefgegangen, ihr Verstand hatte ausgesetzt, und ihr Herz war verwirrt.
Warum muß ich mich unter all den Männern in London in den einzigen ohne
Prinzipien verlieben, fragte sie sich. Warum muß ich mich in seiner Gegenwart
immer vergessen? Er kann mir mit seiner Fürsorge gestohlen bleiben, schimpfte
sie und zog sich die Decke über den Kopf.

Sie weigerte sich, Besucher zu empfangen – außer einem, aber der erschien

nicht. Winifred kam und meldete Mrs. Ott. „Sie sitzt wehklagend unten und
behauptet, es sei ihre Schuld, daß du krank bist. Sie läßt sich nicht abwimmeln.
Großvater ist etwas durcheinander von ihrem Geheule.“

Als Sydney sich angekleidet hatte und nach unten kam, befahl sie Winnie,

dem General aus der Zeitung vorzulesen, und begab sich selbst mit Bella und
einem Gläschen Sherry ins vordere Zimmer.

„Oh, meine Liebe, ich schäme mich ja so. Was müssen Sie von der armen

Bella denken? Einfach so davonzurennen und Sie in der Räuberhöhle
zurückzulassen! Meine Nerven! Seit dem Tod des Majors bin ich nicht mehr
dieselbe. Das Spiel und diese Männer haben mir richtig zugesetzt. Ich wußte
sofort, es war kein Ort für unsereins.“

„Ja, leider war ich nicht richtig informiert“, unterbrach Sydney den

Wortschwall. „Es gibt wohl keine vornehmen Spielsalons. Aber weshalb haben
Sie mir denn nicht gesagt, daß Sie sich nicht wohl fühlten?“

„Gott sei mein Zeuge, ich wollte es. Doch auf dem Weg zu Ihnen hat mich ein

Mann schamlos gekniffen. Können Sie sich das vorstellen?“

Eigentlich nicht, denn Bella glich eher einem Rollmops. Sie goß Bella noch

ein Glas Sherry nach. „Sie sollten einen Arzt aufsuchen!“

„Habe ich schon, meine Liebste. Er meint, es sei die Aufregung gewesen.

Egal, ich erinnere mich nur noch, daß Lady Ambercroft eine Kutsche rufen ließ
und mir versicherte, sich um Sie zu kümmern, bis Ihr Diener einträfe. Dem
Droschkenkutscher habe ich meine Adresse gegeben und gesagt, er solle an
der Park Lane vorbeifahren, so daß ich Bescheid sagen konnte. Oh, ich schäme
mich ja so!“ Sie begann wieder zu heulen.

„Beruhigen Sie sich doch, Bella. Denken Sie daran, was der Arzt gesagt hat.

Erzählen Sie mir, was dann geschehen ist.“

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„Eine Maus!“
„Eine Maus?“
„Es hatte doch geregnet. Der Kutscher hat eine frische Lage Stroh auf den

Boden gelegt, um die Kutsche sauberzuhalten. Ich schwöre, ich habe sie
gehört.“

„Die Maus?“
„Mein Mann hat mich immer Hasenherz genannt.“
„Sicherlich hat er es nicht böse gemeint.“
„Ich habe meine Pflicht versäumt, Kleines. Sie war genau zu meinen Füßen.

Ich habe geschrien, bin auf den Sitz gesprungen, und mein Herz hat rasend
geklopft, und dann ist mir schwarz vor Augen geworden. Erst in meinem
Wohnzimmer bin ich wieder zu mir gekommen. Sofort habe ich meinen Diener
mit einer Nachricht zu Ihrem Haus geschickt. Sagen Sie der armen Bella, daß er
rechtzeitig gekommen ist. Man hat Sie doch nicht beleidigt, oder“, sie zitterte
am ganzen Leib, „sich Ihnen gar auf schändliche Weise genähert?“

„Wie Sie sehen, geht es mit gut“, antwortete Sydney. Es war ihr

unangenehm, die Ereignisse des Abends noch einmal zu wiederholen. „Willy
hat die Nachricht bekommen und mich sofort abgeholt, kurz nachdem Sie
gegangen waren.“ Es waren die längsten Minuten in ihrem Leben gewesen,
aber es gab keinen Grund, die arme Mrs. Ott noch mehr zu beunruhigen,
deshalb sagte Sydney nur: „Es war kein schöner Abend, aber wir haben ihn ja
beide überstanden; zurückgeblieben ist nur diese Grippe, und deshalb
entschuldigen Sie mich jetzt bitte ...“

„Natürlich, Kleines.“ Bella ließ sich ihre Wut nicht anmerken und hievte sich

aus dem Sessel. „Sagen Sie mir nur noch, was ist aus Ihrem Plan, einen
Spielsalon zu eröffnen, geworden?“

„Ach, dieses Haus ist absolut untauglich dafür. Allerdings bin ich erstaunt,

daß Sie keine Warnung ... Egal! Ich bin entschlossen, mir keine Sorgen mehr
über Geld zu machen, der nächste Tag wird es schon bringen.“

Bella hatte noch nie im Leben so einen Unsinn gehört.

Sydney erkannte, daß ihr eigener Stolz ihr wichtiger war, als das Glück ihrer
Schwester. Den Anblick des langweiligen Lord Scoville für den Rest des Lebens
allmorgendlich beim Frühstück ertragen zu müssen, konnte man niemanden
zumuten. Nein, beschloß Sydney, wenn Winnie Brennan Mainwaring heiraten
will, werde ich sie nicht daran hindern. Falls Brennan beim General um Winnies
Hand anhält, gewiß eine erinnerungswürdige Unterhaltung, dann muß ich wohl
Brennan beiseite nehmen und mit ihm den Ehevertrag aushandeln. Sollte er
wirklich zwei Landgüter besitzen, wird er sicher erlauben, daß der General und
ich auf einem wohnen. Dafür werde ich auch die netteste Tante für seine und
Winnies Kinder werden, schwor Sydney sich. Wenn Mainwaring so warmherzig
ist, wie der Viscount behauptet, sollte es ihm auch nicht schwerfallen, seinem

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eigenen Bruder die Summe zurückzuzahlen, die seine Braut für Seide und
Spitzen verbraucht hat. Lord Mayne kann das Geld den beiden ja als
Hochzeitsgeschenk zurückgeben, und alle sind zufrieden, beendete sie ihre
Überlegungen.

Die Vorstellung, den Rest ihres Lebens auf dem Lande zu verbringen und für

die blauäugigen schwarzhaarigen Sprößlinge ihrer Schwester zu sorgen, war so
deprimierend, daß Sydney für einen weiteren Tag im Bett blieb. Danach fühlte
sie sich schon viel besser und ließ sich mit heißer Schokolade und ihrer
Lieblingslektüre aus der Leihbibliothek versorgen.

Forrest meldete sich zwei Tage nicht. Die Gerüchte, die über ihn und Sydney
kursierten, wurden dadurch zwar etwas entschärft, aber er selbst fand keinen
Seelenfrieden. Er mußte ständig an dieses unmögliche Mädchen denken. Es war
ein törichtes Leiden, das man mit Alkohol, Schlaf und Vergessen, mit Rückkehr
zur Tagesordnung und Arbeit behandeln konnte. Doch nichts half. Er
vernachlässigte seine Korrespondenz, delegierte die Arbeiten an die
Gutsverwalter, schob finanzielle Entscheidungen auf. Immer war er in Sorge,
was sich die kleine Hummel, dieser Quälgeist, als nächstes einfallen ließ.

Ich muß an ihrer Seite bleiben, das ist die einzige Möglichkeit, wie ich sie vor

weiteren Schwierigkeiten bewahren kann, dachte Forrest. Er raufte sich die
Haare bei dem Gedanken, wie Sydneys stürmisches Temperament und ihr
Einfallsreichtum seinen wohlgeordneten Tagesablauf durcheinanderbringen
würden. Hatte sie dies nicht schon getan? Sie trieb ihn zur Verzweiflung.
Tagein, tagaus zusammen mit Sydney? Nein, sagte er sich, bloß keine Ehefrau!
Schon gar keine, die so lebhaft und unlogisch ist, Eigenschaften, die er
überhaupt nicht schätzte. Brennan ist mein Erbe, ich brauche keine Frau! Ich
führe ein ruhiges, ausgefülltes Leben, ich brauche kein Chaos. Aber die Nächte
mit Sydney? Vielleicht würden die sein Leiden heilen!

Es war Mittwoch, da ging man zu Almack’s. Forrest observierte die Halle durch
sein Monokel und merkte sehr wohl, daß er selbst das Objekt des allgemeinen
Interesses war. Weshalb war sie nicht da? Herrje, dachte er ungehalten, habe
ich nicht dafür gesorgt, daß sie ihre Eintrittskarte für diese langweilige
Veranstaltung behält? Das wenigste, was sie tun kann, ist, die Gastgeberinnen
nicht vor den Kopf zu stoßen. Wenn ich mich ihretwegen schon anstarren
lassen, die Schmeicheleien und die Katzbuckelei ertragen muß, wenn man mit
mir flirtet, über mein Einkommen und mein Liebesleben redet, dann könnte sie
wenigstens hier sein und einen Walzer mit mir tanzen.

Statt dessen tanzte er den Walzer mit der guten alten Sally Jersey, die sich

aufgrund dieser Auszeichnung das Recht herausnahm, Fragen zu stellen. „Sie
halten doch nicht nach jemand Besonderem Ausschau, mein Lieber?“

„Wie könnte ich, wo ich doch schon die allerliebste Dame in meinen Armen

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halte?“

„Zweimal in einem Monat auf dem Heiratsmarkt? Man könnte denken, Sie

sind auf Brautschau!“

Er führte sie mit Eleganz über das Parkett und beendete den Tanz mit einer

letzten Drehung. „Schweigen ist Gold, und Damen sollten niemals denken!“ Er
verbeugte sich und folgte seinem Bruder, der Winifred von der Tanzfläche
führte.

„Miss Lattimore“, begrüßte er sie mit Handkuß. „Sie sind bezaubernd wie

immer! Das Parlament sollte beschließen, Ihr Porträt den Truppen nach Spanien
zu schicken, damit die Soldaten wissen, wofür sie kämpfen. Ich werde es
meinem Vater vorschlagen.“

Doch anstatt „oh, la la“ zu flüstern, mit den Wimpern zu klimpern oder ihn

kokett mit dem Fächer zu schlagen, errötete Winnie und antwortete: „Danke,
aber ich glaube, die tapferen Männer muß man daran nicht zu erinnern. Sydney
meint, Sie brauchen eher festes Schuhwerk. Vielleicht könnten Sie das
weitergeben!“

Forrest konnte sich gut die Reaktion vorstellen, wenn er dem Earl Sydneys

wohlbegründete Meinung weitergab, daß der Krieg nicht richtig vorbereitet war.
Dann überlegte er, wie angenehm es war, daß beide Lattimore-Schwestern
nicht ständig zu flirten versuchten. Hoffentlich änderte sich das nicht mit
zunehmendem Alter.

„Miss Sydney ist über das Kriegsgeschehen gut informiert, sie liest dem

General aus der Zeitung vor“, erläuterte Brennan. „Sie meint, ich solle mir gut
überlegen, ob ich in die Armee eintrete. Der Krieg sei bestimmt bald zu Ende,
behauptet sie.“

Forrest enthielt sich jeglichen Kommentars, auch wenn er es seltsam fand,

daß Brennan auf Miss Sydney hörte, anstatt auf seine Eltern oder seinen älteren
Bruder. Er bemerkte nur: „Erinnere mich, Miss Sydney zu danken! Oh, ist sie
nicht hier?“

„Nein, Sydney ist krank“, erklärte Winnie. „Morgen geht es ihr sicher wieder

besser. Darf ich ihr bestellen, daß Sie nach ihr gefragt haben?“

„Ich bitte darum.“ Schade, dachte er, während er einige weitere, höfliche

Worte des Mitgefühls äußerte. Ein gebrochenes Bein würde sie länger von
Schwierigkeiten fernhalten, aber eine Erkältung war fürs erste auch nicht
schlecht, überlegte Forrest. Kurz darauf verließ er grinsend die Veranstaltung
und verursachte dadurch noch mehr Gerüchte. Er hatte nur mit einer jungen
Dame getanzt.

Lord Mayne ging zu White’s. In dieser Männerenklave konnte er ausspannen,
eine Zigarre rauchen, einen Cognac genießen, ein oder zwei Spiele Pikett
spielen. Er horchte auf den Klatsch, für den Fall, daß Sydneys letzte Episode
erwähnt würde. Nichts! Er seufzte erleichtert und bestellte sein Abendessen.

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Als er aus dem Speisesaal zurückkehrte, war der Klub in heller Aufregung. Da

er wußte, daß Sydney sicher zu Hause im Bett lag, schlenderte er zu einer
Gruppe, die lautstark nach sofortigen Maßnahmen verlangte.

„Der Krieg?“ fragte Forrest seinen Freund Castleberry.
„Nein, Wegelagerer. Hast du das nicht gehört? Letzte Nacht sind fünf

Kutschen in Hounslow Heath überfallen worden. Heute abend schon wieder
drei.“

„Die Polizei wird die Kerle schon fassen.“
„Das ist es ja gerade, Mayne. Es ist eine Dreierbande: zwei Männer und eine

Frau.“

Von allen Seiten redete man auf den Viscount ein. Wie bezeichnete man

einen weiblichen Räuber? Wegelagerin? Straßenräuberin? Lord Mayne saß in
seinem Sessel und hielt sich die Ohren zu. Es war zum Verzweifeln! Er wußte
genau, wie man eine Frau nannte, die sich bei Nacht auf der Straße aufhielt
und Kutschen ausraubte: Sydney!

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21. KAPITEL

Der Viscount fuhr nach Hause und zog seine älteste Jacke und Reithosen an. Er
steckte nur ein paar Pfund ein, dafür aber zwei Pistolen in seinen Hosenbund.
Dann verlangte er nach seinem schnellsten Pferd und ritt durch Nacht und
Nebel hinaus nach Hounslow Heath. Er wurde unverzüglich festgenommen.

Die Haft dauerte zwei Nächte und zwei Tage. Zwei schlaflose Nächte in einer
rattenverseuchten, stinkigen Zelle zusammen mit ungewaschenen
Trunkenbolden und Verbrechern. Zwei ermüdende Tage mit flegelhaften
Polizisten, unwissenden, sadistischen Verwaltungsbeamten und aufgeblasenen,
wichtigtuerischen Richtern. Dann gab man ihm Gelegenheit, sich vor einem der
politischen Freunde seines Vaters zu blamieren und zu erklären, weshalb ein
Angehöriger des Hochadels einen Wegelagerer mimte.

Er ging gar nicht erst nach Hause, um sich auszuruhen, zu essen, zu waschen,

die schmutzigen Kleider zu wechseln. Er ließ sich nicht aufhalten, als Griffith
versuchte, ihm die Tür vor der Nase zuzuschlagen.

Brennan, der im Wohnzimmer saß, sprang hoch: „Um Gottes willen, Forrest!

Was ist geschehen? Wo bist du gewesen?“

Forrest blickte zu Winnie auf dem Sofa, die errötend versuchte, ihr Haar in

Ordnung zu bringen. „Ich verstehe“, meinte er trocken.

Brennan bückte sich nach einer Haarnadel. „Nicht, was du denkst, Forrest.

Wir wahren den Anstand.“ Er deutete auf den General, der im Halbschlaf in der
Ecke saß.

Lord Mayne wußte, da war nichts mehr zu machen. Was ging’s ihn an? „Wo

ist Sydney?“

„Sie macht einen Besuch. Aber keine Sorge, die Zwillinge begleiten sie“,

erklärte Brennan.

Siedendes Öl würde nicht reichen, aufs Streckbett sollte man sie legen und ...

Der General klopfte ungeduldig auf seine Armlehne, und als er Lord Maynes
Aufmerksamkeit hatte, wies der alte Mann mit zitternder Hand auf die
Rückseite des Hauses.

„Danke, Sir!“ sagte Forrest mit einer höflichen Verbeugung. In der Küche

fand er nur Mrs. Minch. Ein Blick in das finstere Gesicht Seiner Lordschaft, und
sie deutete zur Hintertür.

In dem kleinen Garten im Hinterhof fand eine Versammlung von livrierten

Dienern und Pferdeknechten statt. Willy und Wally saßen in Hemdsärmeln an
einem alten Tisch. Forrest sah nur Sydney! Seine Miene wurde steinhart, als er
sie genauer betrachtete.

Miss Sydney trug die Kleidung eines Stalljungen: loser Kittel, Reithosen, eine

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Strickmütze. Sie saß auf einem leeren Faß, lachte übers ganze Gesicht ... und
zählte einen Haufen Münzen und Scheine vor sich auf einem umgedrehten
Weidenkorb.

Forrest fegte Tisch, Faß und Korb beiseite und stürzte auf sie zu. Er hob sie

am Hemdkragen hoch und schüttelte sie wie eine nasse Katze. Wally sprang
auf, die riesigen Fäuste zum Kampf bereit. Willy griff zu einem herumliegenden
Knüppel.

„Ihr zwei haltet euch zurück! Ihr kommt auch noch dran!“ wütete Seine

Lordschaft und hielt Sydney immer noch am Kragen in der Luft. „Keine Angst,
ich bringe die kleine Schlange schon nicht um. Das überlasse ich dem Henker.“

Grinsend rückten sie den Tisch wieder zurecht und überließen Sydney ihrem

Schicksal. Die trat um sich und schrie: „Lassen Sie mich los, Sie Unhold!“

Er stellte sie unsanft auf den Boden, packte sie mit eisernem Griff bei den

Schultern und schüttelte sie wieder. „Was ... zum Teufel ... haben Sie ...
gemacht?“

Sydney zielte vergeblich mit ihrem Holzschuh nach seinem Schienbein. Er

griff noch fester zu. Sie versuchte, ihn wieder zu treten. „Zu Ihrer Information,
Sie brutaler Mensch, die Jungen und ich, wir haben eine neue Geldquelle
gefunden. Wir laden zu Ringkämpfen ein. Ich bin der Schiedsrichter.“

„Sie sind was?“
„Ja, Buchmacher, Schiedsrichter, alles! Ich bin ganz gut. Lassen Sie Dampf

ab, Euer Lordschaft, ich habe das Gelände nicht verlassen, und diese Männer
sind alle meine Freunde. Schließlich mußte ich eine Beschäftigung finden, denn
mit meiner roten Nase konnte ich auf keine Einladung gehen, und keiner kam
mich besuchen.“

Ihre Nase war wirklich gerötet. Er lockerte seinen Griff und trat einen Schritt

zurück. „Haben Sie mich wirklich vermißt?“ fragte er verblüfft und trat noch
einen Schritt zurück, um ihren Tritten auszuweichen. „Sie waren nicht in
Hounslow Heath?“

„Natürlich nicht! Da läuft eine Räuberbande rum ... Wieso? ... Oh, Sie ... Sie

...! Sie haben geglaubt, ich raube Kutschen aus? Sie glauben, ich stehle! Sie ...“
Ihr fiel nichts mehr ein.

Der Viscount verteidigte sich: „Sie haben geglaubt, ich sei ein Geldverleiher

und ein Frauenheld.“

„Sie sind es, und Sie bleiben es!“ schrie sie, trat abermals, traf seine

Kniescheibe und rannte wie der Blitz ins Haus. Willy und Wally räumten auf und
kümmerten sich um Seine Lordschaft.

„Vermutlich muß ich zu Kreuze kriechen?“ fragte Forrest kleinlaut.
Willy und Wally sahen ihn grinsend an. Der Viscount wußte, was sie dachten.

Er stöhnte. Sydney würde eine grandiose, aber anstrengende Countess werden!

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22. KAPITEL

Der Viscount tat das, was jeder tapfere Mann tut, wenn die Dinge außer
Kontrolle geraten: Er bat seine Mutter zu kommen. Natürlich wegen Brennan!

Die Countess reiste mit Gefolge. Zwei Kutschen für Ihre Ladyschaft, ihre

Hunde und eine Zofe; drei weitere Wagen vollgepackt mit Garderobe und
Dienstboten. Lady Mansfield hatte den Zeitpunkt ihrer Ankunft genau geplant:
zur mittäglichen Ruhezeit des Earls wollte sie erscheinen. Diese Stunde war ihm
heilig.

Hamilton Mainwaring, Earl of Mansfield, träumte gerade von einer brillanten

Rede, als seine Frau in Mainwaring House einfiel. Diener transportierten
Gepäckstücke und Hunde. Hunde, wohin man sah. Sie waren alle in der Halle,
japsend, jaulend und kläffend sprangen sie aufgeregt durcheinander.

Der Wutausbruch des Earls war so ganz nach dem Herzen seiner Frau; das

Klirren fliegenden Porzellans machte die Unbequemlichkeit der Reise wett. Lady
Mansfield konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen und rief fröhlich: „Hallo,
Liebling! Hier bin ich! Freust du dich?“

Die Feindseligkeiten wurden nach dem Tee aufgenommen, als der Earl
feststellte, daß der Besuch der Gattin kein Nachgeben, sondern ein taktisches
Manöver war. Er bemerkte schnell, daß sie nicht nach London gekommen war,
weil sie endlich eingesehen hatte, daß ihr Platz an der Seite ihres Mannes war;
nein, sie war angereist, ihm zu sagen, alles sei wieder seine Schuld, vom Staub
auf den Kronleuchtern bis zum Krieg mit Napoleon.

Brennan erinnerte sich an eine dringende Verabredung und verließ

fluchtartig das Palais. Forrest ließ sich den ganzen Tag nicht blicken. Sie war ja
nicht seinetwegen in London.

„Weshalb bist du denn gekommen, wenn diese Frage einem Ehemann

erlaubt ist?“

Lady Mansfield wartete, bis das kostbare Wedgewood-Teegeschirr abgeräumt

war. „Ich bin hier, weil mein Ehemann das Leben meiner Söhne ruiniert!“

„So?“ antwortete der Earl aufbrausend „Und was tust du? Du bindest sie an

deinen Rockzipfel! Du läßt Forrest nach deiner Pfeife tanzen. Du erlaubst nicht,
daß Brennan zur Armee geht. Und ich soll ihr Leben ruinieren?“

„Ja, du! Du wohnst doch hier? Oder? Bekommst du nicht mit, daß der Name

Mainwaring in aller Munde ist? Was hast du unternommen? Nichts? Du läßt zu,
daß Habenichtse, schlechterzogene Abenteuerinnen ihre Klauen nach deinen
Söhnen ausstrecken?“

„General Lattimore ist ein geachteter Mann.“
„Vor zwanzig Jahren war er ein aufbrausender, ständig betrunkener

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Griesgram. Ich kann mir kaum vorstellen, daß er sich geändert hat.“

Der Earl räusperte sich. „Ihre Mutter ist eine Windham; kein Name, dessen

man sich schämen muß.“

„Lange Nasen und die Neigung zu frühem Ableben! Ich kannte die Mutter, ein

schwächliches, unbedeutendes Ding. Kein Wunder, daß sie so früh ins Gras
gebissen hat. Keine Widerstandskraft!“

Der Earl meinte sich zu erinnern, Mrs. Lattimore sei bei einem Kutschunfall

ums Leben gekommen. „So, du kennst die Familie also? Sonst hätte ich mir
auch nicht vorstellen können, daß der Junge verbreitete, du seist an den Mädels
interessiert.“

Die Countess spitzte die Lippen. „Konntest du nicht? Er hat den Verstand

verloren. Das haben ihm die Kleinen eingeflüstert. Sie wollen sich im ton
etablieren. Ich habe die Mutter nur einmal getroffen, auf einer Reise, wenn du
dich erinnerst. Elizabeth Windham war viel jünger als ich. Mein Vetter Trevor
lag ihr zu Füßen; sie hatte diese zerbrechliche Schönheit, bei der Männer immer
den Verstand verlieren. Aber Elizabeth hat ihn verschmäht und ist mit dem
jungen Lattimore durchgebrannt. Sie hat Trevor das Herz gebrochen, und er ist
kurz darauf gestorben. Schon allein deshalb ist es wohl nicht sehr
wahrscheinlich, daß ich ihre Küken protegiere.“

Der Earl wußte genau, daß Trevor an Schwindsucht gestorben war. „Ich

glaube nicht, daß sie dir zur Last fallen. Harriet Windham hat bereits dafür
gesorgt, daß sie auf den Gästelisten aller vornehmen Familien stehen.“

„Das habe ich sofort vermutet, daß diese Kneifzange dahinter steckt.

Versucht, reiche Ehemänner für ihre Nichten zu angeln. Wen hat sie denn wohl
für ihr Bläßchen ins Auge gefaßt? Meine Söhne wird die nicht kriegen!“

„Die ältere Miss Lattimore soll eine Schönheit sein“, versuchte der Earl

abzulenken.

Doch auch davon wollte seine Frau nichts hören. „Ich hoffe, ein Mainwaring

besitzt genügend Verstand, nicht auf ein schönes Gesicht hereinzufallen. Diese
dummen Schönheiten werden schlechte ... was heißt das, soll eine Schönheit
sein? Hast du sie denn noch nicht gesehen, diese Frauen, die sich deine Söhne
angeln wollen? So wenig sorgst du dich? Was bist du nur für ein Vater?“

„Natürlich sorge ich mich!“ schrie der Earl mit hochrotem Kopf.
Die Countess rannte zum Kaminsims und kam mit einer Bronze zurück. „Hier,

wirf die“, sagte sie. „Ein Hochzeitsgeschenk von deiner Tante Lydia. Ich mochte
sie nie.“

Der Earl stellte die Bronze vorsichtig wieder auf ihren Platz. „Ich weiß,

deshalb habe ich sie auch aufbewahrt.“ Dann drehte er sich lächelnd zu seiner
Frau um: „Ach, mein Sonnenschein, wie habe ich dich vermißt.“

Die Countess errötete, und das in ihrem Alter! „Sussex ist doch nicht so weit.“
„Beim letzten Mal fühlte ich mich nicht sehr willkommen; ich fand einen

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Hund in meinem Bett und mußte im Gästezimmer schlafen.“

„Versuch nicht, das Thema zu wechseln, Hamilton! Was ist mit den Jungen?“
„Laß es gut sein. Sie sind erwachsene Männer. Natürlich sorge ich mich um

sie, aber sie müssen auch ihre eigenen Fehler machen. Genau wie wir!“

„Und wohin hat uns das gebracht?“
Ja, ja!“ sagte er vieldeutig, und sie war froh, daß sie das lila Kleid gewählt

hatte – so wie er sie mit diesem ganz besonderen Leuchten in den Augen ansah.

„Aha! Kümmern wir uns erst einmal um die Sprößlinge, danach das andere!“

Lady Mansfield war nicht erstaunt, daß sie zur Teezeit Lady Windham bei den
Lattimores antraf. Sie war nur überrascht, wie sehr sie nach all den Jahren diese
Frau immer noch verabscheute. Wie sie mich begrüßt und jetzt den Lattimore-
Mädchen befiehlt, sich um die weniger vornehmen Gäste zu kümmern. Wie sie
vor mir und meinem Sohn katzbuckelt, stellte Ihre Ladyschaft ungehalten fest.
Aber die Mandeltörtchen, die ihr angeboten wurden – von den Töchtern des
Hauses, wohlgemerkt! – waren vorzüglich.

Lady Mansfield tupfte sich die Krümel vom Mundwinkel. „Meine liebe Harriet,

wir haben uns seit Jahren nicht gesehen. Doch jetzt möchte ich Elizabeths
charmante Töchter kennenlernen.“

„Natürlich. Ich stelle sie Ihnen später vor.“ Lady Windham verzog die Lippen

zu einem säuerlichen Lächeln.

Lady Mansfield zögerte keine Sekunde: „Alleine! Sofort!“
Nachdem die Windhams gegangen waren, fragte Brennan spöttisch: „Darf ich

bleiben, oder bin ich auch unerwünscht?“

„Du darfst mir diese attraktive Dame, mit der du geflirtet hast, vorstellen,

und dann kannst du dich zurückziehen!“

„Attraktiv? Mutter, sie ist das bezauberndste Mädchen der Welt. Warte erst,

bis du sie zu Pferde siehst!“

„Was, diese Porzellanpuppe?“
Brennan strahlte; die Countess fühlte sich an ihr erstes Treffen mit seinem

Vater erinnert. „Sie ist ein richtiges Landkind, Mutter. Sie weiß alles über
Blumen. Ich kann es gar nicht erwarten, ihr unsere Gärten zu zeigen. Und was
mag sie wohl von Onkel Homers altem Besitz halten?“ Die Countess seufzte, es
war zu spät.

Auch sie war entzückt von Winifred. Sie ist nicht nur hübsch, sondern hat

auch ein angenehmes Wesen, nicht verwöhnt und natürlich, stellte Ihre
Ladyschaft fest, nur leicht befangen. Ihr blieb nicht verborgen, daß Winifred
immer wieder zu ihrer Schwester blickte, die sich um den Großvater und die
übrigen Gäste kümmerte. Nun, Winifred konnte keine glänzende Konversation
machen, aber auch als liebende Mutter sah die Countess in ihrem Sohn
Brennan keinen großen Geist. Unglaublich, aber es schien, als habe der Junge
eine Perle gefunden. Ohne mütterliche Hilfe! Sie entließ die Kleine, um ihren

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Sohn von einer langweiligen Unterhaltung mit einem schöngeistigen
Rosenkavalier in einem flaschengrünen Anzug zu erlösen.

Bevor die Countess ihre nächste Beute suchen konnte, knickste das Mädchen

bereits augenzwinkernd vor ihr! „Hat sie die Zustimmung Ihrer Ladyschaft
gefunden?“ fragte die freche junge Frau mit einem spitzbübischen Grinsen.
Hübsche Grübchen, ein fröhliches Augenpaar und kurze Locken ... Aha! Das war
die Erklärung für das Haarbündel, das ihr Sohn mit sich herumschleppte. Nicht
ganz, deshalb fragte die Countess nach.

„Mein Haar? Äh, hmm ... es tut mir leid, Lady Mansfield, aber das kann ich

nicht erklären. Ich könnte schon, aber ich glaube, ich sollte nicht. Ich war
irgendwo, wo ich nicht hätte sein sollen, und Lord Mayne war auch da. Er hat
mir geholfen. Sie sollten aber nicht schlecht von ihm denken, daß er dort war,
oder daß er sich nicht ganz so wie ein Gentleman benommen hat.“

Nicht ganz wie ein Gentleman? Ihr ach-so-korrekter Sohn? Die Countess war

fasziniert von Sydneys ungekünstelter Art und tätschelte ihr die Hand. „Meine
Liebe, eine Mutter denkt nie schlecht über ihren Sohn. Es sind immer die
Nachkommen der anderen, die man verurteilt.“

Sydney lächelte spitzbübisch. „Das glaubt Ihr Sohn auch! Immer wenn er

wütend oder halsstarrig wird, gibt er mir die Schuld.“

Wutausbrüche? Launen? Forrest war der ausgeglichenste Mensch, den Lady

Mansfield kannte. Seit Jahren versuchte sie, ihn zu provozieren; sie schaffte es
nicht. Ja, das war ein Mädchen nach ihrem Geschmack. „Miss Lattimore, mögen
sie Hunde?“

Die Countess kehrte nach Hause zurück, um den Earl zu loben, daß er einmal im
Leben das Richtige getan und für seine Söhne die perfekten Bräute gefunden
hatte. „Ausgezeichnet, Liebster! Ausgezeichnet!“ gratulierte sie ihm vor dem
Dinner bei einem Glas Sherry.

„Ich dachte, sie seien Habenichtse!“
„Ach, wer redet denn vom Geld? Noch ist allerdings nichts geregelt; ich

dachte, ich sollte in der Stadt bleiben und die Sache in die Hand nehmen.“

Der Earl gab vor, das Porträt eines Vorfahren zu betrachten. „Solltest du,

meine Liebste?“

„Gewiß! Wenn es dich nicht zu sehr von deinen Pflichten abhält, ab und zu

brauche ich deine Begleitung, nur um zu zeigen, daß wir beide diese
Verbindung begrüßen.“ Der Earl stellte seinen Sherry ab und bot ihr seinen
Arm, um sie zum Dinner zu geleiten. „Die Familie ist das Opfer wert. Auf mich
kannst du zählen, meine Liebste“, sagte er mit einer Verbeugung.

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23. KAPITEL

Als Viscount Mayne ins Frühstückszimmer schaute, saß seine Mutter bei einer
Tasse Schokolade, summte lächelnd ein Lied und schrieb an irgendwelchen
Listen. Er trat vorsichtig ein und paßte auf, daß er nicht auf einen dieser
kleinen pelzigen Bettler trat, die um den Frühstückstisch der Countess
lungerten und auf Leckereien warteten.

„Guten Morgen, Mutter“, begrüßte er sie und gab ihr einen Kuß auf die Stirn,

bevor er sich am Büfett bediente. „Du bist früh auf. Haben dich die Geräusche
von London aufgeweckt?“

Seine Mutter errötete. „Danke, ich habe gut geschlafen. Ich wollte nur mit

deinem Vater reden, bevor er in sein Arbeitszimmer geht.“

Der Viscount sah sich nach Scherben um. „Und mit dir, bevor du wie üblich

ausreitest und Schwierigkeiten aus dem Weg gehst.“

„Ich sollte wohl nach frischem Kaffee läuten“, sagte er verlegen und betätigte

den Klingelzug.

„Er ist frisch, mein Lieber. Setz dich! Ich möchte mit dir über meine

Dinnereinladung sprechen.“

„So lange willst du in London bleiben? Vater wird erfreut sein.“
„Ja, ich habe vor, ein paar Gäste einzuladen, um Miss Lattimore unseren

engsten Freunden vorzustellen.“

Forrest setzte sich vor Schreck. Sydney den Klatschbasen aussetzen? Weiß

der Himmel, was ihr wieder einfiel, wenn er nicht aufpaßte. „Brennan hat
erzählt, daß du in der Park Lane gewesen bist. Gefallen sie dir?“

Die Countess sah von ihrer Liste auf. „Natürlich! Das hast du doch

beabsichtigt mit deinem Brief. Die beiden wären ja absolut ruiniert, wenn ich
die Verbindung jetzt wieder abbrechen würde. Nach dem Theater, das du
inszeniert hast.“

Forrest ging nicht darauf ein. „Dann hast du nichts dagegen, daß Miss

Lattimore arm wie eine Kirchenmaus ist?“

Lady Mansfield legte die Feder nieder. „Ich hoffe doch sehr, ich habe meine

Söhne nicht in dem Glauben erzogen, daß Geld glücklich macht. Außerdem
wird Brennans Einkommen einmal für einen ganzen Harem ausreichen.“

„Und ihre Familien. Du glaubst also nicht, daß sie Mitgiftjägerinnen sind?“
„Unsinn! Sie dir das Mädchen doch einmal an“, antwortete die Countess

stirnrunzelnd, als ob sie niemals auf so einen Gedanken kommen könnte. „Ich
glaube, sie und ihre Schwester haben sich recht gut über Wasser gehalten,
wenn man sich vorstellt, welche Hilfe ihnen die knauserige Tante gewesen ist.
Sie selbst hat ein ganzes Haus voller unterbezahlter Angestellter, und ihre
Nichten arbeiten wie die Dienstmädchen. Sie hat doch bestimmt mehr als eine

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Equipage, und trotzdem läßt sie die Mädchen mit einer Mietkutsche fahren.
Unerhört! Aber ich habe bereits Schritte unternommen, das zu ändern. Der Earl
ist einverstanden. Möchte nur wissen, was Lady Windham davon hält, wenn der
ton erfährt, daß beinahe Fremde ihren Verwandten freie Fahrt gewähren.“

Forrest blieb der Toast im Halse stecken. Das war das erste Mal, daß die

Mainwarings einer Meinung waren. Was mag Sydney wohl von dieser
Großzügigkeit halten, fragte Forrest sich. Bei ihrem leicht zu verletzenden
Stolz?

„Ich bleibe im Hintergrund, Forrest. Brennan wird es ihr beibringen. Sie ist ja

schließlich seine Braut.“

„Du bist einverstanden, Mutter? Auch wenn es keine glänzende Verbindung

ist?“

„Wer sagt denn, daß sie das nicht ist? Sie macht ihn glücklich. Was könnte

ich mehr wünschen? Stell dir mal vor, was für wundervolle Kinder sie haben
werden. Ich kann es kaum erwarten, ob sie dunkel wie Brennan oder hell wie
Winifred werden.“

Forrest bediente sich vom Büfett. „Ich bin erleichtert, daß du sie so charmant

findest, Mutter.“

„Ja, und ich habe auch nichts dagegen, daß sie ihre eigene Meinung äußert.“
„Eigene Meinung? Winnie? Wenn das Mädchen einen eigenen Gedanken hat,

dann habe ich den nie gehört.“

„Wer sagt denn, daß ich von Miss Lattimore spreche? Ich meine Miss Sydney,

die mehr Verstand als Haare besitzt. Ich verwette meinen besten Hut, daß du
nach mir gerufen hast, damit ich die Sache mit dieser erfrischenden jungen
Dame in Ordnung bringe.“

„Entnervend ist sie! Das wandelnde Unglück, stets am Rande eines Skandals!

Deshalb habe ich nach dir geschickt, damit sie Winnies Heiratschancen nicht
auch noch zunichte macht. Sydney kann einen geradezu rasend machen, sie
steckt ständig bis zu ihrem hübschen kleinen Hals in Schwierigkeiten.“

„Ja, mein Lieber, deshalb bist du auch bis über beide Ohren in sie verliebt“,

meinte die Countess trocken und wandte sich wieder ihren Listen zu.

Forrest ließ erschrocken die Gabel fallen. „Ich? In Sydney verliebt? Unsinn!

Wer sagt denn das? Sie ist ein wildes Füllen, das sich kaum zähmen läßt. Dafür
bin ich zu alt.“

„Natürlich. Deshalb schleppst du auch ihr Haar mit dir herum, von London

nach Sussex und zurück.“

„Ich dachte, das Haar hätte dich in Sussex gestört“, erklärte er und hoffte,

daß er nicht rot wurde. „Der König sei mein Zeuge, mehr steckt wirklich nicht
dahinter.“

„Keine Schwüre, Forrest! Du wirst schon noch erkennen, was dir dein Herz

sowieso schon sagt. Dein Vater hat auch nicht geglaubt, daß er mich liebt, bis

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ich es ihm gesagt habe. Nur warte nicht zu lange, Forrest, Miss Sydney kann
auch andere Verehrer finden.“

Der Kaffee war kalt geworden. Forrest stellte seinen Teller auf den Boden –

für die Hunde – und stand auf. „Sicherlich kannst du mit der Haushälterin die
Einzelheiten für die Dinnereinladung besprechen. Vaters neuer Sekretär scheint
auch ganz fähig zu sein; wenn du mich brauchst, stehe ich zu deiner
Verfügung.“

Sie beugte sich wieder über ihre Listen. Doch bevor er die Tür hinter sich

schloß, rief sie ihm nach: „Übrigens, Forrest, ich habe Miss Sydney einen Hund
geschenkt.“

Er blieb fassungslos im Türrahmen stehen. „Mutter, haßt du mich wirklich so

sehr?“

Liebe? Lord Mayne dirigierte sein Pferd durch den Verkehr, galoppierte auf der
üblichen Strecke und gab dem kastanienbraunen Wallach im Schatten der
Bäume die Zügel frei. Er nahm seine Umgebung kaum wahr. Mitten im
geschäftigen Treiben Londons war er tief in Gedanken versunken. Die
Symptome eines Verliebten habe ich schon, stellte er fest. Ich bin nicht fähig,
einen klaren Gedanken zu fassen. Vermutlich liebe ich sie. Ach, die
entscheidende Frage ist doch eine ganz andere: Liebt sie mich? Ihren Küssen
nach zu urteilen, bin ich ihr nicht gleichgültig. Aber man weiß nie, wo man mit
ihr dran ist, mal verachtet, mal respektiert sie mich. Manchmal sieht sie mich
an, als sei ich ein komischer Kauz. Vielleicht hat sie ja recht. Herrje, ich habe
mehr Tritte als Küsse von diesem Wildfang bekommen! Mutter glaubt, Sydney
liebt mich. Ach, was ist die Meinung einer so wankelmütigen, unlogischen Frau
schon wert? Wahrscheinlich viel, entschied er und ließ das Pferd wieder
antraben. Noch eine Frau, die ich nie verstehen werde. Der Earl meint, man
solle es erst gar nicht versuchen. Die Countess hatte ihnen immer gepredigt,
daß Anstand, Erziehung und Bildung das Wichtigste wären. Jetzt war sie
hocherfreut, so einen kleinen Teufel als Nachfolgerin in Betracht zu ziehen.
Sydney als Countess? Das bedeutete, er mußte Sydney heiraten!

Der Fuchs scheute, verwirrt von den unkonzentrierten Befehlen des Reiters.

Mit fester Hand brachte Forrest ihn wieder unter Kontrolle. „Entschuldige, alter
Junge! Ich habe geträumt. Weißt du einen Rat?“ Das Pferd schüttelte die Mähne
und fiel in einen leichten Galopp.

Als sie eine schattige Allee erreichten, ließ er den Wallach wieder im Trab

gehen und dachte angestrengt nach. Wenn Sydney mich liebt, sollte ich sie
heiraten. Sie würde niemals eine Zweckehe eingehen; nicht seine feurige,
gefühlsbetonte Sydney! Aber wenn Winnies Zukunft gesichert war, brauchte
Sydney überhaupt nicht zu heiraten, denn Brennan würde für sie und den
General sorgen.

Aber wenn sie mich liebt, wird sie mich heiraten. Ich muß sie nur fragen,

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überlegte er weiter. Und wenn sie ablehnt? Was, wenn diese kleine Göre es
ablehnt, mich, den Viscount Mayne, einen der begehrtesten Junggesellen
Londons, zu ehelichen? Davon würde ich mich nie erholen! Nein, sie wäre eine
Närrin, Titel, Reichtum, Anerkennung abzulehnen. Oh, je, ich wäre erledigt. Ich
wäre die Zielscheibe des Spottes, wohin ich auch käme.

Ach, ich muß einfach mein Glück versuchen, sprach er sich Mut zu. Ich werde

sie fragen. Doch wann? Wann kann ich mit Sydney alleine sprechen? Mutter hat
die beiden Mädchen doch mit Einladungen überhäuft. Die Countess duldet
auch nicht den Anschein eines Skandals. Forrest dachte an das
Geldverleihergesindel. Er ließ das Haus der Lattimores immer noch bewachen
und weiterhin in London nach Randall und Chester suchen. Nur an seiner Seite
war Sydney sicher, aber das verhinderte ja seine eigene Mutter.

Vielleicht könnte ich am Abend des Verlobungsdinners von Brennan und

Winnie alleine mit Sydney sprechen? Nein, keine so gute Idee! Es müßte ein Ort
sein, wo wir ungestört wären. Irgendwo, wo ich das Leuchten ihrer
haselnußbraunen Augen sehen könnte. Wo ich sie fragen könnte, ob sie mit mir
auf Mansfield Manor leben will ... Mansfield Manor, das ist der passende Ort!

Zum Ende der Saison werden wir alle zusammen nach Sussex reisen.

Brennans Hochzeit mußte vorbereitet werden. Ja, Mansfield Manor ist der
richtige Ort ... dort werde ich um ihre Hand anhalten. Die Weihnachtszeit ist
aufregend, es finden Feste in der Nachbarschaft statt, unter den Mistelzweigen
darf man sich küssen, das gesamte Schloß ist festlich geschmückt. Wir werden
Ausflüge machen, Ilexzweige und Kaminholz holen, Geschenkkörbe zu den
Pächtern bringen, Blumen für die Kirche binden ... bestimmt werde ich die
passende Gelegenheit finden. Vielleicht liegt auch schon Schnee ... Forrest war
so aufgeregt, daß er es kaum erwarten konnte, Sydney sein Schloß, ihr
zukünftiges Heim zu zeigen.

Seine Mutter hatte unrecht, es gab keinen Grund zur Eile. Er konnte warten,

auf die rechte Zeit und den rechten Ort. Er lächelte zufrieden und trieb den
Wallach zu einem mittleren Trab an. „Laß uns nach Hause gehen, alter Junge!“

Plötzlich scheute das Pferd, stieg und machte einige kurze Sprünge. Forrest

konnte sich nur mit viel Glück und reiterlichen Fähigkeiten halten. Der Hut fiel
ihm vom Kopf. Er brachte den Wallach wieder unter Kontrolle und tätschelte
ihm den Hals. Da entdeckte er am Ohr des Tieres eine Blutspur. Er stieg ab und
hielt den Fuchs fest am Zügel. „Zum Teufel, was ist das?“ Das Ohr des Wallachs
hatte einen blutigen Riß. Forrest sprach beruhigend auf das Tier ein und führte
es den Weg zurück, zu der Stelle, an der er seinen Hut verloren hatte.
Forschend blickte er sich um, ins Gebüsch, hinter die Bäume. Es gab genügend
Verstecke für einen Hinterhalt. Dann sah er etwas blitzen. Ein Messer steckte in
einem Baumstamm, genau in der Höhe seines Kopfes. Der Angriff hatte ihm
gegolten. „Verdammt“, fluchte er leise über seine eigene Dummheit.

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Der Angreifer muß lange verschwunden sein, entschied Forrest, steckte das

Messer ein und stieg wieder auf sein Pferd. Er ritt den Weg noch einmal
aufmerksam zurück. Nur eine gebeugte alte Frau mit Stock und Kopftuch fiel
ihm auf. Sie saß auf einer Steinbank und fütterte Tauben.

„Guten Tag, Mütterchen“, rief der Viscount. „Haben Sie jemanden gesehen,

der mir gefolgt ist?“

„Was, Söhnchen?“ fragte das alte Weib.
„Ob Sie jemanden gesehen haben, der mir gefolgt ist? Jemand

Verdächtiges?“

„Nein, nein!“ Die Alte schüttelte den Kopf. „Mein Augenlicht ist schon lange

nicht mehr gut.“

Forrest warf ihre eine Münze zu und ritt davon.
Die dicke alte Frau nahm fluchend ihr Kopftuch von ihrem kurzgeschnittenen

roten Haar und warf wütend die Brille zu Boden.

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24. KAPITEL

Die Countess hatte ihre Zustimmung gegeben. Winnie war im siebten Himmel.
Nur Sydney war nicht glücklich.

Sie brauchten nicht mehr jeden Penny umzudrehen. Sie und der General

waren eingeladen, entweder mit Brennan und Winnie in Hampshire oder mit
dem Earl und der Countess in London und Sussex zu leben. Es gab also keinen
Grund zur Besorgnis. Doch Sydney wußte, was sie berunruhigte. Sie wollte nicht
von Almosen leben. Sie wollte nicht die arme Verwandte sein, die am
Mantelsaum ihrer Schwester hing. Sydney mochte die Countess sehr, aber sie
konnte sich nicht vorstellen, daß sie sich in einem fremden Haushalt wohl
fühlen würde. Insbesondere in einem, in dem Porzellan zerschlagen wurde und
der älteste Sohn höchstwahrscheinlich irgendwann einmal eine Braut ins Haus
bringen würde. Oh, nein, an diese Möglichkeit wollte sie erst gar nicht denken.

Sydney biß sich auf die Lippen. Sie hatte ihren Stolz verloren. Die

Verantwortung übernahmen nun die Mainwarings, wenn auch mit den besten
Absichten, aber auch mit besserem Erfolg. Sie fällten die Entscheidungen für
sie, sorgten für ihren Lebensunterhalt. Sie fuhr sogar in ihrer Kutsche. Sydney
war wieder die kleine Schwester. Das paßte ihr überhaupt nicht.

Irgendwie war ihr Leben inhaltslos geworden, trotz all der Ausflüge und

Einladungen; trotz all der Dienstmädchen, Diener und Boten, die die Countess
für Winnie als notwendig erachtete. Keine Pläne, keine Tagträume und
Phantasien beschäftigten mehr Sydneys Gedanken. Immer hatte sie in
Aufregung oder Hoffnung gelebt, das Gefühl, verantwortlich für sich und ihre
Lieben zu sein, verspürt. Jetzt fühlte sie ... nichts.

Eine noch größere Leere fühlte Sydney in ihrem Herzen. Er kam mit seiner

Mutter nur noch zu kurzen Höflichkeitsbesuchen. Er bat sie stets nur um einen
Tanz, und er hielt ihre Hand nie länger als notwendig. Er kommandierte sie
nicht mehr herum, er schrie sie nicht mehr an. Er gab ihr nicht mehr alle
möglichen Namen, und er machte ihr auch keine unschicklichen Anträge mehr.
Er mochte sie eben nicht mehr.

Dann mochte sie ihn eben auch nicht mehr. Basta! Wenigstens Princess

liebte sie. Sie war ein entzückender Hund, immer fröhlich, stets zum
Spazierengehen und Spielen aufgelegt. Princess war nicht wie ein Mann, auf
den man sich nicht verlassen konnte, mal heißblütig, dann wieder abweisend
kühl.

Sogar der General hatte seine Freude an dem kleinen Hund. Wenn Sydney

abends ausging, hielt Großvater Princess stundenlang auf dem Schoß und
streichelte ihr seidiges Fell. Sydneys kupferrotes Haar hatte den gleichen
Farbton wie das Fell ihres Hundes. Im Park erregten sie viel Aufsehen, genau

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wie die Countess vorausgesagt hatte.

„Wir schnappen sie uns im Park, da ist sie nicht von einer Armee von
Dienstboten umgeben.“ Randy hatte wieder neue Zähne bekommen, diesmal
waren die unteren Zähne zu lang, so daß er jetzt Ähnlichkeit mit einer
Bulldogge hatte.

„Ohne mich, Mama“, winselte Chester ängstlich. „Es ist viel zu riskant, sie aus

London wegzuschaffen. Vergeßt doch das blöde Geld!“

„Ruhig, Angsthase! Wir holen uns nur noch das Mädel und nehmen die

Postkutsche nach Dover. Glaub mir, er wird zahlen. Danach verbreiten wir ihre
Selbstmordabsichten, weil er sie ruiniert hat. Aus! Er ist am Ende!“ erklärte
Bella ihren Plan.

Chester war noch bleicher geworden, als er üblicherweise schon war. „Mama,

du willst sie doch nicht umbringen?“

„Nee, der Trampel soll ruhig nach England zurückschwimmen und uns an den

Galgen bringen.“ Randy übte Messerwerfen. Eine Klinge landete gefährlich
nahe an Chesters Fuß.

„Ohne mich! Mit Mord will ich nichts zu tun haben. Mayne wird uns bis ans

Ende der Welt verfolgen. Sie wird mich außerdem bestimmt erkennen, sie hat
mich viel zu oft gesehen. Ich will nicht ... Aua!“ Chester humpelte davon.

Sydney genoß den wundervollen Herbsttag im Park. Sie trug eine dunkelgrüne
Pelisse und ein flottes Hütchen, Princess trippelte neben ihr an der grünen
Leine. Brennan und Winnie spazierten Hand in Hand vor ihr. Auf dem schmalen,
einsamen Weg konnten nur zwei Personen nebeneinander hergehen, und
Sydney war rücksichtsvoll etwas zurückgeblieben. Wally und Annemarie, die
hinter Sydney gingen, waren so vertieft in ihr Gespräch über ihre eigene
Zukunft und mit Küssen hinter einem Baum, daß sie ihre Umgebung völlig
vergessen hatten. Man hätte Sydney betäuben und in einen Sack stecken
können, bevor sie es gemerkt hätten. Genau das war Bellas Absicht.

„Hilfe, Hilfe, Miss!“ eine alte Frau fuchtelte mit ihrem Stock und bahnte sich

einen Weg durch die Büsche zu dem Pfad, den Sydney entlangkam. „Hilfe, mein
kleines Mädchen ist verletzt!“ Mit einem überraschend festen Griff für eine so
alte Frau packte sie Sydney am Arm und zog sie mit sich. „Oh, helfen Sie
meiner kleinen Chessy!“ Die Alte hatte einen Überbiß wie Princess, wenn sie
auch nicht so attraktiv damit wirkte, und rote Haarsträhnen lugten unter ihrem
Kopftuch hervor.

„Ich rufe den Diener, er wird die Polizei holen, Madam!“ bot Sydney an und

wollte sich abwenden.

„Mama!“ schrie jemand im Gebüsch.
Unbeirrt zog die Alte Sydney hinter sich her. „Helfen Sie nur meiner Chessy

in die Kutsche.“

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Sydney blickte sich zögernd um, wo waren Annemarie und Wally nur? Ich

sollte mich nicht zu weit von ihnen entfernen, überlegte sie kurz. Aber eine alte
Frau in so einer Notlage ...?

„Keine Angst, ich bin Mrs. Otis. Alle kennen mich. Ihre Zofe wird

nachkommen, aber bis dahin dann haben wir Chessy schon in der Kutsche. Ihr
Fuß, verstehen Sie!“

Tatsächlich humpelte eine Frau in einem gestreiften Seidenkleid mit

kirschroten Bändern auf sie zu. Sie hatte Rouge auf den Wangen, und das Haar
unter dem Hut mit drei Straußenfedern besaß einen unmöglichen Gelbton.
Sydney war klar, daß es eine Person war, mit der sie besser nichts zu tun haben
sollte.

Die Maskerade war auch nicht ganz nach Chesters Geschmack, aber der

Zweck heiligte die Mittel. Chessy, alias Chester, humpelte gekonnt und stützte
sich so kräftig auf Sydney, daß ihr nichts anderes übrigblieb, als weiter mit ihm
bis zur Kutsche zu gehen.

„Aber das ist ja ein Leichenwagen!“ rief Sydney erstaunt, als sie näher kamen

und sie die schwarze Kutsche mit den schwarzen Pferden und dem Sarg sah,
der hinten herausschaute.

„Ja, ist das nicht traurig?“ lamentierte die Alte. „Wir waren auf dem Weg,

Chessys Mann zu beerdigen, als sie ein menschliches Bedürfnis verspürte. Da
haben uns drei Halunken überfallen und uns das Geld für die Totengräber
gestohlen. Unglaublich! Und dann haben sie Chessy ihren Ehering geraubt.
Was ist nur aus der Welt geworden?“

Sydney war ganz außer Atem, als sie endlich die Kutsche erreicht hatten.

Chessy weinte. Damit Sydney ihr in den Wagen helfen konnte, öffnete Mrs. Otis
die Tür – und war bereit, den beschwerten Knauf ihres Stockes Sydney über den
Kopf zu ziehen. Sydney setzte einen Fuß auf das Trittbrett ... und dann bellte
ein Hund.

„Princess!“ rief Sydney. „Oh, je, ich habe meinen kleinen Hund ganz

vergessen. Hier bin ich, Princess!“ Sie schob die überraschte Mrs. Otis zur Seite
und ließ Chessy schwankend auf dem Wagentritt zurück. Das Bellen des
Hundes wurde lauter, und Wally rief: „Miss Sydney!“ Brennans Stimme hörte
man aus der entgegengesetzten Richtung.

„Verdammt, laßt uns abhauen!“ fluchte Randy. Er schubste Chester ins

Wageninnere und sprang ihm nach. Der Wagen setzte sich in Bewegung.

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25. KAPITEL

Die Countess verstand Sydneys Trübsinn gut. Forrests Halsstarrigkeit konnte
einen zum Wahnsinn treiben. Lady Mansfield befragte ihren Sohn immer
wieder, aber der verschwiegene Flegel antwortete nur, daß die Zeit noch nicht
gekommen sei. Noch nicht einmal mit Sydney konnte die Countess die
Angelegenheit besprechen. Sie wollte dem Mädchen keine Hoffnungen machen,
falls ihr tapferer Sohn nicht den Mut aufbrachte, sich den Tatsachen zu stellen.
Außerdem drohte der Earl mit dem Schlimmsten, wenn sie sich einmischte.
Doch sie mußte etwas unternehmen.

Die eigenartige Sache mit den abgeschnittenen Haaren ging ihr nicht aus

dem Sinn. Es war natürlich unmöglich, Sydney direkt zu befragen.

Eines Nachmittags, während sie Einladungen schrieben, machte sie die ganz

beiläufige Bemerkung: „Wissen Sie, Sydney, mir ist eingefallen, vielleicht ist es
Ihnen gar nicht recht, daß ich mich so in Ihr Leben einmische.“

„Ach was, Mylady!“ Sydney sprang auf, um neue Einladungskarten zu holen,

und küßte die Countess auf die Stirn. „Tante Harriet, die mischt sich ein, aber
bei Ihnen weiß ich, daß Sie nur das Beste für Winifred wollen. Sie sind ein lieber
Mensch, freundlich und großzügig; ich müßte schon arg dumm sein, wenn ich
nicht dankbar wäre.“

„Aber Dankbarkeit kann auf die Dauer auch lästig sein“, bohrte die Countess

hartnäckig weiter. „Ich möchte auf keinen Fall, daß Sie glauben, meinem Sohn
gegenüber irgendwie in der Schuld zu stehen.“

„Ich werde Mr. Mainwaring immer zu Dank verpflichtet sein, daß er für Winnie

und den General sorgt“, antwortete Sydney zögernd. Das Gespräch war ihr
peinlich. Die Countess war charmant, aber auch unberechenbar.

„Ich meinte nicht Brennan, meine Liebe.“
„Dieser Schuft! Er hat geschworen, das Darlehen zu vergessen, er wollte das

Geld unter gar keinen Umständen zurückhaben! Warum, ich werde ...“

„Nein, meine Liebe, Forrest würde niemals so unhöflich sein.“ Sie ignorierte

Sydneys spöttisches Lachen und fuhr fort: „Forrest hält stets sein Wort. Nein,
ich selbst habe Hinweise auf das Darlehen bekommen, nur Bruchstücke von
Informationen. Nein, ich bin nicht neugierig, doch wenn Sie mir Ihr Vertrauen
schenken wollen ... also gut, wie gesagt, ich will mich nicht einmischen, aber
ich habe in letzter Zeit eine gewisse Entfremdung zwischen Ihnen beiden
beobachtet. Ich möchte nicht, daß Sie ...“ Sie konnte sich gerade noch
zurückhalten, anzudeuten, daß die beiden ihr Eheleben nicht mit kleinen
Zwistigkeiten beginnen sollten. „Ich möchte nicht, daß zwei stolze Menschen
sich streiten.“ Sydney mußte lachen. „Vermutlich besitze ich zuviel Stolz,
Madam! Ich würde ihm das Geld so gerne zurückzahlen. Abgesehen davon, daß

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er es nicht nehmen würde, habe ich es auch nicht. Zu Winnies Verlobung und
als Dank für all die Gastfreundlichkeit, die wir während dieser Saison genossen
haben, würde ich gerne einen Ball geben, aber ich habe das Geld auch dafür
nicht. Ich hatte gehofft, Tante Harriet würde das übernehmen, da sie doch zur
Familie gehört.“ Jetzt mußte die Countess spöttisch lachen. „Bitte“, fuhr sie fort,
ehe Lady Mansfield etwas erwidern konnte, „bieten Sie mir jetzt nicht an, den
Ball für mich zu arrangieren. Dann wäre ich gekränkt.“

„Sie würden mich nicht ...“
„Sie haben schon so viel für uns getan. Ich wünschte, ich könnte einmal

etwas für Sie tun.“

„Können Sie, meine Liebste, können Sie!“ Befreien Sie meinen schwerfälligen

Sohn aus seiner Selbstzufriedenheit, aber letzteres dachte sie nur.

Die Countess hatte eine grandiose Idee, die alle Pläne Sydneys in den Schatten
stellten. Das Vorhaben war weder gefährlich, noch skandalös oder illegal.
Sydney sollte zu einem Ball einladen.

„Aber Madam, denken Sie nur einmal an die Kosten, die Räumlichkeiten ...“
„Alles Unsinn, Kind! Wir sind doch beide vom Land, oder? Also, was tut die

Gemeinde, wenn die Kirche ein neues Dach braucht?“

Sydney lachte: „Sie wenden sich an den reichsten Mann im Dorf. Sollte ich

das tun?“

„Und wenn der reiche Mann sich keinen Platz im Himmel erkaufen will, was

dann? Strengen Sie mal Ihr Hirn an!“

„Jeder im Dorf würde das geben, was er kann. Suppe kochen“, und ihre

Stimme wurde lauter vor Aufregung, „vielleicht würden sie einen
Wohltätigkeitsball arrangieren, der Eintritt kommt in einen Fonds.“

„Genau! Wir lassen die Gäste zahlen, wenn sie an Ihrem Ball teilnehmen

möchten.“

„Auf dem Land kann man das machen, aber nicht in London“, gab Sydney zu

bedenken.

„Unsinn! Suchen Sie eine wohltätige Stiftung aus, und sie werden alle

kommen. Die Reichen lieben nichts mehr, als etwas für ihr Geld zu bekommen.
Auf diese Weise können Sie die Einladungen erwidern und Ihre Schwester mit
allem Pomp dem ton präsentieren.“

Winifred, der Stolz der Lattimores, dachte Sydney liebevoll. Aber das würden

sie sich niemals leisten können.

„Dummchen, die Gäste wissen, daß der Erlös für einen guten Zweck

bestimmt ist und daß deshalb auch die Ausgaben so niedrig wie möglich
gehalten werden. Die meisten Händler sind es gewohnt, daß sie erst nach
Monaten bezahlt werden. Ich werde für die Getränke und das Büfett sorgen;
und es wird mir ein besonderes Vergnügen sein, Lady Windham davon zu
überzeugen, daß sie für das Orchester zu zahlen hat.“

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Sydney lachte unbeschwert; es war herrlich, sich Träumen hinzugeben, die

niemals in Erfüllung gingen. „Ihr Plan klingt phantastisch, Lady Mansfield, ich
muß Sie dennoch enttäuschen. Wir haben keinen Ballsaal in unserem winzigen
Haus. Und wenn wir den Ball im Mainwaring House geben, wie Sie wohl
vorschlagen werden, dann ist es kein Lattimore-Ball mehr.“

„Wir mieten die Argyle-Säle, bei einem Wohltätigkeitsball machen sie uns

bestimmt einen guten Preis.“

Sydney brachte noch viele Einwände vor, aber die Duchess hatte stets eine

Lösung parat.

„Blumen sind sehr kostspielig.“
„Sagen wir doch einfach, es ist ein Ilex-Ball. Stechpalmen gibt es in Mansfield

Manor mehr als genug. Ihr Mädchen könnt Gebinde davon machen. Nicht nur
an den Ausgaben, auch an der Arbeit muß sich jeder beteiligen.“

„Ich habe noch nie gehört, daß zwei junge Mädchen einen Ball geben.“
„Sie vergessen den General, Sydney. Lattimore ist der Gastgeber! Es wird

Zeit, daß der ton einen seiner Helden ehrt. Dem alten Kauz wird es guttun,
etwas unter Menschen zu kommen. Was gibt es sonst noch für Einwände?“

Es war nicht leicht, ihren letzten Einwand in Worte zu fassen, ohne die

Countess zu verletzen. „Also ... das Darlehen Lord Maynes, ... Sie haben doch
nicht etwa gedacht, daß ich jedermann erzählen solle, der Erlös sei für
mildtätige Zwecke, daß ich in Wirklichkeit aber damit das Geld an ihn
zurückzahle?“

„Kind, was denken Sie denn? Sie kennen ihn doch! Forrest würde das Geld

niemals nehmen. Aber wenn Sie den Erlös in seinem Namen spenden, zum
Beispiel dem Verein der Kriegsveteranen, den er unterstützt, dann würde er das
Geld sicher mit Stolz annehmen.“

Sydney hoffte, daß Forrest sie dann auch wieder anlächeln würde. Sie wollte

jedoch keinesfalls ohne die Zustimmung des Viscounts mit den Vorbereitungen
beginnen. „Es geht mir nicht so sehr um seine Zustimmung“, erklärte Sydney
errötend bei dem wissenden Blick der Countess. „Er soll sagen, welche
Wohltätigkeitsorganisation er vorzieht.“

An diesem Abend, beim Conklins-Ball, wartete Sydney die üblichen höflichen
Worte ab, die Forrest bei ihrem einzigen gemeinsamen Tanz, einem Walzer,
äußerte. Sie sprachen über ihren Opernbesuch vom Vorabend, über seinen
morgendlichen Ausritt. Keiner gestand, wie gerne er des anderen Gesellschaft
geteilt hätte. Sie tanzten mit dem gebührenden Abstand, sie lächelten einander
an, wie es der Anstand gebot. Er sagte ihr nicht, daß sie wie eine tanzende
Flamme in ihrem goldenen Ballkleid aussah, und daß sein Blut bei jeder
Berührung mit ihr in Wallung geriet. Und sie gestand ihm nicht, daß er für sie
der attraktivste Mann auf Erden war.

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„Mylord“, begann Sydney.
„Forrest.“
Sie nickte „Mylord Forrest, ich habe über die tausend Pfund, die Sie mir

geliehen haben, nachgedacht.“

Er faßte sie fester um die Taille, versuchte weiter zu lächeln und sagte

streng: „Vergessen Sie es!“

„Aber Ihre Mutter ist meiner Meinung.“
Er trat ihr auf die Füße. „Entschuldigung!“
Sydney fühlte sich plötzlich in einem Wirbel über die Tanzfläche geführt bis

hinaus auf die Terrasse, hinein in die äußerste und dunkelste Ecke.

„Sie haben unseren Plan doch noch gar nicht gehört“, beklagte sie sich und

versuchte, sich gegen seinen festen Griff an der Schulter zu wehren.

„Madam, jedes Mal, wenn Sie in Ihrem hübschen kleinen Köpfchen eine Idee

ausbrüten, werde ich geschlagen, getreten oder vergiftet. Ich verliere stets
mein Geld und meine Geduld. Zusammen mit meiner Mutter sind Sie mein
Tod!“

Während Sydney aufgeregt vom Ball berichtete, von Familienehre,

Weinhändlern, Rechnungen und Winifreds Verlobung sprach, streichelte er, fast
geistesabwesend, ihr Dekolleté. Sydney spürte es und ließ ihn gewähren. „Alles
ist nur für Sie, Forrest, damit Sie den Erlös für mildtätige Zwecke spenden
können. Was halten Sie davon?“

„Sie sind die unmöglichste, starrsinnigste und dümmste Frau, der ich jemals

begegnet bin. Aber auch die wundervollste!“ Sie blickte zu ihm hoch, und er
erkannte die Antwort auf alle seine quälenden Fragen.

Fast hätten sich ihre Lippen berührt, als hinter ihnen jemand hustete. Forrest

war es leid, sie wieder in den Armen eines dieser Jünglinge davontanzen zu
sehen, und drehte sich um, den unverschämten Milchbart zu verscheuchen. Er
würde sie nicht einmal für einen Tanz loslassen. Doch vor ihm stand der Earl
und grinste über das ganze Gesicht.

„Ich wollte mit dem schönsten Mädchen des Abends tanzen“, erklärte er und

blinzelte Sydney zu.

Sie lächelte bezaubernd und zog ein paar der Gänseblümchen, die ihre Frisur

schmückten, aus dem Haar. „Danke für das Kompliment, Mylord. Es sind
Hunderte hübsche Mädchen hier.“

„Richtig, alles hübsche Jasager. Sie aber sind wie meine Gattin. Das ist wahre

Schönheit. Habe ich Ihnen schon mal ...“

Der Viscount öffnete seine Hand und betrachtete lächelnd die

Gänseblümchen, die Sydney ihm still hineingelegt hatte. Verständnisvoll nickte
er und küßte die Blume. Sie gehörte ihm. Er konnte warten.

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26. KAPITEL

Es sollte der aufregendste Ball der Saison werden. Alle waren eingespannt mit
dem Anfertigen von Dekorationen, Gästelisten, Speisen und den vielen kleinen
Aufgaben, die ein solches Fest erforderte. Sydney war in ihrem Element, ihre
Familie und die Freunde standen kurz vor der Verzweiflung. Es mußten die
Räume für die Dekorationen vermessen werden, Schneiderinnen aufgesucht,
Listen geschrieben werden. Sydney traf sich mit Musikern, Köchen und dem
Mietservice für das Personal. Rat holte sich sie bei Lady Mansfield, und die war
beglückt, daß Sydney solche Fähigkeiten zeigte. Das Mädchen würde eine
ausgezeichnete Countess abgeben, wenn ihr langweiliger Sohn endlich einmal
einen Entschluß faßte.

Schließlich waren die Einladungskarten gedruckt. General Harlan Lattimore,

a. D., gibt sich die Ehre, die Verlobung seiner Enkelin Winifred mit Brennan,
Sohn des usw. usw. ... anzuzeigen. Weiter sagte der Text, daß anläßlich der
Verlobung ein Wohltätigkeitsball stattfände und der Erlös bestimmt sei für die
Kriegerwitwen und Waisen.

Sydney hatte vorgeschlagen, daß die Gäste kostümiert kommen sollten, um

dem Ganzen einen zusätzlichen Reiz zu verleihen.

Die Countess setzte große Hoffnungen auf den Ball. Ihr Verlobungsgeschenk

waren die Kleider für die Lattimore-Mädchen. Winifreds Kleid aus zartrosa Seide
würde den Rubinanhänger, den Brennan seiner Braut schenken wollte, zum
Leuchten bringen. Sydneys Kleid war aus blaugrünem Organdy, der genau wie
ihre Augen bei wechselndem Licht und mit jeder Bewegung die Farbe
veränderte. Wenn Forrest sich bei diesem Anblick nicht zu einer Erklärung
veranlaßt sah, ja dann wußte seine vernarrte Mutter auch nicht mehr weiter.

Sydney hingegen machte sich um Lord Mayne keine Gedanken mehr. Sie wußte
Bescheid und lächelte still in sich hinein.

Ihre alte Bekannte Bella Ott hielt den Wohltätigkeitsball für eine

ausgezeichnete Idee. „Das ist wirklich ein Geniestreich, Liebste. Sie sind eine
Waise, und ich bin eine Witwe. Hahaha!“

„Aber Mrs. Ott, Sie glauben doch nicht, man könnte annehmen, ich würde

den Erlös behalten?“

„Du lieber Himmel, wer würde so etwas denken?“

Sydneys Ball war einzigartig. Ilex-Girlanden mit weißen Satinschleifen
schmückten die mit Kerzen und Spiegeln erleuchteten Säle; Büfetts waren in
mehreren Räumen aufgebaut, Diener gingen umher und reichten Süßigkeiten,
Champagner, Austern und Hummerhäppchen; es gab ein Orchester im großen
Ballsaal und in den kleineren Räumen spielte ein begabter junger Mann Klavier,

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und in einem anderen Raum ein Streichquartett; nur im Kartenzimmer gab es
keine Musik. Lakaien nahmen die Mäntel der Besucher entgegen, und Zofen,
waren den Damen mit ihrer Garderobe behilflich; ein Majordomus rief die
Namen der erlauchten Gäste aus.

Winifred strahlte glücklich wie ein Engel, und Brennan grinste selig, als die

Gäste zur Begrüßung an ihnen vorbeidefilierten. Der General sah glänzend aus
in seiner Uniform. Er saß stolz in seinem Rollstuhl zwischen dem Brautpaar.
Neben ihnen stand Tante Harriet in einem fürchterlichen fuchsienroten
Taftkleid und mit Straußenfedern im Haar, beleidigt über die Tatsache, daß
man Eintritt von ihr verlangt hatte. Auch die Countess und der Earl hielten sich
in der Nähe auf. Der Viscount ließ Sydney einen goldenen Filigranfächer
überreichen.

In der Eingangshalle hatte man eine riesige gläserne Bowlenschüssel

aufgestellt, die sich stetig mit Geld füllte. Willy und Wally, in einer neuen rot-
weißen Livree, nahmen das Eintrittsgeld entgegen und händigten dafür Ilex-
und weiße Nelken-Anstecker für die Herren und Tanzkarten mit weißen
Satinschleifen für die Damen aus. Oftmals landete auch zusätzlich noch eine
Krawattennadel, ein Ohrring oder eine Schnupftabakdose in dem Bowlenglas,
alles für den mildtätigen Zweck.

Auch der Prinzregent erschien für einen kurzen, aber erinnerungswürdigen

Moment. Seine königliche Hoheit warf einen seiner Ringe in die Schale zum
Wohlergehen der armen Familien und derer, die ihr Leben für das Vaterland
gelassen hatten ... und für jeden in der Halle, der es sehen wollte. Er lächelte
huldvoll, und die Damen versanken im Hofknicks. Sydney wurden die Knie
weich, als er vor ihr stehenblieb, nachdem er ein paar freundliche Worte mit
dem General gewechselt hatte. Sie spürte, wie ein paar kräftige Hände sie
stützten. Neben ihr stand Forrest, und sie konnte wieder lächeln, auch über den
unbeholfenen Händedruck des Prinzen.

Dann begann der Tanz. Sydney fragte den General, der es sichtlich genoß,

alte Freunde wiederzusehen, ob er noch etwas in der Halle bleiben wolle, um
Nachzügler zu begrüßen.

„Geh schon“, schimpfte Tante Harriet. „Ich passe auf, daß der alte Griesgram

nicht aus dem Stuhl fällt und niemanden mit seinem Degen ersticht.“

Winnie und Sydney begaben sich in den Ballsaal. Das frisch verlobte Paar

führte den Kotillon an, gefolgt von den Eltern des Bräutigams. Niemand konnte
sich erinnern, das gräfliche Paar jemals in so trauter Eintracht gesehen zu
haben.

Dann forderte Forrest Sydney zum Tanz auf. Die komplizierte Schrittfolge bot

nicht viel Gelegenheit zu einem Gespräch, aber allein die Berührung seiner
Hand spürte sie bis in die Zehenspitzen, und sein Lächeln ließ ihr Herz schneller
schlagen. Seine Blicke versprachen ein „Bald“!

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Bella und ihre Begleitung traf spät ein. Sie legten ihre Umhänge nicht ab, weil
sie nicht lange bleiben wollten. Bella übergab den Zwillingen, die in der Nähe
der Tür standen und die Bowlenschale bewachten, die randvoll mit Geld und
Geschenken war, den Gegenwert für zwei Eintrittskarten.

„Meine indische Zofe“, erklärte Bella und zeigte auf eine kleine Gestalt in

einem Sari. „Sie bleibt draußen; ich zahle nur für mich und den Captain.“ Als
sie sah, daß der General noch in der Halle war, änderte sie ihre Taktik und warf
ihren Ring in die Schale. „Für die Waisen!“

Dann schubste sie die indische Zofe zum General und sagte: „Das ist Ranshee,
sie kann bei Ihnen bleiben; es sieht dekorativ aus. Du sprichst englisch, nicht
wahr, Ranshee?“

Diese grüßte den General auf orientalische Weise und zog den Zipfel des

Saris vor ihr Gesicht. Die Augenlider waren mit Kohle geschwärzt, ihr Gesicht
mit Tee dunkel gefärbt. Der General hatte viele indische Zofen in seinem Leben
gesehen, aber keine hatte grüne Augen oder rote Haare. Vielleicht trägt sie
sogar ein Messer bei sich, überlegte er und brummte böse.

„Still, du alter Lüstling“, zischte ihm Lady Windham ins Ohr. Griffith drehte

den Stuhl in die andere Richtung, in der Annahme, der Anblick des
Hindumädchens brächte böse Erinnerungen zurück.

Der General sah sich nun direkt mit Bellas Begleiter konfrontiert, den sie als

Captain Otis Winchester vorstellte. Der Captain ging am Stock und trug eine
Binde über einem Auge. Er hatte einen Vollbart, einen Schnauz- und einen
Backenbart.

„Einer unserer tapferen Jungen, die in der Schlacht verwundet wurden“,

stellte Bella ihn vor und knuffte ihn in die Rippen. „Salutieren, du
Schwachkopf!“ Chester salutierte. Da er Linkshänder war, salutierte er mit
links!

Der General wurde rot im Gesicht, knurrte wütend und hieb auf die Armlehne

ein. Griffith schob ihn näher an die Tür, damit er etwas frische Luft schnappen
konnte.

Die Inderin hatte inzwischen einem Diener das Tablett abgenommen, aber

ungeschickt verfing sie sich in ihrem Sari, und die Hummerhäppchen landeten
in Lady Windhams Ausschnitt. Bevor sie in Ohnmacht fiel, stieß Mylady einen
spitzen Schrei aus, und einer der Minch-Brüder kam angelaufen. In der
Annahme, es sei der Zwilling mit dem Glaskinn verpaßte ihm der Captain einen
Kinnhaken. Wally schlug zurück. Griffith drehte seinen Herrn um, und sie sahen
gerade noch, wie Bella mit dem Stock des Captains Wallys Kopf bearbeitete.
Wally ging zu Boden. Der Captain bedrohte Willy mit dem Messer, und die
indische Zofe, die sich von ihrem Sari befreit hatte, haute dem Zwilling das
schwere Silbertablett über den Schädel. Diesmal hatte es geklappt!

Bella hielt ihren Umhang auf, und der schwächliche Chester schüttete den

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Inhalt der Gabenschüssel hinein; dann knotete Bella den Umhang zusammen
und eilte zum Ausgang. Doch die drei hatten nicht mit dem General und seinem
treuen Burschen gerechnet, die, bereit zur Schlacht, ihnen mit gezücktem
Degen den Durchgang verwehrten.

Das Trio suchte nach einem anderen Ausgang, durch den Ballsaal in den

Garten. Aber Bella hatte bei ihrem Plan nicht bedacht, daß zwischen ihr und
dem Rückzug die Hälfte der oberen Zehntausend von England stehen würden.
Sydney war die erste, die sich ihr in den Weg stellte. Randy packte sie und
schob sie, das Messer an ihrer Kehle, wie einen Schutzschild vor sich her, dann
kam Bella mit dem Sack und vorgehaltener Pistole, den humpelnden Chester
dicht hinter sich, verfolgt von Wally und dem General mit seinem Burschen.

Im Ballsaal wurde die Szene turbulent. Damen fielen kreischend dem

nächstbesten Gentleman in die Arme, Winnie schluchzte, Forrest und Brennan
stürzten los, blieben aber wie angewurzelt stehen, als sie das Messer an
Sydneys Kehle und Bella mit der Pistole sahen. Die Gäste, die nicht in Panik
geflüchtet waren, ließen eine Gasse zum Ausgang frei. Die Countess sah auf
ihre erstarrten Söhne und nahm die Angelegenheit selbst in die Hand. Ein
volles Punschglas in der einen und einen Teller in der anderen griff sie an; sie
schoß Bella die Pistole mit einem Teller Erdbeereis aus der Hand.

„Gut getroffen, Liebste!“
„Jahre der Übung, Liebling!“
Das Trio versuchte dennoch, seinen Weg zum Ausgang zu finden. Chester

stolperte über die Scherben und ging unter einem überwältigenden Sperrfeuer
von Gläsern und Tellern zu Boden. An den Rockzipfeln seiner Mutter wollte er
sich wieder hochziehen, aber Bella gab ihm einen Fußtritt und nahm ihm die
Pistole ab. Der General und sein treuer Bursche machten dem Ganzen
schließlich ein Ende. Mit ausgestrecktem Degen bekam der General Bellas
Umhang zu fassen, Münzen und Schmuck rollten davon. Wally und Brennan
hielten Chester am Boden. Bella, mit der Pistole in der Hand, drehte sich
blitzschnell um; sie sah blutrünstig aus. Forrest ging auf sie zu, und Sydney
schrie: „Nein!“

„Sie sind an allem schuld! Sie Bastard, warum haben Sie sich eingemischt?“

Bella spuckte ihn an. „Ich bringe Sie um!“

Forrest hob die Hände und fragte ruhig und gefaßt: „Gestatten Sie eine

Frage, Madam. Wer, zum Teufel, sind Sie?“

„Ich bin deren Mutter“, fauchte sie und hob die Pistole. Die Menge hielt den

Atem an. Die Countess begann, wieder mit vollen Tassen zu werfen, die Menge
wich noch weiter zurück. Sydney, der Randy immer noch das Messer an die
Kehle hielt, zappelte und trat um sich. Und wo waren der General und Griff? Sie
kamen näher! Dann zückte der General plötzlich den Degen, hob die Beine und
Griffith gab dem Rollstuhl einen kräftigen Stoß.

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Der General wurde aus dem Stuhl geschleudert, Bella umgeworfen, und die

Pistole rollte davon. Alles schrie aufgeregt durcheinander, nur Forrest nicht, der
bückte sich und nahm die Waffe auf. „So, du Bastard, laß sie los!“

Randy zog Sydney näher zur Tür.
„Falsch, Mayne, Chester ist der Bastard. Ich habe das Mädchen.“
„Wie weit willst du denn kommen?“ versuchte Forrest ihn hinzuhalten.
Sydney war es langsam leid, herumgeschubst zu werden, ganz zu schweigen

von der Tatsache, daß ein zahnloser, rothaariger Winzling ihr ein Messer an die
Kehle hielt. Sie biß ihm kräftig in den Arm. Dann drehte sie sich blitzschnell um
und wandte Willys Übungen der Selbstverteidigung an. Sie benutzte nicht ihre
Fäuste, sondern das Knie. Im selben Augenblick feuerte der Earl ein halbvolles
Punschglas mit Früchten; es verfehlte sein Ziel, da Randy bereits am Boden lag,
und traf Forrests blütenweißes Hemd.

In diesem Augenblick intonierte das Orchester „God Save the King“.
Sydneys Ball war ein voller Erfolg. Es würde lange Zeit keinen aufregenderen

geben.

„Oh, je, Quälgeist! Ich konnte dir nicht helfen, du hast dich selbst befreit.

„Unsinn, du warst sehr tapfer!“
„Nein, war ich nicht. Ich war in Panik, dich in Gefahr zu sehen.“
Die Sonne ging beinahe schon auf, als sie endlich zur Park Lane

zurückkehrten, Sydney hatte ihr Kleid gewechselt, Forrest seinen Anzug
gesäubert, und die O’Tooles waren auch versorgt und sicher eingesperrt.
Höchstwahrscheinlich wurden sie in die Kolonien geschickt. Das gräfliche Paar
war in Übereinstimmung mit sich und der Welt. Sie wollten den Erlös des
Wohltätigkeitsballes aufstocken, schon um jegliches Gerede von Veruntreuung
zu unterdrücken. Lord und Lady Mansfield waren so entzückt voneinander, daß
sie sogar Forrest und Sydney alleine ließen, nachdem sie eine genaue
Schilderung aller vorausgegangenen Geschehnisse erhalten hatten. Beim
Hinausgehen blinzelte der Earl Sydney zu und riet seinem Sohn, einen
gewitzten Anwalt für den Ehevertrag zu Rate zu ziehen. Sydney errötete ...

Forrest führte Sydney zu einem Sofa. Er setzte sich neben sie. „Ich hätte nie

gedacht, daß Bella ...“ Er zog sie zu sich heran.

„Nun, man kann wirklich nicht von dir behaupten, daß du eine gute

Menschenkenntnis hast. Erinnerst du dich, wie du mich für einen Ganoven
gehalten hast?“

„Und du hast gedacht, ich wäre ein unverbesserlicher Wildfang.“
„Hatte ich nicht recht, Quälgeist?“ fragte er und hauchte Küsse auf ihre

Locken.

Sydney kicherte. „Glaubst du, man wird mich noch einmal irgendwohin

einladen?“

„Eine zukünftige Countess wird niemand zurückweisen.“ Er küßte ihr Ohr und

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dann ihren Nacken.

„Eine ... zukünftige ... Countess?“
„Ja, aus einer Viscountess wird einmal eine Countess. Eine Hochzeit wird

sofort allen Klatsch beenden. Möchtest du?“

Sydney rückte von ihm ab und setzte sich aufrecht. „Nur um den Klatsch zu

beenden?“

„Natürlich nicht, du Dummchen“, lachte er und zog sie zu sich auf den Schoß.

„Damit ich wieder ruhig schlafen kann. Ich habe mich sofort in dich verliebt, am
Anfang habe ich es nur nicht gewußt. Keinen Tag kann ich länger ohne dich
sein. Wenn ich dir mein Herz schenke und um deine Hand bitte, meinst du,
dann könntest du mich ein wenig liebhaben?“

„Nur ein wenig? Ist das alles, was du willst?“
„Nein, mein Liebling, ich will, daß du mich von ganzem Herzen liebst.“
„Ich habe und ich werde dich von ganzem Herzen lieben, auf ewige Zeiten.

Hundertmal, nein tausendmal mehr als du. Ist das ein guter Zinssatz für ein
Darlehen?“

– ENDE –


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