Die junge, liebreizende Cristabel Swann hat eine harte Zeit nach dem frühen
Tod ihrer Eltern hinter sich. Doch ihre schockierenden Erlebnisse in London
setzen allem die Krone auf. Zu ihrem Entsetzen muss sie erkennen, dass in dem
geerbten Haus ein Bordell betrieben wird – sogar ihr hat der smarte Lord
Winstoke einen unsittlichen Antrag gemacht. Kurzerhand wirft sie alle
sogenannten „Damen“ hinaus und wandelt das Haus, mit Hilfe treuer
Dienstboten, in eine vornehme Pension um. Obwohl sie bis zur Erschöpfung
arbeitet, geht ihr Lord Winstoke nicht aus dem Kopf – wider Willen hat sie sich
in den charmanten Gentleman verliebt. Zu Cristabels grenzenloser
Überraschung steht er eines Tages tatsächlich vor ihrer Tür: Ganz offensichtlich
konnte auch er sie nicht vergessen…
Barbara Metzger
Das Haus in der Sullivan Street
Roman
Aus dem englischen von Roy Gottwald
Die englische Originalausgabe erschien 1989 unter dem Titel Cupboard Kisses
bei Signet Books, New York.
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Copyright der Originalausgabe © 1989 by Barbara Metzger
Genehmigte Lizenzausgabe © 2014 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Published by arrangement with Barbara Metzger
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.
© der deutschen Übersetzung Harlequin Enterprises GmbH, Hamburg, 2002
Übersetzung: Roy Gottwald, (CUPBOARD KISSES)
Covergestaltung: Atelier Seidel – Verlagsgrafik, Teising
Titelmotiv: © RomanceNovelCovers
E-Book-Produktion: Datagroup int. SRL, Timisoara
ISBN 978-3-95569-346-6
1. KAPITEL
„Es ist zwei Uhr nachts, Kenley! Du bist nicht mehr in der Verfassung, bis
morgens durchzumachen! Lass uns nach Haus fahren.“
„Du irrst dich, Perry. Genau dort will ich nicht hin! Ich will viel lieber noch in
einen anderen Club.“
Die beiden Herren standen vor Brook’s, einem der exklusivsten Clubs der
Stadt. Der kleinere der beiden schaute die St. James’s Street hinauf und
hinunter, die von in regelmäßigen Abständen aufgestellten Gaslaternen
schwach erhellt war.
„Du warst schon in allen respektablen Clubs! Wo willst du noch etwas
trinken?“
„Natürlich in einem verrufeneren Etablissement! Du bist der Experte für
London, Perry, der richtige Platzhirsch. Also schlag etwas vor.“
„Hazlip ist nur einige Häuserblocks von hier entfernt“, antwortete Perry, da
ihm klar war, dass es keinen Sinn hatte, noch weitere Einwände zu erheben.
„Soll ich meine Kutsche kommen lassen?“
„Wozu, wenn Hazlip nicht weit weg ist? Nein, bemühe dich nicht. Seit wann
bist du in die Rolle eines Kindermädchens geschlüpft?“
„Seit du vergessen hast, den Kopf einzuziehen, Kenley. Verdammt! Du
wurdest verwundet, bist fast ertrunken und warst auf einem französischen
Kriegsschiff eingekerkert, bis du fast an der Kopfverletzung gestorben bist. Und
jetzt ...“
„Und jetzt will ich mich amüsieren“, unterbrach Kenley Chase, Viscount
Winstoke, ehemals Captain auf Seiner Majestät Kriegsschiff „Invicta“, das
nunmehr auf dem Grund des Meers lag. „Ich versichere dir, dass ich nicht
vorhabe, mich vollkommen gehen zu lassen“, fügte er hinzu und wies auf seine
Stirn. Im matten Licht war der Rand der schwarzen Augenklappe kaum zu
erkennen. „Frauen scheinen Narben von Wunden vorzuziehen, die man bei
einem Duell erhalten hat. Und so brauche ich berauschenden Wein, gute
Gesellschaft und die Möglichkeit, hohe Wetten abschließen zu können, und
genau darauf lege ich es besonders heute Nacht an.“
Perry räusperte sich und war bemüht, die Sorge um den Freund, die diesem
so unwillkommen war, nicht zu zeigen. Er war seit dem Studium in Eton mit ihm
befreundet und mochte ihn, ganz gleich, wie sehr ihre Wege sich voneinander
entfernt hatten. Er kaschierte seine Beunruhigung mit dem Hinweis, dass
Kenley schon vor fast zwei Jahren bei Hazlip gewesen war.
„Da geht es natürlich nicht wie bei White’s zu. Der Wein ist wässrig, und die
Würfel sind nicht geeicht. Aber ich werde aufpassen und dich notfalls für die
Nachhausefahrt in die Kutsche tragen.“
Der Captain legte den Arm um den schmächtigeren Mann und lachte
verhalten. „Du, und wie viele Bedienstete, du kleiner Wicht?“ Freundschaftlich
drückte er Perry die Schulter, während er mit ihm die fast verlassene Straße
hinunterging.
Er hatte einen leicht schaukelnden Gang und bewegte sich mit abgespreizten
Beinen, als müsse er das Gleichgewicht halten, eine Folge seiner beinahe
fünfzehn auf See verbrachten Jahre. Ansonsten hätten die beiden Freunde ganz
normale Männer sein können, die auf der Suche nach nächtlichem Vergnügen
waren. Erst als sie in den Lichtkreis des Leuchters im Foyer des Hazlip traten,
konnte man die Unterschiede zwischen ihnen erkennen.
Perry Adler händigte seinen Carrick, der mindestens zehn Revers hatte, den
Spazierstock, den hohen Hut und die Handschuhe einem Diener aus, lächelte
nonchalant in die Runde und verteilte Nettigkeiten. Seine Garderobe war ganz
nach der neuesten Mode. Er trug einen schwarzen Abendfrack, dazu eine
Weste, ein schimmerndes weißes Krawattentuch und eine über dem etwas
fülligen Bauch hängende Uhrkette. Sein sich lichtendes blondes Haar war im
römischen Stil frisiert. Dank seines rundlichen Gesichts wirkte er mit
zweiunddreißig Jahren immer noch recht jugendlich, besonders dann, wenn er
lächelte. Lächelnd ließ er Mr. Hazlips überschwängliche Begrüßung über sich
ergehen.
„Willkommen, willkommen, Mr. Adler. Wir haben Sie vermisst. Wie fühlen Sie
sich an diesem herrlichen Abend? Es ist mir immer ein Vergnügen, die beiden
Herren hier zu sehen. Sie sind nicht wie andere, die ihre Grenzen nicht kennen,
ha, ha!“ Beunruhigt blickte der Beisitzer auf den Rücken des hoch
gewachsenen, dunkelhaarigen Begleiters von Mr. Adler, der sich umständlich
bemühte, seinen Carrick auszuziehen. Nicht noch ein betrunkener, reizbarer
feiner Pinkel! dachte er. Erleichtert aufseufzend erkannte er dann den Mann,
der sich schließlich zu ihm umgedreht hatte.
„Nanu, Viscount Winstoke, nicht wahr? Was für eine angenehme
Überraschung! Erlauben Sie mir, Ihnen zu sagen, wie geehrt ich mich fühle,
dass Sie mein Etablissement besuchen, und was für eine Freude, ja, was für
eine große Freude, Sie lebend aus dem Krieg zurückgekehrt zu sehen. Und wir
... wir ... Willkommen, Mylord.“
Kenley neigte leicht den Kopf. Er war endlich seinen schlichten Mantel
losgeworden und händigte dem Bediensteten die Handschuhe aus. Er trug
keinen Hut und hatte keinen Spazierstock und auch kein Lächeln übrig für den
schmeichlerischen Speichellecker. Er war in seine ihm lose um den Oberkörper
hängende, mit goldenen Tressen verzierte Ausgehuniform gekleidet, die er
jedoch mit seinen breiten Schultern gut ausfüllte. Er hatte dunkles, lockiges
Haar, das nicht absichtlich zu einer modischen Windstoßfrisur gekämmt war,
sondern ihm in natürlichem Fall in die Stirn fiel. Auf Grund seiner
seemännischen Karriere hatte er ein verwittertes Gesicht, das jedoch nicht so
sonnengebräunt war, wie man es nach den im Freien zugebrachten Jahren hätte
erwarten können. Es war aschgrau und ließ ihn um Jahre älter wirken als Perry,
obwohl er mit seinen einunddreißig Jahren jünger als der Freund war. Die
Augenklappe war auch nicht von Vorteil, bedeckte aber wenigstens zum
größten Teil die zackige, über die Stirn verlaufende rote Narbe. Er hatte graue
Augen, und das, welches man sah, war blutunterlaufen. Er wandte Mr. Hazlip
das Gesicht zu, und der Blick, den er ihm zuwarf, war kalt und glasig. Niemand,
nicht einmal ein so habgieriger Schmeichler wie der Besitzer der Spielhölle,
hätte sagen können, dass Kenley gut aussah.
„Oje!“ murmelte Kenley, während er mit dem Freund den Saal betrat.
„Ich habe dir gleich gesagt, dass dieser Salon nicht der beste der Stadt ist,
Kenley“, hielt Perry ihm vor, nahm vom Tablett eines vorbeigehenden Kellners
zwei gefüllte Gläser und reichte eins dem Freund.
Kenley nippte am Wein und verzog das Gesicht.
„So schlecht ist der Wein doch nicht“, meinte Perry. „Aber wenn du lieber
gehen möchtest?“
„Nein, da wir schon hier sind, können wir ebenso gut bleiben.“ Kenley atmete
tief durch. „Was für ein Gestank nach kaltem Rauch, verschüttetem Wein,
Schweiß und Moder. Jetzt weiß ich, dass ich wieder in England bin.“
„Humbug! Was erwartest du in einer solch heruntergekommenen Gegend wie
Seven Dials? Veilchenduft?“ Perry wies durch den Raum. „Also, wonach steht
dir der Sinn? Würfeln? Hazard? Der junge Torrington spielt Siebzehnundvier.
Aber es ist nicht ratsam, sich mit ihm einzulassen. Man sagt, der alte Earl habe
sich plötzlich geweigert, seine Schuldscheine einzulösen. Wenn du mich fragst,
ist es zu spät.“
Langsam schlenderte Kenley mit dem Freund durch den Saal. Perry nickte
Bekannten zu und stellte ihn den Männern vor, die nicht ins Glücksspiel vertieft
waren. Kenley legte ihm die Hand auf den Arm und hielt ihn auf. „Bilde ich mir
das nur ein, Perry, oder hat der Geber beim Pharo angespitzte Zähne?“ Die
Leute im Raum waren so auf ihre Betätigungen konzentriert, dass die leise
Frage in der Stille wie Donnerhall geklungen hatte.
Ein älterer Mann, der am nächsten Tisch saß, schaute von seinem Blatt auf
und erwiderte: „Das ist jetzt chic. Die jungen Schnösel lassen sich die
Vorderzähne spitz feilen, vermutlich deshalb, weil sie dann wie die Kutscher
durch die Zähne spucken können.“ Er lachte, als er den Captain sich schütteln
sah. „Aber das ist nichts im Vergleich zu der Tatsache, dass viele glauben, sie
könnten ein Gespann wie ein Kutscher lenken. Ach, übrigens, ich heiße
Rampling. Möchten Sie einige Partien Whist spielen?“
Perry versuchte noch immer, den Pharospieler durch das Monokel zu
erkennen. „Zum Teufel, mich dünkt, dass du mit einem Auge besser siehst, als
ich das mit zwei Augen und meinem Monokel tue!“ Er setzte sich neben Mr.
Rampling, der seinen Frackrock verkehrt herum angezogen hatte, um mehr
Glück zu haben.
Da dies nicht von Erfolg gekrönt war, zog er das Kleidungsstück wieder
richtig an, doch seine Pechsträhne hielt an. Schließlich warf er das letzte Blatt
auf den Tisch. „Mir reicht es, Sir. Ich dachte, Sie würden nicht so aufmerksam
spielen. Mein Fehler.“
Perry nahm sich ein neues Glas Wein vom Tablett eines Saaldieners und
grinste den älteren Mann an. „Was? Die Augenklappe?“ fragte er scherzhaft.
„Die ist nur dazu da, meinen Freund interessanter zu machen. Lassen Sie ihn
eine Woche in der Stadt sein, und Sie werden sehen, dass alle jungen Gecken
eine Augenklappe tragen.“
„Ich wette, die Augenklappen werden aus Satin und in zu den Westen der
Herren passenden Farben sein.“
Perry war nicht dieser Meinung. „Ich wette darauf, dass sie schwarz sein
werden. Das ist romantischer und sieht unheilvoller aus.“
In der Zwischenzeit hatte Kenley ungeduldig mit den Fingerspitzen auf den
Tisch getrommelt. Nun stand er auf und schlenderte davon, während die beiden
anderen Herren die Einzelheiten einer Wette besprachen. Einer Wette über
Augenklappen!
Am Pharotisch hielt ein alter Lüstling die Bank. Er rief dem Captain zu, dieser
solle bei einem Spiel für richtige Männer sein Glück versuchen und nicht bei
einem dieser Salonvergnügen, wo es nur um läppische Einsätze ging. Kenley
erkannte in dem Mann, der ihn angesprochen hatte, Baron Harwood, einen
leidenschaftlichen Spieler, der schon in Spielhöllen verkehrt hatte, bevor er
selbst zur Marine gegangen war. Harwood hatte Tränensäcke, gelbliche Zähne,
Flecke vom Essen auf seinen Sachen und trug das ölig pomadisierte Haar glatt
an den Kopf gekämmt. Kenley wollte sich nicht an den Tisch setzen und erst
recht nicht mit einem solch verrufenen Lebemann spielen. Leicht den Kopf
schüttelnd lehnte er das Angebot ab.
„Was ist denn mit Ihnen los, Winstoke? Hm, knapp bei Kasse?“ fragte Lord
Harwood spöttisch. „Verdammt, da ist der junge Grünschnabel voller Eifer in
den Krieg gezogen, als Held zurückgekehrt und hat obendrein einen Titel und
ein beträchtliches Vermögen geerbt! Als wenn ich mit so einem Glückspilz
spielen wollte!“
Glückspilz? Wo er doch sein Schiff und vielleicht das Augenlicht verloren und
den Titel nur geerbt hatte, weil sein geliebter Bruder gestorben war? Er würde
dem elenden Heuchler schon zeigen, was es hieß, Glück zu haben.
„Es reicht, wenn Sie mich mit Captain ansprechen, Harwood, zumindest so
lange, bis ich den Dienst quittiert habe“, erwiderte er in der Stille, die nach Lord
Harwoods gelallten Äußerungen eingetreten war. Er biss die Zähne zusammen
und setzte sich so weit wie möglich von dem Baron entfernt hin. Er ließ sich ein
Getränk kommen und forderte ein frisches Kartenspiel an. Derweil er darauf
wartete, sagte er: „Ich frage mich, wie erfreut Sie sein würden, hörten Sie Ihren
Erben sich als einen Glückspilz bezeichnen.“
Lord Harwood lachte gackernd. „Von mir verlangt niemand die Einlösung von
Schuldscheinen, mein Junge. In meinem Fall warten keine hoffnungsvollen
Erben auf meinen Titel. Ich habe nur irgendwo eine verflixt altjüngferliche
Schulmeisterin von Nichte. Mein Bruder wurde vor seinem Tod ein Frömmler, so
dass dieses verfluchte Weibsbild denkt, sie könne mir über meine Pflichten
Moralpredigten halten. Ha! Kein Weiberrock sagt mir, wie ich mein Geld
ausgeben soll. Spielen wir jetzt, Captain, oder heben Sie Ihr Geld für Ihre Enkel
auf?“
Man begann zu spielen. Die einzigen Geräusche waren das Klatschen der
Karten auf den Tisch und das Klimpern und Klirren der hingeworfenen und dann
zu Stapeln aufgetürmten Münzen. Der Stapel des Barons wurde kleiner. Kenleys
Stapel wurde größer. Die Getränke wurden vergessen, und die Gläser
hinterließen nasse Flecke auf dem Tisch. Neue Kerzen wurden angezündet,
während der schwarze Qualm der herunterbrennenden sich mit dem im Raum
herrschenden Mief vermischte. Bald waren Lord Harwood und der Viscount die
einzigen Männer, die noch spielten, und lockten Zuschauer von den anderen
Tischen an.
Lord Harwood verlor eine weitere Runde, und danach hatte er keine
Geldscheine, Münzen und Spielmarken mehr vor sich liegen. Perry, der hinter
dem Stuhl des Freundes stand, gab einen Seufzer der Erleichterung von sich.
Gut! Jetzt konnte man nach Haus fahren. Alle Zuschauer wandten sich dem den
Captain anstarrenden und seine Möglichkeiten überdenkenden Baron zu. Mit
zitternder Hand drückte Kenley sich den Nasenrücken. Der Schweiß stand ihm
auf der Stirn. Die Narbe über seinem Auge sah gerötet und entzündet aus.
„Würden Sie einen Schuldschein von mir akzeptieren? Ich versichere Ihnen,
er ist gedeckt.“
Kenley schaute über die Schulter zu Perry, als wolle er sich bei ihm
vergewissern, dass der Schuldschein tatsächlich eingelöst wurde. Mr. Rampling
war jedoch derjenige, der den Blick auffing und zustimmend nickte. Perry
stöhnte auf, als sein Freund Mr. Hazlip zurief, er möge Papier und Schreibzeug
bringen, was dieser umgehend tat.
Lord Harwood warf dem Viscount einen letzten, abwägenden Blick zu, ehe er
die Feder in die Tinte tauchte. „Der verdammte Kerl wird nicht mehr lange
durchhalten“, nörgelte er, weil er meinte, die Konzentration des Captains werde
bald erlahmen und das Glück ihn verlassen. Dann warf er den Schuldschein
mitten auf den Tisch.
„Lange genug für dieses Spiel“, erwiderte Kenley. Die Bemerkung trieb dem
älteren Mann die Zornesröte in das bereits vom Alkohol gerötete Gesicht. Die
wenigen um den Tisch stehenden Männer, die möglicherweise daran gedacht
hatten, sich am Spiel zu beteiligen, besannen sich eines Besseren, als sie den
finsteren Ausdruck im Auge des Captains sahen. Mr. Hazlip hielt sich mit den
Schreibutensilien in der Nähe auf.
Der Baron überlegte sich genau, welche Karte er abwarf. Kenley tastete nach
seinem Taschentuch, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen, und warf
dann eine anscheinend zufällig getroffene Auswahl von Karten auf den Tisch.
Trotzdem gesellten sich nach und nach etliche weiße Blätter zu den vor ihm
liegenden aufgestapelten Münzen. Derweil der Baron schrieb, ordnete Kenley
die Stapel. Er machte einen aus Münzen und Spielmarken, einen aus Banknoten
und einen aus des Barons Schuldscheinen, der ständig anwuchs.
Schließlich stand Kenley auf, um zu gehen, und hielt sich an der Stuhllehne
fest. „Nimm das an dich, ja, alter Junge“, bat er Perry und zeigte auf seinen
Gewinn.
„Noch eine Runde, Winstoke. Nur noch eine Partie!“ beschwor ihn der Baron.
„Ich weiß, das Blatt wendet sich für mich. Sie können jetzt nicht gehen.
Verdammt, Sie gewinnen dauernd.“
„Oh, doch, du kannst und du wirst gehen, Kenley!“ brauste Perry auf. Endlich
hatte sein aufgestauter Ärger sich Bahn gebrochen. „Du hast den ganzen
Abend hindurch gewonnen, und du wirst weiterhin gewinnen, solange dieser
Verrückte noch etwas zu verlieren hat. Sieh dich an! Du kannst dich kaum noch
auf den Beinen halten. Du kannst kaum noch die Karten halten! Verdammt
noch mal, du solltest längst zu Haus und im Bett sein! Hast du die Operation
morgen vergessen?“
Schwer setzte Kenley sich wieder auf den Stuhl. „Ich hab’s versucht, Perry.
Bei Gott, ich hab’s versucht. Fast hätte ich sie vergessen. Ich brauche etwas zu
trinken.“
Fast. Es war schwer zu vergessen, wenn einem der Kopf so wehtat und einem
alles vor den Augen verschwamm. Es war schwer zu vergessen, wenn die
besten Ärzte, die die Admiralität auftreiben konnte, darin übereinstimmten,
dass er sterben würde, wenn er sich nicht den Metallsplitter, der über seinem
Auge eingedrungen war, operativ entfernen ließ. Gehirnfieber, hatten sie
gesagt. Fäulnis, hatten sie gesagt. Natürlich hatten sie auch gesagt, dass er,
falls er die Operation überlebte, danach auf beiden Augen blind sein könne. Er
hatte wissen wollen, wie die Aussichten waren. Ein Arzt hatte nur den Kopf
geschüttelt. Ein anderer hatte versucht, ihn zu beschwichtigen, dann geäußert,
er solle sich den günstigsten Fall erhoffen, und schließlich mit der Faust so hart
auf den Schreibtisch gedroschen, dass das Tintenfass in die Höhe gehüpft war.
„Du lieber Himmel, das ist kein Pferderennen“, hatte der wütende Arzt
schließlich hinzugefügt. „Ohne Operation würden Sie es nicht einmal bis zur
Startlinie schaffen. Mit der Operation werden Sie zumindest im Feld sein. Es tut
mir Leid, mein Junge, aber das ganze Leben ist ein Glücksspiel.“
Der Kriegsheld wandte sich wieder an den betagten, zügellosen Edelmann.
„Haben Sie noch etwas zu verlieren, Sir?“
„Meinen Londoner Besitz“, antwortete Lord Harwood und schrieb emsig. „Er
ist sehr viel wert. Kein Erbe, kein fest vererbliches Eigentum. Er wird mir Glück
bringen. Ich weiß, dass er mir Glück bringen wird.“
Er brachte ihm kein Glück.
Ungefähr eine Dreiviertelstunde später stand Lord Winstoke wieder auf. Er
schaute über den Tisch hinweg den Baron an, der, während ihm der Speichel
aus dem Mund rann, mit rotgeränderten, feuchten Augen leeren Blicks vor sich
hinstarrte. „Bring mich nach Haus, Perry. Ich merke, dass das – der Qualm, der
Gestank, die degenerierten Adligen – doch nicht mein letzter Eindruck von
England sein soll.“
„Ich wünschte, ich wäre zuerst nach Haus gefahren und hätte meine Mutter
gesehen.“ Die beiden Freunde waren endlich in Perrys Unterkunft im Hotel
Albany, Kenleys vorübergehendem Quartier, eingetroffen.
„Staffordshire ist zu weit weg“, erwiderte Perry verständnisvoll. „Und zu
dieser Jahreszeit, mitten in der Schneeschmelze, sind die Straßen in
beklagenswertem Zustand. Du wirst bald dort hinfahren können.“
„Vielleicht, vielleicht“, murmelte Lord Winstoke.
Er und sein Freund saßen in alten Ledersesseln vor dem Kamin und warteten
darauf, dass es Tag wurde. Kenley hielt ein Glas in der Hand. Perry hatte schon
vor Stunden mit dem Trinken aufgehört, damit der kranke Freund sich nicht um
ihn bemühen musste. Er begriff nicht, was Kenley wach und munter hielt, es sei
denn, es waren dessen unangenehme Gedanken.
„Weißt du, wie viele Male ich schon dem Tod ins Auge gesehen habe?“ fragte
Kenley. Er hatte mehr zu sich als zu Perry gesprochen, der nur „Hm“ äußerte.
„Ich zöge lieber in Hunderte von Kämpfen“, fuhr er fort, „statt mich dieser ...“
„Keine Angst, du wirst früh genug wieder ein Schiff befehligen. Die
Admiralität kommt ohne Helden, wie du einer bist, nicht aus.“
„Nein, ich habe beschlossen, den Dienst zu quittieren, so oder so.“ Kenley
schnaubte. „Kannst du dir einen blinden Schiffskommandeur vorstellen? Falls
andererseits jedoch die Dinge sich gut entwickeln sollten, werde ich den Platz
meines Bruders in Staffordshire einnehmen müssen, auch wenn ich nicht viel
übers Familienleben weiß. Es ist erstaunlich, wie launisch das Schicksal sein
kann, nicht wahr? Mein Bruder war für das Landleben geboren. Er kannte jeden
Winkel des Besitzes und alle Pächter. Ich schwöre, er kannte jedes Schwein
beim Namen. Und er ist bei einem Segelunfall ertrunken, auf dem verdammten
See!“
Perry griff über den Tisch, um das Glas nachzufüllen. Sein Blick fiel auf den
Haufen Geld und die Banknoten des Baron Harwood, die verstreut darauf
herumlagen.
„Alle meine ... hm ... Angelegenheiten sind in Ordnung, Perry, aber falls mir
etwas ... Du weißt schon, was ich meine. Behalte das. Schick die Schuldscheine
dem alten Stinktier zurück, aber behalte das Geld.“
„Verdammt, Kenley! Ich brauche dein Geld nicht!“
„Natürlich brauchst du es nicht, aber der alte Harwood würde es ohnehin nur
verspielen. Veranstalte ein Fest. Ja, das würde mir gefallen. Ein lautes,
rauschendes Fest mit Champagner und hübschen Mädchen.“ Kenley griff
wieder nach der Karaffe. Nachdem er sich das Glas gefüllt hatte, holte er eine
andere Flasche, die eine Nachbildung der „Invicta“ enthielt. „Zumindest muss
ich diesen Tag nicht nüchtern überstehen“, sagte er. Das Glas entglitt seinen
schlaffen Fingern und zerschellte am Boden. Das Buddelschiff blieb jedoch
behütet auf seinem Schoß liegen.
Charles Swann, Baron Harwood, fuhr auch nach Haus. Er schloss sich mit seinen
Büchern, Rechnungen und Bankauszügen in der Bibliothek ein. Dann befand er,
den nächsten Tag nicht mehr erleben zu wollen, und jagte sich eine Kugel in
den Kopf.
2. KAPITEL
Miss Meadow war überzeugt, sie müsse die jungen Damen in ihrem
Mädchenpensionat mit all der Fürsorge und Rücksichtnahme behandeln, die sie
deren Rang und zukünftiger gesellschaftlichen Stellung schuldig war. Leider
glaubte sie auch daran, sie müsse dieselben Maßstäbe an die Lehrer ihrer
berühmten Schule für höhere Töchter legen. An diesem Abend hatte sie zum
Beispiel drei der Schülerinnen der Oberklasse zu Tee und Gebäck in ihren auch
als Arbeitszimmer benutzten Salon gebeten, der dazu bestimmt war, sie an die
vornehme Welt zu gewöhnen, zu der sie bald gehören würden. Daher saß Miss
Cristabel Swann, die Musiklehrerin, sittsam vor Miss Meadows Büro auf einem
harten Stuhl, der für solche Mädchen gedacht war, die darauf zu warten hatten,
sich eine der Moralpredigten und didaktischen Lektionen der Schulleiterin
anzuhören.
Eine der von Miss Meadows bevorzugten Moralpredigten drehte sich um
Mäßigung. Ständig erinnerte sie ihre jungen Schülerinnen daran, kleine
Schritte zu machen, kleine Bissen zu sich zu nehmen und nicht viel Gefühl zu
zeigen. Ein wenig Temperament war akzeptabel, damit man nicht als
schüchtern galt. Größere Gefühlsausbrüche wie lautes Lachen und Wutanfälle
waren so inakzeptabel wie die Absicht, sich in der Öffentlichkeit die
Strumpfbänder zu richten.
Mäßigung hieß also Miss Meadows Motto für ihre zukünftigen Gräfinnen und
Herzoginnen. Weniger lautete das für ihr Personal. Weniger Zeit, weniger Geld,
weniger Privatsphäre und noch viel weniger Temperament. Die Mädchen im
Arbeitszimmer trugen Spitzenkragen an den schlichten Uniformen und bunte
Bänder im Haar. Miss Swann war stets in Kleider aus braunem Bombassin
gewandet und hatte das blonde Haar zu einem festen, unattraktiven
Nackenknoten gekämmt. Sie saß mit sittsam auf dem Schoß gefalteten Händen
da und hielt den Blick gesenkt, ganz die stille, gehorsame, farblose Frau.
Die jungen Damen der oberen Klassen, die bald, wie man annahm, nein,
inständig hoffte, eine gute Partie machen würden, hatten Einzelzimmer. Die
vom Glück begünstigten Erzieher teilten sich Räume. Die jüngeren, weniger
bevorzugten von ihnen schliefen in mit Vorhängen abgeteilten Nischen in den
Schlafräumen der kleineren Mädchen. Das war der Grund, weshalb Miss Swann,
mit vierundzwanzig Jahren die jüngste Lehrerin des Mädchenpensionats, den
kostbaren Brief in der Tasche bei sich hatte, damit die acht zwölfjährigen
Mädchen, mit denen sie das Zimmer teilte, ihre Nase nicht in ihre persönlichen
Angelegenheiten stecken konnten.
Diese Schule für höhere Töchter war kein Wohlfahrtsunternehmen, und daher
gab es keine Stipendiatinnen. Teilte die plumpe Miss Meadow an die
verzogenen Lieblinge der vornehmen Gesellschaft Tadel mit zwitschernder
Stimme, die ihr den Spitznamen „Feldlerche“ eingetragen hatte, und
quietschvergnügt Kopfnüsse aus, so wurde mit den Lehrern auf kalte, rüde
Weise kurzer Prozess gemacht. Die freundliche, lächelnde Art der Schulleiterin
verbarg einen Wesenszug, den Miss Swann sehr gut kannte. In Miss Meadows
mopsigem Körper schlug ein Herz, das so kohlenschwarz war, dass es das
Höllenfeuer sehr lange Zeit am Brennen gehalten hätte. Das war der Grund,
weshalb sie sich noch straffer hinsetzte, ohne mit dem Rücken den Stuhl zu
berühren, und nervös eine lose Locke in den Haarknoten stopfte, während zwei
Mädchen kichernd und plappernd aus Miss Meadows Büro kamen. Nur eines der
Mädchen nahm Miss Swann mit einem leichten Nicken zur Kenntnis, und das
vermutlich auch nur, weil sie der Gegenstand einer weiteren von der
Schulleiterin bevorzugten Erziehungsmethode war, nämlich der Anführung
leuchtender respektive abstoßender Beispiele. Miss Meadow verwies ständig
auf solche Beispiele, um ihren Schülerinnen die richtige Einstellung
beizubringen. Die Schulabgängerin vom letzten Jahr, die sich in ihrer ersten
Saison den Erben eines Herzogstitels geangelt hatte, galt als leuchtendes
Beispiel für richtiges Benehmen. Im Gegensatz dazu stand die über eine gute
Mitgift verfügende Debütantin, die, einige Jahre nach dem Schulabschluss, alle
ihr von Miss Meadow anerzogenen Wertvorstellungen und die Befehle ihrer
Eltern missachtet und einen nicht standesgemäßen Mann geheiratet hatte. Der
schlecht bezahlte Offizier hatte sie verlassen, nachdem ihr Geld verbraucht
gewesen war. Die Geschichte wurde oft, wenn das Licht gelöscht war, kichernd
und flüsternd ausgeschmückt und mit Einzelheiten versehen, die keine
anständige junge Dame wissen durfte, aber trotzdem kannte.
Das Beispiel an diesem Abend war Miss Cristabel Swann, und zwar kein
leuchtendes, sondern ein warnendes. Ihre Mutter hatte ... ein tiefer Atemzug
von Miss Meadow ... nur einen Zweitgeborenen geheiratet. Jetzt erlebte die
wohlerzogene Tochter aus gutem Haus eine schwere Zeit. Wie die meisten
Erzieherinnen an Miss Meadows Schule für höhere Töchter hatte sie keine
Zukunftsaussichten. Sie war vierundzwanzig Jahre alt und würde nie eine gute
Partie machen. War das eine Situation, in der die Mädchen sich oder später ihre
Töchter sehen wollten? Der Himmel verhüte es!
Das zweite aus dem Arbeitszimmer kommende Mädchen bedachte Miss
Swann, während es ihr ausrichtete, sie könne jetzt zu Miss Meadow gehen, mit
einem Blick, der Mitleid und die selbstbewusste Erkenntnis ausdrückten, dass
es diesen Fehler nie begehen werde.
„Also, was gibt es?“ fragte die kleine, hinter dem Kirschenholzschreibtisch
sitzende Miss Meadows mürrisch, als Cristabel eintrat. Sie forderte Miss Swann
nicht zum Platznehmen auf und bot ihr auch keine Erfrischung an, obwohl der
Teewagen in ihrer Reichweite stand.
Cristabel bemühte sich, nicht zu hoch über der sitzenden Schulleiterin
aufzuragen, und hoffte, beim Anblick der in der Silberschale liegenden
Mandeltörtchen möge ihr nicht der Magen knurren. „Ich habe vom Londoner
Anwalt meines Onkels einen Brief bekommen“, antwortete sie. „Er ...“
Miss Meadow streckte die dickliche kleine Hand aus. Cristabel kam nicht auf
den Gedanken, sich zu sträuben. Sie zog den Brief aus der Tasche und händigte
ihn der Schulleiterin aus. Derweil Miss Meadows das zerknitterte, leicht
verschmutzte Papier glättete, fuhr Cristabel trotz der Unterbrechung fort: „Der
Anwalt schreibt, er möchte mich so schnell wie möglich in Bezug auf den Besitz
meines Onkels sprechen.“
„Baron Harwood, hm“, murmelte Miss Meadow. „Es gibt keinen Erben. Daher
fällt der festvererbliche Besitz an die Krone.“ Sie kannte ihren Debrett besser
als die Bibel. Nein, der Adelskalender war ihre Bibel. Die Klatschkolumnen
waren ihr Gebetbuch. „Ihr Onkel war ein Tunichtgut, ein Spieler. Es wird nichts
übrig sein“, behauptete sie und hielt, um besser sehen oder dem Inhalt etwas
für sie Vorteilhaftes entnehmen zu können, den Brief vor die Nase. Es stand
jedoch nichts für sie Nützliches darin. Daher verlor sie das Interesse und gab
ihn Miss Swann zurück. „Sehr bedauerlich!“
„Sehr bedauerlich!“ war eine ziemlich kalt wirkende Mitleidsbekundung für
jemanden, dessen Onkel vor den Thron seines göttlichen Richters getreten war,
um seine letzte, gerechte Strafe zu vernehmen. Cristabel war jedoch nicht sehr
betrübt über das Ableben des Barons. Daher betrachtete sie die Äußerung als
Kommentar zu dem Pech, das der verstorbene Onkel gehabt hatte. „Danke“,
erwiderte sie. „Der Anwalt schreibt jedoch von einem Besitz.“
„Sie können sicher sein, dass es sich dabei um nichts von Wert handelt. Nein,
wäre ein großes Vermögen verhanden, hätte er sich bestimmt persönlich hier
eingefunden. Gäbe es zumindest ein bescheidenes Erbe anzutreten, hätte er
Ihnen eine Kutsche geschickt. Und wäre überhaupt irgendetwas vorhanden,
hätte er Ihnen das Geld für die Postkutsche beigefügt. Das ist die Denkungsart
von Advokaten. Nein, er will nur Ihre Erlaubnis haben, einen Teil des
Familienplunders abstoßen zu können. Schreiben Sie ihm, er solle alles
verkaufen und Ihnen eine Bankanweisung schicken.“
Cristabel zerknüllte den Brief mit ihren schmalen Fingern. „Vielleicht gibt es
ein Porträt meines Vaters, das ich gern hätte, oder einen Gegenstand, den ich
als Andenken behalten möchte.“
„Möchten Sie so etwas haben?“ Miss Meadow dachte nach. „Ja, ich nehme an,
Sie möchten so etwas haben.“ Die Tatsache, dass sie solche rührseligen
Regungen nicht schätzte, war deutlich ihrem Ton zu entnehmen gewesen. „In
diesem Fall müssen Sie eine Liste der Gegenstände anfordern, die Sie dann
durchsehen. Wirklich, Miss Swann! Auf diesen Einfall hätten Sie selbst kommen
können. Meine Lehrer können doch nicht so hohlköpfig sein! So, und nun bin
ich beschäftigt.“ Sie richtete die Knopfaugen auf die Mandelplätzchen. „War
das alles?“
Cristabel feuchtete sich die Lippen an und holte tief Luft. „Ich ... ich dachte,
ich könnte nach London fahren.“
Miss Meadow seufzte. Die Angelegenheit wurde ihr wirklich lästig. „In
wenigen Monaten haben wir Sommerferien. Ich hatte gedacht, Sie könnten sich
hier bei den Tagesschülern nützlich machen. Aber vielleicht könnten Sie eines
der Mädchen in die Ferien nach Haus begleiten und dann auf der Rückreise
einige Tage in London einschieben. Ich begreife jedoch nicht, warum jemand
unbedingt in der Julihitze in der Stadt sein will. Gleichviel, das könnte Ihnen
eine Lehre sein. Sie könnten Ihre Erfahrungen an Ihre Schülerinnen
weitergeben. Ja, wir können darüber nachdenken.“ Miss Meadow nahm ein Blatt
Papier vom Schreibtisch und begann zu lesen. Sie furchte die Stirn, als müsse
sie sich sehr konzentrieren.
Cristabel hatte schon einmal zu Weihnachten eine ihrer
Lieblingsschülerinnen nach Haus begleitet und nicht vor, das nochmals zu tun.
Sie war zum Bleiben aufgefordert und bei den Dienstboten einquartiert worden.
Man hatte von ihr verlangt, etwas auf dem Klavier vorzuspielen, um die
Hausgäste zu unterhalten. Sie hatte auch nicht die Absicht, den ganzen
Sommer im Mädchenpensionat zu verbringen und den jungen Damen, deren
Eltern im Juli oder August in Bath weilten, um der Sommerhitze in London zu
entfliehen, Musikunterricht zu geben. Die Mädchen nahmen Anstoß am
Unterricht im Sommer. Wenngleich sie niemanden hatte, den sie besuchen
konnte, nahm sie Anstoß daran, dass die anderen Lehrkräfte die Erlaubnis
hatten, während der langen Ferien zu ihren Familien zu fahren. Aber das alles
hatte nichts mit ihrem heutigen Anliegen zu tun. Sie räusperte sich.
Miss Meadow hörte auf, so zu tun, als läse sie. „Ja, Miss Swann, ich werde über
Ihre Bitte nachdenken.“ Sie blickte wieder auf das Papier. Dann schaute sie auf.
„Gibt es noch etwas?“
„Ich dachte, ich könnte gleich nach London fahren. Das heißt, so schnell wie
möglich. Miss Macklin könnte mich bei den jüngeren Schülerinnen vertreten.
Die älteren Mädchen könnten in der Woche, die ich nicht hier sein würde, ihr
Repertoire üben.“
Das Papier wurde auf den Schreibtisch geknallt. Cristabel zuckte zusammen.
„Oh, denken Sie das? Wirklich? Denken Sie, Sie könnten einfach einige Tage
Urlaub in London machen? Was für ein wunderlicher Einfall! So etwas hätte ich
von einer der jüngeren Schülerinnen erwartet. Und wer soll Miss Macklin beim
Gesangsunterricht vertreten? Der Zeichenlehrer oder vielleicht eine Spülmagd?
Ich habe etwas anderes von Ihnen erwartet, Miss Swann. Mehr Loyalität mir und
dem Institut gegenüber. Ihr Einfall ist eine absolute Unmöglichkeit. Ja, das ist
ganz ausgeschlossen. Ich habe Ihnen gesagt, dass Sie dieses sinnlose
Unterfangen im Sommer unternehmen können, auch wenn dadurch
Schwierigkeiten für den Stundenplan entstehen. Ich glaube, das ist sehr
großzügig von mir, nicht wahr?“
„Ja, Miss Meadow.“ Cristabel unterließ es zu äußern, die Schulleiterin selbst
könne sich an der Erziehung ihrer Schülerinnen beteiligen. Sie sagte auch
nicht, dass die Spülmagd wahrscheinlich den jungen Damen etwas Wichtigeres
fürs Leben beibringen könne als nur, wie man eine Teetasse richtig hielt. Sie
gab auch keinen Kommentar zu Miss Meadows Großzügigkeit ab, die nie so weit
geführt hatte, sie an den Einnahmen zu beteiligen, die durch die übertrieben
hohen Gebühren für die privaten Musikstunden im Sommer eingenommen
wurden. Auf dem Weg zur Tür sagte sie lediglich: Ja, Miss Meadow.“
Die Schulleiterin schwieg, als Cristabel die Tür hinter sich schloss und floh.
Sie lief nicht nach oben in ihr so genanntes Zimmer, wo die kleinen
Satansbraten sie mit Fragen löchern würden, warum sie so aufgeregt und
enttäuscht sei. Stattdessen schritt sie, sogar noch in ihrem Kummer voller
Grazie, langsam den Korridor hinunter und ging zum Musikzimmer, wo sie
ungestört sein würde. Gott wusste, dass keines der Mädchen je übte, ohne dazu
aufgefordert zu sein.
Sie hatte sich daran gewöhnt, sich vor der Plackerei und den Sticheleien
hierhin zu entziehen, zum Klavier und der Harfe. Hier verflüchtigte sich selbst
das Gespenst der Schulleiterin in Musik und Tagträumen. Und Cristabel hatte
Träume.
Diese drehten sich indes nicht wie die Jungmädchenträume, denen ihre
Schülerinnen ständig nachhingen, um hübsche Kleider, große Bälle, gut
aussehende Herren. Sie hatte sehr viel bescheidenere Träume, zum Beispiel
den Wunsch, wenigstens ein neues Kleid zu haben. Aus Musselin.
Kornblumenblau, damit es zu ihren Augen passte. Oder vielleicht rosé, damit
sie etwas rosiger im Gesicht aussah, weil sie einen so blassen Teint hatte.
Jedenfalls alles andere als braun, grau, schwarz oder marineblau, die Farben,
die zu tragen ihr erlaubt waren. Das war natürlich ein realisierbarer Traum,
einer, den sie eines Tages verwirklichen konnte, ohne ihre mageren Ersparnisse
angreifen zu müssen. Sie konnte zusätzlich Geld sparen, wenn sie die
Büchersubskription beendete. Die Bücher, die sie einen über den anderen
Monat an ihrem halben freien Tag erstand, waren ohnehin zum größten Teil zur
Unterhaltung ihrer älteren Zöglinge bestimmt, damit die Mädchen ruhig im Bett
lagen und ihr still beim Vorlesen zuhörten, statt Lärm zu machen und sich Miss
Meadows Zorn zuzuziehen.
Sie hatte noch einen Traum, der allerdings bei weitem nicht so einfach zu
realisieren war, unabhängig von zusätzlichen Ersparnissen. Hier, versunken in
die Musik, sah sie sich in Gedanken in einem winzigen Cottage, das hinter dem
Haus einen Küchengarten hatte, mit Sonnenblumen, Rittersporn, Wicken und
vielleicht einem Rosenspalier. Ein Häuschen, in dem ein netter, ruhiger,
lächelnder Mann war, der sie liebte und verehrte. Vielleicht würde ein junger
Anwalt oder Vikar sie in ihrem kornblumenblauen Kleid sehen. Er würde sich in
sie verlieben und sie um ihretwillen heiraten, obwohl sie unansehnlich war und
keine Mitgift hatte. Vielleicht würde er in der Bücherei auf sie aufmerksam
werden, es sei denn, sie hörte auf, dort Bücher zu erstehen, damit sie genügend
Geld zum Kauf des Kleides sparen konnte. Wäre sie in einem der üblicherweise
von ihr getragenen schweren, dunklen Kleider dort, sähe er nur eine
spitzgesichtige, verhärmte alte Jungfer. Oje! Ihre Träume mussten aufpoliert
werden. Das musste auch mit dem neuen Stück von Mozart geschehen, das sie
einstudierte.
Das Problem bei ihren Träumen und nicht mit ihren musikalischen
Fähigkeiten war, dass sie nicht immer ein Leben endloser Monotonie und
Dienstbarkeit geführt hatte, mit Zukunftsaussichten, die so düster wie der
Winter in Bath waren. Einst hatte sie, geliebt und glücklich, in einem Heim
gelebt, gewiss, ohne übermäßigen Luxus, aber es hatte ihr auch an nichts
gemangelt. Ihr Vater war der hoch angesehene Vikar des kleinen Dorfes
gewesen, wo er und seine kleine Famile alles gehabt hatten, was sie sich
wünschten. Und sie hatten das, was sie besaßen, genossen. Er war gestorben,
als sie erst sechzehn Jahre alt gewesen war. Die Mutter und sie waren genötigt
gewesen, sich mit mageren Mitteln so gut wie möglich, wie zwei wohlerzogene
Damen das halt konnten, durchzuschlagen. Sie hatten in Mietwohnungen
gelebt und Musikunterricht erteilt. Aber sie waren wenigstens zusammen
gewesen, doch leider nur für ein Jahr. Nach dem Tod der Mutter hatte Cristabel
sich glücklich geschätzt, als sie die Anstellung in Miss Meadows Schule für
höhere Töchter bekam, um hier den jüngsten Schülerinnen die Tonleitern
beizubringen. Wer weiß, was sonst aus ihr geworden wäre? Onkel Charles hatte
jedenfalls nicht auf ihr Hilfeersuchen geantwortet. Nach den sieben bei Miss
Meadow verbrachten Jahren war sie nicht gerade undankbar, aber sie wünschte
sich doch, dass ihr Leben sich eines Tages ändern möge. Andererseits
befürchtete sie, dass dieser Tag nie kommen werde.
Aber das war alles vor dem Erhalt des Briefes gewesen. Wäre er soeben erst
eingetroffen gewesen und sie damit sofort in Miss Meadows Büro gegangen,
dann hätte sie wahrscheinlich genau das getan, was die Schulleiterin ihr
geraten hatte. Sie hätte dem Anwalt einen höflichen Antwortbrief geschrieben.
Sie hatte den Brief jedoch schon seit zwei Tagen. Am vergangenen Abend war
eine ihrer Schülerinnen krank gewesen, weil das Mädchen irgendwie zu viele
kandierte Kirschen ins Haus geschmuggelt hatte. Und heute war der
Patronatstag, an dem mehrere der in Bath wohnenden Witwen das Institut
besuchten, damit ihre Schirmherrschaft mit einem Nachmittag belohnt wurde,
an dem es musikalische Darbietungen gab, Rezitationen, Ausstellungen von
Stickarbeiten und Aquarellen, und an dem man Tee mit Miss Meadow sowie
einigen der älteren Schülerinnen trank. Die Schule profitierte von den
Verbindungen zur guten Gesellschaft. Die Mädchen erfuhren mehr über die
vornehme Welt, und die Patronessen bekamen das Gefühl, sie hätten einen
selbstlosen Beitrag für die Gesellschaft geleistet, ohne sich die Hände
schmutzig gemacht oder eine Bankanweisung ausgeschrieben zu haben. Wenn
sie das Gefühl haben wollten, besonders großzügig zu sein, dann konnten sie
sogar eine ältere Schülerin oder zwei Mädchen der Oberstufe nachmittags zu
sich einladen, besonders, falls sie einen mittellosen Neffen hatten, der eine
reiche Frau suchte.
Gleichviel, Miss Meadow war mit den vornehmen Besucherinnen viel zu
beschäftigt gewesen, um sich mit den Sorgen ihrer jüngsten Lehrkraft zu
befassen. Daher hatte Cristabel die Muße gehabt, sich den Brief gut ins
Gedächtnis zu prägen und zu träumen.
Von Luftschlössern. Sie hatte sich ein bombastisches Luftschloss gebaut. Eine
Residenz am Grosvenor Square, mit einer gesetzten älteren Dame, die ihr als
Anstandsdame diente und sie mit den Patronessen der vornehmen Gesellschaft
bekannt machte, die sich vielleicht noch an ihre Mutter erinnerten. Hübsche
Kleider, einen ganzen Schrank voll, und eine fröhliche kleine Zofe, die sich um
die Garderobe kümmerte. Musik nach Herzenslust, Opern, Konzerte,
musikalische Soireen in ... im Carlton House beim Prinzregenten! Warum nicht,
für Miss Cristabel Swann, die Erbin von Harwood House? Selbst wenn Onkel
Charles ihr nur eine kleine Vermögenszuwendung zugedacht hatte und sie
Musikunterricht geben musste, um ihr Einkommen zu verbessern ...
Sie konnte nicht einfach nur einen Brief schreiben. Sie konnte den Traum
nicht sterben lassen, wenn er vielleicht die einzige Chance war, die sie je haben
würde.
Sie richtete sich auf und reckte das Kinn. Und marschierte durch den Korridor
zu Miss Meadows Büro zurück.
„Was gibt es jetzt, Miss Swann?“
„Ich will nach London fahren, Miss Meadow!“
„Na und? Ich möchte mit dem König Walzer tanzen!“
Cristabel geriet fast aus dem Konzept, als sie sich die winzige alte Vettel beim
Tanzen mit dem verrückten König vorstellte, der, wenn die Gerüchte stimmten,
nur sein Nachthemd anhatte. Sie schüttelte den Kopf. „Ich will umgehend nach
London fahren, Miss Meadow!“
„Und ich will dieses Gespräch beenden. Noch ein Wort, und Sie fahren
überhaupt nicht nach London, weder jetzt noch im Sommer. Nie! Ist das klar?“
„Ja, Miss Meadow, aber ...“
„Ich finde Ihr Betragen impertinent und äußerst ungehörig. Ich werde mir
überlegen müssen, ob ich Ihren Vertrag fürs nächste Jahr verlängere.“
„Ja, Miss Meadow, aber in diesem Jahr, oder genauer gesagt, in der nächsten
Woche ...“
„Wenn Sie noch ein Mal ‚aber‘ sagen, junge Dame, nur noch ein weiteres
Wort zu dieser Angelegenheit, dann werde ich mir überlegen müssen, ob ich
Ihrer Tätigkeit hier gleich ein Ende mache.“
Jetzt war die Situation eingetreten, in der Cristabel sich entscheiden musste,
und sie zögerte keine Sekunde lang. Hätte sie gezaudert und über das Risiko
nachgedacht, das sie auf sich nahm, wäre ihr bewusst geworden, dass sie hätte
einlenken müssen.
„Ich fahre nach London, um den Anwalt meines Onkels zu sehen, so schnell
sich das arrangieren lässt.“
Im gleichen Maße, wie Miss Swann ruhig dastand, die Hände sittsam vor sich
gefaltet, wurde die Schulleiterin besorgter. Sie kräuselte die Lippen und
verengte die Augen. Dadurch ähnelte sie mehr denn je einer gereizten
Pfauenhenne. Sie wedelte mit den dicklichen Händen in der Luft herum, hielt
sie dann hoch und zählte, als sie zu sprechen begann, ihre Drohungen an den
fleischigen Fingern ab: „Erstens! Rechnen Sie nicht damit, dass Sie
zurückkehren können, wenn Sie abreisen. Zweitens! Rechnen Sie nicht mit
einem Empfehlungsschreiben. Drittens! Rechnen Sie nicht damit, den Lohn für
dieses Vierteljahr zu bekommen, da es noch nicht zu Ende ist. Und viertens!
Rechnen Sie nicht damit, dass ich Ihre Abreise bedauern werde.“
„Ich dachte, Sie seien mit meiner Arbeit zufrieden. Es tut mir Leid.“
„Es tut Ihnen Leid? Wir werden sehen, wem es Leid tut! Oder denken Sie, ich
würde niemanden finden, der Sie als Musiklehrerin ersetzt? Es gibt viele
respektable Frauen, junge Frauen, die Ihren Posten in bewundernswerter Weise
ausfüllen können und mir für diese Möglichkeit dankbar sein werden.“
Es störte den zornigen alten Feger nicht, dass die Behauptung, es gäbe viele
Frauen aus guter Familie, die Miss Swanns Pflichten so gut, so billig und so
klaglos übernehmen würden, schlichtweg unwahr war, solange Cristabel das
glaubte.
Cristabel glaubte, dass die Schülerinnen es kaum bemerken würden, wenn
ein Orang-Utan ihnen Klavierunterricht gab. Die jüngeren Mädchen droschen
gnadenlos Tonleitern herunter. Die älteren quälten sich durch ihr
Übungsprogramm an Händel-Stücken, damit sie bei häuslichen Festen den
Eindruck geschulter Pianistinnen machen konnten. Vielleicht hatte ein Affe
mehr Glück bei dem Versuch, sie die Liebe zur Musik zu lehren oder Noten zu
lesen, obwohl sie ein Modejournal kaum durchlesen konnten, ohne dabei auf
die Abbildungen zurückgreifen zu müssen.
Trotzdem war Cristabel sicher, dass die Drohung wahr gemacht wurde. Sie
würde ersetzt worden sein, ehe sie in London war. Irgendeine andere arme,
unglückliche Seele würde dann versuchen, den verzogenen Lieblingen dabei zu
helfen, wie Engel auszusehen, noch dazu an ihrer Harfe! Das Instrument hatte
ihrer Mutter gehört und war einer der Gründe dafür gewesen, dass sie in so
jungen Jahren eine Anstellung gefunden hatte. Sieben Jahre lang war es, noch
dazu kostenlos, von achtlosen Mädchen benutzt, missbraucht und geschändet
worden, die darauf herumgeklimpert hatten, bis es nur noch verstimmt klang.
Cristabel lächelte. Nein, sie grinste, und dadurch schwanden die
Sorgenfalten, so dass die abgespannte, müde Frau plötzlich zu einer
charmanten Person wurde. Diese Impertinenz machte Miss Meadow so wütend,
dass sie ein Aprikosentörtchen hinunterschlang. Bei Cristabels Worten „Ich
werde so schnell, wie ich mein Gepäck packen und den Transport für mich und
die Harfe nach London arrangieren kann, das Haus verlassen“ verschluckte sie
sich.
„Die Harfe?“ Krümel flogen durch die Gegend. Der spitze Mund wurde
grimmassierend verzogen. „Manchmal vergesse ich das Ungestüm der Jugend,
Miss Swann. Ich gebe Ihnen vierundzwanzig Stunden, Ihre übereilte
Entscheidung zu überdenken. Bis morgen Abend erwarte ich auch, eine
schriftliche Entschuldigung auf meinem Schreibtisch vorzufinden. Danach
können wir die Sache als erledigt betrachten. Ich schlage vor, Sie ziehen sich
jetzt zurück und denken über Ihre Zukunft nach.“
Cristabel verließ den Raum, zog die Tür hinter sich zu und lehnte sich
dagegen. Vierundzwanzig Stunden. Ein Tag.
„Godfrey“, rief sie dem halb tauben Nachtportier zu, der neben der
Eingangstür saß. „Ich brauche eine Droschke, die mich zur nächsten Poststation
fährt. Sagen Sie dem Kutscher, er solle in einer Stunde hier sein.“ Nur für den
Fall, dass der Nachtportier oder eines der Mädchen, die die unordentlich
frisierten Köpfe über das obere Treppengeländer steckten, oder Miss Meadow
persönlich sie nicht verstanden hatte, wiederholte sie lauter und langsamer:
„Ich brauche eine Droschke. Ich will nach London. In einer Stunde.“
„Verlassen Sie uns wirklich, Miss Swann?“ wollte eins der Mädchen im
Schlafsaal wissen.
„Ja. Ich reise in einer Stunde nach London. Ihr dürft mich also nicht mit
Fragen plagen. Ich muss packen.“
„Janine hat gesagt, dass das Hausmädchen gesagt hat, es habe gehört, Ihr
Onkel sei gestorben und hätte Ihnen ein Vermögen vererbt. Stimmt das?“
„Janine sollte nicht mit den Hausmädchen klatschen oder sich Gerüchte
anhören.“
„Aber stimmt das?“ fragte ein anderes Mädchen. Alle acht Schülerinnen
drängten sich um Cristabel.
„So etwas in der Richtung. Nein, so ist es gar nicht. Nur eine
Familienangelegenheit. Lasst mich jetzt durch. Alle zurück ins Bett, und schnell,
ehe Miss Meadow kommt und nachsehen will, was der Aufruhr zu bedeuten
hat.“
„Sie meinen, um Sie beim Packen zu beaufsichtigen, wie das Hausmädchen,
das vor einem Monat gegangen ist“, äußerte die kleine Lady Jessica kichernd
und rannte auf nackten Füßen und mit wehendem weißen Nachthemd zu ihrem
Bett. „Sie will sicherstellen, dass Sie nicht mit der Schule gehörenden Gabeln
oder Löffeln verschwinden.“
„Vielleicht kommt sie her, um darauf zu achten, dass Sie nicht eine von uns
in Ihren Koffer packen und dann Lösegeld verlangen.“
„Was in aller Welt sollte ich mit einer von euch anfangen?“ fragte Cristabel
scherzhaft, während sie an den in einer Reihe stehenden acht Betten
vorbeiging, hier eine Bettdecke glatt zupfte oder dort eine Locke unter eine
Spitzennachthaube stopfte. „Ich dachte, ich würde nach London fahren, um
weit weg von euch Plagegeistern zu sein. Außerdem habt ihr allesamt zu viele
Liebesromane gelesen. Ich bin sicher, auch daran wird Miss Meadow mir die
Schuld geben.“
Alle Anwesenden lachten. In der Tat, es war Cristabel gewesen, die aus der
Leihbücherei die Liebesromane für die Mädchen mitgebracht hatte, versteckt
zwischen geistlichen Traktaten und Werken lehrreichen Inhalts. Sie war der
Meinung, es sei besser, wenn die Mädchen etwas lasen, irgendetwas, statt
nichts zu lesen. „Seid jetzt still“, sagte sie und drückte dem letzten Mädchen
einen Kuss auf die Stirn. „Ich muss fertig werden.“
„Sie wird!“ rief eine kleine Stimme ihr ernst von der anderen Seite des Raums
zu. „Ich meine, Miss Meadow wird Ihnen an allem die Schuld geben. Sie wird Sie
in ein schlechtes Licht stellen und Sie als schlechtes Beispiel anführen.“
„Sie wird sagen, sie hätte Sie entlassen müssen, weil Ihr Benehmen für das
Ansehen der Schule abträglich war.“
„Sie wird sagen ... Sie wird sagen, dass Sie keine Dame sind.“
Einen Moment lang herrschte Stille, in der die Anwesenden, Cristabel
eingeschlossen, über das Todesurteil für Miss Swanns guten Ruf nachdachten.
Dann hörte man die fest vorgetragene Versicherung: „Nun, ich werde das nicht
glauben“, gefolgt von einem ganzen Chor von „Ich auch nicht“ verkündenden
Stimmen. Dann erwiderte Cristabel leise: „Danke, Mädchen. Ich werde das auch
nicht glauben.“
Es gab wenig zu packen. Die Nächte waren noch kalt, so dass Cristabel sich ihr
wärmstes Kleid anzog, das aus grauer Merinowolle, dazu ihren Schal, damit man
die Flecke auf dem Kleid nicht sah, und ihren einzigen Hut aufsetzte. Ihre
anderen Kleider, Schuhe, Nachthemden und die Unterwäsche passten in den
Portmanteau, den sie als Korb für Schmutzwäsche benutzt hatte. Es war sogar
noch Platz für einige ihrer Lieblingsbücher, die sie aus der Bibliothek des Vaters
gerettet hatte. Die restlichen Bücher hätte sie gern den anderen Lehrkräften
gegeben, besonders Miss Macklin, der Gesangslehrerin, die ungefähr in ihrem
Alter war. Sie wusste jedoch, dass das Lehrpersonal sich in seine Zimmer
geflüchtet hatte, damit Miss Meadows Zorn nicht auch noch auf seinen
Häuptern niederging. Nein, es wäre nicht geschickt gewesen, Miss Macklin zu
bevorzugen.
Dann waren nur noch Kamm und Haarbürste übrig, beides aus Elfenbein und
mit den Initialen der Mutter versehen, und die Miniaturen der Eltern. Derweil
Cristabel den silbernen Doppelrahmen sorgfältig in das Reservenachthemd
wickelte, fragte sie sich unwillkürlich, ob ihre Eltern ihren Entschluss gebilligt
hätten. Hätte ihre so auf Schicklichkeit bedachte Mutter ihre mangelnde Trauer
um den Verblichenen beklagt oder überhaupt bemerkt, dass sie über das
Hinscheiden des Onkels beinahe entzückt war und bereits überlegte, wie sie
sein Geld ausgeben könne? Nein, ihre Mutter war keine Heuchlerin gewesen,
hatte nie etwas für den Schwager und seinen Lebensstil übrig gehabt,
besonders nicht nach dem Tod ihres Mannes, als Onkel Charles nicht einmal die
Höflichkeit gehabt hatte, ihr einen Beileidsbrief zu schreiben, ganz zu
schweigen davon, ihr und ihrer Tochter seine Unterstützung anzubieten. Aber
hätten die Eltern gedacht, es sei dumm von ihr, ihre sichere Stellung in der
Schule aufzugeben, oder, was noch schlimmer war, so wie Onkel Charles der
Spielleidenschaft zu verfallen? Der liebe Papa hatte immer gesagt, die
Spielleidenschaft läge den Swanns im Blut und man dürfe Onkel Charles nichts
übel nehmen, sondern müsse für ihn beten.
Cristabel machte die Schlossbügel am Koffer zu. Ihre Entscheidung erschien
ihr sehr richtig, doch unwillkürlich flüsterte sie: „Bete für mich, Papa.“
3. KAPITEL
Die Entscheidung erschien Cristabel richtig. Dennoch fühlte sie sich
schrecklich. Odysseus mochte eine schlimmere Reise gehabt haben, doch das
bezweifelte sie. Alles fing damit an, dass sie in der Postkutschenstation
feststellte, sie könne in der Postkutsche mitfahren, aber die Harfe nicht
mitnehmen. Bestenfalls konnte die Harfe in Ölhaut eingewickelt und hinten am
Wagen festgebunden oder auf das Dach geworfen werden, wo sie dem Regen,
Nebel und der Kälte des scheußlichen Frühlingswetters, dem Straßendreck und
der unsachgemäßen Handhabung durch widerwillige Postillione ausgesetzt sein
würde. Folglich war Cristabel bei den Umspannstellen gezwungen, eine
Privatkutsche samt Kutscher und Vorreitern zu mieten. Die Kosten dafür waren
so hoch, dass sie genötigt war, sich beim Essen, bei den Ausgaben für die
Übernachtungen und den Trinkgeldern einzuschränken. Die Folgen waren, dass
sie schlechtes Essen und schlechte Unterkünfte bekam und schlecht behandelt
wurde. Die Wirtsleute und deren Angestellten behandelten allein reisende
Frauen nicht besonders freundlich, erst recht nicht hoch aufgeschossene alte
Jungfern, die zu dünn waren, verschlissene, düstere Sachen trugen und ein
schweres Instrument bei sich hatten, das obendrein noch in die Kutschen
gehievt und herausgeschafft werden musste, weil es sonst trotz seiner
Abdeckung in der feuchten Nachtluft gelitten hätte.
Cristabel war zu sittsam, um Spaß mit ihr haben zu können, und zu arm, um
respektiert zu werden, und wurde daher mit Missachtung und Dreistigkeit
behandelt. Sie bekam winzige, ungeheizte Räume mit klammer, ungelüfteter
Bettwäsche, lauwarme Mahlzeiten, die aus irgendwelchen Resten bestanden,
und klapprige, nicht zueinander passende Klepper, so dass die Fahrt noch
länger dauerte und holpriger war, und wurde mit mürrischer Unfreundlichkeit
behandelt. Sie stellte sogar fest, dass sie die Mädchen in Miss Meadows Schule
für höhere Tochter vermisste!
Als sie endlich in London eintraf, so viele Tage später, dass sie die Übersicht
verloren hatte, war sie unterkühlt und völlig erschöpft. Ihre Nase war gerötet,
und ihr tränten die Augen. Ihre Kehle war so kratzig, dass das Einatmen der
rauchgeschwängerten Londoner Luft ihr wehtat.
Cristabel war nicht in der Verfassung, an diesem Nachmittag den Anwalt
aufzusuchen, falls er seine Kanzlei nicht ohnehin schon verlassen hatte. Sie
bezweifelte, dass sie genügend Geld für ein anständiges Hotel übrig hatte, falls
sie überhaupt eins fand, in dem sie aufgenommen wurde. Natürlich stieg sie
nicht in einer Postkutschenstation ab, denn das, was für eine allein reisende
Frau unterwegs kaum akzeptabel war, wäre für eine schutzlose Frau in der
Stadt äußerst gefährlich gewesen. Daher tat sie das einzig Mögliche. Sie trug
dem Kutscher auf, sie zum Harwood House am Grosvenor Square zu fahren.
Sie erkannte einige der in ihren Stadtführern abgebildeten Gebäude,
erinnerte sich jedoch an nichts mehr, was sie bei den beiden Besuchen in der
Kindheit, bei denen sie vor vielen Jahren mit den Eltern in London gewesen war,
gesehen hatte, bis sie das Haus erreichte. Es stand dem Park gegenüber etwas
von der Straße versetzt und war weder so groß noch so gut in Stand gehalten
wie die benachbarten Gebäude. Es war aus braunen Steinen erbaut und daher
ein ziemlich unscheinbares, düsteres Haus, für das nur eins sprach – es war ihr
Heim!
Cristabel stolperte aus der Kutsche und zerrte den Portmanteau heraus,
während der Kutscher sich auf dem Zugangsweg und den sieben Marmorstufen
grunzend und fluchend mit der Harfe abmühte. Sie hob den schweren
Türklopfer an und betrachtete, während sie wartete, das über dem Portal
angebrachte, aus Schwänen, Bäumen und Schwertern bestehende Harwood-
Wappen. Und sie wartete.
Schließlich machte ein junger Lakai die Tür auf, zog hastig eine Serviette aus
seinem Livreekragen und wischte sich den Mund ab, der ihm beim Anblick der
ärmlich bekleideten, staubbedeckten jungen Frau, die auf der Schwelle des
Hauses seines Herrn stand, offen stehen blieb. Verdammt, und obendrein hatte
der Butler an diesem Tag auch noch frei!
„Ich bin Miss Swann“, verkündete sie, was jedoch nicht zu größerer Einsicht
oder weniger Verblüffung führte, wie wenn sie sich soeben als der heilige Georg
vorgestellt hätte. „Lord Harwoods Nichte.“ Ihr Unterton enthielt die
Aufforderung: „So, wollen Sie mich jetzt nicht gebührend willkommen heißen?“
Der junge Bedienstete interpretierte ihre Frage jedoch so, dass sie nicht richtig
wusste, wer sie war. Verrücktes Weib, das einfach bei fremden Leuten an die
Tür klopfte. Potzblitz, was war zu tun? Der sich am Lakai und Cristabel vorbei
ins Entree zwängende Kutscher war auch keine Hilfe.
„Wo wollen Sie dieses Ding hinhaben, Madam? Ich werde nicht dafür bezahlt,
hier gähnend herumzustehen.“
Sie schaute den verdutzten Diener an, der jedoch nicht reagierte. Wirklich,
das war zu viel! Sie konnte verstehen, dass das Hauspersonal nicht dem
Standard einer herrschaftlichen Residenz gewachsen war. Aber es war
unverantwortlich, einfach einem schlichtgemütigen Bediensteten die
Verantwortung für ein leeres Haus zu überlassen. Was wäre wohl geschehen,
hätte es sich bei ihr um eine Diebin gehandelt? Sie würde sehr bald ein ernstes
Gespräch mit dem Anwalt des Onkels führen müssen. Mittlerweile waren sie
und der Lakai dem beladenen Kutscher über den schwarz-weiß ausgelegten
Marmorfußboden in die geräumige Eingangshalle gefolgt. Beiderseits der
Haupttreppe gab es viele Türen, allesamt geschlossen, und sie konnte sich
nicht an die Anordnung der Räume erinnern und erst recht nicht wissen, in
welchem Zustand sie waren.
„Stellen Sie die Harfe einstweilen neben der Treppe ab“, wies sie den
Kutscher an. „Ich entscheide dann später, welcher Raum sich am besten für sie
eignet.“ Sie stellte den Portmanteau neben der Harfe ab und handelte sich
dabei vom Diener, der es unterlassen hatte, ihr das Gepäck abzunehmen, ein
Stirnrunzeln ein. Der arme Einfaltspinsel kratzte sich am Kopf, als habe er noch
nie eine Harfe gesehen.
Der arme Floyd, denn so hieß er, hatte tatsächlich so etwas noch nie gesehen
– irgendeine Nebelkrähe, die aussah, als sei sie rückwärts durch eine
Dornenhecke gezerrt worden, und die ganz so, als gehöre ihr das Haus, in das
Vestibül Seiner Lordschaft gedrungen war. Der Butler würde ihm den Kopf
abreißen, ganz bestimmt. Und was Seine Lordschaft anging ... Nun, Floyd
überlegte, wie er besser Hilfe holen könne. Aber wie konnte er diese
Geisteskranke allein lassen? Er rückte auf die Treppe zu, was ein sicheres
Zeichen für seine Beunruhigung war. Sonst wäre er nicht auf den Einfall
gekommen, die Haupttreppe zu nehmen, sondern hätte sich für die für
Dienstboten vorgesehene Hintertreppe entschieden. Er musste Mr. Sparling,
den Kammerdiener seines Herrn, erreichen, solange die hirnverbrannte Frau
noch damit beschäftigt war, den Kutscher zu entlohnen.
Cristabel wurde fast ihr letztes Geld los. Weg mit dem Kutscher, der noch
säuerlicher wirkte, als er sah, wie wenig Trinkgeld er bekommen hatte. Du
lieber Himmel, der schwachsinnige Lakai bewegte sich durch das Foyer und ließ
sie dabei nicht aus den Augen. Sie wollte keineswegs in diesem Haus nachts
mit diesem schlichtgemütigen Burschen allein sein.
„Sie da!“ rief sie ihm zu. Sie hatte sehr langsam und betont gesprochen.
„Glauben Sie, dass Sie den Weg zur Anwaltskanzlei finden? Sie ist in der Fleet
Street. F...l...e...e...t Street. Glauben Sie, dass Sie das behalten?“
Verzweifelt nickte Floyd.
„Gut, gut! Sie werden sich nach Mr. Worbigger erkundigen und ihn bitten, so
schnell wie möglich hierher zu Miss Swann zu kommen. Kapiert?“
Floyd beschloss, der Verrückten den Willen zu lassen, durch die Haustür zu
rennen, um das Haus herum zur Küchentür zu hasten und die Hintertreppe
hinaufzustürmen, um Mr. Sparling zu finden. „Ja, Madam“, antwortete er und
versuchte, die Haustür zu erreichen, ohne der Irren den Rücken zudrehen zu
müssen.
„Sie sind ganz sicher, dass Sie die Nachricht begriffen haben?“
„Mr. Worbigger, Fleet Street. Miss Swann, hier.“
„Fein! Ich warte da drin“, sagte sie und wandte sich der ersten Tür zur
Rechten zu, dahinter einen Raum vermutend, von dem sie annahm, es handele
sich um den Empfangssalon.
Floyd schnappte nach Luft. „Da drin?“
„Keine Angst, ich werde mich nicht über den Zustand des Raums wundern“,
erwiderte Cristabel und legte die Hand auf die Türklinke.
„Aber ... aber ... Seine Lordschaft ist ...“
„Da drin?“ Cristabel zog die Hand weg, als hätte sie glühende Kohlen berührt.
Der tote Onkel lag noch immer in seinem Haus aufgebahrt! Sie erschauerte.
„Sie meinen, man hat auf mich gewartet?“
Floyd warf einen weiteren Blick auf die ungepflegten Sachen der Frau, ihr
strähniges Haar, die rote Nase und die tränenden Augen. „Das bezweifele ich,
Madam.“
„Warum hat man den Leichnam dann in Gottes Namen noch nicht beerdigt?“
„Weil er noch nicht tot ist, auch wenn er nahe dran war.“
Noch nicht tot! Onkel Charles war noch am Leben und hatte trotzdem Mr.
Worbigger veranlasst, ihr zu schreiben. „Dann gehe ich besser gleich zu ihm.“
Floyd schluckte schwer. Sein Adamsapfel über dem Kragen der Livree hüpfte
hoch und runter. „Oh, Madam! Das würde ich nicht tun. Oh nein! Seine
Lordschaft wird mir den Kopf abreißen! Das heißt, er ... äh ... ist vielleicht nicht
auf Gesellschaft eingerichtet. Ja, er ist jetzt nicht in der Lage, Sie zu empfangen.
Vielleicht weiß sein Kammerdiener ... hm ... Ich werde sehen, ob Seine
Lordschaft ... Warum hole ich ihn nicht einfach her, Miss?“
Benommen ließ Cristabel sich auf einem an der Wand stehenden Stuhl
nieder. Sie konnte es einfach nicht glauben. Nach all den Jahren hatte Onkel
Charlie sich ihrer erinnert. Alt und siech, dem Tode nahe, hatte er sie bei sich
haben wollen. Nun, sie würde ihn mit ihrer Fürsorge überhäufen. Sie würde ihm
aus der Zeitung vorlesen, ihm seine Arzneien holen und ihm die ihm
verbleibenden Tage mit Musik und Blumen verschönern.
Durch die geschlossene Tür drangen Geräusche. Cristabel war sicher,
jemanden stöhnen zu hören. Der Onkel brauchte sie!
„Ich komme, Onkel!“ rief sie, riss die Tür auf und rannte in den Raum.
Und da war der Onkel, neben dem Sofa auf den Fußboden gestürzt, viel zu
nahe beim Kamin. Sein Kopf war ganz bandagiert. Er kämpfte mit der Decke, in
der er sich verheddert hatte.
„Hier bin ich, Onkel Ch... Ch... Oh, mein Gott!“ Es befanden sich zwei
Menschen unter der Decke. Die Person, die keinen Verband trug und einen
Morgenmantel anhatte, war eine hinreißende Rothaarige, die außer Rouge nicht
viel am Leib hatte. Sie schaute zu ihr herüber, lächelte und winkte ihr zu.
Cristabel hätte fluchtartig den Raum verlassen sollen. Das war ihr klar.
Zumindest hätte sie in Ohnmacht fallen müssen. Aber das Glück hatte sie nicht.
Die aufsteigende Hysterie ließ sie an Ort und Stelle verharren, als seien ihre
Füße auf dem Teppich angenagelt worden. Alles, was sie tun konnte, war, die
Augen zu schließen. „Onkel“, flüsterte sie schwankend.
„Verdammt noch mal!“
„Onkel!“ Die Ausdrucksweise veranlasste sie, die Augen weit aufzureißen.
Beim Anblick des nach dem Gürtel seines Morgenmantels greifenden Mannes
presste sie die Lider gleich wieder zu.
„Ich bin niemandes verdammter Onkel!“
Eingehüllt in die Decke, half die Rothaarige ihm, raffte dann einen Haufen
Sachen zusammen und rettete den letzten Rest an Würde. Mit einem fröhlichen
Gruß, den Cristabel und der Mann ignorierten, verließ sie den Raum.
Der Mann konnte unmöglich Onkel Charles sein, wie Cristabel jetzt sah. Die
breiten Schultern, die straffe Haltung zeugten von einem viel jüngeren Mann,
und die dunklen, im Ausschnitt des Morgenmantels sichtbaren Brusthaare ...
nun, das war ganz sicher nicht Onkel Charles.
„Wenn Sie nicht mein Onkel sind, was machen Sie dann hier?“
„Es ist doch offensichtlich, was ich hier mache beziehungsweise gemacht
habe, es sei denn, Sie sind so der Sicht beraubt wie ich, Madam!“ donnerte
Kenley sie an. „Aber was in Gottes Namen machen Sie hier?“
Sie errötete. Dem Himmel sei Dank, dass der unerträgliche Kerl das nicht
sehen konnte. Sie reckte sich zu voller, nicht unbeträchtlicher Größe, war
jedoch trotzdem noch etwas kleiner als der Lump vor ihr. „Ich bin Miss Cristabel
Swann“, sagte sie, „und will wissen, was Sie in meinem Haus machen.“
„Ihrem Haus? Ihrem Haus?“ Kenley rieb sich die Stirn. Dieser verfluchte
Verband! Er hätte nicht einmal sagen können, ob die irre Frau eine Waffe bei
sich hatte. Was für eine verdammte Situation! Er würde den Lakai in Stücke
reißen und ... „Haben Sie gesagt, dass Sie Miss Swann sind?“
„Miss Cristabel Swann, Lord Harwoods Nichte.“
Die frömmelnde alte Jungfer des Barons? Oh, Gott! War sie diejenige, die ihn
und Wie-hieß-sie-doch-Gleich gesehen hatte? Was für ein Schlamassel!
„Ich befürchte, Miss Swann, hier liegt ein Missverständnis vor. Ihr
verstorbener Onkel ... Sie wissen doch, dass er tot ist, nicht wahr?“
„Das hatte ich angenommen, ehe ...“
Kenley hob die Hand. „Bitte, lassen Sie mich ausreden. Vor seinem Tod hat
Harwood an einem Kartenspiel teilgenommen, an einer Menge Kartenspiele,
und unter anderem dieses Haus eingesetzt. Er hat es verloren, und nun bin ich
der Besitzer.“
„Nein, das ist eine Lüge. So etwas kann er nicht getan haben.“ Dieser ...
dieser Lebemann konnte nicht die Wahrheit gesagt haben.
Ein Muskel zuckte an seiner Wange, was man trotz der Bartstoppeln sah.
„Bezichtigen Sie mich der Lüge, Madam?“
Mit tauben Fingern griff sie in ihr Ridikül. „Ich habe hier einen den Besitz
betreffenden Brief vom Anwalt meines Onkels. Sehen Sie, Mr. Worbigger hat
mir geschrieben, dass ...“
„Ich kann überhaupt nichts sehen, Miss Swann“, stieß Kenley hervor. „Ihr
Onkel hat dieses Haus bei einem Kartenspiel an mich verloren, und damit
basta!“
Sie war es in höchstem Maße leid, von diesem großen Mann angeschrien zu
werden, dessen Benehmen ihr bis zu diesem Zeitpunkt keinen Anlass gegeben
hatte, ihn für einen Gentleman zu halten. Außerdem hatte sie keine Ahnung,
wie sie die trügerischen Klippen männlicher Ehre umschiffen könne. Im
Gegenteil! Sie wusste so gut wie nichts über Männer und hatte sich nur Miss
Meadows Vorträge über die in einer großen Stadt lauernden Gefahren angehört.
„Das ist unmöglich!“ schrie sie den Mann an, was, wie sich gleich darauf
herausstellte, sehr unklug gewesen war. „Bei dem Spiel kann es nicht mit
rechten Dingen zugegangen sein!“
„Jetzt bin ich nicht nur ein Lügner, sondern auch noch ein Betrüger? Kein
Mann hätte es gewagt ...“
„Und dazu ein Lebemann und Einbrecher! Und ich habe es gewagt!“
„Wenn Sie keine Weiberröcke trügen, Sie verdammtes Frauenzimmer, dann
würde ich ... dann würde ich ...“ Kenley wusste nicht, was er getan hätte, aber
etwas Nettes wäre es bestimmt nicht gewesen. Es juckte ihm in den Fingern,
etwas zu ergreifen und es zu schütteln und zuzudrücken oder ...
„Und obendrein ein Flegel!“ tobte Cristabel. „Die ganze Sache ist Humbug,
und ich verlange, dass Sie sofort das Haus verlassen. Sonst rufe ich die
Stadtwache. Ich mag eine unerfahrene Frau vom Lande sein, und mein Onkel
war vielleicht ein ... ein Tunichtgut, aber selbst ich weiß, dass er ein Spiel, bei
dem es mit rechten Dingen zugegangen ist, nie an Sie verloren hätte.“
„Was? Unterstellen Sie mir jetzt auch noch, ein Schwachkopf zu sein? Ich
frage mich, welchen charmanten Ausdruck Sie noch auf Ihrer Liste haben.
Vielleicht Mörder. Falls ich mich je versucht gefühlt habe, jemanden
umzubringen, dann jetzt, Miss Swann. Ich sage Ihnen ein für alle Mal, dass Ihr
Onkel nicht betrogen wurde!“
„Verzeihen Sie mir, Mr. Wer-immer-Sie-sein-Mögen, dass ich so freimütig bin,
aber ich weigere mich zu glauben, dass jemand, der die Karten nicht sehen
kann, es mit jemandem, der nicht blind ist, aufnehmen kann!“
Diese Bemerkung machte Kenley stutzig. Natürlich hatte Miss Swann Recht.
Trotz der Provokation war sein unhöfliches Benehmen unentschuldbar.
„Ich entschuldige mich, Miss. Ich bin Captain Kenley Chase. Bei dem Spiel
war ich nicht so ... hm ... behindert. Ich merke, dass die Situation für Sie
schwierig ist. Mit Ihrer Erlaubnis werde ich jemanden zu Lord Harwoods Anwalt
und zu meinem schicken, damit diese Sache geklärt wird. Würden Sie mich
entschuldigen, Madam?“
Nachdem sie murmelnd ihr Einverständnis erklärt hatte, erinnerte er sich,
dass er nicht präsentabel gekleidet war, und stürmte aus dem Raum. Gott, er
meinte, Miss Swanns Missbilligung wie einen kalten Luftzug zu verspüren. Seit
er von einer der Gouvernanten seines Cousins eines kindischen Streiches
wegen getadelt worden war, hatte keine andere Frau ihm je wieder das Gefühl
vermittelt, so dumm gewesen oder so über die Maßen beschämt worden zu
sein.
„Sparling!“ brüllte er. „Angetreten! Ich brauche Sie, damit Sie etwas für mich
erledigen, und zwar marsch, marsch!“ Er lief durch die Eingangshalle zur
Treppe und stolperte über die Harfe. „Verdammt, was ist das?“ schrie er und
stieß Miss Swann, die ihm gefolgt war, beiseite. Er griff nach dem Überzug des
Instruments und kam dann, sich mit einer Hand abstützend, auf die Füße. Mit
der anderen hielt er den Morgenmantel zusammen. „Welcher hirnrissige Narr
hat diese verdammte Harfe mitten in der Halle stehen gelassen?“ Eine Flut von
Flüchen war zu hören, in denen die unmögliche Abstammung der
verantwortlichen Person beschrieben wurde.
Zum Glück verstand Cristabel nicht die Hälfte dieser Flüche, aber genug, um
zu merken, dass der schlecht erzogene Wilde sie beschimpfte. Auch sie war
erschöpft und krank und wütend oder wäre es zumindest gewesen, hätte sie
über die Äußerungen nachgedacht. Daher antwortete sie mehr oder weniger im
gleichen Stil: „Ich habe die Harfe da hinstellen lassen, Sie ... Sie Liederjan, weil
es niemanden in diesem Haus gab, der mir hätte behilflich sein können. Und sie
wäre Ihnen nicht im Weg gewesen, hätten Sie auf Hilfe gewartet, statt gleich so
in die Luft zu gehen. Außerdem wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie in meiner
Gegenwart sich nicht dieser Ausdrucksweise befleißigten, wenngleich ich
annehme, dass man von einem so unmanierlichen Herumtreiber und
Weiberhelden nichts anderes erwarten kann.“
„In die Luft gegangen, ach, ja?“ brauste Kenley auf, wütend über seine
Unbeholfenheit, den verdammten Verband und vor allem die verfluchte Frau,
die Zeugin des Debakels war, wenn nicht sogar der Anlass dafür. „Eine
vertrocknete alte Pflaume wie Sie, Madam, würde nie wissen ...“, begann er und
wusste, dass er schon wieder das Falsche gesagt hatte.
Cristabel schnappte nach Luft. „Ich hätte nie ...“
„Nun, vielleicht hätten Sie!“ brüllte er.
Eine Menge ähnlicher Freundlichkeiten wurden ausgetauscht. Zum Glück
schrien beide zu laut, um, wie in Cristabels Fall, mehr als Teufelsbraten,
Geizknochen, Nervensäge und Dumpfbacke oder, wie in seinem Fall,
Schreckschraube, Fangzahn und Krautscheuche, verstehen zu können.
Als ihnen die Luft ausging, hielt Kenley wieder auf die Treppe zu. Dieses Mal
tastete er sich behutsam voran, indem er leicht die ihm vertrauten
Gegenstände vor den Wänden berührte. Tische, Stühle, die Harfe. Aha! Er ging
an dem Instrument vorbei und bedachte Miss Swann mit einem
triumphierenden Grinsen. Und stolperte dann über ihren Portemanteau.
4. KAPITEL
Ein Mann, der seiner Schulden wegen so verzweifelt ist, dass er sich umbringen
will, wird aller Wahrscheinlichkeit nach nicht dafür sorgen, dass seine
Verwandte in einer sehr viel besseren Situation ist. Jedenfalls war Cristabel
einige Zeit später, nachdem sie von der Haushälterin die grässliche Neuigkeit
erfahren hatte, zu dieser Erkenntnis gelangt. Sie hatte zusammengesunken und
einsam dagesessen, von jedermann vergessen, wie es schien, wenngleich sie
den Verrückten Befehle brüllen und toben gehört hatte. Türen waren zugeknallt
worden und Dienstboten am Zimmer vorbeigerannt, doch wenn das Haus nicht
Cristabel gehörte, würde sie, falls Captain Chase ihr keine Stärkung anbot, eher
verhungern, ehe sie sich erdreistete, einen der Bediensteten um etwas zu essen
zu bitten. Sie würde einfach dasitzen und auf Mr. Worbiggers Eintreffen warten,
damit der Anwalt ihr dann sagen konnte, ob ihr Onkel ihr etwas, irgendetwas,
testamentarisch vermacht hatte.
„Er hat nicht einmal ein Testament hinterlassen“, sagte jetzt Mrs. Witt, die
Haushälterin, die sich ihrer erbarmt hatte. „Er hat auch keinem seiner
Bediensteten ein Legat ausgesetzt. Gott weiß, dass er sie seit Monaten nicht
mehr bezahlt hat. Folglich hätten die ehemaligen Angestellten nicht überrascht
sein sollen. Wie dem auch sei, es blieb Captain Chase überlassen,
Wiedergutmachung zu leisten, was er getan hat. Mit seinen beim Spielen
erzielten Gewinnen hat er alle Dienstboten in den Ruhestand versetzt und, um
es so auszudrücken, neu angefangen. Sie dürfen ihn also nicht nach seinem
heutigen Benehmen beurteilen.“
Cristabel saß mit Mrs. Witt in der Küche. Sie nippte an einer Tasse, in der
glücklicherweise heißer Tee mit Honig war, was ihrem wunden Hals gut tat, und
verspeiste Teegebäck. Mrs. Witt war entsetzt gewesen, als sie die bekümmerte,
niedergeschlagene Frau im Korridor gesehen hatte, die dort schon wer weiß wie
lange saß. Dann hatte sie Cristabel in ihren winzigen Salon mitgenommen und
gesagt: „Ich glaube nicht, dass der Captain, dem Lärm nach zu urteilen ...
Pardon! ... sehr erfreut wäre, Sie jetzt oben im Korridor zu sehen.“
Cristabel verzog das Gesicht. „Ginge es nach mir, würde ich diesen Lump nie
wieder sehen. Einen unhöflicheren, schamloseren ... wirklich, ich weiß nicht, wie
Sie diese Unmoral tolerieren können. Heute Nachmittag ...“
„Nun, das ist nicht gerade das, was man in einem anständigen Haushalt
haben will, aber wissen Sie, Captain Chase hat den meisten Dienstboten frei
gegeben. Es ist nicht so, dass er aus diesem Haus eine Junggesellenhöhle
gemacht hat, ich meine, im üblichen Sinn. Wissen Sie, ein Gentleman muss
jedoch sein Vergnügen haben. Wirklich, mein Mann war ...“
Cristabel stellte die Tasse auf den Unterteller, und zwar heftig.
„Nein, ich nehme nicht an, dass Sie das begreifen. Aber der Captain kann
natürlich nicht ausgehen, und da er im Moment so ausgeruht ist, weil er nach
der scheußlichen Operation eine so lange Genesungszeit hatte, ist es kein
Wunder, dass er ein bisschen ausgelassen ist. Wir alle hoffen, dass er ein wenig
zur Ruhe kommt, nachdem er jetzt so viele neue Pflichten hat.“
Cristabel war skeptisch. Tiger wechselten nicht ihr Revier, nicht wahr? Oder
waren das Leoparden? Es spielte keine Rolle. Der Schuft hatte ihr ihr Erbe
weggenommen, und es war zweifelhaft, ob Mr. Worbigger herkam und den
Anspruch des gemeinen Feiglings zurückwies. Nein, sie konnte nur auf den
Kleinkram warten, den der Anwalt wahrscheinlich mit sich brachte. Danach
würde sie den arroganten, unmoralischen Captain nie mehr sehen müssen.
„Nichts? Es gibt nichts?“
Die Anwälte waren eingetroffen, Mr. Worbigger mit einem Sekretär und
einem Haufen Dokumente, und ein Mr. Gould von Gould, Gould, Woods und
Gould. Sie saßen in der Bibliothek des Onkels, wo man ihnen sofort
Erfrischungen angeboten hatte. Der Unterschied in der Behandlung, die
Cristabel zuteil geworden war, trug nur noch zu ihrer Feindseligkeit und ihrer
Erniedrigung bei. Verächtlich bemerkte sie, dass der Captain präsentabel war,
wenngleich seine Sachen so lose um ihn hingen, wie seine Moral es war. Aber er
war noch immer schmuddelig und unrasiert. Mrs. Witt hatte jedoch eine
Operation erwähnt. Daher stellte Cristabel großzügig neue Überlegungen an
und räumte ein, dass ihre Kritik zum Teil auf Ablehnung beruhte. Der Lüstling
war imstande, trotz seiner Aktivitäten präsentabel auszusehen, wohingegen sie
nicht fähig gewesen war, ihr Erscheinungsbild sonderlich zu verbessern. Mit
Mrs. Witts Hilfe hatte sie versucht, sich herzurichten, doch viel konnte nicht
getan werden. Sie konnte sich nicht gut das Haar waschen, und ihre anderen
Sachen waren, seit Tagen im Portemanteau zusammengefaltet, genauso
zerknittert und genauso schäbig. Daran ließ sich nichts ändern, außer dass sie
dankbar dafür sein konnte, dass zumindest einer der Männer ihr
beklagenswertes Äußeres nicht sehen konnte.
Mit Räuspern versuchte Mr. Worbigger ihre Aufmerksamkeit zu erlangen,
obwohl es ihr unbegreiflich war, wie ihre Gedanken zu einem Zeitpunkt wie
diesem hatten abschweifen können. Vielleicht war sie im Fieberwahn und alles
nur ein schlechter Traum. Es musste ein Albtraum sein, in dem der Anwalt mit
dröhnender Stimme Schuldverschreibungen erklärte und die Regulierung von
Familienerbbesitz.
„Sie müssen begreifen, dass die ... äh ... endgültige Aufteilung des Besitzes
Seiner Lordschaft schon kurz vor dem fatalen Kartenspiel beschlossen worden
war. Es gab so viele Gläubiger, dass deren Forderungen aus dem Erlös des
Verkaufs von Harwood nicht hätten erfüllt werden können. Lord Harwood muss
zu dem Entschluss gelangt gewesen sein, dass der Einsatz seines einzigen ihm
noch verbliebenen Eigentums der Flucht außer Landes vorzuziehen sei.
Beklagenswerte Situation, aber so ist sie nun einmal.“
„Aber wenn er so viele Schulden hatte, wie ist es dann möglich, dass
Harwood House nicht verkauft wurde, um sie zu begleichen?“
Nun war Mr. Gould derjenige, der in herablassendem Ton sagte: „Liebe junge
Dame, Ehrenschulden haben natürlich Vorrang vor Verbindlichkeiten bei
Händlern und Banken.“
Er hörte nicht, dass sie „Natürlich!“ vor sich hinmurmelte. Kenley hörte das
jedoch. „Ihr Onkel hatte viele Schulden bei Geldverleihern. Er hat schon seit
langem auf Pump gelebt. Wäre er am Leben geblieben, hätte ich ihm den Besitz
zurückgegeben. Ich sah jedoch keinen Sinn darin, die Wucherer profitieren zu
lassen. Des Weiteren kam es mir sehr gelegen, eine Stadtresidenz zu haben.“ Er
dachte daran, wie froh er gewesen war, Perrys Fürsorge während seiner langen
Rekonvaleszenz und dem Gefühl, für den Freund in dessen beengtem Quartier
im Albany eine Last zu sein, entrinnen zu können. Miss Swann glaubte, er
benutze das Haus für seine Liebschaften. Es war gut, dass er ihr Gesicht nicht
sehen konnte.
„Aber ... Wenn mein Onkel mir nichts vermacht hat, frage ich mich, warum
Sie mich herkommen ließen. Wissen Sie, Sie haben mir nicht nur sein Ableben
mitgeteilt. Sie haben besonders auf den Besitz verwiesen.“ Oje! Sie hatte wie
ein Geier geklungen, der sich aufs Aas stürzte. In Bath hatte sie nie das Gefühl
gehabt, so gewinnsüchtig zu sein. Aber in Bath war sie auch nicht so arm
gewesen.
„Ach ja, das kleine Missverständenis.“
Cristabel und Lord Winstoke waren zum ersten Mal an diesem Tag einer
Meinung. Beide hätten gern Mr. Worbigger bei lebendigem Leib gekocht.
„Zum Teufel! Kleines Missverständnis!“ murmelte Kenley nicht sehr leise. Es
war genug gewesen, um diese tobsüchtige alte Vettel vor seiner Tür erscheinen
zu lassen.
„Kleines Missverständnis!“ schnaubte Cristabel, bestärkt in der Vermutung,
dass sie einer Zukunft voller Entbehrungen entgegensah.
Mr. Worbigger lockerte sich den Hemdkragen. „Ja ... je nun ... äh ... Ich musste
mich mit Ihnen bezüglich des Erbgutes in Verbindung setzen.“
Cristabel setzte sich aufrechter hin.
„Nein, nein. Sie hätten auf keinen Fall einen Vorteil gehabt, da die
Familiengesetze der Swanns keine weibliche Erblinie vorsehen. Das heißt, dass
weder der Titel noch der Grundbesitz in weiblicher Linie vererbt werden
können.“ Der Anwalt räusperte sich. „Allerdings besteht die Möglichkeit, dass
der Barontitel für Ihren Sohn wieder eingesetzt werden kann oder zu dem
Zeitpunkt, da Sie einen Sohn haben, vorausgesetzt, Sie richten ein
diesbezügliches Ersuchen an die richtige Instanz, was für Sie zu tun ich mich
glücklich schätzen würde.“
„Und der private Besitz? Harwood Hall?“
„Weg! Ich befürchte, schon seit Jahren.“
„Verdammter Schwachkopf.“ Zum zweiten Mal an diesem Tag war Cristabel
mit dem Gastgeber einer Meinung. Ihrem Gastgeber, um Himmels willen!
„Das war es dann, nicht wahr?“ fragte sie schwach. Mit ihren Hoffnungen war
auch ihre Stimme geschwunden. „Sie haben meine Anwesenheit in London
erwünscht, um mit mir über einen nicht beanspruchten Titel und einen
ungeborenen Erben zu reden?“
„Ah, nicht ganz. Wissen Sie, da waren auch noch die anderen Schulden. Ich
hatte keine Ahnung von Ihrer augenblicklichen Lage und fühlte mich
verpflichtet, mich Ihrer Lebensumstände zu vergewissern.“
„Wie? Vielen Dank! Ich weiß Ihre Besorgnis zu schätzen, wenngleich es mir
lieber gewesen wäre, Sie hätten mir geschrieben ...“
„Ja, es bestand die Möglichkeit, dass Sie sich reich verheiratet haben und Ihr
Gatte vielleicht den Wunsch gehabt hätte, die Schulden zu begleichen.
Familienehre und so. Ich merke, dass ich mich geirrt habe.“
„Was?“ fragte Cristabel erschüttert. Kenley schmunzelte. Endlich fing er an,
die Situation zu genießen und zu hören, wie diese anmaßende Frau ihre
wohlverdiente Strafe bekam.
„Sie haben Glück“, erwiderte er und zerstörte damit den möglicherweise
vorhandenen Beginn nachlassender Feindseligkeit. „In weniger aufgeklärten
Zeiten konnten Erben auf Grund vorhandener Familienschulden ins Gefängnis
geworfen werden. Ihre Schule in Bath muss dem Gefängnis in der Fleet Street
vorzuziehen sein.“
Mr. Gould sagte: „Na, na!“ und „Aber, aber, Eure Lordschaft. Sie sollten Miss
Swann nicht einreden, eine unglückliche Nichte könne für die Schulden ihres
Onkels zur Rechenschaft gezogen werden. Jedenfalls nicht auf legale Weise.“
„Ganz im Gegenteil“, fauchte Cristabel und sah finster ihren Peiniger an. „Ich
bin sicher, Captain Chase würde es genießen, eine hilflose Frau trotz ihrer
Schuldlosigkeit im Gefängnis zu sehen.“
Der Scherz war nicht sehr belustigend. Kenley hob die Hand. „Genug, Miss
Swann. Ich bin es leid, mit Ihnen Beleidigungen auszutauschen. Sie müssen
sich jetzt mit der Legitimität meines Anspruchs auf dieses Haus abfinden. Es
sieht so aus, als hätte Lord Harwoods Anwalt nichts mehr mit Ihnen zu
besprechen. Mit Ihrer Erlaubnis werde ich daher meine Kutsche vorfahren und
Sie in ein Hotel bringen lassen. Meine Herren?“
Das war zu viel! Wirklich! Nicht nur, dass ihre Träume zerplatzt waren, auch
ihre schlimmsten Albträume hatten sich bewahrheitet! Sie war mittellos, ohne
Heim, ohne Arbeit und Freunde und musste das auch noch vor diesem
verachtenswerten Taugenichts eingestehen. Sie schniefte, wusste jedoch nicht,
ob auf Grund des Schnupfens oder der Niedergeschlagenheit. „Vielen Dank,
Captain Chase, aber ich ... ich kann mir eine Übernachtung im Hotel nicht
leisten.“
Ohne Miss Swanns Händeringen sehen zu können, war er ihretwegen
verlegen. „Ganz gleich“, erwiderte er schroff. „Ich kann Ihnen das Geld dafür
und für die Rückreise nach Bath vorstrecken.“
„Ich könnte nicht ...“
„Seien Sie nicht dumm, Miss Swann. Für die Dienstboten Ihres Onkels habe
ich mehr getan.“
„Sie begreifen nicht. Ich kann nicht nach Bath zurück. Ich habe meine
Stellung verloren, weil ich ohne Erlaubnis hierher gefahren bin.“
„Sie hohlköpfiges Frauenzimmer! Und Sie haben Anstoß an meinem
Benehmen genommen?“ rief Kenley aus, und zwar laut genug, um Cristabel
zusammenzucken zu lassen. Es überraschte ihn wirklich, dass eine so
sittenstrenge alte Jungfer sich so unklug hatte verhalten können. Wenn sie ein
Beispiel für Erzieherinnen war, dann nahm es nicht wunder, dass junge Frauen
solche hirnlosen Geschöpfe waren. „Haben Sie, wenn Sie nicht mehr nach Bath
zurückwollen, eine Freundin, zu der ich Sie begleiten kann?“ Er unterließ es zu
sagen: „Zu der ich Sie verfrachten kann?“
„Nein, Sir. Ich befürchte, ich habe hier niemanden.“
„Verdammt und zugenäht, was wollen Sie dann jetzt tun?“
Das war eine gute Frage, laut gestellt, aber gut. Cristabel wollte nur weg aus
London mit all seinem Dreck und dem Gestank und den lüsternen, übellaunigen
Männern.
„Ich ... ich werde meine Harfe verkaufen“, verkündigte sie in der nach der
wütend vorgebrachten Frage des Captains eingetretenen Stille. „Und dann
fahre ich vielleicht nach ... nach Brighton, um mir eine neue Anstellung zu
suchen. Allerdings habe ich keine Referenzen.“
In der nun eintretenden Stille schienen, je nach dem Zuhörer, der ihre letzte
Bemerkung vernommen hatte, die Bestürzung, das Entsetzen und die
Ungläubigkeit förmlich greifbar zu sein. Brighton, wo der Prinzregent und seine
Entourage den Sommer verbrachten? Eine allein stehende Frau, auf sich
angewiesen, ohne Referenzen, ohne Geld, ohne Anstellung? Undenkbar!
Unmöglich! Absurd!
„Verdammt!“ Das Letzte, wonach es Kenley gelüstete, war noch eine ihm in
den Kopf dringende Kugel. Das Zweitletzte, wonach ihn gelüstete, war noch
jemand, der von ihm abhängig war. Gott wusste, es ging ihm nicht ums Geld. Er
konnte noch eine beliebige Zahl bedürftiger Verwandter oder alter Dienstboten
in den bezahlten Ruhestand entlassen. Aber Miss Swann war weder eine
Verwandte noch eine Bedienstete, und bei Gott!, sie fiel auch nicht in seinen
Verantwortungsbereich! Er war für die einhundertundzwanzig Männer, die mit
der „Invicta“ untergegangen waren, verantwortlich gewesen. Und der Kampf
mit der Admiralität, dem Parlament und dem Kriegsministerium um
Unterstützung für die Witwen und Waisen lag in seiner Verantwortung. Er hatte
sich um die Pächter und deren Familien in Stokely zu sorgen, nicht um eine
scharfzüngige, moralisierende alte Jungfer, die so viel Verstand hatte wie ein
seekranker Kajütjunge. Was in aller Welt sollte er also mit ihr und ihrer
verfluchten Harfe anfangen? Am liebsten hätte er das Instrument schleunigst
versenkt, aber Harwoods Nichte? Seine reizende, sanftmütige Mutter hatte
nicht das üble Los verdient, diese zickige Frau als Gesellschafterin aufgenötigt
zu bekommen. Ihm fiel auch niemand ein, den er so sehr verabscheute, dass er
ihm diese schreckliche Last hätte aufbürden können. Aber verdammt, Miss
Swann war eine Dame, und jeder Knochen im Leib und sein dröhnender Kopf
erinnerten ihn daran, dass ein Gentleman einer in Nöten befindlichen Frau
nicht einfach den Rücken zudrehte, ganz gleich, welchen Grund man zum Ärger
hatte.
„Mr. Gould? Mr. Worbigger?“ Das war ein Hilfeersuchen von Mann zu Mann.
Die Anwälte, die beide Gentlemen waren, hatten ähnliche Gedanken. Was
würde diesem zerbrechlich wirkenden, unschuldigen Kind mit den hübschen
blauen Augen und dem müden, leeren Lächeln widerfahren? In London würde
es bei lebendigem Leib verschlungen werden, und selbst wenn man Referenzen
für eine Anstellung, gefälschte, falls notwendig, auftrieb, verdammte man Miss
Swann nur zu einem tristen Dasein. Die Herren hatten keine Lösung für das
Problem.
Cristabel war fast zu benommen, um noch klar denken zu können, abgesehen
davon, dass sie nicht den Wunsch hatte, dem Captain verpflichtet zu sein.
„Auch in London brauchen Kinder Musikunterricht. Wenn Sie mir sagen
könnten, wie ich zu einer Vermittlungsagentur komme ...“
„Ohne Referenzen? Eher könnten Schweine fliegen.“ Vielleicht kannte Perry
jemanden, der einen Haufen Gören hatte, deren boshafter kleiner Verstand
durch eine so prüde Schrulle nicht noch mehr in Mitleidenschaft gezogen
wurde.
Mr. Worbiggers pickelgesichtiger junger Sekretär hatte schicklicherweise bis
jetzt nichts zur Diskussion beigetragen, außer dass er oft mit Papieren
geraschelt hatte, und zwar immer dann, wenn von seinem Vorgesetzten
Klauseln oder Gläubiger erwähnt worden waren. Aber niemand hatte einen
Vorschlag zu machen, und daher klopfte er dem Anwalt leicht mit den
Fingerspitzen auf die Schulter.
„Was gibt es, mein Junge? Nein, flüstern Sie nicht. Sprechen Sie, falls Sie von
einer Anstellung oder so etwas wissen.“
Verlegen stammelte der Jüngling: „Kö...könn...te Miss Swann nicht hier
blei...bleiben? Das Haus ist so groß.“ Er machte eine ausholende
Handbewegung, um anzudeuten, dass es hier endlos viel Raum und viel Platz
gab, und alle Dokumente fielen zu Boden.
Vier vehemente „Nein!“ erfolgten. Die Anwälte hielten den Einfall für derart
unschicklich, dass Mr. Gould stirnrunzelnd Mr. Worbigger anschaute, der
wiederum mit dem Vorwand, beim Aufheben der Schriftstücke behilflich zu
sein, seinem Gehilfen unsanft gegen den Fuß trat. Eine junge Frau aus gutem
Haus, die mit einem eingefleischten Junggesellen unter demselben Dach
wohnte? Niemals!
Cristabel entsetzte diese Vorstellung. Sie würde kein Auge zubekommen und
sich dauernd fragen, ob sie, im Haus mit einem solchen Lüstling, im Bett sicher
sei.
Kenley sah das Ende seiner friedlichen und vergnügungsvollen Zeit vor sich,
noch ehe sie richtig begonnen hatte. Nein, nun musste doch seine Mutter daran
glauben.
„Was gibt es jetzt, Junge?“ Der Gehilfe war zu betreten, um etwas äußern zu
können. Hochroten Gesichts hielt er dem Anwalt ein Schriftstück hin. Mr.
Worbinger las es, äußerte „Hm!“ und reichte es an Mr. Gould weiter. Mr. Gould
setzte die Brille auf, las es und äußerte: „Hm!“
„Hm? Was heißt hier ‚hm‘? Haben Sie etwas gefunden?“
„Erinnern Sie sich an einen in Kensington gelegenen Besitz, Mylord ... äh ...
Captain? Ich habe Ihnen davon erzählt, als Sie krank waren.“
„Ja, ich erinnere mich vage. Sie haben gesagt, damit gäbe es ein Problem, mit
dem ich mich jedoch vorläufig nicht befassen müsse.“
„Ja, ganz recht. Es sah so aus, als habe Lord Harwood, als er bei Hazlip den
Schuldschein unterschrieb, damit auch das Eigentumsrecht an seinen Londoner
Besitzungen auf Lord Winstoke übertragen. Mr. Worbigger und ich haben
angenommen, dass er damit dieses Haus samt dem Inventar meinte. Es war
doch der Spieleinsatz, nicht wahr?“
„Ja, ja. Reden Sie weiter.“
„Nun, einige Zeit später, zu Beginn Ihrer Rekonvaleszenz und lange, bevor
Sie hier einzogen, kamen Mr. Worbigger und sein ... äh ... Assistent zu mir, um
die Papiere Seiner Lordschaft abzuholen. Unter ihnen entdeckten wir einen
anderen Schuldschein, der ein kleines Haus in Kensington betrifft.“
„Wieso in aller Welt sollte mein Onkel hier noch ein Haus haben?“ wollte
Cristabel zur Bestürzung des Anwaltes und zu Captain Chases Belustigung
wissen.
„Wissen Sie, was ein Bijou ist, Madam?“
„Ja, ein Juwel. Aber ich begreife nicht ...“
„Falls Ihre zarte Seele heute noch mehr Aufklärung vertragen kann, werde
ich Ihnen sagen, dass Ihr Onkel für sein Haus mehr Respekt hatte als ich. Er
hatte auch noch andere Laster außer der Spielleidenschaft.“ Kenley konnte Miss
Swanns Erröten nicht sehen, hörte sie jedoch scharf einatmen. Zufrieden drehte
er sich zu seinem Anwalt um.
„Reden Sie weiter, Mr. Gould. Konnten Sie das Besitzrecht an dem ... äh ...
kleinen Haus regeln?“
„Ganz außer Frage, Sir. Das Haus gehört Ihnen. Unsicherheit bestand
hinsichtlich der Frage, ob Pfandrechte bestanden. Wir haben jedoch nichts
Diesbezügliches gefunden. Einer meiner Angestellten hat das Anwesen
aufgesucht und festgestellt, dass man das Haus in eine Pension verwandelt hat.
Daraufhin habe ich mich mit Ihnen in Verbindung gesetzt, doch Sie waren nicht
in der Verfassung, darüber zu befinden, ob Sie das Haus behalten wollen, das in
einem einigermaßen anständigen Stadtviertel liegt, oder ob es verkauft werden
solle, weil die Mieteinnahmen nicht sehr hoch sind.“
Kenley war entzückt. „Soll das heißen, dass ich ein Anwesen in einer
respektablen Gegend habe, das sich vielleicht von selbst trägt?“
„Ja, das ist richtig, Sir.“
„Wollen Sie Pensionswirtin werden, Miss Swann? Ich bin überzeugt, Sie
würden diese Aufgabe glänzend ausfüllen. Sie hätten ein anständiges Haus
zum Wohnen und ein Einkommen. Ich bin offensichtlich nicht in der
Verfassung, ein solches Unternehmen zu beaufsichtigen. Daher scheint mein
Vorschlag mir die Lösung für unser beider Probleme zu sein!“ Himmel, was
hätte Kenley noch sagen sollen, um Miss Swann zu überzeugen?
Da die Anwälte Cristabel ermutigten, fand sie sich im Nu mit ihrer Harfe an
der anderen Seite der Haustür von Harwood House wieder. Benommen
umklammerte sie ein Bündel Banknoten, dass der Captain ihr gegeben hatte,
damit sie sich einrichten konnte. Er hatte nicht einmal zugehört, als sie ihm
schwor, ihm das Geld so schnell wie möglich zurückzugeben, weil ihm in jeder
Hinsicht einhundert Pfund wenig dafür vorkamen, ihm die verdammte Frau aus
dem Haus zu schaffen. Genauer gesagt, aus seinem Leben.
5. KAPITEL
Wenn jemand sich wie ein Schiff auf hoher See vorkam, dann traf das jetzt auf
Cristabel zu, und nicht nur des ganzen Seemannsjargons wegen. Sie musste die
einzige Person im Haus gewesen sein, die die Befehle des Captains nicht
verstanden hatte. Das gesamte Personal war jedoch gesprungen und hatte mit
vielen „Aye, aye, Sir“ und „Yes, Sir“ seine Order ausgeführt. Aber sie hatte
genug verstanden, um zu begreifen, dass man sie in Windeseile aus dem Haus
gedrängt hatte, samt Harfe, Bargeld und sogar einem ihr von Mrs. Witt
übergebenen Korb mit Essen. Ein Schiff auf hoher See? Sie kam sich eher wie
ein Ruderboot bei einem Orkan auf dem Meer vor, bei den Höhen und Tiefen
der letzten Tage, dem Auf und Nieder ihres Schicksals, das erst in einer Flaute
gewesen war und dann plötzlich vom Wind erfasst und in die Höhe getragen
wurde, und dem „Volle Fahrt voraus“, wie ihr Begleiter in des Captains Kutsche
äußerte.
„Ich bin Ihr Begleitkonvoi durch gefährliche Untiefen, Miss“, sagte er beim
Einsteigen in den Wagen und erschreckte sie beinahe mit dem Eisenhaken, den
er anstelle einer Hand hatte. „Der Captain hat gesagt, ich solle Sie sicher in den
Hafen bringen, Madam.“
Cristabel setzte sich aufrechter hin. „Und Sie sind ...?“
„Jonas Sparling, zu Ihren Diensten, Miss. Früher bei der Marine Seiner
Majestät, kerngesunder Seemann, qualifiziert auf Deck, im Reff und am Ruder.
Jetzt der Leibdiener des Captains. Sein Kammerdiener, könnte man sagen.“
Das erklärte zumindest, warum Captain Chase unrasiert war, aber sonst
nichts weiter.
Auf der Fahrt durch die belebten Straßen nahm Cristabel sich vor, dem
Captain die einhundert Pfund zurückzuzahlen und dann herauszufinden, ob das
Haus die Mühe wert war. Sie würde den Betrieb profitabel machen. Sie musste
Gewinne erwirtschaften. In ihren kühnsten Träumen hatte sie sich nie
vorgestellt, je ein Hotel oder dergleichen zu leiten, aber diese Möglichkeit war
sehr viel besser als die Aussichten, die sie noch vor einigen Stunden gehabt
hatte. Die Sullivan Street in Kensington war nicht gerade das Harwood House in
Mayfair, aber auch nicht das Elendsviertel von London. Da Cristabel nicht
wusste, ob sie lachen oder weinen solle, putzte sie sich die Nase. Zum Teufel
mit der Erkältung und der rußigen Luft, die ihr die Augen tränen machte.
„Wieso trägt Captain Chase einen Kopfverband?“
„Die ‚Invicta‘, unser Schiff, wurde von einem anderen beschossen, aber wir
haben zwei Gegner versenkt. Den dritten jedoch, die ‚Ducharde‘, haben wir in
dem Pulverqualm nicht gesehen, nur deren Kanonen gehört. Eine Kugel traf das
Munitionslager. Danach erfolgten Explosionen, wie ich sie noch nie erlebt hatte,
und uns flog das Schiff in Stücken um die Ohren. Und die Männer ...“
„Und Ihre Hand?“
„Aye. Im nächsten Moment fand ich mich im Wasser vor, und dabei kann ich
nicht schwimmen. Aber da war der Captain, der eine schwere Kopfverletzung
hatte, und das Blut floss ihm über das Gesicht. Er hat mich über Wasser
gehalten, bis wir einen treibenden Lukendeckel entdeckten. Er hat mir das
Leben gerettet.“
Cristabel atmete die angehaltene Luft aus. „Jetzt begreife ich, warum Sie ihm
treu ergeben sind.“
„Das war noch nicht alles. Die ‚Ducharde‘ kam näher, weil man uns vielleicht
für Franzosen hielt. Einfache englische Seeleute hätte man nicht
aufgenommen, aber man erkannte die Uniform des Captains und hat uns aus
dem Wasser gezogen. Ich war dort wieder dem Tode nahe, hätte er nicht
gewusst, was gegen die Blutungen und so zu tun sei. Die Franzmänner haben
uns in den Bunker geworfen und sich nicht mehr um uns gekümmert, bis sie
uns auf ein Gefangenenschiff transportierten. Dort waren wir monatelang und
verrotteten, derweil die Admiralität über die Freilassung des Captains
verhandelte. Ich weiß nicht, was man ausgehandelt hat, aber der Captain hat
mich zu einem Teil des Handels gemacht und gesagt, er brauche mich. Zu
dieser Zeit war er schon schlimm dran, da er keine richtige medizinische
Versorgung bekommen hatte. Also ließ man mich frei, damit ich sicherstellen
konnte, dass er nach England zurückkam.“
„Haben Sie gehört, dass da heute Nachmittag eine ... eine Frau im Haus
war?“ fragte Cristabel errötend.
„Jeder in ganz Mayfair hat gehört, dass da heute Nachmittag eine Frau im
Haus war, Madam.“
Konnte sie noch röter werden? Nein, es lag wieder am Fieber. „Aber ... aber ...
am Nachmittag und im Empfangssalon und auf dem Fußboden!“
„Sie haben die Frau sich nicht beschweren gehört, nicht wahr?“
Cristabel wusste, dass Mr. Sparling sich über sie und diese höchst
unschickliche Unterhaltung lustig machte. Eine Dame sollte nichts von solchen
Dingen wissen und erst recht nicht über sie reden. Eilig wechselte sie das
Thema: „Also gut, Sie werden nicht schlecht über Captain Chase reden. Aber
selbst Sie können ein so verruchtes Spiel nicht gutheißen.“
„Nein, Madam, nur dass dadurch dieses Haus in Kensington gewonnen wurde,
zu dem wir fahren. Entschuldigen Sie die Bemerkung, aber damit wir uns nicht
falsch verstehen – ohne das Haus säßen Sie auf dem Trockenen.“
Das war so nah an der Wahrheit dran, dass Cristabel stutzig wurde.
„Trotzdem ist das nicht richtig“, erwiderte sie.
„Ich bin nur eine alte Teerjacke auf permanentem Landurlaub, Miss. Wer bin
ich, sagen zu können, was richtig ist?“
Falls das ein zarter Hinweis darauf gewesen sein sollte, dass eine mittellose
Lehrerin aus der Provinz nichts mit dem Leben in London zu tun hatte, so fand
Cristabel, könne sie ihn ignorieren. Der Wagen fuhr langsamer, damit der
Kutscher sich nach dem Weg erkundigen konnte. Eifrig schaute Cristabel sich
um. Die Häuser machten einen netten, tröstlichen Eindruck auf sie. Sie waren
ordentlich und anspruchslos und hatten ebenso wenig Extravagantes und
Überspanntes an sich wie sie selbst.
Das Haus Nummer fünfzehn in der Sullivan Street war etwas schmaler als die
benachbarten Gebäude, stand näher an der Straße, und den winzigen
Vorgarten bedeckte Matsch statt ein Rasen. Die Fenster waren verschmiert, die
Eingangsstufen unter Dreckschichten verborgen, und das Haus als solches
hatte eine schmutzige Farbe. Kein Wunder, dass es nicht mehr einbrachte. Kein
Wunder, dass Captain Chase es nicht haben wollte.
Jonas räusperte sich. Der Lakai hatte den Wagenschlag geöffnet und wartete
darauf, Cristabel aus dem Fahrzeug zu helfen. „Halt, Miss! Gehen Sie an den
Wind!“
Sie machte keine Anstalten, die Kutsche zu verlassen. „Ich befürchte, ich
begreife Sie nicht, Mr. Sparling.“
„Kinn hoch!“ erklärte er und lächelte aufmunternd.
„Ja, Sie haben ganz Recht“, erwiderte sie und straffte sich entschlossen. „Für
heute habe ich mich dusselig genug benommen. Zeit, jetzt ... äh ... die Fahne
hochzuhalten?“
„Genau das, Madam. Sie schaffen es. Der Diener und ich werden das Gepäck
bringen. Gehen Sie voraus.“
Die Röcke verbargen die zitternden Knie. Aber die Schultern waren gestrafft,
als sie auf eine weitere ihr fremde Haustür zuging. Statt des Harwood-Wappens
war ganz in der Nähe in einem Fenster ein ramponiertes, handgeschriebenes
Schild zu sehen, auf dem „Zimmer frei“ stand. Entschlossen klopfte Cristabel an
die Tür.
Der Mann, der ihr öffnete, war klein und mürrisch. Er hatte stachliges Haar
und schaute Cristabel unter buschigen, wulstigen Augenbrauen an. Sein
Nasenrücken war platt gedrückt, und eine feuchte, angekaute Zigarre hing in
seinem Mund. Seine Jacke war zerknautscht, und das offene Hemd hatte am
einst weißen Kragen einen Schmutzrand. Er war ganz gewiss nicht die Art
Mensch, die Cristabel in ihrem Haus sehen wollte. Der Eindruck beruhte auf
Gegenseitigkeit. Nach einer unverschämten Musterung der hoch gewachsenen,
dünnen, unansehnlichen Frau, die vor der Türschwelle stand, verkündete der
kleine Mann: „Sie sind nicht unser Typ“ und knallte ihr die Tür vor der Nase zu.
Was für eine Art, Pensionsgäste anzulocken! Cristabel klopfte erneut. Dieses
Mal machte der Mann grinsend auf, was angesichts seiner schlechten
verfärbten Zähne wenig gewinnend aussah. „Hartnäckiges Frauenzimmer, das
muss ich dir lassen! Aber du wirst mir mehr als das zeigen müssen!“
„Ich zeige Ihnen die Tür, mein Bester!“ erwiderte Cristabel und schaute ihn
erbost an. „Ich rate Ihnen, erst gute Manieren zu lernen, wenn Sie Ihren Posten
hier behalten wollen, ganz gleich, was Sie hier tun. Ich nehme an, Sie sind der
Pförtner. Sie werden eine ordentliche Uniform tragen und immer einen
sauberen Eindruck machen müssen. Falls das möglich ist“, fügte sie zweifelnd
hinzu.
„Verdammt noch mal, für wen zum Teufel halten Sie sich? Was soll das, hier
aufzutauchen und mir, Nick Blass, zu sagen, was ich tun und was ich anziehen
soll?“
„Ich bin Miss Cristabel Swann, Lord Harwoods Nichte, und die neue
Eigentümerin dieses Anwesens.“
„Den Teufel sind Sie! Klar, Seine Lordschaft ist abgekratzt, aber nie und
nimmer hat er Ihnen die Leitung des Hauses übertragen. Er hat nie erwähnt,
dass er eine Vogelscheuche von Nichte hat. Also kehren Sie in Ihr verdammtes
Kloster zurück oder wohin auch immer, oder ich schwöre, ich werde ...“
Inzwischen hatte Cristabel mehr Flüche an einem Tag gehört als bisher im
Leben und war es leid. Offensichtlich hatte dieser Nick Blass nie seinen Mund
mit Seife ausspülen müssen, wie es bei den kleinsten Mädchen in Miss Meadows
Schule geschah, wenn sie auch nur den Hauch einer blasphemischen Äußerung
auf den Lippen gehabt hatten. Cristabel bezweifelte, dass er irgendeinen Teil
seines Körpers mit Seife gewaschen hatte, und zwar seit Wochen. Aber sie war
nicht gewillt, sich von ihm einschüchtern zu lassen.
Sie zwängte sich an ihm vorbei und sagte: „Ich gehe nirgendwohin. Sie
können jedoch jederzeit gehen, wenn es Ihnen nicht passt, wie die Dinge hier in
Zukunft getan werden – korrekt und respektvoll. Ich will diese widerliche
Ausdrucksweise nicht mehr hören!“
„Wirklich, Sie ...“ Die weitere Unterrichtung in Gossensprache wurde durch
einen Arm unterbrochen, der sich Mr. Blass um den Hals schlang und an dessen
Ende ein scheußlich aussehender, über seinem Gesicht liegender Eisenhaken
war.
„Fest, Maat! Sie haben die Dame gehört.“ Mr. Blass machte fest. Er hielt die
Flut von Worten zurück und wehrte sich gegen den Griff des kräftigeren
Mannes. Mr. Sparling war größer und stärker, doch Mr. Blass kämpfte auf eine
schmutzigere Weise. Er biss dem Seemann ins Handgelenk. Mr. Sparling
lockerte den Griff und holte mit dem anderen Arm zu einem wuchtigen Schlag
aus. Mr. Blass griff nach dem Stiefel und dem darin steckenden Messer. Cristal
nahm den ersten Gegenstand an sich, den sie entdeckte. Das war ein
Schirmständer. Sie leerte den Inhalt auf den Fußboden und machte Anstalten,
das Ding auf Mr. Blass zu schleudern, als plötzlich jemand, der weder schrie
noch fluchte, mit leiser, kultiviert klingender Stimme etwas äußerte, wodurch
das Gerangel ein Ende fand.
Die beiden Gegner ließen voneinander ab, und Cristabel stellte den
Schirmständer, einen Elefantenfuß, wie sie jetzt erschaudernd sah, wieder hin.
Alle in der Halle Anwesenden drehten sich dem blondhaarigen Herrn zu, der
langsam, sich leicht auf einen Spazierstock stützend, die Treppe herunterkam.
Genau so hatte Cristabel sich einen Londoner Beau vorgestellt! Er war
muskulös, trug elegante Sachen und hatte ein hübsches, nicht mehr sehr
jugendliches, glatt rasiertes Gesicht. Selbst seine Manieren waren die eines
höflichen Romanhelden.
„Meine liebe Miss Swann“, sagte er und hob ihre Hand zum Kuss an die
Lippen, nachdem er diskret einige Schirme beiseite gestoßen hatte. „Ich konnte
nicht umhin, das Gespräch mit anzuhören, und bitte Sie, mir zu erlauben, Ihnen
behilflich zu sein. Ich bin Major Lyle MacDermott, zu Ihren Diensten, Madam.“ Er
knallte die Hacken zusammen und schenkte ihr ein breites Lächeln, bei dem
sich Grübchen in seinen Wangen zeigten. Was für ein Anblick für eine Frau,
besonders nach dem Tag, den Cristabel hinter sich hatte!
„Sie müssen wissen, Madam, Ihr Onkel hat mich damit beauftragt, dafür zu
sorgen, dass die Dinge hier reibungslos verlaufen.“ Er hüstelte und klopfte
verlegen mit dem Spazierstock gegen sein verletztes Bein. „Lord Harwood hatte
Mitleid mit einem verwundeten Soldaten und hat mir freundlicherweise
gestattet, hier zu wohnen, bis ich wieder zu meiner Einheit zurück kann. Wissen
Sie, zum Ausgleich für meine ... äh ... sachkundige Leitung zahle ich eine
herabgesetzte Miete. Sehr großzügig von Ihrem Onkel. Ich bin sicher, wir alle
vermissen ihn und bedauern mit Ihnen den erlittenen Verlust.“
Cristabel zwinkerte. Großzügig? Freundlich? Ihr Onkel? Wie reizend vom
Major, bei jedem Menschen die guten Seiten zu sehen. Ihr Vater wäre sehr mit
ihm einverstanden gewesen. Der Major verwendete sich sogar für Mr. Blass,
dieses elende Geschöpf.
„Sie werden ihn nicht auf der Stelle entlassen wollen, Miss Swann,
wenngleich er manchmal etwas grob ist. Er ist nicht an Damen gewöhnt. Aber
er ist trotzdem ein brauchbarer Bursche, und Sie würden es sich gewiss nicht
wünschen, sofort ein Mädchen für alles finden zu müssen, nicht wahr?“
Cristabel war dieser Meinung, obwohl der kleine Mann sie immer noch finster
anschaute und sie sich durch ihn beschmutzt vorkam. Natürlich hatte sie die
Augen des Captains nie gesehen, konnte sich andererseits jedoch nicht
vorstellen, dass der Blick eines wütenden Gentleman so viel Boshaftigkeit
ausdrücken könne. Unbehaglich wandte sie den Blick ab. „Mr. Blass kann
vorläufig bleiben“, gab sie nach und handelte sich dadurch vom Major noch
eines dieser Lächeln ein, die einem das Herz stocken ließen.
„Gut, gut! Bringen Sie Miss Swanns Gepäck ins Haus, Nick, derweil wir
überlegen, was getan werden muss.“ Mr. Blass grunzte, ging jedoch zur
Kutsche. Major MacDermott schien jetzt Mr. Sparling zum ersten Mal bemerkt zu
haben, drückte ihm ruhig eine Münze in die Hand und schickte ihn fort. „Von
nun an kümmere ich mich um die Dame, guter Mann“, sagte er und brachte sie
aus dem Entree.
Sie wäre ihm überallhin gefolgt, gar nicht zu reden von dem von ihm
vorgeschlagenen Salon, wo man das Gespräch bequemer fortsetzen könne. Sie
dachte daran, sich bei Mr. Sparling für seine Begleitung zu bedanken, und
nickte ihm, als er sie skeptisch ansah, aufmunternd zu. „Machen Sie sich keine
Sorgen.“ Natürlich war nun, da der Major auf der Bildoberfläche erschienen war,
alles in Ordnung. Er war ein wahrer Gentleman und Offizier, der sie sofort
respektvoll behandelt hatte. Zwar war es nicht eben schicklich, im Salon, der
für ihren Geschmack etwas zu auffällig eingerichtet war, allein mit ihm zu sein,
aber jetzt war nicht der richtige Augenblick für Etikette. Major Lyle MacDermott
würde, davon war sie überzeugt, die Grenzen der Schicklichkeit nie
überschreiten. Daher konnte sie getrost dem Seemann, wie es diesem
Wackeren vorkam, zum Abschied mit der fröhlichen Zuversicht eines zur
Schlachtbank geführten Lammes zuwinken.
Jonas konnte indes nichts anderes tun als das Haus verlassen. Daher
entfernte er sich und kratzte sich mit dem Metallhaken am Kopf. Er brachte es
fertig, dem einen oder anderen Schirm einen Tritt zu versetzen und ihn so in
den Weg des Knilches zu schubsen, während dieser sich mit der Harfe abmühte.
Auf der Straße warf er einen letzten Blick auf das Haus zu und stieg dann in
die Kutsche. Umrahmt von der Fassung eines im ersten Stock gelegenen
Fensters stand eine, soweit der alte Seemann es beurteilen konnte, nur in
Unterwäsche gekleidete Frau, die ihm zuwinkte und zuzwinkerte. Ihr Ballast
hing ziemlich über Bord. Wenn das keine von Mutter Careys Schnepfen war,
dann wusste er nicht mehr, was Steuerbord und was Backbord war. Das war
nicht die richtige Takelung.
6. KAPITEL
„Hatschi!“
„Ist mit Ihnen alles in Ordnung, Madam?“ Major MacDermott war die
Besorgnis in Person und reichte ihr ein schneeweißes Taschentuch. „Sie
scheinen mir, wenn Sie die Bemerkung verzeihen, nicht ganz in Form zu sein.“
Cristabel schniefte. „Danke, das ist nur ein Schnupfen“, versuchte sie ihn zu
beruhigen, doch ihre Stimme hatte krächzend geklungen.
Der Major holte ihr auf ihre Bitte hin die Limonade, die Mrs. Witt für sie
gemacht hatte. In der Abwesenheit des gut aussehenden Offiziers holte sie tief
Luft und betrachtete ihre geschmacklos eingerichtete Umgebung etwas näher.
„Wozu wird dieser Raum benutzt?“ erkundigte sie sich, nachdem Major
MacDermott mit der Limonade zurückgekommen war. Die Karaffe war in feuchte
Tücher gewickelt, und sogleich hielt Cristabel Ausschau nach einem Glas. Sie
sah eins auf der Kommode und holte es sich. Daher entging ihr, dass der Major
die Augen aufriss, leicht zusammenzuckte und eine schöpferische Pause
einlegte.
„Dieser Raum? Äh, natürlich dieser Raum. Ja, nun, hier können die ... äh ...
Pensionsgäste ihre Besucher empfangen.“
„Natürlich! Wie dumm von mir. Selbstverständlich kann man nicht erwarten,
dass sie Besucher in ihrem Schlafzimmer empfangen oder dort geschäftliche
Angelegenheiten ... Oje! Sagen Sie nur nicht, dass Sie sich schon bei mir
angesteckt haben! Hier, trinken Sie etwas Limonade. Das hilft wunderbar bei
Erkältungen.“
Der Major lehnte das Angebot ab. „Sehr freundlich. Ich werde mir etwas
anderes zu trinken nehmen.“ Er ging zu einer Kommode, auf der verschiedene
Karaffen standen. „Sie haben doch gesagt, dass Sie Lord Harwoods Nichte sind,
nicht wahr?“ fragte er, während er Cognac in ein Glas goss.
„Ja, ich bin seine Nichte. Onkel Charles war Papas älterer Bruder. Mein Vater
war der Vikar einer kleinen Gemeinde in der Nähe von Bath. Beide standen sich
nicht sehr nahe“, erklärte Cristabel in der Annahme, dem Major sei aufgefallen,
dass sie keine Trauerkleidung trug. Bei näherer Betrachtung waren die Sachen,
die sie normalerweise anhatte, schon düster genug, um darin auch an einem
Begräbnis teilnehmen zu können, doch ihr Gewissen erlaubte ihr nicht, den
Verstoß gegen die Sitten zu vergessen.
Mr. MacDermott hörte nur „Vikar“ und „Gemeinde“. Er leerte ein weiteres
Glas. „Und Sie haben gesagt, dass Ihr Onkel Ihnen dieses Haus hinterlassen
hat?“
Cristabel wollte ihren attraktiven neuen Bekannten nicht belügen. Sie wollte
ihm auch nicht eingestehen, dass ihr Onkel als mittelloser Verschwender
gestorben war und niemandem irgendetwas vererbt hatte, selbst wenn er noch
daran gedacht haben sollte, dass er eine Verwandte hatte. Es fiel ihr schwer,
sich diese Tatsachen einzugestehen, geschweige denn, sie einem
warmherzigen Herrn mitzuteilen, der bereits geäußert hatte, ihr Onkel sei
großzügig und freundlich gewesen. „Ja, der Besitz wurde mir übertragen. Die
Anwälte fertigen zur Zeit die Urkunden aus.“
„Seltsam! Ich habe gehört, ein junger Edelmann hätte dem alten Bas... dem
Baron alles beim Spiel abgenommen.“
„Das muss Captain Chase sein“, meinte Cristabel. Auf sie hatte er nicht sehr
wie ein Edelmann oder Gentleman gewirkt. Aber auch Onkel Charles hatte
einen Titel gehabt und sich nicht wie ein Edelmann verhalten. „Captain Chase
hat Harwood House übernommen.“ Das war alles, was sie zu der Situation sagen
mochte, worauf Major MacDermott sich seinen Reim machen konnte. Ehe er
jedoch weitere Fragen stellen konnte, bat sie um den zuvor von ihm erwähnten
Tee. „Die Limonade macht mich frösteln.“
Hastig blickte er auf seine Uhr und sah dann prüfend Miss Swann an.
„Verzeihen Sie mir die Bemerkung, Madam, aber ich glaube, Sie gehen besser
zu Bett, statt jetzt Tee zu trinken. Erkältungen haben, wenn man nichts gegen
sie unternimmt, die Tendenz, sich einem auf die Brust zu legen. Oder man
bekommt Schüttelfrost.“
„Ich befürchte, Sie haben Recht. Außerdem habe ich Sie schon viel zu lange
aufgehalten. Sie wollten, als ich eintraf, das Haus verlassen, nicht wahr? Wenn
Sie mir sagen könnten ...“
„Natürlich, meine liebe Miss Swann. Ich werde Ihnen sofort eine Droschke
rufen lassen. In welches Hotel wollen Sie?“
„Hotel? Natürlich wohne ich hier!“
Der Major machte eine Kehrtwendung, die jeden Ausbildungsunteroffizier
zum Weinen gebracht hätte. „Hier? Ich meine, hier?“
„Natürlich! Wieso haben Sie etwas anderes angenommen?“
Er schnappte nach Luft. „Ja, warum wohl? Hm ... äh ... Das ist kein Ort für eine
Dame. Das heißt, er eignet sich überhaupt nicht für jemanden, der so vornehm
und gebildet ist wie Sie.“
„Vielen Dank, Major, doch ich versichere Ihnen, dass ich nicht zu stolz bin,
um in einem gemieteten Zimmer zu schlafen. Ich habe Schlimmeres hinter mich
gebracht. Und in Hotels werden allein stehende Damen auch nicht sehr gut
behandelt, wie Sie wissen.“
„Nein, nein! Sie begreifen nicht“, erwiderte Major MacDermott hastig. „Die
anderen ... äh ... Hausgäste. Sie sind nicht das, woran Sie gewöhnt sind.“
Cristabel dachte an die streitsüchtigen Mädchen in Miss Meadows Schule für
höhere Töchter und war dankbar. „Wirklich, Major! Ihre Besorgnis ist rührend,
aber ...“
„Arbeiterinnen. Oh, Gott! Verkäuferinnen. Mehr nicht. Und ihre Kunden ... hm
... Besucher sind nicht von der Art, mit denen eine Dame wie Sie in Kontakt
kommen sollte. Ganz und gar unpassend für eine richtige Dame, Madam.“
„Ich befürchte, Major“, erwiderte sie, „dass ich lernen muss, Abstriche zu
machen.“ Sie zerknüllte das Taschentuch zwischen den Fingern und sah daher
nicht, wie das Gesicht des Majors sich nach ihren leise geäußerten Worten
erhellte. Sie bemerkte auch nicht, wie seine Hoffnung schwand, als sie fortfuhr:
„Natürlich in den Augen der Öffentlichkeit. Ich werde mich jedoch immer für
eine Dame halten.“
„Und das werden Sie ... in meinen sein, Miss Swann“, gelobte der Major
feierlich.
„Vielen Dank. Leider muss ich Sie jetzt bemühen, damit Sie mir ein Zimmer
zeigen. Ein sauberes Bett genügt mir. Morgen können wir ein anderes
Arrangement treffen, doch im Augenblick möchte ich nur einen Platz haben, wo
ich mein müdes Haupt hinlegen kann.“
„Nein. Unmöglich. Es gibt kein Zimmer. Überhaupt keins.“
„Ich habe doch das Schild gesehen.“
„Der alte Blass nimmt es nie weg. Ich werde morgen mit ihm reden.“
„Ich selbst werde ihm morgen sehr viel zu sagen haben. Ich nehme an, dass
ich in der Zwischenzeit hier auf dem Sofa schlafen kann. Zumindest liegen eine
Menge Kissen darauf.“
Cristabel musste geträumt haben, sie sei wieder in der Schule, denn ein junges
Mädchen von vielleicht dreizehn oder vierzehn Jahren stand vor ihr. Nein, keine
von Miss Meadows Schülerinnen würde es wagen, solche Sommersprossen zu
haben. Sie hätte auch keine weiße Bluse getragen, die ihr von den mageren
Schultern rutschte.
„Ich bin Fanny, Madam, und habe Ihnen den Tee gebracht.“
„Danke. Sind Sie das Hausmädchen, Fanny? Sie wirken noch sehr jung auf
mich.“
„Ich verrichte hier einige Arbeiten. Kochen und Aufräumen. Manchmal kommt
eine Reinemachefrau, und die meisten Frauen essen außerhalb des Hauses
oder lassen sich etwas zu essen bringen. Ich bin eigentlich eher ein Lehrling,
um es so auszudrücken.“
„Sie sind der Lehrling für was?“ wollte Cristabel wissen, handelte sich jedoch
als Antwort nur ein Kichern ein. „Nun, ich brauche einige Decken und etwas
heißes Wasser. Glauben Sie, dass Sie mir diese Dinge besorgen können?“
Stattdessen bekam Cristabel einen Vortrag über heiße Milch mit Rotwein und
Brustwickel gehalten und erfuhr mehr über Fannys armen Papa, der ständig
schwach auf der Brust war, nur dass er inzwischen von einem
durchgegangenen Pferd getötet worden war. Fanny entfernte sich, noch mehr
kichernd, und versprach, mit einem Allheilmittel der Mutter zurückzukommen.
Es half. Cristabel wusste nicht, ob es an der heißen Milch mit Honig, dem
heißen Tee, dem Rest oder einfach an der Fröhlichkeit des jungen
Hausmädchens lag, aber sie fühlte sich viel besser. Nein, sie musste ehrlich zu
sich sein. Es war der Anblick von Major Lyle MacDermott in der Ausgehuniform,
der sie veranlasste, vom Sofa aufzustehen und einzuwilligen, mit ihm in die
oberen Stockwerke zu gehen, wo der schreckliche Mr. Blass ein nicht benutztes
Schlafzimmer für sie entdeckt hatte.
„Ist das nicht ein Hochlandregiment?“ fragte sie.
Der Major blähte die Brust noch mehr in seiner roten Uniformjacke. „Ja,
Madam. Und nein, ich bin kein Schotte. Aber mein Onkel väterlicherseits ist
einer der Clansführer dort und hat mir das Patent gekauft.“
Cristabel schlug vor, einen Rundgang durch das Haus zu machen, da sie sich
putzmunter fühlte, und erfreut stellte sie fest, dass der Major kaum durch seine
Verletzung verkrüppelt war. Er ging recht geschmeidig, sogar ohne
Spazierstock, und sie überlegte, ob er auch so gut tanzen könne. Aber wie kam
sie bloß auf diesen Gedanken?
„Einen Rundgang durch das Haus? Ich bin sicher, in wenigen Tagen können
wir die Dinge mehr nach Ihrem Geschmack gestaltet haben. Wissen Sie, wir
waren nicht auf Ihr Erscheinen vorbereitet. Natürlich war das eine entzückende
Überraschung. Lord Harwood war selten im Haus, daher sind die Dinge noch
nicht zur Regimentsinspektion vorbereitet, ha, ha!“
Cristabel war entschlossen, sich ihr Haus anzusehen und viel Zeit damit zu
verbringen, den Major zu bewundern. Im Stillen versicherte sie sich, nicht so
dumm zu sein, sich zu verlieben. Schließlich war sie kein Backfisch mehr, aber
es war nicht falsch, die Gesellschaft des ersten wahren Gentleman zu genießen,
den sie seit dem Tod des Vaters kennen gelernt hatte. Erst recht nicht, weil er
so wie ein Romanheld aussah.
Also begann man mit dem Rundgang. In manchen Räumen lagen dicke
Staubschichten auf den Möbeln. Sie machte den Major darauf aufmerksam.
„Wie bitte? Ich habe nicht ... Oh ja! Nun, ich habe Sie davor gewarnt, was Sie
sehen würden. Ich ... äh ... hasse es einfach, eine zarte Rose in einem
abgestoßenen Glas zu sehen.“
Das erste Kompliment, das eine Frau erhält, sollte vertont werden. Besonders
dann, wenn sie vierundzwanzig Jahre alt war und es kaum als solches begriffen
hatte. Was also machte eine leicht unordentliche Haushaltsführung aus?
Die Begeisterung hielt bis hinter die nächste Tür an. Dort war Mr. Blass’ Büro.
Früher musste es die Bibliothek gewesen sein, denn die Bücherschränke waren
noch vorhanden, allerdings jetzt so gut wie leer bis auf die umgefallenen
Flaschen und das mit Stummeln und Zigarrenstumpen übersäte Geschirr.
Die noch vorhandenen Bücher waren dazu benutzt worden, schief stehende
Stühle auszugleichen. Wie konnte man Bücher so achtlos behandeln? Als der
Major sah, dass Cristabel zu den auf dem Schreibtisch liegenden offenen
Rechnungsbüchern blickte, klappte er diese hastig zu. „Nicht notwendig, sich
mit verstaubten alten Abrechnungen zu befassen. Mr. Blass und ich können
Ihnen die Einzelheiten sagen.“
„Ich würde nicht im Traum daran denken, Sie noch länger zu belästigen,
Major. Und Sie müssen nicht glauben, dass ich zu den Frauen gehöre, die nicht
mit Zahlen umgehen können. Wissen Sie, ich war Lehrerin. Ich habe Musik
unterrichtet, doch von den Erziehern wurde verlangt, dass sie mehrere Fächer
beherrschen.“
„Lehrerin, sagten Sie? Ver... wie gut! Trotzdem ist es nicht nötig, dass Sie sich
den hübschen Kopf mit Zahlen voll stopfen. Ich bin sicher, Sie werden, da Sie
jetzt in der Stadt sind, viele angenehmere Zeitvertreibe finden. Natürlich
werden Sie Einkaufsbummel machen wollen. Welche Frau könnte dem
widerstehen? Und Sie werden sich natürlich auch die Sehenswürdigkeiten
anschauen wollen, damit Sie Ihren Schülern davon erzählen können, wenn Sie
wieder bei ihnen sind. Bath, nicht wahr?“
„Ich werde nicht dorthin zurückfahren, Major. Ja, es klingt verlockend,
Einkaufsbummel zu machen.“ Die einhundert Pfund juckten Cristabel in der
Tasche. Eine Livree für Mr. Blass und ein hübsches schwarzes Kleid mit
schneeweißer Schürze für Fanny, neue Vorhänge für den Salon, eine
Wagenladung an Seife und Läufern. Und das war erst der Anfang. Und dann alle
diese leeren Bücherschränke füllen. „Trotzdem, zuerst kommt das Geschäft.
Daher möchte ich die Bücher selbst einsehen, aber natürlich nicht heute
Abend.“
„Natürlich.“
Durch die Verbindungstür kam man in Mr. Blass’ Schlafzimmer, was Cristabel
trotz der Einwände des Majors zu sehen wünschte.
„Er ist mein Angestellter, nicht wahr? Niemand könnte etwas Unschickliches
daran finden. Schließlich habe ich ja nicht vor, Ihr Schlafzimmer zu inspizieren,
Sir.“ Verlegen spürte Cristabel sich erröten. Sie verbarg das Gesicht hinter dem
Taschentuch und schaute sich flüchtig im Raum um. Abgesehen davon, dass
Tabakrauch in der Luft hing und das Bett nicht gemacht war, wirkte das
Zimmer beinahe aufgeräumt. Es war klein, aber nicht das Rattennest, das sie im
Zusammenhang mit dem kleinen grimmigen Mann erwartet hatte. Man kehrte
durch einen Salon in das Foyer zurück.
„Meine Räume liegen an der anderen Seite der Treppe“, verkündete Major
MacDermott. „Ich glaube, Sie können einen Blick in das Wohnzimmer werfen,
ohne jemandes Gefühl für Anstand zu verletzen“, fügte er scherzhaft hinzu, weil
er Miss Swanns Erröten bemerkt hatte. Ihm war auch aufgefallen, wie vorteilhaft
es für ihr Aussehen war, wenn sie ein wenig mehr Farbe im Gesicht hatte.
„Der Raum ist ziemlich groß“, stellte sie von der Tür her fest.
„Aber das Schlafzimmer ist klein. Möchten Sie ...“
Sie befand sich schon wieder im Korridor. „Das müssen die besten Räume im
ganzen Haus sein, Major.“
„Oh ja! Ihr Onkel war so freundlich, einem auf halben Sold gesetzten Offizier
entgegenzukommen. Die Räume oben sind natürlich alle viel kleiner und
weniger teuer, aber für mich ist es schwierig, die Treppe hinaufzusteigen.“ Zur
Betonung der Worte schwankte der Major etwas beim nächsten Schritt. „Ich
werde es jedoch schaffen, einer charmanten Frau den Weg zu zeigen“, fügte er
an und stützte sich auf den Spazierstock.
Als er Mr. Blass aufforderte, Miss Swanns Gepäck zu tragen, stand dieser im
Durchgang und blies Zigarrenrauch durch die Tür. Er hätte vermutlich weiter an
dem nassen Stumpen gesaugt, wäre er nicht von Major MacDermott finster
angesehen worden. Daraufhin drückte er die Zigarre am Türpfosten aus und
steckte den Stumpen in die Tasche. Er nahm Cristabels Portemanteau in eine
Hand und den von der Haushälterin des Captains zur Verfügung gestellten
Picknickkorb in die andere und folgte ächzend dem sich auf den Spazierstock
stützenden Major. Nur Cristabel, die hinter den Männern ging, schien es zu
stören, dass er ächzte und dass die Gepäckstücke gegen die Stufen schlugen
und an den Wänden entlang scharrten.
Überall war es still. Alle Türen waren geschlossen. Man hörte nur Mr. Blass’
lautes Ächzen.
„Man merkt die Mäd... äh ... die Gäste kaum. Sie sind bei der Arbeit oder
richten sich dafür her, oder sie ruhen sich davon aus. Fleißige Leute.“
„Arbeiten sie auch nachts?“
„Ja, ja. Habe ich das nicht erwähnt? Deshalb wäre ein Zimmer auf dieser
Etage auch nicht gut für Sie, selbst wenn es ein freies gäbe, was nicht der Fall
ist. Die Mädchen kommen und gehen zu jeder beliebigen Stunde.
Verkäuferinnen und ... äh ... Bäckergehilfinnen, die noch vor Tagesanbruch
fortgehen. Natürlich besuchen einige von ihnen an ihrem freien Tag Konzerte
oder gehen ins Theater. Manchmal ist es daher ziemlich laut. Ich bin sicher, das
würde Ihnen nicht gefallen.“
„Glauben Sie, dass ich mir die Räume ansehen kann?“
Mr. Blass gab ein pfeifendes Geräusch von sich, doch der Major ignorierte ihn.
„Vielleicht kann Fanny sie Ihnen morgen zeigen. Es würde sich für mich nicht
schicken, an die Türen zu klopfen. Es könnte ja sein, dass jemand sich gerade
anzieht.“
„Oh, natürlich!“ Cristabel wähnte, Mr. Blass habe übertrieben „Natürlich!“
wiederholt, doch als sie sich zu ihm umdrehte, hob er soeben die Gepäckstücke
an, um die nächste Treppe hinaufzugehen.
Dieses Mal folgte sie dem Offizier, der eigenartigerweise wieder ohne den
Spazierstock zurechtkam, obwohl diese Treppe nicht mit einem Teppich
ausgelegt und steil war. Mr. Blass stapfte schnaufend hinter ihr her. Plötzlich
blieb sie jäh stehen, weil ihr ein schrecklicher Gedanke gekommen war. „Hier
wohnen doch keine Schauspielerinnen oder Ballettratten, nicht wahr?“ wollte
sie wissen.
Der Major war sprachlos, sichtlich erschüttert darüber, dass sie überhaupt
von der Existenz solcher Frauen wusste. Das war der Fall, weil sie in Miss
Meadows Vorträgen eine große Rolle gespielt hatten. Es war der plattgesichtige
Mr. Blass, der ihr erst den hartkantigen Picknickkorb in den Rücken rammte
und dann antwortete: „Gott bewahre!“
Sie lächelte ihn an. „Ganz recht! Das hier muss ein respektables Haus sein,
wo Fremde aus guter Familie sich sicher aufgehoben fühlen.“
„Ganz recht“, meinte Mr. Blass und drängte sie mit dem Korb weiter.
Der Raum, zu dem Major MacDermott schließlich die Tür öffnete, war klein,
hatte nur ein winziges Fenster und eine so niedrige Decke, dass Cristabel
befürchtete, sich dauernd den Kopf zu stoßen.
„Sehen Sie? Ist er nicht perfekt?“ fragte der Major. „Im Allgemeinen
vermieten wir diese Räume an Durchreisende. Die junge Fanny hat ihr Zimmer
am anderen Ende. Sie zahlt keine Miete, weil sie das Hausmädchen ist. Hier
haben Sie Ihren Frieden und sind ungestört. Sie könnten sogar das
angrenzende Zimmer als Musikzimmer benutzen. Nick, stellen Sie das Gepäck
ab und holen Sie die Harfe.“
Der Major lächelte Cristabel erwartungsvoll an, beinahe wie eine ihrer kleinen
Schülerinnen, die nach dem Vortrag eines schwierigen Stücks auf ein
anerkennendes Nicken hoffte.
Und dann kam Mr. Blass, der die kostbare Harfe malträtierte und Worte vor
sich hinmurmelte, die, wie Cristabel sicher war, nicht Sorge um ihr
Wohlbefinden ausdrückten. Mr. Nick Blass, der zu klein geraten war, um sich
den Schädel an den Dachbalken zu stoßen und außerdem einige sehr hübsche,
im unteren Bereich des Hauses gelegene Räume hatte, inklusive der
missbrauchten Bibliothek, und der außerdem für sie arbeitete! Für eine Dame
mochte es ein Abstieg sein, sich mit Geschäften die Hände schmutzig zu
machen, aber es gab auch ganz entschieden Vorteile. Außerdem wurde es
höchste Zeit, dass sie, statt ein Schiff auf hoher See zu sein, der Kapitän ihres
Lebensschiffs wurde.
„Es tut mir Leid, meine Herren, aber mit diesem Arrangement bin ich nicht
einverstanden. Morgen, nachdem ich mir die Geschäftsbücher angesehen habe,
werde ich bestimmt weitere Vorschläge haben, weil ich mein Einkommen aus
diesem Betrieb ziehe. Ich werde daher das Büro benutzen müssen, und so ist es
nur normal, dass ich auch das dahinter liegende Schlafzimmer beziehe.“
Mr. Blass hatte ob der Anstrengung mit hervortretenden Augen dagestanden
und sich den Schweiß von der Stirn gewischt. Nach diesen Worten nahm er den
Zigarrenstumpen, stopfte ihn sich in den Mund und kaute darauf herum.
Es war Major MacDermott, der hastig erwiderte: „Meine liebe Miss Swann, Sie
haben nicht gründlich nachgedacht. Der Krach, der Dreck von der Straße und
die ... die ...“
„In meinem Haus wird es keinen Dreck geben“, befand sie und schaute
finster Mr. Blass an. „Der Zustand des Gebäudes ist erschütternd. Natürlich
mache ich meinen Onkel dafür verantwortlich.“ Die Tatsache, dass sie Mr. Blass
ansah und dabei missbilligend das Gesicht verzog, strafte ihre Worte Lügen.
„Doch dieser Zustand ist nicht mehr akzeptabel. Jeder, der weiterhin bei mir
angestellt sein will, begreift das besser. Ist das klar?“
Mr. Blass brummelte etwas, den Zigarrenstummel noch im Mund, doch der
Major unterbrach ihn: „Natürlich ist das klar. Dem Haus fehlt schließlich die
Hand einer Frau. Das stimmt doch, nicht wahr, Nick?“
Cristabel wartete nicht auf Mr. Blass’ Antwort, sondern rauschte gleich die
Treppe hinunter.
Fanny musste dem wütenden Mr. Blass helfen, seine Habseligkeiten
fortzuschaffen. Statt sich wieder mit der Treppe abzuplagen oder zu kündigen,
wie Cristabel gehofft hatte, entschied er sich, in einer Kammer in der Nähe der
Küche zu schlafen, aus der er ein Schemen vertrieben hatte, das nur „Junge“
genannt wurde und zu dessen Aufgaben es zu gehören schien, Kohlen und
Wasser zu transportieren. Junge schien glücklich darüber zu sein, nach oben
ziehen zu können, bis Cristabel bemerkte, dass er und das Hausmädchen Fanny
sich zuzwinkerten. Seine Schlafstatt wurde einstweilen unter den Küchentisch
befördert, und er bekam den Auftrag, Mr. Blass’ Besitztümer wegzuschaffen und
dann beim Säubern der beiden Räume zu helfen, während Fanny die
Bettwäsche wechselte.
Cristabel beschäftigte sich damit, im Salon die wieder nach unten geschaffte
Harfe auszupacken und zu polieren. Sie ließ sie von Junge näher zum Fenster
stellen und dachte daran, wie hübsch es sein würde, morgens dort in der Sonne
zu spielen, und dass sie, falls notwendig, Musikunterricht geben könne. Sie war
viel zu müde, das Pianoforte auszuprobieren, das in dem Zimmer stand, oder
mehr als nur einige Saiten der Harfe zu spannen. Sie hatte den Eindruck,
wieder Fieber zu haben, und von dem im Raum hängenden Rauch brannte ihr
der Hals. Das Erste, was sie morgens tun würde, war, alle Fenster aufzumachen!
Im Moment konnte sie es jedoch kaum erwarten, ihre drei Bücher in den
Bücherschrank und die Porträts der Eltern auf den Schreibtisch zu stellen und
ihr müdes Haupt auf ein weiches Kissen zu betten.
Mr. Blass’ letzte Ladung bestand aus einem geschnitzten Feuchthaltebehälter
für Zigarren und einem Stiefel. Junge tippte grüßend an seine Stirn, und Fanny
plapperte über neue Bettwäsche und mehr Zeit und vielleicht auch die eine
oder andere Pflanze, damit alles etwas fröhlicher aussah, denn ihre Mutter hatte
stets gesagt, dass Gewächse einen Raum anheimelnder aussehen ließen.
Abgesehen von der hübschen Pflanze, die die Katze angefressen hatte und
dann gestorben war.
„Fanny“, sagte der Major, als er ins Zimmer zurückkam. „Miss Swann sieht
schon wieder etwas angegriffen aus. Vielleicht sollten Sie ihr wieder heiße Milch
mit Honig machen.“
„Ja, bitte, Fanny, wenn Sie das täten. Das wäre genau das Richtige.“
„Ich persönlich werde Ihnen die Milch holen und herbringen, Miss Swann.“
„Wie nett von Ihnen, Major. Ich bin sicher, dass ich besser schlafen kann,
wenn ich sie getrunken habe.“
Auch er war sicher, dass Miss Swann besser schlafen werde. Er und Mr. Blass
kippten nämlich ein halbes Fläschchen Laudanum in den Becher.
7. KAPITEL
„Du bist nicht mehr ganz richtig im Kopf, Lyle, wenn du denkst, du kannst mit
deinem Süßholzraspeln den Daumen auf diese Person halten! Ich sage dir, wir
müssen sie loswerden, ehe sie das Haus genauer ansieht oder die
Rechnungsbücher!“
„Ich habe dir gesagt, Nick, und sage es dir noch ein Mal, dass man eine Dame
nicht so leicht loswerden kann. Sie ist kein armseliges kleines Ding, das du in
die Themse werfen kannst, ohne dass jemand sie vermissen oder sich nach ihr
erkundigen würde. Du würdest ganz London dazu bringen, nach ihr zu suchen
und Fragen zu stellen.“
„Vielleicht könnte sie dann auf natürlich wirkende Weise den Geist aufgeben.
Vielleicht könnte sie von der Harfe erschlagen werden, oder so etwas.“
„Dann hättest du trotzdem die Rechtsverdreher hier, die das Haus einem
anderen Hinterbliebenen überschreiben oder es verkaufen, um weitere von
Lord Harwoods Schulden begleichen zu können. Außerdem haben wir nicht in
Betracht gezogen, dass Miss Swann einen Beschützer hat. Du hast die Kutsche
gesehen, in der sie herkam, und all die uniformierten Diener.“
Mr. Blass spuckte aus. „Zum Teufel mit den Uniformen. Die haben sie auf den
Gedanken gebracht, mich zu einem verdammten Dienstboten zu machen.“
„Plustere dich nicht auf, Nick. Für was hältst du dich denn? Für einen
Entrepreneur?“
„Hä?“
„Für einen Unternehmer?“
Nick richtete sich zu voller Größe auf. „Ich bin kein Pförtner. Ich versuche
nicht, mich über mich selbst zu erheben, wie so manche anderen Leute, deren
Namen ich aufzählen könnte.“
„Immer langsam mit den jungen Pferden! Wir müssen diese Sache klären. Ich
habe mich, während du das Mobiliar ... hm ... umgruppiertest, über Captain
Chase informiert. Mir scheint, er ist, seit ich ihn kennen lernte, zu einem
Marinehelden geworden.“
„Ein echter Held oder nur ein anderer Pralinésoldat?“
Major MacDermott ignorierte die Spitze. „Es heißt, er habe so viele Orden und
Auszeichnungen, dass sie reichen würden, um damit ein Schiff zu versenken,
nur dass seins bereits untergegangen ist. Es wurde versenkt. Er war einer der
wenigen Überlebenden und wurde auch etwas ramponiert. Er will jetzt den
Dienst quittieren, wie man sich erzählt, um sich auf seinem Familienbesitz in
Staffordshire niederzulassen. Er hat vor einiger Zeit den Titel eines Viscounts
und auch Geld geerbt.“
„Ja, aber was hat er mit Lord Harwoods Nichte zu tun?“
„Das scheint niemand zu wissen. Deshalb müssen wir vorsichtig sein. Es hat
den Anschein, dass ihm jetzt Lord Harwoods Stadtresidenz gehört.“ Er fuhr sich
übers Haar. „Aber was ist mit Miss Swann? So, wie ich die Dinge sehe, gibt es
drei Möglichkeiten. Die eine ist, dass Lord Winstoke sie zu seinem Schützling
macht. In diesem Fall zählt sie praktisch zur Familie. Und du weißt, wie diese
feinen Pinkel sind, wenn es um ihre Frauen geht. Aber er hätte sie nie ohne
Anstandsdame hergeschickt, selbst wenn er nicht gewusst haben sollte, was
sich in diesem Haus abspielt. Die wahrscheinlichere Möglichkeit ist daher, dass
er weiß, um was für ein Haus es sich handelt, und Miss Swann hier als seine
Geliebte etablieren will. Und du weißt Bescheid über diese Fatzkes und die
Frauen, deren Gönner sie sind.“
„Ja, aber sie werden ihrer schnell überdrüssig. Und bei Miss Swann dürfte das
schneller der Fall sein.“
„Korrekt! Und vielleicht weiß er es zu schätzen, wenn wir ihn zur richtigen
Zeit von ihr befreien.“
„Ich weiß nicht recht, Lyle. Auf mich wirkt sie nicht wie eine gut ausgehaltene
Mätresse, und wie ein Offiziersliebchen benimmt sie sich auch nicht.“
„Deshalb kommt meine dritte Theorie mir wahrscheinlicher vor. Sie scheint
wirklich eine Schulmamsell zu sein, die Lord Harwoods Geld geerbt hat. Ich
meine, vielleicht hat es außer dem Haus noch etwas gegeben, worauf die
Blutsauger ihre Hände nicht legen konnten, Familienschmuck, zum Beispiel,
oder dergleichen. Vielleicht wurde ihr von dem alten Baron eine Jahresapanage
ausgesetzt, bevor er all die Schulden angehäuft hat. Ich weiß nicht, aber
möglicherweise hat er sogar eine Mitgift für sie beiseite gelegt.“
„Sie wird mit der Zeit immer attraktiver, nicht wahr?“
Major MacDermott grinste. „Ich würde nicht behaupten, dass ich dieses Paket
links liegen lassen würde. Eine Mitgift, das Eigentumsrecht an diesem Haus und
die Dame obendrein. Nein, ich könnte mir ein schlimmeres Los vorstellen.“
Auch Nick konnte das. Er konnte sich vorstellen, dass Lyle sich für den Rest
seines Lebens in ein gemachtes Bett legte, wohingegen er selbst mit Katzen
und Ratten neben der Küche schlief, möglicherweise sogar draußen in der
Kälte. „Wir haben also einige Optionen“, meinte er und verschwieg die, welche
er noch für sich behalten wollte. „Für heute Nacht haben wir Miss Swann aus
dem Weg geräumt, aber wie setzen wir das Ganze fort?“
„Wie viel Laudanum hast du?“
Nach fünf Tagen Erholung war Cristabels Erkältung beinahe weg. Die Zeit hatte
sie mit Lesen in der Bibliothek verbracht, oder im Salon, wo sie musizierte, oder
mit Besuchen derjenigen Pensionsgäste, die genügend Zeit dafür erübrigen
konnten, ihr Gesellschaft zu leisten. Meistens war eine ungefähr gleichaltrige
Frau namens Marie bei ihr gewesen, die ihre Näharbeit mitgebracht hatte.
Natürlich hatte auch der Major sie wiederholt aufgesucht und mit Geschichten
von seinen Reisen und mit seinem diskreten Poussieren unterhalten.
Hätte sie nicht hin und wieder Kopfschmerzen gehabt, und, was schlimmer
war, Albträume, hätte sie sich wie ein Fisch im Wasser gefühlt. Aber bald nach
dem Abendessen konnte sie kaum noch die Augen offen halten. Der Major hatte
es sich zur abendlichen Gepflogenheit gemacht, Tee mit ihr zu trinken, und zu
ihrem Kummer war auch er derjenige, von dem sie gähnend und mit immer
wieder herunterfallendem Kopf zu ihren Räumen geführt wurde. Sobald sie sich
das abgetragene Flanellnachthemd angezogen hatte, fiel sie auf das Bett. Und
dann fingen die Träume an.
Alle Mädchen, die sie in sieben Jahren als süße, lachende kleine Wesen erlebt
hatte, verwandelten sich in raubgierige Wesen, die sie angriffslustig
anschauten und grinsend ihr Bett umringten. Ihre Gesichter waren jetzt wie
Puppen mit Rouge bemalt, und ihr Gelächter klang schrill. „Du wirst nie eine
von uns sein“, spotteten sie und kreischten nur noch lauter, wenn sie
versuchte, ihnen zu erklären, dass sie nie eine von ihnen sein wollte.
Auch Miss Meadow kam in den Albträumen vor. Sie wiederholte dauernd: „Sie
geben ein schlechtes Beispiel. Schlechter Ruf für die Schule. Schlecht.
Schlecht. Schlecht.“ Dann wandte sie sich an Mr. Blass mit seiner gebrochenen
Nase, und er blies ihr beißenden Rauch entgegen, während er brüllte: „Schlecht
fürs Geschäft. Schlecht.“
Schließlich waberte der Rauch um seinen Kopf und sah so aus wie ein
Verband, wie der des Captains, oder wie das Leichenhemd eines Gespenstes.
„Sch...le...cht“, jammerte Onkel Charles und stand dräuend über das Bett
gebeugt.
Selbst wenn Cristabel glaubte, keuchend aus dem Schlaf geschreckt zu sein,
hörte sie immer noch das laute Gelächter und ihre Schülerinnen, die auf dem
Pianoforte Stücke herunterdroschen. „Zu schnell“, versuchte sie ihnen zu
sagen. „Viel zu laut.“ Sie hörten ihr jedoch nicht zu, während sie sich in die
Bettdecke wickelte und wieder in unruhigen Schlaf verfiel.
Fanny wollte einen Arzt holen, aber Cristabel meinte, sie brauche einfach nur
mehr frische Luft und Bewegung. Sie sei es nicht gewohnt, dauernd im Bett zu
liegen.
Fannys schlichtgemütige Geschichten über ihre enorm große Familie trugen
viel dazu bei, Cristabel aufzumuntern. Sie fand die Erzählungen besonders
interessant, weil sie keine Verwandten hatte. Und das Mädchen tat alles, um
ihren Appetit anzuregen. Sie hatte Fannys Loyalität sofort dadurch erlangt,
dass sie ihr für all die zusätzliche Arbeit eine Lohnerhöhung versprach, sobald
sie Gelegenheit gehabt hatte, die ihr zur Verfügung stehenden Mittel zu
überblicken. In der Zwischenzeit musste eine Goldmünze genügen und das
Angebot, Unterricht im Lesen zu erteilen.
Junge war eine weitere neue Quelle des Vergnügens für Cristabel, wenngleich
er sich so von Fanny unterschied wie Kreide von Käse. Er war schüchtern und
einsilbig, Fanny hingegen eine Plaudertasche. Er war in London geboren und
aufgewachsen, Fanny wiederum ein verpflanztes Bauernmädchen. Und er hatte
keine große Familie.
„Hast du Geschwister, Junge?“ fragte Cristabel eines Morgens, während er ihr
den Badezuber hereintrug. Sie hoffte, sein Vertrauen zu gewinnen, um ihm
vorschlagen zu können, ohne ihn in seinem Stolz zu kränken, auch er möge
baden. Ihre größte Neugier galt den Namen seiner Geschwister.
„Ja, Madam.“ Das war ein Anfang.
„Was hast du? Brüder oder Schwestern?“
„Zwei Brüder. Eine Schwester.“
„Wie schön für dich. Ich habe keine Geschwister. Wie heißen sie?“
„Sohn ist älter. Junior ist jünger.“
„Hm, ich verstehe. Und wie heißt deine Schwester?“
„Jane Ellen Maria Cassandra Ann.“
„Du meine Güte! Und wie nennst du sie?“
„Schwester.“
„Oh!“
Junges Worten zufolge war seine Familie nicht mehr da. Cristabel drang nicht
weiter in ihn, weil sie das Schlimmste befürchtete und ihn nicht an traurige
Dinge erinnern wollte. Fannys Worten zufolge war seine Familie jedoch
unfreiwillig emigriert.
„Taschendiebstahl. Man hat Junge zurückgelassen, weil er zu langsam war.“
Cristabel erkundigte sich nicht, ob er beim Erreichen des Schiffs oder für das
Familiengeschäft zu langsam gewesen war.
Unter all dem Dreck auf seinem Gesicht hatte er trotz seiner Zurückhaltung
stets ein Lächeln für sie. Ja, er mochte sie, sogar schon vor dem Augenblick, als
sie ihn fragte, ob er an Fannys Unterricht teilnehmen wolle. Nachdem er von
ihren Albträumen gehört hatte, brachte er ihr ein in Lumpen oder sein
Ersatzhemd eingewickeltes Geschenk. Es war schwer zu beurteilen, was von
beidem zutraf.
„Es macht Angst, allein zu sein“, erklärte er, während er vorsichtig das Paket
auswickelte. Darin befand sich ein Kätzchen, das besonders unanziehend – oder
attraktiv – war. Das hing vom jeweiligen Gesichtspunkt des Betrachters ab.
Bei einer Inspektion der Küche war sie entsetzt gewesen, als sie Junges
Strohsack unter dem Tisch gesehen hatte. Der Strohsack war ein bequemes
Lager für den Haufen räudiger, mickriger Katzen. Sie war viel zu benommen, um
sich in diesem Moment der Aufgabe widmen zu können, die Küche in Ordnung
zu bringen, nahm sich das jedoch für später vor. In der Zwischenzeit trug sie
Junge auf, vom Dachboden ein Feldbett zu holen, auf dem er schlafen sollte.
„Und wo sollen Ihrer Meinung nach die zahlenden Gäste schlafen? Auf dem
Fußboden?“ wollte Nick wissen, der aus der Kammer neben der Küche
gekommen war und sich mit einer Suppenkelle den Rücken kratzte. „Oder wird
von uns nicht mehr verlangt, dass wir daran interessiert sein sollen, Geld zu
verdienen?“
„Wenn Sie so an zahlenden Gästen interessiert sind, könnten Sie Ihr Bett zur
Verfügung stellen“, antwortete Cristabel süffisant.
Es war gut, dass sie Nicks gemurmelte Antwort nicht hören konnte, denn sie
versuchte, dem Major zuliebe Streit mit dem kleinen Mann aus dem Weg zu
gehen. Sie wusste noch immer nicht genau, welche Aufgaben Mr. Blass im Haus
wahrnahm, und wollte eine ernste Entscheidung hinausschieben, bis sie einen
klaren Kopf bekommen hatte.
Es war auch gut, dass sie nicht bald in die Küche zurückkehrte, um ihr
Kätzchen zu besuchen, denn sonst hätte sie alle Katzen auf Junges neuem Bett
gesehen, derweil ein räudiger alter Köter auf dem verlassenen Strohsack lag.
Eine willkommenere Ablenkung als Junges Menagerie war Marie, eine der
Pensionsbewohnerinnen. Cristabel hatte noch nicht gelernt, die verschiedenen
Gesichter mit Namen zu verbinden, denn die meisten Hausbewohner trafen sich
im Salon, während sie bereits zu Bett lag. Manche der Frauen wandten den
Blick ab, nicht sicher, ob sie willkommen waren, andere winkten ihr beim
Kommen oder Gehen fröhlich zu, wenn sie zu einem ihrer zahlreichen Ausflüge
das Haus verließen. Für sie war sie weder Fisch noch Fleisch, wie sie merkte,
gehörte weder zur Arbeiterklasse noch zum Adelsstand, und die meisten Frauen
hatten ihr nichts zu sagen, obwohl sie mehr oder weniger im gleichen Alter wie
sie waren. Ihr kam es vor, als ob sie zweifellos sehr beschäftigt und sehr heiter
waren, wenngleich etwas laut in ihrem Benehmen, was zweifellos auf Londons
freizügigeres, gemäßigteres moralisches Klima zurückzuführen war. Ihr fiel auch
auf, dass sie besser gekleidet waren, als man bei Verkäuferinnen und
Bäckersgehilfinnen hätte erwarten können, aber was wusste sie schon von
Mode? Sie war sich nur bewusst, dass sie besser als sie selbst gekleidet waren.
Marie war anders. Ihre Mutter war Haushälterin und sie daher mit den Kindern
eines großen Haushaltes aufgewachsen. Sie war an wechselnde Gouvernanten
und Gesellschafterinnen gewöhnt. Sie war höflich, ohne ehrerbietig zu sein, und
freundlich, ohne aufdringlich zu sein. Sie erkundigte sich nie nach Cristabels
Lebensumständen. Daher musste Cristabel ihre Neugier bezwingen, was ihr
schwer fiel, da sie in der Zeit zwischen den Kopfschmerzanfällen und der
Schläfrigkeit wenig Beschäftigung hatte. Marie hingegen nähte dauernd. Sie
war Näherin und verdiente sich damit zusätzlich Geld.
„Glauben Sie, dass Sie ... Natürlich würde ich Sie bezahlen.“ Cristabel wies
auf ihr Kleid aus braunem Bombassin.
„Ich hatte gehofft, dass Sie mich fragen würden! Ich denke, dass Sie sich in
helleren Farben wohler fühlen werden. Ich wollte Sie jedoch nicht kränken, falls
Sie in Trauer sind.“
„Nein, ich stecke nur in dem, was Miss Meadow für eine angebrachte
Kleidung hielt.“
„Sieht eher wie Getreidesäcke aus.“ Cristabel und Marie lachten, und auf dem
fruchtbaren Boden modischer Debatten wuchs ihrer beider Freundschaft. Marie
rannte mit Frauenzeitschriften und Musterbüchern, Farbmustern und
Stoffproben die Treppe hinauf und hinunter. Sobald die Liste vollständig war,
versprach Marie, alles Notwendige zu besorgen.
„Warum lassen Sie mich und Fanny in der Zwischenzeit nicht irgendetwas
mit Ihrem Haar machen?“
„Meinem Haar?“ Ein neues Leben, neue Sachen, eine neue Freundin. Warum
also nicht auch eine neue Frisur?
Die beiden Mädchen gaben sich große Mühe.
„So, jetzt können Sie sich ansehen“, verkündete Marie dann, ehe Cristabel
wieder einschlafen und Albträume haben konnte.
„Sieht das nicht wundervoll aus? Das hätte ich nicht gedacht, nicht einmal in
Kenntnis der Rezepturen meiner Mutter. Einmal hat sie meiner Schwester
Bonnie das Haar gemacht, und danach war es ganz grün, ehe es ausfiel.“
„Sie haben doch so etwas nicht bei mir ausprobiert, Fanny!“ schrie Cristabel
entsetzt. Der Haarknoten hatte sie streng aussehen lassen, aber er wäre besser,
als kahlköpfig zu sein!
„Los, Fanny! Hol den Spiegel.“
Cristabel hätte ebenso gut keine Haare mehr haben können, so schockiert
war sie über ihr Aussehen. Das ehemals strähnige und struppige Haar war jetzt
plötzlich goldfarben, aber nicht blond, honigfarben, aber nicht braun, und es
war seidig. Da wippten tatsächlich Löckchen, als sie den Kopf bewegte, und
kitzelten sie im Nacken. Was von dem verachteten Haarknoten noch übrig war,
schien ein wahllos auf dem Kopf arrangiertes Lockenbündel zu sein.
„Sehe ich dadurch nicht größer aus?“ fragte Cristabel zweifelnd.
„Sie sind groß“, antwortete Marie fest. „Und graziös und sehr hübsch.“
„Ich wette, Major MacDermott wird Sie nicht wieder erkennen, Miss Cristabel.“
„Ich erkenne mich nicht wieder, Fanny“, erwiderte sie erstaunt.
„So, jetzt muss ich nur noch das neue blaue Kleid fertig machen, und dann
sind Sie adrett genug für einen Ausflug. Ganz London wird über Sie staunen.
Oder vielleicht ein ganz besonderer Gentleman“, fügte Marie scherzhaft hinzu.
Sie redete nie über ihren Freund. Er lebe auf dem Land. Das war alles, was sie
über ihn geäußert hatte, als Cristabel sie einmal gefragt hatte. Und dabei hatte
sie so bedrückt ausgesehen, dass Cristabel sich nicht weiter erkundigt hatte.
Das hielt Marie jedoch nicht davon ab, Cristabel mit ihren kessen Bemerkungen
über den gut aussehenden Hochländer die Röte in die Wangen zu treiben.
Rot werden, in ihrem Alter!
Ein Beau, in ihrem Alter? Sie war sich nicht sicher, doch das hielt sie natürlich
nicht davon ab, Mutmaßungen anzustellen. Die Luftschlösser, die sie baute, ihre
sehr viel angenehmeren Tagträume, enthielten imaginäre Kinder, zwei Jungen
in Kilts und ein blondhaariges kleines Mädchen mit Grübchen.
Es ließ sich nicht leugnen, dass der Major aufmerksam und freundlich war.
Dauernd kam er mit kleinen Geschenken zu ihr. Er hatte den richtigen Riecher,
was ihren Geschmack anging, und brachte Miss Austens letzten Roman mit und
Sträußchen aus Tausendschön und Jonquillen statt aufwendigerer Gebinde.
„Major“ und „Miss“ verwandelten sich bald in „Lyle“ und „Cristabel“. Es
dauerte nicht lange, bis er sie „meine Schöne“ nannte und dann einfach nur
noch „Belle“.
Es fiel ihr ungemein schwer, sich nach dem Dinner zu weigern, weiterhin Tee
mit ihm zu trinken, weil sie befürchtete, das könne sie seiner Gesellschaft
berauben, wenngleich sie glaubte, dass der starke Tee zu ihrem unruhigen
Schlaf beitrug. Doch seine Gesellschaft trug zu ihrem Wohlbefinden bei. Sein
Lächeln, seine zurückhaltenden Schmeicheleien und seine zärtliche Besorgnis
trugen mehr zu ihrem Erblühen bei als Fannys Gläser heißer Milch mit Honig.
Er hatte sie gern!
„Sie können mich nicht dauernd in Watte packen, Lyle. Es gibt so viel zu tun.
Ich dachte, dass die Pensionsgäste, wenn ich die Küche in Ordnung bringe und
eine Köchin einstelle, dort die Mahlzeiten einnehmen könnten, natürlich gegen
Bezahlung. Und dann ist da noch der Dachboden. Wenn einige der Wände
eingerissen würden, könnte man eine charmante Suite für eine junge Familie
machen. Und auch der Hof muss in Ordnung gebracht werden, da das Wetter
jetzt umschlägt, und ...“
„Genug!“ sagte Lyle. „Es besteht kein Grund zur Eile, und Sie sind noch nicht
ganz genesen, und das Wetter ...“
„Wie reizend von Ihnen, Lyle, sich meinetwegen Sorgen zu machen. Ich weiß
Ihre Besorgnis wirklich zu schätzen, aber ich muss anfangen, etwas zu tun.“
„Natürlich müssen Sie das“, stimmte er zu und grinste wieder wie üblich. „Sie
waren viel zu lange im Haus. Das ist alles. Ich weiß genau, was das Richtige für
Sie ist. Auch ich bin schon sehr ungeduldig, weil ich der Erste sein will, der
Ihnen den ersten Blick auf London und London es ermöglicht, den ersten Blick
auf Sie zu werfen. Sie werden bei allen Leuten Furore machen, meine Schöne.
Warten Sie nur, all die schmucken jungen Gentlemen im Hyde Park werden Sie
anstarren.“
„Sie werden mich doch nicht wirklich anstarren, Lyle, oder doch?“
„Natürlich tun sie das. Deshalb kommen sie doch dorthin. Das werden Sie
selbst sehen, und zwar morgen Nachmittag, falls es warm genug ist. Ich werde
eine Droschke mieten, und dann fahren wir in den Park. Vielleicht sehen wir
sogar Prinny. Sie werden Farbe in die Wangen bekommen, meine Liebe.“
Unnötig zu sagen, dass Cristabel die ganze Liste der häuslichen Aufgaben auf
einen Regentag verschob und hoffte, dieser Tag möge nicht der morgige sein.
„Verdammt, es ist fast eine Woche her, Lyle, und niemand ist zu Besuch
gekommen oder hat eine Nachricht geschickt. Nicht einmal erkundigt hat man
sich nach Miss Swann. Und sie hat auch niemanden beauftragt, einen Brief für
sie aufzugeben. Was hat das noch mit deinen hirnverbrannten Theorien zu
tun?“
Major MacDermott zerraufte sich wieder das Haar. „Zum Teufel, wenn ich das
wüsste. Wir können Miss Swann auch nicht weiter betäuben. Sie hat aber mit
Geld um sich geworfen. Hat Fanny ein hübsches Sümmchen für Nahrungsmittel
gegeben und Marie zum Einkaufen von Meterware und Besatz fortgeschickt.“
„Denkst du, sie hat einen Batzen Geld? Zur Bank ist sie nicht gegangen.“
„Das wirst du herausfinden müssen. Ich mache morgen Nachmittag mit ihr
eine Ausfahrt. Sieh zu, was du in ihren Räumen entdecken kannst. Sieh in den
Büchern nach, die sie mitgebracht hat, und in dem Portemanteau.“
„Du wirst mir das Wort nicht buchstabieren müssen, Freundchen. Vielleicht
erklärst du mir stattdessen, warum du sie in den Park mitnimmst, wo alle Welt
euch sehen kann.“
„Sie ist wie eine reife Pflaume, die bald vom Baum fallen wird. Ich möchte
sehen, auf wessen Schoß sie landet.“
„Für den Fall der Fälle würdest du nicht zu denen gehören, die tatenlos
herumstehen, nicht wahr?“
„Vielleicht, aber das hängt ganz davon ab, was du in Miss Swanns Zimmer
findest.“
„Vielleicht trägt sie ihr Geld und die wichtigen Dokumente bei sich. Was
dann?“
„Dann werde ich vielleicht doch derjenige sein, der diese Sachen dort findet.“
8. KAPITEL
Lyles Reaktion auf ihr Aussehen war genau das, was Cristabel sich gewünscht
hatte. Seine gespielte Überraschung, seine Verneigung vor ihrer Schönheit und
seine Huldigung an ihre leuchtenden blauen Augen und ihre reine Haut waren
genau das, was sie brauchte, um ihr Glück zu garantieren. Bis sie all die
anderen Frauen in der offenen Kutsche sah.
„Es war ein so schöner Tag. Ich dachte, ich sollte den anderen Mädchen
etwas Gutes tun. In der Kutsche ist sehr viel Platz. Ich hoffe, es stört Sie nicht.“
„Nein, natürlich nicht“, erwiderte Cristabel höflich, wenngleich unehrlich.
Dann fragte sie: „Sollten die Mädchen nicht bei der Arbeit sein?“ Wie boshaft
sie geklungen hatte!
„Kitty hat ihre neue Stellung noch nicht angetreten. Alice hat ihren freien
Nachmittag. Gwen ...“
Der Tag trübte sich für Cristabel. Sie redete sich ein, das läge nicht daran,
dass sie den gut aussehenden Major für sich hätte haben wollen. Ganz sicher
nicht!
Nun, sie war dumm, wenn sie dachte, dass ein so anziehender Mann seine
Bewunderung nur für sie reservieren würde. Er lachte und scherzte mit den
anderen Mädchen und machte ihnen zu deren hellstem Entzücken und
Cristabels Enttäuschung so überschwängliche Komplimente, wie er sie ihr
gemacht hatte.
Als man sich dem Park näherte, wurden die Straßen voller. Daher bewegte
der Verkehr sich nur langsam voran. Cristabel hatte Zeit genug, die
verschiedenen Fahrzeuge zu betrachten und die Kleidung der Fußgänger. Marie
hatte Recht gehabt, als sie über die Freizügigkeit der Damenmode sprach. Das
Einzige, was viele Frauen warm hielt, war das Lächeln ihres Begleiters. Marie
hatte auch klugerweise warnend gesagt, man könne Baronessen nicht von
Kokotten unterscheiden.
Die Frauen bei den Parktoren, also die waren ... Als Lyle ihre Aufmerksamkeit
auf eine schmucke Karriole mit gelb gestrichenen Rädern lenkte, bestätigte
sich ihr Verdacht. Danach, im Park selbst, war es nicht so einfach zu erkennen,
ob es sich um eine Dame oder eine Demimonde handelte. Cristabel musste sich
von Kitty sagen lassen, dass die reizvolle Frau in der Kutsche mit den rosa
Streifen Harriet Wilson war, die bekannteste Kurtisane der Stadt. Deren
Begleiter saß sittsam neben ihr. Auf der anderen Seite der Allee, umgeben von
einem Schwarm von Verehrern, saß eine junge, die Zügel des Gespanns
haltende Frau in einem hinreißenden Phaeton. Diese Frau war, wie Kitty
erklärte, niemand anders als Lady Hermione Hanneford, der Liebling der
vornehmen Gesellschaft, die gekrönte Unvergleichliche dieser Debütantinnen-
Saison.
Cristabel stellte einen Mangel an Welterfahrenheit fest, doch durch den
breiten Hutrand wurde sie davor bewahrt, wie eine starrende Provinzlerin
auszusehen, und außerdem durch den Umstand, dass tatsächlich alle Leute
jeden anderen Anwesenden anstarrten. Besonders die Männer.
Die Frauen in ihren im Militärstil gehaltenen Reitkostümen benahmen sich
beinahe ebenso aufdringlich wie die Männer, wenn sie die Insassen von
Kutschen inspizierten. Sie waren nur weniger freundlich, was Cristabel gut
verstand. Wenn man nicht sicher war, ob man einen Erfolgsmenschen oder
einen Kleinigkeitskrämer vor sich hatte, war Zurückhaltung der sichere Kurs.
Trotzdem hatten die Frauen, wie Cristabel verärgert fand, keinen Grund, sich
abzuwenden. Sie würden sich nicht durch einen Blick auf jemanden aus der
unteren Gesellschaftsklasse anstecken.
Die nachmittägliche Parade wirbelte weiter, und Cristabel versuchte einen
Blick auf Beau Brummell zu erhaschen oder das von Lyle bewunderte
Dreiergespann. Stattdessen bekam sie Kopfschmerzen.
„Glauben Sie, dass wir ein Weilchen anhalten könnten, Major? Mir dreht sich
der Kopf.“
„Verzeihen Sie mir, meine Schöne. Ich war unbedacht. Sie befinden sich auf
Ihrem ersten Ausflug, und ich war so damit beschäftigt, neidische Blicke auf
mich gerichtet zu sehen, dass ich nicht darauf geachtet habe, ob Sie vielleicht
ermüden. Wir werden dort bei den Bäumen anhalten. Vielleicht ist ein
Spaziergang angebrachter.“
Lyle vergaß jedoch den versprochenen Spaziergang, denn kaum hatte die
Kutsche gehalten, trabte eine Gruppe scharlachrot uniformierter Reiter herbei.
Die Offiziere saßen ab und rannten um die Wette, um Kitty und Gwen und Alice
aus dem Fahrzeug zu helfen und vorgestellt zu werden. Cristabel traute den
unruhigen, so dicht in ihrer Nähe stehenden Pferden nicht, und die
Begrüßungen der Offiziere kamen ihr übertrieben laut vor. Lyles Freunde waren
doch nicht betrunken, oder doch?
„Ich glaube, ich bleibe noch eine Weile in der Kutsche sitzen, Lyle, um mich
zu sammeln. Nehmen Sie die Vorstellungen vor.“
Er hob Miss Swanns Hand zum Kuss an die Lippen, ehe er aus dem Wagen
stieg.
Viscount Winstoke saß in Perrys Phaeton und sog den Anblick all der
Herrlichkeiten im Hyde Park wie Wein in sich auf, die Farben, den Betrieb, das
Spektakel des herumstolzierenden ton. Er war trunken vom ersten Anblick der
außerhalb von Harwood House gelegenen Welt, den er seit mehr als einem
Monat bekam. Es war Grund genug, über die Tatsache zu jubeln, dass er
überhaupt sehen konnte, aber das, das hier war wie sprudelnder Champagner!
Perry hätte lieber Bier gehabt. Für ihn war das Anschirren seiner Rassepferde
für eine Ausfahrt in den Park nur eine Zeitverschwendung. Er hätte seine
Vollblüter lieber über eine offene Straße gelenkt, statt dauernd an den
Kandaren ziehen zu müssen, damit die Pferde langsam neben den
Parkbesuchern auf der Allee herliefen, während sein Freund die Damen
beäugte.
„Weißt du, ich bin nicht an Weibern interessiert.“
„Ich weiß, Perry. Du bist ein wahrer Freund, weil du mich herumkutschierst.
Aber halt bitte an, ja? Sieh dir die Vision in dem blauen Kleid an, die da drüben
in der bei den Bäumen stehenden Kutsche sitzt. Selbst einem eingefleischten
Frauenhasser würde bei diesem Anblick das Herz schmelzen. Ich wette, sie hat
auch blaue Augen.“
„Das ist eine von Haymarket“, erwiderte Perry lakonisch.
„Sag das nicht. Weißt du, mir sind nicht erst gestern die Milchzähne gezogen
worden. Dieses Kleid! Dieser schlichte Hut! Und auch kein Schmuck!“
„Muss so sein“, meinte Perry. „Sie ist mit Major MacDermott zusammen, nicht
wahr?“
„Ich dachte, er sei zu den Hochländern gegangen.“
„Ja, als sein Onkel ihm das Patent gekauft hatte, damit er die Familie nicht
noch mehr in Skandale verwickelt.“
„Aber das stempelt sie nicht als Offiziersliebchen ab“, erwiderte Kenley und
wies mit einem Nicken auf die Frau, die er nicht aus den Augen gelassen hatte.
„Sie ist nicht so auffallend wie die Miezen, die Major MacDermott
normalerweise bevorzugt, aber du kannst darauf wetten, dass sie zu seinem
Stall gehört oder gehören wird.“
Es enttäuschte Kenley zu hören, dass sein Schwan eine Dohle war. Das war
nicht zu leugnen, da er sah, wie der Major ihr die Hand küsste. Dennoch war er
über die Verachtung, die aus Perrys Stimme geklungen hatte, überrascht. „Was
ist so schlimm an einem Bordell? Sag nur nicht, dass du mir plötzlich den
Moralapostel vorspielen willst. Denk daran, dass solche Etablissements dazu
dienen, die Mädchen von der Straße zu bekommen. Und wo sollen die Schönen
der Nacht sonst schlafen? Kein anständiges Hotel würde sie aufnehmen. Ich
weiß sogar von einer Pension in Kensington, wo die Wirtin ein
Nachtschattengewächs eher umbringen ließe, als ihm Obdach zu geben.“
„Es geht nicht um das Haus“, entgegnete Perry. „Es geht um diesen
Schmutzfinken. Man nennt ihn Mutter MacDermott. Ich meine, ein Puff ist eine
Sache, aber etwas ganz Unerhörtes ist es, wenn ein Gentleman Geld dafür
nimmt, Bekanntschaften herzustellen. Wie ich hörte, ist man in Whitehall
darüber auch nicht glücklich.“
„Was? Ist MacDermott immer noch Offizier?“
„Nein, falls Wellington etwas dazu zu sagen hat. Der Major ist als Invalide
nach Haus gekommen, aber niemand hat gesehen, wie er verwundet wurde.
Ganz sicher ist das nicht in der vordersten Linie passiert, wo seine Männer
niedergemacht wurden, weil es keinen befehlshabenden Offizier gab, der ihnen
Anweisungen gab. Es gibt sogar Gerüchte, aus wessen Schusswaffe die Kugel
stammt, die dem Major ins Bein gedrungen ist.“
„Teufel noch mal! Kein Wunder, dass du ihn einen Taugenichts genannt hast.
Ich nehme an, sein reicher Onkel setzt sich für ihn ein?“
„Würdest du das nicht tun, wenn die Hoffnung besteht, dass er wieder an die
Front zurück muss?“
Kenley warf der gertenschlanken Blondine einen letzten, langen Blick zu.
„Wie dem auch sei, es ist verdammt schade.“
„Ich kann hinüberfahren, wenn du willst“, erbot sich Perry und trieb die
Pferde an.
„Nein, denn wenn ich beschließen sollte, mir eine Mätresse zu nehmen, dann
brauche ich keinen Hanswurst, der die Verhandlungen führt. Und ich würde sie
auch nicht mit irgendeinem Mann teilen, der Geld dafür bekommen hätte.“
Major MacDermott erinnerte sich Miss Swanns Gegenwart, als er die elegante
Kutsche wenden und auf sich zukommen sah. „Belle“, rief er ihr zu und lief zu
ihr. „Sehen Sie mal, wer da kommt. Das sind Viscount Winstoke und Mr. Adler.“
Er hatte, wie es Cristabel vorkam, lauter als notwendig gesprochen. Sie war
bereits ein bisschen pikiert, weil er sie auf diesem ersten, ganz besonderen
Ausflug so lange ignoriert hatte. Nun machte er sie zum Mittelpunkt vulgärer
Gafferei. Die beiden Herren mochten enge Bekannte von ihm sein, aber er hätte
wirklich wissen müssen, dass sich ein solches Benehmen nicht schickte. Sie
konnte nicht umhin zu bemerken, dass die Männer, als sie seine Begrüßung zur
Kenntnis nahmen, sich sehr viel reservierter verhielten. Der höher gewachsene
der Herren nickte nur und verzog die Mundwinkel.
Dieses spöttische angedeutete Lächeln hatte etwas an sich, das in Cristabel
eine vage Erinnerung auslöste. Sie war jedoch sicher, dass sie sich von nun an
seiner erinnern werde. Mr. Adlers Gespann bestand aus zwei rassigen
Grauschimmeln, und beide Männer waren hochmodisch gekleidet. Es war
jedoch der Ausdruck in dem scharfzügigen Gesicht des Viscounts, der bei
Cristabel einen bleibenden Eindruck hinterließ. Er hatte Charakter. Das war es.
Er hatte ein eckiges Kinn und eine markante Nase, und volle schwarze Locken
fielen ihm in die Stirn. Er sah gut aus, wenngleich in ganz anderer Weise als
Lyle, erfahren, selbstsicher, reif, und sein Grinsen hatte sich in dem Moment, da
die Kutsche an der vorbeifuhr, in der Cristabel saß, in ein zärtliches,
sehnsüchtiges Lächeln verwandelt. Und daran würde sie sich am deutlichsten
erinnern.
Lyle starrte hinter der Kutsche her und bemühte sich sehr, sich seine
modische Windstoßfrisur nicht zu ruinieren. Nonchalant wirbelte er seinen
Spazierstock herum, der ihm plötzlich außer Kontrolle geriet und eines der
nervösen Pferde traf. Daraufhin scheute es und schlug mit den Hufen aus, was
dazu führte, dass die Offiziere fluchend auseinander stoben und Alice einen
schrillen Schrei ausstieß. Das verstörte wiederum die anderen Pferde, zudem
das Pferd einer Reiterin auf der Allee, und Kitty, die sich nach einem Paar
starker Arme umschaute, in denen sie ohnmächtig werden konnte.
Statt mitten in dieser schrecklichen Szene sitzen zu bleiben, kletterte
Cristabel aus der Kutsche und versuchte mit den Schatten unter den Bäumen
zu verschmelzen. Jetzt restlos wütend auf MacDermott bewegte sie sich weiter.
Anständige junge Damen wandern nicht allein in London herum. Sie wusste
das sehr gut und ignorierte diese Vorschrift. Schließlich befand sie sich im Park
und nicht in der Stadt, und ihre Begleiter waren nicht weit entfernt. Zuvor hatte
sie Gwen mit einem der Offiziere fortschlendern gesehen, und niemand außer
ihr hatte eine schockierte Miene gemacht. Eine Menge von Miss Meadows
Benimmregeln traf offenbar nicht auf Frauen zu, bei denen das Wort Dame mit
Anführungszeichen versehen wurde.
Während sie den Weg zwischen den Bäumen zu einer abgeschiedenen Wiese
fortsetzte, malte sie sich schmunzelnd Miss Meadows Reaktion auf die losen
Sitten in London aus. Miss Meadow würde ein ganz spitzes Gesicht machen und
sich in die Brust werfen und wie eine Henne in einem Hühnerstall gackern, in
den ein Fuchs gedrungen war. Aber das war nunmehr ohne Bedeutung! Die
Sonne schien. Cristabel hatte ihr Haus und ihre Harfe, und Miss Meadow konnte
sich zum Teufel scheren! Um dieser Ansicht äußerlich Nachdruck zu verleihen,
nahm Cristabel den Hut ab und ließ ihn an den Bändern hin und her baumeln.
Sie reckte das Gesicht in die Sonne und lachte laut.
Auch Lord Winstoke wanderte von seinen Freunden fort. Perry war von zwei
Mitgliedern des Rennclubs aufgehalten worden, die mit ihm über die Vorteile
von Lord Shearhavens Rennstall diskutierten, dessen Bestand bald bei einer
Auktion versteigert werden sollte. Dieses Gespräch konnte Stunden dauern, wie
Kenley wusste, sich in öden Details ergießen und zum Gähnen langweilig für
jemanden sein, der kein Pferdenarr war.
Dieser Tag war zum Sehen bestimmt – die Blumen, ein Kind mit einem
Drehreifen, der Regenbogen in Pfützen und eine Waldnymphe, auf deren Haar
Feenstaub gülden glitzerte und aus deren Mund ein honigsüßes Lachen
erschallte.
„Hallo, Glockenblume“, sagte Kenley leise, um sie nicht zu erschrecken. „Ich
wünschte, ich hätte eine mit Gänseblümchen übersäte Wiese, auf der Sie
tanzen könnten, oder einen Kranz aus Rosen für Ihr Haupt.“
„Ach, dummes Zeug“, lautete Christabels verblüffte Antwort.
„Ach, das war dummes Zeug? Und ich dachte, ich sei poetisch! Ich habe an
Chaucers ‚schön wie die Rose im Mai‘ gedacht, aber wir sind erst im April, und
daher musste ich originell sein. Soll ich einfach auf ganz gewöhnliche
Schmeicheleien zurückgreifen? Das ist ein bezaubernder Hut.“
Hastig stülpte Cristabel den Hut wieder auf. Sie war zu fahrig, um den Knoten
zu lösen. Daher ließ sie die zusammengeknüpften Bänder unter dem Kinn
baumeln. „Lassen Sie das bitte!“ sagte sie zu dem gut aussehenden Gentleman,
weil sie meinte, er mache sich über sie lustig. „Es besteht keine Notwendigkeit,
mir Honig ums Maul zu schmieren.“
Das war, wie Kenley fand, eine sehr freimütige Ausdrucksweise. Obwohl Perry
ihn gewarnt hatte, enttäuschte es ihn, dass die Schöne so geschäftsmäßig war.
„Was? Obwohl ich kein falsches Spiel mit Ihnen treibe?“
„Vielen Dank“, antwortete Cristabel in der Annahme, der Herr habe sich auf
seine hübschen Worte bezogen. „Aber wir sind uns noch nicht vorgestellt
worden.“
Gott! Major MacDermott hatte sie gut erzogen. Kenley sagte sich, er solle
weitergehen. Bezahlte Liebesdienste waren nicht nach seinem Geschmack, weil
sie keine anhaltende Erfüllung boten. Trotzdem waren da, wenn die Frau sich
dessen nicht bewusst war, ein unschuldiger Ausdruck in ihren Augen, ein süßes
Lächeln um ihre Lippen und die unverkennbare Verwirrung. Sie konnte noch
keine routinierte Hetäre sein.
„Aber Sie wissen, wer ich bin, nicht wahr?“ Kenley war sicher, dass seine
Vorzüge und Jahreseinkünfte vom Major aufgezählt worden waren. Da Miss Belle
nickte, fuhr er fort: „Und Sie ... Nein.“ Er wollte sie nicht reden lassen. „Sie
können eine Märchenprinzessin sein, Glockenblume, und sei es auch nur einen
Nachmittag lang, nicht wahr? Es ist ein so schöner Tag, und ich brauche
dringend etwas Verzauberung.“
Cristabel wusste, dass sie sich hätte entfernen müssen. Sie wusste auch, dass
es keinen redegewandten Teufel gab, der es bei einer Maid ehrlich meinte. Aber
da waren dieses träge, zärtliche Lächeln und diese grauen Augen, die hoch
gezogene Braue. Nein, sie konnte eine Narbe durch die Braue verlaufen sehen,
die ihm diesen fragenden Ausdruck im Gesicht verlieh. Sie ergriff die Hand, die
Lord Winstoke ihr hinhielt.
„Hier führt ein Pfad zum Wasser, falls ich mich richtig erinnere. Ich möchte
sehen, ob die Kinder dort immer noch ihre Papierschiffchen schwimmen
lassen.“
„Haben Sie das getan, Mylord?“
„Bei jeder nur möglichen Gelegenheit. Was war Ihr bevorzugtes
Kindheitsvergnügen?“
„Es tut mir Leid, sagen zu müssen, dass es nicht das Spinnen von Weizen zu
Gold war.“
Cristabel erzählte dem Viscount von ihrer Musik – „Was, Sie haben sogar
geübt, ohne dazu gezwungen gewesen zu sein? Sie waren wirklich ein
engelhaftes Kind!“ – und ihren Büchern. Er ließ sie reden und war entzückt über
ihre kultivierte Aussprache, ihren geschulten Intellekt. Er wiederum erzählte
von seinem Bruder und ihrer beider Spiele, den Ponys und den Kricketspielen.
Kein einziges Wort wurde für unehrliche Komplimente oder Koketterie oder
Zweideutigkeiten verschwendet. Die Zeit verging wie im Fluge.
„Oje! Ich muss zurück. Major MacDermott wird beunruhigt sein.“
„Ja, ich habe Sie länger als nötig ... Erlauben Sie! Lassen Sie mich Ihnen
helfen.“ Cristabel mühte sich wieder mit den Hutbändern ab. Es war schon
schlimm genug, dass man sie vermissen würde, aber sie konnte nicht auch
noch in derangiertem Zustand in den belebten Park zurückkehren.
Und dann spürte sie die kräftigen Hände des Viscounts an ihrer Kehle.
Abwechslungshalber musste sie zu jemandem hinaufsehen und bemerkte, dass
er konzentriert auf den Knoten starrte. Da er ihr so nah war, konnte sie sehen,
dass die Narbe über dem Auge in den Haaransatz verlief. Sie schalt sich ein
Dummchen, weil es sie beunruhigte, dass er verwundet worden war,
wahrscheinlich bei einem Duell. Er bedeutete ihr nichts. Er war anziehend und
höflich, aber er war ein Viscount. Sie stammte aus einer verarmten vornehmen
Familie und war nur die Tochter eines Vikars, der es schlecht erging und die zu
allem Überdruss auch noch eine Pension leitete. In einer Welt, in der die
Ausübung von Geschäften fast bedeutete, nur einen Schritt weit von der Hölle
entfernt zu sein, konnten die beiden Gesellschaftsschichten sich nie mischen.
Daher konnte sie dem Viscount nichts bedeuten.
Endlich hatte er den Knoten gelöst und lächelte sie an, während er unter
ihrem Kinn eine Schleife machte. Seine Finger streiften ihre Hand, und seine
grauen Augen waren auf ihre blauen gerichtet. Und dann legte er seine Hände
auf ihr Gesicht und zog sie näher zu sich. Er küsste sie, zunächst so sacht und
süß, wie er lächelte. Jetzt war sie die Verzauberte, betört durch einen neuen
Zauber, ein neues Vergnügen. Seine Arme drückten fester auf ihren Rücken,
und sein Kuss wurde intensiver. Ihrer beider Atem vermischte sich, und ihre
Seelen verschmolzen.
Ah! Erfasst von einer köstlichen Benommenheit, fand Cristabel, dass die
beiden Gesellschaftsschichten sich doch vermischen konnten. Dann ließ er sie
los, und der Zauber schwand. Sie erkannte ganz klar, was sie ihm bedeutete –
nichts. Sonst hätte er sie nicht so behandelt! Schlimmer noch, ihre Lippen
waren immer noch warm, und er lächelte noch immer. Er amüsierte sich über
ihre wütende Miene. Sie beschloss zu flüchten, statt ihn zu ohrfeigen oder ihm
eine Szene zu machen, wodurch seine niedrige Meinung von ihr nur noch
verstärkt worden wäre. Eigentlich waren es ihre Füße, die ihr die Entscheidung
abnahmen. Sie trugen sie über den Weg zurück, derweil sie zwischen Wut,
Beschämung und Bedauern hin und her gerissen wurde. Die Wut überwog.
Sie war doch kein Feigling! Aber warum lief sie dann schon wieder vor einer
ihr unbehaglichen Situation davon? Lord Winstoke hatte schließlich Schuld,
dieser Mann, dem sie nie offiziell vorgestellt worden war und der sich solche
Freiheiten erlaubt hatte! Wie konnte er das wagen!
„Wie können Sie das wagen?“ fragte sie, drehte sich zu ihm um und sah ihn,
sie neugierig betrachtend, auf derselben Stelle stehen. „Sie sind kein
Gentleman, Sir! Außerdem irren Sie sich, falls Sie denken, Sie könnten eine
schutzlose Frau belästigen. Major MacDermott würde Sie zum Duell fordern,
falls ich ihm den Vorfall berichte.“
Kenley war eher belustigt denn beunruhigt. Er verschränkte die Arme und
fragte gedehnt: „Würde er das tun?“
Nun, Cristabel wusste das nicht genau, um ganz ehrlich zu sein. An diesem
Nachmittag hatte Mac nicht sehr auf ihren guten Ruf geachtet, und da sie nicht
mit ihm blutsverwandt oder sonstwie an ihn gebunden war, oblag sie nicht
seiner Obhut. Konnte sie ihn bitten, sein Leben für etwas zu riskieren, das bei
reiflicher Überlegung nur ein Kuss gewesen war? Natürlich war es ihr erster
gewesen, und die Erinnerung daran würde sie sich bewahren, aber letztlich
handelte es sich doch nur um einen geraubten Kuss. Vielleicht trug sie auch
eine gewisse Schuld daran. Sie wandte den Blick ab.
„Ich hätte nicht bei Ihnen verweilen dürfen.“
„Nein, das hätten Sie nicht tun dürfen. Aber es ist in Ordnung. Sie können
dem Major sagen, dass ich, falls ich beschließen sollte, in seinem Revier zu
wildern, auch die Jagdgebühren zahlen werde.“
„Ich begreife nicht.“
„Nein? Sie begreifen aber doch, dass ich Sie, wenn Sie hier bleiben, ein
weiteres Mal küssen werde?“
Dieses Mal rannte Cristabel weg.
„Kann ich Sie besuchen kommen?“ rief Kenley ihr hinterher, und das Echo
ihres „Nein!“ mischte sich in sein Gelächter.
„Lord Winstoke hat Ihre Hoheit also im Park nicht bemerkt“, sagte Nick
nachdenklich. „Was jetzt?“
„Oh, er hat sie schon bemerkt, aber er erkannte sie nicht. Hast du etwas in
ihren Zimmern gefunden?“
„Keine Papiere, kein Geld. Was machen wir jetzt?“
„Schreib weiter.“
Lyle und Nick waren mit einer wichtigen schöpferischen Tätigkeit befasst. Sie
fabrizierten von Grund auf neue Rechnungsbücher. Sie arbeiteten mit frischer
Tinte, verwässerter Tinte, sieben verschiedenen Federkielen und zwei stumpfen
Bleistiften und schrieben manchmal mit der rechten, dann mit der linken Hand.
Der Authentizität halber machten sie Tee- und Weinflecke, und obendrein
schabten sie auch noch das Papier ab. Sie waren so darauf konzentriert, neue
Schulden zu erfinden – „Haben wir eine Feuerversicherung, Nick?“ – „Klar,
hinter dem Haus steht ein Eimer!“ –, dass es kein Wunder war, dass sie für das
Problem, das Miss Swann darstellte, keine Lösung fanden.
„Weißt du, das Geschäft ist rückläufig“, beschwerte sich Nick.
„Wieso? Die Männer scheint es nicht zu stören, dass der Salon nicht mehr zur
Verfügung steht, und die Mädchen schaffen es, sie ruhig zu halten.“
„Es liegt nicht daran, dass der Salon nicht mehr benutzt werden kann, du
Trottel, sondern an der verdammten Musik, die herausdringt. Harfenspiel bringt
jemanden nicht gerade in die richtige Stimmung, wenn du verstehst, was ich
meine.“
„Nun, ich habe keine Ahnung, was du von mir erwartest. Abends will Miss
Swann weder einen Schluck Wein noch Tee trinken, und ich halte sie bereits so
viel wie möglich dem Haus fern. Ich war mit ihr sogar in jeder Kirche und bei
jeder Sehenswürdigkeit und auf allen Exerzierplätzen, im Drury Lane und in der
Oper. Ich habe schon den Verdienst eines Monats dafür ausgegeben, Miss
Swann zu unterhalten.“
„Bedauerlich, aber nötig, solange du sie mir außer Sicht hältst. Ich habe
jedoch an eine dauerhaftere Lösung gedacht.“
„Ich denke ständig darüber nach. Hast du gesehen, wie Miss Swann jetzt
aussieht?“
„Ja, sie wirkt nicht mehr, als habe eine von Junges Katzen sie von der Straße
gezerrt, aber sie ist immer noch eine Bohnenstange.“
„Du bist blind. Sie ist hinreißend. Du hättest sehen sollen, wie die feinen
Pinkel sie angegafft haben.“
„Ich habe gesehen, wie du ihr Glupschaugen machst. Das hat gereicht.“
„Mit ihr kann man ein Vermögen machen. Warte es ab.“
„Und was ist mit deinem Plan, sie zu heiraten und dieses Haus zu
bekommen?“
„Falls sie nicht irgendwo einen Batzen Geld hat, kommt das nicht mehr in
Frage. Ich kann nicht von meinem Einkommen leben, geschweige denn für sie
aufkommen. Nein, sie wird lernen müssen, sich die Butter fürs Brötchen zu
verdienen.“
„Du bist ein mieserer Wicht, Lyle, als ich gedacht habe, und das will viel
heißen. Sie wird es nicht machen. Finde dich damit ab.“
„Ich räume ein, dass es schwierig sein wird, zumal sie immer Fanny oder
Marie in der Nähe hat, aber vielleicht am Freitag, wenn ich mit ihr nach
Vauxhall fahre. Du weißt, Vauxhall, die Laternen, die Musik, das Feuerwerk, die
dunklen Alleen, ha, ha!“
„Sie fällt also auf die Musik und deine hübsche Visage herein. Deine Lust wird
befriedigt, und was dann?“
„Dann bleibt ihr keine große Wahl. Diese Dinger hier ...“ Lyle wies auf die
gefälschten Rechnungsbücher, „... werden ihr vor Augen führen, dass sie kein
Einkommen hat. Sobald sie sich also ihren Ruf ruiniert hat ... Teufel, er war in
dem Augenblick ruiniert, als sie hier hereinkam. Sie weiß es nur noch nicht.“
9. KAPITEL
Es gab eine Menge, was Cristabel nicht wusste. Aber es gab etwas, das Major
MacDermott nicht wusste, und zwar, dass sie kurz davor stand, ihr Herz zu
verlieren, wenn nicht sogar den Kopf. Aber nicht an ihn. Es hatte ganz den
Anschein, als ob ein seltenes Lächeln mehr bedeutete als ein ständiges Grinsen,
eine ernste Diskussion mehr als oberflächliches Poussieren und unaufdringliche
Höflichkeit mehr als überschwängliche Galanterie.
In den Tagen nach dem ersten Ausflug in den Park widerstrebte es Cristabel,
das Haus zu verlassen, aus Sorge, sie könne Seiner Lordschaft wieder
begegnen. Andererseits drängte es sie, zu Haus zu sein, falls er ihr die
Aufwartung machen sollte. Sie sagte sich, es sei nur ein Kuss gewesen. Es
bestehe kein Grund, verlegen zu sein. Der Viscount, ein solcher Mann von Welt,
würde den Kuss bestimmt schon vergessen haben. Auch sie würde den Kuss
vergessen, das wäre doch gelacht! Also stürzte sie sich in das Vergnügen, einen
Einkaufsbummel zu machen.
Marie kannte die besten Läden, um Handschuhe und Spitzen und Schuhe
passend zu dem neuen Kleid zu kaufen, das Cristabel für den Ausflug nach
Vauxhall anziehen wollte. In diesem Fall waren unter den besten Läden die
billigsten Geschäfte zu verstehen. Aber es kostete nichts, sich umzusehen, und
deshalb blickte Cristabel in jede Kutsche und hinter jeden Baum und hielt
Ausschau nach einem hoch gewachsenen, dunkelhaarigen Gentleman. Sie
hatte sogar aufgehört, sich Sorgen zu machen, eine ihrer früheren Schülerinnen
könne sie erkennen.
„Wieso dieses Stirnrunzeln, hübsches Glockenblümchen?“ hörte sie
jemanden fragen, dessen Stimme sie viel zu gut in Erinnerung hatte. „Wenn
dieser Hut Ihnen nicht gefällt, gibt es noch Hunderte andere.“
„Oh nein! Er ist hübsch. Was machen Sie hier, Mylord?“
„Hier, setzen Sie diesen auf“, antwortete er. Hastig band sie, weil sie sich an
seine Berührung vom letzten Mal erinnerte, selbst die Schleife zu. Sie war nicht
überrascht, als sie sah, dass der Hut himmlisch war. Man konnte sich darauf
verlassen, dass ein routinierter Frauenheld alles über Damenmode wusste.
Immer noch die Stirn runzelnd, was dem Hut nicht gerecht wurde,
wiederholte sie die Frage: „Ich bezweifele, dass ein Gentleman seine Zeit in
Modeboutiquen verbringt. Wie kommt es, dass Sie hier sind?“
„Oh, ich bin an dem Geschäft vorbeigefahren und habe Sie es betreten
gesehen. Genauer gesagt, mein Freund Perry bringt mir die Feinheiten des
Kutschierens bei. Es erschien mir besser, die Unterrichtsstunde zu beenden,
solange er und ich noch Freunde sind. Es ist mir ein Rätsel, wie er erwarten
konnte, dass ich gleich am Anfang sein Gespann ebenso geschickt wie er durch
den Verkehr lenken kann. Unkooperativ und lästig.“
„Wer? Die Pferde?“
„Nein, er. Im Allgemeinen ist er ein netter Kerl, nur dann nicht, wenn es um
seine Pferde geht. Von nun an werde ich Mietpferde kutschieren.“
„Verzeihen Sie mir die Neugier, aber wie kommt es, dass ein Gentleman, der
so ... so ...“ Gerade noch rechtzeitig unterließ sie es, sich Fannys
Ausdrucksweise zu Eigen zu machen und zu sagen „so dufte ist“. „Das heißt, ich
dachte, alle Gentlemen könnten hervorragend kutschieren.“
„Was? Haben Sie gedacht, diese Fähigkeit würde uns, den Kindern reicher
Eltern, bereits in die Wiege gelegt? Sehen Sie mich nicht so durchdringend an.
Ich scherze nur. Natürlich haben Sie Recht. Ich hätte meine Fähigkeiten schon
vor Jahren vervollkommnen sollen, war jedoch im Krieg. Ach, ich glaube doch
nicht, dass dieser Hut geeignet ist. Er verdeckt Ihre Augen zu sehr.“
Wenn der Viscount das Thema so abrupt wechseln konnte, dann konnte auch
Cristabel das tun. Sie fragte ihn, ob er die Wunde an der Stirn bei einer
heroischen Tat erhalten habe.
„Es gab keine Helden, Madam“, antwortete er brüsk und wandte sich ab. „Nur
Überlebende.“
„Es ... es tut mir Leid, Mylord. Bitte, verzeihen Sie, falls ...“
„Nein, nein, das liegt an mir. Außerdem glaube ich, dass ich mich für neulich
bei Ihnen entschuldigen muss. Wohlgemerkt, es tut mir nicht Leid. Nein, so
fängt man keine Entschuldigung an, nicht wahr? Ich kann den Kuss nicht
bereuen, Miss Belle, bitte Sie jedoch untertänigst um Vergebung dafür, dass ich
Sie verärgert habe. Verzeihen Sie mir?“
Sie schaute über die Schulter, um zu sehen, ob jemand zuhörte. Oje! Er hatte
den Kuss keineswegs vergessen!
„Können wir Frieden schließen?“ fragte er etwas lauter, woraufhin etliche
Leute sich zu ihm umdrehten. Die Matronen schnaubten, aber Marie zwinkerte.
„Ja, ja“, antwortete Cristabel, um ihn zum Schweigen zu bringen. Sie eilte zu
den Hutregalen an der Wand und drehte ihm den Rücken zu, damit er nicht
sah, dass sie rot geworden war.
Er war direkt hinter ihr und gab vor, die Auswahl zu betrachten, während sie
vorgab, nicht zu merken, dass ihr das Herz auf Grund seiner Nähe schneller
schlug.
„Auch auf die Gefahr hin, aufdringlich zu sein“, sagte er so leise, dass nur
Miss Belle ihn hören konnte, „frage ich Sie, ob Sie jemanden gefunden haben,
der Ihnen ... äh ... finanziell behilflich ist.“
Also, wie wusste er über die Harfenstunden Bescheid? Lyle natürlich! Es sah
dem Plappermaul ähnlich, dass er sich in aller Öffentlichkeit über ihre
finanzielle Notlage ausließ. „Nein, noch habe ich keine Annonce aufgegeben“,
antwortete Cristabel ärgerlich.
Kenley dachte daran, dass auch Eve nie Annoncen aufgab, und war erstaunt,
wie erleichtert er sich fühlte. Das andere Wunder war, dass bisher noch kein
anderer Mann Anspruch auf Miss Belle erhoben hatte, es sei denn, sie suchte
nach dem Meistbietenden. Er hatte versucht, sie sich aus dem Sinn zu
schlagen, allerdings mit noch weniger Erfolg als beim Kutschieren. Da er sie
jetzt getroffen hatte, bot sich ihm die Möglichkeit, ein Arrangement mit ihr zu
treffen, ohne vorher ein unangenehmes Gespräch mit Major MacDermott über
sie führen zu müssen.
„Hier“, sagte er und reichte ihr etwas, das sie für einen weiteren Hut hielt,
den sie sich aufsetzen solle.
Dieser Hut war hinreißend.
„Perfekt!“ befand Kenley. Selbst Marie und die Verkäuferinnen kamen hinzu
und äußerten Ahs und Ohs.
Cristabel hoffte, Marie möge sich den Hut besonders gut ansehen, damit man
ihn nachmachen könne, denn er war wirklich das hübscheste Stück, das sie je
gesehen hatte. Bedauernd nahm sie ihn ab und reichte ihn der Angestellten mit
dem uralten Vorwand zurück: „Ich werde es mir überlegen.“
„Was? Wollen Sie ihn nicht haben?“ wunderte sich Kenley, während er ihr
zum Ausgang folgte. „Aber der Hut hat dieselbe Farbe wie Ihre Augen.“
„Natürlich würde ich ihn mir nicht kaufen“, erwiderte Cristabel. „Er ist viel zu
teuer.“ Verdutzt schaute sie den Viscount an und fragte sich, wie er, wenn er
über ihre finanziellen Schwierigkeiten im Bilde war, auch nur denken könne, sie
habe die Mittel für den Kauf des Huts.
Ah, dieser fragende Blick! Kenley glaubte, seine Rolle gut zu kennen. Ohne
jedes Zögern sprach er seinen Text und erbot sich, den Hut für Miss Belle zu
kaufen, nur um sogleich durch ihr spontanes „Ganz gewiss nicht!“
unterbrochen zu werden.
„Nein? Sie sind die einzige Frau in meinem Bekanntenkreis, die ein Geschenk
ablehnt. Darf ich nach dem Grund fragen?“
„Das würde sich nicht schicken. Ein Gentleman kauft nie die Garderobe für
eine Dame, nicht wahr?“
Es gab zwar hin und wieder hinreißende Witwen und auf Abwege geratene
Ehefrauen, aber Kenley räumte ein: „Nicht die einer Dame, nein.“
„Nun, ich bin eine Dame, ungeachtet meiner Lebensumstände. Ist das ganz
eindeutig klar?“
Mit den blitzenden blauen Augen und der Haltung, die so steif wie ein
Fockmast war, lieferte sie eine verdammt gute Imitation ab, wie Kenley fand. Er
hatte keine Ahnung, welches Spiel sie jetzt spielte oder welcher Art die Regeln
waren, aber all die auf See verbrachten Jahre hatten ihn Geduld gelehrt. Je
länger er Miss Belle sah, desto mehr verlangte es ihn nach ihr. Also würde er
warten.
„Also gut, Schätzchen, ganz, wie Sie wollen. Darf ich Sie und Ihre Begleiterin
zu einem Eis einladen?“
Danach nannte Lord Winstoke Cristabel nur noch Miss Belle oder Madam. Er
kam nie in das Haus in der Sullivan Street, und er versuchte auch nicht wieder,
Cristabel zu küssen. Er erschien in den Gärten von Kensington, als sie dort mit
Fanny spazieren ging. Er tauchte sogar im Somerset House auf, nachdem sie
erwähnt hatte, dass Major MacDermott nur widerwillig damit einverstanden
gewesen war, sie in die Kunstausstellung zu begleiten. Wie vorauszusehen war,
langweilte der Major sich nach der dritten nasenlosen griechischen Statue und
ging ins Freie, um eine Zigarre zu rauchen. Er merkte daher nicht, dass
Cristabel mit Lord Winstoke weiterschlenderte, um ein Seestück von Turner
anzuschauen, das er besonders bewunderte, gefolgt von Fanny, die wie ein
sommersprossiger Schatten hinter ihnen herschlich.
Natürlich erzählte sie Seiner Lordschaft, dass sie abends die Vorstellung von
Romeo und Julia besuchen werde. Daher war sie nicht überrascht, als sie ihn in
der Pause sah. Es überraschte sie nur, dass er sie entdeckt hatte, bei der
Menschenmenge, die Marie, Kitty und Alice umringte.
„Diese Plätze sind wunderbar, Lyle, aber ich habe mich soeben gefragt, ob
Logen furchtbar teuer sind. Ich meine, ob ich in Betracht ziehen sollte, im
nächsten Jahr eine für die neue Saison zu mieten.“
Der Major war nicht im Mindesten gekränkt. „Klar, diese reichen Schnösel
können alles sehen und hören, nicht wahr, ohne sich darüber Gedanken
machen zu müssen, wie viel das kostet. Aber die Saison kostet mehr, als ich im
Vierteljahr verdiene, und außerdem gibt es ein Komitee, das über die
Logeninhaber entscheidet. Das ist eine hübsche Lektion für Sie, meine Liebe“,
fügte Lyle hinzu und tätschelte Miss Swann die Hand. „Arm zu sein ist längst
nicht so lustig, wie reich zu sein.“
Sie zog ihre Hand fort und wandte sich wieder der Bühne zu. Der Balkon war
zumindest besser als das Parterre.
Die erste Pause war unerfreulich. Cristabel fühlte sich vom Gedränge der
Leute erdrückt.
Marie schlug vor, in der zweiten Pause solle man sich ins Foyer begeben, und
dort war es etwas besser, bis eine weitere Gruppe von Männern MacDermott
begrüßte und die kleine Gruppe umringte. Cristabel bekam keinen der Namen
oder Titel mit und nickte nur unglücklich. Sie wünschte sich, Romeo und Julia
wären sich nie begegnet.
Und dann war Lord Winstoke da und reichte ihr seinen Arm. Man bahnte
sofort eine Gasse für sie und den beeindruckenden Viscount, der die anderen
Männer mit einem einzigen Blick auf Distanz hielt. Auf respektvolle Distanz.
„Also, was halten Sie von dem jungen Liebespaar, Miss Belle?“ fragte er, ganz
so, als habe er sie nicht in einer unangenehmen Situation angetroffen. Sie war
imstande, über seine Beschreibung des Romeo zu lachen, der, als er zum
Balkon seiner Herzallerliebsten hinaufkletterte, einen Blick zurückgeworfen
hatte, um zu sehen, ob seine Strumpfhose sich nicht an den falschen Rosen
verfangen habe.
Die Oper war eine ganz andere Angelegenheit. Ein mit Kitty befreundeter
Herr hatte eine Tante, die eine an diesem Abend nicht benutzte Loge gemietet
hatte. Cristabel tauschte mit jemandem den Platz, um weiter zurück im
Schatten sitzen zu können, da man sie, bevor die Lichter gelöscht worden
waren, angestarrt hatte. Dann fing die Oper an, und Cristabel war mitgerissen.
Ihr Vergnügen an der Musik war ungetrübt. Weil sie so hingerissen war und in
Gedanken die Musik immer noch hörte, bemerkte sie in der Pause nicht einmal
den Strom von Besuchern, der sich wie ein Gezeitenwechsel in die Loge und aus
ihr ergoss. Flüchtig dachte sie jedoch an die arme Miss Macklin, die
Gesangslehrerin, die diese herrliche Vorstellung verpasste, und dabei sang an
diesem Abend nicht einmal die große Catalani!
Flüchtig registrierte sie auch die Tatsache, dass Kitty und deren Beau, der
einen Titel, aber kein Kinn hatte, nach der Pause nicht mehr in die Loge
zurückkehrten. Wie schade für Kitty, Kopfschmerzen bekommen zu haben und
dadurch auf den Rest der Oper verzichten zu müssen!
Nach dem zweiten Akt war es in der Loge sehr viel ruhiger. Erschrocken
zusammenzuckend, merkte Cristabel, dass sie in der Dunkelheit mit einem
Mann allein war. Dann erkannte sie den Viscount, der sie beobachtete und auf
sie aufpasste, über ihr Vergnügen lächelte und ihr Entzücken teilte.
Was für ein berauschender, bezaubernder Abend für Miss Swann, die
Schulmeisterin! Sie erlebte ihre erste Oper, mit einem gut aussehenden Adligen
zur Seite, der es vorzog, still neben ihr zu sitzen, statt den Schönen der
Gesellschaft den Hof zu machen. Man stelle sich vor, was sie verpasst hätte,
wäre sie nicht nach London gefahren!
In den nächsten Tagen war Seine Lordschaft das Einzige, was ihr fehlte. Lyle
schien entschlossen zu sein, sie mit allen Wundern der Stadt gleichzeitig
bekannt zu machen. St. Paul, Pall Mall, London Bridge und der Tower. Der Gute
nahm sie sogar in den Zirkus mit, damit sie die Pferdedressur sehen konnte. Zu
dumm, dass sie durch die komischen Kunststücke an Lord Winstoke und seinen
Kutschierunterricht erinnert wurde. Zu dumm, dass Major MacDermotts
weitschweifige Fremdenführererklärungen sie sich nach einer wohlüberlegten
Bemerkung und angenehmer Stille sehnen ließen. Und zu dumm, besonders für
seine Pläne, dass sie, als sie sich für den romantischen Abend in Vauxhall
ankleidete, das im Hinblick auf Lord Winstoke tat.
Cristabel versuchte, ja, sie versuchte wirklich, die fröhliche Musik, die
ausgelassene Stimmung und den Anblick der Lichterketten in den Bäumen zu
genießen. Es fiel ihr jedoch schwer, die andere Seite von Vauxhall zu
ignorieren, das hinter Büschen hervordringende Gequietsche, die
abenteuerlustigen Gruppen junger Burschen, an denen man nur sehr schwer
vorbeikam, den bemerkenswerten Mangel an angesehenen, ihre Debütantinnen
zur Schau stellenden Matronen. Wenngleich die liederlichen Söhne vornehmer
Familien den Vergnügungsgarten frequentierten, war er für die arglosen
Töchter aus gutem Haus kein sicherer Ort mehr. Oder für Cristabel.
Kitty hatte wieder Kopfschmerzen, und ihr kinnloser Verehrer brachte sie
nach Haus.
Cristabel hielt das für einen guten Vorwand und probierte ihn bei Lyle aus,
doch er wollte nichts davon hören.
„So früh können wir nicht nach Haus fahren, meine Schöne, nicht, ohne das
Feuerwerk gesehen zu haben. Noch haben wir nicht ein Mal getanzt. Außerdem
haben Sie noch keinen Schluck Punsch getrunken. Hier, trinken Sie.“
Sie glaubte, der gewürzte Trank werde ihr wirklich Kopfschmerzen
verursachen. Daher nutzte sie den Umstand aus, dass MacDermott sich mit der
Gesellschaft in der angrenzenden Gästeloge unterhielt, und schüttete den
Inhalt des Glases ins Gras. Nachdem der Major sich zu ihr umgedreht hatte, um
sie mit den Leuten bekannt zu machen, schenkte er ihr sofort nach. Selbst im
Dämmerlicht hatte sie den Eindruck, dass die Gesichter der Frauen stark
geschminkt waren. Ausnahmsweise war sie froh, dass Lyle sich so nachlässig ihr
gegenüber benahm.
„Belle, das ist Coco. Und das ist Tiffany. Der Knabe dort ist Orr und der
Bursche mit dem dummen Grinsen Mr. Smith. Kommt, lasst uns anstoßen. Auf
die Liebe. Auf was würde man sonst in dem Vergnügungspark trinken?“
Cristabel merkte, dass Lyle bereits beschwipst war. Daher goss sie auch sein
Glas aus, als er nicht hinschaute. Er füllte die Gläser wieder nach, und sie leerte
sie ständig aus. Die unter dem Fußboden der Gästelogen von Krümeln lebenden
Nager und streunenden Tiere würden morgens alle einen Kater haben.
„Kommen Sie, Lyle. Lassen Sie uns einen Spaziergang machen“, schlug sie
vor. Auch wenn er nicht nüchtern werden sollte, weil er sich bewegte, so war er
doch wenigstens außer Reichweite der Punschschüssel und der schrecklichen
Leute.
„Na klar! Ich kenne die hübscheste kleine Gartenlaube, die nur einige
Schritte entfernt ist, wenn man den Weg da hinuntergeht.“
Dort, wohin Lyle zeigte, war es dunkel.
„Ich habe mich anders entschieden. Wie wäre es mit dem Tanz, den Sie mir
versprochen haben?“
Falls Cristabel für jede Stunde, die sie bei den Tanzstunden der Schülerinnen
auf dem Klavier begleitet hatte, einen Shilling bekommen hätte, wäre sie reich
und hätte so viel Geld, um ihre eigene Schule zu gründen. Trotzdem war sie im
Tanzen nicht geübt. Sie hatte angeborene Grazie und war musikalisch, kannte
auch alle Schritte, hatte aber dennoch das Gefühl, unbeholfen und nicht im
Takt zu sein. Bald war sie erhitzt und verschwitzt, und da, wo Lyle ihr auf die
dünnen Seidenschuhe getreten und schwarze Dreckflecke auf den
Schuhspitzen hinterlassen hatte, taten ihr die Füße weh.
„Könnten wir eine Pause einlegen? Ich hätte gern etwas Kaltes zu trinken.“
„Natürlich, mein Schatz. Lassen Sie uns zur Loge zurückgehen. Der Kellner
kann die Punschschüssel auffüllen.“
Das war schon wieder ein schlechter Einfall. „Nein, kein Punsch mehr.
Vielleicht etwas Limonade. Ich könnte hier warten, derweil Sie mir ein Glas
holen, und dann können wir weitertanzen.“
„Gut, gut, wie Sie wollen. Ist ein prima Abend, nicht wahr? Vielleicht spielt
das Orchester einen Walzer.“
Cristabel würde kapitale Kopfschmerzen bekommen, nein, einen
Ohnmachtsanfall, ehe sie dem Major gestattete, sie bei diesem Tanz so intim in
den Armen zu halten und herumzuschwenken.
„Möchtest du tanzen, Schätzchen?“ Lyle war nirgendwo zu sehen, und ein
alter Mann, der eine Perücke trug, verneigte sich vor Cristabel. Sie hörte sein
Korsett knacken.
„Nein, vielen Dank. Ich warte auf meinen Begleiter.“
„Ach, einer ist so gut wie der andere. Komm schon!“
„Nein. Ich ziehe es vor, auf meinen ...“
„Was ist denn los? Bin ich für jemanden wie dich nicht gut genug? Ha! Ich
werde dir zeigen, wie gut ich bin.“ Der alternde Roué packte sie am Arm und
versuchte sie zur Tanzfläche zu ziehen.
Sie sträubte sich und schaute sich verzweifelt nach Mac um. Dann hielt
plötzlich jemand anderer sie am Arm fest.
„Ich glaube, dieser Tanz gehört mir.“
Sie schaute in sie erzürnt ansehende graue Augen. „Lord Win ... stoke“,
stammelte sie. „Wie wussten Sie ... Das heißt, vielen Dank.“
„Sie kleine Närrin! Was machen Sie hier allein?“ Er schüttelte Miss Belle am
Arm.
„Major MacDermott holt mir ein Glas Limonade, und ich wusste nicht, dass ich
ein Problem bekommen würde. Dieser Mann ...“
„Verdammt, das hätten Sie wissen müssen! Was haben Sie erwartet, als Sie
in diesem Aufzug herkamen? Großer Gott, Kind, Sie sehen so aus, dass jeder
Mann bei ihrem Anblick den Verstand verlieren könnte. Wäre ich kein
Gentleman, verschwände ich mit Ihnen in den Büschen!“
Falls das ein Kompliment gewesen sein sollte, so war es gar nicht dazu
angetan, Cristabel das Herz zu erwärmen. „Also gut, ich habe einen dummen
Fehler gemacht, wie damals, als ich im Hyde Park mit einem fremden Herrn
spazieren ging und zuließ, dass er mich küsste. Ich versichere Ihnen, das
kommt nicht wieder vor.“
„Ziehen Sie die Krallen ein. Ich weiß, ich habe nicht das Recht, Ihnen
Vorhaltungen zu machen. Was hat der Major, dieser Einfaltspinsel, sich dabei
gedacht, Sie herzubringen und dann allein zu lassen?“
„Ich habe die Absicht, das meinerseits herauszufinden, Mylord. Wenn Sie
mich bitte zu meiner Loge begleiten könnten ...“
„Erinnern Sie sich nicht? Das ist mein Tanz.“
Natürlich musste es ein Walzer sein. Und natürlich tanzte der Viscount so
hervorragend, dass Cristabel, obwohl sie unerfahren war, sich so schwerelos wie
ein Mondstrahl vorkam, wie ein Schmetterling, der aus seinem Kokon
geschlüpft war und seine Flügel ausprobierte. Machen Sie mir das erst mal
nach, Miss Meadow, wenn Sie das können!
Kein Wunder, dass man Debütantinnen nicht Walzer tanzen ließ. Das war
wirklich gefährlich! Durch den dünnen Stoff des Kleides fühlte Cristabel auf der
Taille Lord Winstokes kräftige, sie sicher führende Hand und atmete den
Zitronenduft der Seife ein, mit der er sich gewaschen hatte. Mehr noch, sie war
seinem weichen Lächeln nah, seinen leicht verzogenen Lippen.
„Da sind Sie ja, Belle. Ich habe mich schon gewundert, wo Sie abgeblieben
sind. Es hat verdammt lange gedauert, bis ich Limonade bekommen habe. Ihr
Diener, Mylord. Kommen Sie, Belle, die anderen Mädchen sind eingetroffen. Sie
warten in der Loge.“
„Noch haben wir den Tanz nicht beendet, mein Lieber“, erwiderte Kenley
ruhig.
Oh, wie sehr Cristabel sich danach sehnte, weiterhin in seinen Armen zu sein!
Aber angesichts seiner verengten Augen und in Anbetracht ihres wie wild
klopfenden Herzens wusste sie, was das für ein gefährlicher Fehler sein werde.
„Es tut mir Leid, Mylord. Ich muss mit Major MacDermott zurück. Nochmals
vielen Dank.“
Kenley hob ihre Hand zum Kuss an die Lippen und wandte sich dann wortlos
ab.
„Ist ein bisschen hochnäsig, nicht wahr?“ bemerkte Lyle. „Er hat doch seine
... äh ... Grenzen nicht überschritten, oder doch?“
„Genau darüber wollte ich mit Ihnen reden, Lyle. Ich glaube, wir sollten
heimfahren und ein langes Gespräch führen.“
„Gut, gut, lange Kutschfahrt und so. Ich habe einigen der Burschen soeben
die Möglichkeit versprochen, Alice und Gwen und Angel kennen zu lernen.
Dauert nur einen Augenblick.“
Es dauerte sehr viel länger, sich durch die Menschenmenge, die jetzt lauter
und vulgärer in ihren Äußerungen und Gesten war, einen Weg zu bahnen. Die
Mädchen in der Loge tranken bereits Punsch und kicherten über die üblichen
Komplimente der rote Uniformjacken tragenden Offiziere. Lucy, eine der
Bewohnerinnen der Pension, die Cristabel am wenigsten mochte, hatte sich
Rouge aufgelegt und trank aus einem Glas, das ausgerechnet von Sir William
Winklesham gehalten wurde, dem alternden Wüstling, von dem Cristabel in der
Nähe der Tanzfläche belästigt worden war. Lyle rief Männern in den
benachbarten Logen etwas zu und schickte Alice und Gwen mit einem
stotternden Baronet und einem feisten Mann, der, wie er Cristabel zuflüsterte,
Mr. Frye hieß und ein immens reicher Besitzer einer Handelsgesellschaft war,
zum Tanzen.
„Wenn sie tanzen wollen, gehen sie in die falsche Richtung, Lyle.“
„Was war das? Oh, wahrscheinlich gehen sie dort hin, um das Feuerwerk zu
sehen. Müsste gleich anfangen. Auch wir sollten uns auf den Weg machen, um
einen guten Platz zu bekommen.“
„Ich gehe nirgendwohin, Mac, bis ich weiß, was ich wissen will“, zischte
Cristabel ihn an. „Werden Sie alle Ihre Freunde los, und stellen Sie um Himmels
willen das Glas ab.“
„Aber, aber, kein Grund, sich so aufzuplustern! Sehen Sie, alle Leute begeben
sich zum Feuerwerk. Wir können hier bleiben und gemütlich plaudern. Ich
wollte ohnehin seit einiger Zeit mit Ihnen reden.“
„Ach ja? Ich habe Sie täglich gesehen, aber Sie haben nie etwas
Diesbezügliches gesagt.“
„Waren ja immer Leute in der Nähe und so. Aber schießen Sie los, mein
Schatz“, schlug Lyle großmütig vor und tätschelte Miss Swann die Schulter.
Sie zuckte zusammen, sagte jedoch folgsam: „Das ist nicht der richtige Ort
für mich, Lyle. Sie wissen, Sie hätten mich nicht herbringen dürfen.“
Er hatte den Anstand, verlegen zu wirken. „Ich habe gedacht, Sie würden
sich gut amüsieren. Das ist alles. Die anderen Mädchen haben nie Anstoß
genommen.“
„Das ist etwas ganz anderes. Sie stellen sie dauernd Ihren Freunden vom
Militär vor und all den Lords und reichen Kaufmännern. Aber diese sind nicht
wirklich an armen Verkäuferinnen interessiert, nicht wahr? Ich meine, keiner
von ihnen würde je Kitty oder Gwen oder Alice heiraten oder Lucy oder Angel
mitnehmen und seinen Eltern vorstellen, nicht wahr? Warum gehen die
Mädchen nicht mit Lakaien oder Buchhaltern oder einfachen Soldaten aus,
damit sie sich respektabel verheiraten können?“
„Ah, genau das wollte ich erwähnen.“
„Wirklich?“ Das Letzte, was Cristabel hören wollte, war ein Heiratsantrag aus
dem Mund des Majors. Früher hätte sie sich versucht gefühlt, Lyle zu erhören.
Früher hätte sie geweint, wenn er um ihre Hand angehalten hätte. Er war immer
noch der charmante Begleiter, jedenfalls bis zum Beginn des Abends, der stets
lächelte und sich sorglos benahm. Ihre Einstellung hatte sich jedoch verändert,
nein, ihre Perspektive. Endlich war sie bereit, unter die Oberfläche zu sehen,
hinter das stets vorhandene Lächeln, den leeren Ausdruck in seinen Augen.
Dank dieses neu gewonnenen Zynismus wusste sie, dass es nur eine Frage der
Zeit war, bis Lyle begriff, dass er es sich sparen könne, Miete zu zahlen, wenn er
die Pensionswirtin heiratete. Offensichtlich hatte er diese Zeit gehabt.
„Bitte, sagen Sie nichts mehr. Die Ehe ist ein ... ein viel zu wichtiger Schritt.“
„Ehe? Wer redet denn von Ehe?“ Er kratzte sich am Kopf und versuchte sich
zu erinnern.
„Oh, dann wollen Sie mich gar nicht heiraten?“ Cristabel war viel zu
erleichert, um sich des Missverständnisses wegen gedemütigt zu fühlen.
„Nun, natürlich würde ich das gern tun. Ich meine, Sie sind jetzt eine
verdammt gut aussehende Frau und so und außerdem angenehm zu ertragen,
weil Sie nicht dauernd Szenen machen und ständig etwas zu nörgeln haben. Sie
sind wirklich eine Dame, Belle, und ein Mann könnte es schlimmer treffen, wenn
er die Absicht hätte, sich an die Leine legen zu lassen.“
„Vielen Dank, Major. Das war sehr freundlich, obwohl ich Sie in die Ecke
getrieben hatte.“
„Überhaupt nicht. Die Sache ist, dass ich mir eine Frau nicht leisten kann,
das heißt, eine mittellose Frau. Ich nehme nicht an, dass Sie irgendwo eine
beträchtliche Mitgift zur Verfügung haben, oder doch? Ihr alter Onkel hat doch,
ehe er verschieden ist, keine Geldeinlage für Sie gemacht oder dergleichen,
nicht wahr?“
Cristabel musste lachen. „Ich wünschte, er hätte das getan, Mac, aber ich bin
so arm wie eine Kirchenmaus oder fast so arm, dass kaum ein Unterschied
besteht. Ich werde bald Annoncen aufgeben müssen, um Schüler für
Musikunterricht zu bekommen.“
„Aber was wäre, gäbe es einen anderen Weg? Sehen Sie, das wäre so wie bei
Kitty und Gwen und all den anderen Mädchen, die keine Mitgift haben, keine
Angehörigen, die sie aufnehmen könnten, und keine Verbindungen. Sie haben
nicht die Möglichkeit, eine anständige Partie zu machen. Daher müssen sie sich
wie Sie und ich den Lebensunterhalt verdienen. Nun, es gibt Männer, gut
betuchte Männer, die mehr Geld haben, als sie ausgeben können, und die
willens, nein glücklich wären, ihren Zaster dafür zu verwenden, nette
Gesellschaft zu haben.“
„Was sagen Sie da, Mac? Diese Männer, die Offiziere, Kittys Lord Minerly – sie
alle bezahlen die Mädchen?“
„Nein, nein, das wäre vulgär. Eine Frau braucht einen Mann, der diese Dinge
für sie erledigt.“
„Die Mädchen, Mac? Sagen Sie mir bitte, dass ich missverstanden habe, was
Sie sagten, und dass die Mädchen keine Flittchen sind!“
„Es sind keine Bordsteinschwalben, falls Sie das denken sollten. Mr. Blass
und ich stellen sicher, dass keine aus der Reihe tanzt, und ...“
„Mr. Blass und Sie? In meinem Haus?“
„Ich weiß, dass Sie jetzt entsetzt sind, Belle, aber denken Sie nach. Mit einem
guten Berater und den richtigen Verbindungen kann eine gut aussehende Frau
bestens für sich sorgen.“
Cristabel stand auf. Sie machte einen Knicks. Und kippte den Inhalt der
Punschschüssel auf Major MacDermotts Schoß.
10. KAPITEL
Oje! Wo war der Ausgang? Wenn sie den Seitenweg einschlug, müsste sie ihn
finden. Aber da waren zwei Männer, die ihn ihr verstellten.
Cristabell warf einen entsetzten Blick auf die beiden sie lüstern anstarrenden
Kerle, drehte sich um und rannte zurück. Laut lachend wurde sie von ihnen
verfolgt. Einer war bald so nah gekommen, dass er sie am Kleid ergreifen
konnte. Sie hörte es zerreißen, hetzte aber trotzdem weiter, direkt in Lord
Winstokes Arme!
„Du meine Güte!“ sagte er und hielt sie einen Moment lang fest, ehe er sie
hinter sich schob. „Heute Abend haben Sie aber eine volle Tanzkarte, nicht
wahr?“
„He, Mister, wir haben die Kleine zuerst gesehen.“
„Und ich wette, ich habe vor Ihnen den Indischen Ozean gesehen. Aber
dadurch gehört er mir noch lange nicht.“
„Bitte, Mylord! Oh, bitte! Können wir nicht einfach weggehen?“ fragte
Cristabel und zupfte zitternd an seinem Jackenärmel.
Beruhigend berührte er ihren bloßen Arm und antwortete: „Ich befürchte, so
einfach wird das nicht sein, nicht wahr, meine Herren?“
„Nein, es sei denn, Sie gleichen uns den Verlust durch einige Piepen aus.“
„Ich zahle! Was immer Sie haben wollen! Hier!“ Cristabel mühte sich mit dem
Zugverschluss ihres Ridiküls ab.
„Armes Glockenblümchen! Erinnern Sie sich nicht an die Kindermärchen, die
man Ihnen erzählt hat? An die, in denen Trolle sich unter der Brücke verbergen
und Reisende, die hinüber wollten, einen Obolus entrichten mussten? Trotzdem
wurden die Reisenden niedergeschlagen und ausgeraubt. Nein, es gibt nur
einen Weg, wie man mit den Ungeheuern dieser Welt fertig wird.“ Kenley zog
den Frackrock aus und reichte ihn Miss Belle. „Bitte nur um einen Gefallen,
Jungs. Versucht, wenn möglich, nicht meinen Kopf zu treffen.“
Cristabel suchte noch immer nach einem Stock, einem Stein, nach
irgendetwas, mit dem sie schlagen oder zuhauen konnte, um ihren Helden zu
beschützen, als er bereits auflachte und ihr die Jacke aus den verkrampften
Fingern nahm.
„Ich schlage vor, wir gehen jetzt. Es sei denn, Sie wollen darauf warten, dass
Ihre Freunde zu sich kommen.“
„So ein hirnrissiger, blödsinniger Einfall! Sie hätten ihnen ebenso gut sagen
können, dass Sie eine Verletzung haben!“
„Ganz recht. Vielleicht beim nächsten Mal.“
„Sie ... Sie großer Dummkopf! Es ist nicht so, dass ich nicht zu schätzen
wüsste, was Sie getan haben. Ich weiß nicht, was passiert wäre, hätten Sie nicht
... Aber die Männer hätten Sie verletzen können!“
Die Besorgnis, die in Miss Belles Stimme mitgeschwungen hatte, war die
aufgeschundenen Fingerknöchel wert. Kenley lächelte jedoch nur. „Taktik,
mein Mädchen“, erwiderte er. „Wenn Sie einem Schläger Ihre Schwäche
eingestehen, dann wird er sie sofort ausnutzen. Das macht es viel leichter, sich
zu verteidigen. Man weiß gleich, worauf er zielen wird. Falls Sie mir jedoch
Vorhaltungen machen wollen, so muss ich Ihnen sagen, dass es nicht sehr
scharfsinnig war, allein herzukommen, erst recht nicht, nachdem Sie
mitbekommen hatten, was auf der Tanzfläche passieren kann. Was hat Sie
getrieben, allein durch die Nacht zu spazieren?“
Kleine Dinge. Das Haus war ein Bordell. Die Freundinnen waren Flittchen und
Zuhälter. Und das einzige Angebot, das sie wahrscheinlich je bekam, würde das
Ansinnen sein, jemandes Geliebte zu werden. Das war alles viel zu
überwältigend und peinlich, um darüber zu reden. „Lassen Sie mich einfach
sagen, dass ich strohdumm bin und aus allem einen schrecklichen Schlamassel
gemacht habe.“
„So schlimm ist es, hm?“
„Schlimmer!“
„Ich weiß, es wird abgedroschen klingen, aber schlafen Sie sich aus, und
dann sieht die Welt gleich besser aus. Nach einem so erschreckenden Erlebnis
wäre jedermann aufgeregt.“
Cristabel wusste nicht, wie sie je wieder in dem Haus schlafen könne, doch
das konnte sie dem Viscount nicht mitteilen. „Würde es Ihnen etwas
ausmachen, mir eine Droschke zu rufen? Ich bezweifele, dass Major MacDermott
auf mich wartet.“
„Ich bin in meiner Kutsche hergekommen“, sagte Kenley und befand in
Gedanken, Perry müsse sich eine Droschke nehmen.
„Sie waren bereits sehr freundlich, Mylord. Ich ...“
„Könnten Sie aufhören, dauernd ‚Mylord‘ zu mir zu sagen? Sprechen Sie mich
ruhig mit dem Vornamen an. Ich heiße Kenley. Meine Mutter nennt mich jedoch
Lee.“
„Vielen Dank, Kenley, aber ...“
„Ja, Sie haben mir schon gedankt, und nein, es ist kein Umweg. Und falls es
Sie beruhigt, kann ich Ihnen sagen, dass ich Ihre Tugend nicht gefährden
werde.“ Im Stillen fügte er „heute Nacht nicht“ hinzu. Laut äußerte er rasch:
„Da ich so onkelhaft bin, möchte ich Ihnen einen kleinen Rat geben. Männer
können einer Herausforderung nicht widerstehen, so wie das bei diesen beiden
Schuften der Fall war. Und Ihre unschuldige Ausstrahlung ist, verbunden mit
Ihrem Sirenenkörper, genau das. Ihr Schutzmantel der vornehmen Herkunft ist
eine Herausforderung.“
„Aber ich bin respektabel.“ Jedenfalls hatte Cristabel das gedacht, zumindest
bis zu diesem Abend.
„Wie Sie meinen, Schätzchen.“
„Sie glauben mir nicht?“
„Um ehrlich zu sein, weiß ich nicht mehr, was ich glauben soll, aber das ist
nicht von Bedeutung. Ich weiß, dass ich Ihrem Zauber voll und ganz erlegen
bin.“
Für Kenley dauerte die Fahrt viel zu lange. Für Cristabel war sie zu kurz. Für ihn
dauerte es zu lange, bis er die begehrenswerteste Frau in den Armen halten
konnte, um zu sehen, ob ihre Haut so weich war, wie sie aussah, oder um diese
samtenen Lippen wieder auf seinen Kuss reagieren zu fühlen.
Und die Fahrt war zu kurz, denn es bedeutete, die Sicherheit, die seine Nähe
ihr bot, zu verlassen und Cristabel von dem Gefühl zu befreien, in Lord
Winstokes Nähe habe sie Schmetterlinge im Bauch. Sie hatte kaum die Zeit,
sich zu fragen, ob Seine Lordschaft sie küssen werde, wenn sie ihm das Gesicht
zuwandte, und ob sie ihm dann Einhalt gebieten würde.
Man befand sich in Kensington, und der Kutscher erkundigte sich nach der
Adresse. Cristabel gab ihm eine Weile Anweisungen und forderte ihn dann auf,
an der Ecke der Sullivan Street anzuhalten. Sie konnte das Haus vor sich sehen.
Jeder konnte es sehen. Es war hell erleuchtet, und vor dem Eingang standen
mehrere Kutschen. Sie wollte jedoch auf keinen Fall, dass Lord Winstoke die
Szene miterleben würde, die ganz gewiss erfolgte, und vielleicht wusste er bis
jetzt noch nicht einmal über das Haus Bescheid. Es war eine so vage
Vermutung, dass Onkel Charlie sich im Grab umdrehen würde, aber das war
ihre einzige Hoffnung.
„Ich steige hier aus“, sagte sie und hastete aus der Kutsche, kaum dass der
Lakai den Wagenschlag geöffnet und der Viscount die Möglichkeit gehabt
hatte, das Fahrzeug vor ihr zu verlassen, um ihr behilflich zu sein. „Wissen Sie,
ich möchte niemanden aufwecken. Und Sie haben schon so viel für mich getan.
Vielen Dank, und entschuldigen Sie mich bitte.“ Danach eilte sie davon.
Verdutzt wies Kenley den Kutscher an, ihr zu folgen, und zwar langsam und in
sicherem Abstand. Sie war viel zu wütend, um das zu bemerken, als sie an zwei
Soldaten vorbeilief, die sich in ein Blumenbeet erleichterten. Kein Wunder, dass
hier nichts wuchs!
Abgeschlossen! Die Tür des eigenen Hauses war abgeschlossen! Cristabel
klopfte an, aber man spielte auf dem Pianoforte und sang viel zu laut, um sie im
Haus hören zu können. Daher wummerte sie mit den Fäusten an die Tür und
schrie: „Mr. Blass, machen Sie sofort die Tür auf, Sie elender Kuppler!“
Das hatte man gehört. Im Salon und auf der Straße, wo Lord Winstöke
schmunzelnd in seiner Kutsche saß.
„Sollen wir jetzt weiterfahren, Mylord?“ erkundigte sich der Kutscher
beleidigt. Das war keine Gegend für Adlige.
„Nein, wir warten. Vielleicht bekomme ich heute Nacht doch noch das
Feuerwerk zu sehen.“ Kenley lachte. Verdammt, das Mädchen hatte Mumm.
Einen Augenblick lang fühlte er sich an Lord Harwoods drachenhafte Nichte
erinnert, die Feuer spie und moralische Entrüstung. Gott, er hoffte, sie möge
hinter einem der Spitzenvorhänge stehen, die rauf und runter in der Straße zur
Seite gezogen worden waren. Er würde noch einen Teil von Harwoods Schulden
übernehmen, nur um ihr Gesicht sehen zu können, wenn sie diesen kleinen
Feuer speienden Vulkan hörte und merkte, dass sie neben einem Bordell
wohnte. Er würde am Morgen daran denken müssen, Mr. Sparling nach der
Adresse der alten Vettel zu fragen. In der Zwischenzeit ging die Tür von Miss
Belles Haus auf, und er strengte sich an, etwas von der Unterhaltung zu
verstehen.
„Hinaus! Ich will sie alle aus dem Haus haben! Haben Sie gehört? Alle! Sie
haben zehn Minuten Zeit, sie loszuwerden, und weitere fünf, um Ihre Sachen zu
packen. Danach rufe ich die Stadtwache und die Konstabler und jeden
Magistrat der Stadt her.“
„Dornröschen hat also endlich die Augen aufgemacht. Nun, es ist zu spät,
Mamsellchen, viel zu spät und zu dumm. Sie sind jetzt eine von uns.
Ausnahmsweise hatte der Major Recht. Sie können rein gar nichts dagegen
unternehmen.“
„Ich werde nie eine von euch sein! Eher brenne ich das Haus nieder, bevor
ich sehen muss, dass es so benutzt wird.“
„Feine Worte aus dem Mund einer feinen Dame machen Sie auch nicht
besser, als Sie sind. Es war Ihr Onkel, der dieses Etablissement aufgemacht hat.
Wir hatten ein Abkommen. Er konnte es unentgeltlich mit den Mädchen
treiben, statt Miete zu kassieren.“
„Ich treffe ein neues Abkommen mit Ihnen, Sie elender kleiner Wurm! Sie
verschwinden auf der Stelle, und ich werde keine Anzeige gegen Sie erstatten,
weil Sie mir die Mieten und das Kohlengeld und der Himmel weiß was sonst
noch gestohlen haben. Sonst lasse ich Sie deportieren, Sie und Ihre stinkenden
Zigarren.“
Nick zog die buschigen Brauen hoch und blickte an Miss Swann vorbei zu der
immer noch offenen Tür, durch die eine Menge Leute strömte. Einige der
Männer richteten sich noch die Sachen. Einige der Mädchen zerrten hastig
gepackte Koffer hinter sich her, unter deren Deckeln Spitzensäume
hervorlugten. Mit geübtem Blick bemerkte Nick das Wappen an der großen, auf
der anderen Straßenseite stehenden Kutsche und wusste, er war vorläufig in
der Minderheit.
„Sie haben zu Ihrer Unterstützung schweres Geschütz mitgebracht. Deshalb
gehe ich, Sie Frauenzimmer, aber Sie haben die Stalltür zu spät zugemacht.
Wenn Sie glauben, Ihr verdammter Held wird Ihren Erwartungen entsprechen,
dann haben Sie Luft im Kopf. Kein feiner Pinkel nimmt seine Mätresse zur Frau.
Und ganz sicher übernimmt er nicht die Geliebte eines anderen Mannes. Ich
werde Gott und der Welt sagen, wie Sie an Lyles Hemdenzipfel gehangen
haben. Und ich werde noch etwas erzählen, Mamsellchen. Sie haben mich nicht
zum letzten Mal gesehen, nein, wirklich nicht! Ihre Dokumente und Anwälte
sind mir gleich, aber in meinem Haus werden Sie nicht leben. Nicht lange. Auf
keinen Fall!“
Zitternd schaute Cristabel sich um. Der Salon war leer, und im Entree waren
nur die blasse Fanny und Junge zu sehen, die um die Kante der Treppe lugten.
Das war nicht viel Verstärkung.
„Junge, möchtest du Pförtner und Mädchen für alles sein?“ rief Cristabel ihm
zu. Er nickte. „Dann geh hinter diesem Galgenvogel her und sorg dafür, dass er
nichts mitnimmt, was ihm nicht gehört. Und Sie, Fanny, werden sich, wenn Sie
überhaupt hier bleiben wollen, die Schminke vom Gesicht waschen und die Tür
bewachen. Ich will nie wieder einen von diesen Bastarden hier sehen. Ist das
klar?“
„Oh ja, Miss Swann.“
„Gut! Ich werde Ihnen später noch einiges zu sagen haben. Verlassen Sie sich
darauf.“ Nach diesen Worten wurde das Gesicht des Mädchens noch bleicher, so
weiß, dass die Sommersprossen sogar durch das aufgetragene Rouge zu
erkennen waren.
Cristabel ging, nachdem sie die Truppen zwar nicht vereinigt, sondern zum
Ausschwärmen gebracht hatte, zur Treppe. Sie bezweifelte, dass jemand das
Fest verschlafen hatte, geschweige denn ihr letztes Gefecht. Aber sie war
entschlossen, reinen Tisch zu machen und keine Gnade walten zu lassen.
„Sie haben mich belogen. Ich dachte, Sie seien meine Freundin, und Sie haben
mich belogen. Sie haben einfach zugesehen, wie ich mich gesellschaftlich
ruinierte. Wie konnten Sie das tun?“
Marie packte. Bei ihr dauerte das länger als bei den anderen Mädchen.
„Ich wollte das nicht. Ich schwöre, dass ich das nicht wollte.“
„Warum dann? Ich dachte, dass Sie mich mögen. Ging es nur ums Geld?“
„Oh nein! Niemals! Ich hätte alles getan, was ich konnte. Sie waren so süß
und warmherzig.“ Marie brach in Tränen aus.
„Ach, hören Sie auf zu heulen! Erzählen Sie.“
Marie schniefte. „Zuerst war es komisch. Ich meine, Sie waren so sittsam. Es
war komisch, Sie hier zu haben. Wir alle haben gedacht, dass Sie sofort
verschwinden würden, wenn Sie wieder wohlauf seien, ohne dass großer
Schaden angerichtet würde, aber Sie sind nicht verschwunden. Und dann war
es zu spät. Mr. Blass ließ uns alle schwören, dass wir Ihnen nichts sagen.
Einigen der Mädchen war das gleich. Sie hatten keine Ahnung, was einer Dame
ihr guter Ruf und so bedeutet. Sie hatten nie einen guten Ruf. Ich habe jedoch
gesagt, das sei falsch. Das habe ich wirklich gesagt. Aber ich hatte keine
andere Wahl und musste mitmachen. Mr. Blass hat mich eingeschüchtert. Er
hat gesagt, er würde mich bei einem Fest in der Kaserne den Soldaten
überlassen, wenn ich nicht den Mund hielte. Das hätte ich nicht
durchgestanden, Miss Cristabel. Nein, das hätte ich einfach nicht ertragen.“
Nun war Cristabel den Tränen nahe. „Aber Marie! Er hätte Sie nicht dazu
zwingen können.“
„Sie begreifen nicht. Ich habe kein Geld und auf der ganzen Welt keinen Ort,
wo ich Zuflucht fände. Gäbe es dieses Haus nicht, müsste ich mit den anderen
Mädchen vor dem Drury Lane an der Straßenecke stehen.“
„Nein, Marie! Sie sind keine ... keine ...“
„Doch, das bin ich! Ich wollte es nie sein, aber ich bin es. Hier muss ich
wenigstens nur mit Männern zusammen sein, die mir gefallen.“
„Ich dachte, Ihre Mutter sei in einem vornehmen Haushalt im Dienst. Konnten
Sie dort keine Anstellung finden?“
„Was glauben Sie, weshalb ich meine Angehörigen verlassen habe?“ fragte
Marie bitter. „Ich bin älter geworden. Seine Lordschaft hat mich bemerkt, wenn
Sie verstehen, was ich meine. Meine Mutter wäre entlassen worden, hätte sie
sich beschwert. Sie hatte ohnehin Glück, dass sie eine Arbeit hatte, bei der sie
mich behalten konnte. Daher hat sie mir bei einer Londoner Familie eine Stelle
als Zofe verschafft. Bei einer Familie mit Söhnen. Ich konnte nicht bleiben, aber
auch nicht mehr nach Haus zurück. Da mein Ruf ohnehin schon ruiniert war,
fand ich, dass die gemeinen Kerle dafür zahlen sollten, statt es umsonst zu
bekommen. Aber ich hatte die Chance, etwas Besseres zu bekommen.“
„Ihren Beau?“
Kläglich nickte Marie. „Lord Radway.“
„Ein Adliger? Ich meine, hat er wirklich gesagt, dass er Sie heiraten will?“
„Oh nein. Ich habe nie ... das heißt, er ist schon verheiratet.“
„Entschuldigen Sie. Das hätte ich mir denken können.“
„Wir haben über etwas Eigenes für mich geredet. Ich dachte, ich könnte
etwas Geld beiseite legen, wenn ich keine Miete zahlen muss und mir durch
Näharbeiten etwas dazuverdiene.“
„Ihre Altersversorgung?“
„Genau! Er ist jedoch noch nicht vom Land zurück, und ich weiß nicht, wohin
ich soll. Und es tut mir so Leid, dass ich Sie belügen musste.“
„Hören Sie auf, so eine Heulsuse zu sein! Ich begreife, dass Mr. Blass Sie
eingeschüchtert hat. Er hat auch mich halb zu Tode erschreckt. Wirklich! Ich
begreife Sie. Und ... aber ich kann Ihre Pläne nicht billigen. Doch können Sie
hier bleiben, bis Ihr Lord Radway Sie holen kommt.“
„Oh, vielen Dank! Und Sie müssen sich auch keine Sorgen machen. Ich werde
mich so sittsam wie eine Pfarrersfrau benehmen, bis Chauncey mich holt.“
„Chauncey?“
Marie zuckte nur mit den Schultern. „Wissen Sie, das war schrecklich, dass
ich Ihnen das antun musste, und ich hätte Sie fortgeschickt, wäre mir das
möglich gewesen. Aber ich habe gehofft, etwas Gutes möge sich daraus
ergeben. Ihr Lord Winstoke sieht so gut aus und ist so reich ...“
„Wenn Sie das für die richtige Lösung halten und glauben, ich würde mir ein
Kind machen lassen, um meine Zukunft abzusichern, dann packen Sie besser
weiter. Das ist keine Liebe. Das ist auch keine Zukunft, Marie. Und ich habe
eine Wahl.“
Fanny war unten im Salon und hielt Major MacDermott mit dem Feuerhaken in
Schach.
„Sie haben mir befohlen, Miss, Bastarde aus dem Haus zu halten, aber Sie
haben mir nicht gesagt, ob es sich dabei nur um Freier handelt.“
„Das ist in Ordnung. Ist Mr. Blass verschwunden?“
„Ja, Madam. Er hat furchtbar geflucht. Junge hatte aber alle Türen und
Fenster versperrt und lässt seinen Wachhund frei laufen.“
„Er hat einen Wachhund?“
„Oh ja! Das ist ein großes, bissiges Tier. Wollen Sie es sehen?“
„Hm, jetzt nicht. Erst möchte ich mit dem Major reden.“
Er war ziemlich derangiert. „Gestern habe ich überall nach Ihnen gesucht. Sie
hätten nicht so fortrennen sollen.“
Vor Neugier fielen Fanny die Augen aus dem Kopf. Daher schickte Cristabel
sie zum Teeholen fort, besann sich jedoch sogleich anders. „Nein, erst möchte
ich Ihre Geschichte hören.“
„Meine Geschichte, Madam?“
„Ja. Ich will wissen, warum Sie hier sind und weshalb Sie sich an den Lügen
beteiligt haben, statt mir die Wahrheit über dieses Haus zu erzählen.
Schließlich war ich diejenige, die Ihnen den Lohn zahlte.“
Fanny schaute den Major an, der den Blick abwandte. „Ich wollte Sie nicht
belügen, Miss Cristabel. Ehrenwort! Aber Mr. Blass hat mir gedroht, mich an
einen Puff zu verkaufen. Sehen Sie, es war ganz leicht, Ihnen die Wahrheit zu
verschweigen. Sie sind noch weniger trocken hinter den Ohren, als ich es war.
Ich dachte, ich könnte hier ehrliche Arbeit bekommen. Mein Onkel Samuel ... er
ist der Mann mit dem Holzbein ... hat Korbwaren zum Verkauf hergebracht.
Deshalb bin ich mit ihm gefahren. Mr. Blass war auf dem Markt und hat mich
gefragt, ob ich Arbeit suche. Damals hatte ich noch keine Ahnung, und als ich
Bescheid wusste, war ich nur froh, dass er nicht zu den Männern gehörte, die
Mädchen mit Drogen betäuben und unter Verschluss halten. Ich wollte nie dort
landen, Madam, selbst wenn das bedeutete, schwindeln zu müssen.“
„Ich habe Verständnis, Kind. Holen Sie jetzt den Tee.“
Cristabel wandte sich dem Major zu. Wäre sie ein Richter gewesen, hätte er
bei dem Blick, den sie ihm zuwarf, schon sein Todesurteil gehört.
„Aber, Belle, Nick wollte Sie umbringen, und das habe ich nicht zugelassen“,
verteidigte er sich.
„Ich nehme an, dass ich Ihnen dafür sehr dankbar sein muss, Major
MacDermott. Und außerdem bin ich für Sie Miss Swann.“
„Ach, kommen Sie, Belle, Sie tun gerade so, als hätte ich die Kronjuwelen
geklaut. So schlimm ist es doch nicht, meine Liebe.“
„Nein? Ich habe kein Geld, Major, bis auf das, was ich mir geliehen habe. Ich
habe keine Angehörigen und keine Beziehungen. Ich hatte zwei Dinge, die mir
geblieben waren, und zwar dieses Haus und meinen guten Namen. Das haben
Sie mir genommen. Ich finde das schlimm genug.“
„Aber ich kann es wieder gutmachen, Belle. Wir werden heiraten! Dadurch
kommt alles bestens in Ordnung. Wissen Sie, das habe ich immer gewollt.
Folglich würden Sie mich zum glücklichsten Mann auf Erden machen.“
„Halten Sie die Klappe! Es ist zu spät, um sich jetzt noch lieb Kind bei mir
machen zu wollen. Eher nehme ich die Katze mit ins Bett, oder ich heirate Attila
den Hunnen. Aber sagen Sie mir eines, ehe Sie zu packen anfangen. Welche
Macht hatte Mr. Blass über Sie? Ich meine, Sie waren Offizier, haben eine gute
Erziehung, kommen aus einer anständigen Familie und hatten eine sichere
Zukunft. Warum haben Sie so etwas getan?“ Cristabel machte eine ausholende
Geste, in die sie das Haus, die Mädchen und nicht nur sich selbst einbezog.
„Natürlich des Geldes wegen. Es geht immer ums Geld. Es ist so: Ich hasse
die Armee. Aber wenn ich den Dienst quittiere, streicht mein Onkel mir mein
Einkommen.“
„Also wollten Sie ein Vermögen an den Frauen verdienen?“
„Nein, nein. Ich habe schon früher versucht, Ihnen das zu erklären. Es sind
die Männer, die zahlen. Die Mädchen wären sowieso ins ... äh ... Geschäft
eingestiegen. Man kann sagen, dass ich ihnen nur bessere Klienten besorgt
habe.“
„Sie machen mich krank. Nehmen Sie Ihre Sachen und verschwinden Sie.“
„Moment mal, Belle. Sie können mich nicht so einfach auf die Straße setzen.
Ich habe einen Mietvertrag mit Lord Harwood und für dieses Quartal schon
gezahlt.“
„Zeigen Sie mir den Vertrag.“
„Zum Teufel noch mal, das war ein Abkommen unter Ehrenmännern. Wir
haben es mit Handschlag besiegelt.“
„Da weder mein Onkel ein Ehrenmann war noch Sie einer sind, ist das
Abkommen für mich null und nichtig. Das ist mein Haus, und es wird ein
anständiges Haus sein. Sie sind nicht respektabel. Also müssen Sie gehen.“
„Aber Belle ... Miss Swann. Es dauert doch nur noch eine Woche, bis ich
wieder zu meiner Einheit muss. Ich kann nicht länger Genesungsurlaub
beanspruchen.“
„Nein.“
„Aber Sie brauchen mich hier. Ich kann Ihnen die Stammkunden vom Hals
halten und verbreiten, dass alle Mädchen weg sind.“
„Das können Sie auch von der Kaserne aus tun.“
„Und was ist mit Nick? Glauben Sie, das waren leere Drohungen? Lassen Sie
mich Ihnen sagen, dass er nicht viel Respekt vor Menschenleben hat. Und er
war wütender, als ich ihn je erlebt habe. Oder erwarten Sie, dass diese beiden
Kinder Sie beschützen können ...“ Er wies zum Entree. „... Fanny mit einem
Schürhaken und Junge mit einer Bratpfanne?“
„Dann wende ich mich an die Stadtwache, oder ich gehe zu den Konstablern
in die Bow Street.“
„Was soll die Stadtwache machen? Einen zusätzlichen Rundgang um den
Häuserblock? Und wie lange werden Sie noch mit Ihrem Geld auskommen,
wenn Sie Gendarmen anheuern müssen, die täglich vierundzwanzig Stunden
lang das Haus bewachen? Denn Nick kommt zurück. Darauf können Sie
wetten.“
Der schmierige Pinscher war vielleicht so verrückt, erneut zu versuchen, sie
einzuschüchtern. Der Gedanke, der ekelhafte kleine Mann könne wieder in ihrer
Nähe auftauchen, reichte aus, um Magenschmerzen zu bekommen. Lyle sah
seinen Vorteil.
„Denken Sie nach, meine Schöne. Ich habe eine Pistole und einen Degen. Ich
werde Sie mit meinem Leben beschützen. Das ist das Mindeste, was ich tun
kann, wenn Sie mir nicht die Ehre erweisen wollen, Ihnen meinen Namen geben
zu dürfen.“
Major MacDonalds Name war ebenso besudelt wie Cristabels. Der Major war
jedoch in einem Punkt gewaltig im Vorteil, den er mit ein bisschen Glück zu
benutzen verstand.
„Also gut, Major, Sie können bleiben, bis Sie sich bei Ihrem Regiment
einfinden müssen“, gab Cristabel nach. „Ich hoffe natürlich, Ihr Appartement
vermieten zu können. Daher werden Sie in die oberste Etage umziehen
müssen.“
„Aber mein Bein, Belle!“
„Humbug, Major. Ich habe Sie tanzen gesehen. Entweder die oberste Etage
oder nichts. Das steht weitaus mehr im Einklang mit der Miete, die Sie bisher
gezahlt haben, falls Sie sie überhaupt je gezahlt haben. Und außerdem bin ich
Miss Swann für Sie.“
„Sie sind hartherzig, meine ... Miss Swann.“
„Und noch etwas, Major MacDermott. Sie werden es sich zur Aufgabe
machen, Lord Winstoke davon in Kenntnis zu setzen, dass Sie und ich nie ...
intim befreundet waren. Ihr Freund Nick hat vor, diesbezügliche Lügen zu
verbreiten.“
„Das muss er gar nicht tun. Lord Winstoke ist kein grüner Junge mehr. Er wird
ohnehin annehmen, dass dieses Gerücht stimmt.“
„Ein Grund mehr für Sie, ihm zu sagen, dass das Gegenteil der Fall ist!“
„Aha! Der Wind weht also aus dieser Richtung! Sie täten besser daran, mich
zu nehmen, falls Sie darauf warten, dass dieser Lackaffe sich Ihnen erklärt. Er
hätte, wenn er das gewollt hätte, Ihnen schon vor Ewigkeiten einen
Heiratsantrag machen können. Aber tatsächlich hat er Sie in diesen
Schlamassel gestürzt. Das waren weder Nick noch ich.“
„Ich weiß nicht, wovon Sie reden.“
„Das ist der Lauf der Welt, Belle. Seien Sie ehrlich. Er kann nach etwas viel
Höherem streben, und das wird er tun.“
11. KAPITEL
Wenn sie überhaupt ein Leben vor sich haben wollte, musste sie nunmehr ein
neues Kapitel aufschlagen. Sie setzte sich hin und schrieb das Folgende:
„Möblierte Zimmer und Appartements zu vernünftigen Preisen für gediegene
Leute. Desgleichen Musikunterricht auf dem Pianoforte und der Harfe für junge
Damen. Auskünfte: 15 Sullivan Street, Kensington.“
Dann ging sie in den Korridor und rief nach Fanny. Kaum war Fanny bei ihr,
trug sie ihr auf, sie solle den Major suchen, damit er den Text in die Redaktion
der Zeitung brachte. Anschließend wies sie das Mädchen an, sauber zu machen,
ehe irgendjemand auf Grund der Anzeige im Haus vorstellig wurde.
Nachdem sie mit Marie über neue, angemessene Kleidung für sie, Fanny und
Junge geredet hatte, wurde er angewiesen, die Eingangsstufen zu schrubben
und dann ein Bad zu nehmen. Sie erklärte ihm, er habe sich jetzt an Wasser
und Seife zu gewöhnen, und sie schwor, so viele seiner vierbeinigen Lieblinge,
wie sie zu fassen bekam, zu ihm in den Badezuber zu werfen.
Sobald die Fenster geputzt worden waren, ließ sie eine von zwei neuen,
säuberlich geschriebenen Hinweistafeln in ein Fenster neben der Haustür
stellen. Dann polierte sie das Messing und hatte soeben mit dem
Treppengeländer angefangen, als die Tür eines Nachbarhauses geöffnet wurde
und eine Frau, die einen kleinen Jungen an der Hand hielt, ins Freie kam. Ein
Kindermädchen folgte den beiden mit einem Kinderwagen. Die Leute waren
offensichtlich auf dem Weg in den Park – der Junge hatte einen Holzball in der
Hand – und mussten an Cristabels Haus vorbei. Sie überquerte jedoch hastig
die Straße, und die Mutter zerrte den Jungen hart am Arm, damit er nicht
einmal einen Blick auf das Haus warf.
Cristabel stellte fest, dass man nicht vor Schmach starb, ebenso wenig wie an
gebrochenem Herzen. Es war gut, dass das Geländer aus massivem Messing
war, denn sonst hätte sie die Auflage längst abgerieben gehabt.
Entschlossen holte sie Fanny und Junge zu sich und erteilte ihnen
gemeinsam Unterricht.
„Seht ihr den ersten Buchstaben von dem Wort hier? Das ist ein A. A wie
Appartement. Sprecht mir nach. A wie Appartement. A wie anständig.“
Als man kichernd bei M angekommen war, M wie Miss Fanny, M wie Mister
Junge, hatte Cristabel den ersten Gast. Mit einem großen G. G wie gesittet.
„Die Anzeige wurde doch erst heute Morgen aufgegeben“, sagte sie zu dem
dünnen, bebrillten jungen Mann, der vor ihr stand. Er schien ungefähr
neunzehn Jahre alt und sehr nervös zu sein. „Sie hätten die Annonce doch noch
gar nicht sehen können!“
„Aber ich arbeite bei der Zeitung, Miss. Ich habe jetzt Mittagspause und bin
gleich hergeeilt. Ich weiß nicht, ob Mr. Helfhopher das billigen wird. Wissen Sie,
er ist der Herausgeber.“
Cristabel mochte den jungen Mann auf den ersten Blick. Er war ordentlich
gekämmt, trug eine einfache braune Jacke und eine unaufdringliche,
wenngleich schlecht gebundene Krawatte. Sie hatte sich jedoch schon früher
durch Äußerlichkeiten täuschen lassen. Daher stellte sie Mr. Haynes so viele
Fragen, dass er sie schließlich anflehen musste, seine Anzahlung für den
kleinsten, billigsten Raum im Obergeschoss anzunehmen, da er sonst zu spät
zur Arbeit zurückkommen und möglicherweise seinen Posten verlieren würde.
Er war ein aufstrebender Journalist. Es gab so viele Geschichten, die er
schreiben wollte und von denen er wusste, dass Mr. Helfhopher sie ankaufen
werde, vorausgesetzt, er hatte einen ruhigen Ort, wo er sie verfassen könne.
Dieser Ort war genau hier, und Mr. Haynes und Cristabel besiegelten das
Abkommen mit einem Handschlag. Danach hatte sie zusätzlich zum bereits an
ihr haftenden Dreck noch Druckerschwärze an der Hand.
Es war das V, das Cristabels Untergang bedeutete. Dieses verwerfliche,
verruchte V hatte nicht den richtigen Klang. Durch die ungewohnte schwere
körperliche Arbeit war sie so erschöpft, dass sie einfach nicht an etwas anderes
als Verführer und Vergehen denken konnte. Müde sank sie neben Junges
Putzeimer auf die Marmorstufen, um die untere Hälfte des letzten Geländerteils
zu putzen. Drauf mit dem kleistrigen Zeug und runterreiben. Rauf und runter,
rauf und runter. Rauf glänzte alles, runter war ... da waren polierte Lederstiefel.
„Entschuldigen Sie, ich möchte eine der Frauen sprechen, die hier wohnen.“
Ohne aufzuschauen, antwortete Cristabel erzürnt: „Sie sind alle weg. Es
wohnt keine mehr hier. Daher können Sie sich entfernen.“
Darauf verlangte Kenley, der von Dienstboten eine so unhöfliche Behandlung
nicht gewohnt war: „Dann die Dame des Hauses.“
„Hier sind keine so genannten Damen mehr, und es wird auch keine mehr
geben!“ Cristabel zog das Kopftuch hoch, damit sie den Mann ansehen konnte.
„Und wenn Sie nicht verschwinden, werde ich ... Lord Winstoke! Guten Morgen!
Sie sind doch gekommen.“
Da war wieder dieses schiefe Lächeln, das bekundete, dass er dachte: Ich
weiß, Sie sind nicht dämlich, nur wundervoll verwirrt, und natürlich bin ich
gekommen. Laut äußerte er jedoch: „Oder Sie werden was?“
Sie konnte sich nur aufrichten und grinsen, besonders dann, als er ein
schneeweißes Taschentuch hervorzog und ihr die Dreckflecke vom Gesicht
wischte.
„Oder ich mache Sie schmutzig.“
„Du meine Güte! Ich glaube, das kann ich riskieren.“ Er schaute sich um und
sah einen schlaksigen, dunkelhaarigen Jungen ihn mit großen Augen anstarren,
und das kecke kleine, sommersprossige Hausmädchen, das er von den
Spaziergängen im Park her kannte, winkte ihm von einem Fenster zu. Sogar die
Frau namens Marie war da, an der anderen Seite des Fensters, und putzte mit
alten Zeitungen lächelnd und nickend die Scheibe. „Können wir ins Haus gehen
und reden?“
Cristabel sah ihre Mannschaft sich entspannen und brachte sie mit einem
Stirnrunzeln dazu, wieder zu arbeiten. Außerdem sah sie sich durch ihre
größere Truppe in Sicherheit. Im Haus, allein ... Sie erinnerte sich daran, wie
Lord Winstokes um sie geschlungene Arme sich angefühlt hatten. „Nein. Ich
meine, nein, danke. Ich muss das hier erst fertig machen.“
„Das, was ich Ihnen zu sagen habe, ist ziemlich privater Natur.“
„Ich kann mir nichts vorstellen, das sich nicht in anständiger Weise vor
meinen Freunden sagen ließe.“
Das „in anständiger Weise“ hätte Kenley von seinem Vorsatz abbringen
müssen, aber er nahm an, dass die Frauen solche Anträge, wie er einen machen
wollte, schon viele Male zu hören bekommen hatten. Er hingegen hatte einen
solchen Antrag noch nie gemacht und war daher nicht ganz sicher, wie er
vorgehen solle, abgesehen davon, dass er flüstern musste, weil die ganze
Bagage die Ohren spitzte.
„Sie sollten wissen, Miss Belle, wie sehr ich Sie ... äh ... schätze.“
Sie wrang den Putzlappen in den Händen. Warum musste sie wie eine
Waschfrau angezogen sein?
„Und ich denke, Sie erwidern meine Gefühle.“
Sie nickte scheu und hielt den Atem an. Verdammt, sie hätte doch mit Seiner
Lordschaft ins Haus gehen sollen.
„Das habe ich gehofft. Ich konnte nicht umhin zu bemerken, dass Sie gestern
Abend in einigen Schwierigkeiten waren, und es tat mir weh, Sie bekümmert zu
sehen.“ Kenley war in seinem gespreizten Bemühen, sich beherrschen zu
müssen, weil er belauscht wurde, an die Grenzen seiner Geduld gekommen.
Sapperlot! Er hatte sich Stunden, nein tagelang, seit er diese aufreizende,
schöne, betörende Frau zum ersten Mal gesehen hatte, dieser gefühlsbetonten
Entscheidung wegen gequält. „Belle, meine Teuerste“, äußerte er und vergaß
restlos die Zuhörer. „Lassen Sie mich für Sie sorgen, Sie umhegen und Sie all
die Freude lehren, die zwei Menschen miteinander teilen können.“
Ihr Herz jubelte. Cristabel schloss die Augen, um ihren Traum sich
bewahrheiten zu sehen.
„Für immer und ewig.“
„Für immer?“ Sie riss die Augen auf. „Für immer. Was denken Sie, wie lange
die Ehe dauert?“
Jetzt erinnerte Kenley sich an die Zuhörer und errötete. Seiner Erinnerung
nach war es das erste Mal, dass er rot wurde. „Belle“, sagte er kaum hörbar,
„selbst Sie wissen es besser.“
„Selbst ich? Selbst ich, diejenige, die hier am wenigsten wissen kann? Nun,
Herr Hochmut, selbst ich habe ungeachtet dessen, was die anderen Leute
sagten, nicht gedacht, dass Sie sich so weit erniedrigen könnten, mir ein
unanständiges Angebot zu machen.“ Cristabel hatte geschrien, weil sie so
wütend war. Die Putztruppe saß einfach mit großen Augen da.
„Ach, kommen Sie, Belle“, erwiderte Kenley in dem Versuch, sie wieder so
fröhlich wie sonst zu stimmen. „Sie wissen, dass ich Ihnen nicht die Ehe
antragen kann. Ich bin meinen Angehörigen und meinem Namen mehr als das
schuldig.“
Die blauen Augen glitzerten wütend. Cristabel war wütend, auf den Viscount
und auf sich, weil sie dummerweise in dem Moment, da sie das liebevolle
Lächeln gesehen hatte, wieder Hoffnung empfunden hatte. Es war auch
liebevoll. Das wusste sie genau. Es war nur die falsche Art Liebe, die mit einem
Messingüberzug, der sich abnutzte. Es war die billige Talmiausgabe, die dieser
Elende ihr anbot. „Und was ist mit meiner Ehre? Was wäre, trüge ich einen
vornehmen, ehrbaren alten Namen, auch wenn Sie sich bisher nie die Mühe
gemacht haben, mich danach zu fragen?“
Kenleys knallrote Ohren hatten nur den ersten Teil gehört, und das war
empörend. „Welche Ehre, wenn Sie hier unter Major MacDermotts Schutz
leben?“
„Ich lebe unter niemandes Schutz, Mylord!“
Er war jetzt so wütend wie Miss Belle, weil er daran dachte, dass er sie mit
diesem Halunken gesehen hatte. „Und Sie wohnen nicht in diesem Haus?“
„Das ist mein Haus, und ich bin eine anständige Frau, und lassen Sie mich
Ihnen sagen, dass ich es verflucht leid bin, das allen Leuten mitteilen zu
müssen! Ich weiß nicht, warum jedermann offenbar das Schlimmste von mir
anzunehmen scheint, und ich mag auch ignorant gewesen sein, aber ich
komme aus einer guten Familie, und ich habe nie etwas getan, das meinen
Angehörigen Schande gemacht hätte, beispielsweise das einer anständigen
Frau gemachte Angebot, jemandes Mätresse zu werden.“ Cristabel holte tief
Luft und fuhr fort: „Des Weiteren würde ich nie, ganz gleich, wie schrecklich
meine Lebensumstände wären, verstohlene Küsse von einem Mann akzeptieren,
der mich irgendwo in einem kleinen Liebesnest versteckt, derweil er mit ihm
geeignet erscheinenden Damen auf allen großen Bällen tanzt und sogar eine
von ihnen heiratet. Wenn das ein Zeichen Ihrer großen Wertschätzung ist,
Mylord, dann ist Ihr Herz so schlecht wie Ihre moralische Einstellung. Sie, Sir,
sind ein Wüstling und Libertin. Ich hoffe, ich sehe Sie nie wieder. Guten Tag.“
Nach diesen Worten trat Cristabel gegen Junges Eimer, stürmte ins Haus,
rammte das andere Vorderfenster zu und knallte das zweite Schild hinter die
Scheibe.
Es war das Schild, das Wirkung zeigte. Kenley hatte lange mit
heruntergefallenem Unterkiefer dagestanden, bis er las: „Musikunterricht,
Pianoforte und Harfe“.
Es war nicht einmal der Hinweis auf einen vornehmen, ehrbaren alten
Namen, der ihm schließlich ins getrübte Bewusstsein drang, einen Namen, nach
dem er sich nie erkundigt hatte und den er folglich nicht kannte.
Es war auch nicht die Moralpredigt, obwohl sie den Ausschlag gab.
Was den Umschwung erzeugte, war die erschütternde Erklärung: „Das ist
mein Haus.“ Das Herz rutschte Kenley in die Hose, und schließlich machte er
den Mund zu. Er war sicher, Miss Belles Namen doch zu kennen, und zwar viel
zu gut.
Die neuen Stiefel waren ruiniert, die Füße klatschnass und kalt. Innerlich
kochte Kenley jedoch vor Wut.
„Sparling“, schrie er aus Leibeskräften, während er über den Marmorboden
der Eingangshalle schlurfte. „Zum Rapport auf die Brücke!“
Dieser Befehl führte dazu, dass alle anderen Dienstboten Seiner Lordschaft
die Decks räumten, und besonders in aller Eile die, welche daran gewöhnt
waren, dass vornehme Leute sacht den Klingelzug betätigten, wenn sie bedient
werden wollten.
Rutschend kam Jonas auf dem jetzt mit Pfützen übersäten Fußboden zum
Stehen. „Aye, aye, Cap’n. Hm, Sie haben nach mir gerufen, Mylord?“ Er war
weniger beunruhigt als neugierig. Er hatte, anders als die übrigen Landratten
an Bord, Lord Winstoke früher in Kämpfen erlebt. Der Captain war in einem
Gefecht so kühl wie der Wind vor Dover, also ging es hier nicht um eine
Schlacht, wie man auf Grund des Aufruhrs im Parterre hätte annehmen können,
sondern um etwas Persönliches, und der Captain konnte in Mayfair, ganz gleich,
welche Laus zum Teufel ihm über die Leber gelaufen sein mochte, einen
Kammerdiener nur entlassen, ihn aber nicht zwingen, über eine Schiffsplanke
ins Meer zu gehen. Daher wies Jonas mit einem Nicken auf die Stiefel seines
Herrn und erkundigte sich, ob er die Luken dicht machen solle, da man offenbar
in raue See geriet.
„Ich mache Ihre Luken zu, Sie elender Seeteufel. Bei allem, was heilig ist,
Mann, warum haben Sie mir nicht gesagt, dass Miss Swann eine Dame ist? Eine
schöne, charmante, feine, junge Dame?“
„Sie wollten mir nicht zuhören, Sir.“
„Gott, Sparling! Ich war blind, nicht taub!“
„Sie haben mir befohlen, ihren Namen nicht mehr zu erwähnen, Sir.“
„Seemann, wissen Sie, wie Lord Nelson seine Beförderung erreicht hat?“
„Ja, Sir. Ich nehme an, jeder Matrose in der Marine weiß über die Schlacht in
der Ostsee Bescheid.“
Kenley ignorierte Mr. Sparling. „Ich sage es Ihnen. Er hat Befehle missachtet.
So war das. Er hat sein Teleskop an sein fehlendes Auge gehalten und gesagt,
er könne Admiral Parkers Signal zum Rückzug nicht sehen. Er hat
weitergekämpft, zum Wohle seines Landes. Er hat dann die Schlacht gewonnen,
wurde zum Viscount ernannt und Befehlshaber der gesamten Kanalflotte, nur
weil er Befehle missachtet hat!“
„Sie haben mir das Versprechen abgenommen, Mylord.“
„Aber ein Bordell, Mann! Sie hätten wissen müssen, dass ich eine
unschuldige Maid in ein Bordell geschickt habe, wo sie leben sollte!“
„Sie haben gebettelt.“
„Miss Cristabel! Miss Cristabel, kommen Sie schnell. Es geht um Major
MacDermott! Er wurde verprügelt!“
„Lyle? Oh, Lyle, was ist mit Ihnen passiert? Ach, Ihr armes Auge und Ihre
Lippe! Kommen Sie, setzen Sie sich. Fanny, holen Sie feuchte Tücher und was
Sie sonst noch finden können.“
Major MacDermott stolperte zu dem im Salon stehenden Sessel und stützte
sich dabei auf Cristabel. „Meiner Treu! Hat Mr. Blass Ihnen das angetan?“ fragte
sie. „Ich hätte nicht gedacht, dass er so gefährlich ist. Ich werde doch zu den
Konstablern in die Bow Street gehen müssen. Wir werden Anzeige erstatten und
ihn festnehmen lassen.“
„Für was für eine Memme halten Sie mich?“ murmelte Lyle gequält, weil die
geplatzte Lippe ihm wehtat. „Kein jämmerlicher Zwerg hätte mir das antun
können.“
„Wegelagerer? Wurden Sie am helllichten Tag von einem Haufen
Straßendiebe überfallen?“
„Das war Ihr verdammter Viscount.“
„Lord Winstoke? Als Sie ihm von uns erzählten? Ich meine, als Sie ihm
erzählten, dass es nichts zu erzählen gäbe?“
„Er hat mich geschlagen, ehe ich ihm etwas erzählen konnte.“
„Aber Sie haben es ihm erzählt?“
„Ja, und dann hat er mich wieder geschlagen. Er sagte, er hätte mich
umgebracht, wenn er etwas anderes hätte annehmen müssen.“
„Oje! Lyle, heißt das, dass Sie ihn zum Duell fordern müssen? Wird es eins
geben?“
Mit dem einen offenen Auge sah er Miss Swann an, als hätte sie plötzlich zwei
Köpfe. „Wenn ich sterben will, Sie alberne Pute, dann würde ich an die Front
zurückkehren. Was soll ich Ihrer Meinung nach tun? Soll ich ihn der Ehre seiner
Mätresse wegen herausfordern?“
Also schlug Cristabel zu.
Der Schlaf nahte nur langsam, und dann war er voller Träume. Wenn Cristabels
Träume sowohl ihre edlen Prinzipien verrieten als auch ihre neue
Entschlossenheit, so musste man sagen, dass niemand im Schlaf seine
Gedanken kontrollieren konnte.
Lord Winstoke kam in ihren nächtlichen Fantasien vor, was nicht
überraschend war, da sie beim Einschlafen an ihn gedacht hatte. Sie tanzten
Walzer, wie auf Wolken schwebend, und drehten sich mühelos im Takt,
während sie sich gegenseitig in die Augen sahen. Sie versank tiefer und tiefer
in den grauen Tiefen seiner Augen, immer noch schwebend, als sei sie eine
Feder. Dann rückte er näher und drückte seine Lippen auf ihre, die so weich wie
ein Daunenkissen und so zart wie ein Sonnenstrahl waren. Cristabel und er
tanzten und schwebten, sich in dem endlosen Kuss verlierend, der
eindringlicher wurde und ihr den Atem raubte. Sie drehten sich auch schneller,
viel zu schnell. Sie konnte nicht genug Luft bekommen. Sie fürchtete sich!
„Aufhören, aufhören!“ schrie sie und wachte halb erstickt auf. Ein Kissen lag
auf ihrem Gesicht! Wild schlug sie um sich und traf auf etwas, das weich genug
war, um ein „umpff“ bei ihrem Angreifer auszulösen und ein flüchtiges
Nachlassen des durch das Kissen verursachten Drucks zu bewirken. Es gelang
ihr noch zu schreien, ehe der Druck auf ihr Gesicht wieder da war, aber sie hatte
auch tief Luft geholt. Daher schlug sie kräftiger zu. Es gab keine Möglichkeit für
jemanden, zwei Armen und zwei Beinen auszuweichen, derweil er beide Hände
dazu benutzen musste, Cristabel und das Kissen festzuhalten. Folglich hatte der
Möchte-gern-Mörder große Schwierigkeiten. Das Geräusch von Schritten auf der
Treppe und Rufen, dazu besorgt klingende Stimmen, überzeugten ihn, dass es
besser sei zu verschwinden, ehe die Tat oder er selbst erledigt war.
Cristabel schleuderte das Kissen von sich, sprang aus dem Bett und folgte
den krachenden, von dem Eindringling erzeugten Geräuschen, der in der
Dunkelheit den Weg zur Eingangstür zu finden versuchte.
Auf dem oberen Treppenpodest stand Marie mit einem Leuchter und einem
Gentleman, der eine Pistole hatte und sich die Hosen hochzog. Cristabel
brauchte einen Moment, um dieses Bild in sich aufzunehmen, und hätte
dadurch beinahe Mr. Blass nicht durch die Eingangstür hasten gesehen.
Sie lehnte sich an die Wand, um zu Atem zu kommen und damit das heftig
schlagende Herz sich beruhigte. Fanny und Junge kamen, beide in
Nachthemden, die Hintertreppe heraufgestürzt. Fanny schwang eine
Suppenkelle, und Junge hatte ein Fleischermesser.
„Wir haben gerade lesen geübt, Madam“, erklärte Fanny, als sie Miss Swanns
Stirnrunzeln sah. „Wirklich, das haben wir!“ Sie trat Junge ans Schienbein, der
grinste, und wechselte dann das Thema. „Das war Mr. Blass, nicht wahr, Miss
Cristabel? Ich wusste, dass er nichts taugt. Es lag an seinen Augen, genau wie
bei Onkel Lewis, der gehängt wurde, weil ...“
„Jetzt nicht, Fanny. Junge, zieh dich an und hol die Stadtwache. Ich bin
sicher, dass Mr. Blass entkommen ist. Aber vielleicht finden die Konstabler ihn.“
„Was ist passiert, Miss Cristabel? Wie ist Mr. Blass ins Haus gekommen?“
„Ich nehme an, mit seinem Hausschlüssel“, antwortete Cristabel verächtlich.
„Neuerdings bin ich nicht mehr ganz beeinander. Wir brauchen einen Schlosser
und doch die Gendarmen. Falls sie mich nicht zu beschützen vermögen, so
können sie uns zumindest in Bezug auf solche Dinge beraten.“
„Sie wollen die Konstabler herholen? Großer Gott, Marie, sie dürfen mich hier
nicht finden! Wo ist meine Jacke? Holt meine Stiefel!“ Lord Chauncey Radway
fuchtelte verzweifelt mit der Pistole herum und brachte dadurch Cristabel in
noch größere Nöte, als sie durch Mr. Blass’ Kissen geraten war.
Dann wanderte der junge Mr. Haynes vom Dachboden kommend die Treppe
herunter, hemdsärmelig und mit einem Federkiel in der Hand.
„Ich muss schon sagen, Miss Swann. Sie haben mir versichert, das sei ein
ruhiges Etablissement, wo ich schreiben kann.“
„Es tut mir schrecklich Leid, Mr. Haynes. Ich hatte nicht vor, mich in meinem
Bett ermorden zu lassen.“
„Das wird nicht wieder passieren, nicht wahr?“
„Das hoffe ich von ganzem Herzen.“
„Gut, gut! Wissen Sie, sonst müsste ich ausziehen.“ Und Mr. Haynes
schwebte die Treppe zurück nach oben.
„Wer war das?“ wollte Lord Radway wissen, während er sich mit Maries Hilfe
die Jacke anzog.
„Nur der neue Pensionsgast, Liebster, ein netter Bursche, der für Zeitungen
schreibt“, antwortete Marie.
„Ein Reporter? Mein Gott! Ich muss hier weg! Falls meine Frau je davon
erfährt ...“ Chauncey riss Marie seine Stiefel aus den Händen und rannte die
Treppe hinunter, wobei er über die Schulter zurückrief: „Ich versuche, im
nächsten Monat, wenn ich erneut geschäftlich in der Stadt bin, wieder
herzukommen. Du wirst mich wissen lassen müssen, ob es sicher für mich ist,
dich besuchen zu kommen.“
„Aber ... aber was ist mit dem Haus für mich, das wir uns bei diesem Besuch
ansehen wollten?“
„Tut mir Leid, Süße. Ich kann mir keine traurige Berühmtheit erlauben. Du
weißt, meine Frau ist in anderen Umständen. Zur jetzigen Zeit kann ich sie
nicht aufregen. Der Erbe, du weißt.“ Chauncey brachte es fertig, noch schneller
als Mr. Blass aus dem Haus zu kommen.
Jammernd ließ Marie sich zu Boden sinken. „Chauncey hat mich verlassen!
Ich habe kein Heim und keine Ersparnisse und werde auf der Straße sitzen! Was
soll ich jetzt tun? Ich werde verhungern. Ich werde mich in den Fluss stürzen.
Ich werde ...“
„Sie werden sofort aufhören, sich in Hysterie zu steigern!“ befahl Cristabel. In
der Schule hatte sie genügend Zusammenbrüche miterlebt. „Wenn Sie das
nicht sofort tun, bekommen Sie diesen Wasserkrug an den Kopf, so wahr wie ich
hier stehe!“ fügte sie hinzu, nahm die Blumen aus einer Vase und ging,
vollkommen enerviert, die Treppe hinauf. Man hätte denken können, es sei
Marie gewesen, die beinahe von einem Verrückten umgebracht worden wäre.
„Lord Radway ist Ihre Tränen nicht wert. Weg mit dem Müll, wenn Sie meine
Meinung wissen wollen. Und Sie werden nicht auf der Straße sitzen. Wir werden
eine Lösung finden. Das schwöre ich. Bitte, Marie, bitte, weinen Sie nicht.“
Aber es war bereits zu spät, da Marie schon wie ein Schlosshund heulte.
Cristabel verstand jedoch einige Worte wie „dünne Beine“ und „nasse Küsse“.
„Wirklich, Miss Swann! Ich muss gegen diese dauernden Störungen
protestieren. Ich kann nicht denken, und wenn ich nicht denken kann, dann
kann ich auch nicht schreiben, und wenn ich nicht schreiben kann, dann kann
ich auch nicht ...“
„Ich weiß. Dann können Sie auch nicht die Miete zahlen. Wir werden uns sehr
bemühen, Mr. Haynes. Die ... äh ... Störungen müssten jetzt zu Ende sein.
Fanny, bringen Sie Marie in ihr Zimmer. Und bleiben Sie dort!“
„Ich glaube, sie könnte eine Tasse Tee vertragen. Meine Mutter hat immer
gesagt ...“
„Also gut, ich bin sicher, dass auch ich eine Tasse Tee vertragen kann. Aber
es wird keine Besuche mehr bei Junge mitten in der Nacht geben. Haben Sie
begriffen? Sie sehen ja, wohin das bei Marie geführt hat.“
„Oh, ich würde kein Geld nehmen, Miss Cristabel. Das wäre falsch. Junge und
ich sind nur Freunde.“
Cristabel sank in einen Sessel, vergrub das Gesicht in den Händen und
seufzte. Fanny entfernte sich, die schlaffe Marie hinter sich herzerrend, so dass
Cristabel allein zurückblieb. Allein! Sie sprang auf und versperrte die Haustür.
Jetzt, da sie die Zeit hatte, um darüber nachzudenken, fragte sie sich, wo der
von Junge erwähnte Hund sei. Sie hatte nie ein Bellen gehört. Ihre Katze hätte
mehr ausgerichtet.
Der andere Beschützer kam jetzt voll bekleidet und den Degengurt
umschnallend die Treppe herunter. „Was hat das Tohuwabohu zu bedeuten?“
fragte Lyle.
Der Nachtwächter war keine Hilfe. Der trottelige alte Mann hatte kaum noch
Haare, noch weniger Zähne und Cristabels Meinung nach eine unangebrachte
Leichtfertigkeit.
„Sie beschweren sich über einen Mann, der in Ihrem Schlafzimmer war?“
fragte er und lachte gackernd. „In diesem Haus ist das ganz etwas Neues. Was
ist denn los? Wollte er nicht blechen?“
„Er hat versucht, mich zu töten, Sie Idiot!“
„Ha, ha! Und Sie erwarten, dass ich hinter einem Fatzke herrenne, der grob
geworden ist? Sie sollten sich einen Beschützer besorgen, Kind.“
„Der Mann, der mich überfallen hat, ist ein früherer Angestellter.“
„Haben Sie mitten drin die Pferde gewechselt, äh?“ Der Nachtwächter
schaute grinsend zum Major hinüber. „So ist es recht.“ Dann konnte er das
Gesicht des Majors besser sehen. „Kann nicht behaupten, dass ich meinen
Zaster auf diesen da setzen würde. ‘türlich habe ich den anderen Knaben nicht
gesehen. Egal, wir Staatsdiener werden dafür bezahlt, auf anständige Leute
aufzupassen, aber nicht, um euch Schnuckelchen zu bemuttern, ha, ha!“
Also brachte Cristabel Major MacDermott dazu, sie in die Bow Street zu
begleiten. Der Diensthabende war sehr viel respektvoller als der Nachtwächter,
wenngleich keine größere Hilfe.
„Es ist so, Madam. Die Bow Street Runners arbeiten am härtesten, wenn der
Fall die größte Belohnung verspricht. Ich nehme nicht an ... Nein, das glaube
ich nicht“, setzte er mit einem Blick auf das schäbige Cape der Frau bedauernd
hinzu. „Ich befürchte, in diesem Fall wird man die Augen nach diesem Blass
offen halten, aber auch nicht mehr tun.“
Der Beamte legte Cristabel nahe, woanders hinzuziehen, was natürlich eine
Unmöglichkeit war, da ihr die Pension gehörte. In diesem Fall könne sie für eine
herabgesetzte Miete einen Soldaten bei sich aufnehmen, der half, das Gelände
zu bewachen. Sie schnaubte verächtlich und dachte an Lyle, der draußen, wo
niemand sein blaues Auge sehen konnte, wartete.
„Dann kann ich Ihnen nur raten, Madam, sich einen großen Hund und eine
Pistole zu beschaffen. Eine Menge Einbrecher werden durch Gebell entmutigt,
und zumindest werden Sie rechtzeitig gewarnt, um die Waffe holen zu können.
Im Allgemeinen sehe ich nicht gern Damen mit solchen Waffen. Wissen Sie, viel
zu oft erschießen sie ihre Ehemänner, die von einer langen Nacht in ihren Clubs
heimgekehrt sind, weil sie glauben, es handele sich bei ihrem Mann um einen
Einbrecher. Zumindest behaupten sie das dann, das heißt, die Witwen. Aber in
Ihrem Fall ...“
In ihrem Fall war das ein ausgezeichneter Einfall. Zumindest konnte Lyle ihr
das Schießen beibringen. Nicht, dass sie je einen Schuss würde abgeben
müssen. Sie war sicher, dass Nick Blass, dieser feige Möchtegern-Kissenmörder,
schon vom Anblick einer Waffe in ihrer Hand verängstigt wurde.
12. KAPITEL
Der nächste Tag verursachte eine Menge Veränderungen in Nummer 15,
Sullivan Street, einem Haus, das über die Jahre schon mehr als genug
Umwälzungen erlebt hatte. Die erste Veränderung betraf neue Schlösser.
„Junge, ehe du einen Schlosser holen gehst, möchte ich diesen Wachhund
sehen, den wir hier haben. Gestern Nacht habe ich ihn nicht bellen oder
sonstwie Laut geben gehört.“
„Er ist aber richtig bissig“, lautete die ihr auf dem Weg zur Küche gegebene
Antwort. Ein großer schwarzer Köter hob den Kopf und knurrte Cristabel an, als
sie sich zu ihm bückte, um ihn näher zu betrachten. Er war wirklich bissig.
„Bist du sicher, dass er zuverlässig ist?“
„Na klar. Füttern Sie ihn und geben Sie ihm oben einen weichen Platz, wo er
schlafen kann. Dann wird er sein Reich und sein nächstes Fressen gut
bewachen.“
Mit Junges Anleitung und unter dem Blick der gelblichen Augen des Hundes
sammelte Cristabel die Speisereste ein und schob mit dem Fuß die Schüssel
näher an das Tier. „Nettes Hundchen“, sagte sie und kam sich dämlich vor. Er
war kein nettes Hundchen. Er war nicht einmal ein Er, wie Cristabel jetzt sah.
Er, nein, sie war voller Flöhe und struppig.
„Meinst du, sie könnte gebadet werden, bevor sie in mein Schlafzimmer
kommt?“
Junge sah skeptisch aus und kratzte sich am Kopf. Cristabel fragte sich, ob er
überlege, ob die Hündin das Bad hassen und zubeißen würde oder ob sie selbst
verrückt sei, sich eines bisschen Dreck und Ungeziefer wegen Sorgen zu
machen. „Ich weiß“, meinte sie. „Ich wette, die Hündin ist brav, wenn du mit ihr
in die Wanne steigst.“
„Aber ich bin schon gestern gewaschen worden, als ich die Treppenstufen
wischte.“
„Marie hat gesagt, dein neues Hemd werde heute Nachmittag fertig. Du willst
es doch nicht anziehen, ehe du ein Bad genommen hast, nicht wahr? Also
werde ich Seife und ein paar Handtücher holen. Du machst heißes Wasser ...“
Junge machte mehr Umstände als die Hündin, die, nachdem sie gefressen
hatte, nur vor dem Feuer schlafen wollte. Hund und Junge entstiegen dem
Badezuber in sehr verbessertem Zustand. Cristabel lockte die alte Hündin zu
ihrem Zimmer, indem sie in einigem Abstand Brocken von Muffins hinter sich
herstreute. Sie nahm das fleckige braune Kleid, das sie zum Putzen des
Messings angezogen und zur Verwendung als Putzlappen vorgesehen hatte,
faltete es zusammen und legte es an das Fußende des Bettes.
„Komm her, Hund“, rief sie, da dieses Wort natürlich das Einzige war, das
Junge als Name für das Tier benutzt hatte. „Nein, ich kann dich nicht nur Hund
nennen. Du wirst ... Meadow heißen, ja, Meadow, nach Miss Meadow, dem
ekligsten alten Frauenzimmer, das es je gegeben hat und deren Nachname
Wiese bedeutet. Gutes Hundchen, hier ist dein Bett.“ Sie legte den Rest des
Muffins auf den Fußboden und streckte zaghaft die Hand aus, um den
grauhaarigen Hundekopf zu streicheln.
Meadow verschlang den Muffin, ertrug das Streicheln, kratzte sich das Kleid
zu einem bequemeren Lager zusammen und plumpste darauf. Sie war schnell
eingeschlafen und knurrte im Traum.
Cristabel eilte davon, um Junge fortzuschicken.
Als der Hund sich später in Gegenwart des Schlossers nicht einmal regte,
sagte Junge: „Die Haustür gehört nicht zu seinem Reich.“
Cristabel ihrerseits knurrte den Schlosser, der den doppelten Preis verlangte,
weil er zu einem Notfall hatte kommen müssen, noch dazu an einem Sonntag,
gehörig an. Sie fand, Junges Erklärung habe ziemlich vernünftig geklungen. Sie
verstand von Hunden so viel wie Junge von Tonleitern. Sie würde jedoch sehr
bald mehr über Hunde lernen, als sie vorgesehen hatte.
„Sie haben mir was gebracht?“
„Das ist ein Foxhoundwelpe. Ist er nicht eine Schönheit? Der Kerl, zu dem ich
Ihrer Pistole wegen gegangen bin, hatte einen ganzen Wurf.“
„Ich kann Sie nicht verstehen, Lyle. Sagen Sie dem Hund, er soll still sein.“
„Sie brauchen keinen Hund, der still ist, Belle. Sie brauchen einen guten,
lauten Hund, der Sie weckt, falls ein Eindringling hier ist.“
„Es ist wahrscheinlicher, dass er jede Nacht die ganze Nachbarschaft wecken
wird. Außerdem frage ich mich, wie ich wissen soll, ob etwas nicht in Ordnung
ist, wenn er die ganze Zeit bellt.“
„Er wird auch mal aufhören. Er ist nur aufgeregt. Sehen Sie, er ist schon viel
ruhiger.“
„Aber nur, weil er die Schnauze voll hat. Er kaut an den Vorhängen! Bringen
Sie ihn dazu, dass er damit aufhört, Lyle.“
„Komm, mach Platz. Platz, habe ich gesagt. Verdammt, nicht die Troddeln an
meinen Stiefeln. Keine Angst, Belle, das liegt nur an seinem wilden
Temperament. Er wird ein guter Wachhund werden.“
„Er macht einen Haufen auf den Teppich!“
Cristabel schwor sich, dem Tier so schnell wie möglich ein besseres Zuhause
auf dem Land zu verschaffen.
„Es war wirklich sehr umsichtig, Lyle, mir den Hund zu bringen, aber haben
Sie die Pistole bekommen?“
„‘ne niedliche, wie man sie sich nicht süßer vorstellen könnte.“
Auf Cristabel wirkte die Waffe überhaupt nicht niedlich und süß. Das Ding
sah kalt und gefährlich, schwer und einschüchternd aus. Die Perlmutteinlagen
hätten sich besser an Griffen von Silberzeug geeignet. Sie berührte sie mit der
gleichen Begeisterung, die sie beim Streicheln von Meadow gezeigt hatte.
„Das einzige Problem ist, Belle, dass wir nirgendwo Schießübungen machen
können. Ich meine, hier im Haus können Sie die Waffe nicht abschießen, und
der Hof ist zu klein, um eine Schießscheibe aufzustellen. Sie können auch nicht,
wie einem Mann das möglich wäre, zu Manton in seine Schießhalle gehen.
Daher weiß ich nicht, was zu tun ist. Vielleicht könnten wir eine Droschke
mieten und eine Fahrt aufs Land unternehmen.“
„Das macht nichts, Lyle“, sagte sie. „Wenn Sie mir nur zeigen würden, wie ich
die Pistole laden und was ich tun muss, falls ich damit schießen will. Für heute
wäre das dann alles. Ich denke, die Waffe ist in erster Linie dazu gedacht, mir
Selbstsicherheit zu geben. Allein das Wissen, dass ich sie habe und damit
herumfuchteln kann, gibt mir ein größeres Gefühl der Sicherheit.“
Für Lyle, der gewohnt war, Pistole, Dolch und Degen im Kampf einzusetzen,
ergab diese Argumentation überhaupt keinen Sinn. Er demonstrierte trotzdem,
wie man das Ding lud, und ließ dann Miss Swann es versuchen. Er hielt die
Pistole vor sich und blickte am Lauf entlang und ließ das dann auch Miss Swann
versuchen. Die Kugel ging los, entlaubte den Busch eines Nachbarn, brachte
Beau zum Jaulen und den sich beschwerenden Mr. Haynes ins Freie.
„Das ist wirklich die Höhe, Miss Swann! Gehämmere, Gebell, Geschieße, und
alles an einem Sonntag! Mein einziger freier Tag, an dem ich, natürlich nach
dem Gottesdienst, eine Menge erledigen könnte. Ich befürchte, ich kann hier
nicht mehr bleiben.“
Mac begann zu erklären, im Haus sei es jetzt ruhiger als seit Jahren, doch
Cristabel brachte ihn mit einem finsteren Blick zum Schweigen. Sie nahm Mr.
Haynes am Arm und führte ihn ins Haus zurück. „Hören Sie? Jetzt ist alles still.
Ich wollte ebenfalls in die Kirche gehen. Sie ist gleich auf der anderen Seite des
Platzes. Wollen Sie sich mir anschließen?“
„Und was ist mit dem Hund? Er sieht aus, als würde er weiterbellen.“
„Oh nein, das wird er nicht“, entgegnete Cristabel und warf ihm einen der
Lederhandschuhe zu, die Lyle ausgezogen hatte, als er die Vorzüge der Pistole
erläuterte. „Vielen Dank, Major“, fuhr sie in süßlichem Ton fort.
Nach dem Gottesdienst führten Cristabel und Marie, die zu niedergeschlagen
war, als dass sie daran hätte teilnehmen können, ein Gespräch, dessen Resultat
darin bestand, dass ein weiteres Schild hinter einem Vorderfenster des Hauses
aufgestellt wurde. Darauf stand: ELEGANTE SCHNEIDERARBEITEN UND
ÄNDERUNGEN DURCH MLLE. MARIE. Wenn noch mehr Schilder in den Fenstern
aufgestellt wurden, würde überhaupt kein Licht mehr ins Haus fallen.
„Das wird nicht klappen“, jammerte Marie. „Ich weiß, das funktioniert nicht.
Niemand wird kommen, und ich habe kein Geld für die Miete und Essen und ...“
„Die Sache muss ein Erfolg werden. Es gibt so viele Damen, die sich keine
Modistin in der Bond Street leisten können. Sie werden glücklich sein,
jemanden zu finden, der schneller erreichbar und preiswerter ist. Und in der
Zwischenzeit können Sie Fannys und Junges Uniformen schneidern und das
grüne Seidenkleid, das Sie für mich zu nähen begonnen haben, fertig machen.
Machen Sie sich der Miete wegen keine Sorgen. Es ist nicht so, als hätten wir
hier keinen Platz. Wir können sogar den Raum neben Ihrem oben nehmen und
ihn in ein richtiges Nähatelier verwandeln. Dann könnten Sie Umkleidekabinen
und ein Stofflager haben. Fanny wird Ihnen helfen. Und was das Essen angeht,
so nehmen wir alle eben mit dem vorlieb, was es gerade gibt.“
„Und Sie denken wirklich, ich könnte genügend Geld für meinen
Lebensunterhalt verdienen?“
„Sie können das auf jeden Fall versuchen, nicht wahr?“
„Und vielleicht etwas für meine Mitgift sparen?“
„Ich sehe keinen Grund, warum das nicht möglich sein sollte.“
Marie schniefte in ihr Taschentuch. „Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll.
Ich glaube, ich kann Ihnen nie genug dafür danken.“
„Sie könnten damit anfangen, indem Sie aufhören, so eine Heulsuse zu sein.
Bitte, machen Sie keine Tränenflecke auf das grüne Seidenkleid. Ich habe nicht
die Zeit, noch mehr Schmetterlinge zu sticken.“
An diesem ereignisreichen Tag wurde eines von Cristabels Gebeten erhört:
Pensionsgäste. Richtige, ehrliche, zahlende Pensionsgäste. Ein junges frisch
vermähltes Paar namens Todd zog in MacDermotts Appartement ein. Es
wünschte eine Weile in Kensington zu wohnen, derweil ihr erstes eigenes Haus
einige Straßen weiter gebaut wurde. Die Schwestern Douglas, zwei vornehme
späte Mädchen, mieteten ein im oberen Stock gelegenes Wohnschlafzimmer,
und eine gewisse Mrs. Flint, eine sympathische Dame gewissen Alters, war nach
London gekommen, um ihre Garderobe zu erneuern, da sie jetzt die Trauerzeit
hinter sich hatte. Mr. Flint musste geschäftlich sehr erfolgreich gewesen sein,
wenn man nach dem Schmuck, dem Gepäck und der Anzahl von Dienstboten
seiner Witwe ging, die auf ihren Wunsch hin im Dachgeschoss unterbracht
werden sollten. Sie mochte den Lärm und den Schmutz in der Stadt nicht und
war daher über die ruhige Unterkunft außerhalb des Zentrums erfreut. Sie war
auch sehr von Cristabels Kleid angetan und engagierte Marie auf der Stelle.
Leider gefiel ihr keins der noch verbliebenen Appartements. Daher bot Cristabel
ihr ihre eigenen Räume an, natürlich zu einem höheren Preis und
Vorauszahlung für die Saison. Nun war sie endlich eine echte Pensionswirtin!
Und wieder Musiklehrerin. Eine beturbante Witwe traf mit zwei jungen
Damen im Schlepptau ein, und ein Blick auf ihre Töchter veranlasste Mr.
Haynes, sich die Forderung, seine im Voraus bezahlte Miete zurückzuverlangen,
nochmals zu überdenken. Er hatte gesagt, er könne in einer so chaotischen
Umgebung nicht bleiben. Beim Anblick der Zwillingszuckerpüppchen, die
mucksmäuschenstill auf dem mit Chintz bezogenen Sofa saßen, überlegte er es
sich jedoch anders. Inspiriert kehrte er nach oben zu seiner Muse zurück.
So hatte Cristabel nur noch ihre Habseligkeiten in die beiden Maries Zimmer
gegenüberliegenden Räume zu befördern. Mit Fannys und Junges Hilfe,
begleitet von ihrem letzten, ihr am wenigsten willkommenen Pensionsgast,
einem weiteren Hund, nahm sie den Umzug vor. Mrs. Flint, so hatte es den
Anschein, reiste nie ohne ihren krummbeinigen, dickwanstigen und finster
dreinblickenden Mops, der bei jedem Atemzug schnaufte. Weder die krummen
Beine noch der dicke Wanst oder das in finstere Falten gelegte Gesicht hielten
den Miniaturcasanova davon ab, sich leidenschaftlich in Meadow zu verknallen,
die nur mit dem Angebot einer Lammkeule bewogen werden konnte, Cristabel
in das neue Schlafzimmer zu folgen. Die Leckerei veranlasste den Hund, mit der
Rute zu wackeln, was dazu führte, dass der winzige Don Juan quer durch die
Gegend flog.
Von den Mieteinnahmen konnte man jedoch eine Menge Bücher kaufen und
eine Menge Lavendelwasser für Meadow erstehen. Im Hinblick auf das Geld
konnte Cristabel sogar das Schnaufen und Winseln des rattengroßen Romeo
ertragen.
Die letzte und vielleicht größte Überraschung des Tages kam in Form eines
Briefes, den ausgerechnet Captain Chase geschickt hatte. Der Schock wurde
nicht dadurch ausgelöst, dass der Captain sich endlich der allgemein üblichen
Höflichkeit erinnert und sich nach ihrem Wohlergehen erkundigt hatte. Der
Schreck entstand durch seine Freundlichkeit und Demut, mit der er Cristabel
um Entschuldigung für die unglückliche Panne bat. Wenn ihr etwas ihn
Betreffendes in Erinnerung geblieben war, dann gewiss nicht, dass er demütig
war. Einen arroganteren, überheblicheren ... nein, sie würde nicht wieder damit
anfangen.
Der Brief war tatsächlich sehr charmant und in fast freundschaftlichem Ton
gehalten. Sie hatte das Gefühl, den Captain gut zu kennen, oder dass er sie gut
kannte, weil er ihr in der Hoffnung auf ihr Verständnis seine intimsten
Gedanken anvertraute.
Er hatte geschrieben, er sei krank gewesen und habe sich über seine Zukunft
zu Tode gesorgt. Er habe, da er vor kurzem sein Schiff und seine Mannschaft
verloren hatte und selbst aus der Bahn geworfen worden war, damals keine
Verantwortung für Cristabel übernehmen können, so wie ein Gentleman das
getan hätte. Er bat sie um Verzeihung und erkundigte sich, ob er irgendwie,
wenn auch verspätet, behilflich sein könne. Brauchte sie zusätzliche
Geldmittel? Lag das Haus für sie günstig? Dürfe er die Dienste des Boten, seines
auf Antwort wartenden Kammerdieners Mr. Sparling, oder die eigenen anbieten,
da er nun nicht länger behindert war? Konnte Cristabel ihm vergeben?
Er schien wirklich großen Wert darauf zu legen, wie sie staunend merkte. Sie
schickte Marie ins Parterre, um Mr. Sparling auszurichten, er würde keine
sofortige Antwort bekommen. Sie brauche Zeit zum Nachdenken.
„Bedanken Sie sich in meinem Namen sehr herzlich für sein Hilfsangebot.“
Mr. Sparling half doch tatsächlich in diesem Moment den Männern, den Berg
Gepäck heraufzubringen, unter dem Mrs. Flint „einige wenige
lebensnotwendige Dinge“ verstand.
„Warum gehen Sie nicht mit Mr. Sparling in die Küche und machen ihm Tee?“
In der Zwischenzeit musste Cristabel den Brief des Captains beantworten.
Aber wie? Sollte sie sich beschweren oder dem Captain ihre Schwierigkeiten
eingestehen und sein Hilfsangebot annehmen? Ein Angebot, das leider erst in
dem Moment erfolgt war, da die Dinge sich einer guten Lösung näherten.
Männer! Cristabel ging zwischen ihrem neuen kleinen Schlafzimmer und dem
angrenzenden kleinen Wohnzimmer hin und her, stieg jedes Mal über die
dösende Hündin und schaute stirnrunzelnd auf den eingenickten Mops. Puh!
Männer! Da war Lyle, dieser Hohlkopf, der das Lächeln eines Cherubs und das
Herz eines Falschspielers hatte und nur auf Geld aus war, von dem Cristabel
ohnehin nichts erübrigen konnte. Und Lord Winstoke – seit mindestens zehn
Minuten hatte sie nicht mehr an ihn gedacht – war nur hinter ihrer Tugend her,
die sie, wie sie hoffte, absolut nicht, auf keinen Fall, nie und nimmer und zu
keinem Zeitpunkt, zu verlieren in Gefahr war. Und dann war da Captain Chase,
der alte Taugenichts, der sich schließlich wie ein Gentleman benahm und ihr
Freund sein wollte. Wem konnte man als Frau vertrauen? Nur sich selbst!
„Auch ich muss Sie um Entschuldigung für mein beklagenswertes Benehmen
an dem unglücklichen Nachmittag bitten“, schrieb Cristabel schließlich an den
Captain. „Ich kann eine kleine Unpässlichkeit und die Ermüdung durch die
Reise als Entschuldigung für meinen Lapsus anführen und die Erschütterung
über meine Lebensumstände, die, wie ich Ihnen versichern muss, durch mein
überstürztes Verhalten verursacht wurden. Trotz Ihres freundlichen Angebots
dürfen Sie keinen Augenblick lang denken, dass ich Sie für mein Wohlergehen
verantwortlich mache. Sie waren bereits sehr großzügig, als Sie mir dieses Haus
überließen. Nach einem unangenehmen Anfang, der ebenso auf meine
Unerfahrenheit zurückzuführen ist, entwickelt die Pension sich zu einem Erfolg,
und zwar so sehr, dass ich Ihnen in aller Dankbarkeit die Anleihe zurückzahlen
kann. Bitte, nehmen Sie meine von Herzen kommende Dankbarkeit an und
meine Glückwünsche für Ihre wiedergewonnene Gesundheit.“
Cristabel hatte einige Mühe mit dem Schluss. Hochachtungsvoll, Ihre ...? Aber
hatte sie Hochachtung vor ihm? Ihre ergebene Dienerin? Niemals! Sie entschied
sich für „mit freundlichen Grüßen“ und fügte aus Gewissensbissen und Neugier
eine offene Einladung hinzu, eines Nachmittags, ganz nach Captain Chases
Belieben, zu ihr zum Tee zu kommen.
Sie fragte sich, ob er wirklich so zivilisiert war, wie sie aus seinem Brief
schließen konnte, oder ob ein Sekretär das Schreiben für diesen Wilden verfasst
hatte. Sie hätte auch gern gewusst, wie er ohne den Kopfverband aussah. Sie
erinnerte sich, dass er hoch gewachsen war, beinahe so groß wie Viscount
Winstoke, aber nicht so kräftig. Er musste dunkles Haar haben, wenn man von
der Farbe seiner Bartstoppeln und der seines Brusthaars ausging. Hastig
verdrängte Cristabel dieses Bild. Am besten erinnerte sie sich an die Stimme
des Captains, die barsch klang und so dröhnend war, dass sie bestimmt die
Fensterscheiben im Empfangssalon zum Klirren brachte, falls der Captain je zu
Besuch kam. Natürlich würde er nicht herkommen, nicht dieser Lebemann und
Frauenheld. Er würde mit seinen lüsternen Umtrieben viel zu beschäftigt sein,
statt sich mit etwas so Zahmem wie dem Besuch zur Teestunde bei einer
„selbstgerechten“ alten Jungfer zu begnügen. Leider erinnerte sie sich auch
noch an viele andere seiner Äußerungen.
„Tee!“ brüllte Kenley und scheuchte einen Lakai und zwei Hausmädchen in die
Küche. „Wie, verdammt noch mal, kann ich als Captain Chase da hingehen?“
„In Ihrer Ausgehuniform“, schlug Jonas vor und handelte sich daraufhin nur
einen finsteren Blick ein. Außerdem wurde ihm mit dem besagten Brief vor der
Nase hin und her gewedelt.
„Verdammt, was für ein Schlamassel! Und Sie sagen, da sei etwas Faules im
Gange?“
„Aye. Irgendetwas ist nicht im Lot, aber Miss Marie hat nicht gesagt, was das
ist.“
„Miss Marie?“
„Aye. Sie ist die propere Maid, die da die Näharbeiten ausführt, wie ich Ihnen
erzählt habe. Traurige Augen hat sie, aber ein freundliches Lächeln und die
Figur einer Meerjungfrau.“
„Sie passen besser auf sich auf, Mann. Sie wissen doch über die Sorte Frauen
dort Bescheid.“
„Sie ist nicht auf ihrer Jungfernfahrt, Mylord. Das beweist, dass sie seetüchtig
ist, wenn Sie verstehen, was ich meine.“
Kenley verstand. „Dann dürfte es Sie nicht stören, dort einen Besuch zu
machen und ein Auge auf die Dinge zu halten, bis ich diesen Saustall ausgefegt
habe.“
„Wird mir ein Vergnügen sein, Captain.”
„Nicht zu viel Vergnügen, Mr. Sparling. Bringen Sie uns nicht in Untiefen.“
„Ich dachte, wir säßen bereits auf einem Riff, Captain, Sir.“
Genau in diesem Moment kam der Lakai mit einem Tablett herein. „Zum
Teufel, was ist das?“ donnerte Kenley ihn an.
„Der Tee, Mylord, wie Sie befohlen hatten.“
„Tee? Warum versucht plötzlich jedermann, mich in Tee zu ertränken? Bei
Gott, ich versuchte nachzudenken, aber nicht, eine Erkältung auszukurieren.
Schaffen Sie das Zeug weg!“ Kenley klopfte sich mit Miss Swanns Brief gegen
das Kinn. „Ich wünschte, ich wüsste, in welchen Schwierigkeiten Miss Swann
ist.“
„Alles, was Marie gesagt hat, war, dass die Stadtwache keine große Hilfe war.
Deshalb hat man einen Haufen schäbiger Wachhunde um sich. Wenn Sie mich
fragen, ist keiner von denen auch nur einen altbackenen Schiffszwieback wert.“
„Sie werden dahin zurückgehen ... Lassen Sie mich nachdenken.“
Am nächsten Morgen hatte Kenley sich einen Plan zurechtgelegt. Er schickte
Mr. Sparling mit dem Auftrag nach Kensington, die einhundert Pfund, die, wie
er in seinem Billett mitteilte, ein Geschenk und keine Anleihe waren,
zurückzugeben, und schrieb auch noch, dass bedauerlicherweise Geschäfte ihn
davon abhielten, die freundliche Einladung zum Tee anzunehmen. Zusammen
mit dem Brief ließ er durch Mr. Sparling ein Rosenbouquet überbringen, und da
er schon beim Blumenhändler war, gab er dem Laufburschen des Ladens den
Auftrag, ein Veilchensträußchen ins Haus in der Sullivan Street zu bringen,
dessen beigefügtes Kärtchen er mit „Ihr Lord Winstoke“ unterschrieben hatte.
Ein guter Kommandeur hatte immer einen zweiten Angriffsplan und lief in
einem Sturm jeden Hafen an.
13. KAPITEL
Und so verlief die nächste Stufe seines Angriffsplans: Miss Swann würde das
Geld zurückschicken. Kenley würde es durch Mr. Sparling zurückbringen lassen,
verborgen in Harfennoten, in einer Bonbonschachtel, versteckt in einem Buch.
Es war keine Anleihe. Es war ein Geschenk. Wenn Miss Swann schrieb, dass sie
ein Geschenk dieser Größenordnung der Schicklichkeit zuliebe nicht annehmen
könne, dann schickte er es eben zurück, seinem Gewissen zuliebe. Nein, es war
kein Geschenk. Es war die Wiedergutmachung einer moralischen Schuld.
Was Cristabel betraf, so lieferte ihr die hin und her wandernde
Einhundertpfundnote die Möglichkeit zu verspieltem Geplänkel, zu einer
lächerlichen Herausforderung, und gab ihr die Zeit, sich Viscount Winstoke aus
dem Sinn zu schlagen. Die Rosen des Captains zierten den Salon. Lord
Winstokes Veilchen standen in einer Vase neben dem Bett. Weder Captain
Chaise noch Seine Lordschaft machten Cristabel die Aufwartung.
Sie redete sich ein, es sei ihr gleich, dass er, und damit war natürlich Lord
Winstoke und nicht Captain Chase gemeint, ihre Äußerung, sie wolle ihn nie
wieder sehen, für wahr gehalten hatte. Es spielte absolut keine Rolle, dass er
endlich begriffen hatte, dass sie eine Dame und er jetzt überhaupt nicht mehr
an ihr interessiert war. Warum war sie dann tagsüber so niedergeschlagen und
fühlte sich nachts so allein, wenn es sie keinen Deut scherte? Sie rief sich zur
Ordnung und setzte den Pensionsgästen zuliebe ein gequältes Lächeln auf.
Sie betrat den Salon. Und da war er, lässig dasitzend und mit Mrs. Flint und
den Schwestern Douglas plaudernd. Nein, nicht Captain Chaise, den sie
vielleicht noch erwartet hatte, sondern der Viscount, der noch viel umwerfender
aussah, als sie ihn in Erinnerung hatte. Ihr Herz lachte, und eine wohlige Wärme
breitete sich in ihr aus. Er war gekommen. Ihm lag an ihr. Aber was war, wenn
er nur gekommen war, um seine unschicklichen Avancen zu wiederholen? Was
war, wenn er die Pensionsgäste mit seinen verruchten moralischen Ansichten
kränkte?
„Was machen Sie hier?“ zischte sie ihn an, nachdem er sich bei ihrem
Erscheinen erhoben hatte.
„Haben Sie vergessen, dass Sie mich zum Tee eingeladen haben?“
„Das habe ich nicht! Ich habe Ihnen gesagt, dass ich Sie nie wieder sehen
will.“
„Oh, das muss mir entfallen sein.“
„Sie haben Luft im Kopf, Mylord, und ...“
„Ich weiß. Erstaunlich, nicht wahr?“ Und er schenkte Miss Swann das
bezaubernde Lächeln, das erst an einem Mundwinkel begann und dann in
seinen Augen zu sehen war.
Sie musste ihn aus dem Haus haben, ehe ihr die Knie nachgaben.
Als habe er ihre Gedanken gelesen oder ihren nervösen, den kichernden
Douglas-Schwestern geltenden Blick gesehen, verkündete er, es sei ein idealer
Tag für eine Ausfahrt, es sei denn, Miss Swann ziehe es vor, den Tee mit ihren
entzückenden Gästen einzunehmen. Die Furcht einflößende Mrs. Flint
schnaubte, und Cristabel eilte aus dem Raum, um ihren Mantel und einen Hut
zu holen. Beides hatte die grinsende Fanny, die ihre hübsche neue
Hausmädchenuniform trug, schon in den Händen.
Es ließ sich nicht vermeiden, dass Cristabel sich bei Seiner Lordschaft
einhängte. Doch sein triumphierendes Lächeln musste sie nicht erwidern.
Die Karriole war glänzend schwarz lackiert mit goldenen Streifen und hatte
ein Wappen am Wagenschlag. Der Lakai war ein junger Bursche, der, kaum
dass Lord Winstoke die Zügel ergriffen hatte, auf den Dienertritt sprang. Die
Pferde waren rassige, temperamentvolle Grauschimmel. Und die Insassen waren
... Nun, die Insassen verhielten sich leiser als die gut geschmierten Wagenräder.
Der Viscount konzentrierte sich zu hart, um Konversation zu machen, weil er
versuchte, sich an Perrys Anweisungen zu erinnern, wie man das neue Gespann
durch den Verkehr lenkte, und weil er außerdem in Gedanken die Rede noch
einmal durchging, die er sich für den Augenblick, wenn man den Park erreicht
hatte, zurechtgelegt hatte. Dann konnte er die verdammten Zügel loslassen
und Miss Swann in die Arme nehmen, so wie er sich das ersehnte.
Cristabel ihrerseits wusste nicht, warum Seine Lordschaft zu ihr gekommen
war, weshalb er die Pferde so finster anstarrte und wieso sie sich neben ihm auf
dem schmalen Sitz so zittrig fühlte.
Das war absurd. Junge hätte mehr Gesprächsbereitschaft gezeigt. „Vielen
Dank für die Veilchen“, sagte sie im selben Augenblick, als der Viscount
äußerte: „Vielen Dank, dass Sie mitgekommen sind.“ Beide lächelten. Er
machte ihr ein Kompliment über ihr hübsches Kleid. Sie bewunderte sein neues
Geschick beim Kutschieren. Gemeinsam stellte man fest, dass dieser Tag in
dieser Saison einer der schönsten war. Während der langen Pausen wurde
gelächelt.
„Wie kommt es, dass Sie nie erwähnt haben, dass Sie Lehrerin waren?“ fragte
Kenley schließlich.
Cristabel grübelte immer noch darüber nach, warum er sie zu der Ausfahrt
eingeladen und der Schicklichkeit zuliebe den auf dem Tritt stehenden Lakaien
mitgenommen hatte. „Was haben Sie gesagt? Oh, Miss Meadows Schule. Wie
haben Sie das erfahren?“
„Hm, einer der Pensionsgäste muss etwas in dieser Richtung erwähnt haben.
Sie haben das nie erwähnt.“ Falls er auch nur den mindesten Groll hegte, weil
er glaubte, dass er, wäre Miss Swann etwas offener gewesen, sie beide nicht in
eine solche Patsche gebracht hätte, so verstand er das gut zu verbergen,
während er die Kutsche durch das vor dem Parktor herrschende Gedränge
lenkte.
„Für mich war das keine besonders angenehme Zeit. Ich nehme an, dass ich
deswegen nicht darüber geredet habe. Das Leben, das ich in jüngeren Jahren
im Vikariat geführt habe, war viel glücklicher.“
„Sie haben auch nie ein Vikariat erwähnt.“ Kenley verzog den Mund.
„Nein? Sind Sie sicher?“
„Sehr!“
„Egal. Miss Meadows Schule für höhere Töchter ist nichts, worüber ich mich
verbreiten möchte. Ich vermute, das ist so wie bei Ihnen und Ihrer Armeezeit.“
Jetzt war die ideale Gelegenheit gekommen, um Miss Swann zu korrigieren
und ihr zu sagen, es sei die Marine und nicht die Armee gewesen, wo er gedient
hatte und verwundet worden war. Genauer gesagt, wo er beinahe blind
geworden wäre. Er hatte jedoch genügend von Miss Swanns
Temperamentsausbrüchen miterlebt und wollte nicht, jedenfalls nicht vor der
Hälfte des im Park promenierenden ton, das Risiko eines weiteren Wutanfalls
eingehen. Zweifellos würde Miss Swann ihm gehörig die Meinung sagen. Nein,
es war viel besser, nach Plan vorzugehen, ein abgeschiedenes Plätzchen zu
finden und dort die Rede zu halten. Dann, wenn Miss Swann, wie er lächelnd
dachte, in seinen Armen lag und seine Küsse ihr die Röte in die Wangen
getrieben hatten, dann konnte er seine wahre Identität preisgeben. Er war kein
Feigling. „Sollen wir aussteigen und einen Spaziergang machen?“ fragte er.
Cristabel war auch kein Feigling. Sie erinnerte sich gut eines anderen Tages
im Park und ihrer wenig schicklichen Reaktion auf das Zusammensein mit
Seiner Lordschaft. „Nein, danke. Es ist so vergnüglich, die Dinge aus dieser
Höhe zu betrachten.“
Kenley furchte die Stirn. Dann erhellte sich sein Gesicht, und er befahl dem
Lakaien, für eine Weile abzusteigen. Man würde die Pferde langsam zu der
Baumgruppe gehen lassen, damit die Tiere sich abkühlen konnten. Zumindest
würde man dort ungestört sein.
Er holte tief Luft. „Miss Swann“, begann er die vorbereitete Rede. „Belle, es
gibt sehr viel, das Sie nicht über mich wissen, und, wie ich befürchte, auch
einiges, das Ihnen nicht gefallen wird.“ Die Pferde trotteten unter den Bäumen
entlang. Kenley hielt die Zügel lockerer und wandte sich Miss Swann zu. Sie sah
so verdammt betörend aus. Erwartungsvoll und auch ein bisschen vorsichtig
hatte sie ihm das Gesicht zugewandt. Mit der Zungenspitze feuchtete sie sich
nervös die Unterlippe an. Kenley vergaß alles, was er ihr hatte sagen wollen.
„Oh, Gott, Belle! Sie sind die Welt für mich! Ich muss Sie an meiner Seite
haben, Teuerste. Bitte, bitte, lassen Sie mich für Sie sorgen. Kommen Sie mit
mir nach Haus und ...“
Sie hatte „für Sie sorgen“ gehört, was für sie mit „Sie meiner Aufsicht
unterstellen“ gleichkam und „Haus“, was für sie gleichbedeutend mit
„Junggesellenquartier“ war. Was sie nicht hörte, waren die Worte der Liebe, das
„ihr die große Ehre erweisen“ oder den Rest des Satzes, der da lautete:
„Kommen Sie mit mir nach Haus und lernen Sie meine Mutter kennen.“ Sie
sprang auf und machte Anstalten, aus dem Wagen zu steigen, was ihr das
Leben rettete, denn das, was sie als Nächstes hörte, war der laute Knall eines
Schusses.
Auch die Pferde hörten ihn, spürten die Kugel über ihren Köpfen
vorbeisausen und gerieten in Panik. Durch das jähe Anrucken der Karriole
wurde Cristabel auf den Sitz zurückgeschleudert, und Lord Winstoke riss die
Zügel straffer. Das war jedoch zu spät, denn durch den Augenblick des Zögerns
aus Unerfahrenheit gingen die Pferde durch und stürmten jetzt auf den
überfüllten Kutschweg zu. Kenley zerrte mit aller Kraft an den Zügeln und
schaffte es schließlich, die Pferde zu den Bäumen zurückzulenken, fort von den
Leuten, die bereits schrien und durch ihr Geschrei die verstörten Pferde ebenso
wenig beruhigten wie er durch seine „Brrrs!“. Dann streifte die Kutsche einen
Baumstamm, schlenkerte hinter den Pferden her und hielt schief auf eine
andere zu. Statt längs dagegen zu prallen, verfing das Rad sich und verkeilte
die Karriole fest gegen den Baumstamm. Im Nu waren die Pferde, die Kutsche
und Miss Swann zum Halten gekommen. Lord Winstoke, der sich jedoch an die
Zügel geklammert hatte, statt wie Cristabel an die Wagenseiten, wurde durch
den plötzlichen Stillstand in hohem Bogen vom Sitz geschleudert. Er verpasste
den Baum nur um eine Hand breit und landete mit einem den Staub
aufwirbelnden Plumps zwischen den Pferden. Zwischen den, wie Cristabel
entsetzt dachte, tückischen, unberechenbaren großen Pferden. Beinahe so
schnell, wie er den Wagen verlassen hatte, stieg sie aus und rannte nach vorn,
um, sich vor den stampfenden Hufen duckend, den Bewusstlosen in Sicherheit
zu zerren.
Natürlich grasten die Pferde längst friedlich. Es waren gutmütige Tiere,
genau dieses Wesenszuges wegen ausgesucht von Mr. Adler, dem Freund des
Viscounts. Sobald sie gemerkt hatten, dass ein weiteres Vorankommen
unmöglich und ebenso unnötig war, waren sie vorsichtig um ihren Herrn
gegangen, um an das grünere Gras zu kommen.
Der Viscount war, nur ganz außer Atem, schon aus der Reichweite der Hufe
gekrochen, erlaubte Miss Swann jedoch dabei zu helfen, ihn, derweil er Luft zu
bekommen versuchte, an den Baum zu lehnen. Mehr noch, er würde ihr sogar
erlauben, für immer seinen Kopf zu halten, und ihre gequälten Gefühlsergüsse
über sich ergehen lassen, statt sich dem Spott der Menschenmenge ausgesetzt
zu sehen, die er bereits zu Hilfe eilen sah. Verflucht, er war ein schöner Held mit
den Grasflecken auf dem Hemd! Und es hätte Miss Swann sein können, seine
kostbare Belle, die aus der Karriole geschleudert worden war, und alles nur
seines blöden Stolzes wegen. Er konnte das Gespann ebenso gut lenken, wie
Igel singen konnten, aber er hatte vor ihr angeben wollen. Dadurch hatte er sie
umbringen können. Er stöhnte.
„Bitte, sterben Sie nicht! Oh, bitte, sterben Sie nicht!“ sagte sie schluchzend
und wusste, sie werde das Bild, wie er aus der Kutsche geschleudert wurde,
wieder und wieder in ihren Albträumen erleben. Und plötzlich wusste sie auch,
dass sie ebenfalls sterben würde, falls er starb. Es war nicht von Bedeutung,
dass er ein Lebemann und Frauenheld war. Sie liebte ihn. Sie wusste nicht, wie
das passiert war oder was sie dagegen tun könne oder weshalb Amor den
Menschen solche dummen Streiche spielte, aber sie liebte diesen Mann. Sie
betete darum, er möge nicht verletzt sein, und drückte ihn enger an sich.
„Ich liefe weniger Gefahr, mein Leben lassen zu müssen, teuerstes Herz, wenn
ich atmen könnte“, sagte er lächelnd und zwinkerte. Cristabel ließ die Arme
sinken und sprang auf. Auch er stand auf, ein bisschen langsamer, und wischte
ihr sacht eine Träne von der Wange. „Sie mögen mich“, flüsterte er, während
der Lakai und andere Leute zu ihm und Miss Swann geeilt kamen. „Sie werden
sehen, alles kommt in Ordnung.“
Mehr konnte er nicht sagen, nicht in Anwesenheit so vieler Menschen, die die
Pferde untersuchten und die Kutsche freizerrten. Auch später nicht, als er
peinlich langsam nach Haus fuhr, ohne Hut, in zerknautschten Sachen und mit
einem meuternden Lakai auf dem Dienertritt. Auch Cristabel schwieg und
hoffte, er möge sein beschämendes Angebot nicht wiederholen, zumindest
nicht jetzt, da ihre Liebe so neu war und es sie drängte, ihm diese Entdeckung
mitzuteilen.
Keiner von beiden vergeudete auch nur einen Gedanken an den Schuss.
Wie konnte sie zwischen Liebe und Selbstachtung wählen? Ein gefallenes
Mädchen in den Augen der Welt und den eigenen? Oder den Rest des Lebens
als einsames, ungeliebtes spätes Mädchen verbringen? Vielleicht war es nicht
falsch, sich von seinem Herzen leiten zu lassen und jemanden zu lieben. Marie
jedenfalls und sogar auch die kleine Fanny fanden es nicht falsch, ihren
Wünschen zu folgen. Andererseits mochte es vielleicht, wenn Cristabel an die
Ehe der Eltern dachte und deren tiefe, auf Vertrauen und Liebe und Respekt
basierende Liebe, ein höheres Ziel geben.
Wenn er sie wirklich liebte, würde er sie nicht fragen. Wenn er sie jedoch
fragte und wenn seine Mätresse zu werden die einzige Möglichkeit war, ihn zu
behalten, die Wärme seines Lächelns zu genießen und das unbehagliche Gefühl
aus dem Magen zu bekommen, das sie bei der Vorstellung hatte, ihn vielleicht
nie mehr zu sehen, was dann? Sie wusste es nicht, und daher war sie glücklich,
sich den Plan ihrer Pensionsgäste zu Eigen zu machen, gemeinsam am
nächsten Abend in die Oper zu gehen.
Das sollte Mrs. Flints erster Auftritt in Gesellschaft ohne Trauerkleidung sein,
der erste Besuch der Schwestern Douglas in der Oper und eine der sehr
seltenen Gelegenheiten, bei denen die Todds überhaupt ihre Zimmer verließen.
Es gab ein großes Durcheinander bei der Auswahl der richtigen
Zusammenstellung von Fächer, Federn und feinem Flitter. Cristabel nahm es
auf sich, einige Bänder zu besorgen, so den größten Teil des Tohuwabohus
vermeidend und Lord Winstokes nächsten Besuch.
„Ihr Viscount war da“, informierte Marie sie bei der Rückkehr. „Hatte sich
auch in Schale geschmissen. Zu dumm, dass Sie ihn verpasst haben“, fügte sie
hinzu und amüsierte sich über Miss Swanns Unbehagen. Ihrer Meinung nach
waren Miss Swann und der Viscount ein Paar liebeskranker Dummköpfe. „Ich
habe ihm gesagt, dass Sie heute Abend mit Lyle und den anderen Mietern in
die Oper gehen. Raten Sie mal? Auch er geht. Er sagte, er würde Sie in der
Pause aufsuchen.“
Daher ging Cristabel nach oben und leerte ihren Schrank, um das perfekte
Kleid auszusuchen.
Die Wahl nahm nicht viel Zeit in Anspruch. Das soeben fertig gewordene
grüne Seidenkleid war genau richtig. Aber es waren noch Stunden, bis es Zeit
wurde, sich umzuziehen. Marie schlug ihr ein Schläfchen vor, doch Cristabel war
zu unruhig. Frische Luft und Bewegung – das war es, was sie brauchte. Sie
zerrte Meadow hinter sich die Treppe hinunter. Der Mops folgte natürlich.
Fanny hielt es für eine gute Idee, auch dem jungen Hund etwas Bewegung zu
verschaffen, damit er hoffentlich nicht wieder die Zaunpfähle annagte oder
heulte. Natürlich würde auch Junge mitkommen müssen, da er der Einzige war,
der den unausgebildeten Hund kontrollieren konnte.
Es war nicht der übermütige Foxhound, der den ganzen Ärger auslöste. Das
war nicht einmal Meadow, die mürrisch war, weil man sie in ihrer Ruhe gestört
hatte. Es war der dämliche kleine Mops, der meinte, er müsse seine
Herzallerliebste vor dem neugierigen Geschnüffel eines charmanten Pudels
bewahren. Der Pudel war mittels einer seidenen Leine mit dem parfümierten
Handgelenk eines geckenhaften jungen Mannes verbunden.
Das Gebell veranlasste ein Eichhörnchen, die Flucht auf einen Baum
anzutreten, und Beau, hinterherzurennen und schrill kläffend Laut zu geben, so
dass ganz Kensington ihn hörte. Junge brüllte hinter ihm her, doch der dumme
Hund nahm im Eifer der Jagd nicht einmal seinen Namen wahr und tat, als hätte
er Junges Gegröle nicht einmal gehört. Der Dandy, inzwischen wie eine
Weihnachtsgans in die Leine des Pudels geschnürt, kippelte auf seinen gelben
hochhackigen Schuhen und kreischte. Der Mops rannte japsend außer
Reichweite der Fangzähne des jetzt wütenden Pudels, während Fanny in das
Geschrei einstimmte, in Kreisen hinter dem Mops herrannte, um den Pudel und
den Fatzke, ganz so, als handele es sich um einen sehr besonderen
Maibaumtanz. Und Meadow? Die alte Hündin traf ihre Meisterin in Gestalt einer
alten Dame, die die Eichhörnchen mit Brot fütterte. Die beiden gerieten in ein
wütendes, von schrillem Lärm begleitetes Gezerre um den Brotbeutel, wobei
der alte Hund wie ein Höllenhund knurrte und die alte Frau ihre schrillen
Schreie durch Schläge mit dem Schirm auf Meadows dicken Kopf unterstrich.
Die beiden Kindermädchen beschlossen zu kreischen, was die Kinder in den
Kinderwagen zum Brüllen und einen kleinen Jungen dazu brachte, nur der
Aufregung wegen in seine Holzpfeife zu blasen.
Cristabel hastete auf den Gecken zu und bückte sich, um den Mops
aufzuheben, genau in dem Moment, als der Knall eines Schusses zu hören war.
Es funktionierte. Alle Welt war durch den plötzlich erfolgten Knall so
schockiert, dass augenblicklich Stille eintrat und jeder einen Moment lang vor
Verblüffung erstarrte. Genug Zeit für Cristabel, um den Mops fest in den Griff zu
kriegen, die andere Hand um Fannys Handgelenk zu krallen und beide
wegzuzerren. Junge sprang vor, packte Beau am Halsband und schleifte ihn mit
sich, und Meadow war schon auf dem Weg nach Haus, mit eingeklemmter Rute,
aber dem Brotsack im Fang.
Cristabel versuchte die aufgeregten Gemüter hinter sich zu ignorieren,
scheuchte ihre Gruppe aus dem Park und vergaß nicht, dabei dem Gentleman,
der die Geistesgegenwart gehabt hatte, mit seiner Pistole zu schießen und so
dem Durcheinander ein Ende zu machen, ein „Danke“ über die Schulter
zurückzurufen.
„Das Gassigehen hat Ihnen unglaublich gut getan“, sagte Marie. „Ihre Wangen
sind hübsch und rosig. Sind Sie sicher, dass Sie nicht etwas übertrieben
haben?“ setzte sie beunruhigt hinzu, als Miss Swann sich im Salon in einen
Sessel fallen ließ.
„Oh nein!“ antwortete Cristabel keuchend. „Es wird mir gleich besser
ergehen. Ich möchte den heutigen Abend um keinen Preis der Welt verpassen.“
„Gut, gut. Sie haben jedoch einen anderen Besucher verpasst. Genau
genommen, keinen Besucher, sondern einen Boten. Den netten Mr. Sparling,
den Ihr Captain Chase täglich zum Lunch herschickt. Er hat das hier gebracht.“
„Das“ waren ein Brief und ein Päckchen. „Wie eigenartig“, sagte Cristabel,
nachdem sie den Brief gelesen hatte. „Captain Chase schreibt, er sei auf eine
Schachtel mit Papieren meines Onkels gestoßen und habe festgestellt, dass
mein Onkel gegen eine Anleihe ein verpfändetes Erbstück der Familie
hinterlassen hat. Er hat die lächerlichen einhundert Pfund dazu benutzt, es
einzulösen. Halten Sie das für richtig?“
„Wenn er schreibt, es sei Ihrs, dann ist es Ihrs. Sie können das Wort eines
Gentleman nicht bestreiten. Nun machen Sie schon, Miss Belle. Öffnen Sie die
Schachtel.“
„Oh!“ äußerte Cristabel hauchend, als sie auf dem Samtkissen eine Kette aus
wundervollen Perlen sah. „Glauben Sie wirklich, dass ich sie tragen kann?“
„Wer sonst? Sie hätten sie ohnehin bekommen müssen. Der Captain hat nur
das getan, was angebracht war. Ich frage mich, ob er heute Abend in die Oper
kommt, um Sie die Kette tragen zu sehen.“ Marie hoffte das. Miss Swann und
ihre Verehrer konnten eine bessere Vorstellung liefern als das Opernensemble.
„Oh, ich bezweifele, dass dem Captain etwas an der Oper liegt.“ Vielleicht an
Ballettratten, doch das sagte Cristabel nicht. Wie dem auch sei, Lord Winstoke
würde in der Oper sein und sie mit den schönen Perlen sehen, die ihr auf Grund
ihres Familiennamens zustanden.
In der Pause kam Lord Winstoke, erfüllte die Loge mit seiner eleganten
Ausstrahlung und wärmte Cristabels Seele mit seinem Lächeln. Nachdem man
Begrüßungen ausgetauscht hatte, standen die anderen Anwesenden auf, um
sich die Beine zu vertreten oder sich Erfrischungen zu besorgen. Als Cristabel
ihnen folgen wollte, bedeutete Mrs. Flint ihr, sich wieder zu setzen. „Nein,
bleiben Sie und leisten Sie Seiner Lordschaft Gesellschaft. Er ist nicht
unseretwegen hergekommen.“
„Aber ich dürfte nicht ...“
„Werden Sie jetzt nicht zimperlich“, befahl die freimütige Matrone. „Er wird
Sie nicht vor den Augen des halben ton verführen.“
Als die Loge bis auf Cristabel und Lord Winstoke leer war, hob er ihre Hand
wieder zum Kuss an die Lippen. Sie empfand wohlige Schauer und lächelte.
„Wäre da nicht dieses bisschen Spitze in Ihrem Ausschnitt, würde ich mich über
alle Maßen versucht fühlen.“
Mit einem Ruck entzog Cristabel dem Viscount ihre Hand. „Mylord!“
„Es tut mir Leid, Belle. Ich kann nicht widerstehen, Sie zu necken, weil ich Sie
gern erröten sehe. Das fängt hier an und hier.“ Er bedeutete mit seinem Blick,
wie das Erröten weiterwanderte, doch Cristabel wusste genau wie er, dass das
kein harmloser Flirt war.
„Wie fanden Sie den ersten Akt?“ fragte sie hastig, ehe der Viscount noch
mehr sagen, sich wieder in sein unschickliches Angebot steigern konnte.
Ungeduldig gab er ihr eine Antwort. Er wollte nicht Konversation machen,
fand jedoch nicht die richtigen Worte. Er wusste, dass er im Begriff war, schon
wieder falsch anzufangen. Verdammt, er hatte nicht gewusst, dass das so
schwer sein würde. Wie hätte er das auch wissen sollen? Er hatte noch nie
einen Heiratsantrag gemacht. Zum Teufel, er hatte nie eine Frau geliebt. Und
alle diese Leute mit ihren auf diese Loge gerichteten Operngläsern, und dann
noch Miss Swanns Begleiter, die gleich zurückkommen würden ...
„Die Perlen sehen wundervoll an Ihnen aus.“
Der Heiratsantrag erfolgte nie, weil Cristabel erklärte, das Kollier sei Teil des
Besitzes ihres Onkels und ihr soeben überlassen worden. Sie wollte ganz
deutlich klarstellen, dass die Perlen kein unrechtmäßig erworbenes Geschenk
waren.
Der ehrenrührige Vorschlag erfolgte ebenfalls nicht, sehr zu Cristabels
Erleichterung. Sie konnte indes nicht umhin zu bemerken, dass Lord Winstoke
ihr auch nicht anbot, mit ihm ins Foyer zu gehen, um dort zu promenieren oder
ein kühles Getränk zu trinken. War es das, was eine Frau in ihrer Lage zu
erwarten hatte? Im Dunkeln gehalten zu werden, damit er weder seine Freunde
noch die große Welt dadurch in Verlegenheit brachte, dass er ihnen seine
Mätresse vorstellte?
Sie musste das wissen. „Würden Sie gern vor dem nächsten Akt etwas
herumgehen?“
„Nein, ich behalte Sie lieber für mich“, antwortete Kenley. Ihm grauste davor,
dass jemand ihn mit Captain ansprechen könne.
Cristabel befingerte die Perlenkette, die ihr plötzlich so eng wie eine
Henkersschlinge um den Hals zu liegen schien.
Den nächsten Akt fand Cristabel nicht ganz so erfreulich. In der Pause bat sie
Lyle, sie ins untere Foyer zu begleiten. Auf der Treppe kam ihr Lord Winstoke
entgegen, eine hübsche junge Frau im weißen Kleid einer Debütantin am Arm.
Mit einer Dame der Gesellschaft konnte er sich also in der Öffentlichkeit sehen
lassen, aber nicht mit ihr, Cristabel! Sie schenkte Major MacDermott ein
strahlendes Lächeln und lachte ihn an. Er wirkte verblüfft, bis er den Viscount,
der wütend aussah, bemerkte.
„Oh nein, nicht mit mir, mein Mädchen“, sagte er und drehte Miss Swann um,
weil er schnell mit ihr in die Loge zurückgehen wollte.
Kenley holte, seine indignierte Begleiterin am Arm hinter sich herziehend, die
beiden auf dem oberen Treppenabsatz ein. „Darf ich Ihnen Miss Swann
vorstellen, Lady Brandice, und Major MacDermott? Miss Swann, das ist Lady
Brandice Westmore. Hm, Lady Brandice hat den Wunsch nach einem Glas
Limonade, Major. Würden Sie sie bitte begleiten?“
Sie begleiten? Bei Gott, Lyle würde den Teufel in die Hölle und zurück
begleiten, statt diesem besonderen Teufel wieder ausgeliefert zu sein. Er zog
Lady Brandice zurück die Treppe hinunter.
„Das war ein sehr durchsichtiges Manöver, Mylord“, begann Cristabel. „Und
ich bezweifele, dass Lady Brandices Eltern Ihnen dafür danken werden, dass Sie
sie miteinander bekannt gemacht haben.“
„Was? Oh, MacDermott. Die Familie ist verarmt. Also muss man sich eines
Mitgiftjägers wegen, wie er einer ist, keine Sorgen machen. Er wird das
Interesse an Lady Brandice verlieren, sobald er gehört hat, wie klein ihre Mitgift
ist. Übrigens hat sie drei Brüder. Das könnten Sie dem Major gegenüber
erwähnen.“ Mittlerweile drängten sich Opernbesucher an Kenley und Miss
Swann vorbei, so dass er in dem Lärm lauter sprechen musste. „MacDermott
oder das Mädchen sind mir gleich, Belle. Es war nicht das, worüber ich mit
Ihnen reden wollte. Aber hier können wir nicht miteinander sprechen. Es gibt
etwas, das Sie wissen müssen, und ich schwöre, es Ihnen morgen zu sagen,
wenn Sie, ganz gleich, was passiert, wenigstens heute Abend Vertrauen zu mir
haben.“
„Auch ich habe Ihnen etwas mitzuteilen. Ich habe festgestellt, dass ich
moralisierend und voreingenommen war, ich, die nicht das Recht hat, mit
Steinen zu werfen ... wer im Glashaus sitzt und so ... aber jetzt bin ich
unabhängig und kann nicht einmal behaupten, die Umstände hätten mich
gezwungen ...“
Die Lichter wurden heruntergeschraubt. Kenley brachte Miss Swann zu Mrs.
Flints Loge und sagte: „Ich habe nicht die mindeste Idee, wovon Sie reden,
Liebste, aber das können wir morgen klären. Hören Sie einfach nicht auf
irgendwelchen Klatsch und vertrauen Sie mir.“ Rasch gab er ihr noch einen
Handkuss. „Bis morgen.“
14. KAPITEL
Bis morgen! Als ob Cristabel heute Nacht einschlafen könnte! Bei ihren sich
überstürzenden Gedanken und Meadows Schnarchen, das selbst durch die
geschlossene Tür aus dem winzigen Wohnzimmer nebenan drang, fand sie
keine Ruhe.
Aber halt – da waren noch ganz andere Geräusche. Sie nahm ihren
Morgenmantel, rannte durch die Verbindungstür und stolperte über Meadow,
die sie anknurrte. Sie hastete durch den Korridor und die Treppe hinauf. Im
Licht der dort brennenden Kerzen konnte sie Mrs. Flint sehen, die mit ihrem
Ridikül auf Mr. Blass eindrosch.
„Halunke! Einbrecher! In diesem Sündenbabel von Stadt ist man nicht sicher!
Galgenschwengel! Eine unschuldige Frau in ihrem Bett zu überfallen!“
Cristabel war klar, dass nicht die reiche Witwe, die jetzt ihr ehemaliges
Appartement bewohnte, sondern sie selbst sein Opfer hätte sein sollen. Sie war
diejenige, nicht Mrs. Flint, die er mit dem scheußlich aussehenden Dolch hatte
erstechen wollen. Die resolute Dame hieb indes weiterhin mit dem Handbeutel,
den sie am Zugband hin und her schwenkte, auf den Kopf der Memme ein.
Nick durchtrennte das Zugband mit dem Dolch und rannte zur Hintertreppe,
bis er Fanny und Junge, die mit Töpfen und Pfannen bewaffnet waren, und den
heulenden Foxhound den Korridor entlangstürmen sah. Er raste zur Vorderseite,
wo sich Lyle zu Mrs. Flint gesellt hatte. Er hielt einen Feuerhaken in der Hand,
und seine knochigen Fußgelenke waren unter dem mit einer Federboa
geschmückten Morgenrock aus gelbem Satin zu sehen.
„Dafür wirst du hängen, du elender Wurm!“ schrie er durch den Lärm,
achtete jedoch sorgfältig darauf, in der offenen Tür von Mrs. Flints Zimmer
hinter deren fülliger Figur geschützt zu sein. Cristabel zählte eins und eins
zusammen – offensichtlich gehörte der Morgenrock der reichen Witwe.
Zwei Köpfe mit identischen gerüschten Nachtmützen waren oben bei einer
Tür zu sehen. „Oje, oje!“ wurde gerufen, und Mr. Haynes kam wütend die
Treppe heruntermarschiert, derweil Cristabel wie erstarrt auf dem Podest stand.
Und dann kam Marie aus ihrem Zimmer und wollte wissen, was los sei.
Bei dieser Frage schaute Nick auf und sah sein wahres Opfer. „Sie!“ stieß er
hervor und rannte, mit dem Dolch fuchtelnd, die Treppe hinauf zu Miss Swann.
Es gab keinen Ort, an den sie sich hätte flüchten, keine in Reichweite
stehende Vase, die sie hätte werfen oder einen Sessel, hinter dem sie sich hätte
verstecken können. Da war nur dieser Dolch. Und das von unten
heraufdringende Geschrei.
Wüst beschimpfte Nick Miss Swann, doch sie antwortete nur: „Dafür werden
Sie bestimmt gehängt, Sie elender Wicht! Sehen Sie all die Zeugen an, Sie
Narr. Damit kommen Sie nie durch!“
Er knurrte: „Es ist zu spät. Zumindest werde ich meine Rache haben!“ Und
wieder sprang er auf Cristabel zu. Das Licht schimmerte auf der Stahlklinge des
Dolches und reflektierte sich in den glühenden Augen des Wahnsinnigen.
Cristabel sprang zur Seite. Marie kreischte. Mr. Haynes warf seine Hausschuhe
nach Mr. Blass’ Kopf, verfehlte jedoch, und das Tableau unten wirkte wie
erstarrt. Bis auf den Mops.
Meadow war aus Cristabels Wohnzimmer gekommen, um zu sehen, was der
Krach zu bedeuten hatte. Da nichts nach Fressen roch, ließ sie sich
missvergnügt im Korridor nieder. Sie schnappte nach dem Schuh von Mr. Blass,
als der an ihr vorbeisauste, einfach nur, weil sie ohne guten Grund gestört
worden war. Dann stand sie knurrend auf und zog sich zu einer weniger
bevölkerten Stelle oben auf dem Treppenpodest zurück.
Der Mops hätte vielleicht bei dem Angriff auf seine Herrin einen
asthmatischen Anfall bekommen, und möglicherweise wäre er mangels
Luftzufuhr verblichen, doch das hier war eine ernste Angelegenheit. Niemand
bedrohte seine Meadow, ohne die Konsequenzen zu spüren zu bekommen. Im
Nu trugen seine Beinchen seinen gedrungenen Körper die Treppe hinauf. Die
Miniaturausgabe seines Bulldoggenfangs wurde so weit wie möglich geöffnet
und von hinten fest in Mr. Blass’ Fußgelenk gegraben. Die Glupschaugen
schienen noch mehr hervorzutreten, derweil der kleine Gladiator unbeirrt
festhielt, obwohl Mr. Blass schrie und den Fuß schüttelte. Mr. Blass ließ den
Dolch nur eine Hand breit von Cristabels Kehle entfernt vorbeisausen und
drehte sich in der Absicht um, Hackfleisch aus dem Mops zu machen.
Cristabel schrie: „Lyle!“ und schaute an Mr. Blass vorbei, um ihn abzulenken.
Lyle fiel Mrs. Flint ohnmächtig vor die Füße, doch Mr. Blass drehte sich nicht
um. Cristabel stieß ihn in den Rücken, so dass er nach vorn torkelte, vom Mops
aus dem Gleichgewicht gebracht. Er stolperte über Meadow und kullerte die
Treppe hinunter.
Cristabel rannte in ihr Zimmer zurück, um die vergessene Pistole zu holen.
Bei der Rückkehr schrie sie: „Aufhören! Aufhören! Hört alle auf!“ und rannte die
Treppe zu Fanny und Junge hinunter, die mit ihren Bratpfannen Mr. Blass auf
den Schädel droschen. Mrs. Flint hatte den Elefantenfußschirmständer geleert
und piekte Mr. Blass mit einem Spitzenschirm in die Rippen. Mrs. Todd
klammerte sich an ihren Mann und schluchzte. Mrs. Flints Dienstboten lugten
über das Treppengeländer. Sie verschwanden blitzartig, als Cristabel die Waffe
in ihre Richtung hielt.
Als jedermann Raum machte, bot Mr. Blass keinen hübschen Anblick. Der
frühere Schläger war jetzt ein gebrochener Mann. Mit seiner gesunden Hand
hielt er das Stück Ohr, das er sich mit seinem Dolch selbst abgeschnitten hatte.
Mit spitzen Fingern nahm Cristabel es ihm ab und reichte es Mr. Haynes, der so
bleich wurde, als habe sie ihm eine Schlange ausgehändigt. Der Mops war noch
immer damit befasst, Mr. Blass’ Hosenbein zu zerfetzen, derweil der Foxhound
die Tränen ableckte, die Mr. Blass über das Gesicht rannen. Mr. Blass schaute
auf den Lauf der nicht ganz sicher gehaltenen Pistole in Cristabels Hand und
zitterte.
„Das war’s“, äußerte er weinend. „Ich habe von Frauen gelebt. Jetzt werde ich
vermutlich durch eine Frau sterben. Staub zu Staub. Ich war nie sehr viel. Die
Burschen haben mich immer ausgelacht. Jetzt werden sie darüber lachen, dass
ich von einem Frauenzimmer erschossen wurde.“
„Ich bezweifele, dass dort, wohin Sie gehen werden, viel gelacht wird“,
erwiderte Cristabel trocken.
„Dann machen Sie schon, falls Sie mich erledigen wollen. Erlösen Sie mich
von meinem Elend. Kleine Leute bekommen nie einen Aufschub.“
Es war Mrs. Flint, die jetzt den Mops an ihren wogenden Busen gedrückt hielt
und Cristabel fragte, ob sie wisse, wie sie die Pistole, die sie in der Hand hielt,
benutzen müsse, oder ob man die Stadtwache rufen solle.
„Ich habe einmal einen Baum getroffen“, versicherte Cristabel Mrs. Flint.
„Aber Sie müssen sich des Ziels wegen keine Sorgen machen. Die Waffe ist
nicht geladen.“
Mr. Blass sah empört aus und setzte sich aufrechter hin. Er hielt ein
schmutziges Taschentuch ans Ohr und schätzte die Entfernung zur Haustür ab.
Junge verstellte ihm den Fluchtweg.
„Sie erwarten doch wohl nicht von mir, dass ich allein ins Gefängnis gehe,
obwohl ich dann wenigstens ein Dach über dem Kopf hätte“, jammerte Nick.
„Lyle wird mitkommen müssen.“
Cristabel konnte sich die Folgen gut vorstellen – den Prozess, Gwen und Alice
und Kitty im Zeugenstand, die Aussagen über den früheren Betrieb des Hauses,
die Öffentlichkeit, die alle schmutzigen Einzelheiten erfuhr, und Major
MacDermotts Name in den Zeitungen und in Karikaturen, gleich unter ihrem
Namen!
„Ich hatte keine Ahnung! Ich hatte keine Ahnung!“ jammerte Lyle, der in Mrs.
Flints Morgenmantel auf den Knien lag. Der flehende Blick dieser Dame war es,
der Cristabel schließlich zu einer Entscheidung gelangen ließ. Sie und alle
anderen Hausbewohner würden von dem Skandal betroffen sein. Und Mrs. Flint
hatte Major MacDermott wirklich gern, wie aus seiner Wahl des Schlafzimmers
offenkundig war.
„Möchten Sie lieber zur Marine? Ich kann Sie nicht einfach in London
herumrennen lassen, Mr. Blass. Das wissen Sie. Und ich habe keinen Anlass,
nachsichtig zu Ihnen zu sein, nach allem, was Sie mir anzutun versucht haben.
Das also ist Ihre Wahl. Entweder ich lasse die Stadtwache rufen, oder Sie
nehmen den Sold des Königs an und verschwinden aus meinem Leben.“
„Aber wir sind im Krieg!“
„Das ist der einzige Grund, warum man einen so jämmerlichen Kerl wie Sie
nimmt. Also?“
„Die Polente oder die Marine? In dem Augenblick, als Sie von mir verlangten,
eine verdammte Uniform anzuziehen, wusste ich, dass Sie hartherzig sind. Sieht
ganz danach aus, dass Sie Ihren Wunsch doch noch erfüllt bekommen.“
Cristabel wies Fanny und Junge an, Mr. Blass zu fesseln, in die Vorratskammer
zu sperren und Wache zu halten. Dann trug sie Mr. Haynes auf, auf die beiden
aufzupassen, und hatte vor, ihm die Pistole zu geben.
„Oh nein, das kann ich nicht. Ich muss diese Geschichte für den Chronicle
aufschreiben. Mr. Helfhopher wird begeistert sein. Action, Gefahr, die
triumphierende Tugend, sogar Gnade. Er wird mich befördern, mir eine
Gehaltserhöhung und einen besseren Schreibtisch geben müssen.“
„Mr. Haynes!“
„Ja, Miss Swann?“ fragte er von der Treppe.
„Ich glaube, Sie haben mich sagen gehört, dass diese Pistole nicht geladen
ist.“
„Ja, ja. Ich muss daran denken, das einzufügen.“
„Ich habe die Munition für die Waffe hier in der Tasche meines Kleids, Mr.
Haynes. Denken Sie daran, falls Sie auch nur auf den Einfall kommen sollten,
irgendetwas von den Ereignissen des heutigen Abends Ihrem Mr. Helfhopher
oder sonst jemandem gegenüber zu erwähnen. Ich habe nie verfehlt, worauf ich
gezielt habe. Habe ich mich deutlich genug ausgedrückt?“
„Ich darf nichts schreiben, nicht einmal dann, wenn ich die Namen ändere?“
„Tun Sie es, und dann brauchen Sie keinen neuen Schreibtisch mehr.“
Mr. Haynes schluckte. „Was soll ich tun?“
Cristabel ging nach oben, um sich etwas anzuziehen, das sich für einen
Besuch mitten in der Nacht bei einem nicht mit ihr verwandten Junggesellen
eignete. Sie zog ein Kleid an, das sie als Lehrerin getragen hatte, und legte sich
einen Paisleyschal um die Schultern.
Marie, die den Douglas-Schwestern Laudanum verabreicht hatte, erschien
und schüttelte den Kopf. „Sie sehen aus, als wollten Sie zu Gericht. Ich dachte,
Sie wollten Lord Winstoke kommen lassen. Er wird wahrscheinlich eher das tun,
was Sie wollen, wenn Sie ein wenig hilfloser aussehen. Oder haben Sie noch
immer nichts gelernt?“
„Ich lasse niemanden herkommen. Alles ist zu kompliziert, um es in einem
Brief mitzuteilen. Und was ist, wenn Seine Lordschaft nicht zu Haus ist oder
wenn die Dienstboten ihn nicht wecken? Außerdem ist Captain Chase
derjenige, an den ich mich Hilfe suchend wenden will. Er weiß sicher sehr viel
mehr darüber, wie jemand in die Marine aufgenommen wird, und er hat mir oft
angeboten, mein Freund zu sein.“
„Er? Hm? In diesem Fall gehe ich besser mit Ihnen.“ Marie eilte fort, um sich
anzukleiden. Cristabel war überzeugt, dass Marie sie nicht begleitet hätte, wäre
das Ziel Lord Winstokes Unterkunft gewesen.
Das war ein weiterer Grund, warum sie den Viscount nicht um Hilfe bitten
konnte. Sie wusste nämlich nicht, wo er wohnte. Wie dem auch war, sie wollte
nicht, dass er die unflätigen Äußerungen hörte, die Mr. Blass in seiner Wut von
sich geben würde, während sie versuchte, Seine Lordschaft davon zu
überzeugen, dass sie eine anständige Frau war. Captain Chaise würde nicht
geringer von ihr denken, ganz gleich, welche Lügen der Dreckskerl erzählte.
Und wenn er doch schlechter von ihr dachte, was kümmerte es sie?
Lyle hatte sich angezogen und schwang unten im Salon seinen Degen. Er
beeilte sich, Cristabel eine Droschke zu holen, und war erleichtert, dass sie ihn
nicht aufgefordert hatte, sie zu begleiten. „Dieser Bursche kann mich nicht
sonderlich ausstehen“, erklärte er und griff sich ans Auge.
„Ich dachte, es sei Lord Winstoke, den Sie nicht ausstehen können.“ Beinahe
hätte sie gesagt: „Vor dem Sie Angst haben“, hatte das jedoch seinem Stolz
zuliebe unterlassen.
„Ja, der auch.“
Derselbe Türklopfer mit dem Wappen der Swanns. Das gleiche endlose Warten.
Derselbe auf den Kopf gefallene Lakai.
Floyd, mit zuckendem Adamsapfel und ihm über die Augen gerutschter
Nachtmütze, machte die Tür auf, sah Miss Swann und sagte: „Oh nein! Nicht
schon wieder Sie!“ Dann knallte er ihr die Tür vor der Nase zu.
Sie klopfte wieder und noch lauter an. Dieses Mal wurde die Tür sofort
geöffnet. „Seien Sie still“, flehte Floyd. „Sie wecken Seine Lordschaft auf, und
dann verbläut er mich. Verdammt noch mal, diese Frau macht dauernd Ärger!“
„Unsinn! Ich muss sofort Captain Chaise sprechen. Er wird äußerst verärgert
sein, wenn Sie ihn nicht holen. Er ist doch nicht ... hm ... beschäftigt?“
Floyd grinste dreist. „Steckt in seinem eigenen Bett. Wollen Sie hinaufgehen
und sich überzeugen?“
Cristabel wurde rot, ließ sich jedoch nicht entmutigen. „Ich kann mir nicht
vorstellen, dass Captain Chase erfreut darüber ist, wenn seine Freunde in
seinem Haus beleidigt werden. Ich hoffe, Sie können schwimmen.“
Freunde waren die beiden? Floyd schluckte. Diesmal sah die Person besser
als beim letzten Mal aus, und außerdem gefiel es ihm mehr und mehr in diesem
Haus. „Ich werde den Herrn holen, Miss. Unverzüglich. Möchten Sie im Salon
warten?“
Marie rief dem Lakaien hinterher: „Holen Sie auch Mr. Sparling, wenn Sie
schon unterwegs sind.“
„Miss Belle, was machen Sie hier?“
Belle? Lord Winstoke? „Was machen Sie hier, Mylord?“
Die Mundwinkel des Viscounts zuckten. Hier hatte die ganze Sache
angefangen. „Dies ist das Haus, wo ich ... äh ... die ganze Zeit gewohnt habe.“
„Dann kennen Sie und Captain Chase sich?“ Cristabel war pikiert darüber,
dass die beiden über sie geredet hatten.
Kenley zögerte einen Moment und antwortete dann: „Ja, wir sind Freunde. Im
Allgemeinen.“ Die Absurdität der Situation reizte ihn, so dass er nicht
widerstehen konnte, scherzhaft zu fragen: „Sie sind doch nicht hergekommen,
um ein Schäferstündchen mit ihm zu haben, oder doch?“
„Seien Sie nicht albern. Ich kenne ihn kaum.“
„Gut. Ich würde den Gedanken hassen, den Lump zum Duell fordern zu
müssen. Ich wage zu behaupten, dass sein Liebchen sich auch nicht wie eine
Sonntagsschullehrerin anziehen würde.“
„Seien Sie doch ernst, Mylord.“
„Das bin ich. Sie sehen anders aus.“ So anders, dass tatsächlich niemand
außer einem Blinden sie für ein Flittchen hätte halten können. Verdammt!
Auch er sah anders aus. Das Hemd war am Kragen geöffnet, und er sah, das
Glänzen in den Augen und das verschmitzte Lächeln eingeschlossen, wie ein
prahlerischer Pirat aus. Zumindest sah er ganz genauso aus wie der
geheimnisvolle, gut aussehende Held in einem von Maria Edgeworth’ Romanen,
der bereit war, im Galopp der Heldin zu Hilfe zu kommen. Abgesehen davon,
dass er natürlich kein Reiter war. Cristabel war auch keine Heldin, und das Herz
würde ihr bei seinem Anblick auch nicht bis zum Hals klopfen. Sie würde auch
nicht flacher und stoßartiger atmen. Sie wandte sich ab.
„Bitte, ich muss Captain Chase sprechen.“ Verflixt, sie zitterte.
„Es tut mir Leid, Belle. Ich weiß, Sie wären nicht hergekommen, ginge es
nicht um etwas Wichtiges. Captain Chaise ist ... hm ... nicht in der Stadt. Lassen
Sie bitte mich Ihnen helfen.“
Sie fing an, alles dem Viscount zu erzählen, kam jedoch nicht weit.
„Jemand hat versucht, Sie umzubringen? Das wird er mir mit dem Tod büßen!
Ist mit Ihnen alles in Ordnung?“ Kenley packte Miss Swann an den Schultern
und schüttelte sie, während er ihr fragend in die Augen starrte. Dann zog er sie,
um sie zu beruhigen, flink in die Arme. Sie sträubte sich, und sofort ließ er sie
los. „Es tut mir Leid, meine Liebe. Ist mit Ihnen wirklich alles in Ordnung?“
„Ich war in Ordnung“, antwortete sie atemlos und beendete ihre Geschichte.
Es machte ihr Vergnügen, das wechselnde Mienenspiel Seiner Lordschaft zu
beobachten, das erst Zorn und Entsetzen und dann Belustigung und Stolz
bekundete.
„Sie haben wirklich mit einer ungeladenen Waffe auf den Weiberhelden
geschossen?“
Cristabel ließ nichts aus, nicht den Teil mit den Hunden oder den mit den
Bratpfannen, auch nicht Mr. Blass’ Drohungen, ganz gleich, wie unangenehm
das war. „Ich wollte nicht, dass Ihnen diese wüsten Tiraden zu Ohren kommen“,
sagte sie und wandte den Blick ab.
„Was? Haben Sie befürchtet, ich würde diesen Mist glauben, diesen
Quatsch?“ Sacht berührte Kenley Miss Swann an der Schulter und drehte sie zu
sich herum. „Ich dachte, ich hätte Ihnen gesagt, dass Sie Vertrauen zu mir
haben sollen.“
„Ja, aber ...“
„Pst!“ Er legte ihr den Zeigefinger auf die Lippen. „Alles der Reihe nach. Was
soll ich ... was soll Captain Chase Ihrer Meinung nach mit diesem widerlichen
Mr. Blass tun?“
„Ich will nicht, dass er in meinem Haus ermordet wird“, antwortete Cristabel
streng. Kenley lächelte und versprach ihr das.
„Ich dachte, die beste Lösung sei, ihn zur Marine zu schicken. Er würde keine
Gelegenheit haben, seine Lügen zu äußern oder eine Bedrohung zu sein. Und
ich hätte seinen Tod nicht auf dem Gewissen.“
„Ich habe nie viel von der Gepflogenheit gehalten, Verbrecher zum Dienst auf
Schiffen zu schicken. Sie sind keine besseren Seeleute, als sie ehrbare Bürger
gewesen wären, aber ich stimme Ihnen zu. Würde dem Kerl der Prozess
gemacht, würde nur sehr viel schmutzige Wäsche gewaschen.“
„Denken Sie dann, dass ich mich mit Captain Chase in Verbindung setzen
soll, damit er die nötigen Vorkehrungen trifft? Ich kann den Kerl doch nicht
ewig in meiner Vorratskammer eingesperrt sein lassen.“
„Keine Angst, ich kann für Sie alles in die Wege leiten. Zur Zeit liegt im Hafen
ein Kutter, auf dem er bei Tagesanbruch nach Bristol fahren könnte. Ich werde
mich sofort darum kümmern.“
„Mir scheint, ich stehe schon wieder in Ihrer Schuld. Ich weiß nicht, wie ich
...“
„Warten Sie hier. So können Sie ...“
„Oh, das kann ich nicht.“
„Bitte! Wir haben noch so viel zu besprechen. Es ist schon fast Morgen, und
ich habe Ihnen eine Erklärung versprochen. Hier sind Sie sicher, und ich muss
mir Ihretwegen keine Sorgen machen. Bitte, Belle!“
Da sie bereits nach Anbruch der Dunkelheit das Haus eines Junggesellen
betreten hatte, konnte sie nicht kompromittierter sein, erst recht nicht, weil sie
in diesem Haus in Kensington wohnte. Und dann war da die versprochene
Erklärung, die mit dem belustigten Ausdruck in diesen Augen und dem
zärtlichen Lächeln, dem sie nicht widerstehen konnte, verbunden zu sein
schien. Sie nickte.
„Gut, gut! Machen Sie es sich bequem. Ich nehme an, das hat eigenartig
geklungen, da dieses Haus einst Ihr Heim gewesen ist.“
„Oh nein! Ich habe nie hier gelebt.“
„Nein?“ fragte Kenley nachdenklich. „Es passt zu Ihnen. Es ist ruhig und
elegant und trotzdem gemütlich.“
„Vielen Dank. Ich bin sicher, Captain Chase ist hier zufrieden.“
„Ist er das? ... Ich breche jetzt besser auf.“ Einen Moment lang hielt Kenley
Miss Swanns Hand fest und hob sie dann an die Lippen. Er drehte sie um und
drückte ihr einen Kuss auf das Handgelenk. „Ich bin so schnell wie möglich
zurück.“
Er ging nicht in den Korridor, sondern durch die angrenzende Bibliothek und
ließ die Tür offen. Cristabel konnte ihn eine Schreibtischschublade aufziehen
und eine Pistole herausnehmen sehen.
Sie ging zur Tür und beobachtete, wie er die Waffe lud und dann unter den
Hosenbund steckte.
„Sie werden doch nichts Überstürztes tun?“
„Das habe ich doch versprochen, nicht wahr?“
„Und Sie werden sehr, sehr vorsichtig sein und bald zu mir zurückkommen?“
„Vertrauen Sie mir, Schätzchen.“
Das hatte sie schon ein Mal gehört! Sie lauschte dem Lärm, der im Korridor
entstand, als Seine Lordschaft nach einer Kutsche rief und nach Jonas Sparling.
Sie nahm an, es sei für ihn selbstverständlich, den Kammerdiener des Captains
auf eine solche Mission mitzunehmen.
Dann hörte sie jemanden brüllen: „Hol auf, du fiese Seeschnecke! Setz das
Besamsegel! Wir segeln mit dem Wind!“
„Aye, aye, Cap’n.“
Auch das hatte sie schon ein Mal gehört. Cristabel ließ sich in den großen,
hinter dem Schreibtisch stehenden Ledersessel fallen.
Oh, Gott!
Das Buddelschiff auf dem Schreibtisch. Das Haus. Ihr Haus in Kensington.
Vertrauen?
Oh nein! Sie stöhnte innerlich. So dumm konnte sie doch nicht gewesen sein,
oder doch? Hatte sie nicht gemerkt, dass sie die Zielscheibe eines grausamen
Scherzes gewesen war? Nein, nein und nein! Der Captain konnte nicht die
ganze Zeit ihre Identität gekannt haben. Er trieb nicht einfach nur ein Spiel.
Sein Kopf war bandagiert gewesen. Das stand fest. Er hatte sie nicht leichter
wiedererkennen können, als sie an dem Tag im Park, an dem sie von Lyle
miteinander bekannt gemacht worden waren, die Möglichkeit zu wissen gehabt
hatte, wen sie vor sich hatte. Lyle! Er musste die ganze Zeit Bescheid gewusst
haben. Sein blaues Auge war nichts im Vergleich zu dem, was sie ihm antun
würde. Und sie war hier, um seinen guten Ruf zu retten!
So viele Dinge fügten sich zusammen. Die Andeutungen, die Kriegsjahre,
über die Lord Winstoke nie hatte reden wollen, die halb unter dem langen Haar
verborgene Narbe! Mr. Sparling hatte Cristabel alles über die Verletzung und
den Verlust des Schiffes berichtet. Natürlich war der Captain nach all den
Jahren auf See kein Reitersmann oder darin geübt, eine Dame zu erkennen,
wenn er eine vor sich sah.
Wann hatte Lord Winstoke, nein, Captain Chaise, ihre Identität
herausgefunden? Das war gewesen, als er aufgehört hatte, sie Belle zu nennen
und ihr unschickliche Avancen zu machen. Das war gewesen, als die
freundlichen Briefe vom Captain eintrafen und Mr. Sparling angefangen hatte,
in dem Haus in Kensington herumzuhängen. Er musste sehr wohl vor diesem
Abend gemerkt haben, dass Cristabel sich seiner Namen und seiner Titel nicht
bewusst war. Ihr zu sagen, Captain Chase sei sein Freund! Wirklich! Natürlich
gab es eine Menge Erklärungen, die er ihr abgeben wollte.
Er musste sie für einen ausgemachten Dummkopf halten. Zumindest eine
Sache war klar. Er wusste, dass Cristabel eine Dame war, was immer er sonst
von ihr denken mochte. Sie zog das auf dem Schreibtisch stehende
Buddelschiff näher heran und sah, dass es auf einem spitzengesäumten
Taschentuch stand, ihrem Taschentuch, von dem sie angenommen hatte, sie
habe es am vergangenen Abend in der Oper verloren. War das erst am
vergangenen Abend gewesen? Sie lächelte. Nun fand sie, dass sie dem
Viscount doch vertrauen könne.
Als Kenley zurückkehrte, saß sie still an seinem Schreibtisch und hatte die
„Invicta“ in den Händen. Ein gutes Zeichen, wie er fand, denn die „Invicta“ war
noch intakt. Er hatte gemerkt, dass es in der Bibliothek zu viele Hinweise gab
und es nur eine Frage der Zeit war. Aber nun war die Zeit vorbei, und Miss
Swann hatte die Möglichkeit gehabt, sich an den Gedanken zu gewöhnen ...
„Wer sind Sie?“ Ihre Stimme hatte ruhig geklungen, doch Kenley sah die
Verwirrung, den Schmerz und den Zorn in ihrem Blick, in den sich vielleicht
noch etwas mischte – Hoffnung.
„Ich bin Kenley Chase, Viscount Winstoke, Londons größter Esel und der
Mann, der Sie liebt. Aber wer sind Sie? Einmal sind Sie eine Göttin, die zur Erde
gestiegen ist, um einen Sterblichen in Versuchung zu bringen, und dann sind
Sie eine rachsüchtige Furie, die hergeschickt wurde, um ihn an der Kandare zu
halten.“
„Ich bin nur die Tochter des Vikars, die an den Weihnachtsmann glaubt, eine
naive Schullehrerin, die weniger von der Welt versteht als irgendeine ihrer
Schülerinnen, und Miss Cristabel Swann, die versucht, eine anständige Pension
zu leiten. Und ...“ Das konnte sie nicht sagen.
„Und nicht meine Belle?“
„Oh, Kenley! Ich sollte das nicht sein. Ich habe geschworen, dass ich das
nicht sein kann. Ich befürchte jedoch, dass ich das für Sie bin!“
Er breitete die Arme aus, und dann lag sie in ihnen. Sie schmiegten sich so
natürlich um sie wie das Sonnenlicht um eine Rose.
„Und ich würde dich sogar dann heiraten, wenn du die Wischmagd wärst, die
die Treppe schrubbt.“
„Heiraten? Hast du wirklich ‚heiraten‘ gesagt?“
„Natürlich, du dummes Mädchen! Wie könnte ich dich sonst für immer bei
mir haben und dich in meinen Armen halten? Außerdem habe ich Fanny
versprochen, eine ehrbare Frau aus dir zu machen.“
„Oh, Fanny und Junge, die Mr. Blass bewachen, und all die anderen Leute
habe ich ganz vergessen. Ist alles in Ordnung?“
„Ja, jetzt“, antwortete Kenley, drückte Cristabel einen Kuss aufs Haar und trat
einen Schritt zurück. „Aber lass uns in den Salon gehen. Natürlich bleibt die Tür
auf! Wir haben eine Menge zu besprechen, und ich will nicht, dass die
Dienstboten klatschen. Ganz ehrlich gesagt, habe ich so lange darauf gewartet,
dich zu der Meinen zu machen, dass ich mir kaum noch traue. Weißt du nicht,
dass ich für keine andere Frau als dich Augen hatte, seit mir der Kopfverband
abgenommen wurde?“
„Ah! Und ich dachte, ich würde mich in Captain Chase vergucken.“
„Was, diesen jämmerlichen Kerl? Ich dachte, du hieltest ihn für einen Dieb,
einen Lügner und Frauenhelden.“
„Erinnere mich nicht. Ich habe so viele unerhörte Dinge zu ihm gesagt, die
ich niemandem hätte sagen dürfen!“
„Du begreifst, dass ich nichts über das Haus in Kensington wusste, in das ich
dich geschickt habe, nicht wahr? Und dann, als ich darüber Bescheid wusste,
war mir nicht klar, dass du diejenige warst.“
Cristabel kicherte entzückt über Kenleys verworrenes Gerede und teilte ihm
mit, die Sache sei nicht mehr von Bedeutung.
„Aber das ist sie“, entgegnete er und ergriff ihre Hand. „Du hast mir noch
nicht gesagt, dass du mich liebst.“
„Ich muss dich schon ewig geliebt haben, selbst dann, als ich wütend auf
dich war oder als ich versuchte mir einzureden, dich nicht zu lieben, weil du
mich nie lieben würdest. Aber an dem Tag im Park, als du von den Pferden
beinahe getötet worden wärst, bin auch ich fast gestorben, weil ich dachte, ich
hätte dich verloren.“
„Was für einen Gefallen Mr. Blass uns getan hat! Weißt du, er war derjenige,
der den die Pferde verstörenden Schuss abgab. Er ist jetzt unterwegs und wird
vermutlich davon überzeugt werden, dass er auf ein nach Amerika oder zu
einem gleichermaßen weit entfernten Ort fahrendes Schiff springen muss. Er
wird dich nie wieder belästigen.“
„Das ist wunderbar! Nun muss Lyle sich keine Sorgen machen, seine
Aktivitäten könnten seinem Kommandanten zu Ohren kommen. Jetzt kann er zu
seinem Regiment zurück.“
„Ich habe das Gefühl, er wird bald nach Mrs. Flints Pfeife tanzen. Stell dir die
Reaktion der guten Gesellschaft vor, wenn man die Witwe des Nabobs mit dem
schwarzen Schaf sieht.“
„Wird man die beiden gesellschaftlich ignorieren?“
„Ich glaube, das wäre ihnen egal. Und wenn es so ist, hat eine Viscountess
genügend Einfluss, um sich für sie zu verwenden.“
„Oh, Kenley!“ Cristabel entzog ihm ihre Hand. „Du musst mich nicht heiraten,
Kenley.“
„Ich muss nichts anderes tun als dich glücklich machen.“
„Ich muss dir etwas gestehen. Ich hatte schon fast beschlossen, dein anderes
Angebot anzunehmen und deine Geliebte zu werden. Das wäre Maries Worten
zufolge die eigentliche Probe aufs Exempel gewesen. Wo ist Marie überhaupt?
Sie müsste meine Anstandsdame sein.“
Falls Cristabels Stimme einen Hauch von Bedauern enthalten hatte, war er
durch Kenleys Lachen übertönt worden.
„Marie ist mit Mr. Sparling etwas erledigen gegangen. Ich befürchte, deine
Begleiterin gibt kein gutes Beispiel ab. Und mein Kammerdiener hat gekündigt,
weil er in die Modebranche gehen will.“
„Will er das? Wie wunderbar!“
„Ja, ein einhändiger Kammerdiener war immer eine gewisse Herausforderung.
Deine kleine Fanny will übrigens unbedingt Zofe bei einer echten Dame sein,
und meine Mutter freut sich darauf, ihre Enkelkinder gnadenlos zu
verhätscheln. Du willst doch nicht alle Leute enttäuschen, nicht wahr? Auch
mich nicht, einen alten Seebären, der hofft, seine liederliche Lebensweise
aufgeben zu können und ein Landedelmann zu werden, der Haus und Heim und
die Liebe einer sehr, sehr guten Frau genießt?“
„Aber ich habe keine Mitgift.“
„Gut, dann wird niemand mich bezichtigen, ein Mitgiftjäger zu sein. Aber du
hast eine Mitgift, und zwar das turbulente Haus in der Sullivan Street und ein
sehr schönes Perlenkollier.“
„Die Perlen! Kenley, sind sie wirklich ein Harwood-Erbstück?“
Er stand auf, ging zum Schreibtisch und zog eine Schublade auf. Dann kehrte
er mit einer samtbezogenen Schatulle zu Cristabel zurück. „Natürlich sind das
Harwood-Juwelen. Hier sind die Chase-Smaragde zur Verlobung. Wirst du sie
tragen, Cristabel, mein Liebling?“
Als Antwort schmiegte sie sich in seine Arme, und ihrer beider Kuss war ein
Versprechen.
Einige Zeit später sagte Cristabel: „Ich glaube, ich fahre besser nach Haus,
Kenley.“
„Du bist zu Haus, meine Liebe, hier in Harwood House.“
„Aber ich kann nicht ... Wir dürfen nicht ...“
„Doch, wir dürfen, sobald Mr. Sparling und Marie mit der Sondererlaubnis und
deinen Sachen zurückgekommen sind. Dann können wir zusammen nach
Staffordshire reisen, ohne jemandes Schicklichkeitsgefühl zu verletzen. Ich bin
sicher, meine Mutter wird ein Hochzeitsfrühstück für die ganze Grafschaft
planen. Wir werden alles so machen, wie es sich gehört, meine sittsame,
tugendhafte Dame, und keine verstohlenen Küsse mehr tauschen.“
... einige vielleicht ausgenommen, bevor der Vikar kam.
– ENDE –