Faber, Merle Liebe ohne Sicherungsseil

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IMPRESSUM

Liebe ohne Sicherungsseil erscheint in der Harlequin Enterprises GmbH

Redaktion und Verlag:
Postfach 301161, 20304 Hamburg
Telefon: +49(0) 40/60 09 09-361
Fax: +49(0) 040/60 09 09-469
E-Mail:

kundenservice@cora.de

Geschäftsführung:

Thomas Beckmann

Cheflektorat:

Claudia Wuttke (v. i. S. d. P.)

Lektorat/Textredaktion:

Veronika Matousek

Redaktionsleitung:

Claudia Wuttke

Grafik:

Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn,
Marina Grothues (Foto)

Erste Neuauflage by Harlequin Enterprises GmbH, Hamburg,
in der Reihe: Digital Edition

© 2008 by Cora Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg
Deutsche Erstausgabe in der Reihe TIFFANY LIEBEN & LACHEN
Band 45 - 2008 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg

Umschlagsmotive: vita khorzhevska / Shutterstock

E-Book-Produktion:

GGP Media GmbH

, Pößneck

ISBN 9787373380267

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten
mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:
BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL, MYSTERY

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1. KAPITEL

Stefanie Clarin griff nach der Fernbedienung. Noch glänzte der wandgroße Plasmabildschirm im
Creativ-Raum von light arts neutral silbergrau, aber das würde sich bald ändern. Ihr Schatten
spiegelte sich im Bildschirm, sie glaubte sogar den Schimmer ihrer rotbraunen Haare zu erkennen.
Sie lächelte sich zu. Vor drei Monaten hatte sie den internationalen Lichtkünstler Robert van
Halen mit einer spontanen Bewerbung nachmittags um halb drei so überrascht und mit ihrer
kleinen Präsentationsmappe so beeindruckt, dass er Stefanie vom Fleck weg als neue Marketing-
Fachfrau eingestellt hatte. Nun leitete sie mit nur 26 Jahren bei light arts schon einen kleinen Stab
von Mitarbeitern.
Ja, es gab sie wirklich, die Glückssträhnen im Leben, und Stefanie war fest entschlossen, sie nicht
abreißen zu lassen. Gerade jetzt nicht, wo sie zum ersten Mal das Privileg erhielt, hier im
„Allerheiligsten“ der Firma ihrem Chef Robert unter vier Augen vom neuesten Kunden zu
berichten.
Der Creativ-Raum lag im siebzehnten Stock. Das natürliche Licht des Berliner Himmels flutete
durch die riesigen Fenster. „Meine beste Inspirationsquelle“, meinte ihr Chef. Stefanie richtete ihr
rotbraunes Haar und stellte sich an die Seite des schlichten hellen Holztisches. Mehr Möbel außer
zwei Stühlen duldete der renommierte Lichtdesigner nicht. Auf besondere Lichtquellen hatte
Robert zu Stefanies großer Verwunderung verzichtet. Die Außenwand des Creativ-Raums bestand
nur aus Glas. Stefanie blendete der perfekt blaue Himmel ein wenig, kein Wunder, dass Robert
selbst hier seine blaugetönte Sonnenbrille trug. Sie passte perfekt zu seinem eisgrauen kurzen,
dichten Haar. Robert war fast ein Zwei-Meter-Mann und wirkte nur deshalb schlank, weil er
immer nervös war, immerzu spielte er mit irgendetwas in den Händen. Heute war es ein
transparenter grüner Filzstift.
Stefanie aktivierte den wandgroßen Plasmabildschirm: Wir sind nicht zu fassen – smart light art.
So ganz sicher war sie sich auf einmal nicht mehr, ob sie ihren Chef überzeugen könnte. Sie
räusperte sich: „Unser neuer Claim begeistert die Kunden …“
Robert unterbrach sie sofort. „Bitte nicht schon wieder eine Präsentation, ich hasse das.“ Er
streckte die langen Beine unter dem Tisch aus und steckte den Filzstift in das Leinensakko. Der
Endvierziger fixierte sie mit einer tiefen Falte auf der ansonsten noch immer glatten Stirn. „Ich
denke, du willst mich überraschen?“
Vom ersten Tag an hatte sie bei light arts für Wirbel gesorgt und das ganze Material für die
Kundenwerbung auf den neuesten Stand der Zunft gebracht. Roberts Designassistenten hatten ganz
schön geschluckt. Wenn sie jetzt auch den Chef höchstpersönlich ein bisschen aufmischte, war sie
nur konsequent. Stefanie straffte die Jacke des Kostüms. Ihr Chef liebte den weiten Überblick,
deshalb hatte er sich hier den Creativ-Raum eingerichtet, von dem man über Berlin-Mitte und den
Tiergarten hinweg bis zum Zoo sehen konnte. „Du musst einmal aus der Vogelperspektive
gesehen haben, worum es geht. Nur ein Bild, Robert.“ Stefanie ignorierte seinen Seufzer und
klickte es auf den Bildschirm. Auf den ersten Blick sah man goldenen Sand in kobaltblauem Meer,
dann erkannte man die Form eines Halbmonds.
Robert reagierte sofort, er sprang auf und stützte die Arme auf den hellen Tisch vor ihm. „Was für

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ein klares Licht, was für ein Farbenspektrum!“
Stefanie stellte den Fuß vor, der Rocksaum ihres Businesskostüms rückte ein wenig nach oben.
„Abu Faira.“
„Wie bitte?“, fragte Robert und glitt langsam zurück auf den Stuhl.
„Das ist ein Emirat.“ Stefanie wagte es und klickte ein zweites Bild an.
Robert starrte wie gebannt darauf, elektrisiert fragte er: „Ich sehe Jachten, Häuser, grüne Gärten
… Das Licht ist traumhaft, wozu brauchen die überhaupt einen Lichtdesigner wie mich?“
„Das Emirat Abu Faira schreibt einen internationalen Wettbewerb aus – für die Eröffnungsshow
ihres neuen Sechs-Sterne-Plus-Luxus-Resorts, Robert. Wir sind eingeladen!“
„Das ist die Chance für den Sprung von light arts in die internationale Oberklasse“, flüsterte
Robert.
„Genau das.“ Stefanie nickte, bei dem Karrieresprung wäre sie huckepack dabei. Sie klickte
weiter.
Robert fraß die Bilder des luxuriösen Hotelpalastes, der sich aus üppigem Palmengrün erhob, mit
den Augen auf. „Wir brauchen eine Idee … ein Lichtmärchen wie in Tausendundeiner Nacht …“
Er stand auf und deutete mit dem langen Arm zu einem kleinen intimen Jachthafen auf dem
Bildschirm. „Dort brauchen wir Kristallsäulen, ich sehe es genau vor mir, dort an den Enden der
Landungsstege …“ Er fuhr sich durch die eisgrauen Haare. „Erzähle mir, wie du das geschafft
hast. Womit hast du die Leute von Abu … Abu Dingsbums geködert?“ Nervös legte er die Arme
über die Brust und fasste die Revers. Sein grüner Filzstift rutschte dabei aus der Brusttasche und
schlitterte über den Schreibtisch, stürzte über die Kante vor Stefanies Füße und rollte bis ans
Fenster. Robert starrte fasziniert auf den Plasmabildschirm an der Wand.
Stefanie bückte sich nach dem Stift. „Wir verkaufen Licht …“, zitierte sie dabei die
Firmenwerbung und presste die Knie im schmalen Rock aneinander. Sie fingerte nach dem Kuli
vor der Panoramaglasscheibe. In diesem Moment bewegte sich draußen etwas, und sie hob den
Kopf. Langsam schob sich etwas Braunes vor die Scheibe. Es war ein wunderbar kräftiger
Unterarm, auf dem sich schwarze Härchen auf sonnengebräunter Honighaut im Wind leise
kräuselten. Das feine Spiel der Muskeln faszinierte Stefanie, kräftige Finger tastete sich draußen
an der Fuge der Glasfassade entlang. Sie hatte eine Halluzination, anders konnte das nicht sein,
light arts residierte im siebzehnten Stock! Vermutlich hatte sie einfach zu viel gearbeitet.
„Wir verkaufen inszeniertes Licht, darauf bestehe ich …“, sagte Robert pikiert vor dem
Plasmabildschirm.
Stefanie riss die Augen auf: Dort draußen hing ein Mann! Jetzt sah sie einen aufgerollten
Hemdsärmel, einen langen sehnigen Hals, der schwarze Bartschatten prangte auf einem Kinn …
Eine zarte Ohrmuschel ragte aus windzerzausten schwarzen, kurzen Locken. Stefanie musste den
Impuls unterdrücken, nach dieser Wange zu tasten. Hastig raffte sie den Filzstift vom Boden.
Draußen sah sie immer noch nur diesen Hinterkopf, der sich immer noch nicht rührte, nur die
Finger des Mannes tasteten weiter, als gehörten sie gar nicht dazu. Oder war sie von den letzten
Wochen tatsächlich total überstresst?
„Stefanie, wie kommst du überhaupt zu diesem Emirat in wer-weiß-wo?“
Siedendheiß fiel Stefanie ein, dass ihr Chef Robert in ihrem Rücken am Tisch saß und auf ihre

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groß angekündigte Story wartete. Dieser Kopf dort draußen konnte gar nicht existieren! Wie sollte
ein Mann so hoch über der Erde allein außen an der Fassade hängen können? Vielleicht hätte sie
doch besser auf ihre beste Freundin hören sollen … Drehte sie jetzt durch, weil sie seit zwölf
Wochen nichts anderes mehr machte als arbeiten und dabei ihr Privatleben, nun, zu kurz kommen
war gar kein Ausdruck: Sie hatte gar keines mehr.
Stefanie drehte sich um, schüttelte die Schultern aus und lächelte Robert etwas gezwungen an.
„Wo war ich? Ach ja, der Wettbewerb von Abu Faira …“
„Wieso erfahre ich davon erst jetzt?“ Er riss ihr den grünen Filzstift fast aus der Hand.
„Weil du bis gestern die Villa von Brockenhill & Velten in Düsseldorf ausgeleuchtet hast und für
niemanden erreichbar warst.“ Robert knurrte nur. Stefanie wollte sich konzentrieren, sie klickte
das nächste Bild an. „Ich habe Abu Faira vorgeschlagen, mit variablen Laserprojektoren und
luminiszenten Fensterfolien anzufangen und dann …“, Stefanie fühlte sich sofort wieder sicher,
ihr Konzept war durchdacht. „Und dann würde light arts die Fassade optisch in Bewegung setzen,
als ob man Steine in Wasser wirft, damit …“ Halb drehte sie sich vom Plasmabildschirm weg, auf
den Robert unentwegt starrte. Der Himmel über Berlin, draußen vor dem Fenster, schien einen
Moment genauso Wellen zu schlagen. Stefanies Stimme erstarb in einem Flüstern: „Damit alles
wie eine Fata Morgana aussieht …“
Draußen prangten Männerbeine, oben im Winkel unter der Decke, Kletterstiefel mit kurzen
Wollsocken, darin die festesten, schönsten Waden, die sie je gesehen hatte. Besser als
Fußballerwaden und nicht so mädchenhaft haarlos wie bei Radlern, einfach nur perfekt. Ein
Oberschenkel zeichnete sich ab, Stefanie hoffte einen Moment, dass der Mann dort draußen nackt
herumturnte und sie einen Blick auf den Po …
Heftig sog sie die Luft ein. Sie durfte jetzt nicht abdrehen, gerade jetzt nicht – nur weil es etwas
länger her war, dass sie ein paar nackte Männerbeine live gesehen hatte. Stefanie, dort draußen
gibt es keinen Mann, ermahnte sie sich – und schon gar keinen, der exakt ihren Träumereien beim
Einlassen des täglichen Entspannungsbades entsprach. Das war physikalisch unmöglich!
„Fata Morganas sind Luftspiegelungen“, brummte Robert hinter ihr, „der Ansatz ist nicht
schlecht. Dann könnte ein Sturm aufziehen …“
Stefanie holte tief Luft und drehte sich zu ihrem Chef um, der die Spitze seines Filzstiftes
betrachtete. „Genau, ich habe in der Bewerbungsmappe skizziert, dass wir zum Beispiel das
Luxus-Resort zum Schein wie eine Sandburg zu einer Düne zerblasen lassen würden …“ Stefanie
hatte sich zwanzig verschiedene Motive ausgedacht.
„Genial.“ Wie ein Prediger breitete Robert die Hände vor dem Bildschirm aus. „Sei jetzt mal ganz
ruhig, ich lasse eine Vision in mir aufsteigen.“ Er kniff die Augen fest zu und wandte sich zum
Fenster.
Stefanie drehte sich mit – und schaute direkt in zwei schwarze glänzende Augen, darunter lächelte
ein männlich sinnlicher Mund und zeigte weiße Zähne. Stefanie hätte diese vollen Lippen am
liebsten sofort geküsst. Und dabei die Arme so eng um die schmale Taille geschlungen, wie es
dort draußen dieser lederne Haltegurt mit den zig Metallösen tat, in denen Halteseile verankert
waren. Daran hielt sich der Mann mit den tiefschwarzen kurzen Locken rechts und links wie bei
einer Schaukel fest. Seine perfekten Sportlerbeine baumelten im Nichts.

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„Es dauert noch, Stefanie“, flüsterte Robert und drehte sich mit geschlossenen Augen vom Fenster
weg, „ich visualisiere alles, das Licht fließt um die Halbmond-Insel, die Palmen, das Luxus-
Resort.“
Erst als der Mann da draußen den Kopf schräg legte und sie anlachte, begriff Stefanie: Dieser
Traummann war echt. Er ließ die Hände an den Seilen los, dann machte er sich blitzschnell klein,
zog die nackten Ellenbogen vor die Brust und kugelte sich nach unten, sein Kopf sackte weg.
Stefanie stürzte zum Fenster. Aber der Mann hatte sich nur in den Halteösen gedreht und in der
Luft einen Purzelbaum gemacht. Er lachte aus vollem Hals. Doch Stefanie hörte keinen Ton, die
Isolierscheiben waren zu dick. Dann streckte er wie ein Zirkusclown mit verdrehten Augen die
Zunge heraus. Das war einerseits so süß wie bei einem kleinen Jungen, andererseits schaute das
gleiche tiefbraune Gesicht jetzt mit einer ehrlichen Begeisterung im Blick, den nur ein
erwachsener Mann haben konnte, der ganz genau wusste, was er wollte. Sie.
Sein Mund lächelte wieder sinnlich. Einfach unkompliziert. Dieser Mann machte sich nicht allzu
lange Komplexe, wenn er eine Frau gut fand. Stefanie konnte nicht mehr anders, sie lächelte
zurück.
„Einen Moment noch, Stefanie, ich sehe den Abend heraufziehen, die Nacht, höre Zikaden zirpen
…“ Roberts Stimme war höher geworden, er stieß die Worte aus, als sei er außer Atem. Dabei
presste er die Finger an die Schläfen, noch immer hielt er die Augen geschlossen.
Draußen spreizte der Mann Daumen und Zeigefinger dieser rauen, staubigen Hand ab, die wohl
den ganzen Tag Seile, Taue und Stangen an der Fassade verankerte. Er wiederholte die Geste,
machte mit gespitztem Mund ein Bitte-Bitte wie ein ungezogener Junge. Und schon in der
nächsten Sekunde war da gar nichts Kindliches mehr, nur noch ein Blick, der jetzt an ihrer Gestalt
bewundernd entlangglitt, über ihr Kostümoberteil, das einen Tick zu eng saß. Telefonieren wollte
er mit ihr, das war klar.
„Sternenlicht rieselt wie Schnee auf das Resort, wir zeigen es auch in einer Schneewehe, paradoxe
Situationen begeistern immer, wie schwarzes Licht …“, murmelte Robert wie in Trance hinter ihr.
Der Mann vor dem Fenster nestelte sein Handy aus einer Brusttasche, während er mit den
Stiefelspitzen gegen die Scheibe balancierte. Gegen ihren Willen bewunderte Stefanie die
muskulösen Oberschenkel. Der Unbekannte hielt sein Handy in die Luft und deute mit den Fingern
der Linken auf die Tasten. Lächelnd zwinkerte er ihr zu. Das war so unverkrampft spontan und
natürlich, dass in Stefanies Kopf das schöne alte Wort Charme widerhallte.
Doch der Klang war nicht gut. Oh ja, das kannte sie. Nett auf den ersten Blick, und dann drehten
die Kerle sich nur um ihre Hobbys. Stefanie schüttelte den Kopf. Sie hatte sich nach dem Desaster
mit dem charmanten Peer geschworen, nie wieder, hörst du Stefanie?, nie-wie-der, eine Affäre mit
einem Sportler oder sonst wie körperlich arbeitenden Mann anzufangen. So gern sie ihre Hände
über feste Six-Pack-Bauchmuskeln gleiten ließ, so gern sie in starken Armen geborgen war, nach
dem Sex musste sie einfach über mehr reden können, als über Training, die Kumpels oder
Basketball. Sie flüsterte stumm dem Mann in den Seilen vor den Fenstern ein „Sorry, no“ zu.
Der hingegen nahm das von ihren rot geschminkten Lippen geformte no ganz anders, als
gehauchten Kuss. Er legte sich in gespielter Rührung die Hand an die Brust, küsste seine
Fingerspitzen und warf ihr die Erwiderung zu.

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„Eine Sekunde noch, Stefanie, dann …“ Roberts Stimme hatte Tiefe und Kraft zurückgewonnen.
Stefanie warf die Stirn in Falten und zeigte mit beiden Daumen hinter sich auf ihren Chef, den
Mann draußen winkte sie mit beiden Händen weg. Sie konnte gar nicht so schnell hinschauen, wie
sich die Muskeln der Arme und Beine spannten, die Seile vor dem Fenster stürzten, schwankten,
wie die ganze Takelage vor den Fenstern verrutschte. Dann berührten die schwarzen Locken auf
der anderen Seite der Scheibe das Glas zu ihren Füßen. Sie sah, wie seine Finger einen Stift
hielten, rasch schrieb er eine Handynummer spiegelverkehrt auf die Scheibe, nur eine Drei falsch
herum.
Das macht der also nicht zum ersten Mal, war Stefanies erster Gedanke, doch dann krachte es
hinter ihr auf dem Tisch. Sie fuhr herum.
Robert strahlte sie an, die großen schmalen Hände auf die Tischplatte gelegt, die Unterarme
aufgestützt. „Wir beteiligen uns am Wettbewerb! Wann müssen wir liefern?“
Das war die Crux. „Übermorgen“, sagte Stefanie leise. Aber ihr Chef fiel nicht aus allen Wolken,
er schimpfte nicht, wie sie es befürchtet hatte. „Dann hat light arts ja alle Zeit der Welt. Freie
Bahn für Stefanie Clarin. Wir stellen sofort ein Team zusammen!“ Robert war schon an der Tür.
Dort drehte der Chef sich um und sah von seinen fast zwei Metern auf sie herab. „Wenn es klappt,
mache ich dich zu meiner persönlichen Assistentin.“ Dann war er draußen.
„Ja!“ Stefanie tanzte einmal um den Tisch herum. Es lohnte sich, etwas zu riskieren. Er hätte sie
ebenso gut rauswerfen können, weil sie ihm nichts davon gesagt und das Büro für die
Vorbereitungen hatte arbeiten lassen. Die Freude darüber, dass light arts in den Wettbewerb
einsteigen würde, spülte ihre leisen Zweifel darüber hinweg, wie Robert das mit dem „persönlich“
gemeint haben könnte.
Draußen leuchteten ein paar weiße Wolken im Blau des Sommerhimmels. In rotem Leuchtstift
glänzte unten an der Scheibe vor dem Lüftungsschlitz im Parkett diese Handynummer.
Stefanie betrachtete die falsch herum geschriebene 3. Auf dem Tisch lag noch ihr Schreibzeug bei
den Unterlagen. Ohne nachzudenken griff sie zu, zog an ihrem Rocksaum, ging in die Knie und
notierte die Handynummer auf den Rand des Ausdrucks ihrer Wettbewerbspräsentation.

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2. KAPITEL

Florian Talhofer wartete im Flur des Amtsgerichts Charlottenburg auf seinen Anwalt. Im Büro
hatte ihm Frau Olgert noch schnell die Mappe mit den Prozessunterlagen zugesteckt. „Was für ein
Papierberg“, stöhnte Florian leise. Seine Gedanken kreisten zwar ständig um diese tolle Frau im
siebzehnten Stock, aber er las jetzt besser ganz genau, was ihm sein Anwalt aufgeschrieben hatte.
Noch einmal durfte er sich vor Gericht von seiner Wut nicht leiten lassen. Aber wie sollte er ruhig
bleiben, wenn ein betrügerischer Kunde ihn mit einem Schadensersatzprozess überzog? Als ob es
an ihm und seinen Männern gelegen hätte, dass die halbe Multimediafassade des Geschäftshauses
in der Friedrichstraße abgestürzt war. Dieses Hightech-Diffusionsglas war extrem schwierig zu
handeln gewesen. Seine Leute hatten sich exakt an die Herstellervorgaben gehalten.
Florian starrte zu den hohen dunkelbraunen Türen im Gerichtsflur. Irgendwie musste er es
schaffen, nachzuweisen, dass jemand an der Fassadenreinigungsmaschine die Schrauben für die
Aufhängung gelockert hatte. Und deshalb die Seilführungen abgesackt waren, die die Multimedia-
Elemente mit in die Tiefe gerissen hatten.
„Die sollen mich kennenlernen“, knurrte er. Die Männer seiner Firma leisteten nie Pfusch, dafür
sorgte er persönlich mit regelmäßigen Schulungen und Kontrollen. Schließlich hatte er nicht nur
Fassadenklettern gelernt, sondern auch seine Lektionen in Unternehmensführung kapiert. Ohne
Verantwortungsgefühl für die Seilschaft war man kein Bergsteiger, und das war Florian mit Leib
und Seele. Er rieb sich das Kinn, das er im Büro noch schnell rasiert hatte, und schaute zum
Sitzungszimmer. Sonst war sein Anwalt pünktlich.
Hätte er vor zweieinhalb Jahren gedacht, dass er einmal in Anzug und Krawatte hier stehen
würde? Florians Leben hatte sich so schnell verändert. Endlich hast du die Kurve gekriegt, wird
mit achtundzwanzig Jahren auch mal Zeit, hatte sein Vater geseufzt. Da hatte Florian seine Firma
Senkrecht & Seil gegründet, allerdings in Berlin und nicht zu Hause am Ammersee. Die Jahre
zuvor hatte sein bayerischer Vater kein Wort darüber verloren, dass er sich jahrelang lieber am
Mittelmeer herumgetrieben und bei den Brüdern seiner türkischen Mutter gejobbt hatte, die dort
eine große Ferienanlage in Side führten. Mutter aber hatte regelmäßig am Telefon gezetert, wie
lange er noch sein Leben verschwenden, sich die Hörner abstoßen und nichts lernen wolle. Hätte
sie damals in der Türkei nicht Courage gezeigt und wäre Stewardess geworden, sie hätte nie
seinen Vater kennengelernt …
Florian lachte leise, die ganze Predigt hatte sie jahrelang wiederholt, irgendwann sogar mit
bayerischem Akzent. Aber jetzt war Mutter einfach nur stolz, dass er schon fünf Männer fest und
eine Anzahl projektweise beschäftigte. Falls er nicht bald durch diesen miesen Betrüger in die
Pleite getrieben wurde, allein die Verteidigung ruinierte ihn ja schon fast.
Im Gerichtsflur quietschte ein Aktenwagen. Florian klappte die Mappe zu, wozu bezahlte er einen
Anwalt. Er konnte sich sowieso auf nichts mehr richtig konzentrieren, seit er dort im siebzehnten
Stock diese Frau arbeiten gesehen hatte. Ihre rotbraunen Haare hatten seinen Blick magisch
angezogen, dazu ihre lässige Art, mit den Armen die Fernbedienung auf diesen seltsamen
Riesenbildschirm hin auszustrecken. Der Stoff ihres schicken Kostüms hatte sich über ihre
wunderbar gerundeten Hüften gespannt, ihre Brüste hatte sie unwillkürlich vorgestreckt – und

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nichts dabei wirkte irgendwie berechnet.
Florian fühlte wieder dieses seltsame Kribbeln im Bauch, als hätte er ewig nichts gegessen.
Wovon gar keine Rede sein konnte bei der zünftigen Brotzeit, die er mit seinen Leuten auf dem
Dach des Büroturms eingelegt hatte. Klettern machte hungrig. Er hatte es einfach nicht lassen
können, diese schmale Gestalt zu bewundern, die sich so selbstbewusst durch den Raum bewegte
und diesen nervösen Riesen von Chef domptierte wie einen Seelöwen. Dabei predigte Florian
seinen Leuten, dass man so etwas als seriöser Fassadenkletterer niemals tat: in die Räume von
außen hineinspannen. Aber ihre Anziehungskraft war stärker gewesen, er hatte nicht einmal an
seine Prinzipien gedacht.
Und dann hatte sie sich umgedreht. Als er diese hellblauen Augen und dieses kleine Muttermal
unter dem linken Ohrläppchen gesehen hatte, hätte er am liebsten die Scheibe abgeschraubt und
die Frau unter den Arm geklemmt und mitgenommen wie King-Kong.
Richter gingen vorbei, ein Bürodiener fuhr einen Aktenwagen den Flur entlang. Sonst war es still.
Wie ein Affe in den Seilen vor dem Fenster war er herumgeturnt, damit sie auf ihn aufmerksam
geworden war. Was sollte sie nun von ihm denken, außer dass er sich idiotisch wie ein
Fünfzehnjähriger benahm? Seine Handynummer an die Scheibe zu kritzeln, wie peinlich. Diese
Business-Frau rief ihn bestimmt nicht an. Aber so war es schon immer gewesen, schon in der
Schule, später in den heißen Partyzeiten am Mittelmeerstrand. Solange ihn die Frauen nicht
wirklich interessierten, war er cool und wusste immer im richtigen Moment das Richtige zu sagen.
Auch wenn er viel öfter freundlich und nett Nein gesagt hatte, als ihm alle unterstellten.
Insgeheim war er wohl so romantisch wie der Dichter Salahattin Batu.
Florians Blick verlor sich im Flurfenster. Was sollte er machen? Wenn er eine Frau wirklich gut
fand, wenn dieses Kribbeln nicht mehr aus dem Bauch verschwand und sich allein schon beim
ersten Gedanken gefährlich weit in seinem Leib nach unten verbreitete, dann fiel ihm nichts ein,
als vor lauter Nervosität den Clown zu geben. Irgendwo musste die entfachte Energie hin, er
konnte einfach nicht mehr still sitzen.
Sein Handy vibrierte. Florian holte es aus der Innentasche seines Sakkos. Das Display zeigte
keinen Namen an. „Florian Talhofer, Senkrecht & Seil, guten Tag.“

Die dunkle, klare Stimme überraschte sie, so geschäftsmäßig kühl klang es. „Oh, Entschuldigung,
bin ich da bei einer Firma gelandet?“ Stefanie hatte eigentlich noch die Videos für die neue light
arts
DVD checken wollen, die es in Zukunft regelmäßig geben sollte. Eigentlich. Aber dann hatte
sie doch nicht das Blatt mit der Handynummer weggeworfen, auch wenn sie es schon über dem
Papierkorb hatte schweben lassen, sondern spontan die Nummer getippt. Jetzt antwortete ihr
Schweigen. Dann hörte sie rau: „Ja, sicher.“
„Ich wollte eigentlich jemanden sprechen, der mir seine Handynummer …“, Stefanie wurde
plötzlich klar, dass es sehr seltsam klingen musste, wenn sie jemanden Wildfremdes in der
Leitung hätte, „hinterlassen hat.“
„Das … das ist schon richtig. Sie sprechen mit mir.“
So distanziert, auf einmal? Stefanie runzelte die Stirn, dann war es ihr auf einmal klar.
Wahrscheinlich war er nicht allein.
„Schön, dass Sie anrufen“, sagte er plötzlich.

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Die dunkle Stimme schien sich um zwanzig, dreißig Grad erwärmt zu haben, Stefanie wurde heiß,
sie spürte, wie dieser Klang in ihr nachschauerte. „Ihre …“ Sie musste schnell etwas sagen. „Ich
habe wirklich geglaubt, Sie stürzen ab.“ Es war ewig her, dass sie einen Mann einfach so anrief.
Na ja, so lange nun auch wieder nicht. „Ich fand das wirklich lustig.“
„I…ich bin übrigens Florian.“
Warum bekamen die sportlichen Männer bloß nie den Mund auf? Sie hätte beinahe geseufzt.
„Mein Name ist Stefanie. Es war doch nicht wirklich gefährlich?“
„Oh. Nein, nein. Ich … ich habe das schon gelernt, weißt du. Das ist … ist wie Bergsteigen. Nicht
schwer.“
Sie musste lachen. Die Jungs konnten sich nie vorstellen, dass nicht jeder hundert Kilo stemmen
konnte. „Ich würde nicht so leicht an unserem Hochhaus hochklettern können.“
„Wenn ich dich ins Schlepptau nehme, schon.“
Einen Moment fühlte Stefanie, wie sie in den Armen Florians, die sie so bewundert hatte, draußen
vor ihrem eigenen Bürofenster hing. Dann irritierten sie die Worte doch, schleppen oder gar
abschleppen wollte sie sich von keinem lassen. „Aha“, sagte sie bloß.
„Das heißt bei uns Fassadenkletterern wirklich so.“
Jetzt hatte er es auch noch gemerkt. „Soso. Ihr habt wohl eure Geheimsprache.“ Irgendwie mochte
sie seinen süddeutschen Akzent und den Gänsehaut-Effekt seiner Stimme. Der jedes Mal neu
einsetzte, wenn sie ehrlich war.
„Ich … ich würde dich gern ohne Scheibe sehen, also ich meine, ohne Trennscheibe, also nicht im
siebzehnten Stock“, verhaspelte er sich. Sein Lachen war wieder ein bisschen jungenhaft und ein
bisschen zu dunkel, als ob er nicht doch genau wüsste, dass er flirtete. „Dein Job da im Büro ist
sicher anstrengend, aber heute ist ja Freitag und wenn du Lust hättest …“ Etwas klang durch den
Hörer, als ob er ein Lachen oder Glucksen verschluckt hätte. „Weißt du, Fassadenklettern macht
hungrig, und ich esse nicht gern allein. Vielleicht um acht Uhr?“
Da war sie frühestens mit den DVD-Videos durch. Und gleich essen gehen war irgendwie einen
Tick zu viel für einen Mann, der wohl wirklich die Zähne nicht zum Reden auseinanderbrachte.
Beim Gedanken an Florians sinnlichen Mund stand Stefanie vom Stuhl auf. „Lieber um zehn.
Kennst du die Bar Breitwandklang im Friedrichshain? Simon-Dach-Straße. Sie spielen meist
electronic lounge. Manchmal ist dort auch After-Work-Party.“ Vielleicht mochte er diese Musik
nicht, aber der Laden war so stylish, dass sie sich dort trotzdem immer wohlfühlen konnte. „Bist
du noch dran?“
„Klar. Ich probiere gern mal was Neues.“
War das etwa anzüglich gemeint, oder hatte er wirklich noch nie gechillt? Vor ihrer Bürotür
kamen Stimmen näher, der Tenor ihres Chefs hörte sich genauso an, als dass er jeden Moment zur
Tür hereinplatzte. „Also dann um zehn im Breitwandklang.“ Stefanie legte auf.
Robert klopfte einmal, bevor er die Tür schon ganz weit aufriss. „Wirf das Konzept für Abu Faira
weg.“ Ihr Chef lief gleich bis zur Multimediaanlage und schob den Stapel DVDs zur Seite.
Stefanie starrte ihn an. „Heißt das, wir machen den Wettbewerb nicht?“ Ihre Knie wurden weich,
sie musste sich setzen.
Robert rückte die blaue Sonnenbrille zurecht, die er immer trug. „Wie kommst du darauf? Nein.

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Wir machen es nur richtig. Das heißt, das ganze Team fängt noch einmal von vorne an.“ Ihr Chef
stand schon wieder an der Tür. „Du cancelst alle Termine für heute, dann kommst du rüber in den
Creativ-Raum. Wir versetzen uns in Trance und visualisieren gemeinsam unter dem Claim: Fata
Morgana reloaded.“ Siegesgewiss klatschte er in die Hände. „Auf geht‘s! Worauf wartest du?“
Stefanie griff zum Hörer. So ganz fair fand sie es nicht, dass alle ihre schönen Ideen aus dem
Konzept erst einmal wieder gestrichen waren. Wenn es irgendwie ging, würde sie um zehn im
Breitwandklang sitzen. Die Welt bestand ja nicht nur aus light arts und Roberts Designer-Launen.

Herrjeh, fiel ihm denn nichts als dieses Gestammel ein! Da rief ihn diese absolute Traumfrau
wirklich an, und er brachte es nicht einmal fertig, sich für das Geglotze zu entschuldigen. Florian
starrte auf sein Handy, als wisse es die Antwort. Er aktivierte schnell die Funktion für Eingehende
Nummern speichern.
Im Flur des Amtsgerichts ging hinter ihm eine der dunklen Holztüren auf. Florian drehte sich um,
in schwarzer Robe rauschte ein Anwalt heraus. Einen Kopf kleiner als er selbst und fülliger. Die
blonden Haare akkurat geschnitten, aber die Visage erinnerte ihn an einen Türsteher, der sich
schlecht getarnt hatte. Der hatte ihm noch gefehlt: Thorsten Wrede, der Anwalt seines Gegners.
Wrede blieb mitten im Schwung stehen, sodass die Robe sich um seine Beine herumwickelte.
„Sieh an, wen haben wir denn da? Den Talhofer Florian, der glaubt, er und sein Winkeladvokat
von Landsmann kommen mit ihren drittklassigen Gegengutachten bei Gericht durch.“
Florians Wut fiel in sich zusammen, das war unter der Gürtellinie. In ihm stieg die kalte
Verachtung auf. Schon der Vater seines Cousins war in Berlin-Kreuzberg geboren und Cangür war
ein verdammt guter Anwalt. „Nicht in diesem Ton, Herr Wrede.“
Thorsten rieb sich über die dicken blonden Brauen. „Wer wird hier denn humorlos sein.“ Er trat
nahe an ihn heran. „Euch werde ich in der Luft zerpflücken.“ Die grünen Augen musterten ihn,
zwischen den Zähnen presste er hervor: „Meine Erfolgsquote macht ihr mit euren kleinen Tricks
nicht kaputt. Euren Gegengutachter kaufe ich mir, verlassen Sie sich darauf. Herr Talhofer.“
Wrede wandte sich ab und ließ ihn stehen.
Florian wunderte es kaum, dass sich sein betrügerischer Prozessgegner den eitelsten Jungstar von
Anwalt Berlins leistete. So einer passte zu dieser Immobilienmafia.
Drei Türen weiter blieb Thorsten Wrede stehen, er zwinkerte Florian zu wie einem kleinen Jungen
und rief: „Bevor Sie noch länger auf Ihren Anwalt warten … Die Verhandlung ist vertagt worden.
Dafür habe ich heute früh gesorgt.“ Mit einem höhnischen Grinsen auf dem Gesicht bog er um die
Ecke.
Florian hieb mit der Hand gegen die Wand des Flurs. Was war denn da wieder schiefgegangen?
Nur Ärger, eine Menge unangenehmer Dinge auf verschiedenen Baustellen warteten auch noch auf
ihn. Wenigstens würde er am Ende dieses furchtbaren Tages eine schöne Frau treffen. Und der
Gedanke machte alles andere auf einmal erträglich.

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3. KAPITEL

Das Scherblatt seines Rasierapparats war stumpf. Florian fluchte, während er sich mit der Hand
über die widerspenstigen Stoppeln am Hals fuhr und sich über sein Spiegelbild ärgerte. Auf eine
Nassrasur hatte er lieber verzichtet, bei seinem Dussel heute würde er sich nur dreimal in die Haut
schneiden. Nichts klappte wie sonst. Nach dem ausgefallenen Gerichtstermin hatte es an vier
seiner Fassadenprojekte, die ausgerechnet noch an den jeweils entgegengesetzten Enden Berlins
lagen, richtig Stress gegeben. Mussten denn die Werbebanner alle gleichzeitig reißen? Und dann
nervte auch noch eine Kontrolle durch die Gewerbeaufsicht.
Florian schob die Gedanken an sein Unternehmen energisch weg – jetzt war Feierabend. Er rieb
sich Rasiercreme über das Kinn und stellte dabei fest, wie überarbeitet er aussah. Plötzlich
lächelte er sich im Spiegel zu. Dann konnte es doch im Laufe des Abends nur besser werden.
Schließlich war er Optimist, hatte ein Date mit Stefanie, worüber beschwerte er sich eigentlich? Je
mehr er sich ihre Gestalt vorstellte, desto mehr verschwanden seine Sorgen. Und desto mehr
spürte er, dass er von dieser Frau alles wissen wollte: wie sie aussah, wenn sie ihr Businesskostüm
gegen Badeschaum tauschte, wie sie aussah, wenn sie aus einem Traum neben ihm aufwachte, was
sie sagen würde, wenn sie die Vögel im Baum vor seinem Balkon singen hörte. Florian blickte
sich in einer Weise mit zusammengezogenen Augenbrauen an, wie wenn er – als ausnahmsweise
mal strenger Chef – einen Angestellten zusammenstauchte: Nix ist mit Frühstück zu Hause, dein
Kühlschrank ist leer wie deine Birne, Junge.
Die Badezimmertür zum Flur stand offen. Was war das für ein Geräusch? Ein Schlüssel, der sich
im Schloss drehte. Florian legte den Rasierer an den Beckenrand. Das fehlte noch, dass seine Ex
jetzt auflief! Dabei hatte sie noch letztes Jahr behauptet, den Zweitschlüssel vor Wut in die Spree
geworfen zu haben. Aber das passte zu ihr. Florian griff zum Badetuch und wand es sich um die
Hüften.
„Ich komme ja schon“, er riss die Tür auf. Davor stand allerdings Nicole. Und vor, neben, hinter
ihr allerlei Vuitton-Koffer und Beauty-cases. Florian blieb die Luft weg. „Du?“, flüsterte er.
Seine Schwester schob ihn einfach zurück in seine Wohnung. Eigentlich war sie seine
Halbschwester, die endlosen Beine verdankte sie ihrer Mutter, die genau wie sie vom Typ her die
klassische Hamburgerin war. Sie war sogar einen Kopf größer als er, hatte ihr feines blondes Haar
raffiniert aufgesteckt und hatte die grüngrauen Augen ihrer Mutter, der ersten Frau seines Vaters.
„Ich brauche deine Hilfe“, sagte sie gehetzt.
Nicole war nur zwei Jahre älter als Florian – so ungleich sie als Geschwister äußerlich waren,
hatten sie immer zusammengehalten, wenn die ganze Familie mal wieder einer Versetzung ihres
Offiziersvaters quer durch die Republik hinterhergezogen war. Florian straffte sich. „Woher hast
du meinen Schlüssel?“
„Von dir. Schon vergessen? Falls du deinen mal verlierst, hast du gesagt.“ Nicole zuckte die
Schulter und lief vor ihm hin und her. „Anyway, Florian, du musst mich sofort zum Flughafen
Tegel bringen. Mein Auto ist kaputt.“
Sie war doch sonst bei Stress nicht so fahrig, wunderte er sich. Das war sie eigentlich nur, wenn
sie frisch verliebt war.

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„Nimm doch schnell ein Taxi! Bist du nicht immer die Praktische von uns beiden?“ Das war
Nicole wirklich. Sie hatte Jura studiert, aber schon während des Studiums mit Modeln gut Geld
verdient. Inzwischen betrieb sie in Hamburg eine People-Agentur für High-Class-Events. Für das
Business hatte sie sich sogar hart den bayerischen Akzent für Hochdeutsch abtrainiert und klang
inzwischen eher hanseatisch.
„Schlaumeier. In ein Taxi kriege ich einfach nicht die ganzen Koffer rein.“ Sie wies mit dem Arm
vor die Tür. „Darin tarne ich den versicherten Schmuck. Ich habe die Accessoires für meine
Models dabei. Vierzehn hat die Cashmir-Society für ihre Jahrespräsentation der neuen Stoffe in
London gebucht. Und ich muss diesen Flieger in Tegel kriegen. Ehrlich. Und zwar ziemlich bald.“
Sie lächelte ihn flehentlich an, es war ihr ernst.
Florian griff an der Garderobe in seine Lederjacke. „Hier hast du meinen Autoschlüssel. Lass den
Wagen einfach in Tegel in der Tiefgarage stehen und schicke mir eine SMS, wo er steht.“ Er hielt
ihr das Ledermäppchen hin. „Ich habe einen wichtigen Termin.“ Den er mit der U-Bahn gerade
noch schaffen konnte.
„Bruderherz, du bist ein toller Manager.“ Nicole streckte ihr langes Bein aus. Sie war schon ganz
in Businessblau gehüllt. „Und wer hilft mir tragen?“ Sie hob die Augenbraue.
Sie hatte recht. „Okay, geschlagen. Ich ziehe mir was an.“ Florian lief ins Schlafzimmer. Er stand
zwischen seinen Klamotten, vor dem Schrank hatte er die Django-Stiefel abgestellt, aufs Futon die
Variante Jeans und Edel-Shirt geworfen und vor dem Mediaboard alle sauberen Hemden
aufgeschichtet, falls er doch lieber die hellen Army-Hosen anziehen wollte.
Hinter ihm pfiff Nicole leise durch die Zähne, sie konnte unheimlich burschikos sein, wenn sie
wollte. „Du suchst einen neuen Look?“
„Was?“ Florian schnappte sich einen Slip aus der Schublade im Schrank. Er ließ das Badetuch
fallen und drehte sich weg. Im Spiegel sah er, wie Nicole auf ihre Armbanduhr schaute. Dann griff
er sich die Jeans.
„Nimm das weiße Hemd mit dem eingewebten Damastmuster.“ Nicole hatte es mit gezieltem
Griff aus dem Stapel gezogen. „Die Frauen mögen dich weicher, als du denkst.“
„Wie kommst du denn darauf?“ Er merkte, dass er mit offenem Mund dastand.
Sie wies auf die Klamotten im Schlafzimmer. „Du hast dir immer nur dann Gedanken über dein
Outfit gemacht, wenn eine Frau im Spiel war. Früher hast du mich sogar um Rat gefragt.
Verdrängt?“ Sie hielt ihm das Hemd hin. „Zieh es an und beeile dich.“
Das ersparte ihm die Antwort. Das würde verdammt knapp. Keine Frau konnte es leiden, wenn
man sie warten ließ, schon gar nicht beim ersten Date. Florian schnappte sich die Hose. „Auffi
geht‘s!“ Er steckte noch rasch die Kreditkarten und den Führerschein ein.
Nicole war schon an der Treppe. „Nimm die großen Taschen, sonst kriege ich noch so ein breites
Kreuz wie du.“

Sein Ferrari war wendig. Florian tat, was er sonst nie tat und überholte auf den Stadtstraßen in der
zweiten Spur, riskierte drei Ampeln bei ziemlich rotem Gelb. „Wir fahren auf Schleichwegen nach
Tegel. Um die Zeit ist auf der Stadtautobahn nur Stau.“ Schließlich war er oft genug unterwegs
zwischen den Fassaden, die er mit seinen Leuten gestaltete.
„Es wird knapp.“ Nicole kontrollierte zum x-ten Mal die Zeit auf ihrer schmalen Armbanduhr.

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„Aber safety first, das hat uns Mutter eingetrichtert.“ Sie lachten sich an.
„Ayay, Talhofer Airways ready for take off!“ Ihre Mutter würde das ganze Leben die
Chefstewardess der Familie bleiben. Florian gab Gas und schaffte die nächste Ampel.
Nicole sah ihn von der Seite an. „Wie läuft‘s im Geschäft?“
„Könnte besser sein, der Prozess nervt.“
„Die ziehen noch alle Register gegen dich, fürchte ich.“ Nicole seufzte. „Aufträge heranzukriegen
ist wirklich nicht leicht. Mir geht es ja nicht anders.“ Sie rieb mit dem Finger über die Lippen.
„Übrigens, auf der Cashmere-Messe in London tummeln sich jede Menge interessante
Geschäftsleute aus aller Welt. Vielleicht kann ich einen Kontakt für dich machen. Hast du immer
noch eine Firmenpräsentation von dir im Handschuhfach?“
Florian stutzte. Wenn sie so konkret fragte, hatte sie doch jemand Bestimmtes im Auge. So
strukturiert und vorausschauend, wie Nicole arbeitete, sagte sie doch so etwas nicht umsonst. Aber
er konnte jede Hilfe brauchen. „Nimm dir einfach eine.“
Nicole blätterte schon darin. „Toll, was du alles machst. Jedes Jahr werden deine Projekte größer.
Weißt du noch, wie Papa mit großen Augen gefragt hat: Florian wird Fensterputzer? Das passt gar
nicht zu unserem Jungen.“
Aber stolz auf seine Firmengründung waren die Eltern doch gewesen und wohl auch ein bisschen
erleichtert. „Inzwischen haben er und Mama endlich begriffen, dass ich Fassaden gestalte.“
„Die Fotos sind übrigens toll!“, sagte Nicole und blätterte weiter.
„Senkrecht & Seil war von Anfang an als Experte für Fassadengestaltung gedacht, und nicht
einfach als Servicefirma für Pflege oder Reparatur. In Berlin hievt dir außer mir keiner so schnell
ein bewegliches Riesenplakat über die ganze Fläche eines Hochhauses. Und seit wir die variablen
Multimediapanels installieren, bediene ich sogar eine Marktlücke. Du glaubst nicht, was man
heute alles machen kann. In zehn Jahren sind die Skylines optisch wie Kino.“ Florian schaltete
hoch. „Aber vorher werde ich wie im Film in die Tiefgarage unter dem Flughafen rasen, du
springst sofort raus und läufst zum Check-in. Welches Gate hast du?“ Er bog von der Zufahrt zum
Flughafen Tegel ins Parkhaus ab.
„11 B“, Nicole steckte die Mappe in ihre Umhängetasche. „Du kannst direkt darunter parken.“
„Immer perfekt organisiert“, Florian schüttelte schmunzelnd den Kopf.
„Sonst kannst du keine Horde Models um die Welt schicken.“
Florian musterte die Hinweistafeln, 11 war gleich da vorne. Er bremste scharf und nahm den
erstbesten Parkplatz.
Kaum hatte er Nicole das letzte Gepäckstück an den Check-in geschleppt, war er wieder
losgerannt. Er hatte noch 29 Minuten bis Friedrichshain, inklusive Parkplatzsuche. Seine
Gedanken kreisten nur noch um den kürzesten Weg zum Breitwandklang. Für Stefanie würde er
sogar drei Punkte in Flensburg riskieren und in zweiter Reihe parken.

Stefanie saß tief in dem roten Plüschsessel, beinahe wäre sie hinter ihren Knien versunken. In der
oliv gestrichenen Lounge perlte irgendein lateinamerikanischer Rhythmus wie in einem B-Picture
aus den Sixties. Stefanie seufzte, tat das gut, mal wieder auszugehen. Sie hatte einfach den Virgin-
Hauscocktail geordert, sonst kippte sie vom Alkohol gleich um. Ihr Chef Robert hatte den letzten

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Tropfen Kreativität aus ihrem Team gepresst, Stefanie schwirrte noch jetzt der Kopf. Sie sog an
dem Strohhalm und genoss die köstliche Verbindung aus Kokosmilch mit Mangosaft.
Als sie das Glas auf den niedrigen Tisch vor sich stellte, stand Florian plötzlich an der Tür und
suchte mit den Augen die Lounge ab, allerdings in der falschen Ecke. Stefanie spürte, wie ihr Herz
hüpfte. Das weiße Hemd stand offen, betonte den kräftigen Oberkörper und war einfach der ideale
Kontrast zu den schwarzen kurzen Locken. War er jünger, als Stefanie gedacht hatte? Doch erst
Anfang dreißig, das war nur der Effekt der Arbeitsklamotten gewesen. Jetzt hatte er sie gesehen.
Stefanie hob die Hand und winkte.
„Es tut mir leid, aber … Ich habe keinen Parkplatz gefunden. Wartest du schon lange?“ Er blickte
auf sie herunter.
Stefanie bemerkte ein paar dunkle Haare auf seiner Brust. Es durchrieselte sie angenehm
prickelnd. Auch wenn die meisten ihrer Freundinnen das nicht so toll fanden, sie mochte ein
bisschen Pelz – verriet es aber nie. „Ich habe es auch nur ganz knapp geschafft.“ Sie war direkt
von light arts mit dem Taxi gekommen. „Willst du dich nicht setzen?“
Kaum fiel er neben sie in den Plüsch, verlor sich sein gehetzter Blick und wurde weich. Langsam
stahl sich dieses sinnliche Lächeln auf seine Lippen. Sie sah, wie er schluckte.
„Ich … ach, reden wir lieber von dir. Was ich mache, hast du ja gesehen.“ Er winkte dem Service.
„Dasselbe wie sie“, sagte er und deutete auf den Virgin-Cocktail. „War das dein Chef?“
Stefanie entging der Schatten Unsicherheit in seinen Augen nicht.

Stefanie hatte ihm erklärt, wie Robert Licht inszenierte, wo überall in Berlin light arts Lichtregie
führte. Sie merkte, wie Florians Blick sie langsam aufsog, aber in den dunklen Augen
verschwamm die Iris mit der Pupille zu einem geheimnisvollen Schwarz, das sie immer weiter
anzog. Und sie redete und redete, damit er gar nicht aufhörte, sie so anzusehen. Irgendwie
rutschten sie in diesem Plüschpolster langsam, aber sicher aufeinander zu. Florians Hände waren
schon auf das hohe Polster hinter ihnen gewandert, sein Knie zeigte eine fatale Schwerkraft und
berührte fast schon ihres. Rasch beugte Stefanie sich vor und griff zum Cocktail. Wenn Florian
jetzt noch den Männer-Spontaneitätstest bestand, den sie und ihre beste Freundin Xian-Li
ausgeheckt hatten, dann … „Ehrlich gesagt, ich sterbe vor Hunger. Ich bin erst um neun aus dem
Büro gekommen.“
„Du kannst Gedanken lesen.“ Er winkte schon dem Service und legte einen Schein auf den Tisch.
„Wohin darf ich dich einladen? Tapas, indisch oder magst du lieber Knödel vom Österreicher?“
Stefanie nahm ihre kleine Handtasche und sagte so beiläufig wie möglich: „Lieber zu einem
Dinner in the dark.“
Er war überrascht. „Was ist das? Eine paradoxe Lichtidee von euch?“ Florian streckte seine Hand
aus, damit sie leichter aus dem Polster aufstehen konnte.
Was Stefanie insgeheim befürchtet hatte, geschah. Kaum fasste sie nach seiner Hand, kaum spürte
sie diese rauen, harten, aber so zart fassenden Hände, blieb ihr die Luft weg. Ihre Finger schienen
aufzuglühen, ein Energiestrahl schoss über ihren Arm in ihren Körper und verebbte einfach nicht.
Mit Mühe rang sie sich eine Antwort ab: „Das gibt‘s in einem Lokal, in dem Blinde servieren.
Man sitzt im Dunkeln während des ganzen Essens.“
Florian war der erste Mann, der einfach vergnügt lachte. „Als Kind habe ich im dunklen Keller

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gepfiffen. Jetzt hätte ich nur Angst, aus Versehen von deinem Teller zu essen. Nehmen wir meinen
Wagen?“
Das war die beste Antwort, die Stefanie je auf diesen Testvorschlag eingeheimst hatte.

So rabenschwarz es in dem Blinden-Restaurant auch war, Stefanie hätte schwören können, dass sie
den Blick aus Florians Augen nicht nur spürte, sondern wirklich sah. Sie hatten Glück gehabt, dass
dort die Küche so spät noch geöffnet war. Deshalb war es kein Problem, zwei Plätze zu
bekommen. Natürlich saßen sie sich gegenüber. Die Minestrone vorweg hatten sie schon
gemeistert. Nun ging es an die Pasta – Tagliatelle mit Pilzsauce. In der Dunkelheit flüsterten alle
Gäste instinktiv miteinander. Und Florians fast basstiefe Stimme brachte ein lange vermisstes
Gefühl zurück. Diese herrliche Nervosität, bis sie sich endlich traute, ihre Füße unter dem Tisch
ein bisschen weiter nach vorne zu schieben. Und prompt stieß sie an seine. Er zog sie nicht weg.
Sie fragte schnell: „Und du kletterst jeden Tag an Hochhäusern hinauf, auch im Winter?“
„Schön wäre es.“ Florians Knie stieß an ihres. Jetzt zog sie nicht weg. „Die meiste Zeit sitze ich
im Büro und plane“, sagte er. „Genau genommen mache ich sogar …“
Stefanie genoss es, im Dunkeln zu sitzen, weil Florian nicht sehen konnte, dass sie sich auf die
Unterlippe biss. Sie musste nicht einmal die Augen schließen, sie ließ sich ganz fallen und genoss
die Energie, die von seinem Körper ausging, weil nun auch ihre Waden sich gefunden hatten. Sie
hörte nicht zu, sondern gab sich dieser Vibration der tiefen Stimme hin, die etwas in ihr zum
Schwingen brachte, sich mit der Wärme verband. Es war einfach so schön, wieder einen Mann zu
spüren.
„… so sieht mein Alltag aus, Stefanie. Fassadenmanagement braucht viel mehr Vorbereitung, als
es aussieht …“
Stefanie hätte sich nicht getraut, es Xian-Li zu erzählen. Aber im Moment war sie ganz froh, dass
Florian mit ihr nicht über etwas Kompliziertes diskutierte, sondern einfach von seinen Hobbys
plauderte.
„… bin schwindelfrei, und dann habe ich mal eine Bergtour in den Dolomiten gemacht …“
Stefan wollte einfach nur in dieser Stimme baden, sie konnte sie am ganzen Körper spüren, sie gab
ihr neue Energie, und hätte nicht der Tisch sie beide getrennt, sie wäre einfach auf seinen Schoß
gerutscht und hätte ihn ganz girlie-mäßig geküsst. Jetzt.
„Ihre Pasta. Vorsicht, heiß.“ Stefanie riss die Augen auf – und sah natürlich nichts.

Und dann hatte er einfach gesagt: „Lass uns spazieren gehen, ich mag die Lichter der Großstadt.“
Sie waren durch Berlin-Mitte gelaufen, untergehakt, hatten vor Schaufenstern gestanden und sich
erzählt, ob sie Notizbücher mochten, oder Jacken mit Pelzrand, oder grüne Streifen an gelben
Turnschuhen. Vor dem Lucky S. hatten sie die Traube der Raucher umrundet, die vor dem Club
stand.
Irgendwann hatten Stefanies Füße sie beide bis an den Wasserturm gelenkt, in dessen Nähe sie
wohnte. Und es hatte sich ganz natürlich angefühlt, dass sie einfach vor dem Haus die Tür
aufgeschlossen hatte, so als ob sie das schon hundert Mal zusammen gemacht hätten. Jetzt um
halb fünf stand er in der lauen Sommernacht draußen auf ihrem Balkon.
„Man sieht den Funkturm am Alexanderplatz.“ Stefanie nahm einen Schluck des Caffè latte, den

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sie gemacht hatte. Sie wollte wach sein, ganz wach.
„Der Ausblick ist wunderbar.“ Florian lehnte mit der Hüfte am Geländer und drehte sich zu ihr
um. „Du bist wunderbar.“
Er nahm ihr das leere Glas aus der Hand, kniete und stellte es einfach auf den Boden. Dann glitten
seine Hände an ihren Beinen, an ihrer Silhouette entlang, seine Arme verschränkten sich langsam
hinter ihrem Rücken. Er zog sie an sich.
Wie ein Baum, so fest stand er da. Stefanie schmiegte sich an seine Brust, der Stoff seines weißen
Hemdes kitzelte sie leicht an den Fingerspitzen. Er strich ihr über den Rücken mit einer Sanftheit,
als sei sie zerbrechlicher als Glas. Stefanie hob den Kopf, sein dunkler Blick versprach mit einem
geheimnisvollen Glanz, dass er sie niemals verletzen, sondern schützen würde. Sein sinnlicher
Mund war zu schön, um ihn nicht zu küssen. Sie spürte einen Energieimpuls tief im Innern, der sie
leicht werden ließ, leicht wie ein Blütenblatt im Wind. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen.
Seine Lippen waren warm und so anders als jemals zuvor. Fest, männlich und doch unerwartet
weich. Zärtlich berührten sich ihre Zungenspitzen, der Baum hielt und wiegte sie. Florian wandte
den Kopf auf die andere Seite, genau in dem Moment, als sie es sich wünschte. Seine weißen
Zähne glänzten einen Moment auf wie ein magischer Schein. Sie hatte immer von einem Mann
geträumt, der sie hielt und ihr doch die Luft zum Atmen ließ. Der schön war und doch ein Mann
mit Kraft. Wieder küssten sie sich lange. Eine Strähne rutschte ihr ins Gesicht, sanft schoben sie
seine rauen Finger, die fester waren, als sie sie sich vorgestellt hatte, von ihrer Wange. Ein
warmes Strömen, das sie eben noch vage in ihren Gliedern gespürt hatte, verstärkte sich,
beschleunigte sich. Wieder drehte sie den Kopf, streifte seine Wange, spürte ein paar
Bartstoppeln, etwas in ihr wunderte sich, wie weich diese waren, gar nicht kratzig, ob es wohl an
seinen Vorfahren lag, die …
Der Gedanke wurde vom heißen Strömen weggespült. Seine Zungenspitze spielte wieder mit ihrer,
und Stefanie ließ sich mit Wonne in den Strudel fallen, der immer schneller ihren Leib erfasste.
Florian zuckte zusammen. Etwas in seiner Hose vibrierte. Stefanie machte sich frei und schaute
verdutzt auf seinen Gürtel. Nicht an der Stelle, die sie vorher genau gespürt hatte, daneben
vibrierte dort sichtbar etwas anderes.
Mist!“, fluchte Florian. Er zog einen Palmcomputer aus der linken Jeanstasche und starrte aufs
Display. „Ausgerechnet jetzt!“
Hektisch drückte er eine Taste. Eine Computerstimme plärrte: „Sie haben einen Level 4 Alarm in
Projekt 2.“
Florian hatte schon halb ausgeholt, als wollte er das Ding auf dem Balkon zerschmettern.
„Verdammt noch mal!“ Er steckte das Ding zurück und wischte sich über die Stirn.
Stefanie erschrak fast vor den Sorgenfalten auf Florians Stirn. „Und was heißt das jetzt?“
„Dass es dort wahrscheinlich brennt. Wir haben an einem Schwimmbad ein spezielles
Gummimaterial eingesetzt … Oder ein Arbeitsunfall, oder die Hauptseile des Cross-Care-Switch
sind gerissen. Ich muss sofort los.“
„Ja, also.“ Stefanie verstand nur die Hälfte. „Wenn es ein Notfall ist …“
Er nahm ihre Hände und küsste ihre Finger. „Ist es. Ich melde mich, sobald ich kann.“ Beinahe
hätte er die leeren Latte-Gläser umgestoßen, bevor er durch die Balkontür in ihre schwach

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erleuchtete Wohnung sprang.
„Ich bin nachher im Büro …“, rief Stefanie, aber da war er schon weg. Sie hörte ihre Wohnungstür
ins Schloss fallen. Sie kam erst richtig zu sich, als ihr die ersten Tränen auf die Hand tropften.

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4. KAPITEL

Am liebsten hätte Florian vor Wut das Netz aus Tauen von der Übungswand im Materiallager
gerissen. „Verdammt noch mal, aber irgendwer muss doch den Fehlalarm ausgelöst haben!“ Seine
Leute waren eben zur Frühschicht in seiner Firma am Columbiadamm eingetroffen und packten
die Werkzeugkisten und Teile zusammen.
In der vergangenen Nacht war Florian wie ein Wahnsinniger durch die leeren Straßen in den
Außenbezirk Marzahn gerast, wo seine Leute eine bewegliche Riesenseeschlange für das
Kinderfest rund um das Freibad aufgebaut hatten. Er war auf das Gelände gestürmt und hatte den
Wachschutz in der Pförtnerloge bei einer DVD voller barbusiger Ladies gestört. „Alarm bei der
Seeschlange? Nö, war nüscht, wieso?“, hatte der Security-Typ mit großen Augen gemurmelt und
den Bildschirm schnell weggedreht.
„Wer von euch war zuletzt draußen in Marzahn?“, fragte Florian scharf. Seine Höhenarbeiter Jasir
und Paolo starrten nur auf die Stiefel und warteten ergeben auf das Ende seines Wutanfalls. Der
Industriekletterer Fred verschränkte die Arme.
„Ich.“ Fred hatte schon auf Wolkenkratzern in Phoenix, Arizona, gearbeitet. Er kaute seelenruhig
an einer dünnen Dauerwurst und schluckte das Stück. „Sag mal, Chef, hältst du deine Leute für so
blöd, dass sie die Bewegungsmelder und die Detektoren so anschrauben, dass die nachts um halb
fünf anspringen?“ Fred spuckte die Wurstpelle zielgenau in den Abfallkorb. „Ich bin Level 1
FISAT-geprüft und die andern Jungs auf 2. Du kannst dir die Kontrolllisten anschauen, im
Qualitätsmanagement. Soll ich sie wirklich holen?“ Freds Stimme war eisig geworden.
Florian kam sich vor wie kalt geduscht. „Lass mal.“ Er hatte selbst noch in der Nacht die
Seeschlange im Flutlicht kontrolliert und keinen Installationsfehler gefunden. „Sorry, Jungs.“
Fred wies auf einen Rollwagen voller Flaschenzüge. „Eigentlich sollten wir längst draußen am
Telekom-Turm sein und die Plakate ranhängen.“
„Okay, raus mit euch. Und fahrt vorher den Hubsteiger noch beim Team 2 vorbei.“
„Alles klar.“ Fred zog schon am Rollwagen, die andern drei setzen sich in Bewegung.
Das war kein guter Auftritt als Chef gewesen, dachte Florian und rieb sich über die Haare.
Wahrscheinlich sah er ziemlich albern aus in dem verfleckten, gerissenen weißen Damasthemd,
das sein Herumgeturne auf der Seeschlange nicht überstanden hatte. Florian ging an den gut
sortierten deckenhohen Regalen voller Schraubglieder, Bandschlingen und Lanyards vorbei. Mit
dem ersten Fehlalarm seit Monaten war doch irgendwie was oberfaul.
Im Sekretariat startete Frau Olgert gerade den Computer. „Schon da? Die Espressomaschine ist
gleich heiß … oh.“ Sie legte ihre ringbeschwerten Hände auf die mütterliche Brust. „Was ist Ihnen
denn passiert? Wie gut, dass ich Sie vom Reserveanzug überzeugt habe.“ Schon war sie Richtung
Belegschaftsraum und den Spinden verschwunden.
Florian setze sich einfach auf die Kante ihres Schreibtisches. Insgeheim war er davon überzeugt,
dass es die beste Idee seiner Karriere war, Frau Olgert einzustellen. Sie war schon Mitte fünfzig,
hatte aber im Wedding fünf Kinder großgezogen; ihr war nichts Menschliches fremd. Und wenn
sich von den Kletterern einer danebenbenahm, setzte die Olgert ihn schneller auf den Topf, als er
gucken konnte.

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„Hier, Chef. Und nun erzählen Sie mal.“ Sie gab ihm den frischen Anzug.

Als Florian frisch geduscht und umgezogen aus dem Belegschaftsraum zurückkam, wedelte die
Olgert schon mit den Händen und steckte sich eine lose blondierte Strähne zurück. „Ich habe der
Dame vom Notrufservice mal Bescheid gestoßen, dass ich notfalls persönlich die Aufwartung
mache, wenn ich nicht sofort einen Verantwortlichen an die Strippe kriege. Und siehe da, es geht.“
Frau Olgert lehnte sich zurück, die aufgestickten Pailletten auf ihrem T-Shirt glänzten unter der
Schreibtischlampe.
Florian griff zum Cappuccino, sogar an ein Brötchen hatte Frau Olgert gedacht. „Prima. Sie sind
ein Goldstück.“ Verdiente Komplimente machte er immer gern.
Sie steckte die Hände ineinander, sodass alle Ringe – Florian schätzte sie auf knapp hundert –
schimmerten. „Ich kenne diese Fuzzis. Erst denken die, sie können ‚ne olle Sekretärin
abwimmeln. Pech gehabt. Ich habe mal in einem Schlüsseldienst gearbeitet. Mit mir nicht. Ich
also ran an die Buletten.“
Florian biss ins Brötchen und strahlte extra nur für die Olgert.
„Der Alarm kam gar nicht von der ollen Seeschlange draußen in Marzahn, da hat der Fred schon
recht gehabt. Die haben das Signal automatisch von der Zentrale ausgelöst, also der
Sprachcomputer der Agentur genau genommen, weil der ein paar Stichworte aus dem Anruf
erkannt hat. Fies, wa!“
Florian verschluckte sich fast. „Heißt das, irgendjemand kann dort einfach anrufen, und schon
brummt es bei uns?“
„Genau. Nur weiß das kaum jemand.“ Frau Olgert legte die Unterarme auf den Schreibtisch.
„Missbrauch ist selten, weil die Anrufe wie bei einer Fangschaltung registriert werden. Aber so
genau hat sich der Anrufer nun auch wieder nicht ausgekannt.“ Frau Olgert winkte mit einem
Zettel.
„Sie sind genial.“ Florian beglückwünschte sich einmal mehr für seine Sekretärin.
„Ach was, nur nicht auf den Kopp gefallen. Die haben mir die Nummer gegeben. Ich rufe da jetzt
einfach mal an und stelle die Freisprechanlage an.“ Sie drückte auf die Tasten des Telefons.
Florian hörte das Rufzeichen. Es klackte. „Wrede, Hings und Partner, guten Morgen, Sie sprechen
mit Frau Möller.“ Er starrte den Lautsprecher an.
Frau Olgert hob die Augenbraue und säuselte: „Oh, entschuldigen Sie, ich habe nicht verstanden.
Mit wem bin ich verbunden?“
„Mit der Anwaltskanzlei Wrede, Hings und Partner am Kurfürstendamm in Berlin“ , sagte die
freundliche Stimme.
„Dann bin ich ja ganz falsch, Verzeihung.“ Frau Olgert ließ den Hörer auf die Gabel fallen. „Die
kennen wir doch!“, triumphierte sie.
Florian sprang auf. „Dieser Mistkerl von Thorsten Wrede setzt jetzt wohl auf Psychoterror, um
den Prozess zu gewinnen. Aber nicht mit mir!“
„Beruhigen Sie sich erst mal, Chef. Essen Sie Ihr Brötchen, und dann verbinde ich Sie mit Cangür,
unserm Anwalt. Vor neun ist dort eh keiner. – Noch ein Brötchen mit Ei?“
Florian war der Appetit vergangen. „Nein.“
Er ging rüber in sein Büro. Im kleinen, spartanisch eingerichteten Raum schmückten nur die Fotos

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von den Dreitausendern die Wände, auf die er schon geklettert war. Er war längst urlaubsreif, das
wusste er. Und am liebsten hätte er sofort die Sachen gepackt und wäre mit Stefanie in eine
abgelegene Berghütte gefahren. Er schaute auf die Uhr. Mist, 8 Uhr 20, jetzt saß sie sicher gerade
in der U-Bahn. Nicht unbedingt der richtige Zeitpunkt für eine neue Verabredung. Stefanie musste
ziemlich enttäuscht von ihm sein. Dabei hätte er nichts lieber getan, als sie noch stundenlang
weiter zu küssen. Stefanie war so voller Ideen, so tatendurstig, in einem Bergteam würde er ihr
blind als Vorfrau trauen. Florian stutzte bei dem Gedanken: Er hatte sich noch nie eine Frau in
seiner Seilschaft vorgestellt.
Die Telefonanlage neben der Chefmappe läutete mit dem hellen Ton der Privatnummer.
Gedankenübertragung! Perfekt. Erst als er den Hörer in der Hand hielt, begriff er, dass Stefanie
noch gar nicht diese Nummer hatte. Sein Lächeln fiel in sich zusammen. „Ja?“
„Hier ist Nicole, ich bin auf der Messe in London.“ Sie sprudelte fröhlich, als ob sie im Urlaub
ausgeschlafen auf einer Hotelterrasse frühstückte, dabei hörte Florian den Lärmpegel der Messe
genau. „Danke noch mal, hat alles prima geklappt.“
„Das würde ich auch gern sagen können“, erklärte Florian seufzend. „Aber davon später.“
„Stress? Deshalb habe ich dich gestern nicht erreicht!“ Nicole räusperte sich. „Ich habe hier für
dich einen vielversprechenden Geschäftstermin aufgetan. Du hast doch sicher nichts dagegen?“
Typisch Nicole. Bestimmt hatte sie wieder ihren ganzen kühlen Blonder-Eisberg-Charme spielen
lassen. Sie wusste, dass er jeden Auftrag brauchen konnte. Erst recht, wenn er diesen Prozess
gegen diese Betrüger verlor. Ehe er antworten konnte, sprudelte Nicole weiter: „Und das Beste ist:
Du machst den Termin heute noch in Berlin!“
Florian lachte. Nicole gab ihm Namen und Treffpunkt durch, dann legte sie mit einem Servus auf.
„Das ist ja die erste gute Nachricht für heute“, rief Florian, sodass Frau Olgert sich draußen vom
Schreibtischstuhl beugte und durch die offene Tür zu ihm hersah.
Und wenn er gleich noch Stefanies Stimme hörte, dann würde er sogar gut gelaunt zum
Mittagessen mit diesem Mr. Rami aus London fahren. Florian griff zum Hörer.

Stefanie war froh, dass ihr Chef Robert das Dessert des Mittagsmenüs im „Borchardt“ ausgelassen
hatte, weil er für ein Magazin in einem Privatsender interviewt werden sollte. Sie atmete durch, es
war der erste ruhige Moment an diesem Tag. Kaum war Stefanie nach einem kurzen, unruhigen
Schlaf um halb neun bei light arts angekommen, war es im Büro rundgegangen. Mails,
Besprechungen, Anrufe aus Chicago und sogar Belgrad. Bei jedem Surren ihrer Telefonanlage
hatte Stefanie gehofft, dass Florian wie versprochen anrufen würde. Sie wurde jedes Mal
enttäuscht. Dabei konnte es gut sein, dass er es dauernd versucht und immer nur das
Besetztzeichen gehört hatte. Denn auch die Kollegen hatten auf den vier Leitungen
dauertelefoniert, Robert war in Hochform und überzog alle mit Sonderwünschen.
Stefanie genoss die Mittagspause in dem Society-Restaurant, wo sich Politiker, Medienleute und
Kreative bei fantastisch leichtem Essen vom Stress erholten. Die Crew von light arts gehörte
schon fast zum Stammpublikum. Das „Borchardt“ lag direkt am Gendarmenmarkt in Berlin Mitte.
Vier hohe Marmorsäulen teilten den großen Raum mit seinen hohen Stuckdecken optisch ein
wenig auf. Alle Tische waren mit gestärkten Tüchern und schwerem Restaurantsilber gedeckt. Die

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hohen Lederlehnen der bordeauxroten Sitzbänke schirmten die Gäste ein wenig voneinander ab.
Der Geräuschpegel war angeregt, aber nicht zu laut, die Decken hoch, die Luft gut. Stefanie nickte
der perfekten Servicekraft zu, die ihr eben den duftenden Espresso neben die kleine Blume in der
Tischvase stellte. Kaffee hatte Stefanie auch nötig, bei dem Programm, das ihr bei light arts
bevorstand. Robert hatte sie einfach zur Projektkoordinatorin für den Wettbewerb ernannt. Nun
legte sie Checkliste um Checkliste an.
Als sie nach der Espressotasse griff, rutschte Stefanie die Serviette vom Tisch. Sie beugte sich
hinunter und dachte an die Computersimulation von Roberts Ideen, die heute unbedingt fertig
werden musste … Beim Hochkommen fiel ihr Blick auf die Bankreihe schräg hinter ihr. Das war
nicht wahr …
Sein Lächeln war so blendend wie gestern, aber warum trug er als Fassadenkletterer auf einmal
einen so teuren Anzug? Gerade tippte er etwas in einen Palmcomputer. Offenbar saß Florian mit
einem Businessmann in einer Verhandlung. Dann drehte sich der Mann zur Servicekraft. Stefanie
erstarrte.
Genau dieses kleine Feuermal auf dem Hinterkopf über dem Haarkranz der Glatze hatte sie
gestern noch heimlich betrachtet. Es gab keinen Zweifel. Florian blickte kurz auf, erkannte sie,
sein Mund formte ein stummes O.

Das gab es doch nicht! Dort saß Stefanie, die er seit Stunden zu erreichen versuchte. Das runde
Gesicht von Mr. Rami lächelte amüsiert. „Sie erblicken sogar hier eines der Wunder, die Sie mir
eben umrissen haben?“ Der Vertreter des Emirats Abu Faira wandte sich im Sitzen halb um. „Ich
verstehe …“ Er hob anerkennend die Augenbraue. „Eine interessante Frau … Nun, daran haben
Sie in Berlin ja keinen Mangel.“
Doch. Florian hatte lange nach einer Frau wie Stefanie gesucht. Das wusste er aber erst seit
diesem Morgen, seit ihm immer deutlicher wurde, wie sehr seine Gedanken nur um sie kreisten.
Er riss sich zusammen. „Entschuldigen Sie bitte. Wo war ich stehen geblieben …“ Er konnte
unmöglich die Verhandlung unterbrechen, jetzt wo Mr. Rami signalisierte, dass er Senkrecht &
Seil
zum Wettbewerb zulassen wollte. Allein die Teilnahmeentschädigung stärkte schon die
Finanzen seiner Firma und rettete ihn vielleicht vor der Pleite, wenn er den Prozess verlieren
würde.
Mr. Rami amüsierte sich sichtlich über seine Verwirrung. „Was wäre die Welt ohne Frauen, nicht
wahr? Sie wollten mir gerade Ihre dynamische Fassadenverhüllung genauer erklären. Wollen Sie
unser Luxus-Resort verpacken, wie der Künstler Christo damals den Reichstag?“
„Mehr als das, mehrere Hüllen, die sich verändern, Illusionen wecken.“ Florian hatte Mühe, den
Faden nicht zu verlieren. Drei Bänke weiter saß Stefanie. Er konnte gut verstehen, dass sie nach
seinem hastigen Aufbruch in der Nacht nicht einfach für ein kurzes Hallo herüberkam.

Stefanie wandte sich rasch ab, bevor sie gegen die Rückenlehne ihres Sitzes fiel. Es gab keinen
Zweifel. Genau wie sie selbst gestern verhandelte Florian dort mit Mr. Rami, dem
Wettbewerbsbeauftragten des Emirats Abu Faira. Sie legte die Hand auf ihre Kostümjacke. Der
Geruch des Essens an den Nachbartischen, den sie eben noch so lecker gefunden hatte, war auf
einmal widerwärtig. Einen Moment schwankte der Tisch vor ihr. Wie absolut niederträchtig. Sie

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schluckte gegen die Erkenntnis an, weil sie jetzt hier, zwischen all den bekannten Gesichtern,
unmöglich in Tränen ausbrechen konnte. Und sie Idiotin hatte ihm die ganzen Ideen von Robert
und light arts ausgebreitet. Er hingegen hatte sie mit seiner kleinen Fenstershow eingewickelt.
Florian hatte sie benutzt, ausgehorcht – aus eiskalter Berechnung für einen Wettbewerbsvorteil.
Sie nahm ihre Handtasche. Drei Atemzüge verharrte sie noch auf der Sitzbank, dann war sie sich
absolut sicher, dass sie den Weg an den beiden vorbei mit einem Gesicht schaffen würde, von dem
Mr. Rami denken musste, dass sie einfach nur in Gedanken war und ihn deshalb übersah. Sie stand
auf. Du gehst jetzt einfach vor bis zum Servicedesk und fragst noch einmal nach der Rechnung. Sie
stand auf, den Blick zu den hohen Fenstern gerichtet und den Autos, die draußen vorbeifuhren.
„Stefanie!“, hörte sie Florian rufen. „Warte …“ Weiter, bloß weiter, nicht umdrehen. Sie
beschleunigte ihren Schritt, bog zum Servicetresen ab.
Dort lächelte die gut gekleidete Empfangsdame nur. „Herr van Halen hat schon für Sie die
Rechnung beglichen.“ Ein Kellner hielt die Tür auf.
„Danke, bis morgen wieder“, sagte Stefanie. Sie erschrak, wie belegt ihre Stimme klang.
Erst vor dem übernächsten Haus erlaubte sie sich, ihre Hand vor ihren Mund zu halten, um nicht
zu schluchzen. Noch nie zuvor hatte sie ein Mann so sehr benutzt.

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5. KAPITEL

Als Stefanie in dem Restaurant an ihm vorbeigerauscht war, wäre Florian am liebsten
aufgesprungen und ihr auf die Straße hinaus hinterhergerannt. Sie hatte ihn einfach nicht gesehen.
Oder doch? Florian konnte sich das eigentlich nicht vorstellen, sonst hätte sie bestimmt gesagt,
wann er sie erreichen könnte. Sie tat ihm leid, ihre hellblauen Augen waren so verschleiert
gewesen, ihr Blick so ganz nach innen gerichtet. So schauten Menschen drein, die wahnsinnigen
Stress hatten und von einem Termin zum nächsten hetzten. Wie er selber.
Florian stand schon wieder im Stau vor einer Ampel. Wieder klapperte er eine Baustelle nach der
anderen, eine Fassadengestaltung nach der anderen in Berlin ab. Zurzeit hakte es überall. Florian
drückte die Wahlwiederholung. Der Ruf ging durch.
„Light arts, guten Tag. Mein Name ist Menkel, was kann ich für Sie tun?“, flötete eine junge
Frauenstimme.
Beinahe hätte Florian aufgestöhnt. In letzter Sekunde trat er auf die Bremse, weil der Idiot vor
ihm nicht losfuhr. „Florian Talhofer, ich hätte gern Frau Clarin gesprochen.“
Die Stimme zögerte. Wie als ob jemand ein Signal von jemandem anderen abwartete. „Ich höre
gerade, dass Frau Clarin heute nicht mehr erreichbar ist. Kann ich etwas ausrichten?“
„Ja. Ich …“ Stopp! – es war albern, einer Sekretärin das alles zu erklären. „Sagen Sie ihr einfach
nur, dass ich angerufen habe.“
„Ja, natürlich.“
Florian warf das Handy auf den Beifahrersitz. Das konnte ja nur heißen, dass Stefanie beleidigt
war. Er starrte auf die Auspuffgase in der Schlange vor ihm. Sein hektischer Aufbruch tat ihm so
leid, aber auf einen Alarm hatte er einfach sofort reagieren müssen.
An der nächsten Seitenstraße leuchtete ein grünes Schild. Spontan hielt Florian vor dem
Blumenladen an. Er würde Stefanie jetzt Rosen ins Büro schicken. Einen Moment zögerte er noch.
Es war wie beim Bergsteigen. Zwischen Basislager und Gipfel gab es nur konsequentes Schritt-
für-Schritt-Voran. Und warum sollte er denn auch nicht dazu stehen, dass er Stefanie wirklich toll
fand? Junge, sei ehrlich mit dir. Er fühlte sich auf einmal seltsam leicht und fröhlich. So wie er
die letzten Stunden nur, nur, nur an Stefanie gedacht hatte, war er doch verliebt. Und das durfte er
schließlich aller Welt zeigen. Die Rosen mussten einfach rot sein. Und er würde viele davon
schicken.

Nach dem Zwischenstopp beim Blumenladen hatte ihn Frau Olgert in dem Schöneberger Dig-Dog-
Club
angerufen, wo seine Jungs über drei Etagen die Wände mit schwarzem, feuerfestem Latex
behingen. Während Florian sich meldete, ärgerte er sich insgeheim, dass er mitten in der
schwierigen Planung des Outdoor-Bereichs gestört wurde. Aber Frau Olgert rief bestimmt nicht
einfach so an.
„Ich weiß jetzt nicht, Chef, ob das vielleicht ein Irrtum ist. Hier sind dreißig rote Rosen
angekommen.“
„Wie bitte?“ Florian setzte sich auf eine leere Bierkiste zwischen die angeschnittenen
Latexplanen.

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„Die Dame vom Blumenladen sagt, der sei nicht angenommen worden, und deshalb will sie ihn
beim Besteller abgeben, also Ihnen.“ Frau Olgerts Stimme ging wie auf Samtpfoten. Florian war
sich sicher, dass sie die Tür im Sekretariat abgeschlossen hatte, damit keiner der Jungs etwas
mitbekam.
„Ich … ich habe mich wohl in der Adresse geirrt“, log er, weil in ihm alles so schwarz wurde wie
das Latexzeug zu seinen Füßen.
„Aha“, sagte Frau Olgert nur, ganz mitfühlend. Taktvollerweise fragte sie ihn jetzt nicht, ob sie
die Adresse recherchieren sollte. „Und nun?“
Es war schade. Schade auch um die Rosen. Vielleicht machten die Blüten ja andere glücklich. Er
atmete laut aus. „Jeder soll sich so viele mitnehmen, wie er will.“ So würde er sie nicht mehr
sehen müssen, wenn er später ins Büro kam.

Am Abend hatte er es nicht mehr ausgehalten. Florian war zu Stefanies Wohnung gefahren. Oben
hatte er Licht im Fenster hinter dem Balkon gesehen, wo sie beide sich noch heute in aller Frühe
so wunderbar eng umschlungen hatten.
Jetzt stand er im strömenden Sommerregen an dieser silbernen Klingelanlage, die Tropfen fielen
auf seinen Kopf, und auf den Fensterblechen über ihm machten sie mit ihrem Stakkato ein
richtiges Konzert. Behutsam drückte Florian auf den Knopf neben S. Clarin.
Der Lautsprecher aktivierte sich mit unangenehm elektrischen Vibrationston, der gar nicht
aufhörte. „Ja, bitte?“, krächzte Stefanies Stimme.
„Hier ist Florian, ich muss mit dir reden. Lass dir erklären wie …“
Nur das elektrische Summen knisterte hinter der Sprechanlage.
„Stefanie, bitte.“
„Wir wollen keine Werbung im Haus“, krächzte die Stimme wie von weit.
Florian starrte den Lautsprecher an. Der sirrende Ton brach plötzlich ab. Alles war so tot wie
zuvor. War das wirklich Stefanie gewesen? Florian quetschte sich zwischen den parkenden Autos
durch, sprang über Pfützen hinweg und rannte über die Straße auf die andere Seite. Er legte den
Kopf tief ins Genick, der Regen lief ihm den Rücken hinunter.
Doch oben hinter ihren Fenstern war nun schon alles dunkel.

Stefanie hatte seine Stimme sofort erkannt. Sie war wirklich perplex gewesen, weil er sich nach
dieser albernen Rosennummer noch getraut hatte, bei ihr aufzukreuzen. Er wusste doch genau,
dass sie ihn mit Mr. Rami gesehen hatte – wollte er sie etwa für dumm verkaufen? Die Kollegen
bei light arts hatten zwar über die dreißig roten Rosen gestaunt, aber niemand hatte an ihren
Worten gezweifelt, als sie den Boten wieder weggeschickt hatte. „Das war ein Irrtum in der
Namensschreibweise, ist nicht für mich.“ Schließlich waren noch nie und für niemanden
Blumensträuße persönlich abgegeben worden, selbst für den Stardesigner Robert nicht.
Stefanie wusste selbst nicht genau, warum sie in ihrer Wohnung sofort das Licht ausgemacht hatte
und im Winkel des Fensters hinter dem Vorhang stand. Sie lugte nach drunten, sah, wie Florian
über die Straße lief, ein Auto hupte ihn böse an. Dann starrte er herauf. Der Regen schien ihm
nichts auszumachen. Aber Schlechtwetter war Florian sicher von den Hochhausgerüsten gewohnt.
Er wischte sich noch ein paar Mal über die Augen, dann wandte er sich nach links, die Straße

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hinunter. Stefanie wunderte sich, wie langsam er ging, trotz des Regens. Als ob er die Beine nicht
heben könne.
Sie setzte sich im Dunkeln auf ihr Sofa. Es musste ihm ja auch verdammt peinlich sein, dass er
aufgeflogen war. Und dass sie es ihm so deutlich zu verstehen gegeben hatte. „Im wahrsten Sinne
des Wortes durch die Blume!“ Stefanie griff zu ihren Wohnungsschlüsseln auf dem Couchtisch.
Das Letzte, was sie nach solch einem Tag tun sollte, war die Wände anzustarren. Sie musste
diesen Kerl und diese bodenlose Gemeinheit jetzt einfach komplett aus ihrem Gedächtnis
streichen – und das funktioniert am besten dadurch, dass sie es einfach mit Xian-Li weglachte.

Stefanie hatte es sich in der Ecke von „Xian-Li‘s Sushi Paradise“ bequem gemacht. Der ganze
Laden war mit Wandpaneelen in rotem Lack eingerichtet, davor waren schwarze Gitter aus Holz
gesetzt, die japanische Großstadtszenen aus Tokio zeigten. Es war wie ein Manga aus Holz.
Insgeheim bewunderte sie ihre Freundin, die gerade extra auf exotisch geschminkt an den
Lacktischchen das Sushi für die ersten Gäste servierte. Ihr japanischer Freund Joshi hackte in irrer
Geschwindigkeit Schnittlauch in der Kochzeile neben dem Eingang. Die beiden legten Wert auf
Qualität und bereiteten wirklich Originalsushi wie in Japan. Und das schmeckte zehnmal besser
als sonst wo in der Stadt. „Xian-Li‘s Sushi Paradise“ war sofort zum Geheimtipp geworden, sie
konnte es sich sogar leisten, gar keine Werbung zu machen.
Xian-Li war eigentlich Hongkong-Chinesin, war aber mit ihrem Banker-Vater schon als Kind nach
Sydney, Jokohama und London, um die halbe Welt gezogen. Dann hatte das Business die Familie
nach Düsseldorf verschlagen. Stefanie hatte sie im Grundkurs BWL noch in Düsseldorf
kennengelernt. Am Ende des Semesters hatte Xian-Li im Studenten-Café über einem Becher
Kaffee gefragt: „Am Rhein ist es zu langweilig, ich gehe nach Berlin, kommst du mit?“ Und
Stefanie hatte einfach Ja gesagt. Denn von Xian-Li hatte sie viel gelernt. Diese hatte sich nie an
Regeln gehalten, die andere für sie ausdachten, sondern nur an die eigenen. So sehr Xian-Li
schrille Klamotten mochte, dass Stefanie mit ihr stundenlang durch die Läden in Prenzlauer Berg
und Mitte ziehen konnte, so gut war ihr Geschmack. Vor allem männertechnisch griff Xian-Li nie
daneben. Joshi war ein Goldstück, drahtig, fleißig und, wie Xian-Li gerne grinsend berichtete,
wahnsinnig sensibel mit den Fingerspitzen. So treffsicher er die Zutaten für Sushis mit dem
riesigen Messer kleinhacken konnte, so virtuos konnte er auch streicheln.
Xian-Li hatte kühl gerechnet, und ihren ersten Jahresverdienst als Praktikantin bei einer Import-
Export-Firma in eine schicke Sushi-Bar mit echten Lackmöbeln aus Japan investiert. Heute
verdiente sie mehr als in jedem anderem Job. „Geld verdienen liegt mir im Blut, mein Papa ist
Banker und meine Großmutter war Händlerin auf dem schwimmenden Markt von Kowloon“, war
ihr lapidarer Kommentar dazu.
Jetzt kam Xian-Li endlich herüber in die Ecke bei der Kasse, nachdem sie die letzte Runde
Bestellungen bei Joshi abgegeben hatte. Dann erzählte Stefanie ihr alles.
„Im Business wird mit harten Bandagen gekämpft. Je früher wir das begreifen, desto besser ist
es“, seufzte Xian-Li nur. Sie servierte ihr ein paar Inside-out-Rolls extra und knabberte an einem
Stücken Karotte. Dann richtete Xian-Li den schreiend pinkfarbenen Haarkamm, den sie zwischen
die Haarnadeln gesteckt hatte, weil die Berliner Szeneleute einfach dieses übertrieben asiatische
Outfit bewunderten. Sie lächelte Stefanie mit farblich abgestimmtem Lippenstift an. „Sag mal,

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gab es da nicht deinen Hoch-und-heilig-Schwur, dass du nie wieder etwas mit Sportlertypen
anfangen wolltest?“
Stefanie seufzte und zuckte mit den Schultern. „War wohl ein kleiner Rückfall. Kommt nie wieder
vor.“ Sie war auf einmal richtig traurig und stocherte mit den Stäbchen in der Ingwerpaste herum.
„Come on.“ Xian-Li stupste sie an der Schulter und lachte. „Bei der Turn- und Muskel-Seiltanz-
Show vor deinem Fenster wäre ich auch schwach geworden. Wann erlebt frau schon so etwas?“
Xian-Li erhob sich und tippte nebenbei eine Rechnung in die Kasse, die gleich danebenstand.
Dann griff sie in ein Fach darunter. „Hier, die Zukunft für dich.“ Sie warf Stefanie einen in Folie
eingeschweißten Glückskeks zu. „Schau nicht so! Den hast du verdient, immerhin war der Typ ein
Fortschritt.“
Stefanie kniff die Augen zusammen und versuchte in Xian-Lis bunt geschminktem Gesicht zu
lesen, wie sie das nun wieder meinte. „Echt?“
„Du hast es zwar vorher nicht gewusst, aber der Typ ist wenigstens kein hirnloser Idiot wie die
anderen vorher. Sorry, das ich das jetzt mal so klar sagen muss als deine beste Freundin. Der Typ
ist immerhin ein taffer Unternehmer.“
„Hör mal! Er hat mich ausgenutzt, das haben die Muskeljungs nie.“ Die waren dafür immer nur
nach dem fünften Date langweilig gewesen.
Xian-Li spitzte die Lippen. Kopfschüttelnd sagte sie: „Mach dir lieber Gedanken, wie du ihn mit
einem Superkonzept beim Wettbewerb aus dem Feld räumst. Das ärgert solche Typen am
meisten.“ Sie griff sich ihren Block und ging zu neuen Kunden am anderen Ende des Raumes.
Vorn rollte Joshi Sushi in Seetangblätter.
Ihre beste Freundin hatte mal wieder recht. Stefanie steckte den Glückskeks in die Handtasche.
Wer weiß, wozu es gut war.
Bei ihrer vorletzten Inside-out-Roll kam ein mittelgroßer blonder Typ ins „Sushi Paradise“ und
sah sich um. Stefanie brauchte einen Moment, aber diese breiten blonden Augenbrauen hatte sie
schon einmal gesehen.
Der Neuankömmling hingegen erkannte sie sofort. „Hey, du hast doch mit meinem Bruder Squash
gespielt.“ Er beugte seinen Kopf etwas vor und lächelte sie an. Seine grünen Augen blickten etwas
müde, aber wer war das Donnerstagabend nach dem Büro nicht. Der Typ freute sich sichtlich.
„René war immer begeistert von dir.“ Er hob den Zeigefinger, wedelte damit. „Moment, nicht
verraten.“ Er blinzelte. „Du bist Stefanie!“
Zu Abi-Zeiten hatte sie in der Liga NRW mit René Wrede Mixed gespielt. Sie waren ein super
Team gewesen. Beim Squash, sonst nicht, René hatte es mehr mit Jungs und sie war damals
unsterblich in … Stefanie ermahnte sich, dass sie den Namen jenes Mannes aus ihrem Gedächtnis
getilgt hatte. „Dann bist du Thorsten, nicht wahr?“
„Genau, lebst du jetzt auch in Berlin? René hat gar nichts davon erzählt.“
„Wie auch, er ist doch schon eineinhalb Jahre in Sydney.“
Thorsten lachte. „Darf ich mich zu dir setzen?“ Er machte Xian-Li Zeichen für ein 12-Rollen-
Sushi. Die wackelte wie im Film Die Geisha mit dem Kopf, sie war für jeden Spaß zu haben.
„Erzähl mal, was machst du? Ich bin Anwalt, aber das ist totlangweilig, ehrlich gesagt.“ Er lachte
und stellte seine Ledertasche neben sich auf die Bank. „Die Akten lass ich lieber zu. Spielst du

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noch Squash?“
„Schon länger nicht. Du?“
„Inzwischen wieder.“ Er tippte sich an den Bauch. „Ich muss. Ich sitze zu viel am Schreibtisch.
Wollen wir nicht einfach mal zusammen spielen gehen? Ich habe eine Jahreskarte und kann Leute
mitnehmen.“
Es gefiel Stefanie, wie souverän er mit dem Bäuchlein umging, und so schlimm war es nun
wirklich nicht. Und ehe sie es sich versah, war Stefanie in alte Geschichten rund um die Partys am
Pool der Wredes in Merheim verwickelt. Thorsten fiel ein Detail nach dem andern ein. Manchmal
tat es einfach gut, an die alte Heimat zu denken.

Am Freitagmorgen kurz nach zehn Uhr schaute im Saal des Amtsgerichts Charlottenburg der
Richter über den Rand seiner Lesebrille hinweg auf den gegnerischen Anwalt Thorsten Wrede.
Immer wieder nickte er zu dessen Worten, was Florians Wut nur steigerte.
„Und genau hier, wertes Gericht, an diesen Schrauben lag es!“ Thorsten deutete theatralisch auf
ein groß aufgezogenes Foto.
„Das sind doch Zwölfkantmuttern, keine Schrauben! Nicht einmal das stimmt!“, rief Florian in die
Verhandlung. Dafür gab ihm sein eigener Anwalt, sein Cousin Cangür, einen Tritt unter dem
Tisch. Kurz sah er Florian mit seinen klugen Augen an und rieb sich konzentriert das feine Ohr.
Cangür war der schmalste Mann in der ganzen Familie. Florian ärgerte sich schon über sich selbst
und schaute schuldbewusst zurück. Reinreden kam nie gut, das wusste er ja selber, aber wie sollte
er einfach stumm dasitzen, wenn der Typ log und log.
„Fahren Sie fort, Herr Wrede“, sagte der Richter trocken.
„Also diese Muttern waren nicht fest genug aufgezogen, der Gutachter weist dies auf Seite sieben
mit dem erhöhten Flugrostanteil in den Windungen nach, die …“
Florian schnaubte. Solch ein Unsinn. Bei einem Fassadengerüst mitten in der Stadt flog doch jede
Art Staub und Dreck durch die Luft. Was sollte das alles?
„Im Übrigen, wertes Gericht, können Sie die wissenschaftlichen und methodischen Fehler des
Schreibens, das der Beklagte Herr Florian Talhofer vorgelegt hat, im Anhang nachvollziehen.“
Thorsten Wrede schraubte seine Stimme in schlichte Verachtung hinab. „Da gab es
Schlampereien, die für sich selbst sprechen.“
Der Richter hob nur die Augenbrauen und machte sich Notizen. „Fahren Sie fort.“
„Bei Senkrecht & Seil wurden massiv Sicherheitsbelehrungen unterlassen.“ Anwalt Wrede gab
sich extrem besorgt und runzelte die Stirn. „Denn davon haben im letzten Jahr nur zwei statt fünf
stattgefunden.“
Florian richtete sich langsam auf. Woher wusste dieser Kerl das?
„Stimmt das, Herr Talhofer?“, fragte der Richter und sah zu ihnen beiden auf die Anklagebank.
„Das hat nur daran gelegen, dass mein Sicherheitsbeauftragter wegen eines Unfalls beim
Kanufahren in der Klinik lag.“
„Sie hätten für Ersatz sorgen müssen.“ Thorsten Wrede hob das Kinn.
„Haben Sie es versucht, Herr Talhofer?“, fragte der Richter.
Hatte er, aber so schnell war es nicht gegangen. „Kurzfristig war wegen der Sommerferien auf
dem Berliner Arbeitsmarkt kein Ersatz zu finden.“

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„Dann hätten Sie eben jemanden einfliegen lassen müssen. Sie sind doch oft im heimatlichen
Bayern zum Bergsteigen. Dort gibt es schließlich genug Sicherheitsbeauftragte mit A-Schein“,
triumphierte Wrede und tippte mit dem Kugelschreiber laut auf den Tisch vor ihm.
Florian suchte Hilfe bei seinem Cousin Cangür. Der sah ihn nur wütend an, mit dem stummen
Vorwurf in den Augen: Warum hast du mir das nicht vorher gesagt? Nun bricht meine
Verteidigungslinie zusammen.
„Die Angestellten von Senkrecht & Seil haben alle diese
Schulungen mehrfach durchlaufen. Reiten Sie nicht auf Formalia herum, Herr Wrede“, sagte
Cangür. Das war natürlich ein bisschen schwach, leider.
Der Richter wiegte den Kopf. „Sicherheitsbestimmungen sind immer lästig wie Regen und trocken
wie Staub. Aber gerade in der Wiederholung liegt ihre Wirkung.“
Lästig wie Regen. Trocken wie Staub. Wiederholung. Plötzlich sah Florian Spezialpapier vor
seinem geistigen Auge, das er einmal bei einer Messe gesehen hatte. Die Chinesen oder Japaner
verhüllten damit ihre Wolkenkratzer gegen Taifunregen. Aber das Emirat Abu Faira lag in der
Wüste, dort war es immer trocken. Vielleicht könnte er daraus für den Wettbewerb etwas machen

Cangür entgegnete dem Richter irgendetwas. Florian durfte jetzt gar nicht zuhören, weil er
instinktiv wusste, dass gerade eine geniale Idee für diesen Wettbewerb in ihm aufstieg. Er nahm
sich seinen Block und tat so, als ob er den streitenden Anwälten mit Notizen folgte. Die Idee, die
einfach alles Bekannte sprengte, nahm Formen an. Das Spezialpapier war teuer, aber auf Kosten
brauchte er keine Rücksicht zu nehmen, die spielten keine Rolle, hatte Mr. Rami im Restaurant
gesagt.
Gedankenverloren sah er durch Thorsten Wrede hindurch, der sich schon wieder vor der
Richterbank aufplusterte. Vielleicht verlor Florian gerade den Prozess, aber mit dem extrem
dünnen Papier könnte er, wenn er daraus variable Elemente schneiden und es bedrucken ließ …
jeden beliebigen Effekt erzeugen, jedenfalls wie bei einem Scherenschnittfilm. Die hatte er als
Kind geliebt.
„Wir beantragen die Aussagen der Zeugin Frau Olgert zu berücksichtigen“, sagte sein Cousin
eben.
„Ich bitte Sie!“ Der Richter schüttelte den Kopf. „Die Zeugenaussagen haben wir doch schon
durch. Frau Olgert hat in der Sache selbst nichts beitragen können. Ich lehne Ihren Antrag im
Interesse einer zügigen Abwicklung des Verfahrens ab. Es muss doch mal ein Ende haben.“ Der
Richter legte die Lesebrille weg. „Möchten Sie der Gegenseite nicht lieber einen Vergleich
anbieten?“
Cangür sah Florian abwartend an und rieb sich die schmale Nase. Leise flüsterte er Florian ins
Ohr: „Ein Vergleich wäre klug, dann wird es wenigstens billiger für dich.“
In Florian sträubte sich alles, einen Schaden, den er überhaupt nicht verursacht hatte, auch nur
halb anzuerkennen, wie er es bei einem Vergleich würde tun müssen.
Thorsten Wrede schickte ihm einen kalten Blick quer herüber. Langsam trat er zum Richter an der
Frontseite des Saales hin. Er sprach leise und wandte sich haargenau berechnet in dem Moment
um, dass es Florian hören musste. „… werden wir uns in keinem Fall einlassen, wir verlangen
volle Entschädigung für …“ Dann tuschelte er wieder zur Richterbank hin.

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Das Hin und Her dauerte natürlich. Cangür versuchte es mit Engelszungen, aber Thorsten Wrede
sagte schlicht zu jedem Vergleichsvorschlag Nein.
Der Richter rollte die Augen zum Himmel, bevor er verkündete: „Wenn Sie so stur sein wollen,
meine Herren, wird eben Justizia entscheiden. Erheben Sie sich.“
Florian ballte aus Wut die Faust. Woher hatte dieser Anwalt nur Wind von der Sache bekommen,
verdammt. Waren denn alle bestechlich? Aber wenn er an seine Jungs dachte, fiel ihm keiner ein.
Nicht mal Fred, der ihm oft fachlich querkam, würde so etwas machen. Man verriet einfach keinen
aus der Mannschaft, wenn man auf hundert Meter hohen Gerüsten herumturnen musste.
„Hiermit ergeht das Urteil. Das beklagte Unternehmen Senkrecht & Seil ist für den Schaden
verantwortlich. Der vom Kläger vorgebrachte Schaden wird vom Gericht zu siebzig Prozent
anerkannt. Hiermit ist die Verhandlung geschlossen.“
Die Worte hallten in dem Gerichtssaal nach. Florian sah auf einmal alles wie in weißrote Watte
getaucht. Wie ein gestörter Roboter lief er hinter seinem Cousin aus dem Saal.
Im Flur grinste Thorsten Wrede, als hätte er gerade eine Magnumflasche Champagner auf Ex
getrunken. Er hatte die Anwaltsrobe noch an und schwang im Gehen einen Squashschläger durch
die Luft. Genau an Cangürs und Florians Ohren vorbei, sie spürten den Zug. „Und die dreißig
Prozent Restschadenssumme hole ich mir dann in der Revision. Verlasst euch drauf.“ Seine Robe
wehte dabei wie Fassadenteile im Sturm. Florian fühlte sich wie entzweigegangen: Einerseits
brannte in ihm die Wut, diesem Kerl einfach ganz unzivilisiert von Mann zu Mann seine Meinung
mit der Faust klarzumachen, andererseits interessierte ihn das alles nur wie ein Film, den man
nebenbei im Fernsehen anschaute, so arbeitete seine Fantasie an dem Wettbewerbsentwurf. Er sah
geradezu die Papierelemente schon in Abu Faira wehen, Stürme, Unwetter zeigen, die scheinbar
alles zusammenbrechen lassen …
„Er hat die Lücke in meiner Verteidigungslinie genau gefunden.“ Cangür schüttelte verärgert den
Kopf. „Aber dagegen konnte ich nichts mehr machen. Dabei ist der Wrede nur Staranwalt, weil er
sich von bezahlten Journalisten hypen lässt. Er ist nicht besser als die Kollegen auch. Nur schreckt
er vor solchen Machenschaften nicht zurück.“
Florian wunderte das nicht. „Miese Tricks passen zu Thorsten Wrede.“ Langsam wurde ihm aber
doch bewusst, was das Urteil für seine Firma bedeutete. „Cangür, ich glaube, jetzt bin ich pleite.“
Er musste sich an ein Fensterbrett lehnen und erst einmal tief durchatmen.
„Noch nicht ganz. Tricksen kann ich auch.“ Cangürs fein geschnittener Mund lächelte böse. „Ich
werde dafür sorgen, dass das Urteil erst in ein paar Monaten rechtskräftig wird. Bis dahin hast du
Galgenfrist. Und du bist ein Kämpfertyp, du schaffst das schon.“ Er klopfte ihm auf die Schulter.
„Verdiene inzwischen genug Geld, und alles wird gut.“
„Als ob das so einfach wäre!“ Florian fühlte seine Hände zittern. „Meine letzte Chance nutze ich,
verlass dich drauf.“ Er würde alles in diesen Wettbewerb investieren. Und wenn er alles auf eine
Karte setzte, dann konnte er es auch noch einmal bei Stefanie versuchen. Mit etwas Glück hatte
sie ihm sogar selbst verraten, wo er sie finden könnte, bei dieser Freundin mit der Sushi-Bar.
„Du lächelst ja sogar schon wieder!“, sagte sein Cousin, der wusste, wie ungern Florian verlor.
Cangür lachte. „So gefällst du mir schon besser. Das ist der Florian, den ich kenne.“

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6. KAPITEL

Stefanie hätte nicht gedacht, dass sie noch so fit im Squash war. Die Bälle flogen nur so im Court.
„Erst das dritte Spiel, und ich habe das Gefühl, dass mir alle Techniken und Tricks wieder
einfallen.“ Sie traf schon fast wieder auf den Zentimeter genau die Stelle an der Stirnwand, die
ihren Partner den Punkt kosten würde.
„Du hast keine der Grundregeln vergessen“, japste Thorsten, bekam aber den letzten Ball noch
volley. Er schlug ihn allerdings unter das Tin.
„Der Ball muss dort hin, wo der Gegner nicht steht, genau.“ Und deshalb bekam er ihn jetzt rechts
oben.
„Die Mitte ist zum Laufen da“, konterte Thorsten, und sie musste ganz schön wetzen, bekam den
Ball aber noch. „Wer am T steht, gewinnt das Spiel“, rief sie atemlos. Die Eroberung der zentralen
Position sei der Schlüssel zum Erfolg beim Squash, das hatte ihr Trainer allen eingebläut.
„Fehler!“, rief Thorsten. Er hatte zweimal den Ball geschlagen. Damit hatte Stefanie das Spiel
gewonnen. So wie er schnaufte, hatte sie den leisen Verdacht, dass es Absicht gewesen war.
„Und jetzt zeige ich dir das Spa, du wirst es lieben.“ Thorsten streifte sich das Schweißband von
der Stirn. Mit seinen dichten, zerzausten Haaren sah er lustig aus. Wie ein Teddybär, den man
gewässert und geschleudert hatte. Stefanie verkniff sich ein Lachen.

„Na, geschlummert?“, fragte Thorstens Stimme ein wenig unsicher. Stefanie schlug die Augen
auf, sie lag im Spa auf den skandinavischen Ruhebänken unter einem wunderbar flauschigen
Badetuch. Thorsten stelle ihr einen Fruchtsaft auf den Beistelltisch.
„Mango-Kiwi-Kirsch, weckt Tote.“ Er zwinkerte ihr zu und streckte sich auf der Liege daneben
aus. Ein wenig rutschte sein Tuch.
Wenn er ein bisschen mehr trainieren würde, wäre er sogar muskulös, dachte Stefanie. Sie wischte
rasch die aufblitzende Erinnerung an Florians Rücken weg, an dieses wunderbare Gefühl, von ihm
geborgen zu werden. Auch andere Männer hatten einen schönen Körper, sie brauchte sich ja nur
umzusehen. „Das Squash-Center füllt sich langsam mit Büromenschen, die alle noch ein bisschen
Ausgleich suchen“, sagte sie.
„Die Jobs sind ja anstrengend genug.“ Er streckte die Arme hinter sich aus, präsentierte seine
behaarte Brust. „Du glaubst gar nicht, was die Typen so vor Gericht erzählen.“
Stefanie hoffte, dass er sie jetzt mit Berufsstorys in Ruhe ließ, sie griff schon mal zum Drink.
„Heute hatte ich es mit so einem Fassadenkletterer zu tun“, sagte Thorsten mit Spott in der
Stimme. Stefanie hätte sich beinahe verschluckt. Aber natürlich, der Prozess! „Ach?“, sagte sie so
beiläufig wie möglich.
„So ein Halbtürke, der mit seinem Cousin als Anwalt aufgelaufen ist. Man weiß ja, wie das geht.
Alle stecken unter einer Decke und bezeugen das Blaue vom Himmel.“ Er lachte dreckig. „Was in
dem Fall ja stimmt. Der Typ hat eine der wenigen Firmen, die Fassaden nicht nur bauen, sondern
auch gestalten.“
„Aha. Und?“ Irgendwie wunderte es Stefanie nicht mehr, dass Florian vor Gericht stehen musste,
so wie er sich ihr gegenüber verhalten hatte.

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Thorsten drehte sich herum, Stefanie erspähte ein bisschen bleiche Haut. Sie war froh, dass er das
Tuch wieder darüberzog. Thorsten war schon lange nicht mehr in der Sonne gewesen. „Ich habe
den Prozess natürlich gewonnen.“
„Wieso natürlich?“, fragte sie. Das breite Grinsen störte sie.
„Meine Quote ist 8,5 von 10. Die halben sind die Unentschieden.“ Thorsten unterdrückte ein
Gähnen. „Aber es war nicht schwer. Seine Angestellten waren typisch für Kreuzberg, ein bisschen
chaotisch, ein bisschen schlampig und mäßig nett. Du kannst dir ja denken, was ein Richter davon
hält.“
Stefanie stellte den Mango-Kiwi-Kirsch weg. Er schmeckte ihr nicht. Zu süß. Zu flach. Wie
Thorsten. Sie mochte Kreuzberg und die bunte Mischung. Warum sollte Florian nicht dort Leute
einstellen, wo er seine Firma hatte?
„Jedenfalls kann er jetzt den Schadensersatz blechen.“ Thorsten streckte die Arme wieder hinter
sich aus.
Stefanie sagte sich, dass Florian nun wenigstens bekam, was er verdiente. Vielleicht lehrte ihn
das, sich anständig zu verhalten.
„Mein Mandant wird sich freuen, da bleibt schön was übrig. Wir haben den Schaden ein bisschen
nach oben gerechnet.“
So fett, wie Thorsten jetzt grinste, war das bisschen ein großes Stück. Stefanie hatte immer für
Fairness plädiert, im Squash wie im Job. Das war einfach menschlicher. Florian tat ihr gegen ihren
Willen leid, sie konnte sich gerade noch bremsen, ihn auch noch zu verteidigen.
„Und was machen wir jetzt?“, fragte Thorsten in demselben Ton, in dem er von seiner tollen
Prozessquote gesprochen hatte.
Stefanie überlegte, ob sie nicht einfach noch in den Whirlpool gehen sollte, denn sie mochte die
Massagedüsen im Rücken. Sie zog ihr superflauschiges Badetuch fest um die Brust und stand auf.
Schwimmen statt Whirlpool war sicher klüger. Da war sie außer Reichweite, füßeln war etwas, das
sie bei Thorsten ganz bestimmt nicht riskieren wollte. „Ich ziehe mich um. Gehen wir etwas essen.
Das Match hat mich so hungrig gemacht wie früher. Wie wär‘s mit Sushi?“ Es war bestimmt nicht
falsch, wenn Xian-Li sich Thorsten einmal ansah, so unbestechlich, wie sie eben war.
„Ich richte mich nach dir.“ Sein Blick aus den grünen Augen war auf einmal ganz treuherzig. Und
seine Stimme war gar nicht mehr taff, sondern einfach nur ein wenig liebesbedürftig, als ob er
einen Moment die Kontrolle über seine Show verloren hätte.
Stefanie lächelte ihm zu. „Bis gleich!“ Sie war zu streng. Warum sollte er als Anwalt in seinem
Job nicht stolz auf seine Erfolge sein.
Langsam ging sie zur Umkleide und versuchte dabei, jedes kleine bisschen Mitleid für Florian aus
ihren Gedanken zu verdrängen. So ganz wollte es ihr leider nicht gelingen. Stefanie seufzte vor
dem Frisierspiegel. Jetzt half wirklich nur noch Xian-Lis Reiswein – in doppelter Hinsicht. Der
hatte noch jeden Mann zu müde gemacht, und bei Stefanie wirkte selbst ein Becherchen schon so,
dass sie wie ein Stein schlief. Sie wollte auf keinen Fall wieder von Florian träumen.

Stefanie betrachtete die bunte Mischung Gäste, die wie jeden Abend spät in „Xian-Li‘s Sushi
Paradise“ aufliefen. Da waren die hippen Modestudentinnen mit ihren Musikerfreunden am
großen Tisch, da war das Touristenehepaar aus München, das sich zufällig in die angesagte Bar

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verirrt hatte. Er mit feiner Hirschlederjacke und sie im Edeltrachtenlook der Schickeria, die mit
ihren umfangreichen Bestellungen den Koch Joshi schwer beschäftigten. Sie hatten das ganze
Tenno-Menü bestellt. Stefanie saß ziemlich eng neben Thorsten auf der schmalen Bank in ihrer
Lieblingsecke bei der Kasse, weil sie auf den besten Blick ins „Sushi Paradise“ nicht hatte
verzichten wollen.
Xian-Li hatte sich heute in schwarzem Catsuit mit neongrünen Applikationen und entsprechenden
Haarkämmen auf China-Cybergirl gestylt. Nur auf die Lider hatte sie einen passenden
Goldschimmer gelegt. Sie hatte Thorsten ausführlich die ganze Karte erklärt, nun brachte sie
ihnen gut gelaunt die Frühlingsrollen an den Tisch und stellte die kleine Flasche vor sie auf den
schmalen Tisch. „Hier, ihr beiden, aber esst lieber erstmal etwas.“ Ihr grüner Fingernagel deutete
auf das Getränk. „Das ist Reiswein aus Joshis Heimat Hokkaido, der ist ziemlich stark, hat aber
ein tolles Aroma.“ Sie stellte die kleinen schwarzen Porzellanbecherchen neben die Teller und
goss ein. „Vorsicht, heiß.“ Xian-Li warf einen scannenden Blick über Thorsten und dann sie beide.
Sie lächelte Stefanie zu und ging vor zu Joshi, die nächsten Bestellungen austragen. Xian-Li
behielt immer den Überblick.
„Kennst du sie aus Japan?“, fragte Thorsten und schob sich ein Stück Seetangrolle in den Mund.
„Die sind ja lecker! Die schmecken anders als sonst.“
„Das ist Xian-Li. Sie hat bestimmt ein spezielles Gewürz bei einem Händler aufgetan, das sonst
keiner kauft. Sie hat noch nie gemacht, was alle tun.“
„So wie du, oder?“, fragte Thorsten und zwinkerte ihr zu.
„Das kann schon sein.“ Sie lächelte ihn an. Dichte Augenbrauen konnten doch ganz hübsch sein,
irgendwie wild und männlich. Was hatte sie nur immer gegen blonde Männer gehabt? Seine Haut
war glatt und hell und schon ein bisschen rosig vom guten Essen. Eigentlich sah er mit der
gezupften Gelfrisur ganz lustig aus, gar nicht overstyled.
Stefanie nahm mit den Stäbchen eine Seetangrolle und befeuchtete sie in dem Schälchen mit
Sojasauce. Es war sowieso Zeit, dass sie wieder richtig lachte. Und Thorsten hatte schon auf dem
Weg vom Squashcenter hierher im BMW ziemlich schräge Mandantenwitze erzählt. Dann aber
hatte er viel über ihren Job gefragt, und Stefanie fand es ziemlich sympathisch, dass er sich
wirklich dafür interessierte, was sie in ihrem ersten Job machte. Von seiner Karriere hatte er nur
ein paar Stichworte geliefert. Jurastudium in Konstanz, Aberdeen und Lissabon. Praktika bei der
UNO in Genf und danach gleich der Weg in die internationale Kanzlei am Ku‘damm. Dort war er
inzwischen Juniorpartner.
„Mit dieser Einstellung gewinnst du auch beim deinem Wettbewerb.“ Thorsten strahlte sie an.
„Erfolg passt zu dir.“ Auch wenn das ein bisschen wie ein Werbespruch einer Bank klang, Stefanie
hörte es eigentlich ganz gern. „Ich mag erfolgreiche Frauen.“
Sie griff lieber schnell zum Becherchen, damit sie nichts antworten musste. „Der Reiswein ist
wirklich noch heiß.“ Sie hob den Blick in die Bar – da lief es ihr ebenso heiß über den Rücken.
Dort vorn am Eingang ins „Sushi Paradise“ stand Florian! Den Streetwearklamotten nach musste
er direkt von einer Baustelle kommen, sogar sein Hemd war noch aufgerollt. Stefanie kam nicht
umhin, seine kräftigen Oberarme zu bewundern. Gegen ihren Willen musste sie daran denken, wie
fest und gut sie sich angefühlt hatten. Wäre Stefanie allein gewesen, wäre sie jetzt einfach ganz

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schnell hinter die kleine Tür mit dem Schildchen Privat verschwunden. In Xian-Lis kleinem
Vorratskämmerchen wäre sie sicher gewesen.
„Wie kommt der denn hierher?“ Thorstens Stimme war kalt geworden. „Zu dem passt doch besser
Döner.“ Er legte die Stäbchen achtlos weg. „Jetzt verfolgen die Verlierer einen auch noch in der
Freizeit.“
Seine Hand legte er auf die Sitzbank, Stefanie spürte den Handrücken an der Seite ihres
Oberschenkels. Aber sie konnte nicht ausweichen, die Bank war zu eng.
Xian-Li sagte vorn am Eingang etwas zu Florian, das Stefanie nicht hören konnte, und deutete mit
ihren langen grünen Fingernägeln auf einen freien Platz schräg gegenüber am Tresen. Doch
Florians Blick hatte sie beide jetzt auf der kleinen Bank in der Ecke erfasst. Das erfreute Lächeln
erstarb schnell, zerbröckelte geradezu, als sein Blick zwischen ihr und Thorsten hin- und
hertanzte. Florians schwarze Augen weiteten sich, die rechte Hand, die er schon zum Gruß
gehoben hatte, sank wie von einem schweren Gewicht nach unten gezerrt. Er ruckte seltsam mit
dem Oberkörper, ging aber keinen Schritt vor noch zurück.
Xian-Li sagte wieder etwas mit freundlichen Gesten und wies noch einmal zum Tresen.

Florian verstand gar nicht, in welcher Sprache diese Frau mit den goldenen Lidern und dem
neongrünen Zeug im schwarzen Haar überhaupt etwas zu ihm sagte. Dort saß Stefanie, die er den
ganzen Abend hatte finden wollen. Endlich hatte er die Adresse dieser Geheimtipp-Sushi-Bar
herausgefunden, und nun das! Er fühlte sich wie eingefroren, obwohl er schon den Zorn
hochkochen spürte, den er noch nicht richtig begriff. Sah er denn überhaupt richtig? Dort auf
dieser Bank saß Stefanie, und daneben dieser miese Anwalt. Dessen Arm reichte hinter der
Tischplatte so weit rüber, dass er die Hand nur auf Stefanies Schenkel liegen haben konnte. Was
für eine besitzergreifende Geste! Das passte zu dem Kerl, dass er Stefanie betatschte wie einen
Hund, der ihm gehörte.
Der Zorn flammte in Florian auf, vor allem über sich selbst. War er denn so verblendet? Eine Frau
wie Stefanie saß bestimmt freiwillig neben dem Anwalt. Warum sonst sollte sie zu ihrer besten
Freundin zum Essen gehen, mitten in der Woche, wenn sie nicht einfach mit ihrem Freund den
Abend verbringen wollte? Die beiden sind zusammen. Kapiere das endlich, Junge, und zwar schon
länger. So, wie der ihr gerade den Reiswein nachgießt, ohne zu fragen.
Florian blinzelte ins Licht.
Stefanie sah sogar weg, als er versuchte, ihren Blick aufzufangen.
Die Erkenntnis durchfuhr ihn wie ein Blitz. Sie hatte Thorsten die Firmeninterna verraten. Das war
die Erklärung für die plötzliche Wende im Prozess. Florian wusste gar nicht mehr genau, was er
ihr alles von seinem Unternehmen erzählt hatte bei diesem wunderbaren Date, dem langen
Spaziergang, nur dass er sehr, sehr viel erzählt hatte, weil sie ständig weiter gefragt hatte, ja selbst
noch auf dem Balkon, kurz bevor sie sich geküsst hatten. Florian schluckte. Dass eine Frau so weit
gehen konnte, nur damit ihr Freund einen Punkt mehr für seine Prozessquote erreichte … Wie
konnte Stefanie nur so schauspielern, wie leer und kalt musste ihre Seele sein.
„Verfolgen Sie mich jetzt in die Freizeit, Talhofer?“ Thorsten war aufgestanden und hatte sich
erstaunlich wendig von der engen Sitzbank um das Tischchen gewunden, ohne dass das
Reisweinfläschchen gewackelt hätte. Er stand schon fast vor Florian, bevor Stefanie überhaupt
klar wurde, was er vorhatte. Xian-Li servierte gerade am großen Tisch von einem Tablett viele

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Teller.
„Bilden Sie sich nichts ein“, sagte Florian mit gepresster Stimme. „So wichtig sind Sie nicht.“
„Warum verfolgen Sie mich dann?“ Thorsten baute sich vor Florian auf. Die Gäste des „Sushi
Paradise“ hoben die Köpfe. Stefanie sah, wie Thorstens Gesicht rot anlief, weil Florian gar nichts
mehr sagte, sondern nur mit enttäuschten, traurigen Augen zu ihr hersah. Was wollte er denn noch
hier? Er hatte doch alles erreicht, sie ausgehorcht und die besten Ideen von light arts abgegriffen.
Wollte er vor sich selber vertuschen, wie sehr er sie hintergangen hatte? Stefanie suchte mit dem
Blick Hilfe bei Xian-Li, die noch immer Sushis am Tisch austeilte, aber auch mit halbem Auge
beunruhigt zu den beiden Männern am Eingang sah.
„Hey, ich rede mit dir!“ Thorsten stupste Florian mit dem Handrücken am Oberarm. Florian
zuckte zurück wie von einer Schlange gebissen. Seine Faust fuhr auf, doch er hatte sich in der
Gewalt. „Aber ich nicht mit dir!“
Xian-Li war fertig und wand sich ganz schnell zwischen den Tischen durch zum Tresen, schnappte
sich dort ein Tablett mit drei Suppenschalen. „Vorsicht! Heiß und fettig.“ Sie lief direkt auf die
beiden am Eingang zu. Unwillkürlich bogen die beiden Männer vor dem Tablett ein wenig zur
Seite, und Xian-Li machte einen beherzten Schritt zwischen sie – blieb dann aber stehen.
„Vorsicht, die Suppe ist sehr heiß! Wenn Sie welche essen möchten“, sie lächelte und kicherte fast
wie eine Geisha, „dann setzen Sie sich einfach.“ Sie schaute zwischen den beiden hin und her, der
neongrüne Haarschmuck schaukelte, Xian-Li bewegte sich aber nicht vom Fleck. Stefanie sah
sogar den Dampf von der Suppe aufsteigen. Die anderen Gäste hatten aufgehört zu essen und
starrten hin.
„Wir sprechen uns noch“, knurrte Thorsten und verschränkte die Arme, ohne sich wegzubewegen.
Florian ballte die Faust an seiner Brust und schwieg.
Xian-Li warf einen Alarmblick zu Joshi am Tresen. Dann legte sie ein wenig das Tablett schräg.
Eine Suppenschale rutschte auf Thorsten zu, Brühe schwappte über den Rand, sie richtete das
Tablett wieder auf, ein paar Spritzer landeten trotzdem auf seiner Hose. „Oh, wie ungeschickt!
Entschuldigung.“ Xian-Li schob Florian schon mit der einen Hand zur Tür hinaus, während sie mit
der anderen das Tablett auf einem freien Tisch abstellte. Joshi rannte mit Wischtüchern herbei,
hielt sie Thorsten unter die Nase und drängte ihn dabei zurück ins Lokal.
Stefanie sah, wie Florian draußen vor dem „Sushi Paradise“ stehen blieb und mit zerfurchter Stirn
den Kopf schüttelte. Dann war er weg. Ihr Herz schlug heftig, aber Thorsten quetschte sich schon
wieder auf die Bank. „Das fehlte noch, dass die Typen einem die Freizeit versauen“, schnaubte er
und griff zum Reiswein. „Vergiss es einfach. Manche können einfach nicht verlieren. Das passiert
schon mal.“
Später hatte Xian-Li sich ganz höflich bei Thorsten entschuldigt. Sie ging sofort darauf ein, als
Thorsten seinen Anzug ansprach, der gereinigt werden müsse. Stefanie fand das kleinlich, auch
wenn heiße Suppe auf der Hose bestimmt nicht angenehm war. Sie brachte das Essen hinter sich,
wenigstens machte der Reiswein wirklich wie erhofft richtig müde, und nicht nur sie.

Xian-Li räumte gerade ab. Thorsten erhob sich. „Ich gehe noch mal kurz für kleine Jungs.“ Er
lächelte schwach. „Und danach bringe ich dich nach Hause.“ Damit verschwand er nach hinten.
„Du bist ja eben richtiggehend zusammengezuckt“, sagte Xian-Li leise und stellte die Becherchen

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zusammen.
„Ich möchte lieber allein nach Hause fahren. Irgendwie hat mir der Auftritt den Abend verdorben.
Du weißt, wer das vorhin war?“
Xian-Li schloss fast die gold geschminkten Augen und flüsterte: „Mr. Bad guy. Der dich aber
ziemlich interessiert.“
„Wie? Der hat mich benutzt wie ein … ein.“ Ihr fiel nichts ein. „Ich habe dir doch alles erzählt!“
„Und warum sitzt du die ganze Zeit hier auf der Bank und frisst den Bad guy mit den Augen auf?
Wenn da nichts wäre, hätte meine sonst so coole Stefanie den Herrn mit ein paar klaren Worten
draußen vor der Bar abgefertigt und in die Wüste geschickt.“ Xian-Li schob die Unterlippe vor.
„Ich kann mich da an andere Fälle erinnern.“
Stefanie wollte sich an gar nichts mehr erinnern.
„Du willst mir doch nicht etwa erzählen, Darling, dass du auf diesen Anwalt stehst.“ Xian-Li blies
eine Strähne aus dem Gesicht. „Wenn Typen schon vom Kugelfisch faseln, bevor sie Lachs und
Thuna auseinanderhalten können … No good.“
Thorsten kam leider schon zurück. Stefanie hätte wirklich gern mehr von Xian-Lis Einschätzung
mitbekommen, aber im Grunde wusste sie ja selbst Bescheid. Cool sein war bestimmt besser als
Häschen-vor-der-Schlange. „Xian-Li hat recht. Du hast zu viel Reiswein getrunken. Sie hat dir ein
Taxi gerufen.“ Sie strich sich über den Hals. „Nicht wahr?“
„Kommt sofort!“, sagte Xian-Li und ging zum Tresen.
„Aber …“, Thorsten schaute etwas verwirrt aus müden kleinen Augen.
„Ich kann von hier aus laufen.“ Stefanie nahm schon ihre Handtasche und strich Thorsten zum
Abschied über den Oberarm. „Gute Nacht.“
„Wir sehen uns beim Squash?“, rief er ihr hinterher.
Stefanie vergaß die Antwort. Draußen vor der Tür war es regnerisch feucht. Sie starrte die Straße
entlang, Leute gingen in die Bars oder standen rauchend davor. Sie starrte in die Ferne und wusste
nicht, wieso. Das Taxi für Thorsten fuhr vor. Stefanie lief schnell unter den Schatten der nächsten
Straßenbäume.

Florian lief immer weiter weg vom „Sushi Paradise“, dessen Name ihm immer mehr wie Hohn
vorkam. Er lief immer weiter durch die nächtlichen Straßen. Erst das Brandenburger Tor in der
Ferne machte ihm klar, wie weit er sich schon verirrt hatte. Er ließ sich die Straße Unter den
Linden entlangtreiben, wo der nächtliche Verkehr tobte. Aber nichts lenkte ihn ab. Noch immer
war der Anblick wie eingebrannt in seinem Hirn: der Arm Wredes, der Stefanie auf die Schenkel
langte. Der Anblick, wie sie an den miesen Anwalt gekuschelt vor der roten Lackwand der Sushi-
Bar einfach so dasaß. Florian war blind für die Touristen, die fröhlich lachend auf dem Boulevard
flanierten. Er hatte nur um den Block gehen wollen, alles vergessen wollen, doch je länger er lief,
desto schwärzer wurde es in ihm. Schlimmer als die drohende Pleite war nicht einmal, dass
Stefanie mit diesem Mistkerl tatsächlich zusammen war. Am schlimmsten war, dass sie so mit
ihm gespielt hatte, ihn für einen billigen Vorteil so heimtückisch verraten hatte, und er es einfach
nicht verstand, warum eine Frau wie Stefanie so sein konnte.
Das Brandenburger Tor stand jetzt groß vor ihm, er schaute über den Pariser Platz, zum Hotel

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Adlon. Florian wich einer Wurstverkäuferin aus, um die sich ein paar Kids drängten. All die
Menschen um ihn herum kamen ihm auf einmal mit ihren gut gelaunten Gesichtern, ihren ganzen
MP3-Playern vor wie Aliens. Er machte einen großen Bogen um sie. Blitze von Digicameras
leuchteten auf, beinahe wäre er in eine Hundeleine gerannt. Jemand zerrte einen Golden Retriever
vor ihm aus dem Weg. Das Tier gab einen Laut von sich, und am liebsten hätte Florian auch seine
wirren Gefühle einfach aus sich herausgeknurrt.
Sein Handy piepte mit dem Signalton für eine SMS. Er zögerte, das Letzte, was er jetzt lesen
wollte, war irgendeine verlogene, eben mal schnell eingetippte Kurznachricht von Stefanie. Er
starrte in die Lichter der Großstadt am Pariser Platz. Aber dort blinkten an den Banken auch die
Leuchtdioden der Alarmanlagen. Er durfte nicht vergessen, dass er Chef einer Firma war.
Vielleicht war ja etwas bei einer Baustelle passiert. Florian zog das Handy aus der Innentasche
und aktivierte die Inbox.
Bin gerade gelandet. Es gibt Probleme mit dem Baggage Claim, es dauert noch, bis ich durch die
Sperre komme.
Nicole! Ein Schreck durchzuckte ihn. In dem ganzen Chaos hatte er total
vergessen, dass er seine Schwester abholen musste. Sie hatte ihn quasi dazu erpresst, wegen des
vielen Übergepäcks. Florian stürzte zum Fahrbahnrand und winkte sich ein Taxi, das ihn um die
Ecke vom „Sushi Paradise“ absetzen sollte, wo sein Wagen stand. Die beiden waren bestimmt
längst weg. Florian verbot sich den Gedanken, wo sie wohl gerade waren und was sie wohl gerade
taten. Doch der dumpfe Schmerz blieb, so sehr er ihn auch zu verdrängen versuchte.

Auf dem Weg zum Flughafen war alles rasend schnell gegangen. Die Straßen waren für Berliner
Verhältnisse seltsam leer gewesen. Florian glaubte nicht an Magie, aber als sogar fast alle Ampeln
auf Grün gestanden hatten, war es doch ein seltsames Gefühl, eine knappe halbe Stunde später
schon am Gate zu sein. Florian musste sogar auf Nicole warten. Doch besser, als zu Hause die
Wände anzustarren, war es allemal.
Endlich ging die Schiebetür unter der Anzeige LH 472 London Heathrow auf. Nicole schob einen
Kofferwagen mit Anhänger durch wie sonst nur das Flughafenpersonal. Sie sah ihn sofort und
strahlte. Allerdings nur für einen Moment, dann ließ seine Schwester sofort ihr ganzes Gepäck
stehen und nahm ihn am Arm. „Du guckst so komisch auf den Boden? Ist etwas passiert? Mit
Papa?“, fragte sie mit besorgter Stimme. Sie duftete nach einem teuren, schweren Parfüm.
„Nein, mit den Eltern ist nichts.“ Er griff schnell nach der Stange des Kofferwagens und zog ihn
zum Fahrstuhl. „Wie war‘s in London?“ Bloß konnte man Nicole nicht so schnell abwimmeln.
„Ich sehe dir doch an, dass etwas nicht stimmt. Du bist so blass, und das bei deiner Haut und
mitten im Sommer.“ Nicole hielt eine der Taschen auf den Koffern fest, eine zweite fiel fast
herunter, so schnell zog Florian den Wagen fort.
Im Lastenfahrstuhl standen sie schweigend auf beiden Seiten des Gepäcks. Nicole schaute ihn an,
eine tiefe Falte stand auf ihrer Stirn. Beim Rausrollen übertönten drei Autos alle ihre Fragen. An
seinem Wagen hatte er endlich genug Luft. „Das ist das letzte Mal, dass ich dich in meinem
Ferrari mitnehmen kann.“ Er öffnete den Kofferraum.
Nicole hielt seinen Arm fest. „Das ist es also. Du hast den Prozess verloren.“
„Genau.“ Was nicht ganz stimmte, aber er fand keine Kraft, ihr jetzt zu erzählen, dass er von
Stefanies Verhalten völlig von der Rolle war, gerade weil er sie so anziehend fand. „Je eher ich

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den Wagen verkaufe, desto besser. Dann habe ich wenigstens einen Monat länger Geld für die
Löhne meiner Jungs.“ Florian packte die Sachen. „Ist vielleicht sowieso besser. Der frisst ja eh zu
viel Benzin.“
Wortlos stiegen sie ein. Nicole schnallte sich an und wartete, dass er etwas sagte. Auf der
Stadtautobahn brach sie das Schweigen. „Ich habe gehört, dass du am Wettbewerb teilnehmen
wirst.“
„Woher weißt du das denn?“, fragte Florian und schaute kurz zu ihr hin, bevor er wieder bremsen
musste.
„Von Mr. Rami. Er hat nämlich … Also … Die Sache ist die …“ Nicole nuschelte fast, so leise
sprach sie.
Wenn Nicole umständlich wurde, wollte sie nicht alles erzählen. Deshalb machte Florian nur:
„Hm?“
„Ich habe von Mr. Rami einen Riesenauftrag bekommen. Dafür muss ich sogar noch Leute neu
unter Vertrag nehmen. Dieses Luxus-Resort ist das spektakulärste Hotel am Persischen Golf.
Sagen sie zumindest. Deshalb brauchen sie bei den Eröffnungsfeierlichkeiten VIP-Hostessen für
alle Konferenzräume und – Medienbereiche. Das Resort ist so groß, dass du dich schnell verlaufen
kannst. Außerdem kommt die halbe Welt dahin, achtzehn Sprachen mindestens muss ich
bereitstellen.“ Sie seufzte und lachte gleichzeitig. „Und die Hostessen sollen auch noch etwas von
Tourismus verstehen. Das Management von Abu Faira vertritt eindeutig die höchsten Ansprüche.“
Florian überholte drei Lastwagen. „Danke, dass du mir den Kontakt vermittelt hast. Vielleicht
rettet mich das vor dem Ruin, wenn ich den Auftrag gewinne.“
Sie blickte ihn besorgt an. „Du siehst abgekämpft aus“, sagte Nicole mit ganz anderer Stimme.
„Dir steckt die Messe auch ganz schön in den Knochen, nicht wahr?“ Jetzt waren sie schon fast
wieder ganz ehrlich miteinander, wie früher in den Jugendzeiten, wenn sie gegen Mutters
Vorschriften wie Pech und Schwefel zusammengehalten hatten.
Später in Nicoles Wohnung dampfte bereits der Kakao in einer riesigen Tasse, als er die letzen
zwei Koffer von unten in das ausgebaute Dachgeschoss geschleppt hatte. Sie saßen nebeneinander
auf dem großen Sofa. Nicole blies auf die Schokolade, um sich nicht den Mund zu verbrennen;
Florian rührte lieber mit dem Löffel darin.
„Weißt du noch, wie wir früher darum gestritten haben, was den Kakao schneller abkühlt?“, fragte
Nicole ein paar Minuten später.
Florian brummte nur. Er war schon auf die Seite gesunken. Er merkte noch, dass sie seine Beine
auf das Sofa legte, ihm die Schuhe von den Füßen zog und eine Decke über ihn breitete, bevor er
einschlief.

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7. KAPITEL

Tage hatten die Grafiker unter Hochdruck an Roberts Entwürfen gearbeitet. Stefanie legte die
Hochglanzausdrucke auf dem Tisch in ihrem Büro zur Ansicht aus. „Es ist toll.“ Sie war richtig
begeistert. „Wenn man die Veränderung der Fassadenprojektionen nacheinander betrachtet,
entsteht genau die Geschichte, die du haben wolltest, Robert.“ Ein letztes Mal richtete sie die
Blätter aus. Ein rechter Winkel hatte bei Robert van Halen neunzig-komma-null-Grad. Licht ist
gnadenlos präzise. Das müssen wir auch sein,
war einer seiner Wahlsprüche. „Wie ein Comic
ohne Text.“
Mit den Fingerspitzen tippte Robert nervös auf dem Rand des Tisches entlang und begutachtete
alles. Sein unbestechliches Auge korrigierte die Lage der Blätter noch einmal. „Das reicht aber
nicht. Stefanie. Das reicht noch lange nicht. Die Zuschauer müssen die Geschichte im Kopf
spontan erleben können, sie müssen den Text quasi hören, auch wenn er nicht gesprochen wird.“
Robert nahm sich ausnahmsweise die blaugetönte Sonnenbrille von den Augen. Es stimmte
überhaupt nicht, was alle dachten: Robert hatte sogar wenig Falten für einen Endvierziger, seine
Lider waren nicht aufgedunsen von irgendwelchen nächtlichen Exzessen in verrufenen Clubs. Er
war wirklich einfach nur extrem lichtempfindlich.
Müde drückte er jetzt die Finger auf die Akupressurpunkte am Nasenbein. „Es tut mir leid.
Zwischen Position drei und vier muss noch etwas hinein, die sechs muss raus.“
Dann müsste die Grafik aber noch mal von vorn beginnen, dachte Stefanie, während sie schon um
die Fertigstellung der Präsentation bangte. „Die DVDs hast du bereits abgesegnet.“
„Das ist ein anderes Medium …“, murmelte Robert und schüttelte den Kopf. Er legte die Hände an
die Ellenbogen. Sein blauer Anzug war zerknautscht. „Da!“ Sein Finger tippte auf die Position
vier. „Das tauschen wir mit der drei. Dann kommt hier noch ein Faserjet und vier Hyper-
Kugelblitze mit Infrarotüberblendung. Ich skizziere das gleich.“
Es würde viel zu lange dauern, das alles umzusetzen. Stefanie spürte, wie es ihr im Magen mulmig
wurde. „In zwei Stunden erwartet man mich in der Botschaft von Abu Faira“, sagte sie. „Diese
Änderung können wir nicht mehr einarbeiten.“ Sicherheitshalber fügte sie hinzu: „So brillant
deine Vorschläge auch sind.“
Robert hielt mitten in der Bewegung inne und drehte sich langsam zurück. „Du willst doch nicht
etwa sagen, dass dieser Mist hier zum Kunden soll? Wozu habe ich die Oversize-Bildschirme
gekauft?“ Er sah von den Ausdrucken auf. „Warum habt ihr das nicht selber gemerkt?“
Sie koordinierte das Projekt, dazu gehörte auch, dass es ordentlich präsentiert werden konnte. Und
das bedeutete natürlich nicht nur perfekt, sondern auch pünktlich. „Ich will nur sagen, dass wir die
Leute von Abu Faira unmöglich warten lassen können. Immerhin wartet der Botschafter
höchstpersönlich auf mich, hat mir Mr. Rami gesagt.“
„Na und? Hier geht es um Kunst!“ Robert zuckte nur mit den Schultern.
Hier ging es um einen verdammt dicken Auftrag, das wussten die Manager des Luxus-Resorts im
Emirat auch. Es hätte Stefanie sehr gewundert, wenn die eine Ausnahme machen würden, nur weil
der Künstler noch nicht fertig war. „Für die Botschaft ist es aber wohl eher ein normaler Auftrag
im Rahmen der Eröffnungsfeierlichkeiten.“

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Mit einem Ruck setzte Robert sich wieder die Brille auf und starrte sie durch die blauen Gläser an.
„Für mich nicht!“
„Es ist Business …“, wagte sie einzuwerfen.
„Nein. Kunst! Was glaubst du, warum wir light arts heißen? Arts, verstehst du, art bedeutet Kunst.
Der Botschafter muss dafür einfach Verständnis haben.“
Stefanie schaute zur Uhr auf dem Computerbildschirm ihres Schreibtischs. Es war fast klüger,
einfach Ja-und-Amen zu sagen. Sonst verlor sie noch mehr Zeit im Streit.
„Das wird geändert. So geht das nicht raus.“ Robert lief schon am Tisch auf und ab und sammelte
die bunten Ausdrucke in anderer Reihenfolge zusammen. Er hielt ihr den Stapel hin. „So muss es
geordnet werden.“
Stefanie fühlte, wie sich ihr Nacken verspannte. Ihre Lider zuckten vor Nervosität. „Das wird in
der kurzen Zeit nur klappen, wenn du dich in der Grafik neben die Bildschirme stellst und gleich
die Fehler der Kollegen ausmerzt, fürchte ich.“
„Alles muss man selber machen“, schäumte Robert und stürzte hinaus. „Wozu bezahle ich euch
eigentlich?“
Stefanie sagte lieber nichts. Sie würde jetzt nur noch funktionieren: die ganze To-do-Liste
abarbeiten, die Texte an die neue Reihenfolge anpassen, die Folien parallel drucken und die DVDs
neu brennen lassen. Stefanie schwirrte der Kopf.
In diesem Moment rief Robert hektisch aus der Grafik: „Stefanie, erkläre du es ihnen noch mal,
hier begreift mich keiner.“
„Bin schon unterwegs!“ Stefanie schnappte sich die Checklisten. Die Kollegen würden sie hassen,
wenn sie jetzt Druck machte. Aber das war ihr Job. Und was wäre erst los, falls das Emirat von
dem ganzen Entwurf nichts halten würde?

„Folgen Sie mir ins Vorzimmer, Frau Clarin.“ In der Botschaft des Emirats Abu Faira deutete Mr.
Rami eine Verbeugung an und ging einfach durch den breiten Flur über den schweren Teppich
voran. Stefanie war froh, nach all den streng dreinblickenden Tor-, Parkplatz- und Türwächtern
der Botschaft ein freundliches Lächeln zu sehen. Noch vor zwei Stunden hatte sie heimlich
befürchtet, dass sie es niemals schaffen konnten. Aber kaum hatte sie den Kollegen verständlich
machen können, was Robert mit den Änderungen an der Präsentation wollte, waren alle begeistert
gewesen. Sogar ihr Chef vergaß seine übliche Nervosität und wurde ganz sachlich. Alle arbeiteten
hochkonzentriert. Robert war von Bildschirm zu Bildschirm gesprungen und hatte hier und da
Kleinigkeiten korrigiert. Jedenfalls konnte sich Stefanie sicher sein, dass die Präsentationsmappe
und die DVD in ihrer Tasche 1-a-Top-Qualität waren. Daran würde es nicht scheitern. Jetzt musste
sie selbst nur noch durchatmen und sich einfach auf Roberts kreatives Genie verlassen, das in den
Unterlagen steckte und schon viele Investoren überzeugt hatte. Und sie selbst konnte ja auch gut
verkaufen. Stefanie schmunzelte – das war schon auf den Weihnachtsmärkten im Rheinland so
gewesen. Sie hatte immer den besten Umsatz von allen gemacht, obwohl sie nur selbst gestrickte
Pullover und Schals verhökert hatten. Nun wesentlich entspannter, folgte sie Mr. Rami um die
nächste Ecke.
„Das Vorzimmer.“ Er lächelte und wies in einen lichtdurchfluteten Saal. Stefanie blinzelte. „Ich
möchte Ihnen mitteilen, dass sich der Botschafter entschuldigen lässt.“

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Alarmiert versuchte sie im Gesicht Ramis zu lesen, doch der lächelte nur freundlich diplomatisch
wie immer.
„Stattdessen wird Sie seine Exzellenz Emir Aqad persönlich empfangen.“ Mr. Rami verneigte sich
und verschwand hinter einem Samtvorhang.
Stefanie hob den Kopf. Das Vorzimmer war ein Saal, er reichte über zwei Etagen. Sie grinste
angesichts der Untertreibung des Diplomaten. Je eher sie sich an den opulenten Luxus gewöhnte,
der in Abu Faira wohl Standard war, desto besser. Karamellfarbener Stein verkleidete die Wände.
Er war mit bunt eingelegtem Marmor geschmückt, sodass sich geometrische Arabesken endlos
wanden. Spontan gefiel es ihr. Wie auch die roten Samtvorhänge und die dunklen Holzmöbel. Ihr
Blick schweifte an den fünf Fenstern vorbei zum anderen Ende, wo ein ausgestopfter Löwe auf
einem Podest ruhte. Davor stand ein Mann im dunkelgrauen Anzug von ihr abgewandt und
studierte die Fangzähne des Tieres. Stefanie suchte Halt an einer Säule. Damit hatte sie nicht
rechnen können. Genau diese perfekte Rückenlinie hatte sie umfasst, so gern berührt. Florian.
Sie durfte ihrem Gefühl nicht nachgeben. Früher war sie von Sportlern gelangweilt gewesen und
hatte ihnen doch nachgetrauert. Florian war viel interessanter, musste deshalb jetzt die Sehnsucht
auch heftiger sein? Es war der gleiche Fehler, nur größer. Stefanie straffte sich, sie war
geschäftlich hier. Wieso drängte er sich in ihr Leben? Ausgerechnet jetzt. Die lockeren,
selbstsicheren Schritte, die er um den ausgestopften Löwen machte, ärgerten sie, so abgehetzt wie
sie selber wegen Roberts Geniesprüngen war. Florian hatte wohl nie Probleme.
Jetzt hatte er sie gesehen, zwischen den Tatzen des Tieres hindurch. Wie verdutzt er war. Erst
reckte er den Kopf über dem Löwen, um sich sicher zu sein, dann neben den Vordertatzen vorbei.
Stefanie unterdrückte ein Lächeln voller Genugtuung und lief zu einem riesigen Sofa an der
Fensterfront. Sie musste vernünftigerweise so tun, als ob er Luft wäre, selbst wenn es schwerfiel.
Auf dem Polster legte sie die Mappe neben sich und verfolgte mit den Augen die verschlungenen
Linien auf dem Marmor. Der Typ war Luft für sie. Definitiv. Linie hinauf, Linie hinunter. Es
gelang ihr nicht. Sie schielte zu ihm hinüber.
Florian saß auf einem Stuhl an der Wand und starrte hinaus in den Botschaftsgarten, wo eine hohe
Fontäne in den Himmel schoss. Als seine dunklen Augen zu ihr herzuckten, blickte sie rasch weg.
So bunt und atemberaubend die Raumdekoration auch war, Stefanie konnte sich nicht damit
ablenken. Sie riskierte es wieder: Florians Blick war direkt in ihre Augen gerichtet. Einen Moment
glaubte sie, dass sie telepathische Fähigkeiten habe. Es waren zwar keine Worte, aber irgendetwas
zwang sie, den Kopf nicht wieder wegzudrehen. Sein Blick war voller Zorn, zerschmolz aber
schon dahin zu einem seltsamen Fragen, zu einem unsicheren Warum? Sie war so verwirrt, dass
sie nicht wusste, was ihr Blick antwortete, nur dass sie etwas antwortete, das ihn aufstehen ließ.
„Ich hätte dich nicht hier bei der Auswahlrunde erwartet“, sagte er mit belegter Stimme.
Kaum hatte er gesprochen, zerriss die Verbindung. Sie erinnerte sich wieder. Auf keinen Fall
durfte sie nicht vergessen, was er getan hatte. Er war ganz der eiskalte, konkurrierende
Unternehmer. „Weil du gehofft hast, die Botschaft würde so die Ideen, die du bei uns abgekupfert
hast, nur einmal sehen?“
„Wenn hier jemand Informationen geklaut hat, dann du.“ Florians Stimme kippte von hellem
Überraschtsein in dunkles Drohen. „Du hast mich und meine Firmengeheimnisse ausgehorcht.“

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„Was soll ich?“ Stefanie hatte nicht verhindern können, dass ihre Stimme etwas schrill geworden
war. Sie starrte dieses frisch rasierte Gesicht an. „Du drehst durch.“ Wie die Sportler vor ihm, nur
schlimmer. Florians Blick war hart, sein sinnlicher Mund nur noch klein und verbittert, er presste
die Lippen zusammen. Da begriff sie es: Er hatte seinen Prozess verloren. Eine Sekunde tat er ihr
leid. Aber nicht länger. „Du hast mich benutzt, um an die Ideen von light arts für diesen
Wettbewerb zu kommen.“
„Könnte es sein, dass du dich von deinem Lover Wrede hast einspannen lassen, ein bisschen nett
zu mir zu sein, damit er für seine Prozessquote punkten kann?“
Jetzt drehte er anscheinend komplett durch. „Thorsten Wrede ist nicht mein Lover.“ Auch wenn er
es bestimmt gern werden würde, Stefanie hatte dessen Anrufe bei ihr im Büro lieber nicht gezählt.
„Nicht?“ In seinem Gesicht ging eine Veränderung vor, seine schmal zusammengekniffen Augen
gingen auf. „Wirklich nicht?“
„Aber nein, wir spielen Squash zusammen. Ich kenne ihn von früher.“
Florian hielt sich plötzlich mit den Handgelenken die Stirn. „Stefanie, ich … ich fürchte, wir
haben beide schrecklich aneinander vorbeigeredet.“
Wieder sirrte etwas wie telepathisch durch ihre Gedanken, dass sie nicht fassen konnte. Es war so
voller Energie, dass sie nicht unterscheiden konnte, ob es eine Warnung oder eine frohe Botschaft
war. „Willst du etwa behaupten, dass du ganz zufällig vor meinem Bürofenster herumgeturnt
bist?“
Seine dunklen Augen schienen so unergründlich und tief wie ein Brunnen. „Ja, das bin ich,
wirklich.“
Stefanie war froh, dass sie saß. „Aber dann …“ Hätte sie sich ja geirrt …
Ein Stakkato klang durch den Saal, Stöckelabsätze. Stefanie blickte auf.
Die Frau war sehr gut zurechtgemacht, selten hatte Stefanie eine solch raffiniert aufgesteckte
Frisur gesehen, das schmale Gesicht kam voll zur Geltung. Einen Moment glaubte Stefanie fast,
eine der blonden Fernsehmoderatorinnen hätte einen Termin in der Botschaft. Die Beine in den
schwarzen Highheels schienen geradezu endlos zu sein.
„Entschuldigt bitte“, sie lächelte sogar zu Stefanie her. „Du hast das zu Hause bei mir auf der
Couch vergessen. Ich hätte nicht hineingeschaut, wenn ich nicht gewusst hätte, dass du heute hier
bist.“ Sie reichte Florian eine dünne Mappe aus edlem Chamois-Papier. „Ich habe ebenfalls ein
Meeting in der Botschaft.“ Sie strahlte ihn an. „Viel Glück“, sagte sie in diesem ziemlich
norddeutschen Tonfall, dann küsste sie Florian flüchtig auf die Wange. Florian stand da wie
gebannt. Die Absätze hallten wieder auf dem Marmorboden.
Stefanie starrte der Frau hinterher. Gar nicht telepathisch, sondern ganz klar formte sich der
Gedanke in ihrem Kopf: So verhält sich eine Frau nur, wenn sie a) sich ihrer eigenen Wirkung
ganz sicher ist und b) ihren Freund ganz genau kennt.
Diese Einsicht versetzte ihr zwar einen Stich, war aber so logisch, dass er sie sogar ihre
Verwirrung vergessen ließ. „Du hast dich ja schnell getröstet“, flüsterte Stefanie. Sie wies zu dem
roten Vorhang, hinter dem die Blonde verschwunden war. Für ein Zwischenspiel gab sie sich nicht
her: Wenn Florian Talhofer mal Abwechslung brauchte, musste er sich eine andere suchen.
Florian lachte leichthin. „Nicole ist bloß meine Schwester.“

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Das war ja fast schon komisch. „Natürlich, und morgen regnet es lila Frösche. Und weil sie so
blond ist wie du“, sie fixierte seine schwarzen Haare, „und den totalen Elfenteint hat wie du“, ihr
Blick lief über seine honigbraunen Wangen, „ist sie deshalb natürlich deine Schwester.“ Stefanie
griff sich ihre Mappe. „Außerdem kann ich hören, wie sie redet. Glaubst du, ich kenne keine
Norddeutschen? Während du manchmal die Silben verknödelst wie die Bavaria persönlich.“ Es
war Zeit, dass sie sich auf Wichtigeres konzentrierte. Sie war nicht hier, um ihr Privatleben in
Ordnung zu bringen, sondern um zu arbeiten.
„Nicole ist meine Halbschwester, wirklich! Sie kann scho redn wie a Bayernmadl.“
Sie spitzte spöttisch die Lippen. „Na klar. Und eigentlich ist sie gar keine Frau, sondern dein
Halbbruder, der gleich einen Auftritt in einer Travestie-Show hat.“ Mit beiden Händen winkte
Stefanie ab. Sie musste dabei aber wegschauen, weil sie sein treuherziger Blick schon fast
überzeugt hatte. „Lassen wir beide es einfach, ja?“
Der Vorhang an der anderen Seite des Saales bewegte sich. Mr. Rami erschien und sagte so
freundlich wie immer. „Frau Clarin, der Emir erwartet Sie. Folgen Sie mir bitte.“
Stefanie nahm ihre Unterlagen und würdigte Florian lieber keines Blickes mehr. Sie atmete noch
einmal ganz tief durch. Light arts und ihr Job, das war jetzt wichtig, nichts sonst.

Florian starrte ihr hinterher. Er hätte es doch wissen können, früher war es doch auch oft so
gewesen, dass sich niemand vorstellen konnte, dass Nicole und er den gleichen Vater hatten. Nur
weil Nicole und er jeweils völlig nach ihren Müttern geschlagen waren … Plötzlich begriff er, wie
absurd er in Stefanies Ohren geklungen haben musste. Hatten sie sich nun richtig über den
Ideenklau ausgesprochen oder nicht? Florian konnte Stefanie nicht richtig einschätzen, seine
Urteilskraft verließ ihn bei einer tollen Frau einfach. Leider.
Als er Nicoles Schritte hinter sich hörte, fuhr er herum. „Das war übrigens Stefanie.“ Beinahe
wurden ihm die Augen feucht. „Es war alles nur ein Missverständnis, weißt du?“ Er starrte auf den
Boden in ein blaues Marmorquadrat.
„Oh“, meinte Nicole erschrocken. „Oh“, sagte sie noch einmal mit schwererer Stimme. „Dann bin
ich wohl gerade zum denkbar schlechtesten Moment aufgetaucht.“
„Wie kommst du eigentlich hierher?“ Florian hatte das Gefühl, dass die Welt langsam nur noch
aus Rätseln und Menschen bestand, die aneinander vorbeiredeten.
Nicole verschränkte die Hände ineinander. „Aus der privaten Etage der Botschaft.“ Sie ging zum
Fenster und schaute hinaus in den Garten. „Der Emir hat mich zum Tee eingeladen.“ Sie wandte
sich um, sah ihm aber nicht in die Augen. „Ich habe ihm vorhin verraten, dass du mein Bruder
bist, als wir über die verschiedenen Einsendungen zum Wettbewerb sprachen.“
„Der Emir spricht mit dir darüber beim Tee?“ Florian versuchte den Blick Nicoles aufzufangen,
doch sie ordnete ihre Frisur und verdeckte mit den Händen ihr Gesicht. Als ob sie sich schämte.
„Und was hat das mit deinem Auftrag für Abu Faira zu tun?“
Nicole schaute ihn immer noch nicht an. „Die Details hat er schon festgelegt. Er ist gewohnt,
schnell zu entscheiden.“
„Bei einer Tee-Einladung in seinen Privaträumen …“
„Warum nicht?“ Sie blickte aus dem Fenster.
Das klang fatal danach, dass Nicole Privates und Geschäftliches vermischte, dass sie mit ihrem

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tollen Aussehen gespielt und den Emir eingewickelt hatte. Vor Florians innerem Auge zogen die
Männer vorbei, für die Nicole früher etwas empfunden hatte. Er konnte sich nicht vorstellen, dass
sie nun plötzlich eine Schwäche für erfahrene Herren mit grauen Schläfen entwickelt hatte.
„Nicole, du hast nicht etwa meinetwegen diese Einladung zum Tee angenommen?“
Ihr Kopf fuhr herum, sie öffnete die sorgfältig geschminkten Lippen, aber ihre Antwort erstarb.
Am Saalende hatte sich die Tür geöffnet. „Herr Talhofer, der Emir erwartet auch Sie“, sagte Mr.
Rami so verbindlich diplomatisch wie je.

Rami hatte sie gebeten, im Vorzimmer zu warten. Die Teppiche unter Stefanies Pumps waren
noch weicher, sie verschluckten die Schritte Florians hinter ihr. Sie kämpfte mit sich, dass sie sich
nicht umdrehte, fast fühlte sie so etwas wie Angst, wie weit er ihr gerade jetzt auf die Pelle rücken
könnte.
Mr. Rami öffnete eine Tür, auf der wild verschlungen arabische Schriftzeichen in Gold prangten.
„Hoheit lässt bitten.“ Er selbst blieb jedoch an der Tür stehen.
„Willst du nicht hineingehen?“, fragte Florian leise hinter ihr.
Stefanie ignorierte ihn. Sie betrat den lichtdurchfluteten Raum. Im ersten Moment glaubte sie
einen Berg Gold und Diamanten glitzern zu sehen, dann begriff sie, dass ein großer
Zimmerspringbrunnen vor ihr perlte. Dahinter weitete sich der Audienzsaal und gab den Blick frei
auf eine Sofalandschaft. An der Stirnwand in der Tiefe des Raumes prangte ein riesiges
Staatswappen, daneben leuchteten rechts und links zwei mannsgroße Schwerter. Darunter stand
ein weißer Lackschreibtisch, auf dem sich nichts weiter fand als ein Apple-Notebook. In den
tippte ein junger Mann in Jeans, grüngelben Sneakers und bequemem weißen T-Shirt gerade noch
etwas ein. Er sah einen Moment auf, Stefanie fing einen belustigt-interessierten Blick aus
erstaunlich hellen braungrünen Augen ein. Der Kontrast zu seinem schwarzen, kurz geschnittenen
Haar war sehr irritierend, ebenso sein Kinnbart, der fast wie aufgemalt wirkte, aber er war einfach
so dicht gewachsen.
„Setzen Sie sich bitte dort in die weißen Sessel.“ Der junge Mann deutete mit der Hand nach links
vor eine Fensterfront, die zum Botschaftsgarten hin den Blick freigab. An seinem Handgelenk
leuchtete noch ein Clubbändchen in Neonorange.
Stefanie wusste nicht, ob Florians verwirrter Blick ihr galt oder dem jungen Mann dort am
Computer. Sie setzte sich mit dem Rücken zum Licht, das vom Garten hereinstrahlte. Florian
nahm mit dem größten Abstand zu ihr Platz, sodass zwei Sitzgelegenheiten zwischen ihnen frei
blieben. Und trotzdem schien Stefanie seine Nähe so unerträglich wie das Geraschel, das er mit
den Papieren auf dem Schoß veranstaltete. Sie zwang sich, hinüber zum Staatswappen zu schauen
und darüber nachzudenken, was der junge Mann dort wohl noch für den Emir vorbereitete.
Von den großen Fenstern zum Garten her hörte sie das Klappern von hohen Schuhen auf Marmor.
Die blonde Frau von vorhin! Sie wandte den Kopf und zuckte unwillkürlich zusammen. Hier im
Empfangssaal?
Die Blondine setzte sich auf den Mehrsitzer neben Florian, sodass sie mit ihm tuscheln konnte.
Von wegen Halbschwester, dachte Stefanie. Wen anders als Florians Frau würde ein arabisches
Land überhaupt bei solch einer Besprechung vorlassen? Stefanie hatte ein Gefühl, als wäre die

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Raumtemperatur schlagartig gesunken.
„Wie lange müssen wir auf den Emir warten?“, flüsterte Florian der Blonden zu.
„Aber er ist doch schon da!“ Die Frau schaute verstohlen zum weißen Schreibtisch vorn im Raum.
„Das ist Emir Aqad von Abu Faira.“
Florian war weniger diskret, und Stefanie auch nicht. Sie reckten synchron die Hälse. Nur gelang
es Stefanie, nichts zu sagen, während Florian entglitt: „Ach!“
„Glaubst du etwa, ich …“, die Blonde legte ihre Hand auf Florians Unterarm. Stefanie konnte den
Anblick dieser zärtlichen Geste kaum ertragen.
„Sorry, I kept you waiting, die Regierungsgeschäfte …“ Der junge Emir kam angelaufen und rieb
sich die Hände. Er nahm der Sesselreihe gegenüber in einem breiten roten Sessel Platz, lehnte sich
locker zurück und zeigte ein Filmstar-Lächeln. „Aber jetzt geht es um mein Lieblingsprojekt. Ich
habe mir von Anfang an, seit ich dieses Luxus-Resort plane, eine grandiose
Eröffnungsveranstaltung gewünscht.“
Stefanie mochte seinen britischen Akzent sofort. Sie gab sich einen Ruck. Warum sollte nicht ein
junger Emir Ende zwanzig in Abu Faira das Sagen haben? Sie hätten noch besser recherchieren
sollen. Es galt zu punkten. „Light arts wird Sie Ihnen geben“, versicherte sie mit ihrem besten
Lächeln.
Der Emir legte den rechten Fuß im gelbgrünen Sneaker auf sein linkes Knie. „Ich darf Ihnen
beiden verraten, dass Sie in der Endrunde sind.“ Er fuhr sich über den kurzgeschorenen Kopf.
„Wissen Sie, ich habe nach dem Studium in Cambridge bei dem Architekten Sir Jordan Leicester
gearbeitet, der weltweit baut.“ Er lachte. „Wenn Abu Faira an die Weltspitze kommen soll, dann
muss ich das Know-how dort abholen, wo es zurzeit gerade ist.“ Er griff zu einer Fernbedienung
und aktivierte einen Knopf. „Erfrischen Sie sich. Granatapfelsaft-Frappé ist das Nationalgetränk
von Abu Faira.“

Nachdem der Diener wieder verschwunden war, hatte sie der Emir mit ein paar Beobachtungen
über die Londoner Kunstszene unterhalten, bis er plötzlich mit ganz anderer Stimme, fast hart und
befehlsgewohnt, gesagt hatte: „Erläutern Sie mir Ihre Vorstellungen.“ Stefanie hatte über den
High-definition-Ausdrucken die Stationen der Fantasiereise ausgebreitet, die sich Robert
ausgedacht hatte. Die DVD hatte der Emir einfach beiseitegelegt. „Der Spirit Ihres Konzeptes ist
wichtiger, technisch kann man alles nacharbeiten.“ Stefanie hatte geredet und geredet und schon
gefürchtet, dass sie komplett den Faden verlor. Aber die braungrünen Augen des Emirs hatten ihr
nur Bewunderung und Mitdenken signalisiert. Und irgendwann war sie gar nicht mehr nervös,
sondern einfach nur wirklich begeistert gewesen. Ihr Chef Robert hatte Tausendundeine Nacht in
die heutige Zeit versetzt und wunderbare Lichtsequenzen für diese Illusionen gefunden. „Und am
Ende wird man glauben, dass der Palast in lila Feuer verbrennt wie ein Phönix.“
Der Emir klatschte in die Hände. „Danke, Frau Clarin. Das klingt alles wunderbar, nach wirklich
neuen visuellen Eindrücken.“ Er deutete mit dem Zeigefinger auf Florian. „Wenn Herr Talhofer
jetzt nicht die Ideen von light arts toppt, dann …“
War es dieser bewundernde Augenaufschlag der Frau mit der blonden Hochsteckfrisur, dieses
Lächeln, das jeder amerikanischen Präsidentengattin zur Ehre gereicht hätte? Oder war es einfach
die Tatsache, dass Stefanie sich gerade ausgepowert hatte? Irgendwie hatte sie das Gefühl, als

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fiele sie auf diesem edlen Ledersessel in sich zusammen. Sie hatte Mühe, die dunkle Stimme
Florians zu ertragen. In genau diesem charmanten Ton hatte er mit ihr auf ihrem Balkon
geflüstert. Er scheute sich nicht, den Emir damit einzuwickeln.
„… und dann wechselt das Spezialpapier die Farbe, und der Palast scheint zu zerbröseln …“
Florian sprach die letzten Silben extra langsam.
Wie bitte? Von Zerbröseln hatte sie zuerst gesprochen, als sie in Berlin unterwegs waren. Es
schien Stefanie, als sei diese Nacht Jahre her. Also doch! Er schmückte sich hier mit ihren Federn!
Sie wollte schon protestieren, aber dann wurde sie ganz ruhig. Vergiss nicht, mit wem du sprichst.
Du bist dafür zu klug. Zicken kommen nie gut an.
Sie hörte einfach nicht mehr richtig hin. So gut wie light arts war Florian bestimmt nicht. Predigte
Robert nicht immer: „Sollen sie mich doch beklauen, so gut wie das Original werden die
Abkupferer niemals sein.“?
Plötzlich drang der britische Akzent des Emirs Aqad in ihr Bewusstsein. „Ich danke Ihnen, Herr
Talhofer.“ Dann erhob er sich elegant. „Morgen um 14 Uhr werde ich Ihnen hier meine
Entscheidung mitteilen.“
Stefanie nickte ihm zu. „Vielen Dank, dass Sie sich Zeit für light arts genommen haben.“ Man
sollte immer am Ende noch einmal den Namen des eigenen Unternehmens verankern.
„Ich wünsche Ihnen einen guten Tag.“ Der Emir zeigte sein Starlächeln.
Stefanie nutzte die Chance und ging sofort. Sie wollte einfach nicht hören, welche Floskeln
Florian und seine Frau absondern würden.

Florian war es während Stefanies Präsentation ständig heiß und kalt über den Rücken gelaufen. Er
begriff, wovon sie am ersten Abend eigentlich gesprochen hatte. Damals hatte er es vor lauter
Faszination für diese tolle Frau einfach nicht kapiert, es hatte irgendwie zu viel Spaß gemacht, den
einfachen Handwerker zu spielen, der sich ein bisschen frech die Frau gegenüber Zentimeter für
Zentimeter genau ansieht.
Und dann auch noch diese Blicke von Nicole zum Emir. Wie hatte er nur glauben können, dass
Nicole sich einem älteren Mann an den Hals werfen würde. Nicole hatte Geschmack, schon
immer. Dieser leicht verschleierte Blick über ihren sonst so kühl-analytischen Augen verriet ihm,
dass Nicole echt und ehrlich verliebt war. Und wenn ein arabischer Emir nur einen Funken so
tickte wie jeder andere Mann, dann bedeutete dieses Immer-wieder-zu-Nicole-Hersehen, diese
kleine Furche auf seiner Stirn, die sich sofort entspannte, nur eines: Dieser Mann sorgte sich um
seine Schwester Nicole und wollte sie jede Sekunde gut aufgehoben wissen. Was war das anderes
als Liebe?
Als er seine Ideen vorgestellt hatte, war er sich die ganze Zeit wie ein Roboter vorgekommen, der
ein perfektes Programm reproduziert. Der eigentliche Florian Talhofer wäre lieber zu Stefanie
gegangen, um ihr alles zu erklären.
„Morgen um 14 Uhr werde ich Ihnen hier meine Entscheidung mitteilen“, sagte der Emir gerade.
Stefanie bedankte sich und ging eilig hinaus.
„Vielen Dank, Emir Aqad.“ Florian verneigte sich kurz. Er folgte Stefanie aus dem Empfangssaal.
Nicole bedeutete ihm mit einem Wink ihres Kinns, dass sie beim Emir bleiben würde.
Ein Diener geleitete ihn hinaus zum Parkplatz. Auch das noch. Stefanies Auto stand genau neben

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seinem Ferrari.
Sie würdigte ihn keines Blickes, startete und hätte beinahe seinen Kotflügel gerammt. Die
Parklücke war wirklich verdammt eng.
Florian sprang in seinen Wagen. Er konnte ihren Blick nicht auffangen, aber die Abweisung in
ihrem Gesicht verriet noch durch die beiden Autofenster hindurch, wie sehr sie mit Nachgeben
kämpfte. Das war erregend schön. Welch Leidenschaft musste in Stefanie stecken. Er beeilte sich,
zu starten und Platz für sie zu machen.
Die beiden Autos fuhren Ballett, ein ganz modernes Minimalballett, vor, zurück, aufeinander zu,
abgerückt, Hupe an, Hupe aus. Zurück und vor, und doch kein Platz zum Ausfahren.
Im nächsten Moment hörte er die Autotür von Stefanies Wagen schlagen. Sie lief einfach zum
Gitter der Botschaft hin und starrte in den Vorgarten auf eine Steinskulptur. Florian hatte schon
seine Wagentür ausgeklinkt, er würde sie jetzt in die Arme nehmen und so lange festhalten, bis sie
ihm endlich Glauben schenkte.
Doch als sein Fuß den Asphalt berührte, wusste er, dass das falsch war. Es war das verdammte alte
Problem. Er wusste auf einmal nicht, was er sagen sollte. Überhaupt nichts. Kein Wort. Jetzt, wo
die Entscheidung des Emirs Aqad über ihnen schwebte, was würde Stefanie von seinem
Gestammel glauben? Nichts.
In seinem Leben war er immer gut damit gefahren, einem Herzensgefühl nur nachzugeben, wenn
er auch mit dem Bauch an einen Erfolg geglaubt hatte. Und der signalisierte klar: Heute lieber
nicht.
Florian rangierte vorsichtig aus der Parklücke. Er hatte verdammt noch mal genug in der Firma zu
tun.

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8. KAPITEL

So musste sich ein Tier auf dem Weg zum Schlachthof fühlen. Florian rollte mit dem Ferrari auf
den Stellplatz vor dem Händler. Einen Moment gönnte er sich noch, strich mit den Händen über
die schwarzen Ledersitze. Okay, es war der Traum eines jeden Jungen, mit einem roten Ferrari
über die Autobahn zu brausen oder vor den Clubs zu halten und damit ein wenig die Chance zu
erhöhen, die Girls auch nach Hause fahren zu dürfen. Aber was war daran schlecht? Einen
Moment schloss er die Augen, Erinnerungen blitzten auf, lange Nachtfahrten bis zum
Morgengrauen. Frühstück am Meer …
„Das war‘s.“ Er seufzte und öffnete wieder die Augen. Schließlich war er längst kein Junge mehr,
sondern ein Mann mit Verantwortung für eine Firma. Sein Hier-und-Jetzt war weniger romantisch,
eher katastrophal.
Auf dem Gelände in Berlin-Moabit waren viele Spezialfirmen versammelt, die die teuersten
Automarken verkauften oder für Fans die ältesten Oldtimer wieder zum Rollen brachten. An
jedem anderen Tag hätte sich Florian Zeit genommen, herumzuflanieren, in den Läden ein
bisschen zu fachsimpeln und dann vielleicht doch mal in einem der allerersten Mercedes
überhaupt Probe zu sitzen. Heute ging er schnurstracks zum Ferrari-Händler.
In der Halle blinkte es nur vor teurem Blech. Herr Pahl wartete schon in der Lounge-Zone, wo
unter den Hochglanzbildern aus der Produktion Kauf und Verkauf abgewickelt wurde.
„Es macht die Sache einfach, dass Sie letzten Monat den Wagen zur Inspektion gebracht haben.“
Der dünne Mann trug ein weißes Hemd mit einer Ferrari-Krawattennadel. „Ich brauche nur noch
den Kilometerstand.“
„Knapp vierundzwanzigtausend.“ Florian erschrak, wie belegt seine Stimme war. Es ist nur ein
Auto.
Herr Pahl tippte auf einem kleinen Taschenrechner herum. Vor Florians Blick verschwammen die
großen Autos zu Farbflecken. Deine Firma ist wichtiger. Dann fokussierte er seine Augen wieder
auf die Verkaufslounge. Ein Mann rauschte herein, dieses affige Wehen des Mantelaufschlags
hatte er doch gerade erst gesehen … Tatsächlich, dieser miese Anwalt Thorsten Wrede wedelte
mit einem Ferrari-Schlüssel in der Hand und rief: „Service! Ist hier jemand?“
Herr Pahl stand auf. „Der Kollege parkt gerade noch einen Wagen ein. Er ist sofort für Sie da!“
„Ist gut … Hey, wen haben wir denn da? Mr. Sushi!“
Florian fühlte in den Händen den ehrlichen Wunsch, Mr. Anwalt einfach an den Schultern zu
packen und auf einem der niedrigen Hocker vor der Werbetafel zu parken wie einen kleinen
Jungen. Denn genau das war er, ein unreifer kleiner Junge.
„Mr. Sushi spricht nicht mehr mit mir?“ Wrede kam langsam herbei. Herr Pahl sah von den
Notizen auf.
„Machen Sie einfach weiter, als ob nichts wäre“, sagte Florian leise.
„Oh, müssen wir den 360 Modena F1 verkaufen?“ Wrede stellte sich vor den niedrigen Tisch und
linste frech auf die Papiere. „Rosso Corsa mit nero Ledersitzen.“ Er nickte langsam. „Ein schönes
Auto. Es muss verdammt wehtun, wenn man es abstoßen muss.“
Florian erwiderte nichts, sondern nickte bloß Pahl zu.

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„Nun, dann kann ich Ihnen 99.900 anbieten“, meinte der Ferrari-Händler.
Er wäre sowieso mit allem einverstanden.
„Zentralverriegelung, zwei Airbags, Klimasteuerung, F1-Getriebe mit Schaltpaddeln, ABS,
elektrische Fensterheber …“ Wrede rieb sich das Kinn. „Und das bei der niedrigen Laufleistung.
Ich würde hundert dafür bieten.“
Florian ignorierte den Anwalt, den Pahl ungehalten anschaute. „Wollen Sie ernsthaft mitbieten?“
„Sie kennen mich doch. Natürlich.“
Das wäre das Letzte, wenn Thorsten Wrede seinen Ferrari fahren würde.
„Hundertfünf“, sagte Pahl.
Thorsten Wrede funkelte ihn an. „Ich glaube zwar nicht, dass der Herr mir den Ferrari verkauft,
trotzdem. Hundertzehn.“
Pahl wiegte den Kopf. Florian wusste nicht, wofür er Wrede mehr hassen sollte: für die
Erniedrigung, wenn er von ihm Geld nahm und einen höheren Preis erzielte als ohne ihn, oder für
den teuren Stolz, wenn er doch den Wagen lieber an Pahl für weniger verkaufte. Du brauchst jeden
Euro.
Der Wagen war längst nicht bezahlt, die Bank würde ihren Teil haben wollen, der Rest ging
für den nächsten Monatslohn seiner Jungs drauf.
„Hundertelf“, sagte Pahl.
„Hundertfünfzehn“, triumphierte Wrede und hakte die Daumen am Mantelaufschlag ein.
„Okay“, sagte Florian. Er griff zum Verkaufsformular auf dem Tisch und unterschrieb Blanko.
Plötzlich fühlte er sich wieder Herr der Lage. Er hatte Wrede einfach überrumpelt. „Sie haben den
Wagen. Pahl ist Zeuge.“ Allein das dumme Gesicht des Anwalts war es wert. Florian hängte sofort
an: „Pahl füllt dann den Vertrag treuhänderisch für mich aus, die Schlüssel bekommen Sie von
ihm.“ Er knallte die Ferrari-Schlüssel auf die Unterlagen, nickte beiden Männern kurz zu und
erhob sich.
„Aber …“ Wredes Gesicht war noch immer vor Schock ganz lang.
„Wollen Sie den Wagen doch nicht?“, fragte Pahl gereizt und zupfte an der Krawattennadel.
Florian grinste ihn an. Wenn Wrede jetzt einen Rückzieher machte, outete er sich als der miese
Typ, der er war.
„Wir nehmen auch Ihren jetzigen Wagen in Zahlung“, sagte Pahl.
Nachdem Wrede Zustimmung mehr geknirscht als ausgesprochen hatte, schüttelte Florian die
Hand des Verkäufers. Den Anwalt ließ er stehen.
Draußen auf der Straße wurde Florian klar, dass es in diesem Industrieviertel keine Taxis gab.
Zum ersten Mal seit Jahren würde er von hier mit dem öffentlichen Bus wegfahren. Er durfte jetzt
nicht denken, dass sein Abstieg begonnen hatte, er musste an sich glauben. Auch im Berg durfte
man nie an sich zweifeln, das war lebensgefährlich.

Zu seiner Verwunderung stellte Florian kurz darauf fest, dass er mit dem Nahverkehr bis ins
Botschaftsviertel gar nicht so lange gebraucht hatte, wie er geglaubt und geplant hatte. Also nutzte
er die eingesparte halbe Stunde für einen Spaziergang durch den Tiergarten. Seltsamerweise
beruhigte ihn die kleine Wanderung unter den schattigen Bäumen, fast hatte er seinen Ferrari
schon vergessen. Als er die Auffahrt zur Botschaft von Abu Faira hinauflief, brauste Stefanie im
Wagen an ihm vorbei. An der Schranke hatte er sie fast eingeholt, aber sie winkte nur dem

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Wachmann.
Nun saßen sie beide im Botschaftsgarten unter einer Art Sommerzeltdach weit auseinander auf
Gartenstühlen, hierher hatte sie der Diener vom Empfang geführt. Hinter ihnen schwammen
Seerosen in einem Bassin. Stefanie hatte eine große Sonnenbrille aufgesetzt und schien sich nur
für das in Marmor gemeißelte Wappen des Emirats zu interessieren, das vorn am Becken prangte.
Aber an dem nervösen Spiel ihrer schönen Finger auf der Lehne sah er an, dass sie mindestens so
gespannt war wie er selber.
Hinter einem hohen undurchdringlichen Buschwerk erklang Gelächter. Ein, zwei sehr helle Töne,
die sich rasch mit dunklen mischten: Florian erkannte die Stimme seine Schwester sofort. Dann
hörte er Schritte auf Kies, doch nur der Emir erschien. Heute trug er einen hellen Sommeranzug,
der einfach in Mailand maßgeschneidert worden sein musste, so perfekt unterstrich er die drahtige
Figur des Emirs.
Er setzte sich nicht zu ihnen, sondern legte bloß die Hände ineinander und schaute von Stefanie zu
Florian und zurück. „Frau Clarin, Herr Talhofer. Ich konnte mich lange nicht entscheiden. So
unterschiedlich Ihre Projekte sind, so faszinierend sind sie doch beide. Aber schließlich …“
Stefanie nahm langsam die Sonnenbrille herab, auf ihrer schönen Stirn stand eine tiefe Falte.
Florians Mund wurde trocken.
„… haben mich unsere Tourismusspezialisten in Abu Faira davon überzeugt, dass wir am besten
…“
Stefanie legte die Hand auf ihren Ausschnitt und stellte die Füße unter dem Stuhl um, Florian
zwang sich, seine Hände einfach auf den Oberschenkeln liegen zu lassen.
„… dass wir am besten beide Projekte vor Ort testen.“ Der Emir zeigte sein Lächeln und sah nun
wirklich wie ein Typ auf dem Laufsteg einer Fashion Week aus.
„Ich verstehe nicht ganz, Emir Aqad?“ Die Frage rutschte Florian einfach raus.
„Was ist daran schwierig?“ Der Emir lachte. „Frau Clarin wird den Ostflügel mit ihrer
Lichtinszenierung verwandeln, und Sie den Westflügel mit Ihren magischen Papieren einpacken.
Unser Luxus-Resort ist groß genug. Und Geld spielt keine Rolle. Sie bekommen beide das
Preisgeld für die erste Runde.“ Er sah kurz auf seine schwere Armbanduhr. „Die Zeit stellt eher
ein Problem dar. Aber Flexibilität bürgt ja bekanntlich für Qualität. Sie haben acht Stunden, alles
für Ihre Präsentation Notwendige einzupacken und am Flughafen anliefern zu lassen. Wir fliegen
zusammen in meinem Privatjet, pünktlich um 22 Uhr. Die Details hat Mr. Rami Ihnen schon in
Ihre Büros gemailt.“ Er drehte sich um und ging über den Kies davon.
„Das ist jetzt nicht wahr!“, sagte Stefanie und starrte Florian an. „Die haben noch nicht
entschieden?“
Wenigstens verschaffte ihm das Preisgeld genug Luft in der Firma. „Es sieht so aus.“
„Aber wie soll ich denn in acht Stunden die ganzen Lichtprojektoren …“ flüsterte Stefanie und
hielt sich den Kopf.
Dein Problem, hätte er jedem anderen Konkurrenten gesagt, aber Stefanie tat ihm leid. So viel
Erfahrung mit Projektmanagement hatte sie ja nicht. Doch als er einen Schritt auf sie zu machte,
sprang sie auf und stürzte davon – ohne an ihre Handtasche zu denken.
Er rief ihr hinterher: „Deine Handtasche! Stefanie?“

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Sie wandte sich so abrupt um, dass sie mit dem Schienbein gegen die Kante des Seerosenbassins
stieß. Mit einem Schmerzenslaut hinkte sie auf ihn zu. Er reichte ihr die Handtasche. Ihre Finger
berührten fast seine Hand, aber nur fast.
„Danke“, murmelte sie. Ihr Blick flackerte eine winzige Sekunde zu lange in seinem. Florian
suchte nach einem rettenden Satz, doch schon mit den nächsten Gedanken wurde die Liste in
seinem Kopf, was er sofort erledigen musste, länger und länger. Und so konnte er ihr nur hilflos
hinterhersehen, als sie nun endgültig verschwand.

„Du bist ein Schatz, was würde ich ohne dich machen?“ Stefanie räumte in ihrem Bad ihr Make-
up und die antiallergene Waschlotion zusammen.
Xian-Lis Lachen drang aus dem Schlafzimmer. „Willst du nicht den Badeanzug mitnehmen?“
„Ich muss auf Lichtprojektor-Gerüsten herumkraxeln, schon vergessen?“ Wo waren denn ihre
Lippenstifte?
„Die haben bestimmt einen Pool so groß wie zwei Blocks in Berlin. Außerdem musst du ja auch
mal Pause machen, um wieder frisch zu werden.“
Rot, nude, orange? „Pack ein, was du willst. Du machst das schon richtig.“ Xian-Li hatte sofort
Hilfe zugesagt, als sie vom Parkplatz der Botschaft angerufen hatte. Stefanies Schlachtplan war
klar. Sie hatte ihren Chef Robert bei light arts informiert, damit der die Teams auf die
Sondersituation einnorden konnte. In der Zwischenzeit würde sie kurz zu Hause Koffer packen
und dann ins Büro und von dort zum Flughafen fahren. Xian-Li war die Einzige, der sie blind
vertraute, sie würde in der Hektik weder Strumpfhosen noch Slips vergessen, wie ihr das selber
durchaus passieren könnte.
„Es klingelt!“, rief Xian-Li aus dem Schlafzimmer. „Soll ich?“
Im Bad hörte man es nicht. „Nein.“ Stefanie lief zur Tür ihrer Wohnung. Wahrscheinlich der
Nachbar, der das Paket abholen wollte, das schon seit Wochen herumstand. Sie riss die Tür auf.
„Fertig?“ Thorsten Wrede stand im Sportoutfit vor ihr. „Der Court ist zwei Stunden für uns frei.“
Ein paar Wochen Training hätte er besser noch abgewartet, bevor er solch enge Lycrateile trug.
Sie hatte die Verabredung mit ihm total vergessen. „Ich kann nicht, ich muss heute noch fliegen.“
„Wohin denn?“ Thorsten stellte seine Sporttasche ab. Es klirrte wie Glas.
„Keine Zeit!“ Sie müsste Xian-Li noch sagen, dass sie die Blumen gießen sollte und …
„Dafür ist immer Zeit!“ Thorsten hatte sich zur Tasche gebückt und hielt eine Mediumflasche
Champagner hoch. „Danach spielst du wie eine Göttin.“ Er schwenkte die Flasche.
Stefanie wusste nicht, was sie mehr ärgerte. Dass Thorsten sie so verglich oder dass sie Zeit
verlor. „Es geht nicht. Sorry.“ Sie schob die Tür zu.
„Stefanie, wir waren doch verabredet …“ Das Türblatt klackte an die Flasche in seiner Hand.
„Es tut mir leid. Nicht heute.“ Sie drückte die Tür weiter zu, er zog den Fuß gottseidank zurück.
„Wann dann?“, fragte ein enttäuschtes Gesicht, von dem sie nur noch den Ausschnitt durch den
Spalt sah. Irgendwie fand sie, dass er in diesem Augenblick wie ein kleiner unreifer Junge aussah.
„Weiß nicht.“ Stefanie drückte die Tür ins Schloss. Sie seufze laut auf. „Hast du alles?“, rief sie
zum Schlafzimmer hin.
Xian-Li rollte schon ihren großen Reisekoffer in den Flur. „Sure, Darling. War das Mr. Boring?“
Stefanie rollte nur mit den Augen. Xian-Li kicherte, und sie war froh, dass es ihrer besten

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Freundin heute als Kommentar genügte. Wahrscheinlich hatte sie sowieso gelauscht.

„Nun stellt euch mal alle im Kreis auf, sonst wird das nüscht. Jeder kriegt von mir eine Liste.“
Frau Olgert domptierte mit ihrem mütterlich-strengen Ton die ganze Mannschaft. Florian dankte
dem Himmel einmal mehr für die Idee, sie einzustellen. Er hatte per Handy alle Leute von den
Baustellen gerufen. Sein Vormann Fred hatte geflucht wie ein betrunkener Seemann.
„Ihr kramt jetzt die letzte Schraube aus dem hintersten Winkel für den Chef.“ Frau Olgert blickte
alle scharf an. „Angestoßen wird laut Generalplan um 21 Uhr 30, wenn der Chef hier vom Hof
rollt. Das Bier habe ich schon kalt.“ Sie zwinkerte. „Und nun ab! Ich wimmele jetzt die anderen
Kunden am Telefon ab.“ Die Sekretärin rauschte aus der Lagerhalle.
Fred war über seine Liste gebeugt. „Chef, in den Vorgaben fehlt die Materialreserve. Ich habe
noch kein Projekt erlebt, bei dem kein Seil gerissen oder sich keine Schraube als eine
Fehlproduktion herausgestellt hätte.“ Fred kratzte sich am Schädel. „Soll ich die Listen
nachkalkulieren?“
„Sie müssen jetzt zum Großhandel, Chef, sonst machen die dort zu!“ Die Olgert hielt ihm schon
die Jacke.

Im Foyer von light arts packte Stefanie mit dem Team alle Gebrauchsanweisungen,
Steueranlagen, Transformatoren, DVDs in Spezialkisten. „Verdammt, nichts passt.“
„Normalerweise richten wir das in zwei Tagen“, meinte die junge Spanierin mit ihrem Akzent,
den Stefanie sonst süß fand, sie heute aber nur daran erinnerte, dass sie in eineinhalb Stunden in
ein Land fliegen würde, wo sie selbst kein Wort verstand. Es war ihr erster Auslandseinsatz – und
sie würde zum ersten Mal das Technikerteam leiten.
„Stefanie?“, dröhnte der Ruf ihres Chefs Robert aus dem Creative-Raum. „Kommst du bitte?“
„Mach weiter, ja?“
Auf dem Weg nach hinten wurmte Stefanie ein Gedanke, den sie nicht fassen konnte. Irgendetwas
Wichtiges hatte sie die ganze Zeit übersehen, nur was?

Florian hatte dann doch lieber Fred zum Materialeinkauf mitgenommen, der einfach immer den
Überblick behielt. Sie waren gerade mal bis zu den Eisenwaren vorgedrungen, als der
Lautsprecher im Baumarkt knackte. „Werte Kunden! Wir schließen heute wegen einer dringenden
Reparatur der Klimaanlage um 19 Uhr. Bitte begeben Sie sich zu den Kassen. Wir danken für
Ihren Einkauf.“
Bei der säuselnden Frauenstimme schrak Florian zusammen. „So ein Mist! Uns fehlen noch
vierhundert Spezialhaken und der Ersatzzwirn. Und die schwedischen Akkus für die Helmlampen,
verdammt.“ Er starrte auf die lange Liste in seiner Hand.
„Ich kenne mich hier aus!“ Fred spurtete los, Florian schob den Wagen weiter. Wie ein 100-
Meter-Läufer raste Fred vor den Regalen entlang und legte die fehlenden Dinge einfach davor auf
den Fußboden. Florian sammelte das Zeug ein. Er sah Freds kahlen Kopf und die schwarzen
Arbeitsklamotten nur rechts-quer, links-quer durch den Mittelgang flitzen. Mit dem schweren
Wagen kam er einfach nicht so schnell hinterher.
„So, das war‘s!“ Fred war ganz außer Atem und warf eine Packung ganz oben auf den

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vollgepackten Wagen. Florian starrte ihn an. „Watte?“ Fred war nun nicht gerade einer, der
besonders gehätschelt werden musste.
„Wenn der Chef oder einer von den Jungs dort auf dem Gerüst Ohrenschmerzen von dem
Meereswind bekommen, was dann?“ Der Industriekletterer grinste breit.
„Nun kommen Sie schon, wir schließen!“, fauchte die Verkäuferin, die sich weit über das
Förderband beugte. „Den Laden hätten Sie uns auch morgen noch leer kaufen können. Über Nacht
trägt keiner was weg.“ Sie seufzte und tippte los.
„Chef, wollten Sie nicht noch ein bisschen Kofferpacken, zu Hause?“
Himmel, in seinen Outdoor-Klamotten konnte er wohl kaum den Privatjet des Emirs besteigen.
„Aber erst schaffen wir das Zeug hier weg.“ Er legte die Kreditkarte zwischen die rosa lackierten
Fingernägel der Kassenfrau. „Mit Quittung.“
Auf der Preisanzeige leuchtete 19 Uhr 27 in Giftgrün.

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9. KAPITEL

Stefanie stellte im Creativ-Raum von light arts ihr Wasserglas ganz leise ab. Klirren machte ihren
Chef Robert nur noch nervöser. Die Minuten verrannen wie Sand in der Uhr. Und noch immer
klickte Robert an seinem Bildschirm herum. „Ohne die Masterdatei kann ich nicht losfahren. Die
Kollegen haben die Farbpalette doch fünfmal überprüft.“ Stefanie legte ein klitzekleines Drängen
in ihre Stimme, auch wenn sie wusste, dass Robert das überhaupt nicht schätzte.
„Nein, nein, nein!“ Robert rieb sich die eisgrauen Schläfen. „Mehr Farbe! Darauf bestehe ich.“
„Der Emir persönlich hat sowohl die Ausdrucke als auch die DVD akzeptiert.“ Dass der die DVD
nicht angesehen hatte, das nahm sie jetzt auf ihre Kappe. „Wenn ich nicht pünktlich am Flughafen
bin, war alles umsonst!“
„Ich habe recherchiert, die Landesfarben haben wir noch nicht genau getroffen.“
Sie sah keinen Unterschied. Roberts Farbgefühl hingegen war unbestechlich und hundertfach mit
internationalen Preisen gewürdigt. Robert klickte ganz konzentriert. Dann piepte etwas im
Rechner. Wenn das Ding jetzt abstürzte …! Stefanie sah zur Decke und war froh, dass dort nur
kühles Weiß gestrichen war.
„Ich habe das Programm geändert.“
„Wie bitte?“, entsetzt fuhr Stefanie herum. Roberts chaotische Eingriffe hatten schon viele
Lichtprogramme auf Endlosschleifen gebracht, die die Techniker zum Wahnsinn trieben. „Sag,
dass das nicht wahr ist.“
„Nur an drei Punkten. Du kannst es dir in der Demoansicht anschauen.“ Robert strahlte zufrieden.
Stefanie stand auf und merkte, dass ihr die Knie weich wurden, denn für eine Korrektur hatte sie
keine Zeit mehr. „Ich muss zum Flughafen.“ Sie nahm den Datenspeicher aus Roberts Hand.
Sie war schon an der Tür, da sagte er: „Wenn ich nicht nach Los Angeles müsste, würde ich es ja
selber dirigieren.“ Robert nannte Projektüberwachung immer so, für ihn war Licht wie Musik.
„Stefanie, enttäusche mich nicht!“
„Wenn ich jetzt nicht sofort mit dem Technikerteam losfahre, ist vor allem der Emir enttäuscht.
Und fliegt sicher ohne mich ab.“
Im Foyer wedelte die Sekretärin mit einem Stapel Papiere. „Stefanie, du hast die Zollerklärungen
noch nicht ausgefüllt!“
Stefanie ließ sich mit dem Rücken gegen die Wand fallen. „Das war es, was ich die ganze Zeit tun
wollte.“
„Du solltest es vielleicht auf dem Weg zum Flughafen machen“, meinte die Sekretärin unsicher.
„Oh ja, und der Zoll liest dann aus meinem Gekrakel, was er braucht.“ Stefanie nahm den Stapel
Formulare. „Egal. Es geht nicht anders. Was ist mit den Gebrauchsanweisungen und dem
Gepäck?“ Ihr Blick fiel auf die halb offenen Transportkisten, die an der Wand standen und
notdürftig mit Klebeband verschnürt waren. „So geht das nicht.“
„Besser ging nicht“, meinte die Spanierin unsicher. „Es ist schon 21 Uhr 10.“

„Wo zum Teufel stecken jetzt die Krawatten?“ Florian kippte eine Schublade nach der anderen auf
sein Bett. Der helle Anzug hatte einen Saucenfleck, der dunkle war zerknittert. Am grauen fehlte

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ein Knopf. „Verdammt.“ An den Zustand seiner Hemden in der Wäschetrommel im Bad wollte er
gar nicht denken. Wie sollte er auch noch Hausarbeit machen, wenn er die Firma vor dem
Abschmieren retten musste?
Er setzte sich vor das Bett und ließ den Kopf einen Moment auf die Knie fallen. Dann richtete er
sich wieder auf und sah im Wandspiegel, wie er da halb nackt und panisch die Haare entwirrte.
War er denn völlig enthirnt? Er fuhr in ein Luxus-Resort. Dort gab es Service ohne Ende für die
Gäste, Diener, Hausleute, die einem jeden Wunsch von den Lippen ablasen. In Abu Faira gab es
sicher eine Reinigung. Er würde einfach alle Kleider, die er brauchte, Schuhe, das ganze Zeug in
den Koffer werfen und das letzte saubere Hemd für den Flug anziehen.
Sein Handy piepte mit dem Weckton. 21 Uhr. Er musste jetzt mit dem Lieferwagen zum
Flughafen fahren. Mr. Rami hatte bestimmt schon die Zollformalitäten vorbereitet und wartete
dort … Florian wurde ganz schlecht bei dem Gedanken, dass er etwas Wichtiges vergessen haben
könnte. Aber bei siebenhundertsechsundvierzig Gruppen von Ersatzteilen für seine
Fassadengestaltung war alles möglich.

Als Florian seinen Koffer aus der Haustür trug, glaubte er, dass er tatsächlich verrückt wurde. Das
Rot dort vor der Einfahrt, dieses Rot war als Ferrari-Rot noch im Sonnenuntergang eindeutig zu
erkennen. Und es gehörte zu seinem Ferrari. „Ex-Ferrari“, flüsterte er sich zu, als ob seine Stimme
den Wahn vertreiben könnte: Das Auto blockierte seinen Lieferwagen.
Sobald er den blonden Schopf hinter der Fahrertür auftauchen sah, begriff er, dass er ein ernstes
Problem bekam. Thorsten Wrede grölte über die Straße: „Da ist ja der tolle Ferrari-Verkäufer, der
coolste Typ von Berlin.“
Florian stellte den Koffer schnell in seinen Lieferwagen.
„Ich habe dich vor der Pleite gerettet“, Thorsten tätschelte das rote Blech, „und du hörst mir nich‘
zu?“ Die Silben verschwammen ineinander, er hatte viel getrunken.
Florians Armbanduhr zeigte zwanzig nach neun. Er musste sofort hier weg! „Herr Wrede, bitte
machen Sie die Einfahrt frei. Ich muss zu einem dringenden Termin.“
„Alle müssen heute immer nur weg.“ Die Stimme kippte, wurde weinerlich.
Du liebe Güte, der war sturzbesoffen. „Ich rufe jetzt die Polizei. Ich muss hier weg.“
„Rufe doch, wen du willst, ich bleibe sowieso übrig, mich will keine.“ Ein Schluckauf
verschluckte fast, was er sagte.
„Wollen Sie wirklich als Anwalt in Ihrem Zustand mit der Polizei reden?“, fragte Florian ein
letztes Mal.
„Ach. Quatsch. Sag mir lieber, wie du es machst mit den Frauen. Wie?“
„Was?“
„Stell dich nicht dümmer, als du bist, Klettermaxe. Wie hast du die Stefanie rumgekriegt, dass sie
mich nicht mehr will. Mit Sushi bestimmt nicht, das habe ich ja versucht. Es muss doch einen
Grund haben, dass sie deinen Namen schon im Terminplaner notiert hat.“
„Was spinnst du dir denn zusammen?“ In Florian stieg die Wut an. Stefanie hatte seinen Namen
notiert? Dann hatte sie also am Ende doch alles geplant. „Die Clarin ist eben noch taffer. Du hast
sie benutzen wollen, aber nun hat sie dich gelinkt. Mit deiner Hilfe hat sie mich fast aus dem Feld
geräumt.“ Beinahe faszinierte ihn das doppelte Spiel, das Stefanie inszeniert hatte. Sie hatte den

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Anwalt abserviert, nachdem er ihr den Konkurrenten … Florian war vor lauter Stress nicht mehr
sicher, ob er richtig kombinierte. Er glaubte auf einmal selber nicht mehr, was er da Stefanie
unterstellte. Wichtig war, dass der Anwalt sofort mit seinem, verdammt, Ex-Ferrari die Einfahrt
freimachte.
Er packte ihn an der Schulter. „Du setzt dich jetzt ans Steuer und fährst hier weg. Und dann
erzähle ich dir, wie das mit Stefanie gelaufen ist.“
„Echt?“, schon setzte sich Thorsten auf den schwarzledernden Fahrersitz und stellte den Motor an.
Florian beeilte sich, in den Lieferwagen zu kommen. Kaum war der Ferrari weg, rollte er aus der
Einfahrt.
„Wahnsinn!“ Es gab doch noch Gerechtigkeit auf Erden. Im Rückspiegel sah Florian nicht nur
rotes Blech, sondern auch das neue blauweiße der Berliner Polizei. Also hatten den Anwalt noch
mehr Leute Kurven fahren sehen.
Offenbar war Wrede auch noch mit dem Schutzblech an die Funkstreife gestoßen. Die Beamtin
stand schon auf der Straße und beugte sich zum ihm hinunter.
Florian beeilte sich, sonst müsste er noch als Zeuge aussagen. Er drückte den ersten Gang rein. Es
war 21 Uhr 25, der Flughafen war verdammt weit.

Der Privatjet zog eine lange Schleife über den Lichtern Berlins, flog am Funkturm vorbei, dann
schluckte eine Wolkendecke die Metropole. Stefanie konnte es immer noch nicht fassen, dass sie
den Abflug nicht verpasst hatte. Sie legte sich unauffällig in den weiten cremefarbenen
Ledersessel zurück, damit die drei anderen nichts merkten. Einen Moment schloss sie die Augen,
ließ einfach noch einmal den Stresstag in Gedanken ablaufen, damit sie ihn vergessen konnte.
Sie war mit dem Team im Lieferwagen zum Flughafen gerast, beinahe hätten sie die Einfahrt des
Cargo-Bereichs verpasst, wo sie an einer Schranke von einem Sicherheitsmann empfangen
wurden. Dann fuhren sie hinter einem niedrigen, seltsamen Flughafenfahrzeug her, auf dessen
Dach ein gelbes Licht blinkte. Am Rande des Flugfelds konnten sie schon den weißen Jet stehen
sehen. Mr. Rami wartete am Fuße der Gangway. Er hatte das Team zum hinteren Einstieg
geschickt, sie selbst sollte vorn einsteigen, weil der Emir schon wartete. Was mit dem Zoll sei,
hatte sie noch gefragt. Doch Mr. Rami hatte nur lächelnd abgewinkt. Als Stefanie hinter den
Wagen auf dem Rollfeld einen Lieferwagen kommen sah, war sie schnell hinaufgelaufen, damit
sie ihn nicht sehen musste.
Aber jetzt saß sie doch mit Florian in der luxuriösen Runde von Ledersofas. Und wusste nicht
mehr, was sie mehr in Unruhe versetzte: dass er so unheimlich attraktiv aussah, gerade weil er so
abgekämpft wirkte, oder dass sie diese seltsame Nicole nicht einschätzen konnte, die vor dem
Emir irgendetwas verbarg. Das spürte sie als Frau. Gegenüber lächelte der Emir Aqad, schon mit
einem weißen traditionellen Umhang bekleidet, und neben ihm ruhte diese blonde Nicole in einer
Art weißer Safari-Anzug. Wären die runden Jetfenster nicht gewesen, Stefanie hätte total
vergessen, dass sie in einem Jet und nicht in einem privaten Salon reiste. Leise summte die
Klimaanlage.
„Stoßen Sie mit mir an auf die letzte Runde des Wettbewerbs!“ Der Emir hob das Glas, darin
schimmerte blutrot der geeiste Granatapfelsaft.
Florian griff zum Glas, und Stefanie beeilte sich, damit er ihr keines vom Silbertablett auf dem

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Sofatisch reichen konnte. „Ich freue mich, Ihr Land Abu Faira kennenzulernen.“ Stefanie hörte an
ihrer Stimme, dass sie sich in der Gewalt hatte. Sie war fest entschlossen, neutral freundlich zu
sein. Zicken mochte keiner – auch wenn Stefanie eine Menge bissiger Kommentare auf der Zunge
lagen.
„Es ist ein wunderbares Land, so klar wie die Farben unseres Wappens. Goldener Sand,
saphirblaues Meer und fruchtbar rote Granatäpfel aus den Gärten in den hohen Bergen, wo es viel
kühler ist. Ich werde sie dir zeigen.“ Der Emir hob das Glas zu Nicole.
„Aber erst darf ich meine Models einweisen, ja?“
Stefanie lächelte mechanisch, als der Emir nickte. Angeblich betrieb diese Nicole eine People-
Agentur für First-Class-Event-Personal. Stefanie war sich nicht mehr so sicher, ob sie Florians
Frau war, aber zusammen waren sie bestimmt, selbst wenn diese Nicole jetzt so tat, als hätte sie
nur Augen für den Emir. Es sprach nicht gerade für Florian, dass er auch noch zusah.
Wahrscheinlich war Florian einfach nur ein knallhart berechnender Geschäftsmann, versuchte sie
die Zweifel beiseitezuschieben. Doch ein kleines Stimmchen blieb hartnäckig: Wirklich? Sein
weicher Blick sprach so eine ganz andere Sprache.
„Der Saft ist immer wieder köstlich. Wie lange brauchen wir eigentlich?“, fragte Florian.
„Sechseinhalb Stunden. Aber keine Sorge: Über dem Dinner, dass ich für Sie richten lasse,
vergessen Sie die Zeit. Ein kleiner Vorgeschmack auf die Landesküche, die berühmteste am
Golf!“ Der Emir lachte. „Aber manchmal schmeckt mir auch Fish ‚n‘ chips.“
„Ich war auch Fan davon, als ich mal durch England mit dem Fahrrad …“ Florian brach ab, weil
sich der Kapitän auf Arabisch meldete.
„Das macht er sonst nie, Moment bitte.“ Der Emir zog die Stirn kraus und hörte zu. „Das ist sehr
ärgerlich …“ Er drückte einen verborgenen Knopf, der Diener erschien sofort. „Räumen Sie die
Gläser weg und klappen Sie die Notsitze aus.“ Der Diener tat wie ihm geheißen. Stefanie konnte
gar nicht so schnell schauen, wie sich die Wandpaneele vorn und hinten in der Cabin
verwandelten. Ganz normale Flugsitze kamen zum Vorschein.
Der Emir stand auf. „Safety first. Da ist nichts zu machen. Der Kapitän meldet eine schwere
Gewitterfront, die wir nicht umfliegen können.“ Er reichte Nicole die Hand und führte sie zu den
beiden Sitzen ganz vorn. „Die Alternative wäre nur eine Zwischenlandung in Larnaka auf Zypern.
Aber die Staatsgeschäfte …“
„Selbstverständlich“, sagte Stefanie. Der Flugzeugboden begann schon zu schwanken.
„Beeilen wir uns lieber“, sagte Florian und ging voran. Stefanie setzte sich neben ihn, nur um
festzustellen, dass die beiden Sicherheitssitze sehr viel enger aneinander standen als sonst in Jets.
„Das sind die Notsitze, die sonst die Stewardessen benutzen“, sagte Florian.
„Fasten your seat belts, please“, befahl die Stimme des Kapitäns.
Stefanie spürte Wärme. Ob es die eigene war, weil sie sich doch aufregte, oder ob sie von Florians
Oberarm herströmte – sie hätte es nicht zu sagen vermocht. Einen Moment war sie froh, nicht
allein hier zu sitzen. Aber dann sah sie wieder seinen forschenden Blick und schaute rasch weg.
„Es wird bestimmt nicht lange dauern“, flüsterte er.
„Du brauchst mich nicht zu beruhigen, ich schaffe das schon allein.“ Doch ihre Stimme verriet
mehr Zweifel, als sie zugeben mochte. Schlimmer als das Schaukeln des Jets war, dass er auch

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noch tief in Luftlöcher absackte. Und trudelte.
Florian legte seine kräftigen Hände auf die Lehnen. „Presse dich an den Sitz nach hinten, dann ist
es leichter.“
Es stimmte. Nur ihr Magen hüpfte immer mehr. „Mir wird übel“, flüsterte sie. Ausgerechnet jetzt,
ausgerechnet neben Florian.
Er beugte sich zur Seite und griff um den Sitz herum. Stefanie hatte die Augen geschlossen und
versuchte, ihren Magen zu hypnotisieren. Die Welt bestand nur noch aus dem Wunsch, es zu
überstehen.
„Hier.“ Er hielt ihr einen Spuckbeutel hin. Stefanie zögerte. „Danke.“
„Nimm sie sicherheitshalber.“ Er faltete sie für sie auf. Stefanies Finger zitterten. „Du siehst ja
schon grün im Gesicht aus. Komm.“ Er legte ihr den Arm um die Schultern, und sie presste das
Papier auf die Lippen.
So umsorgt von der Wärme seines Körpers war die Übelkeit leichter zu ertragen. Das Schütteln
und Schaukeln riss nicht ab. Er nahm sie fester in seinen Arm, und es fühlte sich besser an, als sie
sich eingestehen wollte.
„Atme einfach weiter.“
Und irgendwann pendelte das Schwanken aus. Plötzlich perlte arabische Musik aus den
Lautsprechern, und der Flieger lag wieder wie ein Brett in der Luft.
„Wir haben es überstanden!“, rief der Emir von vorn. „Kommen Sie. Genießen wir den Anflug auf
Abu Faira.“
Stefanie legte die Papiertüte weg. Florian rückte von ihr ab. „Geht es?“
Sie konnte ihm nicht in die Augen schauen. Wie konnte ein solch durchtriebener Kerl so gut
trösten? Stefanie, nicht schwach werden, ermahnte sie sich selbst. Er hatte einfach nur weniger
empfindliche Magennerven als sie, vom Fassadenklettern wahrscheinlich.
Zu viert standen sie an den Fenstern vorn. Unter ihnen im tiefblauen Meer zeichneten sich Riffe,
Inselchen und Dünen ab. Die Wüste schimmerte in allen Sandfarben, und in der Ferne ahnte
Stefanie eine Stadt mit hohen Türmen.
„Ein wunderbares Land.“ Die freudige Erregung in Emir Aqads Stimme verriet den Stolz des
Wüstensohns.

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10. KAPITEL

„Komisch, bei den Vorbereitungen habe ich mich auf dem Hotelplan zurechtgefunden. Aber live
ist dieses Luxus-Resort zehnmal größer, als ich es mir vorgestellt habe.“ Das Schlafzimmer seiner
Suite war so groß wie seine ganze Wohnung in Berlin, und im Bad hätte er Inlineskates fahren
können. Heute Morgen hatte Florian zwar das Gym und das Spa ausfindig gemacht, aber nicht den
Rosensalon, wohin der Emir zum Frühstück geladen hatte. „Jetzt erscheint mir alles wie ein
riesiges Labyrinth von Gängen, Innenhöfen und Gärten.“ Selbst Brunnenanlagen gab es mehrfach.
Mal mit einem kleinen Wasserfall, mal mit einer Fontäne über drei Stockwerke hoch. „Ich
bewundere dich, Nicole, dass du dich gar nicht verläufst.“ Er folgte seiner Schwester durch eine
Halle zu einem goldbeschlagenen Portal. „Seit wann hast du ein natürliches GPS im Kopf?“
„Es ist ganz einfach.“ Nicole ging zu den goldenen Türen, die sich von selbst vor ihr öffneten.
Dahinter zeigte sich ein langer Gang, weißer Marmor, ein roter Teppich. In der Ferne erkannte
Florian in einem Rondell eine glitzernde Brunnenfontäne. „Ich war schon ein paar Mal hier“, sagte
Nicole seltsam leise.
„Wieso hast du mir davon kein Sterbenswörtchen erzählt?“ Er hielt sie am Ellenbogen fest. „Was
wird hier gespielt?“ Er verstand Nicole nicht, sie war doch sonst nicht so übertrieben
geheimnisvoll.
Sie blickte rasch den Gang entlang und zog ihn zu einem der schweren Vorhänge, die an den
zahllosen Fenstern das grelle Licht dämpften. Draußen weitete sich der Blick auf das tiefblaue
Meer. Nur eine schneeweiße Yacht zog vorbei. „Es ist kein Spiel. Ich fürchte, es ist ernst.“
Florian starrte seine Schwester an. Ihre ganze Fröhlichkeit war aus ihrem Gesicht gewichen, einen
Moment glaubte Florian, dass sie schwere Schmerzen habe. „Bist du krank?“, fragte er sanft.
Nicole belastete andere ungern mit ihren Sorgen, das meiste machte sie mit sich allein aus.
Plötzlich lachte sie. „Höchstens liebeskrank.“ Sie nahm ihre Hände ineinander. „Am Anfang war
es nur ein netter Abend in einem durchgestylten Londoner Club. Aqad hat mir den DJ vorgestellt,
und noch ein paar Leute. Wir hatten Fun, mehr nicht.“ Nicole legte die linke Hand auf ihr
naturfarbenes Leinenkleid. „Schließlich hatte ich ja mit der Fashion Week genug zu tun. Dann hat
er mich zum Essen eingeladen.“
Das klang ja alles ganz harmlos. Florian wartete, wenn Nicole redete, unterbrach er sie besser
nicht. Er brummte nur verständnisvoll: „Hm.“
„Und dann hat Aqad mich auf ein Jagdwochenende nach Schottland eingeladen. Ich habe mich ein
bisschen gewundert, weil er in London so ganz und gar nicht nach merry old England ausgesehen
hatte.“ Sie lachte wieder. „Das Schloss lag sogar nebelumhangen auf einer Halbinsel. Erst habe
ich nicht geglaubt, dass es ihm gehört.“ Sie breitete die Arme aus. „Gegen den Palast hier ist es
eher klein.“ Sie sah ihn voll an. Ihre grüngrauen Augen waren dunkler als sonst. „Er hat sich in
mich verliebt und will am liebsten jeden Tag mit mir verbringen.“
„Wie lange …“ Florian brach ab, weil sich die Augen Nicoles mit Tränen füllten.
„Dreieinhalb Monate. Es ist … diese ganzen Schlösser, diese Paläste, die Privatjets, der ganze
Aufwand … es ist wie im Märchen. Aber ich war nie eine Romantikerin, die sich als Prinzessin
verträumt … Ich komme damit einfach nicht richtig klar.“ Jetzt lief doch eine Träne aus ihrem

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Auge. Sie wandte sich ab.
Seine so wohl sortierte Schwester war ganz verwirrt. Sie sah das Entscheidende nicht mehr:
„Liebst du ihn denn?“
„Ja. – Das heißt, vielleicht. Ich weiß es nicht mehr. Ich habe mich noch nie so wohl mit einem
Mann gefühlt, von der ersten Sekunde an. Aber je mehr ich von diesem Leben zwischen
Botschaften und Palästen sehe, desto mehr macht es mir Angst.“ Sie lehnte ihren Kopf an seine
Schulter wie ein erschöpftes Tierchen. „Was soll ich jetzt nur machen?“
„Was ist denn so schrecklich?“, fragte Florian und fasste ihre Hand.
„Er hat mich zur Falkenjagd eingeladen.“ Ihre Stimme zitterte.
Florian sah sie verwirrt an. „Und?“
„Aqad will mich seiner Familie vorstellen, damit … nun, er hat es nur angedeutet, aber wenn …
sie mich mögen, dann würde er mich … Ich habe ihm die Hand auf den Mund gelegt. Ich will
nicht, dass er mich fragt. Nicht jetzt. Ich habe doch die ganze Model-Agentur nicht aufgebaut, um
einfach aus meinem Leben auszusteigen wie aus einem Taxi.“
Der Vergleich zeigte, wie durcheinander sie war. „Lass dir Zeit.“
Sie hörten Schritte. Nicole wischte sich rasch über die Augen.
Der Emir winkte vom Brunnen her. Sein weißer bodenlanger Umhang wehte. „Da seid ihr ja
endlich! Kommt, das Buffet ist köstlich!“
Sein Lachen hallte so einladend durch den Flur, dass Florian von der Fröhlichkeit angesteckt
wurde. „Komm, Schwesterherz. Wenn du nichts isst, wirst du erst recht keine gute Entscheidung
treffen. Ich habe auf einmal einen Bärenhunger.“ Kein Wunder bei dem Programm, dass er heute
vor sich hatte.
Der Emir kam ihnen entgegen. „Heute weihe ich dich in die Geheimnisse der Falkenjagd ein. Das
ist viel aufregender, als du denkst. Auch für die Zuschauerinnen im Frauenzelt.“ Er umfasste
Nicole lachend mit beiden Armen, hob sie auf und wirbelte sie um sich herum.
Florian spürte einen Stich. So hatte er Stefanie auf ihrem Balkon herumgewirbelt. Einen Moment
lang spürte er ihr Gewicht in den Armen, ihren Körper vor seiner Brust. Traurigkeit erfasste ihn.
„Wo bleibst du denn?“ Nicole zeigte im sonnendurchfluteten Gang nach vorn. „Das Buffet duftet
köstlich.“

Florian hatte die beiden noch bis zum Hubschrauberlandeplatz auf dem Hoteldach begleitet. Er
genoss die Aussicht auf die weitläufige Hotelanlage. Im Grunde war das Luxus-Resort wie ein
Schmetterling angelegt: Die Zimmerfluchten stellten die Ränder der Flügel dar, die Gartenanlagen
in den Innenhöfen die Farbtupfer in einem Flügel. Der Hauptkomplex mit den Entertainment- und
Wellnessbereichen lag in der Mitte, nach Süden lang gestreckt wie ein Schmetterlingskörper. Der
Kopf entsprach dem abgeschirmten Bereich, in dem die Familie des Emirs residierte. Die beiden
Schmetterlingsfühler konnte er gleichsetzen mit den Privaträumen, bestimmt mindestens zwanzig
pro Seite. Von dort hatte man den schönsten Blick auf das tiefblaue Meer.
Florian drehte sich zur Landseite hin. Hinter einer langen palmenbestandenen Zufahrtsallee, die
doppelt so breit schien wie eine Autobahn, ragten in der Ferne die Türme des neuen Business-
Centers von Abu Faira auf, darunter verschwammen in der Farbe des Sandes die Mauern der
Altstadt.

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Am westlichen Flügel des Luxus-Resorts würde Florian nun seine Showpräsentation aufbauen
müssen. Das Material war inzwischen angeliefert, und im Basement warteten seine Leute schon
auf ihn.

Die Jungs waren guter Laune, sie waren im dritten Innenhof in einer eigenen Suite untergebracht.
Zwei Stunden hatte er ihnen alles erklärt, eingeschärft, genug zu trinken und die Hemden wegen
der Sonnenstrahlung nicht auszuziehen, egal, wie heiß es würde. Dann hatten sie bei vierzig Grad
im Schatten mit dem Aufbau der Gerüste begonnen.
Alles lief am Schnürchen, bis er selbst auf die Ebene 4 hochgeklettert war: Drüben im Ostflügel
sah er Stefanie ihre Arbeiter dirigieren. Sie stand auf einer Hebebühne und ließ ebenfalls Rohr für
Rohr montieren. Trotz Sonnenbrille und – hut, Florian hätte schwören können, dass ihr Blick in
seinem lag, als sie für einen Moment die gut hundert Meter herübersah. Ihr roter Overall
unterstrich selbst auf diese Entfernung ihre Figur. Florian konnte nicht anders, er griff zum
Fernglas und betrachtete sie. In den zwei schwarz umrandeten Ausschnitten sah er, wie Stefanie
abwechselnd in ein Handy sprach und sich mit einem Vorarbeiter über einen Plan beugte. Mit
präzisen Handbewegungen deutete sie danach auf die verschiedenen Zonen der Fassade. Sie war
absolut professionell, die Reaktionen der Leute ließen daran keinen Zweifel. Die nickten nur und
schwirrten ab. So musste es sein.
„Chef? Die Maße stimmen nicht!“, rief Fred von unten.
Florian drehte sich um und stieß mit dem Kopf an eine Querstange. „Wo?“
„Vom Transparent Nummer fünf bis zum siebenundreißigsten, da fehlen jeweils drei Zentimeter
an den Halteseiten.“
„Verdammt!“ Jetzt müssten sie in der Mittagshitze das Ausgleichsband annähen. „Ich komme
sofort runter.“ Wenn man nicht auf alles selber aufpasste.

Stefanie hatte ihn sofort erkannt, obwohl der Westflügel drüben schon in der gleißenden Sonne
lag. Keiner sonst baumelte so locker auf einem dünnen Rohr zwanzig Meter über dem Erdboden
mit den Beinen. Es war natürlich unmöglich, aber sie sah Florians Muskeln, obwohl er einen
blauen Kletteranzug trug. Seine Leute respektierten ihn, nie musste er schreien. Stefanie sah ihn
sogar mit ihnen entspannt beim Aufbau lachen. War er also doch kein knallharter
Unternehmertyp, sondern ganz anders, als sie dachte? Um den Kopf hatten er und seine Leute
Kopftücher wie Piraten gebunden.
Stefanie war froh, dass sie den Gerüstaufbau im Schatten überwachen konnte. „Bringt die
Hauptträger für die Mainlights genau hier an. Abwechselnd um sechzig Grad plus und minus aus
der Zentralachse gedreht.“ Sie deutete auf den Plan, den Robert noch in Berlin minutiös
ausgearbeitet hatte. Am Anfang hatten sie die zig Änderungen verrückt gemacht, die ihr Chef
eingearbeitet hatte, doch dann hatte sie immer mehr begriffen, wie die Lichtinszenierungen
technisch umgesetzt wurden. Es war unheimlich spannend, wie fein er die Lichteffekte steuerte.
„Wann montieren wir die Farblaser? Die sind temperaturempfindlich.“ Der Lichttechniker war
Roberts bester Mann.
„Ich vertraue Ihnen. Aber ich denke, besser nach 17 Uhr, dann soll sich die Hitze legen.“
„Wenn siebenunddreißig Grad kühl in Abu Faira ist, möchte ich nicht wissen, was heiß ist.“ Der

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Lichttechniker tippte mit den Fingern an die Stirn wie beim Militär und ging davon.
Stefanie konnte nicht anders, sie schaute hinüber zum Westflügel – und erstarrte. Florian richtete
ein Fernglas direkt auf sie! Konkurrenzneid? Nein, er hatte genauso wenig Zeit zu verlieren wie
sie. Und wenn er auch ständig an sie dachte … Blödsinn, das musste die Hitze sein. Stefanie schob
den Gedanken weg.
„Stefanie? Wir brauchen die Laserkabel aber schon auf der Sieben-A, können wir sie auf der
Neun-C um drei Meter kürzen?“
Einen Augenblick lang dachte sie noch darüber nach, wie Florian sich fühlte, aber da ließ er schon
das Fernglas sinken und turnte über die Rohre nach unten. Ein großes Transparent nahm ihr die
Sicht. Auch wenn sie sich eigentlich freuen sollte, wenn er Probleme beim Aufbau hatte …
Stefanie konnte es nicht. Und sie wollte schon gar nicht den Wettbewerb nur deshalb gewinnen,
weil Florian seine Show nicht starten konnte.
„Stefanie! Was ist nun mit den Laserkabeln?“, rief es wieder von unten.
Sie hatte die Frage ihres Lichtmeisters vergessen. „Ich schaue mir das lieber an.“ Sie dirigierte die
Hebebühne, erst nach Westen, dann nach unten. Sie hatte die Hebel verwechselt.

Florian hatte eine Generalpause vor der Generalprobe verordnet, wie es die Erfahrung lehrte.
Wenn man nicht durchatmete, dann ging etwas schief, nur weil die Leute zu müde waren. Florian
steuerte den schattigen Palmenhain an, der den Pool beschattete. Ihm gefiel das geometrische
Becken, die türkisblauen Kacheln – und dann sah er Stefanie auf dem Rücken schwimmen. Ihre
Beine wirbelten das Wasser auf, ihre wunderbar geformten Arme holten nach hinten aus. Das
Wasser und die Lichtreflexe glitten über ihren Leib wie goldene Seide. Der Anblick erregte ihn,
gegen seinen Willen blieb er in der Sonne stehen, nur um keine Sekunde zu verpassen. Erst als
ihre Hand am Beckenrand anschlug, drehte er sich um und flüchtete im Schatten entlang zurück
auf sein Zimmer. Er wusste nicht, was seine Sorgen an sein Projekt ausgelöscht hatte, die Hitze
oder das sinnliche Gleiten ihres Bauches durch das Wasser. Warum nur waren tolle Frauen immer
so undurchschaubar?

Stefanie genoss das Schwimmen, mit der Bewegung floss der ganze Stress in das wunderbar
weiche Wasser und wurde davongespült. Sie blinzelte in die Fächerpalmen hoch über dem Pool.
Dann spürte sie mit der Hand den Beckenrand und drehte sich um. Sie sah über den Weg zum
Hotel, direkt auf einen perfekt gerundeten Männerpo und zwei Beine in einem blauen
Kletteroverall. Sie hatte diese Rundungen berührt, gern berührt und sich gewünscht, der Stoff
unter ihren Händen wäre längst gefallen. Erst ein Lichtfleck, der über ihre Augen tanzte, machte
ihr klar, dass sie hinter Florian herglotzte wie ein schüchternes Girlie einem Popstar. Stefanie
tauchte sofort unter, aber das Wasser kühlte nur ihre Haut, ihren Gefühlen konnte es nichts
anhaben.
Als sie die Luft nicht mehr anhalten konnte, tauchte sie wieder empor und rang nach Atem. Auf
dem Weg unter den Palmen war niemand mehr, nur ein Gärtner rechte den Kies glatt.

Florian lag in seinem Bett auf dem Rücken. Er hatte die Klimaanlage auf 27 Grad gestellt, damit
er nachher keinen Hitzeschock bekam. Und doch war ihm heiß, zu heiß, um zu entspannen.

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Es war wie verhext gewesen! Kaum war er vom Pool zur Lounge gegangen, wo man seinen Leuten
ein Mittagessen reichen sollte, war Stefanie am anderen Ende des Saales erschienen. Ihre weiße
Bluse stellte ihre Brüste mehr aus, als dass sie sie verbarg, obwohl sie auch noch ein langes
Strandkleid trug. Er war sofort aufgestanden, sonst hätte er Stefanie über jedem Happen
Meloneneis auf Parmaschinken anstarren müssen.
Aber dann im Keller bei den Materiallagern hatten sie schon wieder fast nebeneinander gestanden,
sie am Lift East Aile 4, er am Lift West Aile 1. In aller Eile hatte er ein Transparent vor sich
gehoben, wie sie einen rollenden Scheinwerfer.
Und danach waren sie sich in der Stromzentrale begegnet: sie auf Level 3 bei dem Chefingenieur
am Hauptpult, er darunter auf Level 2 beim Vizeingenieur am Sicherungspult. Er hörte Stefanie
die gleichen Sicherheitschecks herunterbeten wie er selber: „Keine Überspannungen, keine
Ausfälle, wie viele Notgeneratoren, wie viele Supervisors?“ Es hatte ihn gar nicht gewundert, dass
in dem Moment eine Hauptsicherung durchgeknallt war – und er Hektik unter Elektrotechnikern
so einmal auf Arabisch erlebte.
Jetzt, auf seinem Bett, fiel ihm nichts ein, womit er ihren Anblick aus seinem Gedächtnis hätte
löschen können. Die ganze Technik dort in der Zentrale bot den perfekten Kontrast zu ihrer
weiblichen Schönheit. Oh Mann, Florian, wie willst du nachher die Show steuern? Vielleicht half
eine kalte Dusche. Er sprang vom Bett.

Sie würde sich am Ende noch erkälten. Der kühle Regen aus der Hightechdusche half auch nicht
viel. Wie Florian da unten zwischen den Transformatoren und Hauptkabeln gestanden und auf den
Vizeingenieur eingeredet hatte. Seine dunkle freundliche Stimme war ihr zu angenehm, als dass
sie nicht jedes Wort hätte hören wollen. „Keine Ausfälle, keine Überspannungen, wie viele
Supervisors, wie viele Notgeneratoren?“ Florian hatte die anderen Männer um Haupteslänge
überragt, ein bisschen wie ein Feldherr und doch auch ein bisschen wie ein Junge, den es an den
falschen Platz verschlagen hatte. Stefanie ließ den Gedanken nicht zu, wo der richtige für ihn sein
könnte. Sie warf das Handtuch einfach auf die geometrischen Kacheln und lief zurück in ihr
Zimmer.
Doch so weich das Bett auch war, sie lag allein zwischen diesen kühlen Laken, hörte nur ein leises
Rauschen der Klimaanlage, keine Worte, die ihr ein zärtlicher Mund aufs Ohr küssen würde …
Wie gestochen richtete sie sich auf. Vergiss den Typen sofort, so steuerst du Roberts Lichtshow ins
Desaster.
Sie hob die Beine aus dem Bett und tastete nach der Multimediasteuerung. Die
Surroundanlage sprang sofort an: Like a virgin … Ausgerechnet! Madonnas Stimme füllte ihre
ganze Suite. Stefanie hämmerte mit der Faust auf Stop. Und schaltete leider nur den Kanal um.
Jetzt gurrte eine arabische Frauenstimme herzzerreißend ein Lied aus magischer Zeit. Stefanie
warf sich aufs Bett und schob sich das Kissen über die Ohren.

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11. KAPITEL

Eine Woche schon war vergangen, Stefanie mochte es gar nicht glauben. Die Zeit war gerast,
während das Gerüst für die Lichtanlagen an der Fassade des Ostflügels im Rekordtempo
hochgezogen worden war. Das Team hatte quasi rund um die Uhr gearbeitet, alle Lampen, Laser
und Spots plangerecht angebracht. Stefanie hatte jede Vorgabe dreimal gecheckt, nachts Mails
nach Berlin geschickt und mit ihrem Chef Robert Detailprobleme geklärt. Es hatte ihr richtig Spaß
gemacht, sie hatte so viel gelernt – und wenn sie den Preis gewann, dann konnte ihre Karriere
richtig durchstarten.
Nervös checkte sie ein letztes Mal die Basiseinstellungen auf dem Steuerpult. Alles in Ordnung.
Ihre Kabine war unterhalb des Paradebalkons aufgebaut worden. Über ihr versammelte sich gerade
die Großfamilie des Emirs, gut hundertzwanzig Personen sollten das sein. Wie lange dauerte das
denn noch? Den ganzen Tag hatte sie Hubschrauber auf dem Dach landen hören. Stefanie sah
durch das große Panoramafenster der Kabine aus dem gleichen Winkel wie die Emirfamilie die
Show. Das war wichtig, sonst stimmten manche Proportionen nicht. Die endlos lange Fassade lag
im Dunkel der Sommernacht. Alle Lichter waren ausgeschaltete worden, sogar auf den
Zufahrtsstraßen zum Resort. Nur das Sternenlicht funkelte hoch oben. Wie gut, dass Robert das
berücksichtigt hatte.
Dummerweise konnte sie aber auch die Kabine sehen, die sich Florian hatte aufbauen lassen. Die
war schwenkbar auf einer Hebebühne angebracht, warum auch immer. Sie sollte sich besser auf
das eigentlich Wichtige konzentrieren. Schließlich hatte der Emir Aqad verfügt, dass Stefanie für
light arts beginnen sollte. Und das konnte jeden Moment sein.
Stefanie konnte nicht anders, sie vermutete, dass diese Nicole ihre Finger bei der Abfolge drin
hatte. Ihr Start gab Florian einen Vorteil, weil er noch ein paar Minuten extra für die
Feinabstimmungen gewonnen hatte.
Der Countdown am Pult stand längst auf 0.00, doch der Emir hatte verfügt, dass er ihr selbst das
Go geben würde. Stefanie ertappte sich beim Nägelkauen und ließ es sofort. Das rote Telefon am
Pult summte wie ein Weltraumblitz. Sie war sofort dran: „Stefanie Clarin, was …“ kann ich für
Sie tun.
Gottseidank hatte sie die leere Formel verschlucken können. Der Emir lachte und sprach
noch mit jemandem auf Arabisch. „Frau Clarin? Sind Sie so weit?“
Am liebsten hätte sie seit siebenundreißig Minuten geseufzt. Doch sie sagte nur:
„Selbstverständlich.“
„Dann starten Sie in fünf Minuten.“
Die schienen Stefanie die längsten ihres Lebens. Sie wusste einfach nicht mehr wohin mit ihren
Händen, die immer feuchter wurden. Wie hypnotisiert starrte sie auf die Zeiger ihrer Armbanduhr.
Dann sprang der Zeiger zum fünften Mal auf zwölf. Stefanie klickte auf dem Steuerpult auf Start.
Von jetzt an konnte sie nichts mehr tun, außer notfalls die Performance zu stoppen und einen
Neustart zu veranlassen. Aber verloren hätte sie dann sowieso. Als die blauen Laser die Illusion
einer Morgendämmerung erzeugten, sank sie langsam zurück in den Steuersessel. Es
funktionierte, es wirkte so echt …
Draußen war keine Hotelfassade mehr zu sehen, nur noch ein Meer mit mäßigem Wellengang,

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über dem langsam eine blutrote Morgensonne emporstieg, ein wenig schneller als in Wirklichkeit.
Und mit ihr veränderte sich das Meer, wurde ruhiger, eine Sandbank erstrahlte im ersten
Morgenlicht. Wuchs auf zu einer Insel, die immer länger und breiter wurde, bis sie der Hotelinsel
entsprach, Palmen keimten auf, reiften aus. Und dann sausten bunte Luftgeister herbei, halb
menschlich, halb Nebelfetzen, setzten Mauerteile, Steine, Fenster. Was eben noch wie eine Ruine
aussah, verwandelte sich in einen Pavillon. Stefanie holte Luft, wenn jetzt die Laser versagten …
Doch der kleine Pavillon hob ab, wurde weich, als sei er eine Spiegelung in einem Wasser, drehte
sich in der Luft, stürzte ineinander, verwandelte sich nach und nach zu einer Reihe von
international bekannten Gebäuden. Sogar das bayerische Ludwigsschloss hatte Robert auserwählt,
Windsor Castle und den Dogenpalast aus Venedig … Stefanie war so aufgeregt, dass sie die
Namen vergaß, die sie so oft gelesen hatte. Die Reise um die Welt ging weiter.
Und dann tobte Roberts Fantasie sich völlig aus. Der Umriss des Palasts wurde ständig verändert,
hier mal ein wenig auf europäisch mit Zwiebeltürmchen verwandelt, dort mal auf japanisch mit
Pagodendächern getrimmt. Bis die Luftgeister Farbe über die Wände schütteten, Gold und
Edelsteine verteilten, bis wie in Wirklichkeit das Hotel als Krönung der Palastbaukunst vor den
Zuschauern stand.
Auf der Anzeige verrannen die letzten Sekunden. Stefanie war schweißgebadet und wischte sich
die Stirn. In dem Moment dröhnte durch die Kabinendecke der Applaus der Emirfamilie vom
Paradebalkon. Sogar ein paar Jubelrufe konnte sie unterscheiden. Sie presste die Hände vor Freude
aufs Gesicht und war auf einmal nur noch unendlich erleichtert.
Der Lärm über ihr beruhigte sich. Stefanie sah, wie drüben die Hebebühne mit der Kabine, in der
Florian saß, ruckelte und sich langsam ein wenig vorschob. Dann wurde es über ihr still.
Am Westflügel wurde es hell, Stefanie begriff es erst nicht, aber es war so faszinierend, dass sie
sich vorbeugte. Buchseiten rieselten wie Konfetti über die Fassade, natürlich nicht wirklich, aber
dann sammelten sie sich, und ein riesiger blauer Finger spielte Daumenkino, blätterte durch den
Stapel und … zog Seiten heraus, die sich auffalteten … zu einem roten Ferrari! Florian hatte
einfach sein Auto abfotografiert, oder doch nicht? Denn aus dem Ferrari wurden zwei Wagen,
bevor über die Fassade alle Luxuskarossen der Welt paradierten, nur um optisch zu zerbröseln, um
im nächsten Moment zu wilden Tieren zu werden, zu Stieren, zu Pferden. Die edelsten
Araberhengste weideten, sprangen, rannten über die Fassade, als habe die kein Ende. Die Wüste
unter ihren Hufen schimmerte immer heller, transformierte sich in Gletschereis, die Pferde
wurden zu Drachen, Eisvögeln, Raumschiffen, der Gletscher zu Mondgestein, das unendliche All
tat sich auf, die Sonne leuchtete. Stefanie hätte es nicht gewundert, wenn gleich Captain Picard
eingebeamt würde. Doch die Planeten wurden zu Weihnachtskugeln, zu arabischem Gebäck, sie
konnte gar nicht so schnell schauen, wie die Leckereien aus dem Basar von Abu Faira ausgebreitet
wurden. In der nächsten Sekunde sah sie einen Händler und seine halbverschleierte Tochter,
immer größer wurde das Frauengesicht, bis nur noch die Augen ganz ruhig von der Fassade
herabschauten, unendlich fröhlich und geheimnisvoll grün. Ein schillernder Zeichenstift
umrandete sie, machte eine Zeichenfigur aus der Frau, die über den imaginären Rand kletterte und
einen wunderbar verschlungenen arabischen Schriftzug über die Fassade zog. Und sich am Ende
vor dem Publikum verbeugte – und wie ein Dschinn im lila Rauch verschwand.

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Stefanie schien es, dass der Applaus sofort einsetzte, bevor noch die letzten Schwaden auf der
Fassade verzogen waren. Es war optisch so anders als light arts, man konnte bei Florian immer
sehen, dass es eine Projektion war, und doch war es faszinierend, mitreißend. Das gab sie neidlos
zu.
Oben applaudierte man immer noch. Stefanie konnte nicht anders als die Zeit auf der Anzeige zu
stoppen. Das hörte ja nicht auf! Doch dann begriff sie, dass der Lärm von oben sich mit
Fußgetrappel gemischt hatte. Das rote Telefon summte mit dem Weltraumblitz. Sie hob ab, der
Emir redete sofort los: „Fantastisch, mehr als ich mir erhofft hatte, der Familienrat tagt sofort …
kommen Sie in einer Stunde in den Panorama-Saal, der Diener wird Sie hinbringen.“ Klick.

Die Zeit hatte gereicht für eine belebende Dusche und einen Granatapfelsaft. Stefanie hatte sich
für ein schlichtes Businesskostüm entschieden, dessen grauer Seidenstoff zwar eng saß, aber
wenigstens kühlte. Eigentlich war sie fast nicht mehr aufgeregt, sie hatte alles gegeben. Die Show
war ohne Störung abgelaufen, Robert würde ihr nichts vorwerfen können.
Nun folgte sie dem Diener und stellte fest, dass der für die Familie des Emirs reservierte Teil des
Palastes noch luxuriöser als das Hotel war. Die Verzierungen über den Marmorfriesen an den
Wänden waren aus echtem Gold, das erkannte sie am Widerschein.
Im Panorama-Saal hatten die Fenster indisch anmutende Rundbögen, auch der Marmor war leicht
rosa. Draußen kletterten am Westflügel Florians Leute im schwachen Notlicht an der Fassade
herum. Am Ostflügel sah Stefanie hie und da einen kleinen Laserblitz. Das Team justierte wie
verabredet die Anlage, falls der Emir eine Wiederholung wünschte. Cremefarbene
Sitzlandschaften waren wie Inseln auf dem türkis schimmernden Boden verteilt. An der Rückseite
des ovalen Raumes hing eine lange Reihe mit eindrucksvollen Porträts von Emiren. Vor dem
letzten Bild stand Florian.
Sie hätte es sich doch denken können, dass sie ihn hier traf. Warum erschrak sie so, dass sie sich
auf den erstbesten weißen Sessel fallen ließ? Florian nickte ihr zu, jedenfalls glaubte sie das. Er
trat in den Halbschatten am äußersten linken Fenster. Stefanie sah draußen die Laserblitze ihres
Teams. Moment …
Sie wandte den Kopf. So viel hatte sie in der harten Woche von der ganzen Technik kapiert:
Florian konnte von dort gar nicht seine Leute beobachten, sondern nur sie! Und tatsächlich, er
stand dort, die Hand unter dem Kinn, die andere unter dem Ellenbogen, und schaute einfach zu ihr
her. Sie konnte den dunklen Blick aus dem Halbschatten nicht deuten. Wollte er sie irgendwie
verunsichern? Das gelang ihm jedenfalls großartig. Stefanie drehte sich im Sitz, ihr Blusenkragen
rutschte ein wenig auseinander, der kühle Luftzug am Hals tat ihr gut. Sie sah zu ihm hinüber und
zwang sich ein neutrales Lächeln ab. Sie würde eine so gute Verliererin wie Gewinnerin abgeben.
Im Business – das hatte sie sich geschworen – würde sie immer fair bleiben.
Die vergoldeten Türen an der schmalen Seite des Ovals öffneten sich, zwei Diener in weißen
Anzügen verbeugten sich rechts und links vor dem Emir, der beide Arme weit ausbreitete.
Stefanie sah ein goldenes Armband an seinem rechten Handgelenk rutschen. „Sogar mein Onkel
Fuhad, unser Feuerwerksspezialist, war begeistert. Sie glauben nicht, wie schwer es ist, ihn zu
fesseln.“ Der Emir setzte sich einfach in die nächststehende Sitzgruppe und wies auf die Sessel
gegenüber.

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„Das freut mein ganzes Team von light arts“, sagte Stefanie und ging zu ihm hin.
Florian setzte sich auf eine Sesselkante, allerdings ziemlich breitbeinig, Stefanie konnte sehen,
dass er die Hände fest ineinander verschränke, so weiß waren seine Knöchel. Er war bestimmt
genauso nervös wie sie selbst. Ihr Herz schlug wie rasend vor Aufregung.
Der Emir räkelte sich und streckte das linke Bein vor. Seine rechte Hand spielte auf der
Rückenlehne: „Die Sache ist … Die auftauchende Insel aus dem Meer wurde einstimmig begrüßt.“
Florian seufzte leise und schaute auf den Boden. Stefanie schluckte.
„Aber die Pferdesequenz von Herrn Talhofer ebenfalls.“ Der Emir blickte erst ihn an, dann sie.
„Was heißt das?“, fragten Stefanie und Florian wie aus einem Munde. Es war ihr sofort peinlich,
aber der Emir lachte nur.
„Das heißt, der Familienrat hat beschlossen, dass wir beides für die offizielle Eröffnungsfeier
haben wollen. Die halbe Lichtshow von light arts und die halbe Präsentation Senkrecht & Seil.“
Stefanie war geschockt. Sie konnte doch nicht einfach einen Teil von Roberts Ideen aus dem
Programm kippen. „Das ist technisch unmöglich“, flüsterte sie.
„Ganz unmöglich sogar. Ich arbeite mit angeleuchtetem Papier, nicht mit Licht pur“, sagte Florian
und fuhr sich mit der Hand durch die Haare.
„Dann machen Sie es möglich!“ Der Emir lehnte sich zurück und hob das Kinn.
Stefanie zuckte mit den Achseln. „Ich glaube nicht, dass das geht.“
Florian schüttelte nur den Kopf.
Der Emir kniff die Augen zusammen. „Wir sind alle Geschäftsleute hier. Versuchen Sie nicht, zu
pokern.“ Seine Stimme wurde kalt. „Die Position von Abu Faira ist klar: Entweder wir bekommen
das Beste aus Ihren beiden Shows … oder keiner von Ihnen beiden macht den Deal.“
Das würde ihr Robert nie verzeihen. Wenn sie das Geschäft, die Ehre, die ganze Werbung, die
light arts damit später machen könnte, jetzt einfach versiebte, dann war sie in der Branche
geliefert, bevor ihre Karriere überhaupt richtig angefangen hatte. Florian stieß heftig die Luft aus.
Sein Blick wanderte vom Emir zu ihr, zum Fußboden, zu seinen Händen. Stefanie ahnte, was er
dachte. Ohne den Auftrag war seine Firma geliefert, damit hatte sich der Rechtsanwalt Thorsten
oft genug gebrüstet.
Florian räusperte sich. „Ich will mit meiner Firma gern den Versuch machen, aber es wird extrem
aufwendig und kompliziert.“
„Machen Sie sich keine Sorgen um Aufwand oder Geld.“ Der Emir winkte mit der Hand ab. „Abu
Faira braucht den bestmöglichen Start als neuer Hotspot der Welt.“ Sein dunkler Blick lag auf ihr.
Stefanie wurde heiß und kalt. Das hieß, tagelang mit Florian an Kompromissen arbeiten, die sie
auch noch Robert verkaufen musste, der sie mit Mails überschütten würde. Das hieß, dass sie zur
Technikexpertin werden musste, das hieß … Aber hatte sie nicht immer davon geträumt, in der
Topliga mitzuspielen? Die Herausforderung war da. „Light arts ist ein international agierendes
Unternehmen.“ Wenigstens einmal half das Marketingvokabular aus der Patsche. „Wir setzen
jeden Kundenwunsch um, sofern der aktuelle Stand der Technik es möglich macht.“ Sie lächelte,
doch spürte sie, dass es weniger cool aussah, als es sollte.
Der Emir stand auf. „Warum nicht gleich so?“ Er strahlte wieder wie ein gut gelauntes Londoner
Fashion Victim. „Wenn Sie etwas brauchen, sprechen Sie mit dem Chef der Energiezentrale hier

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im Resort.“ An den goldenen Türen drehte er sich um: „Ehe ich es vergesse: Der Familienrat wird
die Eröffnungsveranstaltung natürlich deswegen nicht verschieben. Sie haben eine Woche Zeit.“
Die beiden Diener schlossen die Türen in genau der Langsamkeit, wie sich Stefanies und Florians
Kopf aufeinander zubewegten. In seinem Gesicht stand dieselbe Ratlosigkeit wie in ihrem. „Und
was machen wir jetzt?“, fragte sie. Stefanie war irgendwie sehr froh, dass er hier bei ihr war.
„Ich hatte gehofft, dass du eine Idee hast“, sagte Florian leise.

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12. KAPITEL

Die Mittagshitze von Abu Faira lastete auf ihnen. „Verdammt, die Karabinerhaken geben viel zu
schnell nach“, fluchte Florian, der hier und da vor ihr auf dem Gerüst an Seilstreben rüttelte. „Die
Temperatur macht aus den Gelenkölen das reinste Gleitgel.“
Stefanie schien die Welt aus den Fugen wie das Material. Nichts war wie vorher. Hatte sie vor
dem Anruf bei light arts mit großem Theater, Beschuldigungen und Vorwürfen gerechnet, hatte
sie von ihrem Chef Robert nur zustimmende Worte gehört: „Es war absolut richtig, auf die
Kooperation einzugehen. Weißt du, wenn das Emirat für die Eröffnung TV-Kanäle weltweit
zuschalten lässt, dann wird das Firmenlogo von light arts von fünfhundert Millionen Menschen
gesehen.“ Sie solle einfach ihr Bestes geben, er und light arts seien rund um die Uhr für
Nachprogrammierungen erreichbar.
Seitdem verfolgte Stefanie die Zahl fünfhundert Millionen. Es war, als ob die vielen Gesichter in
allen Hautfarben der Erde nachts mit neugierigen Augen auf sie herabstarrten, wenn sie sich im
Schlafe wälzte. Und die Aussicht, nach dem Frühstück wieder mit Florian zusammen arbeiten zu
müssen, war alles andere als beruhigend. Noch am Tage der Entscheidung durch Emir Aqad hatte
sie sich geschworen, ganz professionell mit ihm umzugehen. Auch er suchte bei den
unvermeidlichen Besprechungen immer den größten Abstand zu ihr. Mal saß er am anderen Ende
des großen Besprechungstisches, mal baute er lauter Pläne und Unterlagen zwischen ihnen auf wie
einen Burgwall aus Papier.
„Müssen wir wirklich bei dreiundvierzig Grad im Schatten auf dem Gerüst stehen?“, fragte sie.
„Einmal musst du die drei verschiedenen Lagen von Papier-, Glanz- und Nylonfolien mit der Hand
anfassen. Wie willst du sonst deinem Chef erklären, warum eure Projektionen darauf immer noch
aussehen, als ob man einen Billigbildschirm betrachten würde?“ Florian faltete die drei Lagen
auseinander.
So sehr er schwitzte, so sehr klebte auch das Hemd an seinem Körper, zeichnete die breite Brust
nach, sogar dunkle Schatten von den Haaren konnte Stefanie unter dem Stoff ahnen. Du bist nicht
hier, um Florian zu begaffen. Rasch griff sie nach den Folien, die unerwartet rau waren.
„Vielleicht sollte ich Robert sagen, dass sie mit … mit einer Art Quarz beschichtet sind.“
„Industriediamant-Staub, genauer gesagt. Die Brechung der Laserstrahlen ist wohl deshalb anders,
als ihr sie berechnet.“ Florian legte die Folien zurück und streifte fast ihre Hände.
Stefanie zog sie schnell weg. Beinahe hätten sie sich in einem endlosen Streit verhakt, an wem es
lag, dass die Projektionen der vom Emir gewünschten Bildfolgen nicht klappten. Bis er sie vorhin
hinaus aufs Gerüst genötigt hatte. „Du hast recht gehabt, sorry. Ich telefoniere sofort mit light
arts.“ Bei der Gelegenheit würde sie noch eine ganze Reihe anderer Programmierungsfehler nach
Berlin durchgeben.
„Dann lass uns aus diesem Backofen verschwinden. Oben ist ein Einstieg durch ein Palastfenster
eingebaut. Hast du Kraft für eine Abkürzung?“ Er hatte schon drei Querstreben einer Leiter
erklommen und hielt sich mit nur einer Hand im Gleichgewicht. Die andere streckte er ihr hin.
„Nach dir.“ Sie verschränkte die Arme. Es war allemal besser, Abstand von Florian zu halten. Er
turnte vor ihr nach oben, aber der Anblick, den seine Rückseite von unten bot, ließ sie leise mit

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dem besonderen Verschwörerinnenton aufseufzen, wie sie es sonst nur mit Xian-Li tat, wenn ein
wirklich attraktiver Mann nicht allein in die Sushi-Bar kam. Das ärgerte sie aber sofort, weil es sie
verunsicherte. Vielleicht hatte Xian-Li ja doch recht …

Eben hatte Florian noch die Hitze draußen vorgeschoben. Sein gesteigertes Wärmegefühl kam
allerdings auch von innen, so ungern er sich das zugab. Nun saß er wieder mit Stefanie in dem
Palastraum zusammen, der ihnen als Planungsbüro angewiesen worden war.
„Schau, hier auf der C3 müsste eine Folie weg, damit auf der C4 unser Spotlight Grün alpha
durchdringt, bevor die Flickerspots zugeschaltet werden“, sagte sie ganz konzentriert.
Vor zwei Tagen hätte er nie geglaubt, dass es technisch auch nur annähernd möglich wäre … Er
beugte sich wieder zu den Papieren. „Dann brauche ich eine Sekunde, besser zwei mehr, bevor ich
die Hengste auftauchen lasse.“ Recht schnell hatte er gemerkt, dass Stefanie ihm nicht nur folgen
konnte, wenn er ihr die technischen Fakten seiner Konstruktion erklärte, sie sah auch sofort, wo
der Teufel im Detail steckte.
„Wir haben da keinen Puffer, es sei denn, du beschleunigst den Sprung der Pferde über den Felsen
entsprechend.“
„Wow! Das ist die Lösung.“ Er strahlte sie an. Und Stefanie, deren eisige Reserviertheit sich
schon am ersten Tag in eine kühle Professionalität aufgelöst hatte, freute sich endlich einmal ganz
offen. Mit seinen Entwicklern hätte er sich jetzt abgeklatscht wie bei einem Sportmatch. Aber so
sagte er nur: „Danach suchen wir schon seit Stunden.“
„Bloß haben wir schon das nächste Problem.“ Sie runzelte die Stirn. „Die Programme von Robert
sind extrem inflexibel, was Zeitanpassungen angeht. Die maximalen Geschwindigkeiten der
computergesteuerten Laser setzen einfach Grenzen, die …“
„Ihr müsst das hinkriegen. Anders geht es nicht.“
„Warum müssen immer nur wir die Anpassungen machen?“, fragte sie, auf einmal ganz feindlich.
Florian schwankte zwischen Beleidigtsein und einer urplötzlichen unbändigen Lust, sich mit ihr
ganz physisch zärtlich zu raufen. „Müsst ihr doch gar nicht.“
„Ach, wieso nicht?“
„Weil ich doch ständig meine Bildsequenzen kürze und umstelle. Schon vergessen, was das an
Arbeit für meine Jungs mit den Folien bedeutet? Die müssen einzeln umgespannt werden. Die
Jungs haben schon blutige Finger.“ Sie starrte ihn entsetzt an. „Na, fast. Ich wollte nicht
übertreiben. Entschuldige bitte.“
„Nein, ich muss mich entschuldigen. Ich höre dir einfach nicht richtig zu.“ Sie schaute an ihm
vorbei. „Ich weiß auch nicht, wieso ich manchmal bei dir mit den Gedanken woanders bin.“
Normalerweise hätte Florian jetzt einfach die Floskel vom Stress von sich gegeben, jetzt aber
dämmerte ihm etwas. „Und zu dem ‚manchmal‘ gehört auch das Essen im Dunkelrestaurant?“
Sie zeigte die Handflächen und nickte stumm.
„Du hast damals gar nicht begriffen, dass ich Fassaden gestalte und nicht putze.“
Sie schüttelte den Kopf.
„Wenn ich es doch nur früher kapiert hätte! Du hast einfach ein bisschen geträumt … wegen
mir?“, fragte er.
Sie nickte heftig und brach plötzlich ab. „Damals. Jetzt allerdings eher …“

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Florian wollte es nicht wissen. „Mir ging … geht es genauso“, sagte er schnell.
„Du bist doch kein Träumer.“ Stefanie runzelte die Stirn.
„Aber ich bin einfach so fasziniert von dir, auch wenn – oder gerade weil – ich dich nicht verstehe.
Und deshalb purzeln in mir die Gefühle herum und bringen die Gedanken durcheinander, mein
Temperament kommt durch, und ich … verstehe dann alles sehr schnell einfach falsch. Das tut
mir leid. Ehrlich.“ Florian holte tief Luft. Am liebsten hätte er sie umarmt.
Aber Stefanie warf ihm einen Blick zu, den er wieder mal nicht deuten konnte. Sie drehte sich zu
dem Stapel Plänen, ihre Hand zögerte darüber. Müde sah sie aus. Wie jemand, der aus einem
Nachtzug steigt und auf dem Bahnsteig nicht weiß, wohin. „Wir sollten jetzt lieber hier
weitermachen“, sagte sie leise und hielt ihm die Ausdrucke hin, die light arts am Morgen gemailt
hatte.
Florian wünschte sich auf einmal, dass sie nicht nur das Projekt meinte. Bloß, wie sollte er ihr
zeigen, was wirklich in ihm vorging? Er würde es nur wieder falsch ausdrücken, sodass sie es doch
nur missverstehen würde, bei dem Stress, unter dem sie beide standen …

Stefanie war vor den fünfhundert Millionen Gesichtern geflüchtet, die sie im Schlaf verfolgt
hatten. Ein paar Mal war sie in ihrer Suite auf- und abgelaufen, bevor sie sich schließlich ein
leichtes Kleid übergeworfen hatte. Es gab nur einen Ort in diesem riesigen Hotel, nur einen Ort, an
dem sie nicht allein wäre und doch ungestört.
Vom Aufzug lief Stefanie an den verschiedenen Sälen vorbei. Am Ende des Hotelflurs führte eine
große Marmortreppe ins Untergeschoss in einen Gang, der ganz mit Mosaiksteinchen in allen
Farben schillerte. Selbst jetzt noch, im schwachen Licht der Nachtbeleuchtung. Ganz hinten
schimmerte es bläulich, dort weitete sich der Raum hinter einer Biegung zur Ocean-Lounge.
Stefanie trat ein. Wände und Decken, alles war aus dickem ausgewölbtem Panzerglas, sodass man
wirklich ganz im Meeresgrund eingetaucht war. Zwischen den Korallen hatte man Leuchten
angebracht, und von der Wasseroberfläche her fiel tatsächlich Mondlicht durch das Wasser bis in
die Lounge. Stefanie war verzaubert von den vielen sanften Farben der Korallen, vom weißen
Meeressand, über den die Schatten der Fische zogen.
Sie wusste nicht, wie lange sie einfach das Schauspiel der Natur bewunderte. Sie wusste nur, dass
sie endlich ruhig wurde, ganz zu sich selbst kam. Es war so friedlich.
Plötzlich hörte sie Schritte, sie fuhr herum. „Du?“ So wenig sie mit ihm gerechnet hatte, so
seltsam froh war sie darüber, dass er es war.
„Du?“, fragte auch er, den Arm an der Tür aufgestützt, er trug nur eine leichte Hose und ein T-
Shirt. Sein Blick wich aus, kam zurück, als traute er seinen Augen nicht. Leise sagte er: „Ich
wollte dich nicht erschrecken. Konntest du auch nicht schlafen?“
Eine heftige Bewegung vor den Unterwasserfenstern lenkte sie ab. Draußen zog ein bunter
Schwarm Fische auf, kreuzte auf und ab. Sie konnten beide nicht den Blick davon wenden. „Es ist
der einzige Ort, an dem ich ruhig werde. Ich weiß auch nicht, warum. Vielleicht weil es so
faszinierend ist. Schau“, sagte Stefanie. „Meine Lieblingskoralle.“ Sie war unglaublich filigran,
gleichmäßig und von leuchtendem Rot.
„Sie ist sehr schön.“ Florian trat zu ihr hin. Sein Blick wanderte über ihr Gesicht. „Verrückt, mir
geht es genauso wie dir! Ich bin immer nach dem Aufbau hierher gekommen, um ein bisschen

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abzuschalten.“ Voller Verständnis lächelte er sie an. „Da! Mein Lieblingsfisch“, sagte er mit
dunkler Stimme. Ein schneeweißer Fünfflosser tanzte über der Koralle, berührte sie zart, als ob er
sie küsste.
„Er ist so majestätisch“, sagte Stefanie. Jetzt, wo sie dieses Geheimnis teilten, diese Oase der
Ruhe, schien es ihr auf einmal völlig natürlich, sich ebenso sanft an Florian zu lehnen. Wie
natürlich schön es war, dass seine Arme sie umfingen wie draußen der bunte Schwarm die rote
Koralle. Sie spürte seine Hände auf ihrem Bauch und drückte sich an ihn. Eine Weile, die die
Minuten vergaß, standen sie einfach nur so da und wiegten sich sacht wie die Fischschwärme, die
draußen im Meer kreuzten.
Und dann küssten sie seine Lippen zart im Nacken. Ganz vorsichtig, viel vorsichtiger als seine
Erregung, die sie an ihrer Hüfte spürte. Stefanie drehte sich in seinen Armen um, fuhr mit den
Händen über den Rücken, den Körper, den zu berühren sie sich endlich wieder erlaubte. Sie
erkundete mit den Fingerspitzen die festen Muskeln, bewunderte ihr Spiel, als Florian sie anhob
und einfach ein paar Schritte weiter auf den weichen Polstern der Lounge barg. Mondlicht tanzte
darüber, Fische huschten hinweg, Licht und Schatten wechselten sich auf seiner Haut ab, als sie
ihm das T-Shirt über den Kopf zog. In dem magischen Licht schimmerten sie beide wie Elfen.
Seine Arme, sein Bauch, alles, was er um sie schlang, war heiß wie Lavawasser eines
unterseeischen Ausbruchs. Dann drehte er sich auf den Rücken, streckte Arme, Beine von sich,
wartete auf sie, ließ ihr die Wahl. Sie konnte ihn haben, ganz. „Komm her“, flüsterte er. Jetzt
flehten seine Augen.
Stefanie erregten die kurzen schwarzen Härchen, mit denen sein fester gebräunter Körper so
gleichmäßig eingehüllt war. Seit sie seine weichen Bartstoppeln gespürt hatte, wollte sie diesen
samtigen Pelz an ihrer glatten Haut fühlen, die feinen Unterschiede zwischen all seinen Haaren –
überall – ertasten. Stefanie kniete sich neben ihn, strich mit den Händen an seinen Hüften entlang,
fasste den Bund seines Slips und zog.
Sie sah, wie er schluckte und heiser aufstöhnte. Einen Moment genoss sie die Macht, die sie über
ihn hatte, nur um in der gleichen Sekunde nichts dringender zu wollen, als einfach nur mit ihm zu
verschmelzen. Sie zog ihm den Slip bis zu den Knien und ließ ihn achtlos hinter sich zu Boden
fallen. Ungeduldig streckte sie die Finger aus und streichelte Florian sanft.
„Stefanie“, stöhnte er rau. Seine Hände glitten über ihren prallen Po. Dann etwas tiefer, sie
wünschte sich, dass er sie aus dem Slip befreite, doch er streichelte nur an den Säumen entlang,
glitt noch tiefer, strich mit den Handrücken über ihre Oberschenkel, was sie erzittern ließ. Nur mit
Mühe hielt sie es aus, drehte sich zu ihm, seufzte vor Lust. Sie beugte sich vor, ihre Stirn rührte an
seine.
Und mit einem Schlag erfasste sie beide die Leidenschaft und trug sie mit sich fort. Stefanie hörte
eine Naht krachen, als Florian ihr die Unterwäsche vom Leib riss, ihre Beine schlangen sich heftig
ineinander. Sie spürte die weichen Haare überall, auf ihrer Brust, auf ihrem Bauch, die seiner
Unterarme auf dem Rücken. Ein feiner Reiz, ein Reiben, das sie in eine andere Wirklichkeit
katapultierte, in der nur noch die Hitze Florians um sie herum existierte. Stefanie war es egal, dass
die bunten Fische Zeugen wurden, wie ihr Haar wie Seetang über sein Gesicht fiel. Es war ihr egal,
ob sie hörten, mit wie viel Lust sie auf ihm saß. Er packte sie noch fester, sie spürte die Spitze

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seines harten Gliedes, spreizte die Beine. Florians Schultern waren wie gemacht, ihre Hände zu
stützen, seine hielten ihre Hüften dort auf ihm, wo er sich in sie versenkte. Sein Eindringen war
kein Stoßen, sondern der nächste Katapultsprung in ein herrliches Fließen. Sie floss um ihn
herum, nahm ihn ganz in sich auf.
Dann hielt sie ganz still. Ein Zittern hatte Florian erfasst, das in ihr zu einem kleinen Beben
wurde, das immer heftiger in ihrem Körper anschwoll, Stefanie bäumte sich auf, drückte ihre
Fäuste auf seine braune Brust, seine Hände packten ihre kreisenden Hüften, die das Beben immer
mehr beschleunigten, bis sie in einer heißen, gleißenden Welle durch und durch geschüttelt wurde.
Unter sich hörte sie Florian keuchen: Sie konnte nicht anders, sie antwortete mit einem
triumphierenden Schrei.
Die Schwärme flitzten davon wie vor einem Seebeben, vielleicht auf der Flucht vor ihrem
gemeinsamen Stöhnen, das erst ein langer Kuss verstummen ließ.
Sie ließ sich neben Florian auf die Polster gleiten und legte ihr Knie auf seines. Draußen tummelte
sich der schöne schneeweiße Fisch an der roten Koralle, und Stefanie badete in dem Moment wie
einem warmen Meer von Glück.
„Florian?“, hallte von fern eine Frauenstimme. „Warum bist du nicht im Bett? Ich suche dich
überall. Bist du da vorn?“
Der Fisch zuckte davon, die Koralle schien unter der Welle zu beben. Stefanie starrte in Florians
Gesicht, der die Augen aufriss. „Das ist jetzt nicht wahr …“, flüsterte sie, erhob sich hastig und
stieg so schnell es ging in ihr Leinenkleid. Eine schwarze Trauer hatte sich ihrer bemächtigt und
drohte sie zu verschlucken.
„Florian? Du bist doch in der Ocean-Lounge, die SMS …“, rief diese Nicole, sie musste gleich vor
ihnen stehen.
Florian schaute nur um sich, hüpfte hektisch zwischen den Polstern herum, suchte nach seiner
Hose, dem T-Shirt. „Stefanie, warte …“
Nein. Sie würde nie wieder auf ihn warten. Wie hatte sie sich nur hinreißen lassen können …
Blind stieß sie gegen Hocker, beinahe gegen das Panzerglas, am liebsten wäre sie hinaus ins Meer
geflüchtet, wäre wie die schmalen gelben Fischlein durch die Korallenwände geschlüpft, hinaus
ins trübe Grün des Meeresgrunds. Gottseidank hatte die Ocean-Lounge einen zweiten Ausgang.
Diese Nicole war schon fast da. „Florian? Oh!“
Stefanie wollte gar nicht wissen, was die beiden nun zu verhandeln hatten. Schwester oder
Halbschwester, dieser Mann log und log, und diese Frau warf sich an den Emir wie … Stefanie
wusste nicht mehr, was sie denken sollte. Sie fühlte sich einfach nur benutzt. Es tat so unendlich
weh.

Florian starrte in das verzerrte Gesicht eines Haifischs. „Verdammt noch mal, was musst du
ausgerechnet jetzt …“
Sie lehnte am Eingang und schaute verwirrt über die unordentlich herumliegenden Polster in der
Lounge. „Florian, ich wusste ja nicht, dass … Es tut mir so leid.“
Doch seine Wut verrauchte, als er das tränenüberströmte Gesicht seiner Schwester vor sich sah.
„Was ist passiert?“
Nicole presste die Hand an den Mund und schüttelte nur den Kopf, sie sank an der Tür der Lounge

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langsam zu Boden. Florian sprang hinzu und zog sie an sich heran, stützte sie. Er musste hier
sofort weg, aus der Ocean-Lounge raus, denn hier konnte er bestimmt keinen klaren Gedanken
fassen. Am liebsten hätte er sich zweigeteilt und wäre mit seiner anderen Hälfte Stefanie
hinterhergerannt, um endlich alles, alles auf den Tisch zu legen, egal, mit welchen Worten. Aber
er konnte seine Schwester jetzt unmöglich alleine lassen, er hatte sie noch nie so aufgelöst erlebt.
Florian legte den Arm um Nicole und führte sie durch den langen Flur. Er trug sie fast, ihre Knie
zitterten so sehr, dass sie kaum laufen konnte.

Stefanie hatte sich in der Hotelbar einfach auf den erstbesten Hocker fallen lassen. „Einen Whisky
auf Eis, bitte!“ Blitzschnell stand er vor ihr, vom indischen Barkeeper selbstverständlich
formvollendet im schweren Kristallglas serviert. Beim Trinken hielt sie die Luft an. Sie trank nie
so etwas. Es brannte scheußlich. „Noch …“
„No, no. Lady! Überlegen Sie sich es gut.“ Ein Mann mit ganz kurz geschnittenen rostroten
Locken saß neben ihr. Sein rundes, gutmütiges Gesicht verzog sich warnend. Der Ire aus der
Whiskywerbung schlechthin, dachte Stefanie verwirrt, wirkte das so schnell? „Drinks sind keine
Lösung. Egal, wofür“, sagte der Mann mit freundlicher Stimme. Er schob ihr ein paar salzige
Kekse hin.
In ihr Lächeln hinein liefen ihr ein paar Tränen. Der Mann legte seine dicken Hände aufeinander.
„No tears, please. Eine beautiful Lady wie Sie sollte nie weinen. Oder ich heule mit.“ Er zog eine
Grimasse wie ein Comedy-Star. „Wenn Sie so aussehen wie ich, mit Kugelkopf und Rettungsring,
dann dürfen Sie weinen, vorher nicht.“ Er winkte schon mit dem Zeigefinger ab. „Ich weiß, wer
Sie sind. Ich habe Sie beobachtet.“ Er zog eine Karte aus einem Silberetui. „Sie machen einen
tollen Job. Und bevor sich Joe McLuhan jetzt ganz diskret zurückzieht“, er rutschte vom Hocker
und legte dem Keeper einen großen Schein auf den Tisch, „zahlt er für die Lady mit.“ Stefanie
wollte schon etwas sagen, doch er meinte nur: „Sie brauchen heute auch etwas luck.“ Er legte
seine Karte vor sie hin. „Wenn Ihnen alles zu viel wird mit … na ja . Dann besuchen Sie uns doch
down under. Da gibt es nicht nur so alte Herren wie mich, sondern auch noch ein paar nette Guys
in Ihrem Alter.“ Er zwinkerte ihr zu und ging nach einer Verbeugung davon.
Stefanie drehte die Karte um. Smart people inc. Joe McLuhan, head-hunter, Sydney, Australia. Sie
war sich nicht sicher, ob dort wirklich ein Känguru unter dem Schriftzug sprang oder ob der
ungewohnte Whisky ihr einen Streich spielte. Australien war ihr Traumland. Das musste einfach
ein Zeichen des Himmels sein!

Als Florian mit Nicole in die große Halle kam, sah er, dass in der Bar Licht war. „Setzen wir uns
dorthin.“
Seine Schwester wehrte sich schwach, aber er küsste sie einfach zur Beruhigung auf die Stirn.
Außer dem indischen Barkeeper schien die Bar leer. Florian war erleichtert, dass niemand Zeuge
von Nicoles Zusammenbruch wurde. Es würde ihr morgen nur unendlich peinlich sein. Er winkte
dem Keeper ab und steuerte eine von hohen Lederwänden abgeteilte Sitzbank an. Dann reichte er
Nicole eine der Stoffservietten vom Tisch.
„Danke.“ Sie lehnte sich gegen die weichen Polster. „Die Falkenjagd war faszinierend. Wir waren
ganz oben im Gebirge noch über den Obstplantagen, wo es schon fast wieder kühl ist. Das

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Frauenzelt war ausgestattet mit jedem erdenklichen Luxus. Sogar eine Kuchenvitrine gab es.“
Nicole lächelte schwach. „Wir konnten auf eine Tribüne hinaustreten und dem Falkenflug
zusehen. Und dabei habe ich den Glanz in Aqads Augen gesehen, seine ungestüme Freude, wenn
sein Falke eine Beute gemacht hat.“ Sie wischte sich nervös über den Tisch. „Und da habe ich
meine deutschen Wurzeln gespürt. Ich kam mir so fremd vor, so fehl am Platz. Ich hatte einfach
nur Sehnsucht in all der Sonne nach einem Spaziergang im Regen.“
Einen solchen Spaziergang hatten sie gemacht, als Nicole über die Agenturgründung nachgedacht
hatte. „Heimweh?“
„Schlimmer. Ich kann mit Falkenjagd und den ganzen Traditionen für mich kaum etwas anfangen.
Wie passe ich dazu? Ich bin sogar als Frau viel zu groß, sodass ich fast ans Zeltdach stoße.“ Sie
räusperte sich. „Ich gehöre nach Berlin in die Großstadt, der Traum war kurz und schön.“ Sie
nickte mehrmals. „Ich weiß noch nicht, wie ich es Aqad sagen soll.“ Sie blickte zu Florian auf.
„Ich will nicht, dass du meinetwegen jetzt noch aus der Eröffnungsfeier gekippt wirst. Aqad ist
sehr leidenschaftlich.“
Und ein harter Geschäftsmann, das war keine Frage. Aber für Florian war es undenkbar, dass sich
seine Schwester auch nur ein bisschen verkaufte. „Du darfst dich meinetwegen nicht verbiegen.
Ich will das nicht. Geld ist nicht alles.“
Nicole nahm seine Hand. „Ich glaube, ich geh jetzt besser schlafen.“ Sie klang unendlich müde.
„Morgen kommen zweiundzwanzig neue Hostessen, die ich alle für die große
Eröffnungsveranstaltung einweisen muss.“
Florian lief ein Schauer über den Rücken. „Oh Gott. Morgen Abend ist es ja schon so weit!“

Stefanie sah Florian mit dieser Nicole am anderen Ende der Bar hereinkommen. Diesmal war sie
sich sofort sicher: Das war keine Sinnestäuschung. Er barg den Kopf dieser Frau an seiner
Schulter und flüsterte ihr tröstende Worte zu. Stefanie nahm die Karte und flüchtete durch die
offene Terrassentür hinaus in den Palmengarten. Hinter den Scheiben, in der erleuchteten Bar, sah
sie, wie Florian die Frau auf die Stirn küsste.
Stefanie war es, als ob ein Messer durch ihren Kopf gestoßen wurde. Sie konnte das nicht
begreifen: Wie konnte ein Mann sie so hingebungsvoll lieben, mit ihr solche Höhen der Lust
erleben und schon im nächsten Moment die nächste Frau … Ihr wurde übel, sie sank auf eine der
Bänke unter den Palmen. Nur die laue Luft verhinderte, dass sie sich übergab. Sie schloss die
Augen, plötzlich fühlte sie wieder die Karte in ihrer Hand. Abrupt sprang sie auf, weg, nur weg
von dem allen hier, weg nach Sydney. Stefanie rannte durch den ganzen Palmengarten bis zu ihrer
Suite.
Dort hatte sie heiß geduscht, sie wollte nichts, nicht einmal die entfernteste Erinnerung durch
einen Hauch von Geruch an ihrem Leibe haben. Dann hatte sie die Hightechdusche von allen
Seiten kalt sprenkeln lassen, bis sie Gänsehaut bekommen hatte.
Geholfen hatte es wenig. Auch wenn sie nun nach Sandelholz und Honig duftete, dieses Desaster
war zu groß, zu groß für sie. Morgen früh würde sie mit Joe McLuhan frühstücken. Und irgendwo
in dem riesigen Australien würde es auch für Stefanie Clarin einen Job geben. Ihr Entschluss stand
fest. Sie wanderte aus, und zwar sofort. Dort würde alles viel einfacher sein, easy going.
Während sie sich an den Schreibtisch setzte, aktivierte sie bereits auf dem Laptop die Programme

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für die Videokonferenz. Es dauerte ein bisschen, aber dann stand die Satellitenverbindung.
Roberts Gesicht erschien auf dem Schirm mit den üblichen besorgten Falten. Nur die blaue
Sonnenbrille trug er nicht.
„Stefanie? Jetzt schon? Bei euch ist doch mitten in der Nacht.“
„Robert, unterbrich mich bitte nicht. Ich werde dir alles erklären.“ Stefanie schob sich die feuchte
Strähne von der Wange.
Sein Gesicht schien während ihrer Erläuterungen, die ihr selbst ein wenig wirr vorkamen, wie
eingefroren, nur am Blinzeln seiner Augenlider erkannte sie, dass die Verbindung immer noch
stand. „Soso. Was ist mit den Programmteilen, die ich dir vor zehn Stunden gemailt habe?“
Stefanie war alles egal. Ihre Widerstände gegen kreisende Lichtvögel und Cyberwesen schienen
ihr nun so bedeutungslos wie die Argumente, die sie bereits vergessen hatte. „Ich programmiere
die ein. Bis du aus Berlin hier landest, ist alles umgesetzt. Du kannst sogar noch den Probelauf
selbst durchführen.“
„Aha“, sagte Roberts stillstehendes Gesicht. „Du findest die Ideen auf einmal passend?“
„Ja, natürlich. Sie sind doch von dir.“ Etwas anderes fiel ihr nicht ein.
„Du weißt, was das für deine Zukunft bei light arts bedeutet?“, fragte er mit nicht einmal kalter
Stimme, er klang eher fürsorglich.
„Ja, sicher.“ Stefanie schlug die Augen nieder.
Der eingefrorene Kopf geriet in Bewegung, wiegte sich hin und her. „Ich verstehe. Okay, ich
buche den nächsten Flug nach Abu Faira. Erwarte mich am Flughafen.“ Das Firmenlogo erschien,
Robert hatte die Verbindung gekappt.
Stefanie wurde seltsam leicht. Sie glaubte längst nicht mehr an das gemischte Konzept des Emirs
Aqad, sondern befürchtete den größten Flop aller Werbezeiten. Vielleicht war es nicht das
Schlimmste, wenn ihr Name nun nicht mehr dabei auftauchen würde … Alle ihre Träume waren
vorbei, erledigt. Sie legte sich aufs Bett, die fünfhundert Millionen Gesichter bedrängten sie nicht
mehr. Dafür überwältigte sie ein schwarzes Dunkel von Schlaf.

In der Mail hatten nur die Flugdaten gestanden. Stefanie war froh, dass sie sich für eine Stunde
zum Flughafen hatte absetzen können. Bei den Vorbereitungen an den Gerüsten vor der Fassade
hatte sie die ganze Zeit eine tiefschwarze Sonnenbrille getragen. Und sie war jedes Mal sofort
weggegangen, wenn Florian dort aufgetaucht war und irgendetwas gerufen hatte. Schließlich hatte
er es kapiert und nur seinen Mitarbeiter Fred geschickt. Der Mann war wortkarg, begriff aber alles
sofort und stellte die richtigen Fragen. Stefanie hatte nun alles nach bestem Wissen und Gewissen
für Robert vorbereitet.
Über dem Ausgang aus dem First-Class-Bereich sprang die Anzeige auf landed. Noch ein paar
Minuten, dann würde Robert das Zepter übernehmen, und die Karriere von Stefanie Clarin in der
Lichtbranche war Geschichte. Stefanie fröstelte in der klimatisierten Luft. Die milchigen
Schiebetüren gingen auf.
Lila Haare auf einem goldenen Kamm? „Xian-Li!“ Ihre Freundin rannte schon auf sie zu und fiel
ihr um den Hals.
Xian-Li musterte sie. „Du siehst ja grauenhaft aus.“ Sie nahm Stefanie bei der Hand und zog sie
von der Sperre weg.

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„Aber wieso du? Müssen wir nicht noch auf Robert warten?“ Stefanie konnte ihn zwischen den
ganzen Männern und Frauen in den traditionellen Gewändern nicht erkennen, die eben aus dem
First-Class-Bereich strömten.
Xian-Li lachte nur. „Robert hat mich als Notfallkommando zum Einsatz geschickt.“
„Aber du hast doch von Lichttechnik keine Ahnung!“ Was sollte das denn jetzt?
„Dafür bin ich als Engel des Sushi Paradise Expertin für Nervenkrisen aller Art.“ Xian-Li
wackelte mit den lila Ohrringen aus Plastiknetz. „Wir setzen uns jetzt in den Wagen des Transfers,
und du erzählst mir alles.“
Eine Viertelstunde später sank Stefanie immer tiefer in die weichen Polster der riesigen
amerikanischen Limousine, während sie über die Stadtautobahnen von Abu Faira brausten. Mit
jedem Satz, den sie über die letzten Tage verlor, hob sich Xian-Lis Braue höher. Bei der
Schilderung der Nacht in der Ocean-Lounge machte sie erst ganz große, dann ganz schmale
Augen, bevor sie die Lippen spitzte. „Hast du ein Glück, dass Robert Verständnis für künstlerische
Nervenzusammenbrüche hat. Er hat mich sofort angerufen. Und wir haben beratschlagt, wie wir
dir helfen können.“
„Ich muss also die Eröffnung allein steuern?“ Stefanies Hände krallten sich in Panik in den Sitz.
Xian-Li legte ihre Hand darüber. „Wir sind deine Freunde und lassen dich nicht im Stich.“
Es war unmöglich, dass sie jetzt einfach mit Joe McLuhan nach Sydney flog, wie er es ihr beim
Frühstück angeboten hatte. Sie konnte weder Robert noch Xian-Li so enttäuschen, auch wenn sie
am liebsten Tausende von Meilen von diesem Unglücksort entfernt wäre.
„Darling. Stay cool.“ Xian-Li zog einen USB-Stick aus dem tiefen Ausschnitt. „Robert hat mit
deinem Florian …“
„Er ist definitiv nicht mein Florian.“ Stefanie funkelte Xian-Li an, aber die lachte nur. „Hier ist
die definitiv abgestimmte Version, die die Show integiert.“ Xian-Li richtete eine lila Strähne.
„Und ich fungiere jetzt als dein persönlicher Anstandswauwau, schirme dich von Mr. Bad Guy ab,
bis du alles gecheckt hast. Heute Abend setzte ich mich in die VIP-Lounge mit Roberts
Ehrenticket und genieße euren Erfolg.“ Xian-Li strahlte. „Ist das der Hotelpalast?“ Sie deutete
nach vorn.
„Ja.“ Je näher der rückte, desto mehr klopfte Stefanie das Herz. „Und ihr glaubt wirklich, dass es
klappt?“
„Wer, wenn nicht deine Freunde, soll an dich glauben?“ Xian-Li strich ihr die Stirnrunzeln glatt.
„Willst du aussehen wie Mrs. Ugly, Darling?“ Der Wagen bremste sanft in der Auffahrt des
Luxus-Resorts. „Denk positiv.“

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13. KAPITEL

Am Morgen der Eröffnungsfeier hatten sie eigentlich die letzten Details absprechen wollen. Aber
jedes Mal, wenn er sich auch nur von Weitem näherte, wandte Stefanie sich sofort ab und setzte
eine schwarze Sonnenbrille auf. Auf Handyanrufe reagierte sie nicht. Lange hatte Florian überlegt,
ob er ihr eine Mail schicken sollte. Eine SMS war schließlich unter seiner Würde. Damit konnte er
ihr nie erklären, warum er Nicole hatte trösten müssen und sich nicht sofort um sie hatte kümmern
können. Er hatte ja nicht einmal gewusst, wohin sie verschwunden war.
Also kontrollierte er nun zusammen mit Fred, den er letztendlich zu Stefanie geschickt hatte,
Strebe für Strebe die verspannten Folien. Hier und da zogen sie eine Schraube nach oder fixierten
eine verschobene Öse. Die Jungs hatten eine perfekte Arbeit hingelegt. Er würde ihnen vom
Preisgeld einen Extra-Monatslohn zahlen.
Zum Abschluss kletterte Florian die Verbindungsleiter auf den obersten Level hoch, um
eigenhändig alle Klappvorrichtungen zu kontrollieren. Bei den Projektoren von light arts gab er
sich besondere Mühe. Niemand sollte ihm später einen Vorwurf machen können.
„Ich weiß nicht, ob ich mich gewöhnen könnte. Ich möchte dich einfach nie enttäuschen, Aqad.“
Das war Nicoles Stimme! Florian duckte sich sofort und sah auf den Plan. Herrje, er turnte gerade
vor den Privatgemächern des Emirs herum. Sie sollten nicht denken, dass er lauschen wollte.
„Du enttäuschst mich auch jetzt nicht, Nicole. Klare Gedanken und der feste Wille einer Frau
haben noch keinem Emir geschadet. Ein Herrscher braucht jemanden, der ihm die Wahrheit sagt.“
„Aqad, mach es uns nicht so schwer … Ich …“ Nicoles Stimme erstarb.
Über den Folien rüttelte etwas. Seile klirrten an dem Metall, ein Fenster wurde plötzlich
aufgerissen. Er würde das unbedingt reparieren müssen. Zwischen den verschobenen Folien
konnte Florian die starken Unterarme des Emirs in einem blauen Hemd sehen. Er hielt einen
kleinen weißen Käfig in die Luft. „Dieses Paar gelber Regensänger hat uns bei jeder Reise
begleitet. Regen ist bei uns ein gutes Omen für die Liebe. Mögen die Tiere wieder frei sein und
uns ein Zeichen geben.“ Die eine Hand öffnete die Klappe, und die beiden gelbgrünen Vögel
flogen in den blauen Himmel davon. Dann wurde das Fenster wieder geschlossen, die Folien
rutschten an ihren Platz.
Florian starrte den Tieren hinterher, die zu winzigen Punkten wurden und im Himmel
verschwanden. Durch die Folien starrte er nach unten in den Garten. Auch das noch: Stefanie
instruierte gerade ihr Team mit großen ausladenden Gesten. Schlank und schöner denn je stand sie
im Sonnenlicht. Florian glaubte an eine Fata Morgana – neben ihr wartete die Frau aus dem Sushi
Paradise
mit lila Haaren.
Wenn er daran dachte, wie er diesen miesen Anwalt … Was hatte er alles Schlechtes von Stefanie
geglaubt, dabei machte sie ihren Job – wie er selbst – einfach nur so gut wie möglich. Sie war die
erotischste Frau, die ihm je begegnet war, die Frau, bei der endlich alles eins geworden war:
Zärtlichkeit, Leidenschaft, Liebe.
Er sank auf den Metallboden der Gerüstebene und ließ die Kontrollliste sinken. Warum nur um
alles in der Welt, warum nur gerieten sie beide von einem Missverständnis ins andere? Warum
gab es keine Brücke zu ihr, und sei sie so schmal wie der schmalste Steg auf diesem verdammten

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Gerüst? Warum hatte sie keinen einzigen Kontakt zugelassen?

Er wusste gar nicht mehr, was er alles noch organisiert, geändert und umgebaut hatte, während
schon die Fanfarenklänge erklangen, mit denen die offizielle Eröffnungsfeier für das Luxus-
Resort beginnen sollte. Jetzt saß Florian schon seit zwei Stunden in seiner Steuerkabine schräg
unter der Tribüne für die Ehrengäste. Auf eine Generalprobe für die integrierte Fassadenshow
hatten sie verzichten müssen, die Zeit hatte einfach nicht gereicht. Florian dehnte die
Rückenmuskeln mit den Armen, er nahm den Kopf zurück. „Verdammt!“ Eine Diode pulste rot
auf dem Steuerpult an C4-7. Florian sprang sofort auf und griff zum Packen Notwerkzeug.
Ausgerechnet jetzt ein Alarm.
Er stieg aus der Kabine und kletterte hinter die Folien. Vierzig internationale TV-Kanäle
übertrugen die Eröffnungsfeierlichkeiten. Der Höllenlärm der Lautsprecherboxen über ihm
dröhnte ihm in den Ohren. Seit einer Stunde tanzten wunderschöne Wüstentöchter in traditionellen
Gewändern vor dem Hauptbrunnen. Florian stieg vorsichtig über die Drahtverspannungen hinweg
bis zu C4, der wichtigsten Seilkupplung.
Und dann traute er seinen Augen kaum: Sabotage! Das Führungsseil für die Plane, deren
Beschichtung die Nachtillusion verstärkte, hing verdreht vor der grünen Führungskappe. Jemand
musste diese Sicherung geöffnet haben.
Ihm wurde plötzlich kalt, die überlaute Musik schien einen Moment wie abgestellt. Nur Stefanie
wusste, dass ohne dieses Seil an C4 sein Anteil an der Vorführung ausfallen musste. War das
denkbar? Er sah hinüber zu ihrer Steuerkabine, zwischen all den Lichtreflexen der Tanzshow
starrte sie zu ihm herüber mit einem undeutbaren Gesichtsausdruck. Florian überrollte eine
unbändige Enttäuschung. Ihre Manipulation riss doch auch sie mit in den Abgrund, wenn die
Lichtshow versagte … Wie konnte Stefanie so etwas tun? Wie konnte sie sich nur so rächen, ohne
ihn auch nur ein einziges Mal angehört zu haben?
Aber für Gefühle hatte er keine Zeit, die Show würde jeden Moment anlaufen. Die Computer
waren programmiert. Er platzierte das herausgesprungene Seil wieder hinter die grüne
Sicherungskappe, bevor er die gesamte Laufweite der damit verbundenen Drahtführungen
kontrollierte. „Verflixt und zugenäht!“ In der Fortsetzung nach oben an C5 ragte etwas im
Schatten zwischen den Folien heraus, was dort nicht hingehörte. „Wie viele Fallen hat sie denn
noch eingebaut?“ Florian schwitzte immer mehr vor Zorn, er kletterte eine Ebene höher auf zehn
Meter Höhe über dem Garten. Der Wind – oder doch Stefanie? – hatte eine Weichzeichner-Folie
wie eine aufgeblasene Einkaufstüte hinausgefaltet. Für die Zuschauer würde sie wie ein hässlicher
schwarzer Fleck die Illusion stören. Er hielt sich am Gerüst und hing sich weit hinaus. Ein
Klacken.
Mein erster Unfall, dachte er noch. Dann stürzte er vom Gerüst.

Stefanie hatte auf jeden Rat von Xian-Li gehört. Sie hatte nicht mit Robert telefoniert, sondern
einfach alle Vorgaben des Chefs umgesetzt. Und sie hatte die neuen Programmteile installiert, das
Team auf die neuen Abläufe eingeschworen. Xian-Li hatte sie von Florian abgeschirmt, indem sie
immer in die Blickachse getreten war, wenn er aufgetaucht war. Hätte Xian-Li nicht irgendwann
darauf bestanden, dass sie sich umziehe: „Was ist, wenn du ein Interview nach der Show geben

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musst?“, Stefanie würde sonst immer noch im Arbeitsoverall in ihrer Steuerkabine sitzen.
Mit den Stunden war sie ruhiger geworden. Erst einmal musste sie diese Show überstehen, danach
konnte sie über alles andere nachdenken. Vielleicht doch einfach nach Sydney ziehen …
Sie beugte sich vor. Warum stieg Florian da drüben aus seiner Kabine, turnte in einer irren
Geschwindigkeit zwischen den Folien nach oben, nach C5? Er schien sich wenig um seinen
weißen Anzug zu scheren, sein Kopf tauchte zwischen die Folien wie ein Fisch … Plötzlich, alle
viere von sich gestreckt, drehte er sich in der Luft vor den Folien und stürzte in den Schatten ab.
Stefanie schrie auf. Es schien ihr, als zerrisse es ihre Körperfasern einzeln. Als drehe sich die
ganze Welt. Florian. Sie rannte nach draußen über das Gerüst, sprang über die Absperrungen,
Seile, Drähte, Strahler, Laserarmaturen. Florian durfte nicht … nicht dieser Mann, der sie so
wahnsinnig glücklich gemacht hatte. Nicht Florian. Sie erreichte die C-Ebene über die Notleiter
auf Position sechs. Sie rannte weiter, niemand von der Security war zugegen. Warum hatte es
keiner vom Team bemerkt? Glotzten alle nur auf diese Tänzerinnen?
Atemlos erreichte sie C3. „Bitte nicht“, flüsterte sie, beugte sich durch die Lücke in den Folien
und starrte mit zitterndem Kinn nach unten. Sein linker Fuß hing in einer Seilschlaufe vor C1, sein
Körper war merkwürdig verkrümmt. Ein Bein ins Nirgendwo gestreckt, ruderte Florian mit dem
Kopf ganz unten mit einer Hand in der Luft, versuchte verzweifelt eine Folie zu erhaschen, um
sich zum Gerüst zu ziehen, zappelte wie ein Fisch auf dem Trockenen. Er lebte!
Stefanie überflutete eine Erleichterung, ein Glücksgefühl, es war, als ob schwere Wolken rissen
und die Sonne hindurchbrach. Wie hatte sie nur aus Eifersucht so blind sein können? Hatte sie
nicht vorhin noch Nicole beim Emir als Ehrengast hinter den Staatsgästen sitzen sehen? Natürlich
war sie nicht Florians Freundin oder gar Frau, das hätten die Diplomaten des Emirs sofort
herausgefunden. Xian-Li hatte wieder so recht. Was sie nicht hatte hören wollen, was sie zornig
abgestritten hatte, war nur zu wahr. Sie liebte Florian wirklich. Warum nur hatte sie das nicht
früher gemerkt?
In der nächsten Sekunde war sie schon über die Notleiter nach unten auf die Ebene C1 geklettert
und hatte sich zwischen den Megaplakaten hinausgelehnt. „Halte dich fest!“ Sie streckte ihm die
Hand entgegen.
„Du?“ Florians Stimme klang schmerzverzerrt. Er packte ihre Hand, zog sich an die erstbeste
Stange heran und ließ sie sofort wieder los.
Sie sah ihm direkt in die wutglitzernden Augen. „In dem Moment, als du in die Tiefe gefallen bist,
habe ich erst begriffen, wie grundlos eifersüchtig ich gewesen bin. Ohne dich könnte ich nicht
mehr …“
„Vor allem hast du jetzt gemerkt, dass ich deine kleinen Manipulationen im letzten Moment
aufgedeckt habe“, zischte Florian.
„Nein …“ Stefanies Atem stockte vor Entsetzen. „Wie kannst du so etwas nur von mir denken?“
„Fakten, einfach nur die Fakten. Warum hast du die Seile hier durcheinandergebracht?“, presste er
zwischen den Zähnen hervor.
„Fakten? Denke nach. Das kann eine Windbö verursacht haben oder sonst wer von den
Palastleuten. Warum glaubst du immer nur das Schlechteste von mir?“ Sie war auf einmal nur
noch verzweifelt, dass er sie nicht verstand. „Ich habe nichts manipuliert und mein Team auch

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nicht!“ Er starrte sie an. „Warum sollte ich das denn tun? Wir haben hier schließlich zusammen
eine unglaubliche Show auf die Beine gestellt. Das ist doch längst unsere gemeinsame Show.“
„Wie bitte?“ Sein Gesicht verzog sich unter Schmerzen. „Erst rennst du vor mir weg, weil du wer
weiß was von mir und Nicole glaubst, jetzt beschwörst du uns als Team? Ich begreife dich nicht,
Stefanie. Das begreift niemand. Ein Mann sowieso nicht. Ich habe dich noch nie wirklich
verstanden.“ Er griff sich an die Hand.
Sie sah das Blut unter seinen Fingern hervorquellen. „Deine Hand ist gebrochen. Ich helfe dir über
das Gerüst …“ Doch sie griff an seinem Gürtel vorbei, er hatte sich schon weggedreht.
„Ich habe es wirklich versucht. Aber jetzt wird mir klar, dass ich dich auch nie werde verstehen
können. Niemals.“ Über den linken Arm gebeugt humpelte er über die Laufplatten davon. „Ich
fixiere jetzt einhändig die Folie. Starte wenigstens das Programm vereinbarungsgemäß. Das ist
das Einzige, was du für uns noch tun kannst. Es ist zwecklos. Wegen dir hätte ich mir sogar fast
den Hals gebrochen. Es ist besser, wenn wir uns nie wiedersehen. Nie wieder.“
Er hielt tatsächlich eines der Seile mit den Zähnen fest, und mühte sich mit der rechten Hand an
einer Öse. Der Anblick verwischte hinter den Tränen, die ihr in die Augen stiegen. Er musste ihr
zuhören, musste einfach. „Florian, ich …“
„Was stehst du hier noch herum?“, fuhr er sie an. „Wir starten in zwei Minuten!“
120 Sekunden.

Im letzten Moment, noch im Stehen, hatte sie die Fassadenshow mit einer winzigen Verspätung
gestartet. Draußen auf der Fassade des Resorts vollzogen sich vor den Augen der Ehrengäste und
den Millionen Fernsehzuschauern die Wunder, die Robert, Florian und sie sich gemeinsam
ausgedacht hatten. Das Hotel wuchs aus dem virtuellen Meer auf zu einer Insel, die immer länger
und breiter wurde, bis sie der Hotelinsel entsprach, Palmen keimten auf, reiften aus. Und dann
sausten bunte Luftgeister herbei, halb menschlich, halb Nebelfetzen, setzten Mauerteile, Steine,
Fenster. Was eben noch wie eine Ruine aussah, verwandelte sich in einen Pavillon, der sich immer
weiter in Schlösser, Tempel und andere Dinge verwandelte, bis die Pferde aus Licht über die
Fassade stürmten … Sie hatten die Elemente der beiden Shows zu einem fantastischen
Bilderrausch zusammengebracht.
So terriffic, so professional, würde Xian-Li sagen. Aber was half der schönste Karrieredurchbruch,
wenn der Mann, den sie liebte, weiter entfernt von ihr war denn je? Florians Worte hatten so
entsetzlich endgültig geklungen. Wie betäubt saß Stefanie an der Steuerkonsole. Auf den
Kontrollbildschirmen zeigten sich die begeisterten Gesichter der Familie des Emirs, alle reckten
die Hälse, um nur ja nichts von der Show zu verpassen. Im äußersten Winkel sah sie Florian am
Rande der Ehrentribüne stehen, er hielt die weiß verbundene Hand vor seinen Bauch und schaute
nicht zur ihr her, sondern starrte auf die verzauberte Hotelfassade.
Sie wollte nichts anderes mehr, als ihn umarmen, ihn beschwören, ihr einen Moment zuzuhören,
d i e zwei Minuten, die ihr vorhin gefehlt hatten. Aber es war zu spät. Wie von selbst glitten
Stefanies Finger plötzlich über die Tastatur an der Steuerkonsole. Das Programm akzeptierte nur
englischen Text, den es mit der Schlusssequenz einblenden würde. Buchstabe für Buchstabe
programmierte sie mit verzweifelter Zärtlichkeit um. Speichern. Sie sank in den Sitz.
Auf der Fassade folgten die letzten Bilder, dann zog ein Zeichenstift farbige Ränder über die

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Luftgeister, die eben noch die Hotelfassade umschwirrt hatten. Ein wunderbar verschlungener
arabischer Schriftzug schrieb sich auf die Fassade und ergänzte in Englisch: Your love stays in
Abu Faira.
Aus den Lautsprechern jubelten die Kommentatoren über den neuen Werbe-Claim, den Stefanie
geboren hatte, und auf der Ehrentribüne brach frenetischer Applaus aus. Doch Stefanie
interessierte nur der Mann im weißen Anzug im äußersten Winkel der Tribüne. Florian starrte
hinauf zur Hotelfassade, wo der Schriftzug immer noch projiziert wurde.
Stefanie legte die Hände auf ihr Herz, nur er konnte es begreifen. Doch er drehte sich langsam,
ganz langsam weg und verschwand aus dem Bildschirm. Stefanie schluchzte auf. Sie hatte ihn
verloren.

Your love stays in Abu Faira. Florian traute seinen Augen kaum. Sie hatte es umprogrammiert. Es
war unmöglich, dass sie noch den Emir gefragt hatte, selbst für ein Handytelefonat waren zwei
Minuten zu kurz gewesen. Es war eine Botschaft, nicht an die Welt, wie die jubelnden Leute auf
den Tribünen meinten, sondern an ihn. Stefanie riskierte unendlich viel damit. Florian fühlte den
Schmerz in der gebrochenen Hand leichter werden. Er lächelte.
Es war, als ob er aus einem Wasser auftauchte und plötzlich klare Luft atmete. Dort vorhin auf
dem Gerüst, da war er noch im Schock vom Sturz Richtung Gartenmauern gewesen, der Schmerz
und die verebbende Angst hatten ihn dumpf gemacht, zu dumpf, um Stefanies ehrlichen Worten
überhaupt richtig zuzuhören. Aber sie hatte recht: Aus all den kleinen Streitereien und
Kompromissen bei der Vorbereitung war längst ihre gemeinsame Sache, ihr Ding geworden. Und
so großartig wäre die Fassadenshow nie geworden, wenn sie beide nicht wirklich zusammenpassen
würden. Dass sie den Spruch für ihn geändert hatte, alles riskierte, das konnte nur bedeuten, dass
sie ihn wirklich liebte.
Die Erkenntnis war so überwältigend, dass er sich nur ganz langsam bewegen konnte, um nicht
herumzuhampeln wie ein Sportler, der den ersten Platz erreicht hatte. „Ich Idiot!“ Wie Schuppen
fiel es ihm von den Augen. Das Sicherungsseil hatte sich gelöst, als der Emir die Vögel aus dem
Käfig befreit hatte, dabei musste es aus der Verankerung gesprungen sein. Er rannte los, er musste
Stefanie unbedingt abfangen.
Doch er kam nicht weit, die Hotelflure des VIP-Bereichs waren voller Diener und Diplomaten.
Mr. Rami erblickte ihn sofort, der weiße Hörknopf schimmerte im Ohr des
Wettbewerbsbeauftragten. „Dieser Tag wird in die Geschichte des Emirats eingehen.“ Er stutzte
einen Moment. „Ich höre gerade, dass Sie Seine Exzellenz sofort sehen will.“ Mr. Rami schob ihn
am Arm zu den goldenen Türen, die zurück zur Ehrentribüne führten.

„Du musst sofort zum Emir“, flüsterte Xian-Li und gab ihr einen kleinen Schubs an der Hüfte,
sodass sie auf dem roten Teppich landete. Stefanie blinzelte ins Licht. Wie auf einem Laufsteg in
Hollywood gleißte das Licht der TV-Beamer. Sie sah nur lauter Köpfe über traditionellen
Gewändern, viel Weiß vorn, und Köpfe über buntem europäischem Tuch weiter hinten. Aber den
Emir zu finden war einfach: Ganz vorn in der Mitte, nirgends sonst würde der Herrscher sitzen.
Sein Thron war ein breiter weißer Sessel. Der Herr mit dem grauen Bart und den gleichen
glühenden Augen wie sein Sohn Aqad nickte ihr zu. Dann wandte sich sein Kopf und wiederholte

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die Geste nach rechts. Florian! Seine Stirn war leicht gerunzelt, in seinem entschuldigenden Blick
lag eine Frage voller schüchterner Hoffnung. Stefanie fühlte, wie ihre Knie weich wurden.
Der alte Emir erhob sich und streckte ihnen seine ringbeschwerten Hände zu. „Möge dieser Tag
der unendlichen Freude von Abu Faira auch ein Tag der Freude für Sie beide werden. Es ist eine
alte Tradition in meinem Land, dass wir dem, der das Haus mit Freude füllt, ein Geschenk
machen.“
Stefanie wünschte sich nur ein Geschenk. Und Florian schluckte, als sie sein schwaches Lächeln
ganz langsam erwiderte.
„Thronfolger Aqad wird es Ihnen überreichen.“ Seine Exzellenz nickte und setzte sich wieder.
Florian und Stefanie verneigten sich. Wohin jetzt? Aqad wartete hinter seinem Vater. Stefanie
wollte in Florians Richtung zu Xian-Li abgehen, Florian in ihre zu Mr. Rami. Sie machten einen
Schritt aufeinander zu, einen verwirrten zweiten. Waren es ihre Knie oder Florians verbundene
Hand, mit der er schlecht ausweichen konnte? Jedenfalls stießen sie aneinander, die Arme wussten
erst nicht recht wohin, dann umarmten sie sich.
„Great! Terrific! Best show ever!“ Auf der Ehrentribüne erhoben sich die Menschen und
applaudierten.
Florian barg ihren Kopf an seiner Brust. „Verzeih mir, bitte. Du hast immer nur daran gearbeitet,
dass die Show – unsere Show – ein Erfolg wird“, flüsterte er in ihr Ohr. „Jetzt habe ich dich
endlich verstanden. Du hast mir Gott sei Dank die entscheidende Lektion noch rechtzeitig erteilt.“
„Aber nur, weil ich dir endlich richtig zugehört habe“, hauchte Stefanie. „Es war meine letzte
Chance, dich nicht zu verlieren.“
„Du hast gewonnen.“ Er küsste sie auf die Wange. „Ich lass dich nie wieder los.“
Stefanie schloss die Augen, eine Welle reinen Glücks überrollte sie, in der alles um sie herum
verblasste.
Bis ein Lachen sie in die Wirklichkeit zurückholte. „Ihr beiden, kommt!“ Der junge Emir Aqad
winkte sie zur Seite, wo er mit Nicole und Xian-Li an einem Granatapfel-Frappé-Brunnen stand.
„So genial!“ Xian-Li ließ die gold geschminkten Augenlider flattern. Nicole machte eine Geste,
als wollte sie sich bei Aqad einhaken, ließ den Arm aber wieder sinken. „Wirklich wunderbar.“
Zwei gelbgrüne Vögel flatterten herbei und setzten sich schnäbelnd zusammen hinter die rote
Samtbordüre an ihrem Ehrenplatz. Nicole sah den Emir erschrocken an, der aber lächelte ihr zu.
„Kismet“, meinte Aqad und zog sie dicht an sich heran. Dann wandte er sich Stefanie und Florian
zu. „Für euch wartet draußen ein weißer Rolls-Royce. Der Chauffeur fährt euch in den
Gartenpavillon im Abu-Faira-Sommerpalast. Eine Woche wird euch dort niemand stören, nicht
einmal wir zwei.“ Aqad lachte mit Nicole.
Xian-Li winkte sie mit beiden Händen davon und klimperte mit den goldenen Augenlidern. „Party
hin, Party her. Seilt euch einfach ab!“

Vor den Fenstern des Rolls-Royce sausten die Palmenwipfel vorbei. „Mit Steuerkonsolen kenne
ich mich jetzt aus.“ Stefanie klappte in der Fahrzeugmitte über der Minibar eine Leiste hoch und
drückte auf einen perlmuttbesetzten Knopf. Langsam fuhr die blickdichte Trennscheibe zum
Fahrer hoch. In dem bettgroßen Rücksitz drückte sie Florian sanft tiefer in die Polster. Er hielt die
verbundene Linke hoch, Stefanie grinste ihn an und lockerte brav seine Krawatte. „Your love …“

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Sie küsste ihn mit all ihrer Leidenschaft, und er zog sie mit der rechten Hand an sich. „… stays in
Abu Faira … and forever!“

– ENDE –


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